Aktien richtig bewerten
Peter Thilo Hasler
Aktien richtig bewerten Theoretische Grundlagen praktisch erklärt
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Peter Thilo Hasler Blättchen & Partner AG Paul-Heyse-Straße 28 80336 München Deutschland
[email protected] Sphene Capital GmbH Großhesseloher Straße 15c 81479 München Deutschland
[email protected] ISBN 978-3-642-21169-0â•…â•…â•…â•… e-ISBN 978-3-642-21170-6 DOI 10.1007/978-3-642-21170-6 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
Vorwort
„Was ist das Unternehmen wirklich wert?“ – Diese Frage haben Anlageberater und Finanzanalysten während der jüngsten Finanzmarktkrise, als selbst breit gestreute Large Caps im Tages- oder Wochenvergleich zweistellige Kursverluste hinnehmen mussten, immer häufiger von ihren Kunden zu hören bekommen. Akademisch geprägte Marktteilnehmer verweisen in diesem Moment gerne auf ihre Lehrbücher, wonach der Wert eines Vermögensgegenstandes dem Barwert der von ihm in Zukunft generierten Liquiditätsströme entsprechen sollte. Zur Bewertung eines Unternehmens wäre damit lediglich die Kenntnis aller zukünftigen Cashflow-Ströme und der für ihre Diskontierung angemessenen Zinssätze erforderlich. Doch so einfach ist es nicht, schließlich meinte schon der US-amerikanische Baseballspieler Lawrence Peter „Yogi“ Berra vor einigen Jahren, dass „In theory there is no difference between theory and practice. In practice there is“1. Gerade in den tumultartigen Zeiten der Krisenjahre lag dem den Praktiker eine ganz andere Antwort auf die eingangs gestellte Frage auf der Zunge, nämlich: „Das, was der höchste Bieter zu zahlen bereit ist“. Derartige Zynismen sind das Ergebnis von Problemen, mit denen Fondsmanager und Analysten täglich konfrontiert werden, die von Theoretikern jedoch häufig nicht wahrgenommen werden. Da findet man in der Literatur zur Unternehmensbewertung nur sehr vereinzelt Ratschläge, wie die künftigen Cashflows über einen längeren Zeitraum konkret prognostiziert werden können, wie lange der Zeithorizont gewählt werden soll, über den sie vorhergesagt werden sollen – fünf, zehn oder doch lieber 20 Jahre? –, oder welche Bewertungsverfahren für welchen spezifischen Anlass angemessen sind. Auch die Frage, wie die zur Diskontierung zukünftiger Erlösströme nicht ganz unwichtige Risikoprämie eigentlich ermittelt werden soll, oder welches Bewertungsverfahren für welches Unternehmen bei welcher Gelegenheit angemessen ist, wird nicht nur in der deutschsprachigen Praxisliteratur in erschreckendem Maße vernachlässigt. Lieber kümmert sich die Fachwelt um praktisch unfruchtbare Nebensächlichkeiten wie die Auswirkungen des persönlichen Einkommensteuersatzes auf den
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Zitiert nach Yarger H R (2006) S. 31. v
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Vorwort
Unternehmenswert2 – ein Thema, das in der angelsächsischen Literatur aufgrund der ausufernden Komplexität der Steuersysteme aus Praktikabilitätsüberlegungen komplett vernachlässigt wird3 – oder verfasst detaillreiche Abhandlungen über die Herleitung eines risikokompensierenden Kreditzinssatzes im Halbeinkünfteverfahren4. Einen praxisorientierten Ratgeber, mit dessen Hilfe Aktien anhand von finanzmathematischen Modellen schematisch professionell und trotzdem anschaulich von Privatanlegern wie von institutionellen Investoren eingeschätzt werden können, sucht man in deutschsprachigen Bibliotheken vergebens. Kein Wunder also, dass manche nicht nur die Wirtschaft in der Krise sahen, sondern auch die Unternehmensbewertung5. Und dabei sollte die Bewertung börsennotierter Unternehmen der zentrale Bestandteil jeder einzelnen Kauf- und Verkaufsüberlegung an der Börse sein, denn schließlich werden an den Kapitalmärkten Vermögen gemacht – und verloren. Insofern sollte man annehmen, die Kenntnis und das Verständnis, wie ein Unternehmen zu bewerten sei, wäre nicht nur unter den professionellen Kapitalmarktteilnehmern verbreitet, sondern auch unter den vielen Privataktionären, die immer engagierter, zum Beispiel in den verschiedenen Internet Boards, über erwartete Kursziele und Anlageurteile diskutieren. Als Außenstehender gewinnt man jedoch den Eindruck, dass hierbei vielfach Anlageempfehlungen von Bekannten, Journalisten oder bestenfalls Finanzanalysten die Grundlage der Kaufentscheidungen bilden. Für eigenständige Gedanken oder Wertermittlungen fehlt meist die Ausbildung – und auch häufig die Zeit. Operable Handlungsanweisungen zu vermitteln ist Anspruch dieses Buches. Es wendet sich daher an professionelle Investmentbanker und Mergers & AcquisitionsBerater, an Steuerberater, Vermögensverwalter und Portfoliomanager, Kapitalanleger und Finanzanalysten, an Unternehmensberater, Journalisten und alle, die regelmäßig mit dem Kauf und Verkauf von Aktien beschäftigt sind. Das Buch richtet sich aber auch an das Management börsennotierter Gesellschaften, an Finanzvorstände und Investor Relations-Mitarbeiter, sowie an jene, die ihre Entscheidungen zu beurteilen haben, also Aufsichtsräte und Miteigentümer. Es gibt eine Fülle von Anlässen, bei denen gerade sie den Wert ihres Unternehmens oder einzelner Geschäftsbereiche kennen müssen, angefangen von Beteiligungskäufen oder –verkäufen über die Implementierung von Mitarbeiterbeteiligungsprogrammen und die Umsetzung des Shareholder Value-Konzeptes bis hin zu konstruktiven Gesprächen mit ihren jeweiligen Anteilseignern auf One-one-Ones oder in Roundtable-Diskussionen. Insbesondere wendet sich dieses Buch an den so genannten Privat- oder Kleinaktionär, denn für ihn haben die führenden Kreditinstitute dieses Landes immer noch kein Konzept entwickelt, wie sie ihn sinnvoll in seinen Anlagebestrebungen unterstützen können. Sie finden in diesem Buch das in der Praxis benötigte theoretische Grundlagenverständnis für eine pragmatische und zeiteffiziente Unternehmensbewertung sowie ausreichend Hinweise auf dessen weitere Vertiefung. Vgl. stellvertretend Wagner F W, Rümmele P (1995). Einer Sichtweise, der wir uns in diesem Buch anschließen. 4╇ Vgl. stellvertretend Schultze W, Zimmermann R-C (2002). 5╇ Vgl. Jonas M (2009). 2╇ 3╇
Vorwort
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Im Laufe des Buches wird der interessierte Leser in alle gängigen Bewertungsverfahren eingeführt, die ihm die notwendige Unterstützung bei der Erstellung einer integrierten Unternehmensplanung und der darauf aufbauenden Unternehmensbewertung geben sollen. Grob gesprochen gibt es hiervon zwei: Diskontierungsmodelle, in denen der Wert eines Unternehmens anhand der erwarteten Cashflow- oder Dividendenströme ermittelt wird, und Multiplikator- oder Peergroup-Modelle, in denen der Wert eines Unternehmens relativ zu den Werten vergleichbarer Unternehmen hergeleitet wird. Darüber hinaus werden alle vorgestellten Bewertungsverfahren in praktischen Beispielen systematisch erläutert, so dass die theoretischen Grundlagen vom Leser unmittelbar nachvollzogen werden können. Es ist der didaktische Anspruch des Buches, jede Formel oder Gleichung, die für die Ermittlung von Unternehmenswerten unumgänglich sind, anhand eines unmittelbar folgenden praktischen Beispiels zu erläutern. Nicht alles aus dem Buch ist leicht verständliches Material, daher werden bestimmte Grundlagen, unter anderem der Investitions- und Finanzierungstheorie sowie der Finanzmathematik, vorausgesetzt. Dennoch habe ich einen behutsamen Einstieg in die jeweilige Problematik gewählt. Gerade die themennah platzierten Übungsbeispiele sollen eine intuitive Erklärung für alle Modelle und Vorgehensweisen geben, den Respekt vor der Unternehmensbewertung nehmen und den Leser zur selbständigen Anwendung an den Kapitalmärkten einladen. Demjenigen erschließt sich der Inhalt des Buches am intensivsten, der die Übungsbeispiele mit Papier und Bleistift oder einem Tabellenkalkulationsprogramm nachrechnet. Dagegen sollten Sie dieses Buch vermutlich ins Regal zurücklegen, wenn Sie Aktien erwerben, ohne sich zuvor überhaupt mit dem Unternehmen beschäftigt haben, wenn Sie sich grundsätzlich keine Gedanken über die zukünftige Ertragsentwicklung der Unternehmen machen, wenn Sie Zukunftsplanungen mit HockeyÂ� stick-Effekt abnicken, ohne sie kritisch zu hinterfragen, wenn Sie Aktien vorwiegend aufgrund von Tipps befreundeter Investoren, Journalisten, halbseriösen Börsenmagazinen oder aufgrund von Eingebungen erwerben, wenn Sie vor dem Erwerb einer Aktie keine Entscheidung darüber treffen, wann und zu welchen Bedingungen Sie diese wieder verkaufen wollen, wenn Sie der Meinung sind, Kursgewinne haben viel mit Glück und wenig mit Bewertung zu tun, und – vor allem! – wenn Sie schnell reich werden wollen, ohne glauben, sich hierfür anzustrengen zu müssen. Dies gilt auch, wenn Sie uneingeschränkt an Börsenweisheiten wie „Buy on bad news, Sell on good news!“, „Aktien weisen langfristig die beste Rendite aufâ•›“, „Kaufe Nachzügler!“ oder „Investiere momentumgetrieben!“ glauben, an Regeln also, die einen wahren Kern haben mögen, der sich jedoch keinesfalls für eine strategische, langfristig ausgerichtete Anlagephilosophie eignet. Und schließlich, wenn Sie zu den Investoren zählen, deren Investment-Style am besten mit Hope zu beschreiben ist6, wenn Sie sich also an Unternehmen beteiligen, die weder günstig in Bezug auf ihre Vermögenswerte noch ihrer zukünftigen Ertragsaussichten sind und die sie, da über den richtigen Wert der Aktie keinerlei Informationen vorliegen, ebenso schnell wieder abstoßen. 6╇
Vgl. auch Zavanelli M (2010) S. 370.
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Vorwort
Insofern soll dieses Buch nicht nur die Kenntnisse über die Bewertung von Unternehmen vermitteln, sondern auch das (Selbst-) Bewusstsein, sich über eine eigene fundamentale Unternehmensbewertung abzunabeln von Einflüssen Dritter. Mit dem entsprechenden Know-how über Aktienbewertungen kann problemlos ein System aus fundamentalen Faktoren wie Discounted Cashflow-Modell, Kurs/ Gewinn-Verhältnis, Dividendenrenditen oder Wertschöpfungsmodellen aufgebaut werden, dem man sich diszipliniert unterordnen sollte – unabhängig davon, welche Aktien gerade in Zeitschriften oder Internetforen gefeiert wird, was der Bankberater empfiehlt oder einem der beste Freund einflüstert. Nur mit einem emotionslosen Bewertungssystem mit im Vorfeld streng definierten Vorgaben ist es möglich, die beiden Haupttreiber der Börse, Gier und Angst, auszuklammern. Die in diesem Buch vorgestellten Modelle und Bewertungsverfahren bilden die hierfür erforderliche objektive Gesamtheit an Werkzeugen, die nicht von bestimmten Weltanschauungen oder von ethischen bzw. kulturellen Grundeinstellungen abhängig ist. Denn die Grundlagen der Unternehmensbewertung sind für alle gleich, unabhängig davon, ob der Bewerter aus Berlin oder New York stammt, ob er konservativ oder sozialistisch wählt. So steht die Performance an der Börse in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Erkennen von Werten – angelsächsisch Value – und mit der Bereitschaft, eine entgegen der herrschenden Meinung stehende Position zu vertreten, weil es, wie Sir John Templeton sagte, unmöglich ist, „to produce superior performance unless you do something different from the majority“. Insofern soll gezeigt werden, dass die Analyse und die Einschätzung von Aktien weder ein enzyklopädisches Wissen über die betrachtete Industrie noch einen wirtschaftswissenschaftlichen Masterstudiengang erfordert. Gesunder Menschenverstand und die Fähigkeit, einfache Schlussfolgerungen zu ziehen, sind am Ende des Tages, um eine geläufige Investmentbankerphrase zu zitieren, ungleich wichtigere Charaktereigenschaften für einen Erfolg an den Kapitalmärkten. München im August 2011
Peter Thilo Hasler
Danksagung
Bücher kommen nie ohne die Unterstützung Dritter zustande. Zu diesen zählen zunächst Autoren, die durch ihre Arbeiten das Fundament für das eigene Werk geschaffen haben. In erster Linie sind für mich die Arbeiten von Aswath Damodaran, James Montier und Pierre Vernimmen eine ergiebige Quelle der Inspiration gewesen. Ferner zählen dazu die Personen, die durch ihre konstruktiven Diskussionsbeiträge zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben. Hierbei möchte ich vor allem Christian Obst, Rene Assion, Dr. Konrad Bösl, Gerald Feslmeier, Christoph Karl, Anna Di Geronimo, Ernst G. Wittmann und Dr. Ron Davidson erwähnen. Entweder haben sie das Buch Korrektur gelesen oder standen als Sparringspartner zur Verfügung, in jedem Fall haben sie viele kluge und bewertungsrelevante Ratschläge erteilt und Hilfestellung in allen Fachfragen gewährt. Besonders dankbar bin ich ihnen für das ständige Hinterfragen meiner Ergebnisse, für die inhaltlichen Rückmeldungen, die ermutigenden Worte und spontanen Verbesserungsvorschläge. Schließlich möchte ich meiner Familie danken, die unter meiner Abwesenheit am stärksten zu leiden hatten. Insbesondere meiner Frau, die mich mit viel Liebe und Interesse unterstützte und darüber hinaus umfangreiche Korrekturarbeiten übernahm. Und natürlich meinen Kindern Vincent und Christopher, deren dauerhafte Vernachlässigung mich zu noch größeren Anstrengungen anregte. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.
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Inhalt
1 G rundlagen der Bewertung börsennotierter Unternehmen ����������������� ╇ 1 1.1â•…Price is what you pay, value is what you get ����������������������������������尓���������� 1 1.2â•…Ursprung, Ablauf und Methoden der Bewertung ������������������������������� ╅╇ 6 1.3â•…Effiziente Märkte und rationales Verhalten ����������������������������������尓������ â•… 17 1.4â•…Ursachen für Bewertungsauf- oder -abschläge ����������������������������������尓 â•… 24 2 D ie integrierte Unternehmensplanung als Basis der Bewertung ���������� â•… 2.1â•…Zitate, Mythen und Erwartungen ����������������������������������尓��������������������� â•… 2.2â•…Die Detailplanung der Gewinn- und Verlustrechnung ����������������������� â•… 2.3â•…Einige Daumenregeln der Bilanzprognose ����������������������������������尓������� â•… 2.4â•…Die Bereinigung von Einmaleffekten: Manipulationen erkennen ������ â•…
31 31 41 53 61
3 D er Einfluss des Risikos auf den Unternehmenswert ���������������������������� â•… 3.1â•…Risiko? Was für ein Risiko? ����������������������������������尓����������������������������� â•… 3.2â•…Die Eigenkapitalkosten ����������������������������������尓������������������������������������尓 â•… 3.3â•…Gewichtete durchschnittliche Kapitalkosten (WACC) ����������������������� â•…
69 69 72 92
4 D ividendendiskontierungsmodelle ����������������������������������尓������������������������ ╇ 111 4.1â•…Grundlagen ����������������������������������尓������������������������������������尓������������������� ╇ 111 4.2â•…Das Gordon-Growth-Modell ����������������������������������尓���������������������������� ╇ 115 4.3â•…Mehrphasenmodelle ����������������������������������尓������������������������������������尓����� ╇ 122 4.4â•…Die Werttreiber von Dividendendiskontierungsmodellen ������������������ ╇ 140 4.5â•…Anwendungsgebiete, Grenzen und kritische Würdigung ������������������� ╇ 155 5 D iscounted Cashflow-Modelle ����������������������������������尓������������������������������� ╇ 161 5.1â•…Happiness is a positive cashflow ����������������������������������尓���������������������� ╇ 161 5.2â•…Free Cashflow to the Firm FCFF ����������������������������������尓��������������������� ╇ 171 5.3â•…Free Cashflow to Equity FCFE ����������������������������������尓������������������������ ╇ 185 5.4â•…DCF-Bewertungsmodelle mit konstanter Wachstumsrate ����������������� ╇ 190 5.5â•…Das Adjusted Present Value-Konzept ����������������������������������尓��������������� ╇ 207 5.6â•…DCF-Mehrphasenmodelle ����������������������������������尓�������������������������������� ╇ 212 5.7â•…Vom EV zum Equity Value: Weiterführende Erklärungen ����������������� ╇ 228 5.8â•…Möglichkeiten und Grenzen von DCF-Modellen ������������������������������� ╇ 241 xi
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Inhalt
╇ 6 W ertschöpfungsmodelle ����������������������������������尓������������������������������������尓��� ╇ 247 6.1â•…Der Grundgedanke des ökonomischen Gewinns ����������������������������� ╇ 247 6.2â•…Das NOPAT und seine Exegeten ����������������������������������尓�������������������� ╇ 250 6.3â•…Varianten des Wertschöpfungsmodells ����������������������������������尓����������� ╇ 274 6.4â•…„Eva im Paradies“ oder „Pegasus mit Klumpfuß“? ������������������������� ╇ 278 ╇ 7 D ie Bewertung mit Referenzunternehmen ����������������������������������尓��������� ╇ 283 7.1â•…Die Auswahl des geeigneten Multiplikators ����������������������������������尓��� ╇ 283 7.2â•…Zur Vorgehensweise der Vergleichsgruppenbildung ������������������������ ╇ 291 7.3â•…Kritische Würdigung, Vor- und Nachteile ����������������������������������尓������ ╇ 298 ╇ 8 E igenkapitalbasierte Kennzahlen ����������������������������������尓������������������������ ╇ 305 8.1â•…Das KGV: Die populärste Kennzahl des Kapitalmarkts ������������������ ╇ 305 8.2â•…Price-Earnings to Earnings-growth-Ratio (PEG-Ratio) ������������������� ╇ 331 8.3â•…Das relative KGV ����������������������������������尓������������������������������������尓������� ╇ 338 8.4â•…Das historische KGV ����������������������������������尓������������������������������������尓�� ╇ 339 8.5â•…Cash Earnings- und Cashflow-Relationen ����������������������������������尓����� ╇ 343 8.6â•…Die Dividendenrendite ����������������������������������尓����������������������������������� ╇ 346 ╇ 9 E V-basierte Multiplikatoren ����������������������������������尓�������������������������������� ╇ 349 9.1â•…Die Erweiterung der Basis ����������������������������������尓������������������������������ ╇ 349 9.2â•…EV/Umsatz-Verhältnis ����������������������������������尓������������������������������������尓 ╇ 350 9.3â•…EV/EBITDA, EV/EBITA und EV/EBIT ����������������������������������尓�������� ╇ 358 10 S ubstanzwertbasierte Kennzahlen ����������������������������������尓���������������������� ╇ 367 10.1â•…Will the Real Value Please Stand Up? ����������������������������������尓���������� ╇ 367 10.2â•…Kurs/Buchwert-Verhältnis ����������������������������������尓���������������������������� ╇ 370 10.3â•…Marktwert/Firmenwert-Verhältnis ����������������������������������尓���������������� ╇ 382 10.4â•…Liquidationswert ����������������������������������尓������������������������������������尓������� ╇ 384 11 S pezialprobleme der Unternehmensbewertung ����������������������������������尓� ╇ 387 11.1â•…Über Ausnahmen und Regeln ����������������������������������尓����������������������� ╇ 387 11.2â•…Die Bewertung von Wachstumsaktien ����������������������������������尓���������� ╇ 388 11.3â•…Die Bewertung zyklischer Unternehmen ����������������������������������尓������ ╇ 402 11.4â•…Die Bewertung von Immobilienunternehmen �������������������������������� ╇ 408 11.5â•…Der Sum of the Parts-Ansatz bei der Bewertung von Konglomeraten ����������������������������������尓������������������������������������尓��������� ╇ 414 11.6â•…Auswirkung der Globalisierung auf die Unternehmensbewertung ����������������������������������尓������������������������ ╇ 421 11.7â•…Die Bewertung von Markenunternehmen ����������������������������������尓���� ╇ 427 11.8â•…Industriespezifische Multiplikatoren ����������������������������������尓������������ ╇ 430 ie Unternehmensbewertung zum IPO ����������������������������������尓�������������� ╇ 435 12 D 12.1â•…Über Interessenskonflikte und Bauchgefühle �������������������������������� ╇ 435 12.2â•…Der Prozess der Preisfindung ����������������������������������尓����������������������� ╇ 438
Inhalt
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13 T ypische Fehler in der Unternehmensbewertung �������������������������������� ╇ 445 13.1â•…Fehler bei der Analyse von GuV, Bilanz und Cashflow-Statement ����������������������������������尓������������������������������ ╇ 445 13.2â•…Fehler bei der Berechnung der Diskontierungssätze ���������������������� ╇ 446 13.3â•…Fehler in der Anwendung der Bewertungsmodelle ������������������������ ╇ 448 Glossar����������������������������������尓������������������������������������尓������������������������������������尓���� ╇ 453 Literaturverzeichnis����������������������������������尓������������������������������������尓������������������ ╇ 463 Sachverzeichnis����������������������������������尓������������������������������������尓�������������������������� ╇ 479
Verzeichnis häufig verwendeter Symbole
adj Adjustiert Amo Amortisationen, Amortization ß Beta ßL Levered Beta ßO Operatives Beta ßU Unlevered Beta BG Bilanzgewinn Cash Kassenbestand des Unternehmens CFPS Cashflow je Aktie, Cashflow per Share CFOPS Betrieblicher Cashflow je Aktie, Operating Cashflow per Share COC Kapitalkosten, Cost of Capital cov Covarianz δ Ausschüttungsquote Δ Veränderungsrate Debt Buchwert des verzinslichen Fremdkapitals Debt0 Marktwert des verzinslichen Fremdkapitals Dep Abschreibungen, Depreciation Divt Dividende zum Zeitpunkt t DivSum Dividendensumme ε Investitions- oder Thesaurierungsquote EBIA Earnings Before Interest and Amortization EBIT Ergebnis vor Zinsen und Steuern, Earnings Before Interests and Taxes EBITDA Ergebnis vor Abschreibungen, Amortisationen, Zinsen und Steuern, Earnings Before Depreciation, Amortization, Interests and Taxes EPSb Unverwässertes Ergebnis je Aktie, Earnings per share basic EPSd Verwässertes Ergebnis je Aktie, Earnings per share diluted EPSt Ergebnis je Aktie zum Zeitpunkt t, Earnings per share ESOP Mitarbeiterbeteiligungsprogramm, Employee Stock Option Plan EK Buchwert des Eigenkapitals EP Ökonomischer Gewinn, Economic Profit EK0 Marktwert des Eigenkapitals EV0 Enterprise Value xv
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Verzeichnis häufig verwendeter Symbole
FCF Freier Cashflow, Free Cashflow FCFE Free Cashflow to Equity FCFF Free Cashflow to the Firm FCFPS Freier Cashflow je Aktie, Free Cashflow per Share FK Buchwert des Fremdkapitals FordLL Forderungen aus Lieferungen und Leistungen g Wachstumsrate gW Wachstumsrate während der Übergangsphase GCE Gross Capital Employed GCF Gross Cashflow GesK Gesamtkapital GK Grundkapital H Halbwertszeit der Phase mit erwartetem überdurchschnittlichem Wachstum (in Jahren) In Nettoinvestitionen Int Zinsaufwand, Interests Kum Kumuliert K Kosten Kf Fixe Kosten KfrA Kurzfristige Vermögenswerte KfrVerb Kurzfristige Verbindlichkeiten KCF Kurs/Cashflow-Verhältnis KCFO Kurs/Operating Cashflow-Verhältnis KFCFE Kurs/Free Cashflow to Equity-Verhältnis KIns Kosten der Insolvenz KR Kapitalrücklage Kv Variable Kosten λ Spezifischer Sensitivitätsfaktor LfrA Langfristige Vermögenswerte LfrVerb Langfristige Verbindlichkeiten Mktg Marketing MI Ansprüche der Minderheitsgesellschafter, Minorities n Periode NetDebt Nettoverschuldung, Net Debt NetInc Ergebnis nach Steuern, Net Income NOA Nicht betrieblich eingesetztes Vermögen, Non Operating Assets NoSh Anzahl ausstehender Aktien, Number of Shares OA Betrieblich eingesetztes Vermögen, Operating Assets Pt Preis der Aktie zum Zeitpunkt t PR Pensionsrückstellungen PS Je Aktie, per share ρ Marktanteil eines Unternehmens rf Risikoloser Anlagezinssatz rDebt Zinssatz des verzinslichen Fremdkapitals
Verzeichnis häufig verwendeter Symbole
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rEK Geforderte Rendite der Aktionäre bei ausschließlicher Eigenka-Â�Â� pitalfinanzierung rEK,U Eigenkapitalverzinsung ohne Fremdkapital rGesK Rendite auf das Gesamtkapital ri Rendite eines Wertpapiers i rM Rendite des Marktportefeuilles rp Risikoprämie rep berichtet, reported RLZ Restlaufzeit in Jahren ROE Eigenkapitalrendite, Return on Equity σ Anteil der Nettoinvestitionen, der durch die Nettoaufnahme von Verbindlichkeiten finanziert werden soll SBB Aktienrückkauf, Share Buy Back SonstKfrA Sonstige kurzfristige Vermögenswerte St Stammaktien τ Grenzsteuersatz auf Unternehmensebene t Periode TS Treasury Shares V0 Fundamentaler Wert des Eigenkapitals var Varianz VerbLL Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen Vorr Vorräte Vz Vorzugsaktien ωIns Insolvenzwahrscheinlichkeit ωÜ Wahrscheinlichkeit, nicht in Insolvenz zu gehen
Abkürzungsverzeichnis
AFFO Adjusted Funds from Operations B2C Business to Consumer BaFin Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht BilMoG Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz CAD Cash Available for Distributrion CAP Competitive Advantage Period CAPM Capital Asset Pricing Model CCC Cash Conversion Cycle CEO Chief Executive Officer CFO Chief Financial Officer CFROCE Cashflow Return on Capital Employed CROCI Cash Return on Capital Invested CFROI Cashflow Return on Investment DIO Days of Inventory Outstanding DPO Days Payable Outstanding DRP Debt Risk Premium DSO Days of Sales Outstanding ECM Equity Capital Markets EVBV Enterprise Value/Buchwert-Verhältnis, EV/Book Value-Ratio EV Enterprise Value EVA™ Economic Value Added™ EZB Europäische Zentralbank F&E Forschung und Entwicklung FAD Funds Available for Distribution FFO Funds from Operations FTE Full-Time-Equivalent, Vollzeitmitarbeiter FTE Flow-to-Equity FV Firm Value FY Fiscal Year, Geschäftsjahr GAP Growth Appreciation Period
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xx
Abkürzungsverzeichnis
i. e. S. im engeren Sinne IFRS International Financial Reporting Standards IPO Initial Public Offering IRO Investor Relations Officer IRR Internal Rate of Return, interner Zinsfuß Jg. Jahrgang KBV Kurs/Buchwert-Verhältnis KCE Kurs/Cash Earnings-Verhältnis KCF Kurs/Cashflow-Verhältnis KFCFE Kurs-Freier Cashflow to Equity-Verhältnis KCFO Kurs/Operativer Cashflow-Verhältnis KGV Kurs/Gewinn-Verhältnis LTM Last Twelve Months MVA Market Value Added MVFV Martkwert/Firmenwert-Verhältnis, Market Value/Firm Value-Ratio n/a Nicht verfügbar, not available n/m Ohne Bedeutung, not meaningful NAREIT National Association of Real Estate Trusts NCC Nicht zahlungswirksame Buchungsvorgänge, Non Cash Charges ND Net Debt NOPAT Net Operating Profit After Tax NOPLAT Net Operating Profit Less Adjusted Tax NTM Next Twelve Months o. O. Ohne Ortsangabe PD Propability of Default PEG-Ratio Price-Earnings to Earnings-Growth-Ratio PEGY-Ratio PEG-Yield-Ratio PIIGS Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien REIT Real Estate Investment Trust REOC Real Estate Operating Company ROCE Return on Capital Employed ROIC Return on Invested Capital RONA Return on Net Asset SdK SdK Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger e.V. TSR Total Shareholder Return u. u. und umgekehrt US-GAAP United States Generally Accepted Accounting Principles WACC Weighted Average Costs of Capital WSJ The Wall Street Journal YoY Year-on-Year
Kapitel 1
Grundlagen der Bewertung börsennotierter Unternehmen
1.1 Price is what you pay, value is what you get Dieses der Börsenlegende Warren Buffett zugeschriebene Zitat1 bildet das Fundament jeder Unternehmensbewertung. Nur ein Zyniker, so sagt man, sei ein Mensch, der den Preis von allem kenne, aber den Wert von nichts. Wer sich an einem Unternehmen beteiligt sollte tunlichst von beidem eine Vorstellung haben. Denn dass der Wert eines Gutes nur höchst selten dem Preis entspricht, ist nicht erst seit Shakespeare bekannt, dessen Satz „Ein Pferd! Ein Pferd! Mein Königreich für ein Pferd!“2 dies trefflich widerspiegelt. Insofern hat die Buffett-Methode, mit deren Hilfe inzwischen tausende von Berkshire Hathaway-Aktionäre vermögend geworden sind, immer auch etwas mit Integrität und Konsequenz zu tun. Moderne Finanzmarkttheorien versuchen, Kursbewegungen von Aktien zu erklären, wertorientierte Anlagestrategen dagegen erwerben Aktien, als ob sie das Unternehmen selbst leiten wollten. Der Kauf einer Aktie wird damit gleichbedeutend zum Erwerb eines Autos oder eines Hauses. In beiden Fällen müssen die Fundamentaldaten des Objektes berücksichtigt werden: Man würde die Größe und den Zustand des Hauses studieren, den Modernisierungsrückstau, die Vergleichsmieten und die externen Daten der Immobilie wie Nachbarschaft, Freizeitangebot oder Verkehrsanbindung erkunden. Kein Mensch jedoch würde eine Wohnung ausschließlich auf der Grundlage des Tipps eines Freundes – oder gar eines Fremden – kaufen. Kein Mensch würde vergangenheitsbezogene Auf- und Abwärtsbewegungen des Hauspreises in die Risikoüberlegungen des Kaufs mit einbeziehen – schon allein deshalb nicht, weil tagesaktuelle Immobilienpreise, im Gegensatz zu Aktienkursen, nicht vorliegen. Genau nach dieser Methode sollte beim Erwerb einer Aktie gehandelt werden. Eine Aktie zu kaufen, nur weil sie „günstig aussieht“, ist vermutlich der sicherste Weg, um an der Börse Geld zu verlieren. Zyniker könnten sogar behaupten, der Wert einer Aktie sei irrelevant, solange sie nur einen Käufer für ihre Aktie finden. Durch diese als „Bigger Fool“ bekannte Theorie mögen in Einzelfällen Gewinne erzielt werden – insbesondere in Zeiten, in denen das Sentiment gegenüber der Anlageklasse Aktie 1╇ 2╇
Vgl. beispielsweise Buffett und Clark (2002, S.€228). Shakespeare (1593) 5. Akt, 4. Szene.
P. T. Hasler, Aktien richtig bewerten, DOI 10.1007/978-3-642-21170-6_1, ©Â€Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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1â•… Grundlagen der Bewertung börsennotierter Unternehmen
gut und die Bewertungsrelationen attraktiv sind – als dauerhafte Anlagestrategie kann sie indes nicht geeignet sein. Trotz ihrer Bedeutung werden die Teilnehmer an den Kapitalmärkten von den Akademikern allein gelassen. Kaum eine Universität des Landes, ganz gleich ob Bachelor- oder Master-Studiengang, ist in der Lage, die beiden Begriffe Preis und Wert zu erklären, obwohl die Aktien- und Rohstoffmärkte der Welt in den letzten drei Jahrzehnten mindestens acht größere Bewertungsblasen und Aktien-Crashs überlebt haben, angefangen von der Huntschen Silberblase der frühen 80er Jahre über den Crash des Japanischen Nikkei bis hin zum Platzen der dot.com-Bubble 2001 und der Immobilienblase 2008. Und dabei gibt es Anlässe zur Unternehmensbewertung zur Genüge. Insbesondere sollte die Bewertung eines Unternehmens • aufgrund gesetzlicher Regelungen wie den angemessenen Ausgleich (§Â€ 304 AktG), die Abfindung in Aktien (§§Â€305, 320b AktG), die Barabfindung (§§Â€305, 320b AktG, §§Â€ 176–180, 184, 188, 207 UmwG), Verschmelzungen (UmwG) oder den Zugewinnausgleich (§Â€1376 BGB), • aufgrund privatrechtlicher Vereinbarungen wie den Kauf und den Verkauf von Unternehmen bzw. von Beteiligungen, die Einbringung von Unternehmen bei Sachgründungen, den Ein- bzw. Austritt von Gesellschaftern in bzw. aus Personengesellschaften, Erbstreitigkeiten, Schiedsgerichtsverfahren und Abfindungsfälle, und schließlich • aufgrund sonstiger Anlässe wie den Börsengang, Fairness Opinions, Bewertungen zur Steuerung des Shareholder Value, Ermittlung des Fair Value im Zuge des externen Value Reporting, freiwillige Entflechtungen oder infolge der bilanziellen Bewertung von Beteiligungen (Impairment Test) erfolgen. Wenn Investoren, Analysten oder Unternehmer jedoch nicht wissen, welchen Wert eine Aktie hat, sind sie früher oder später nur noch ihren Emotionen ausgesetzt, und das heißt letztlich ihrer Gier und ihrer Angst. Kein Wunder also, dass Emotionen und Irrationalitäten auch heute noch unverrückbarer Bestandteil im Anlageverhalten selbst professioneller Kapitalmarktteilnehmer sind. Vorurteile und Voreingenommenheiten führen dazu, dass bestimmte rationale Prozesse nicht länger funktionieren. Zu diesen zählt auch das Vertrauen in die Funktionsweise der Unternehmensbewertung. Hauptziel der Unternehmensbewertung ist es, dem Unternehmen einen Wert zuzuordnen, im Falle börsennotierter Gesellschaften also ein Kursziel für die Aktie auszusprechen und damit verbunden ein Anlageurteil, das dieses Kursziel ins Verhältnis zum aktuellen Aktienkurs setzt. Im einfachsten Fall werden absolute Anlageurteile verkündet, also Kaufen, Halten und Verkaufen. Da sich die Performance von Fondsmanagern oder Finanzanalysten üblicherweise in Relation zu einem bestimmten Maßstab, angelsächsisch Benchmark, bemisst, also beispielsweise dem DAX, dem EURO STOXX oder einem hybriden Konstrukt, verwenden viele Investmentbanken heutzutage relative Anlageurteile, die für ein Wertpapier in Abhängigkeit zu einer solchen Benchmark ausgesprochen werden. Populäre Beispiele hierfür sind Überdurchschnittlich, Neutral oder Unterdurchschnittlich bzw. ihre angelsächsischen Pendants Outperform, Marketperform oder Underperform. Hierdurch kann
1.1â•… Price is what you pay, value is what you get
3
es für Außenstehende zu der durchaus verwirrenden Situation kommen, dass mit dem Anlageurteil Underperform eine positive absolute Kursentwicklung verbunden ist, solange sich die Aktie prozentual nur weniger positiv entwickelt als die Benchmark. Spiegelbildlich wird sich ein Finanzanalyst mit seinem Outperform-Rating bestätigt fühlen, wenn die beobachtete Aktie zwar fällt, aber in geringerem Ausmaß als der Referenzindex. Grundsätzlich leitet sich der Wert eines Unternehmens aus dem zukünftigen Nutzen ab, den ein vollständig rational handelnder Investor aus seiner Kapitalanlage zu erwarten hat. Zu diesem Zweck sind sämtliche zukünftigen Einnahme- und Ausgabenströme zu prognostizieren, ihre Barwerte zu ermitteln und aufzuaddieren. Angenommen, es gäbe einen allwissenden Analysten, der Zugang zu allen verfügbaren Informationen hätte und in der Lage wäre, diesen fundamentalen3 Unternehmenswert anhand eines perfekten Bewertungsverfahrens fehlerfrei zu bestimmen, wären von diesem völlig losgelöst • der Buchwert des Unternehmens, also das handelsrechtliche Eigenkapital des Unternehmens, einer reinen buchhalterischen Residualgröße, die sich als Differenz zwischen den gesamten Vermögenswerten und dem gesamten Fremdkapital ergibt; • der Liquidationswert des Unternehmens, also der Betrag, der aus einer Zerschlagung des Unternehmens und der Einzelveräußerung aller Vermögensgegenstände erzielt werden könnte, sei es in Form eines Notverkaufs nach einer Insolvenz oder in Form eines strukturierten Verkaufsprozesses, nachdem ein Aufkäufer das Unternehmen in seine operativen Bestandteile zerlegt hat (daher auch Break UpValue genannt); • der Wert, der als Kursziel von technischen Chartanalysten aus der Interpretation von Verlaufsmustern historischer Aktienkurse ermittelt worden ist, basierend auf der Annahme, dass sämtliche entscheidungsrelevanten Informationen über Vergangenheit und Zukunft bereits in der sichtbaren Kursentwicklung enthalten sind; • der strategische Kaufpreis, den ein Wettbewerber zu zahlen bereit ist und der unter anderem abhängig ist von den durch die Übernahme erzielbaren Synergieeffekten; • der Marktpreis des Unternehmens, etwa in Form des Aktienkurses. Als Gleichgewichtspreis kommt dieser immer dann zustande, wenn sich zwei Parteien – Käufer und Verkäufer – auf bestimmte Konditionen über einen Eigentümerwechsel einigen können. Diese Einigung basiert auf Angebot und Nachfrage, ist abhängig von der jeweiligen Verhandlungsposition und der Vertragsgestaltung der Marktteilnehmer oder, wie André Kostolany es salopp formulierte, davon, „ob es mehr Aktien gibt als Idioten oder mehr Idioten als Aktien“4. Aktienkurse Anm.: Das Adjektiv „fundamental“ bezieht sich auf die Parameter, die den Aktienkurs beeinflussen, insbesondere das absolute Niveau der Zahlungsströme, die Wachstumserwartungen und das Risiko der Aktie. 4╇ Zitiert nach Fink (2007, S.€11). 3╇
4
1â•… Grundlagen der Bewertung börsennotierter Unternehmen
präzisieren nichts mehr als die Geldmenge, die ein Investor für eine Aktie zahlen musste, Werte dagegen bezeichnet die Geldmenge, die er zu zahlen bereit gewesen wäre. Oder, etwas formaler beschrieben: Aktienkurse repräsentieren den ex ante Konsensus des Kapitalmarktes als den wahrscheinlich ex post erzielten Wert, sofern sämtliche verfügbaren kursrelevanten Informationen in einem effizienten Markt von rational handelnden Individuen berücksichtigt wurden5; • der „faire Wert“ eines Unternehmens oder einer Aktie. Bereits der Begriff deutet an, dass der sprachliche Umgang mit dem fairen Wert stets darunter leidet, dass er eine eigene Rechtfertigung in sich trägt. Wer wollte sich allen Ernstes einer fairen Wertfindung widersetzen, die den tatsächlichen Verhältnissen der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage eines Unternehmens zu entsprechen scheint6? Allerdings scheint der faire Wert einer Aktie in einem Gleichgewichtszustand und ohne Arbitragemöglichkeiten für den Kapitalmarkt das zu sein, was für Astronomen das Schwarze Loch darstellt: Etwas, das nicht beobachtet werden kann und von dem sich Aktienkurse aufgrund irrationaler Verhaltensweisen der Investoren entfernen können, etwa nachdem sie zum Beispiel in einer allgemeinen Markteuphorie oder Marktbaisse mit der Entwicklung des Gesamtmarktes gleichsam mitgerissen werden. Nicht nur auf Unternehmensebene, sondern auch auf Sektorebene können die Abweichungen dieser Werte von dem aus fundamentalen Faktoren abgeleiteten, inneren Wert erheblich sein. Von signifikantem Einfluss auf den Aktienkurs sind externe Einflussfaktoren wie Konjunktur, Währungen und Zinsen, die Geldmenge und Gesetze, zum anderen interne Einflussfaktoren wie die Qualität des Managements, die Produktqualität, das Gewinn-Momentum, Investor Relations-Aktivitäten und Übernahmespekulationen. Und nicht zuletzt ist der Börsenkurs auch Ausfluss persönlicher, möglicherweise irrationaler Vorlieben7. So sind die Marktteilnehmer keinesfalls die homogene Masse, wie uns Sozialwissenschaftler oftmals glauben lassen. Neben den auf Fundamentaldaten fixierten Investoren gibt es unter anderem technische Investoren, die auf bestimmte Kurssignale reagieren, Momentum getriebene Investoren, die Trends folgen, ohne Fundamentalfaktoren allzu große Beachtung zu schenken, oder so genannte Vulture-Investoren, die finanzielle Notlagen von Unternehmen ausnutzen. Insofern ist der Wert eines Unternehmens immer auch vom Betrachter abhängig. Unterschiedliche Investoren werden ein und demselben Unternehmen unterschiedliche Werte zugestehen. Ein international tätiger Technologiekonzern wird einen kleinen nationalen Wettbewerber vor dem Hintergrund erwerben wollen, seinen Markennamen zu nutzen und Zugang zu seinen Kunden zu erlangen. Der bestehende Maschinenpark und die Gebäude werden nicht in die Wertfindung eingehen, da der ausländische Marktführer unter Umständen über viel modernere und technisch 5╇ Über den Begriff des Fair Value gibt es in der Literatur höchst unterschiedliche Ansichten. Vgl. auch Pinto et€al. (2010, S.€4). 6╇ Vgl. Pfaff und Kukule (2006, S.€542). 7╇ Vgl. Mandl und Rabel (1997, S.€6).
1.1â•… Price is what you pay, value is what you get
5
ausgefeiltere Anlagen verfügt. Der Wert, der dem nationalen Unternehmen zugestanden wird, ist zudem abhängig vom Ausmaß der Skaleneffekte, den Synergieeffekten oder den Erwartungen über die zukünftigen Werttreiber in der Industrie. Insbesondere während extremer Marktphasen mag daher der naive Marktbeobachter den Eindruck haben, Aktien würden sich vollkommen irrational verhalten und keinerlei ökonomischen Gesetzmäßigkeiten entsprechen. Kritiker werfen der Fundamentalbewertung denn auch vor, dass sie nicht besonders hilfreich sei, wenn sich Marktwerte auch über einen längeren Zeitraum von ihren inneren Werten fortbewegen können. Der alleinige Fokus auf die Valuation ignoriere nämlich eine wesentliche Aussage von John Maynard Keynes, nämlich dass „markets can remain irrational for longer than you can remain solvent“8. Insofern hat Unternehmensbewertung immer etwas mit Meinungen zu tun – „Do not forget that value is normally a number in an Excel worksheet, while price is very often cash“9 – wobei es darum geht aufzuzeigen, wie sich die Zukunft entwickeln könnte, wenn nachprüfbare Annahmen eintreten. An der Börse hängt der Aktienkurs im Wesentlichen von Erwartungen ab, und zwar von den Erwartungen, welcher Wert zukünftig einem Unternehmen zugestanden wird, nicht von der Zukunft selbst. Diese Erwartungen wiederum sind, zumindest kurzfristig, von emotionalen Schwankungen abhängig, von Herdenverhalten, spieltheoretischen Konzepten und letztlich auch von Manipulationsversuchen einzelner Marktteilnehmer. Damit spielen Erwartungen bei Aktien eine wesentlich größere Rolle als bei anderen Gütern. Während der Käufer eines bestimmten Rohstoffes ziemlich genaue Vorstellungen hat, welchen Nutzen er aus diesem Rohstoff ziehen wird, ist der sich aus einer Aktie ergebende Nutzen a priori unbekannt. Würden alle Investoren auf dasselbe Bewertungsmodell zurückgreifen und hätten alle denselben Anlagehorizont, könnte theoretisch kein Börsenhandel stattfinden. Vor diesem Hintergrund können selbst zwei sehr vergleichbare Aktien aus derselben Industrie, mit demselben Risiko, gleichen Wachstumserwartungen und demselben absoluten Ertragsniveau nicht auf demselben Kursniveau notieren. Und zwei Investoren oder Analysten werden niemals dieselben Prognosen über zukünftige Cashflows, Dividenden oder Kapitalkosten haben. Darüber hinaus veralten Unternehmensbewertungen schneller als man glaubt. Jede neue Information, vor allem aus dem Unternehmensumfeld selbst in Form von Quartalsberichten oder ad hocpflichtigen Pressemeldungen, aber auch aus Veränderungen der Konjunkturerwartungen, von Zinsen, Wechselkursen oder Rohstoffpreisen, bringt eine Veränderung des Unternehmenswertes mit sich. Schon Keynes sagte: „When the facts change, I change my mind. And what do you do, Sir?“10 Sollte man deswegen von fundamentalanalytischen Bewertungsmethoden Abschied nehmen? Besser nicht, denn je weiter sich der Aktienkurs als Durchschnittswert unterschiedlich informierter Marktteilnehmer von seinem inneren Wert entfernt, desto Keynes (1936, S.€121). Fernández (2003, S.€21). 10╇ Zitiert nach Malabre (2003, S.€220). 8╇ 9╇
6
1â•… Grundlagen der Bewertung börsennotierter Unternehmen
stärker setzt sich unter den Kapitalmarktteilnehmern die Erkenntnis durch, dass die Kursentwicklung übertrieben war und die Aktie nicht mehr angemessen bewertet sein kann. Dies löst Anpassungsreaktionen aus, die den Aktienkurs wieder in Richtung seines fundamental gerechtfertigten Wertes zurückführen. Eine Gleichheit von Preis und Wert wäre sogar eher zufällig, bestenfalls sind Wert und Aktienkurs für wenige Minuten identisch. Zwar kann ein gut informierter, rational handelnder Kapitalmarktteilnehmer den inneren Wert einer Aktie in der Realität ex ante nicht beobachten, womit er sich jedoch durchaus zufriedenstellt, ist eine Näherungsgröße dieses Fundamentalwertes zu berechnen, wohl wissend, dass die Vorstellung, anhand einer Unternehmensbewertung einen exakten Wert für ein Unternehmen ermitteln zu können, eine Illusion darstellt. Ex post zu überprüfen bleibt ihm dann, ob seine Bewertungsmethode geeignet war, diesen richtig zu prognostizieren. Diese Erkenntnisse im Hinterkopf kann es nicht ausreichend sein, den Wert eines Unternehmens zu bestimmen und darauf aufbauend das eigene Vermögen in die am stärksten unterbewerteten Aktien zu stecken. Eine unterbewertete Aktie, die unterbewertet bleibt, ist keine attraktive Anlage. Die Unterbewertung einer Aktie ist lediglich die notwendige Bedingung, in diese zu investieren. Die hinreichende Bedingung, dass sich die Investition auch lohnt, ist ein Katalysator, der diese Unterbewertung auflöst, denn, wie Benjamin Graham, einer der Urväter der Unternehmensbewertung, meinte: „in the long run, the market is a weighing machine, in the short run an voting machine“11. Als Katalysatoren mögen etwa ein Produkt fungieren, das neu auf den Markt gebracht wurde, wichtige Verträge, die gewonnen oder verlängert werden konnten, ein Restrukturierungsprogramm, dass initiiert wurde, um die Kostenbasis zu senken, oder auch – mehr technisch – ein Aktienrückkaufprogramm, das von der Hauptversammlung genehmigt wurde. Selbst ein renommierter Investor oder Analyst, der behauptet, eine Aktie wäre unterbewertet und dies beispielsweise durch die Beimischung der Aktie in sein Depot oder durch die Aufnahme der Research Coverage dokumentiert, kann eine Katalysatorwirkung entfachen. Damit soll dieses Einführungskapitel mit einem weiteren Zitat von Warren Buffett geschlossen werden: „If you’re an investor, you’re looking on what the asset is going to do, if you’re a speculator, you’re commonly focusing on what the price of the object is going to do, and that’s not our game“12.
1.2 Ursprung, Ablauf und Methoden der Bewertung Die Ursprünge der modernen Unternehmensbewertung stammen von den beiden US-Amerikanern Benjamin Graham und David Dodd, die 1934 mit ihrem, noch heute überaus lesenswerten Standardwerk Security Analysis13 erstmals einen loGraham (1949, S.€207). Buffett (1997). 13╇ Vgl. Graham und Dodd (1940). 11╇
12╇
1.2â•… Ursprung, Ablauf und Methoden der Bewertung
7
gisch untermauerten und systematischen Weg aufgezeigt haben, warum eine Aktie bis zu welchem Kursniveau ge- oder verkauft werden sollte. Zuvor beruhte die Wertpapierselektion und -empfehlung auf purer Spekulation, Unternehmen waren „gute“ Unternehmen, die Frage, ob sie auch eine gute Kapitalanlage waren, blieb unbeantwortet. Im Grunde genommen wäre alles so einfach: Das Gesamtkapital GesK eines Unternehmens A wird finanziert durch bilanzielles Eigenkapital EK und Fremdkapital FK, also: (1.1) GesKA = EK A + FK A . Demzufolge entspricht der Wert des Eigenkapitals der Differenz aus den Vermögenswerten einer Gesellschaft und dem Fremdkapital:
EK A = GesKA − FK A .
(1.2)
Dividiert durch die Anzahl ausstehender Aktien NoSh erhält man den Wert je Aktie, der dann mit dem aktuellen Börsenkurs P0 zu vergleichen ist. Liegt der Börsenkurs über dem ermittelten Wert je Aktie, also P0â•›>â•›EKA, ist diese mehr oder weniger überbewertet, liegt der Börsenkurs unter dem errechneten Wert der Aktie, also P0â•›2,00
1,75 gR
(8.10)
gelten muss. Durch diese Umformung kommt mit der Eigenkapitalrentabilität eine alternative Komponente ins Spiel: Auch zwischen ROE und KGV ist ein positiver
8.1â•… Das KGV: Die populärste Kennzahl des Kapitalmarkts
317
Zusammenhang zu konstatieren: Je höher die Eigenkapitalrentabilität ROE und das erwartete Wachstum gR und je niedriger die Kapitalkosten rEK,R sind, desto größer wird auch das erwartete KGV sein. Damit zeigt sich, dass die o.€a. Zweiteilung des KGV (s.€Beispiel€8.3) unter Umständen zu falschen Schlussfolgerungen verleitet, wenn nämlich die Kapitalkosten und die Ertragskraft des Unternehmens nicht in die Analyse einbezogen werden. Ein Unternehmen mit niedriger Eigenkapitalrendite müsste, um dieselbe Bewertung wie ein hochprofitables Unternehmen zu rechtfertigen, wesentlich höhere Anteile seines operativen Ergebnisses investieren. Ein Unternehmen mit geringer Profitabilität kann nur kleine Teile des operativen Ergebnisses in Freie Cashflows umwandeln, während profitable Unternehmen wesentlich effizienter wachsen können. Sinnvoll ist es daher, den Unternehmenswert nicht nur in eine Nullwachstumskomponente und eine Wachstumskomponente aufzuteilen, sondern auch die operative Ertragskraft in die Analyse mit einzubeziehen. Beispiel 8.5: Bewertung der operativen Ertragskraft╇ Betrachten wir nun die Leet AG aus Beispiel€7.1. Bei 50,0€Mio. Aktien und einem aktuellen Kurs von 25,00€€ ergibt sich eine Marktkapitalisierung von 1.250,0€Mio.€€. Wir unterstellen ferner ein EPS von 0,80€€. Wie auch bei der Dragon Internet AG liegen die Eigenkapitalkosten bei 10,5€%. Der aus dem Nullwachstum abgeleitete Unternehmenswert liegt damit bei g=0
V0
=
EPS 0,80 = = 7,60, rEK,R 0,105
also bei 7,60€€ je Aktie oder 30,4€% des aktuellen Börsenkurses. Nehmen wir an, die Eigenkapitalrentabilität des Unternehmens liegt bei 13,0€%. Das Management plant, 70,0€% des Nachsteuerergebnisses nachhaltig an die Aktionäre auszuschütten. Damit ergibt sich eine implizite langfristige Wachstumsrate des Unternehmens von gR = (1 − δ)ROE = (1 − 0,70)0,13 = 3,9 %.
Anhand dieser Vorgaben können wir denjenigen Teil des Unternehmenswertes berechnen, der nicht aus dem zukünftigen Wachstum stammt, sondern der Profitabilität der Gesellschaft zu verdanken ist. Wie hoch dieser Anteil ist, ergibt sich aus folgender Gleichung: V0ROE=13,0 % =
EPS 0,80 = = 12,10. rEK,R − gR 0,105 − 0,039
Aus der Profitabilität des Unternehmens ergibt sich also ein Wert von 12,10€€ je Aktie, oder 48,4€% des gesamten Unternehmenswertes. Nur der verbleibende Rest, also
318
8â•… Eigenkapitalbasierte Kennzahlen
g
g=0
V0 = P0 − V0
− V0ROE=13,0 % = 25,00 − 7,60 − 12,10 = 5,30
und damit 21,2€ % der aktuellen Marktkapitalisierung resultieren aus dem zukünftigen Wachstum des Unternehmens. Für das Management eines Unternehmens und für außenstehende Analysten wie Investoren ist die Kenntnis dieses Zusammenhangs entscheidend für die Steigerung des Unternehmenswertes: Denn meist versuchen die Vorstände von Growth-Stocks, ihr Wachstum immer weiter zu steigern anstatt die operative Gewinnmarge zu erhöhen, während auf der anderen Seite die Manager von Value-Stocks unter keinen Umständen einen Rückgang der Eigenkapitalrendite akzeptieren würden, anstelle den Schwerpunkt der Unternehmensstrategie auf die Steigerung des Wachstums zu legen. Dies entspricht dem gesunden Menschenverstand: Unternehmerisches Wachstum erfordert Investitionen, und wenn diese Investitionen nicht eine angemessene Rendite über die Kapitalkosten erzielen, werden sie keinen Mehrwert für die Aktionäre erwirtschaften. Der Aktienkurs bleibt unverändert, ebenso das KGV. Vorstände, die nicht beide Komponenten des KGV steigern – also Wachstum und Eigenkapitalrendite –, laufen Gefahr, dass sie zwar ihre internen Wachstumsvorgaben erreichen, nicht aber das Ziel der Unternehmenswertsteigerung. Intuitiv einsichtig ist, dass das anzulegende KGV umso höher ist, je höher die Wachstumsrate g und je niedriger die Eigenkapitalkosten rEK sind. Gleichfalls nachvollziehbar ist, dass für eine gegebene Wachstumsrate das KGV umso höher sein kann, je höher die Ausschüttungsquote δ ist. Unternehmen mit einem niedrigen Investitionsbedarf und folglich höheren Ausschüttungsquoten rechtfertigen damit ein höheres KGV als Unternehmen mit hohen Re-Investitionsanforderungen. Beispiel 8.6: Gordon-Modell und inneres KGV╇ Greifen wir nochmals zurück auf den Gewerbeimmobilienbestandshalter aus Beispiel€ 4.3, der zu einem aktuellen Kurs P0 von 27,30€€ gehandelt wird. Dem Gordon-Modell zufolge liegt der Unternehmenswert bei 33,42€€. Bezogen auf das Ergebnis je Aktie EPS1 von 2,50*(1â•›+â•›0,025)â•› = â•›2,56€ € ergibt sich ein KGV KGV =
27,30 P0 = = 13,0, EPS 2,56
also von 13,0x. Dasselbe Ergebnis erhalten wir, wenn wir die Ausschüttungsquote δ durch die Differenz rEK-g, also KGV =
teilen.
δ 0,90 = = 13,0 rEK − g 0,094 − 0,025
8.1â•… Das KGV: Die populärste Kennzahl des Kapitalmarkts
319
Für Wachstumsunternehmen, deren Wachstumsrate gR die Eigenkapitalkosten rEK,R übersteigt, können die Formeln (8.4) und (8.10) nicht angewendet werden. Zur Bestimmung der inneren Fundamentalfaktoren bedarf es der Verwendung eines zweiphasigen Dividendendiskontierungsmodells, also beispielsweise der Formel (4.19). Diese ist in folgende, nicht unbedingt besonders übersichtliche Formel überzuführen:
P0 (1 + gW )n δ(1 + gW )n (1 + gR ) δ(1 + gW ) 1− + = . n EPS0 rEK −gW (1 + rEK ) (1 + rEK,R )n (rEK,R −gR )
(8.11)
Daraus folgt, dass es auch für Wachstumsunternehmen einen positiven Zusammenhang gibt zwischen dem laufenden KGV und der Ausschüttungsquote sowie zwischen dem laufenden KGV und der erwarteten Gewinnwachstumsrate. Dieser Zusammenhang kann sowohl für die Wachstumsphase als auch für die Reifephase festgestellt werden. Erwartungsgemäß gibt es auch einen negativen Zusammenhang zwischen dem laufenden KGV und der Risikoklassifizierung der Vermögenswerte. Basierend auf der Überlegung, dass die erwarteten Wachstumsraten der Cashflows eine der wichtigsten Größen des Unternehmenswertes sind, haben Leibowitz und Kogelman das so genannte Franchise Modell entwickelt, in dem das innere KGV in zwei Komponenten aufgeteilt wird, und zwar in ein Nullwachstums- oder Null-Thesaurierungs-KGV der bestehenden Geschäftsbereiche, und in ein Franchise-KGV zukünftiger Investitionen. Die Aufspaltung des KGV in einen Franchiseund einen Null-Wachstumsfaktor ermöglicht uns die unmittelbare Analyse der Auswirkungen der Eigenkapitalrentabilität auf das KGV. In diesem Szenario steigt das Ergebnis je Aktie, da angenommen wird, dass die einbehaltenen Gewinne in der Folgeperiode genau die geforderte Eigenkapitalrendite erwirtschaften. Bekanntlich ist die langfristige Gewinnwachstumsrate abhängig von der Höhe der Thesaurierungsquote ε und der Höhe der Eigenkapitalrendite ROE, also
g = (1 − δ)ROE = εROE.
(8.12)
Eingesetzt in Formel (8.4) ergibt sich
P0 1 − ε1 = . EPS1 rEK,R − ε1 ROE
(8.13)
Erweitert man die rechte Seite mit rEK,R, so erhält man nach kurzer Umformung
ε1 (ROE − rEK,R ) P0 1 1 + = . EPS1 rEK,R rEK,R − ε1 ROE
(8.14)
Im rechten Teil der Gleichung können nun die Auswirkungen unterschiedlicher Thesaurierungsquoten ε ebenso analysiert werden wie Veränderungen der Überrendite des Unternehmens, dargestellt durch die Differenz ROE╛╛- rEK,R. Ist beispielsweise ROE╛╛- rEK,Râ•› = â•›0, also wird in Objekte investiert, deren erwartete Eigenkapitalrendite
320
8â•… Eigenkapitalbasierte Kennzahlen
genau den geforderten Eigenkapitalkosten entspricht, so ergibt sich das prospektive KGV einmal mehr aus der Inversen der Eigenkapitalverzinsung, also P0 1 = . EPS1 rEK,R
(8.15)
Für diesen Fall ist das prospektive KGV vollkommen unabhängig von der Thesaurierungspolitik des Unternehmens. Dies ist dann kein überraschendes Ergebnis, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in diesem Szenario durch die Thesaurierung der Erträge keine zusätzliche Wertschöpfung geschaffen werden kann; der Franchise Value des Unternehmens ist Null. Die Inverse der Eigenkapitalverzinsung entspricht dem Null-Thesaurierungs-KGV der bestehenden Geschäftsbereiche aus dem Leibowitz/Kogelman-Modell. Dasselbe Ergebnis ergibt sich übrigens für Unternehmen, die 100€% ihres ausschüttungsfähigen Gewinns ausschütten, also εâ•› = â•›0. Auch hier entspricht das prospektive KGV dem Kehrwert der geforderten Eigenkapitalverzinsung, gleichgültig, wie hoch die Eigenkapitalrendite des Unternehmens oder die geforderte Eigenkapitalverzinsung ist. Das Eigenkapital kann nicht weiter anwachsen. Der Wert der Aktie entsteht allein aus dem EPS der kommenden Periode und kann daher aus der ewigen Rentenformel P0â•› = â•›EPS1/rEK,R errechnet werden. Nach Erweiterung der Gl.€(8.14) mit ROE und Ersetzen von εROE durch g
gR (ROE − rEK,R ) 1 P0 = + EPS1 rEK,R ROE(rEK,R −gR )
(8.16)
P0 1 ROE − r EK,R gR = + . EPS1 rEK,R r EK,R ROE r EK,R − gR
(8.17)
folgt
Im rechten Teil der Gleichung befindet sich erneut die Inverse der Eigenkapitalverzinsung, zu der das Produkt aus Franchisefaktor und Wachstumsfaktor zu addieren ist. Der Franchisefaktor ergibt sich also aus der Tatsache, dass das Unternehmen eine so gute Wettbewerbsstellung innehat, die es ihm erlaubt, eine Rendite auf das Eigenkapital zu erwirtschaften, die größer ist als die geforderte Rendite auf das Eigenkapital. Beispiel 8.7: Das Leibowitz/Kogelman-KGV╇ Ein Investor fordert von einem Unternehmen mit einer Eigenkapitalrendite ROE von 16,0€% und einer Ausschüttungsquote von 30€% eine Verzinsung seines eingesetzten Kapitals rEK,R von 10,0€%. Zur Berechnung des inneren KGVs gehen wir wie folgt vor. Zunächst berechnen wir das KGVV aus den bestehenden Vermögenswerten, also KGVV =
1 1 = 10,0x. = rEK,R 10,0 %
8.1â•… Das KGV: Die populärste Kennzahl des Kapitalmarkts
321
Anschließend berechnen wir das Franchise-KGV KGVW, welches das erwartete Wachstum widerspiegelt. Dessen erste Komponente ist der Franchisefaktor 0,16 − 0,10 ROE − rEK,R = = 3,75. rEK,R ROE 0,10 · 0,16
Die zweite Komponente ist der Wachstumsfaktor. Für diesen ist zunächst die Kenntnis der Wachstumsrate g erforderlich, das wir aus g = εROE = 0,30 · 0,16 = 0,048 = 4,8 %
ermitteln. Insgesamt folgt damit für den Wachstumsfaktor g 0,048 = = 0,9 rEK,R − g 0,10 − 0,048
und damit für das Franchise-KGV KGVW =
ROE − rEK,R g = 3,75 · 0,9 = 3,5x. rEK,R ROE rEK,R − g
Das innere KGV des Unternehmens entspricht der Summe aus KGVV und KGVW und liegt damit bei 10,0xâ•›+â•›3,5xâ•› = â•›13,5x. Die Kapitalmärkte lieben das KGV. Jedes einzelne Quartal werden die Erwartungen der Analysten bezüglich des Ergebnisses je Aktie begierig verarbeitet. Das Nachsteuerergebnis ist ein Indikator für die Wertschöpfung eines Unternehmens, und in den meisten Umfragen auch der wichtigste, noch vor Cashflows, Dividenden oder Buchwerten. Das berichtete EPS steht meist in der Titelzeile des Quartalsberichts, eine Verfehlung der Consensus-Schätzungen hat beim EPS regelmäßig gravierende Auswirkungen auf die unmittelbare Kursentwicklung. Aufgrund seiner hohen Popularität kommt das KGV in beinahe allen Branchen zum Einsatz – was sicherlich auch eine gewisse Zirkularität zur Folge hat: Da das KGV weit verbreitet ist, wird ihm auch eine gute Prognosefähigkeit für Kursentwicklungen zugestanden. Angesichts dieser normativen „Kraft des Faktischen“19 ist es letztlich kein Wunder, dass das KGV nicht nur für die Bewertung von Unternehmen zum Einsatz kommt, sondern auch für die Einschätzung von Aktienindizes. Das KGV ist derart weit verbreitet, dass seine eigentliche Bedeutung inzwischen in den Hintergrund getreten ist: Das KGV ist eine unendliche Kennzahl, bei der unterstellt wird, dass ein Unternehmen ein bestimmtes Ergebnis je Aktie erzielen wird, das – mit einem Wachstumsfaktor versehen oder nicht – zu einer ewigen Ren19╇
Ballwieser (1997, S.€188).
322
8â•… Eigenkapitalbasierte Kennzahlen
tenformel umgewandelt werden kann. Gleichzeitig wird unterstellt, dass sich die Risikoklasse des Unternehmens im Zeitablauf nicht mehr verändern wird, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine sehr unrealistische Annahme ist. Obgleich das KGV die verbreitetste Kennzahl des Kapitalmarktes ist, wird sie, fragt man Fondsmanager oder Finanzanalysten, immer auch mit einem unguten Gefühl verwendet. Diese kognitive Dissonanz basiert auf drei grundlegenden Fragestellungen: • Erstens: Ist das KGV überhaupt ein geeigneter Maßstab zur Unternehmensbewertung? • Zweitens: Sind Gewinne ein adäquater Unternehmensparameter zur Prognose des Unternehmenswertes? • Schließlich drittens: Kann es für ein Unternehmen rational sein, die kurzfristige Quartals-Guidance zu übertreffen, wenn dies unter Umständen zu Lasten der strategischen Langfristziele geht? Da das EPS des vergangenen Jahres bzw. die Consensus-Schätzungen des laufenden oder des kommenden Jahres bekannt sind, ist zur Bewertung eines Unternehmens nur noch das „richtige“ KGV erforderlich. Der Nenner ist bekannt, es fehlt also nur noch der Zähler des Peergroup-Multiplikators. Daraus entsteht eine Tautologie: Um den inneren Wert eines Unternehmens zu berechnen, ist die Bewertung von Vergleichsunternehmen erforderlich. Mit anderen Worten: Das KGV bestimmt nicht den Unternehmenswert, sondern der Unternehmenswert bestimmt das KGV. Bereits vor 20 oder 30 Jahren haben sich Investoren die Frage gestellt, ob sich Aktien eher an Ertragszahlen oder an Cashflows orientieren. Zur Beantwortung dieser Frage kann eine Situation hilfreich sein, in der sich Erträge und Cashflows in unterschiedliche Richtungen bewegen. In einer Welt des US-GAAP ist das vermutlich am besten dokumentierte Beispiel der Wechsel der Vorratsbewertung von FIFO zu LIFO in Zeiten steigender Rohstoffpreise. Auf den Ertrag hat dieser buchhalterische Vorgang negative Auswirkungen, auf den Cashflow positive (da weniger Steuern bezahlt werden müssen). Bis auf wenige Ausnahmen sind die Aktienkurse nach dieser Maßnahme dennoch angestiegen. Ein wesentliches Problem des KGV ist, dass unterschiedliche Verschuldungsgrade unberücksichtigt bleiben. Da ein steigender Verschuldungsgrad in der Regel mit einem höheren Risiko verbunden ist, weisen stärker verschuldete Unternehmen niedrigere KGVs aus als weniger verschuldete. Beispiel 8.8: KGV bei unterschiedlichem Leverage╇ Zu analysieren sind zwei Unternehmen, die LowDebt AG und die HighDebt AG. Wie die Namen bereits suggerieren, weist die erste Gesellschaft mit einem Marktwert des Fremdkapitals von 20,0€ Mio.€ € ein wesentlich geringeres Leverage auf als die zweite, deren Marktwert des Fremdkapitals bei 120,0€Mio.€€ liegen soll. Beide erwirtschaften ein operatives Ergebnis (EBIT) von 30,0€Mio.€€. Steuerquoten und Sollzinsen auf die Verbindlichkeiten sind bei beiden Unternehmen identisch, sie liegen bei 30,0€% und bei 10,0€%.
8.1â•… Das KGV: Die populärste Kennzahl des Kapitalmarkts
323
Für die LowDebt AG, die mit einer Marktkapitalisierung von 400,0€Mio.€€ gehandelt wird, ergibt sich folgende verkürzte Gewinn- und Verlustrechnung: Mio.€€ EBIT Zinsaufwand Steuern Nettoergebnis
LowDebt AG 30,0 −â•›2,0 −â•›8,4 19,6
Bezogen auf die aktuelle Marktkapitalisierung der LowDebt AG ergibt sich ein KGV von 20,4x. Angelegt auf die HighDebt AG errechnet sich ein aus der „Peergroup“ abgeleiteter Marktwert des Eigenkapitals in Höhe von 257,1€Mio.€€: Mio.€€ EBIT Zinsaufwand Steuern Nettoergebnis
HighDebt AG 30,0 −╛╛12,0 −╛╛5,4 12,6
Dieses Ergebnis ist jedoch durch die unterschiedlichen Verschuldungsgrade der beiden Unternehmen verzerrt. Wenn wir den Multiplikator von 20,4x auf die einzelnen Komponenten der Highdebt AG anlegen, erhalten wir als Enterprise Value 20,4[30,0(1 − 30,0 %)] = 428,6.
Den Marktwert des Fremdkapitals ermitteln wir auf analoge Weise: 20,4[120(1 − 30,0 %)] = 171,4.
Damit liegt der abgeleitete Marktwert des Fremdkapitals um insgesamt 51,4€ Mio.€ € über seinem tatsächlichen Wert. Bei Unternehmen mit unterschiedlichen Verschuldungsgraden wird der Marktwert des Fremdkapitals also zu hoch wiedergegeben. Mit anderen Worten: Ist ein Unternehmen mit Fremdkapital finanziert, ist das EPS höher und das KGV niedriger als bei einem Unternehmen, das rein über Eigenkapital finanziert wurde. In der Realität wird das KGV eines Unternehmens höher sein als das seines Wettbewerbers, wenn unter sonst gleichbleibenden Bedingungen der Verschuldungsgrad geringer ist. Ein Unternehmen mit einer Nettofinanzposition von 100,0€Mio.€€ dürfte auf diese aktuell einen Nettogewinn von etwa 2,0€Mio.€€ erwirtschaften. Dies entspricht einem KGV von 50,0x. Das mit dem Halten von Liquidität verbundene
324
8â•… Eigenkapitalbasierte Kennzahlen
hohe KGV wird damit das operative KGV des Unternehmens künstlich nach oben verzerren. Zur Berechnung des liquiditätsbereinigten KGVs ist also die überschüssige Liquidität aus Zähler und Nenner des KGVs zu eliminieren, also etwa
KGVadj =
Marktkapitalisierung − ExcessCash . NetInc − Int(1 − τ )
(8.18)
Beispiel 8.9: Das liquiditätsadjustierte KGV╇ Ein Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von 2,5€Mrd.€€ erwirtschaftet einen Nachsteuergewinn in Höhe von 100,0€Mio.€€. Das KGV beläuft sich demnach auf 25,0x: KGV =
2.500,0 = 25,0x. 100,0
Aufgrund einer vor kurzem durchgeführten Kapitalerhöhung, mit der sich der Vorstand eine „Kriegskasse“ für etwaige Übernahmen einrichten wollte, weist das Unternehmen derzeit eine Nettofinanzposition von 700,0€ Mio.€ € auf. Der Anteil des Kassenbestands, der tatsächlich operativ eingesetzt wird, ist vernachlässigbar. Der Anlagezins bei der Hausbank liegt bei 2,0€%, die durchschnittliche Steuerquote beläuft sich auf Konzernebene auf 34,0€%. Das um die Liquidität adjustierte KGV liegt damit bei KGVadj =
2.500,0 − 700,0 = 19,8x 100,0 − 700,0 · 0,02(1 − 0,34)
und damit deutlich unter seinem nicht adjustierten Wert. Die Kapitalstruktur hat also signifikanten Einfluss auf das KGV. Liegt das unlevered KGV (also das KGV im Fall 100€ %iger Eigenkapitalfinanzierung) eines Unternehmens über dem Kehrwert der Fremdkapitalkosten, steigt das KGV mit zunehmendem Leverage an. Ein Unternehmen mit einem relativ hohen unlevered KGV kann in diesem Fall sein KGV erhöhen, indem es einen Debt-to-Equity-Swap durchführt20. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen. Beispiel 8.10: KGV bei unterschiedlichen Verschuldungsgraden╇ Auf seine Bruttoverschuldung von 150,0€Mio.€€ bezahlt ein Unternehmen einen durchschnittlichen Sollzinssatz von 9,0€% p.€a. Die jährlichen Zinsaufwendungen belaufen sich daher auf 13,5€Mio.€€. Das Vorsteuerergebnis liegt bei 10,0€Mio.€€, das Nachsteuerergebnis bei einer Steuerquote von 30,0€% bei
20╇
Vgl. Goedhart et€al. (2005).
8.1â•… Das KGV: Die populärste Kennzahl des Kapitalmarkts
325
7,0€Mio.€€. Mit 5,0€Mio. Aktien ergibt sich ein EPS von 1,40€€. Die Aktie notiert bei 20,00€€, das KGV liegt damit bei 14,3x. Der Vorstand entscheidet nun, über eine Kapitalerhöhung die vollständige Entschuldung der Gesellschaft durchzuführen. Für diese Transaktion begibt die Gesellschaft 150,0 = 7,5 Mio. 20,0
neue Aktien. Die Gesamtzahl der Aktien erhöht sich also von 5,0€Mio. auf 12,5€ Mio. Stück. Das nun unverschuldete Unternehmen „spart“ sich dementsprechend die Zinszahlungen an die Gläubiger in Höhe von jährlich 13,5€Mio.€€. Das Nachsteuerergebnis erhöht sich auf 7,0 + 13,5(1 − 0,3) = 16,5,
also auf 16,5€Mio.€€. Je Aktie entspricht dies einem Ergebnis von 16,5 = 1,32, 12,5
also von 1,32€€. Angesichts dieser Vorgaben beläuft sich das KGV der Gesellschaft nach der Kapitalerhöhung KGV auf 20,00 = 15,2x. 1,32
Unter sonst gleichbleibenden Bedingungen verringert sich durch die vollständige Eigenkapitalfinanzierung des Unternehmens dessen Ergebnis je Aktie und das KGV erhöht sich. Weitere Verzerrungen des KGVs ergeben sich bei steuerlichen Verlustvorträgen. In diesem Fall ist die Steuerlast niedriger als bei einem Unternehmen ohne Verlustvorträge. Der Vergleich von zwei Unternehmen mit identischem Vorsteuerergebnis würde damit zu unterschiedlichen Ergebnissen führen: Das Steuern zahlende Unternehmen würde ein niedrigeres Nachsteuerergebnis ausweisen und wäre dementsprechend mit einem höheren KGV bewertet als das steuerbefreite Unternehmen. Dies wäre an sich nicht problematisch, da der Verlustvortrag einen Wert darstellt, der sich in der Bewertung niederschlagen sollte. Allerdings wirken sich Verlustvorträge nur für einen begrenzten Zeitraum auf das Nachsteuerergebnis aus, entweder weil sie von Vorneherein nur für einen begrenzten Zeitraum genutzt werden können oder weil sie früher oder später aufgebraucht sein werden. Das KGV unterstellt allerdings ein gleichbleibendes Ergebnis bis in alle Ewigkeit und würde dementsprechend den Unternehmenswert zu hoch darstellen. Als praktikabel hat es sich
326
8â•… Eigenkapitalbasierte Kennzahlen
daher herausgestellt, das Vorsteuerergebnis fiktiv mit der normalisierten unternehmensspezifischen Steuerquote zu versteuern, anhand dieses Ergebnisses den inneren Wert des Eigenkapitals zu berechnen und zu diesem Zwischenergebnis anschließend den Barwert der Verlustvorträge zu addieren.21 Bei zyklischen Unternehmen kann die Verwendung eines vergangenheitsorientierten Kurs/Gewinn-Verhältnisses nachgerade kontraproduktive Anlageempfehlungen zur Folge haben. Zyklische Unternehmen weisen typischerweise an konjunkturellen Tiefpunkten ein sehr niedriges Nachsteuerergebnis und während der konjunkturellen Hochphase ein sehr hohes Nachsteuerergebnis auf. Die absolute Höhe des Ergebnisses führt zu ökonomisch sinnlosen Ergebnissen: Ist das EPS sehr klein, ergeben sich für das KGV extrem hohe Werte, wird das Ergebnis je Aktie negativ, lässt es sich nicht mehr berechnen. Würde man stringent ein niedriges KGV mit einer „günstigen“ Bewertung und ein hohes KGV mit einer „teuren“ Bewertung gleichsetzen, hätte dies zur Folge, dass man die Aktie just zu dem Zeitpunkt verkauft, an dem die Kursentwicklung wieder nach oben dreht. Um dieses prozyklische Anlageverhalten, das auch als Molodovsky-Effekt Eingang in die Literatur gefunden hat22, zu umgehen, wird das KGV üblicherweise normalisiert. Man berechnet also ein EPS, wie es unter durchschnittlichen Bedingungen während eines Konjunkturzyklus erwirtschaftet werden kann. Zur Normalisierung des EPS stehen zwei Möglichkeiten offen, • die direkte Methode: Hierbei wird das normalisierte EPS aus den historischen Werten eines vollständigen Konjunkturzyklus berechnet, oder • die indirekte Methode: Hierbei wird das normalisierte EPS aus der durchschnittlichen Eigenkapitalrendite ROE des Unternehmens während des letzten vollständigen Konjunkturzyklus ermittelt, die dann mit dem aktuellen Buchwert je Aktie multipliziert wird. Da die erste Vorgehensweise ein tendenziell steigendes Geschäftsvolumen außer Acht lässt, ist die zweite zu bevorzugen. Dabei sollte der Zeitraum für die Normalisierung keinesfalls zu kurz gewählt werden, um Verzerrungen einzelner Jahre zu vermeiden. Value-Investoren sehen einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren als repräsentativ an. Beispiel 8.11: Normalisierung des EPS bei zyklischen Unternehmen╇ Ein global tätiger Stahlhersteller weist in den vergangenen zehn Jahren folgende Entwicklung bei EPS, Buchwert je Aktie BVPS und Eigenkapitalrentabilität ROE auf:
Vgl. hierzu ausführlich Kap.€5.7. Benannt nach Nicolas Molodovksy, der über dieses Phänomen in den 1950er Jahren geschrieben hat.
21╇ 22╇
8.1â•… Das KGV: Die populärste Kennzahl des Kapitalmarkts
tâ•› − â•›9 tâ•› − â•›8 tâ•› − â•›7 tâ•› − â•›6 tâ•› − â•›5 tâ•› − â•›4 tâ•› − â•›3 tâ•› − â•›2 tâ•› − â•›1 t
Ergebnis je Aktie (€) 0,88 0,09 −╛╛1,88 −╛╛0,73 1,98 2,34 0,83 1,25 0,55 2,12
Buchwert je Aktie (€) 5,22 5,30 4,00 3,50 4,90 6,50 7,10 8,00 8,40 9,90
327
ROE (%) 16,9 1,7 n/a n/a 40,4 36,0 11,7 15,6 6,5 21,4
Aktuell notiert die Aktie bei 17,80€€. Im Durchschnitt des abgelaufenen Konjunkturzyklus konnte der Stahlhersteller ein Ergebnis von 1,26€€ je Aktie erwirtschaften. Jahre, in denen das Unternehmen Verluste erwirtschaftet hat, werden in die Berechnung nicht mit einbezogen. Das aktuelle KGV auf Basis der durchschnittlichen EPS liegt damit bei 14,2x. Zu einem anderen Ergebnis gelangen wir, wenn wir die durchschnittliche Eigenkapitalrendite berechnen. Sie lag in den zehn Jahren (ohne Verlustjahre) bei 18,8€%. Bezogen auf den aktuellen Buchwert je Aktie von 9,90€€ errechnet sich ein durchschnittliches EPS von 1,86€€ und damit ein trailing KGV von 9,6x. Betrachtet man die Entwicklung des Buchwertes, so ist festzuhalten, dass der Stahlhersteller in den vergangenen Jahren deutlich an Größe zulegen konnte. Dieser Umstand wird nur in der zweiten Methode wiedergegeben. Daher ist das aus dieser Methode berechnete KGV zu bevorzugen. Zu Beginn des dritten Kapitels wurde eine der Grundannahmen der Unternehmensbewertung skizziert, der Zeitwert des Geldes und die Opportunitätskosten von Investitionen. Der Fokus auf das Ergebnis je Aktie ignoriert diesen Zusammenhang. Mit anderen Worten: Das Ergebnis je Aktie ignoriert die Opportunitätskosten. In einem wertschöpfungsbasierten Bewertungsverfahren ist eine Steigerung des Unternehmenswertes nur möglich, wenn Renditen auf Investitionen generiert werden, die über den Kapitalkosten liegen. Das Gewinnkonzept des Ergebnisses je Aktie muss diese Forderung nicht erfüllen: Das Management kann seinen Unternehmenswert steigern, ohne dass Neuinvestitionen die Kapitalkosten übersteigen23.
23╇
Vgl. Rappaport und Mauboussin (2001, S.€15€ff.).
8â•… Eigenkapitalbasierte Kennzahlen
328
Beispiel 8.12: Die Schwächen des KGV╇ Angenommen, die beiden mittelständischen Unternehmen HighCapex AG und LowCapex AG sollen mit Hilfe des KGV bewertet werden. Aus der Datenbank eines Consensus-Dienstleisters kann folgende Ergebnisreihe heruntergeladen werden: Mio.€€
t
HighCapex AG Jahresüberschuss LowCapex AG Jahresüberschuss
100,0 100,0
tâ•› + â•›1 110,0 110,0
tâ•› + â•›2 121,0 121,0
tâ•› + â•›3 133,1 133,1
Basierend auf diesen Angaben und unter der Voraussetzung, beide Unternehmen hätten dasselbe Risiko, hätten beide Gesellschaften unter Verwendung ertragsbasierter Bewertungsmultiplikatoren wie dem KGV denselben Wert. Der ausschließliche Blick auf die Ertragsentwicklung kann allerdings irreführend sein, da in ihnen die Information, wie die Erträge erwirtschaftet wurden, nicht enthalten ist. Betrachten wir nun die Cashflows der beiden Unternehmen, können wir folgende Entwicklung entdecken: Mio.€€ LowCapex AG
HighCapex AG
t Jahresüberschuss Investitionen Cashflow Jahresüberschuss Investitionen Cashflow
100,0 20,0 80,0 100,0 40,0 60,0
tâ•› + â•›1 110,0 22,0 88,0 110,0 44,0 66,0
tâ•› + â•›2 121,0 24,2 96,8 121,0 48,4 72,6
tâ•› + â•›3 133,1 26,6 106,5 133,1 53,2 79,9
Nun wird aufgedeckt, dass die HighCapex AG ihren Jahresüberschuss nur deshalb erwirtschaften kann, weil sie doppelt so viel investiert wie die LowCapex AG. Der Freie Cashflow von LowCapex ist deutlich höher als der von HighCapex. Vor diesem Hintergrund sollte LowCapex mit deutlich höheren Multiplikatoren bewertet werden als HighCapex. Bewerten wir beide Unternehmen anhand eines DCF-Modells und nehmen ferner an, die erwarteten Cashflow-Wachstumsraten lägen bei jeweils 5,0€% und die WACC bei jeweils 10,5€%, ergäbe sich unter Verwendung von Formel (5.46) für HighCapex ein Unternehmenswert von Mio.€€ Barwert
tâ•› + â•›1 79,6
tâ•› + â•›2 79,3
tâ•› + â•›3 78,9
TV 1.506,6
in Summe also von 1.744,5€Mio.€€ und für LowCapex von Mio.€€ Barwert
tâ•› + â•›1 59,7
tâ•› + â•›2 59,5
tâ•› + â•›3 59,2
TV 1.130,0
in Summe also von 1.308,4€ Mio.€ €. Unter Vernachlässigung von Schulden oder sonstigen Ansprüchen an den Unternehmenswert kommt eine aus fundamentalanalytischen Faktoren abgeleitete Unternehmensbewertung zum Ergebnis, dass die Aktien der LowCapex AG mit einem KGV von 15,9x
8.1â•… Das KGV: Die populärste Kennzahl des Kapitalmarkts
329
gehandelt werden dürfen, ohne dass eine Überbewertung vorliegt, die der HighCapex dagegen bereits bei einem KGV von 11,9x als ausreichend bewertet anzusehen sind. Mit anderen Worten: Zwei Unternehmen mit demselben Ertragsniveau, mit demselben Ertragswachstum und demselben unternehmerischen Risiko können durchaus mit völlig unterschiedlichen Ertrags-Multiplikatoren gehandelt werden. Von verschiedener Seite wird gegen das KGV eingewendet, dass sich die Kennzahl auf Ertrags- und Aufwandsströme stützt und damit durch Bilanzierungs- und Bewertungsspielräume beeinflusst wird24 Wie Buchhalter ein operatives Ereignis beurteilen, hat unter Umständen wenig damit zu tun, wie es vom Kapitalmarkt goutiert wird. Stärker als andere Ertragskennzahlen wie das EBIT oder das EBITDA, die im Schema der GuV weiter oben rangieren, ist das Ergebnis je Aktie von bilanzpolitischen Spielräumen bzw. unterschiedlichen nationalen Rechnungslegungs- und Steuervorschriften bestimmt. Im Ergebnis kann es durch unterschiedliche Abschreibungsmethoden von Sachanlagen, durch eine unterschiedliche Amortisation der Geschäfts- und Firmenwerte, durch die Bildung von Rückstellungen und von latenten Steuern zu Differenzen in den Multiplikatoren der Peergroup und des zu bewertenden Unternehmens kommen. Auch durch unterschiedliche Steuerbelastungen und –gesetzgebungen, insbesondere im Falle steuerlicher Verlustvorträge, können sich Unterschiede im Ergebnisausweis von Unternehmen ergeben. Dennoch ist die auf unterschiedlichen Rechnungslegungsvorschriften basierte Kritik nur zum Teil zutreffend, da es dem Bewertenden offen steht, das berichtete Ergebnis von verzerrenden Einmaleffekten zu befreien. Darüber hinaus betreffen derartige Einmaleffekte in der Regel nur das Ergebnis des laufenden Geschäftsjahres, im folgenden Jahr, anhand dessen ein prospektives KGV berechnet wird, fallen sie nicht mehr an. Auch der Einwand, dass nur die Liquiditäts-, nicht jedoch die Gewinnentwicklung die wahre Wertschöpfung eines Unternehmens widerspiegelt, und das KGV demnach eine unzulässige Abkürzung auf dem Pfad der Unternehmensbewertung darstellt, greift zu kurz. Bei einer rein auf den Jahresüberschuss ausgerichteten Unternehmensbewertung wird die Wertschöpfung an der Erzielung von Gewinnen ausgerichtet, nicht an das Einsammeln der mit den Gewinnen verbundenen liquiden Mittel. Bestehen im Einzelfall Zweifel an der Fähigkeit des Unternehmens, diese liquiden Mittel zu vereinnahmen, würde der Kapitalmarkt nicht nur das KGV ablehnen, sondern nicht in die Aktien dieses Unternehmens investieren. Ein weiteres Defizit des KGV ist, dass es Wertschöpfung suggerieren kann, wo keine ist. Dieses tritt insbesondere bei Übernahmen zu Tage. Beispiel 8.13: Weitere Schwächen des KGV╇ Angenommen, ein Unternehmen mit einem Aktienkurs von 80,00€€ und einem Ergebnis je Aktie von 5,00€€ plant, einen kleineren Wettbewerber zu übernehmen, dessen Kurs bei 20,00€€ notiert und der ein Ergebnis je Aktie von 2,00€€ erwirtschaftet hat. Um 24╇
Vgl. stellvertretend Steward (1991, S.€24) oder LeClair (1990, S.€34).
330
8â•… Eigenkapitalbasierte Kennzahlen
an die Aktienmehrheit zu gelangen, muss den freien Aktionären eine Übernahmeprämie von 40,0€% angeboten werden. Der gesamte Kaufpreis beläuft sich damit auf 28,00 je Aktie. Die Finanzierungskosten der vollständig Kredit finanzierten Übernahme liegen bei 6,0€%. Damit errechnet sich für den neu geschaffenen Konzern ein Ergebnis je Aktie von 5,32€€: € EPS vor Übernahme Anteil am Gewinn am übernommenen Unternehmen Finanzierungskosten je Aktie EPS nach Übernahme
5,00 2,00 −╛╛1,68 5,32
Das Ergebnis je Aktie ist damit um 6,4€% gestiegen. Solange keine Synergieeffekte zwischen den beiden Gesellschaften gehoben werden können, ist dieses Ergebnis ziemlich überraschend: Es suggeriert, der Unternehmenskäufer hätte durch die Übernahme einen Wert von 0,32€€ je Aktie geschaffen, obwohl er tatsächlich eine Übernahmeprämie von 40,0€ % auf einen an der Börse gehandelten Preis bezahlt und damit voraussichtlich Werte vernichtet hat. Das Ausmaß der Wertvernichtung lässt sich sogar genau kalkulieren. Es entspricht der Differenz zwischen Kaufpreis und dem Börsenkurs, also 28,00 − 20,00 = 8,00,
das heißt 8,00€€ je Aktie. Ursächlich für dieses Paradoxon ist die Tatsache, dass die Inverse des KGVs der übernommenen Gesellschaft, also
1 = 0,1 = 10,0 % 20,00 2,00
größer ist als die Finanzierungskosten von 6,0€%. Erst wenn die Inverse des KGVs kleiner ist als die Finanzierungskosten, führt die Übernahme einer Gesellschaft zu einer Verwässerung des Ergebnisses je Aktie und damit zu einem Anstieg des KGVs. Der Anstieg des Ergebnisses je Aktie kann damit nicht als Gradmesser herhalten für die Wertschöpfung eines Unternehmens. Das Ergebnis je Aktie ist nur eine buchhalterische Größe, nicht ein Maßstab für Wertschöpfung. Wird ein Depot aus Aktien mit niedrigen KGVs eine überdurchschnittliche Performance erzielen? Rein statistisch wird das Portefeuille tatsächlich einige unterbewertete Aktien enthalten, die nach dem Erwerb eine überdurchschnittliche Kursentwicklung versprechen. Die unkritische Ausrichtung auf Aktien mit niedrigem KGV wird allerdings auch den Erwerb von Aktien zur Folge haben, die aus gutem Grund
8.2â•… Price-Earnings to Earnings-growth-Ratio (PEG-Ratio)
331
niedrig bewertet sind: Unternehmen mit schwacher Bilanzqualität, mit historisch schlechter Erfolgsbilanz, was die Erreichung der Ertragsziele betrifft, mit volatiler Ertragsentwicklung, was durch ein höheres Risiko zu kompensieren ist, oder mit geringen Wachstumsaussichten, etwa weil das Produkt oder die angebotene Dienstleistung veraltet sind. Derartige Entwicklungen werden durch einen eindimensionalen Blick auf das KGV nicht widergespiegelt.
8.2 P rice-Earnings to Earnings-growth-Ratio (PEG-Ratio) Wie in Formel (8.10) gezeigt wurde, ist das KGV nur so lange ein adäquater Bewertungsmaßstab, wie Aktien mit vergleichbarem Risiko und mit ähnlicher Wachstumsdynamik miteinander verglichen werden. Unternehmen mit hohem Gewinnmomentum weisen an den Kapitalmärkten in der Regel höhere KGVs auf als Aktien mit niedrigerem Gewinnwachstum. Die unterschiedliche Wachstumsdynamik wird also unmittelbar Auswirkungen auf die Bewertung einer Aktie haben. Wachstum als bewertungsrelevante Größe ist dementsprechend in die Analyse mit einzubeziehen. Hier setzt die Price-earnings to Earnings-Growth-Ratio, kurz PEG-Ratio, von Jim Slater an25. Dieses explizit dynamische Bewertungskonzept beruht auf der Überlegung, dass ein optisch hohes KGV nicht notgedrungen auf eine Überbewertung der Aktie hinweisen muss, selbst wenn das unternehmerische Risiko der beteiligten Unternehmen identisch ist. Wie aus den Fundamentalfaktoren des KGV abgeleitet wurde, würde ein Gewinnwachstum, das höher ist als das KGV, als Rechtfertigung für einen Aktienkauf ausreichend sein. Ohne Berücksichtigung des Gewinnwachstums (und anderer fundamentaler Faktoren) ist das Konzept des KGV also von relativ geringem Wert. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen. Beispiel 8.14: Unterschiedliche Wachstumsdynamik╇ Zwei Restaurantketten, die SlowFood AG und FastFood AG, sind auf ihre Vorteilhaftigkeit zu analysieren. Das KGV soll als Bewertungsmaßstab angewendet werden. Basierend auf den Gewinnschätzungen der Periode t ergibt sich, dass die SlowFood AG mit einem KGV von 10,0x attraktiver bewertet ist als die FastFood AG mit einem KGV von 11,0x. € Kurs EPSt KGV (x)
25╇
Slater (1992).
SlowFood AG 35,00 3,50 10,0
FastFood AG 57,20 5,20 11,0
8â•… Eigenkapitalbasierte Kennzahlen
332
Die Geschwindigkeit, mit der die FastFood AG neue Restaurants eröffnet, ist allerdings wesentlich höher als die der SlowFood AG, weshalb sich die Ergebniswachstumsraten des kommenden Jahres deutlich unterscheiden werden. Auf Basis der abgeleiteten Consensus-Gewinnschätzungen des Jahres t╛╛+╛╛1 wäre nun die Fastfood AG günstiger bewertet:
g (%) EPSt╛╛+╛╛1 (€) KGVt╛╛+╛╛1 (x)
SlowFood AG 5,0 3,68 9,5
FastFood AG 25,0 6,50 8,8
Das hohe KGV eines Unternehmens muss nicht notwendigerweise auf eine Überbewertung der Aktie hindeuten, sondern es kann auch Ausdruck optimistischer Wachstumsprognosen sein, die dieses hohe KGV gegenüber langsamer wachsenden Unternehmen relativieren. Die PEG-Ratio wird ermittelt, indem das Kurs/Gewinn-Verhältnis KGV durch die erwartete durchschnittliche Wachstumsrate des Ergebnisses je Aktie g dividiert wird, also:
PEG − Ratio =
KGV . g
(8.19)
Durch die Wachstumsadjustierung werden unterschiedlich schnell wachsende Unternehmen normalisiert. Aus einer statischen Kennzahl, dem KGV, wird ein dynamischer Momentumindikator, die PEG-Ratio. Unternehmen aus Wachstumsbranchen können daher durch die Verwendung der PEG-Ratio miteinander verglichen werden. Damit unterstellt die Anwendung der PEG-Ratio implizit, dass eine Erhöhung des Wachstums immer werterhöhend ist; eine höhere Wachstumsrate würde ein höheres KGV quasi rechtfertigen. Je kleiner die PEG-Ratio ist, desto attraktiver ist die Aktie bewertet. PEG-Ratio und erwartete Kursperformance einer Aktie sind also negativ miteinander korreliert. Als Daumenregel hat sich in der kapitalmarktorientierten Bewertungspraxis durchgesetzt, dass eine PEG-Ratio von unter Eins eine Unterbewertung der Aktie signalisiert und eine PEG-Ratio von über Eins eine Überbewertung. Sicherlich scheint ein höheres Wachstum auch ein höheres KGV zu rechtfertigen. Die häufig zu lesende Begründung, dass eine Wachstumsrate von 30€% auch ein KGV von 30x rechtfertigen würde, offenbart schnell diesen Irrtum. Im Umkehrschluss würde dies nämlich bedeuten, dass eine Aktie mit einem nachhaltigen Gewinnwachstum von 1€% lediglich ein KGV von 1,0x rechtfertigen würde, womit bei Vollausschüttung der Kaufpreis der Aktie mit der nächstjährigen Dividende gedeckt wäre. Diese Daumenregel klingt willkürlich, und angesichts einer fehlenden theoretischen Überprüfung ist sie das auch. Daher wird im praktischen Einsatz die PEG-Ratio meist nur für eine über-
8.2â•… Price-Earnings to Earnings-growth-Ratio (PEG-Ratio)
333
schlägige Ersteinschätzung eingesetzt (nur am Rande erwähnt wird an dieser Stelle, dass die PEG-Ratio für alle Unternehmen gleichermaßen berechnet werden sollte). Überhaupt ist a priori unklar, ob der durch die PEG-Ratio unterstellte lineare Zusammenhang zwischen KGV und Gewinnwachstum überhaupt existiert und wenn ja, ob dieser Zusammenhang statistisch relevant ist: Werden Aktien, deren Gewinnwachstum doppelt so hoch ist wie das eines Wettbewerbers, tatsächlich mit dem doppelten KGV gehandelt? Kann dieser Zusammenhang empirisch nicht bestätigt werden, würden Aktien mit einem hohen Wachstum den Eindruck erwecken, unterbewertet zu sein, obwohl sie das in der Realität nicht sind. Tatsächlich existiert dieser implizit unterstellte Zusammenhang zwischen Gewinnwachstum und KGV nicht, zumindest nicht für Unternehmen in der Reifephase des Lebenszyklus. Dividiert man die für Unternehmen in der Reifephase anzuwendende Gl.€(8.4) durch das erwartete Gewinnwachstum während der Reifephase gR, erhält man die aus den Fundamentaldaten abgeleitete PEG-Ratio:
P0 δ0 (1 + gR ) EPS1 , = PEG = gR gR (r EK − gR )
für rEK > gR .
(8.20)
Die verschiedenen Parameter auf der rechten Seite der Gleichung zeigen, dass das Ergebniswachstum nicht die einzig relevante Komponente der PEG-Ratio ist. Ausgeblendet werden Wachstum, Risiko, Ausschüttungsquote und Eigenkapitalrentabilität. Berücksichtigt man diese Werttreiber, dann dürften viele Unternehmen, die unter Berücksichtigung der PEG-Ratio im Peergroup-Vergleich unterbewertet erscheinen, in Wahrheit richtig bewertet oder sogar überbewertet sein. Ein Unternehmen, das in volatileren Geschäftsfeldern tätig ist und dessen Aktie ein höheres Risiko trägt, wird für jede gegebene Wachstumsrate ein niedrigeres KGV aufweisen als ein ertragsstabiles Unternehmen mit geringem Risiko. Damit ist die PEG-Ratio umso niedriger, je höher das Geschäftsrisiko ist. Der Vergleich zweier Unternehmen mit Hilfe der PEG-Ratio würde also implizieren, dass eine Aktie umso günstiger bewertet ist, je höher das systematische Risiko des Unternehmens ist, eine völlig absurde Vorstellung. Gleichzeitig ist bei der PEG-Ratio immer auch die Qualität des Wachstums zu bewerten. Denn ein Unternehmen, das ein Wachstum von 20€% mit einer Ausschüttungsquote von 30€% erwirtschaftet ist tendenziell schlechter einzuschätzen bewerten als ein Unternehmen, das dieses Wachstum mit einer Ausschüttungsquote von 50€% erreicht. Einem Unternehmen mit höherer Ausschüttungsquote kann daher eine höhere PEG-Ratio zugebilligt werden als einem Unternehmen, das große Teile seines ausschüttungsfähigen Gewinns thesauriert. Im Übrigen gilt Zusammenhang (8.20) nur für Unternehmen, deren Eigenkapitalkosten die erwartete Wachstumsrate übersteigen. Gilt dagegen rEKâ•› gR,
wobei i das spezifische Wertpapier und DAX den Deutschen Aktienindex bezeichnen – wobei jeder beliebige nationale Index verwendet werden kann. Auch hier zeigt sich, dass das relative KGV letztlich von all jenen Parametern abhängig ist, die
8.4â•… Das historische KGV
339
auch das absolute KGV determinieren: Wachstumsraten, Profitabilität und Diskontierungssätze, diesmal allerdings als relative Größen in Bezug zum Gesamtmarktindex. Das heißt, das relative KGV ist abhängig vom relativen EPS-Wachstum des Unternehmens im Verhältnis zum Gesamtmarkt, vom relativen Risiko im Verhältnis zum Gesamtmarkt und von der relativen Ausschüttungsquote im Verhältnis zum Gesamtmarkt. Relative Bewertungskennzahlen wie das relative KGV werden in der Praxis eher selten verwendet, zumal sie ähnlich der PEG-Ratio eher unter die Bepreisungsmechanismen fallen als unter die Bewertungskennzahlen i.€e.€S. Selbst wenn Aktien über einen längeren Zeitraum mit einem Auf- oder Abschlag zum Gesamtmarkt gehandelt wurden, ist dies keine Begründung dafür, dass dies auch in Zukunft so sein muss. Zudem führt diese Sichtweise zu einem gefährlichen Zirkelschluss: Selbst wenn eine Aktie längere Zeit mit einem durchschnittlichen Aufschlag von 30€ % zum DAX gehandelt wurde, ist sie dann tatsächlich unterbewertet, wenn der Aufschlag nur noch 20€% beträgt? Dieser im Grunde wenig analytische Ansatz verkennt zudem die Tatsache, dass Aktien von Zeit zu Zeit neubewertet werden, weil es Neuentwicklungen und technischen Fortschritt gibt, weil sich die Wettbewerbssituation geändert hat, weil es Änderungen im regulatorischen Umfeld gibt oder einfach nur, weil eine Aktie nicht länger en vogue ist oder sich im Gegenteil durch die gleichzeitige Aufnahme der Research Coverage mehrerer Häuser ein regelrechter Hype um das Wertpapier entwickelt. In den meisten Fällen gibt es gute Gründe, warum eine Aktie mit einem anhaltend deutlichen Auf- oder Abschlag zum Gesamtmarkt gehandelt wird. Dies lässt sich jedoch nicht durch das relative KGV erklären. Last but not least, kann eine Über- oder Unterbewertung einer Aktie gegenüber dem Marktindex auch daher stammen, dass sich die Zusammensetzung des Indizes geändert hat.
8.4 Das historische KGV Anstatt einen unternehmensspezifischen Multiplikator ins Verhältnis zu einem breiten Aktienindex zu setzen, in welchem die Aktie des betroffenen Unternehmens womöglich noch nicht einmal enthalten ist, setzen historische Kennzahlen einen aktuellen Unternehmensmultiplikator ins Verhältnis zu seinen eigenen historischen Durchschnittswerten. Das historische KGV kann damit als Alternative zur Bewertung einer Aktie mit anderen Unternehmen eingesetzt werden, zum Beispiel, wenn es keine sinnvollen Vergleichsunternehmen gibt. Die der Vorgehensweise zugrunde liegende Überlegung ist das bekannte Reversion to the Mean-Argument, wonach sich Multiplikatoren tendenziell ihren langjährigen Durchschnittswerten annähern. Der Wert des Eigenkapitals errechnet sich damit aus folgender Formel:
V0 = KGVHistorischerDurchschnitt EPS1 .
(8.25)
340
8â•… Eigenkapitalbasierte Kennzahlen
Natürlich gewinnt ein historisches KGV an Aussagekraft, je länger das Unternehmen an der Börse notiert ist. Für einen aussagekräftigen Durchschnittswert ist also – wenn möglich – ein kompletter Konjunkturzyklus ansetzen, also etwa zehn Jahre. Beispiel 8.16: Das historische KGV╇ Die Aktie der Restaurantkette SlowFood AG aus Beispiel€8.14 weist für die vergangenen zehn Jahre folgende Entwicklung auf: €
P0
EPS1
Forward KGV (x)
tâ•›−â•›9 tâ•›−â•›8 tâ•›−â•›7 tâ•›−â•›6 tâ•›−â•›5 tâ•›−â•›4 tâ•›−â•›3 tâ•›−â•›2 tâ•›−â•›1 t
26,60 23,30 17,90 34,40 35,70 23,80 19,90 34,40 36,40 35,00
2,20 2,50 2,75 3,10 2,90 2,40 2,65 3,10 3,25 3,50
12,1 9,3 6,5 11,1 12,3 9,9 7,5 11,1 11,2 10,0
Aufgrund der langjährigen Börsenhistorie kann der historische Durchschnittswert zur Unterstützung anderer Bewertungsverfahren herangezogen werden. Wir ermitteln für den Zeitraum t╛╛− 9 bis t ein durchschnittliches KGV von 10,1x. Bezogen auf das für tâ•›+â•›1 erwartete Ergebnis je Aktie von 3,68€€ entspricht dies einem Kursziel von V0 = KGVHistorischerDurchschnitt EPS1 = 10,1 · 3,68 = 37,12,
also von 37,12€€ je Aktie. Problematisch an dieser Vorgehensweise ist, dass sich im Zeitablauf die Risikostruktur eines Unternehmens ändern kann, was Veränderungen in den zugrunde liegenden Multiplikatoren zur Folge haben kann. Zum Beispiel könnte ein Unternehmen in neue Geschäftfelder expandieren, was die Risikostruktur des Gesamtkonzerns beeinflussen könnte. Auch die täglichen Schwankungen der Renditen langfristig laufender Staatsanleihen oder der vom Markt geforderten impliziten Risikoprämien zieht in periodischen Abständen eine Neubewertung des Gesamtmarktes und damit auch der Aktie nach sich, was die Aussagefähigkeit von historischen Multiplikatoren gerade „in the long run“ schmälert. Derartige Re-Ratings würden durch einen langjährigen Durchschnittswert nicht abgebildet, was eine Verzerrung der Ergebnisse zur Folge haben kann. Eine Aktie, die im langfristigen Trend als unterbewertet erscheinen mag, kann in Wirklichkeit fair bewertet oder sogar über-
8.4â•… Das historische KGV
341
bewertet sein u.€u. Auch eine Veränderung der Inflationsraten im Zeitablauf kann verzerrende Auswirkungen auf das KGV haben. So tendieren Investoren in Zeiten hoher Inflationsraten dazu, den erwirtschafteten Gewinnen einen niedrigeren Wert zuzuweisen als in Zeiten niedriger Inflationsraten. Das KGV, das sie damit in inflationären Zeiten akzeptieren, ist niedriger als in Zeiten der Preisstabilität32. Nicht zuletzt können auch Gewinnwarnungen oder Managementwechsel ursächlich für eine Veränderung der historischen Multiplikatoren sein. Neben dem KGV kommen historische Durchschnittswerte auch beim KCF, beim KBV und bei EV-basierten Multiplikatoren zum Einsatz. Wie gezeigt wurde, gibt es einigen Bedarf, was die Präzisierung der Ergebniskomponente des KGV anbelangt. Der Zähler ist demgegenüber vergleichsweise unstrittig, man verwendet in der Regel den aktuellen Börsenkurs. Nicht so Robert Shiller, der stattdessen einen monatlichen Durchschnittskurs verwendet. Sein Argument ist, dass ein Investor eine Aktie über einen längeren Zeitraum erwirbt und nicht nur am Monatsultimo. Doch auch beim Nenner setzt Shiller ein alternatives Konzept ein: Anstatt das Ergebnis eines einzigen Jahres verwendet Shiller den Ergebnis-Durchschnittswert eines längeren Zeitraums, zum Beispiel von fünf oder zehn Jahren, um einen vollständigen Konjunkturzyklus abzubilden. Beim trailing KGV 2011 würde Shiller also den Durchschnittswert des EPS der Jahre 2006 bis 2010 verwenden:
KGVShiller =
PØ 0 . T EPSt
(8.26)
t=1
T
In nachstehender Abbildung wird ersichtlich, dass durch die Verwendung des Shiller-KGVs nicht unbedingt viel gewonnen wird. Ursächlich hierfür ist, dass die Unternehmensgewinne im Zeitablauf tendenziell ansteigen. Durch die reine Vergangenheitsbetrachtung liegt damit das Shiller-KGV nahezu ausnahmslos über dem Trailing KGV, hier dargestellt anhand der DAX-Gewinne (Abb.€8.3). Aufgrund der langfristigen Orientierung des Shiller-Konzepts erscheint es gegeben, ein Ergebnis je Aktie zu verwenden, das um die Inflationsrate adjustiert wurde. Doch dies ist nicht ausreichend: Werden weniger als 100€% des ausschüttungsfähigen Nachsteuerergebnisses an die Aktionäre zurückgegeben, sollte das Ergebnis je Aktie mit einer Wachstumsrate steigen, die die Inflationsrate und die Rendite auf die thesaurierten Erträge umfasst. In einer Phase, in der größere Anteile des Ergebnisses thesauriert werden, würde das Shiller-KGV daher das KGV zu hoch ausweisen, was eine Fehlbewertung zu Folge hätte. In Deutschland lag die Ausschüttungsquote der im DAX notierten Unternehmen im Zehnjahreszeitraum 2001 bis 2010 bei 43,1€% (Abb.€8.4): Ein mit Shiller vergleichbares, jedoch ungleich weniger verbreitetes Konzept verwendet John P Hussman. Das Hussmann-KGV ist definiert als der aktuelle Ak32╇
Vgl. hierzu Bodie et€al. (2008, S.€453).
342
8â•… Eigenkapitalbasierte Kennzahlen 700
50 DAX-Gewinne (RS)
Shiller KGV
600
40 500 30
400 300
20
Trailing DAX KGV
200 10 100
2011
2009
2007
2005
2003
2001
1999
1997
1995
1993
1991
1989
1987
1985
1983
1981
1979
1977
1975
0 1973
0
Abb. 8.3↜渀 DAX-Gewinne, Trailing KGV, Shiller KGV, 1973–2010. (Quelle: Thomson Financial Datastream)
120%
100%
80%
60%
Mittelwert 40%
20%
0% 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010
Abb. 8.4↜渀 Ausschüttungsquote des DAX, 1995–2010. (Quelle: SdK, eigene Berechnungen)
8.5â•… Cash Earnings- und Cashflow-Relationen
343
tienkurs dividiert durch den, im laufenden Zyklus erwirtschafteten Höchstwert im Nachsteuerergebnis je Aktie. Doch welche Botschaft steckt für einen Investor letztlich hinter dem Mean Reversion-Argument? Ist die Bewertung einer Aktie deutlich unter ihrem fundamental gerechtfertigten Wert gleichbedeutend mit einem Kaufsignal und der Erwartung, damit eine Outperformance erzielen zu können? Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, ob der Multiplikator oder der Börsenkurs die Orientierungsgröße darstellt, also ob eine zwischenzeitliche Divergenz zwischen Kurs und Wert durch eine Anpassung des Kurses oder des der Wertfindung zugrundeliegenden Multiplikators geschlossen wird. Ist der fundamental ermittelte Wert der Aktie die langfristig richtige Orientierungsgröße, dann ist die Frage zu bejahen. Hat dagegen der Markt Recht und ist der Kurs die korrekte Orientierungsgröße, dann folgen die trägen Analystenschätzungen mit zeitlicher Verzögerung den Kursbewegungen und die Beantwortung der Frage fällt negativ aus. Für beide Seiten gibt es eine Reihe triftiger Argumente und empirische Belege. Die Antwort scheint also weniger auf ein „entweder-oder“ hinauszulaufen als auf ein Zusammenwirken beider Sichtweisen. Tatsächlich können periodisch auftretende Differenzen zwischen Kursen und Werten sowohl durch die Kursentwicklung als auch durch eine gegenläufige Bewegung der Multiplikatoren begründet werden. Es ist also fallweise zu analysieren, welches die Orientierungsgröße ist.
8.5 Cash Earnings- und Cashflow-Relationen Um einigen der oben genannten Defiziten des KGVs auszuweichen, insbesondere in Bezug auf die generelle Abhängigkeit, mit der Ertragskennzahlen von dispositiven Entscheidungen und bilanzpolitischen Maßnahmen des Managements abhängig sind, kann die Verwendung von auf Cash Earnings bezogenen Kennzahlen in Erwägung gezogen werden. Leider hat sich noch keine allgemein anerkannte Definition der Cash Earnings am Kapitalmarkt etablieren können. Völlig unterschiedliche Versionen dieser Kennzahl sind daher im Umlauf. Manche (darunter Coca Cola) definieren Cash Earnings als EBITDA je Aktie, andere wie First Call, einem Anbieter von Consensus-Zahlen für Analystenschätzungen, definieren die Cash Earnings als EBITA. In Broker-Reports dürfte dagegen die Praktikerformel am häufigsten zum Einsatz kommen, bei der Cash Earnings als Summe aus Nachsteuerergebnis NI, Abschreibungen Dep und Amortisationen Amo (und – soweit vorhanden – den Veränderung von Pensionsrückstellungen ∆PR) berechnet werden. Das Kurs/Cashflow- oder Kurs/Cash Earnings-Verhältnis (KCF bzw. KCE) ist wie folgt definiert:
KCE =
P0 . NetInc1 + Dep1 + Amo1 + PR NoSh
(8.27)
344
8â•… Eigenkapitalbasierte Kennzahlen
Unbestritten stellen Cash Earnings eine Kennzahl dar, die in geringerem Maße von buchhalterischen Entscheidungen des Managements abhängig ist als das Nachsteuerergebnis. Doch die Investitionen in das Working Capital bleiben unberücksichtigt, so dass es keine echte Cash-Kennzahl darstellt. Aufgrund unterschiedlicher Bewertungsmethoden und bilanzpolitischer Ansatzwahlrechte sind die dominierenden, nicht-liquiditätsrelevanten Aufwandspositionen, namentlich Abschreibungen auf Sachanlagen und die Zuführung zu den Pensionsrückstellungen, kaum miteinander vergleichbar. Immerhin können mit dem KCE-Verhältnis diese beiden, das KGV verzerrenden Eingriffe umgangen werden. Dadurch ist das KCE-Verhältnis für einen internationalen Bewertungsvergleich besser geeignet als das KGV. Da das KCE-Verhältnis jedoch eine ebenso statische Kennzahl wie das KGV ist, kommt es bevorzugt dann zum Einsatz, wenn die Vorhersagbarkeit der Werttreiber über einen bestimmten Zeithorizont hinaus gering ausgeprägt ist, vor allem also in zyklischen Branchen wie der Automobil- und Chemieindustrie, aber auch in Wachstumsindustrien wie der IT- und der Healthcare-Branche. Theoretisch wäre das KCE auch ein geeignetes Werkzeug, um kapitalintensive und damit in hohem Maße Liquidität generierende Unternehmen zu bewerten, also beispielsweise Bau- oder Versorgungsunternehmen. In der Praxis werden hier jedoch Kennzahlen verwendet, die auch die Kapazitätskosten berücksichtigen, also zum Beispiel das KFCF-Verhältnis. Während die Praktikerformel eine unter Investoren und Analysten weit verbreitete Art und Weise sein mag, den Cashflow zu berechnen, ist sie keine, die professionellen Ansprüchen genügen sollte. Verbesserungen verspricht hier der Freie Cashflow to Equity je Aktie FCFEPS, der unter theoretischen Gesichtspunkten mit Abstand sinnvollsten Cashflow-Größe zur Berechnung des KCF-Verhältnisses:
KFCFE =
P0 , FCFEPS1
(8.28)
bzw. unter Berücksichtigung von Formel (5.31)
KFCFE =
P0 . NetInc1 − In,1 − WC
(8.29)
In diesen Fällen ist abschließend zu klären, ob bei der Berechnung des Freien Cashflow sämtliche Capex einbezogen werden sollen, oder lediglich die zur Aufrechterhaltung des aktuellen Produktionsstands erforderlichen Bestandsinvestitionen (Maintenance-Capex). Erweiterungsinvestitionen aus der Berechnung auszuschließen erscheint angebracht, da es sich bei Formel (8.28) um ein Null-Wachstumsmodell handelt. Und auch bei der Veränderung des Working Capitals könnten sich Diskrepanzen ergeben, wenn Erweiterungsinvestitionen einbezogen würden. Verwendet wird der KFCFE-Multiplikator vorrangig in kapitalintensiven Branchen, also in der Automobil- und Stahlindustrie, bei Versorgern und im Bau. Da das KFCFE den Schwerpunkt auf die bestehende Kapitalbasis legt, kann die Formel
8.5â•… Cash Earnings- und Cashflow-Relationen
345
auch für andere Branchen angewendet werden, zum Beispiel wenn der Kapitalmarkt nicht bereit ist, den progressiven Planungen des Managements Glauben zu schenken und wenn massive Erweiterungsinvestitionen nicht gerade en vogue sind. Beispiel 8.17: Bewertungsvergleich anhand des Kurs/Cashflow-Verhältnisses╇ Zu bewerten sind erneut die beiden Restaurantketten aus Beispiel€8.14. Aus Bloomberg können folgende Consensusdaten und die entsprechenden Multiplikatoren abgelesen werden: € Kurs CFPS CFOPS FCFEPS KCF KCFO KFCFE
SlowFood AG 35,00 3,85 3,15 2,20 9,1 11,1 15,9
FastFood AG 57,20 4,42 4,16 −â•›0,20 12,9 13,8 n/a
Der Blick auf die Bewertungskennziffern KCF und KCFO zeigt, dass FastFood höher bewertet ist als SlowFood. Dies lässt vermuten, dass der Kapitalmarkt für FastFood ein höheres Wachstum erwartet als für SlowFood. Das KFCFE-Verhältnis von FastFood ist – weil negativ – nicht definiert. Die Ursachen gilt es nun zu hinterfragen. Die wahrscheinliche Ursache hierfür ist, dass FastFood einen höheren Verschuldungsgrad aufweist als SlowFood, etwa weil das Unternehmen seinen Wachstumsmodus in der Vergangenheit durch die Aufnahme von Verbindlichkeiten finanziert hat, während SlowFood sich im Wesentlichen durch interne Quellen refinanzieren konnte. Auch beim Kurs/Cashflow-Verhältnis können die fundamentalen Einflussfaktoren analysiert werden. Aus Formel (5.38) folgt, dass
V0 1 = KFCFE = , FCFE1 rEK −gR
für rEK > gR ,
(8.30)
gelten muss. Das Verhältnis aus Aktienkurs und Freien Cashflow to Equity ist also umso größer, je kleiner der Eigenkapitaldiskontierungssatz rEK und je kleiner die Differenz zwischen Eigenkapitalkosten und langfristiger Wachstumsrate gR ist. Weitere unmittelbare Einflussfaktoren auf die Kennzahl gibt es interessanterweise nicht. Trotz dieser strukturellen Reinheit sind auch Bewertungen auf Basis des KCF-Verhältnis nicht ohne Schwächen: • Die Summe aller operativen und nicht-operativen Zahlungsströme wird vom Leverage beeinflusst; eine Identifikation der nachhaltigen operativen Ertragsstärke wird dadurch erschwert.
346
8â•… Eigenkapitalbasierte Kennzahlen
• Der international gebräuchliche Terminus CFO (Cashflow From Operations) enthält auch Veränderungen des Net Working Capitals und der kurzfristigen Rückstellungen und entspricht nicht dem hier verwendeten Begriff. Bei der Berechnung der Cashflow-Größe kann es daher zu Verwirrungen kommen. Auch beim KCE-Verhältnis sind verschiedene Versionen im Einsatz: Berechnet werden trailing, laufende und vorausschauende, prospektive Cashflows und damit auch trailing, laufende und prospektive KCF-Multiplikatoren. Eine Präzisierung der verwendeten Version ist unumgänglich. • Zu nennen sind ferner die mangelnde Erfassung der Dynamik eines Unternehmens.
8.6 Die Dividendenrendite In bestimmten Marktphasen mehren sich die Empfehlungen zum Erwerb von Wertpapieren mit hoher Dividendenrendite. Ein Indiz für dieses wiederkehrende Anlagemuster ist die verstärkte Bewerbung themenspezifischer Anlagefonds oder –zertifikate, deren Zweck die Auswahl dividendenstarker Titel ist. Bekanntlich besteht die Gesamtrendite eines Aktienengagements aus der Kursentwicklung und der Ausschüttung. Die Höhe der Dividende ist damit eine wesentliche Komponente der Gesamtperformance eines Investors. Und das obwohl Dividenden, die heute ausgeschüttet werden, Erträge ersetzen, die bei einer Thesaurierung durch diese Dividenden hätten erwirtschaftet werden können. Die Dividendenrendite ist also ein Maß für die Rückzahlungsrendite und die Beantwortung der Frage: Welches Einkommen erhalte ich je investierten Euro, ohne die Aktie verkaufen zu müssen? Bei der Berechnung der Dividendenrendite erscheint erstmals der Aktienkurs im Nenner:
DivRendite =
Div . P0
(8.31)
Berechnet wird die Dividendenrendite üblicherweise als vergangenheitsorientiertes Konzept, das heißt über das abgelaufene Geschäftsjahr oder – in den seltenen Fällen einer quartalsweise ausgeschütteten Dividende – anhand der in den vergangenen vier Quartalen ausgeschütteten Dividenden. Dabei ist eine methodische Besonderheit zu beachten: Schüttet ein Unternehmen Quartalsdividenden aus werden nicht, wie beim trailing KGV, die Dividenden der letzten vier Quartale summiert, sondern wird die Dividende des letzten Quartals mit vier multipliziert und durch den aktuellen Aktienkurs dividiert. Alternativ dazu ist auch die Berechnung zukunftsgerichteter Dividendenrenditen üblich, etwa durch die Prognose der Dividende des laufenden Geschäftsjahres. Eine vergangenheitsorientierte Berechnung der Dividendenrendite stellt zweifellos die transparentere Methode dar, ist jedoch gleichzeitig mit Risiken verbunden:
8.6â•… Die Dividendenrendite
347
Wurden in der Vergangenheit Gewinne erwirtschaftet, die nicht nachhaltig sind und verschlechtert sich kurzfristig die Ertragslage eines Unternehmens im Vergleich zum Vorjahr, hat dies einen entsprechenden Kursrückgang zur Folge. Damit, wird für die Aktie eine hohe Dividendenrendite ausgewiesen, welche für das laufende Jahr unter Umständen keinen Bestand haben wird. Sollte die Dividende aus der Substanz bezahlt werden, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich eine hohe Dividendenrendite durch eine Kürzung der Ausschüttung von selbst nach unten anpasst. Diese Problematik tritt bei der Verwendung prognostizierter Dividenden nicht auf, der Preis, den der Investor dafür zu zahlen hat, ist, dass die Dividendenprognosen immer mit Unsicherheit behaftet sind. Zur Hinterfragung der Dividendennachhaltigkeit und zur Berücksichtigung von Einmaleffekten wie Sonderausschüttungen empfiehlt sich eine mehrjährige Betrachtung, am besten über einen vollständigen Konjunkturzyklus33. Neben dem Zähler ist natürlich auch die Wahl des Nenners von Formel (8.31) für die Berechnung der Dividendenrendite maßgeblich. Es besteht die Auswahl zwischen dem Börsenkurs an einem festgelegten Stichtag, z.€B. dem aktuellen Handelstag oder dem letzten Handelstag vor der Ausschüttung, und einem festzulegenden Durchschnittskurs, z.€B. während des vergangenen Jahres. Abgesehen davon, Aktien anhand der Dividendenrendite in „attraktiv“ und „unattraktiv“ einzuordnen, stellt sich die Frage, wie die Dividendenrendite zu Zwecken der Unternehmensbewertung eingesetzt werden kann. Kehrt man zu diesem Zweck nochmals zum Gordon-Modell (4.7) zurück, erhält man durch einfache Umformung mit
Div0 rEK − g = P0 1+g
(8.32)
ebenfalls die Dividendenrendite wie in Formel (8.31), diesmal inklusive der sie bestimmenden Fundamentalparameter. Nach diesem Zusammenhang ist die Dividendenrendite umso höher, je höher die geforderte Eigenkapitalverzinsung rEK und je niedriger die langfristigen Dividendenwachstumsrate g ist. Beispiel 8.18: Unternehmensbewertung anhand der Dividendenrendite╇ Betrachten wir erneut den Bestandshalter von Gewerbeimmobilienunternehmen aus Beispiel€4.3. Die erwartete Dividende der laufenden Periode liegt bei einer unterstellten Ausschüttungsquote von 90,0€% bei D0 = 2,50 · 0,9 = 2,25,
also bei 2,25€€ je Aktie. Bezogen auf den aktuellen Kurs von 27,30€€ entspricht dies einer Dividendenrendite von
33╇
Vgl. auch Haugen (2004, S.€59).
348
8â•… Eigenkapitalbasierte Kennzahlen
D0 2,25 = = 0,082 = 8,2 %. P0 27,30
Aus den fundamentalanalytischen Parametern, die für die Dividendenrendite ausschlaggebend sind, wie sie in Formel (8.32) dargelegt wurden, errechnet sich dagegen eine innere Dividendenrendite von 0,094 − 0,025 D0 rEK − g = = 0,067 = 6,7 %. = V0 1+g 1 + 0,025
Gemessen an den tatsächlichen Ausschüttungen und bezogen auf die fundamentalen Parameter der Aktie ist diese unterbewertet. Eine die Fundamentalfaktoren berücksichtigende Bewertung wäre erreicht, wenn D0 2,25 = = 0,067 P0 P0
gelten würde. Dies ist erreicht, wenn die Aktie auf einem Niveau von P0 =
2,25 = 33,42 0,067
notiert. Damit wird das Ergebnis des Gordon-Modells bestätigt.
Kapitel 9
EV-basierte Multiplikatoren
9.1 Die Erweiterung der Basis Eigenkapitalbasierte Kennzahlen weisen zwei entscheidende Schwachstellen auf. Zum ersten werden sie systematisch vom Verschuldungsgrad der analysierten Unternehmen beeinflusst. Unternehmen, deren unlevered KGV – also das KGV, das sich ergeben hätte, wenn das Unternehmen vollständig mit Eigenkapital finanziert gewesen wäre – die geforderten Kapitalkosten übersteigt, gelingt es, das KGV mit steigendem Leverage zu erhöhen. KGV und Verschuldungsgrad sind also positiv miteinander korreliert, was die unangenehme Begleiterscheinung hat, dass diese Unternehmen zum Beispiel durch einen Debt-to-Equity-Swap ihr KGV künstlich erhöhen könnten. Zum zweiten basiert das Konzept des KGV auf buchhalterischen Ertragsgrößen, in denen nicht-betriebliche Aufwendungen und Erträge enthalten sein können. Werden diese nicht bereinigt, kann der aus dem KGV abgeleitete Unternehmenswert irreführend sein. Diese Schwachstellen versucht das EV-Konzept zu umgehen. Basierend auf den Arbeiten von Modigliani und Miller, wonach der Unternehmenswert nicht durch die Finanzstruktur des Unternehmens beeinflusst werden darf, haben EV-basierte Bewertungskennzahlen im abgelaufenen Jahrzehnt immer mehr an Bedeutung gewonnen. Da sie die Kapitalstruktur des Unternehmens neutralisieren, sind sie besser geeignet, den Wert eines Geschäftsmodells zu bestimmen, bevor das finanzielle Leverage seinen Einfluss ausübt. Darüber hinaus machen sich Verzerrungen durch unterschiedliche Kapitalstrukturen, unterschiedliche Abschreibungsmethoden und unterschiedliche Steuersysteme bei EV-basierten Kennzahlen nicht bemerkbar. Das macht EV-Kennzahlen insbesondere bei einem internationalen Bewertungsvergleich wertvoll. Einige Kritikpunkte, die bereits bei kursbasierten Kennzahlen wie dem KGV angeführt wurden, können allerdings eins zu eins auf EV-basierte Kennzahlen übertragen werden. So ist den ertrags- wie umsatzabhängigen Enterprise Value-Multiplikatoren gemeinsam, dass sie als eindimensionale Kennzahlen die Dynamik der Gewinnentwicklung nicht entsprechend würdigen können. Allenfalls kann die pauschale Aussage getroffen werden, wonach einem schnell wachsenden Unternehmen
P. T. Hasler, Aktien richtig bewerten, DOI 10.1007/978-3-642-21170-6_9, ©Â€Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
349
350
9â•… EV-basierte Multiplikatoren
ein höherer Multiplikator zugestanden werden sollte als einem langsam wachsenden. Eine präzise Kurszielbestimmung kann damit jedoch nicht abgeleitet werden. Und schließlich kommen auch bei einer EV-Bewertung immaterielle Werte nicht zum Ansatz. Diese Problematik, die bereits bei der KGV-Analyse für Unbehagen gesorgt hat, kann auch ein EV-Multiple nicht lösen.
9.2 EV/Umsatz-Verhältnis Das KGV bezieht sich auf eine ertragsabhängige Stromgröße, den Gewinn nach Steuern. Seine Ermittlung wird problematisch, wenn das Unternehmen noch keine positiven Erträge erwirtschaftet, etwa weil es jung ist oder sich im Wachstumsmodus befindet. Für diese Fälle ist das KGV nicht definiert, ein Unternehmenswert kann nicht ermittelt werden. Gerade in den Zeiten der New Economy gegen Ende der 1990er Jahre waren Unternehmen zu bewerten, deren geringe Umsätze und hohe Verluste von explosionsartigen Ertragserwartungen überdeckt wurden. Der typische Reflex eines Fondsmanagers gegenüber unprofitablen Wachstumsunternehmen heute ist, dass er mit diesen nichts zu tun haben will. Ihre finanziellen und liquiditätsbezogenen Defizite sind für die meisten Kapitalmarktteilnehmer nicht fassbar, kommen noch Managementprobleme hinzu, bedarf es meist eines aktivistischen Investors, diese zu lösen, eine Aufgabe, mit der die meisten passiv ausgerichteten Anteilseigner überfordert sein dürften. Dennoch sind allein in Deutschland Dutzende von unprofitablen Unternehmen notiert, die zum Teil mit substantieller Marktkapitalisierung gehandelt werden. Mit welchen Bewertungsverfahren können diese Werte gerechtfertigt werden, wenn DCF-Modelle angesichts des langfristigen Charakters von Investoren wenig goutiert und ertragsabhängige Multiplikatorverfahren in Ermangelung von Gewinnen nicht angewendet werden (können)? Einen Ausweg bieten umsatzbezogene Kennzahlen: Umsätze haben gegenüber Erträgen den unschätzbaren Vorteil, dass sie niemals negativ werden können, schlimmstenfalls, so wie bei einigen Biotechnologiewerten in der frühen Phase, sind sie Null. Umsatzmultiplikatoren können daher immer berechnet werden, unabhängig davon, wie klein oder unprofitabel das Unternehmen ist. Umsatzmultiplikatoren beruhen auf dem ausgewiesenen Umsatz oder – in seltenen Fällen – auf der Gesamtleistung, sofern nach dem Gesamtkostenverfahren bilanziert wird. Analog zu den Kennzahlen Kurs/EBITDA oder Kurs/EBIT ist auf Finanzportalen oder in Börsenzeitschriften auch das Kurs/Umsatz-Verhältnis aufzufinden. Selbst wenn es eine einfache und intuitiv verständliche Kennzahl sein mag (nach dem Motto: „Der faire Wert der Aktie entspricht dem x-fachen des Umsatzes“) ist diese Kennzahl methodisch nicht einwandfrei: Erlöse werden nun einmal durch das gesamte Kapital erwirtschaftet, aus den Umsätzen sind die Fremdkapitalgeber, der Staat, die Mitarbeiter etc. zu kompensieren, und damit handelt es sich bei Kurs/Umsatz-Verhältnis um eine inkonsistente Kennzahl, bei der Zähler
9.2â•… EV/Umsatz-Verhältnis
351
und Nenner nicht dieselbe Basis haben1: Während im Nenner eine unternehmensspezifische Kennzahl steht, wird der Zähler aus einer eigenkapitalspezifischen gebildet. Stark verschuldete Unternehmen werden daher tendenziell mit niedrigeren Kurs/Umsatz-Verhältnissen bewertet sein als Unternehmen mit geringem Leverage. Die einfachere Datengewinnung rechtfertigt daher nicht die Verwendung des Kurs/ Umsatz-Verhältnisses und ist vielmehr ein Indiz für eine mangelnde Mühe des Bewerters bzw. seine fehlende sachliche Kompetenz. Darüber hinaus wird beim K/ Umsatz-Verhältnis unterstellt, dass es keine nicht betriebsnotwendigen Vermögensbestandteile, keine Minderheitsanteilen, keine Pensionsrückstellungen u. ä. gibt, und zwar nicht nur beim zu bewertenden Unternehmen, sondern auch in der gesamten Peergroup. Kehrt man nach diesen Ausschweifungen zum EV/Umsatz-Multiplikator zurück, dann ist dieser in seiner allgemeinen Version definiert als:
EV/Umsatz =
EV EK0 + Debt0 − ExcessCash + PR0 . = Umsatz Umsatz
(9.1)
Im Zähler steht der Unternehmensgesamtwert oder Enterprise Value, als Summe der Marktwerte des Eigenkapitals, der zinstragenden Verbindlichkeiten abzüglich des nicht betriebsnotwendigen Kassenbestands inklusive fungibler Wertpapiere (Ansatz der Nettoverschuldung), der Minderheitsanteile und der Pensionsrückstellungen. Als Marktwert des Eigenkapitals verwendet man die gesamte Marktkapitalisierung zum Bewertungsstichtag aller Aktiengattungen. Für börsennotierte Anleihen kann der Marktwert des Fremdkapitals berechnet werden, für nicht-börsennotierte Anleihen wie Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten steht der Verwendung von Buchwerten nichts entgegen. Der Buchwert des Kassenbestands (der in der Regel seinem Marktwert entspricht) ist von der Berechnung des Enterprise Value zu subtrahieren, da Zinsaufwendungen ebenso wie Zinserträge nicht Bestandteil der jeweiligen Bezugsgröße im Nenner sind und daher auch aus dem Zähler zu eliminieren sind. Ebenfalls in die Berechnung des Enterprise Values sollten operatives Leasing einbezogen werden ebenso wie die Veränderung von Pensionsrückstellungen, da auch diese wertvolle Quellen der Unternehmensfinanzierung darstellen. Darüber hinaus dürfte es sinnvoll sein, den Marktwert von Minderheitsbeteiligungen in der Berechnung des Enterprise Values unberücksichtigt zu lassen, da sich die Erlöse von nicht vollkonsolidierten Beteiligungen auch nicht im Nenner wiederfinden. Im Nenner sind in jedem Fall ausschließlich wiederkehrende Erlöse als Umsatz anzusetzen. Einmaleffekte etwa aus dem Verkauf eines Geschäftsbereichs sind bei der Kennzahlberechnung zu bereinigen, natürlich auch in der Referenzgruppe, was eine Peergroup-Bewertung schnell zu einer arbeitsaufwendigen Aufgabe machen kann.
1╇ Selbst ansonsten gestrenge Akademiker scheinen beim K/Umsatz-Multiplikator ein Auge zuzudrücken; vgl. Damodaran (2002, S.€455).
352
9â•… EV-basierte Multiplikatoren
Während es beim KGV unbestritten ist, dass der Kurs zum Stichtag als Zähler in die Bewertung einfließt, ist es bei beim Enterprise Value nicht eindeutig. Ansätze, bei denen sowohl Kurse wie auch die Nettoverschuldung (und die Ansprüche anderer) mit ihren Stichtagswerten eingehen, halten sich in etwa die Waage mit Ansätzen, bei denen die jeweiligen Jahresendwerte der Nettoverschuldung verwendet werden. Unabhängig davon, ob Stichtagswerte oder Jahresendwerte verwendet werden, unterscheidet sich die Definition des EV/Umsatz-Multiplikators nach (9.1) in einem Punkt von den meisten gängigen Versionen dieser Kennzahl: Dem Kassenbestand. Dieser ist aus Konsistenzgründen aus dem Enterprise Value herauszurechnen, da die mit Hilfe des Kassenbestands erzielbaren Zinserträge nicht Bestandteil der Umsätze sind. Beispiel 9.1: Bestimmung des EV/Umsatz-Multiplikators╇ Ein Energieversorger weist langfristige Bankverbindlichkeiten von 2.250,0€Mio.€€ und kurzfristige Bankverbindlichkeiten von 1.220,0€Mio.€€ auf. Die frei verfügbaren liquiden Mittel (Excess Cash) belaufen sich auf 280,0€Mio.€€. Das Grundkapital der Gesellschaft beläuft sich auf 225,0€Mio.€€, ausgegeben zum Nennwert von 1,00€€ je Aktie. Der Kurs der Aktie notiert bei 10,80€€. In den vergangenen vier Quartalen wurden Umsätze in Höhe von 7.250,0€Mio.€€ erwirtschaftet. Von sonstigen Ansprüchen an das Unternehmen werde abgesehen. Angesichts dieser Angaben ergibt sich ein trailing EV/Umsatz-Multiplikator von EV/Umsatz =
225,0 · 10,80 + 2.250,0 + 1220,0 − 280,0 = 0,78. 7.250,0
Jeder Euro erwirtschaftetem Umsatz wird demnach von den Kapitalgebern mit 0,78€€ bewertet. Wie bei jeder Kennzahl errechnet sich der Wert eines Unternehmens aus dem durchschnittlichen EV/Umsatz-Multiplikator, wie er aus der Vergleichsgruppe abgeleitet wird, und dem in der Vergangenheit erzielten bzw. in Zukunft erzielbaren Umsatz des zu bewertenden Unternehmens. Die dem EV/Umsatz-Multiplikator zugrunde liegende Ratio ist, dass es für Wachstumsunternehmen bedeutender ist, schnell an Größe zuzulegen als operativ die Gewinnschwelle zu überschreiten. Umsatzwachstum wird mit Akzeptanz des Produkts gleichgesetzt – und damit mit Marktanteil. Marktanteil heißt (bis zu einem gewissen Grad) Kundentreue, heißt letztlich Verhandlungsmacht gegenüber den Zulieferern und den Kunden, heißt langfristig wiederkehrende Erlöse. Unternehmen, die sich in Wachstumsmärkten frühzeitig positionieren, können Markteintrittsbarrieren errichten, die die Marktführerschaft zementieren, so dass sie früher oder später die Gewinnzone erreichen. Der Umsatz kann in diesen Fällen als ein Indikator für Wertschöpfung verstanden werden, ungeachtet der Frage,
9.2â•… EV/Umsatz-Verhältnis Tab. 9.1↜渀 Das EV/UmsatzVerhältnis nach Sektoren, Deutschland. (Quelle: Lehrstuhl für Finanzmanagement und Banken an der HHL (Stand: 06/2010))
353
Prime All Share Automotive Banks Basic Resources Chemicals Construction Consumer Financial Services Food & Beverages Industrial Insurance Media Pharma & Healthcare Retail Software Technology Telecommunications Transport. & Logistics Utilities
Trailing EV/Sales Arithm. Mittel 1,2 1,3 n/a 0,9 1,8 0,9 1,0 n/a 1,1 1,0 n/a 1,6 1,5 0,8 1,5 1,3 0,9 1,2 1,0
Median 1,0 1,1 n/a 1,1 2,0 0,7 0,9 n/a 1,1 0,9 n/a 1,6 1,4 0,5 1,0 1,2 1,0 0,6 1,0
DAX30 TEcDAX30 MDAX50
1,4 1,6 1,3
1,3 1,1 1,1
ob es dem Unternehmen überhaupt jemals gelingen wird, die Gewinnschwelle zu überschreiten. Dementsprechend kommt der EV/Umsatz-Multiplikator üblicherweise in den frühen Phasen eines Unternehmens bzw. einer Industrie zum Einsatz, wenn die Entwicklung des Marktanteils ein guter Indikator für die zukünftige Unternehmensentwicklung ist. Vor diesem Hintergrund mag es erstaunlich sein, dass der EV/Umsatz-Multiplikator in der Praxis auch in relativ reifen Branchen zum Einsatz kommt2. Hier scheint der Kapitalmarkt den Marktanteilen ein bewertungsrelevantes Gewicht zuzuschreiben. In jedem Fall können durch ein und dieselbe Kennzahl beide Enden des Lebenszyklus eines Unternehmens abgedeckt werden. Alle ertragsabhängigen Bezugsgrößen sind von buchhalterischen Bewertungsspielräumen betroffen, ja zum Teil manipuliert, was entsprechende Konsequenzen auf ihre Aussagekraft hat. Erlöse hingegen sind in weit geringerem Maße von buchhalterischen Bewertungsspielräumen beeinflusst, so dass der EV/Umsatz-Multiplikator eine durchaus „ehrlichere“ Kennzahl als das KGV ist (Tab.€9.1). Neben diesen unbestrittenen Vorteilen der EV/Umsatz-Relation weist diese auch eine Reihe von Defiziten auf. Ein gravierender Nachteil der Kennzahl ist in jedem Fall die Tatsache, dass der Umsatz zwar im Gegensatz zu ertragsbasierten Kenn2╇
Vgl. Senchack und Martin (1987).
354
9â•… EV-basierte Multiplikatoren
zahlen weniger durch bilanzpolitische Wahlrechte manipuliert werden kann, es sich bei Umsätzen jedoch nicht per se um eine Größe handelt, die mit dem Unternehmenswert positiv korreliert sein muss. Zu tief sind die Erinnerungen an die letzte Bewertungsblase 1999/2000, als Technologie- und Internet-Unternehmen durch 51€%-Zukäufe zwar die Top-Line steigern konnten, Probleme auf der Ertragsebene jedoch nur übertüncht wurden. Damit wird der Investor in eine Bewertungsfalle lockt, indem einem Unternehmen nur deswegen hohe Werte zugestanden werden, weil es hohe Umsätze erwirtschaftet und nicht weil es profitabel ist. Das Unternehmen, das Waren im Wert von 100€€ für 95€€ verkauft, macht dies deutlich: Zwar wird es rapide Umsätze erzielen, doch niemals profitabel sein. In einem Vergleich produzierender Unternehmen könnte zum Beispiel ein Unternehmen seine Umsätze durch margenschwaches Handelsgeschäft aufblähen. Dadurch wird zwar der Umsatz erhöht, das Betriebsergebnis bleibt jedoch mehr oder weniger konstant und die auf den Gesamtumsatz bezogenen Margen brechen ein. Diesem Unternehmen einen höheren Unternehmenswert zuzugestehen als einem nicht durch derartige Handelsgeschäfte aufgeblähten Wettbewerber wäre fahrlässig. Darüber hinaus mag der Umsatz bei jungen Unternehmen zwar ein guter Indikator für die weitere Entwicklung des Unternehmens sein, dennoch können unvorhergesehene operative Kosten auftauchen, die dazu führen, dass das Unternehmen keine oder allenfalls geringe Erträge berichtet. Insofern sehen manche Investoren in umsatzbezogenen Kennzahlen wie dem EV/Umsatz- oder dem methodisch nicht korrekten K/Umsatz-Verhältnis nützliche Instrumente, um überbewertete Aktien zu identifizieren3. Ob die Tatsache, dass der EV/Umsatz-Multiplikator im Zeitablauf weniger volatil ist als ertragsbasierte Kennzahlen, ein Vor- oder Nachteil ist, kann vorab nicht eindeutig geklärt werden. Zwar fallen die Auswirkungen konjunktureller Schwankungen beim EV/Umsatz-Verhältnis wesentlich geringer aus als beispielsweise beim KGV, doch dies muss nicht unbedingt ein Vorteil der Kennzahl sein, sondern kann durchaus auch als Nachteil angeführt werden. Zwar stellt der Umsatz die von bilanz- oder steuerpolitischen Wahlrechten am Wenigstem beeinflussbare Größe der Gewinn- und Verlustrechnung dar, dennoch stellen sich auch beim Umsatz zwei grundlegende Fragen: 1. Wann wird der Umsatz realisiert? 2. Welcher Umsatz wird überhaupt realisiert? Bei der Frage, wann der Umsatz realisiert wird, ist im inzwischen dominierenden IFRS-Regime zwischen der Percentage of Completion-Methode und der Completed Contract-Methode zu unterscheiden. Die Rechnungslegungsvorschrift des Percentage of Completion ist bei Fertigungsaufträgen anzuwenden. Das sind solche Aufträge, die auf speziellen Kundenwunsch erstellt werden, etwa der Bau eines Logistikzentrums. Bei dieser Gewinnrealisierung werden die entsprechend dem Fertigstellungsgrad angefallenen Auftragskosten den Auftragserlösen zu geordnet. Erträge und Aufwendungen sind entsprechend dem Leistungsfortschritt zu verbuchen, 3╇
Vgl. zum Beispiel Montier (2009, S.€250).
9.2â•… EV/Umsatz-Verhältnis
355
indem die bisher angefallenen Projektkosten mit den erwarteten Gesamtkosten des Projekts verglichen werden. Beispiel 9.2: Ermittlung der Periodenumsätze anhand der PoC-Methode╇ Ein Immobilienunternehmen entwickelt und konstruiert für einen Kunden, einen Versandhändler, ein automatisiertes Auslieferungslager. Der Herstellungszeitraum beträgt zwei Jahre. Die gesamten Herstellungskosten werden auf 52,0€ Mio.€ € veranschlagt. Der erwartete operative Gewinn des Immobilienentwicklers aus der Transaktion liegt bei 20,0€% oder 10,4€Mio.€€. Das Unternehmen erwartet eine durchschnittliche Steuerquote von 35,0€ %. Im ersten Jahr sind 60,0€ % der erwarteten Gesamtkosten angefallen. Die realisierten und zu verbuchenden Umsatzerlöse liegen damit im ersten Jahr bei 0,6â•›·â•›52,0╛╛ = ╛╛31,2€Mio.€€. Im zweiten Jahr ist der verbleibende Betrag von 52,0╛╛−╛╛31,2╛╛ = ╛╛20,8€Mio.€€ als Umsatz zu verbuchen. Unter Berücksichtigung der im ersten Jahr angefallenen Kosten von 0,6(52,0╛╛−╛╛10,4)╛╛− 25,0€Mio.€€ ergibt sich damit im ersten Geschäftsjahr ein operatives Periodenergebnis von 31,2╛╛╛−╛╛╛25,0╛╛ = ╛╛6,2€Mio.€€. Im zweiten Jahr sind die verbleibenden 4,2€Mio.€€ zu verbuchen. Zu beachten ist allerdings, dass aufgrund der Unterschiede in der IFRSund der Steuerbilanz passive latente Steuern gebildet werden müssen. Diese belaufen sich auf 6,2â•›·â•›0,35â•› = â•›2,2€ Mio.€ €. Sie sind im ersten Jahr zu bilden und im zweiten Jahr nach Übergabe des Projekts an den Kunden aufzulösen. Ihre Berücksichtigung führt dementsprechend dazu, dass die Volatilität der Ertragsentwicklung zunimmt. Die zweite Frage, was als Umsatz realisiert wird, hängt ab von den Gepflogenheiten der Branche ab. Bietet ein Internet-Einzelhändler den Erwerb und die physische Verschickung von Softwarepaketen an, wird er das komplette Handelsvolumen als Umsatz verbuchen. Bietet ein Anbieter dagegen den Download der Software als Outsourcing-Partner des Herstellers an, darf er nur den Rohertrag als Umsatz verbuchen. Konzeptionell sind die aus dem EV/Umsatz-Multiplikator ermittelten Kursziele stärker von der Qualität der Peergroup abhängig als bei ertragsbasierten Kennzahlen. Die Tatsache, dass der zu ermittelnde Unternehmenswert ausschließlich von den prognostizierten Umsätzen abhängig sein soll, führt von Seiten des Managements dazu, die Zukunftsaussichten übertrieben positiv darzustellen.4 Dies hat im Jahre 2000 auch die SEC dazu veranlasst, eine Änderung der Staff Accounting Bulleting (SAB) Nr. 101 zur Umsatzrealisation vorzunehmen. Danach sollten Umsätze nur noch dann verbucht werden können, wenn sie auch tatsächlich als realisiert angesehen werden können. Zuvor wurden beispielsweise von Internetunternehmen die Mitgliedsbeiträge aus Abonnements vollständig im Voraus vereinnahmt. 4╇ In den USA hat dies bereits 2000 dazu geführt, dass die SEC ein Accounting Bulleting herausbrachte, in dem insbesondere die Umsatzabgrenzung von Internetunternehmen neu geregelt wurde.
356
9â•… EV-basierte Multiplikatoren
Von welchen fundamentalen Faktoren ist der EV/Umsatz-Multiplikator abhängig? Ausgehend von Formel (5.46) und (5.19) legt die Division beider Seiten durch den Umsatz der folgenden Periode die Parameter offen, die den EV/Umsatz-Multiplikator determinieren:
In EBIT1 (1 − τ ) − EV0 Umsatz1 Umsatz1 = . Umsatz1 WACC − gR
(9.2)
Damit ist der EV/Umsatz-Multiplikator tendenziell umso höher, je höher die operative Umsatzmarge des Unternehmens sowie die Ergebniswachstumsrate und je niedriger die Steuerquote, die Erweiterungsinvestitionen und die gewichteten Kapitalkosten ausfallen. A priori war nicht unbedingt damit zu rechnen, dass eine Margenkennzahl als unmittelbarer Bewertungsfaktor des EV/Umsatz-Multiplikators auftaucht. Profitable Unternehmen können also erwarten, mit einem höheren EV/ Umsatz-Multiplikator gehandelt zu werden als weniger profitable Unternehmen5. Anders ausgedrückt: Infolge dieses Zusammenhangs ist das Verhältnis aus Enterprise Value zu Umsatz für einen Vergleich verschiedener Unternehmen nur geeignet, wenn diese homogen sind bezüglich ihrer Profitabilität, ihrer Kapitalintensität und ihrer Wachstumserwartungen. Anhand von Formel (9.3) zeigt sich ferner, dass rückläufige Umsätze bei rückläufigen Margen einen sich gegenseitig verstärkenden Effekt auf den EV/UmsatzMultiplikator haben: Zunächst verringert sich der erste Term im Zähler, von dem anschließend ein größerer Betrag subtrahiert wird. Gerade bei Wachstumsunternehmen ist es regelmäßig zu beobachten, dass Gewinnwarnungen zu drastischen Preiseinbrüchen führen. Im Wesentlichen ist dieser Zusammenhang hierfür verantwortlich zu machen. Beispiel 9.3: Auswirkung einer unvorhergesehenen Gewinnwarnung auf den EV/Umsatz-Multiplikator╇ Der Energieversorger aus Beispiel 9.1 muss aufgrund eines gescheiterten Expansionsprogramms einen Rückgang des Umsatzes auf 6.525,0€ Mio.€ € bekannt geben, ein Umsatzeinbruch um 10,0€%. Gleichzeitig verschlechtert sich das operative Ergebnis von ursprünglich 876,0€Mio.€€ auf 788,4€Mio.€€, also ebenfalls um 10,0€%. Die sonstigen Parameter – Steuerquote 30,0€%, WACC 12,0€%, langfristige Wachstumsrate gR 10,0€% und Nettoinvestitionen 500,0€Mio.€€ – bleiben konstant. Lag der fundamentale EV/Umsatz-Multiplikator im Ausgangsfall bei 0,78x, geht er aufgrund der Gewinnwarnung gemäß Formel (9.3) auf 788,4 500,0 (1 − 0,3) − EV0 6.525,0 6.525,0 = = 0,40x Umsatz1 0,12 − 0,10 5╇
Vgl. Leibowitz (1997).
9.2â•… EV/Umsatz-Verhältnis
357
zurück. Ein 10€%iger Rückgang der Umsätze und operativen Erträge zieht in diesem sicherlich nicht extremen Beispiel eine Halbierung des EV/UmsatzMultiplikators nach sich. Besondere Popularität unter den Analysten genoss die EV/Umsatz-Kennzahl während der Neuer Markt-Blase zu Beginn dieses Jahrtausends. Zur Rechtfertigung immer höherer Kursziele verlustträchtiger Internetunternehmen war der Zukauf von Marktanteilen gängige Praxis. Da trotz Börsengangs und Kapitalerhöhungen allerorten Liquidität knapp war, beschränkten sich die Unternehmen häufig auf die Übernahme von 50,1€% der Geschäftsanteile, was zwar eine Vollkonsolidierung des Übernahmezieles zur Folge hat, aber zugleich hohe Minderheitsanteile verursachte. Eine EV/Umsatz-Bewertung muss diese Übernahmen berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass empirischen Befunden zufolge Multiples auf Basis des Umsatzes – unabhängig vom Auswahlverfahren der Peer Group – von den höchsten Bewertungsfehlern begleitet werden6. Nicht selten sind Biotechnologieunternehmen börsennotiert, die im jetzigen Stadium ihres Unternehmenszyklus noch keine Umsätze erwirtschaften. Natürlich ist dann auch ihre Ertragslage ebenso negativ wie die erwirtschafteten Cashflows. Traditionelle Bewertungsverfahren wie Dividendendiskontierungs- oder DCF-Modelle scheiden daher aus. Doch wie können solche Unternehmen über ein Vergleichsgruppenverfahren bewertet werden? Eine Möglichkeit ist, die in mittelfristiger Zukunft erwarteten Umsätze mit einem normalisierten Vervielfältiger zu bewerten und auf die Gegenwart zu diskontieren. Der Wert des Unternehmens ergibt sich dann über folgende Formel:
EV0 =
Umsatzn · Multiplikator . (1 + WACC)n
(9.3)
Beispiel 9.4: Bewertung eines umsatzlosen Unternehmens╇ Ein Biotechnologieunternehmen verfügt über ausreichend Liquidität, um die aktuelle Produktpipeline zu finanzieren. Die Produkteinführung des Hauptprodukts ist für das Jahr tâ•›+â•›5 vorgesehen, die angestrebte Marktpenetration wird für tâ•›+â•›8 angestrebt. Das Konkurrenzpräparat, das zu diesem Zeitpunkt vollständig vom Markt verdrängt worden sein soll, erwirtschaftet derzeit Erlöse von 80,0€Mio.€€ und wächst mit durchschnittlich 9,0€% pro Jahr. Der Hersteller des Konkurrenzpräparats ist ebenfalls börsennotiert und wir derzeit mit dem 3,6fachen seiner Umsatzerlöse bewertet.
6╇
Vgl. Liu et€al. (2002, S.€152) oder Lie und Lie (2002).
358
9â•… EV-basierte Multiplikatoren
Der Wettbewerber würde daher im Jahr tâ•›+â•›8 Umsätze in Höhe von Umsatz8 = 80(1 + 0,09)8 = 159,4 Mio. €. erwirtschaften. Würde sich der Multiplikator nicht verändern, läge der zum Zeitpunkt tâ•›+â•›8 zu erwartende Unternehmenswert damit bei EV8 = 159,4 · 3,6 = 573,9 Mio. €.
Die durchschnittlichen Kapitalkosten des zu bewertenden Biotechnologieunternehmens werden aufgrund des hohen Risikos des Geschäftsmodells bei 16,4€% veranschlagt. Damit errechnet sich ein aktueller Unternehmenswert von EV0 =
573,9 (1 + 0,164)8
= 170,3 Mio. €.
Für das derzeit nur aus einer Produktpipeline bestehende Unternehmen errechnet sich also ein Unternehmenswert von 170,3€Mio.€€. Die Trefferquote des Unternehmenswertes über diese Vorgehensweise ist unbestritten wesentlich geringer als bei den meisten, bisher vorgestellten Verfahren. Und zwar nicht nur, weil sich die gängigen Multiplikatoren im Zeitablauf nahezu zwangsläufig ändern, sondern auch, weil mit dieser Methode wesentlich weiter in die Zukunft zu blicken ist als bei den anderen Vergleichsgruppenmodellen. Dennoch ist durch das vorgestellte Verfahren eine Einschätzung des Unternehmenswertes möglich.
9.3 EV/EBITDA, EV/EBITA und EV/EBIT Im Gegensatz zum KGV und den damit verwandten Konzepten vergleichen EV/ EBITDA-, EV/EBITA- bzw. EV/EBIT-Multiplikatoren den gesamten Unternehmenswert mit einer bestimmten Residualgröße. Da beim Enterprise Value der gesamte Wert des Unternehmens, wie er für Eigen- und Fremdkapitalgeber relevant ist, ermittelt wird, muss eine Residualgröße zwangsläufig vor Abzug von Fremdkapitalzinsen ausgewählt werden, damit die Konsistenz zwischen Zähler und Nenner des Multiplikators gewahrt bleibt. Dennoch sind diese, anders als beim EV/UmsatzMultiplikator, bestimmten Bilanzierungs- und Bewertungsspielräumen ausgesetzt, die sich nachteilig auf die Berechnung des Unternehmenswertes auswirken können. Nichtsdestotrotz erleichtern EV-basierte Ansätze die internationale Vergleichbarkeit und erlauben häufig auch die unterjährige Anwendung, da gerade Small, Micro und Nano Caps in ihren Zwischenberichten nur operative Ergebnisgrößen veröffentlichen.
9.3â•… EV/EBITDA, EV/EBITA und EV/EBIT
359
Die einzelnen Kennzahlen berechnen sich wie folgt: Der EV/EBITDA-Multiplikator als EK0 + Debt0 − ExcessCash + PR0 + MI0 EV0 (9.4) = , EBITDAt EBITDAt der EV/EBITA-Multiplikator, der, da Firmenwerte nicht mehr periodengemäß abgeschrieben werden, sondern nur noch im Impairment-Fall, in der Praxis völlig bedeutungslos geworden ist,
EK0 + Debt0 − ExcessCash + PR0 + MI0 EV0 = EBITAt EBITAt
(9.5)
und der EV/EBIT-Multiplikator aus
EV0 EK0 + Debt0 − ExcessCash + PR0 + MI0 = . EBITt EBITt
(9.6)
Im Nenner stehen Ertragsgrößen, die jeweils durch ihre Namen definiert sind: Das EBITDA zum Beispiel bezeichnet das Ergebnis eines Unternehmens vor Abschreibungen, Amortisationen, vor dem Finanzergebnis und vor Ertragsteuern. Verzerrungen, wie sie durch unterschiedliche Kapitalintensität und unterschiedliche Steuerquoten entstehen können, werden bei dieser Größe ausgeschaltet. Es erscheint sinnvoll, die sonstigen Steuern (in der Regel also Grund-, Gewerbekapital-, Kraftfahrzeug- und Umsatzsteuer), die meist in der Steuerposition aufgegangen sind, jeweils dem operativen Ergebnis zuzuordnen, da sie abhängig sind von unternehmerischen Entscheidungen. EBITDA, EBITA und EBIT sind als operatives Ergebnis gut geeignet, die Ertragskraft des originären Geschäfts eines Unternehmens auszuweisen. Die Idee, das EBITDA und nicht das Nachsteuerergebnis als Basis der Unternehmensbewertung zu verwenden, wurde mit dem Aufkommen der M&A-Welle während der 1990er Jahre verbreitet. Zunächst von Private Equity-Firmen als Kennzahl für die Fähigkeit eingesetzt, die sich aus Leveraged-Buyouts ergebende Verschuldung zurückzufahren, wurde das EBITDA als Cashflow-Substitut später auch zur Bewertung börsennotierter Unternehmen verwendet, wenn tiefer gelagerte Ergebnisebenen negativ waren und für eine Multiplikatorbildung nicht zur Verfügung standen. Diese Vorgehensweise korrespondiert mit dem Ansatz der DVFA, die bis zur großflächigen Einführung von IFRS einmalige und, dispositionsbedingte Aufwands- und Ertragspositionen bereinigte und im so genannten DVFA-Ergebnis eine zwar für den Außenstehenden nicht immer einfach zu berechnende, in jedem Fall aber gut vergleichbare Kennzahl veröffentlichte. Von den drei genannten Bewertungsverfahren dürfte in der kapitalmarktorientierten Bewertungspraxis der EV/EBITDA-Multiplikator dominierend sein, da er der Ertragsmultiplikator mit der geringsten Sensibilität bezüglich unterschiedli-
360
9â•… EV-basierte Multiplikatoren
cher Rechnungslegungsvorschriften ist. Darüber hinaus sind durch den Einsatz des EV/EBITDA-Multiplikators Vergleiche mit anderen Unternehmen auch bei unterschiedlichen Kapitalstrukturen und einem sich in den Abschreibungen niederschlagenden unterschiedlichen Investitionsverhalten möglich. Nach dem KGV dürfte es sogar die am weitesten verbreitete Kennzahl sein – zumindest in Europa, in den USA hat das EBITDA dagegen als Non-GAAP-Größe nach der Einführung des Sarbanes-Oxley Act massiv an Bedeutung verloren. Bevorzugt kommt der EV/EBITDA-Multiplikator in kapitalintensiven Branchen zur Anwendung, in denen größere Infrastrukturinvestitionen erforderlich sind. In ihnen können die Abschreibungen von so großer Bedeutung sein, dass das EBIT auf ein unrealistisch niedriges Niveau gedrückt wird. In diesen Industrien werden häufig unterschiedliche Abschreibungsmethoden verwendet, die dann zu Ergebnisverzerrungen führen können. Beispiele sind die Stahl-, Versorgungs- oder Telekommunikationsbranche. Da der EV/EBITDA-Multiplikator die Abschreibungen ausblendet, ist er besonders für Vergleiche von Unternehmen mit ähnlichen Kapitalintensitäten geeignet. Bei Mobilfunkunternehmen zum Beispiel, die substantielle Investitionen in den Aufbau der Netzinfrastruktur stemmen müssen und deren Geschäftsmodell sehr langfristig ausgerichtet ist, erscheint der EV/EBITDA-Multiplikator sehr viel angemessener zu sein als das KGV. Ein weiterer Vorteil des EBITDA, EBITA und EBIT gegenüber den in der GuV tiefer liegenden Ertragskennzahlen wie dem Nettoergebnis ist, dass es häufiger positiv ist als das Ergebnis nach Steuern, so dass auch die darauf aufbauenden Kennzahlen häufiger berechnet werden können als das KGV. Darüber hinaus ist das EV/EBITDA der geeignete Multiplikator, wenn ein Vergleich von Unternehmen mit unterschiedlichen Verschuldungsgraden zu erfolgen hat. Schließlich ist das EV/ EBITDA eine sinnvolle Kennzahl, wenn im Extremfall eines knapp vor der Insolvenz stehenden Unternehmens ermittelt werden soll, ob ein Unternehmen in der Lage ist, die nicht liquiditätswirksamen Abschreibungen und Amortisationen für eine Schuldentilgung zu erwirtschaften, wenn es sich für dieses aufgrund des fortschreitenden Verfalls nicht mehr in Sachanlagen zu investieren lohnt. Natürlich sind grundsätzlich um ungewöhnliche Ereignisse bereinigte Ergebnisgrößen zu verwenden. Dabei wird das berichtete EBITDA um außergewöhnliche und nicht wiederkehrende Ertrags- und Aufwandskomponenten bereinigt. Zukünftig zu erwartende einmalige Aufwendungen etwa aus Restrukturierungsprogrammen sind aus der Multiplikatorbewertung zunächst zu eliminieren und erst anschließend als Absolutbetrag in Abzug zu bringen. Da diese einmaligen Bereinigungen nicht normiert sind, sind sie in der Regel ermessensabhängig und zum überwiegenden Teil nicht aus dem Geschäftsabschluss direkt ableitbar. Häufig weisen die Unternehmen die vorgenommenen Bereinigungen in einer Sammelposition aus, so dass die Überleitung aus den Abschlusszahlen erschwert wird und die vorgenommenen Bereinigungen nicht nachvollziehbar sind. Die in der Praxis am häufigsten vorgenommenen Bereinigungen umfassen ergebniswirksame Folgeeffekte aus der Kaufpreisallokation (Purchase Price Allocation PPA) sowie, allgemein, Aufwendungen aus Akquisitionen, Restrukturierungsaufwendungen, außerplanmäßige Wertminde-
9.3â•… EV/EBITDA, EV/EBITA und EV/EBIT
361
Tab. 9.2↜渀 Das EV/EBIT-Verhältnis nach Sektoren, Deutschland. (Quelle: Lehrstuhl für Finanzmanagement und Banken an der HHL (Stand: 01/2011)) Trailing EV/EBIT EV/EBIT NTM Arithm. Mittel Median Arithm. Mittel Median Prime All Share 18,6 15,2 12,9 12,4 Automotive 33,1 34,9 14,4 13,6 Banks n/a n/a n/a n/a Basic Resources 29,7 17,6 15,0 11,6 Chemicals 29,4 21,9 12,5 10,4 Construction 15,5 14,8 13,4 12,9 Consumer 14,9 15,6 12,2 11,3 Financial Services n/a n/a n/a n/a Food & Beverages 12,7 12,7 13,0 13,0 Industrial 16,9 14,4 12,3 11,7 Insurance n/a n/a n/a n/a Media 14,6 12,2 13,0 10,0 Pharma & Healthcare 18,2 14,2 12,7 13,6 Retail 13,8 12,8 10,5 10,2 Software 16,7 15,0 14,0 12,6 Technology 27,4 18,9 14,0 12,3 Telecommunications 14,1 9,2 14,0 10,7 Transport. & Logistics 23,6 22,1 14,3 13,6 Utilities 7,6 6,9 9,2 8,6 DAX30 TEcDAX30 MDAX50
20,7 21,6 19,4
17,9 15,1 17,8
12,1 12,9 14,0
12,1 12,2 13,3
rungen, Fremdwährungseffekte und Beratungsaufwendungen, beispielsweise im Zuge des Börsengangs (Tab.€9.2). Auf der Minusseite stehen Aufwendungen, die getragen werden müssen, um das Geschäftsmodell aufrechtzuerhalten, die im EBITDA jedoch nicht enthalten sind. Beispiele hierfür sind Zins- und Abschreibungsaufwendungen, die in kapitalintensiven Geschäftsmodellen erst unterhalb des EBITDA anfallen. In einem seiner legendären Briefe an die Aktionäre stellte diesbezüglich Warren Buffett die entscheidende Frage, ob das Management eigentlich glaubt, die Zahnfee würde für die Investitionen bezahlen?7 Ebenfalls in keinem Fall zu umgehen sind Steuerzahlungen. Für unprofitable Unternehmen spielen sie naturgemäß keine Rolle, profitable würden durch die Verwendung des EBITDA die dem Aktionär zustehenden Cashflows tendenziell überschätzen. Natürlich steht die Frage im Raum, ob Abschreibungen nicht doch eine geschäftsimmanente Aufwandsposition darstellen. Nur weil es sich bei den Abschreibungen um eine nicht liquiditätsbelastende Aufwandsposition handelt, heißt das nicht, dass es nicht keine bewertungsrelevante Aufwandsposition wäre. Die cashrelevante Belastung hat zwar bereits in der Vergangenheit stattgefunden; da von 7╇
Vgl. Buffett (2000).
362
9â•… EV-basierte Multiplikatoren
einem Going Concern des Unternehmens auszugehen ist, wird es in absehbarer Zeit aber erneut zu einer cash-relevanten Belastung kommen, nämlich dann, wenn der Vermögensgegenstand vollständig abgeschrieben ist und eine Ersatzinvestition notwendig ist. Während der dot.com-Bubble war das EBITDA vor allem bei Vorständen beliebt, deren Unternehmen nicht in der Lage waren, auf tiefer in der Gewinn- und Verlustrechnung liegenden Positionen Gewinne zu vermelden. Zumindest beim EBITDA sollte dies gelingen, was Zyniker veranlasste, das EBITDA in „Earnings Before I Tricked Dumb Auditors“ umzubenennen. Auch der EV/EBITDA-Multiplikator kann ohne Vergleichsunternehmen als innerer Wert bestimmt werden, indem die Parameter extrahiert werden, von denen der EV/EBITDA-Multiplikator abhängig ist. Aus Formel (5.26) folgt, dass der freie Cashflow to the Firm eine Funktion des EBITDA, der Abschreibungen, der Steuerquote und der Nettoinvestitionen In ist. Eingesetzt in Formel (5.8) ergibt sich für WACCâ•›>â•›g: EV 0 =
FCFF1 EBITDA1 (1 − τ ) − (Dep1 + Amo1 )(1 − τ ) − In = . WACC − gR WACC − gR
(9.7)
Dividiert man beide Seiten durch das EBITDA, so erhält man eine Variante von (9.1):
EV0 = EBITDA1
(1 − τ ) −
(Dep1 + Amo1 )(1 − τ ) In − EBITDA1 EBITDA1 . WACC − gR
(9.8)
Aus dieser Gleichung folgt, dass je niedriger die Steuerquote, je niedriger die Abschreibungen und Amortisationen, je niedriger die notwendigen Erweiterungsinvestitionen, je niedriger die gewichteten durchschnittlichen Kapitalkosten und je höher die erwarteten Wachstumsraten sind, desto höher ist der EV/EBITDA-Multiplikator, zu dem eine Aktie gehandelt wird. Daraus ergibt sich die nicht unwesentliche Erkenntnis, dass Unternehmen, die einen größeren Anteil ihres EBITDA aus den beiden Parametern Abschreibungen und Amortisationen erzielen, mit einem niedrigeren EV/EBITDA-Multiplikator gehandelt werden als Unternehmen, deren Abschreibungen bzw. Amortisationen von geringerer Bedeutung sind. Bei ansonsten gleichen Annahmen werden also kapitalintensive Branchen wie der Maschinenbau mit niedrigeren EV/EBITDA-Multiplikatoren gehandelt als die weniger abschreibungsintensiven Technologiewerte. Und schließlich sollten auch Unternehmen, bei denen in den kommenden Jahren hohe Investitionen bevorstehen, mit einem niedrigeren Multiplikator bewertet werden als Unternehmen, die diesem Investitionszyklus nicht ausgesetzt sind. Wieder einmal zeigt sich, dass in einzelnen Branchen völlig unterschiedliche Niveaus des EV/EBITDA-Multiplikators festgestellt werden und damit ein Vergleich von Multiplikatoren unterschiedlicher Branchen keinen Sinn macht.
9.3â•… EV/EBITDA, EV/EBITA und EV/EBIT
363
Beispiel 9.5: Unternehmensbewertung anhand des EV/EBITDA-Multiplikators╇ Ein Spezialmaschinenbauer investiert durchschnittlich 55€% seines EBITDA in Sachanlagen und Working Capital, die Abschreibungen belaufen sich auf durchschnittlich 35€% des EBITDA. Die gewichteten Kapitalkosten WACC des Unternehmens liegen bei 9,5€%, erwartet wird eine langfristige Wachstumsrate von 4,0€%. Zur Ermittlung des angemessenen EV/EBITDA-Multiplikators berechnen wir zunächst die normalisierten Nettoinvestitionen In, indem wir sie ins Verhältnis zum EBITDA setzen, also In Capex + WC − Dep = = 0,55 − 0,35 = 0,2. EBITDA EBITDA
Unterstellen wir eine normalisierte Steuerquote τ von 32€ %, so ergibt sich folgender EV/EBITDA-Multiplikator EV0 (1 − 0,32) − 0,35(1 − 0,32) − 0,2 = = 4,4. EBITDA1 0,095 − 0,040
Damit ergibt sich für den Spezialmaschinenbauer ein aus fundamentalen Parametern abgeleiteter Multiplikator von 4,4x. Wird die Aktie mit einem Vervielfältiger von 3,5x gehandelt, ist sie auf dem gegenwärtigen Niveau entweder unterbewertet oder der Kapitalmarkt erwartet für die Aktie ein geringeres Wachstum des EBITDA im Zeitablauf. Nicht mehr überraschend sollte sein, dass der EV/EBITDA-Multiplikator vom Gewinnwachstum abhängig ist. Investoren sind bereit, einen höheren Preis für eine Aktie zu bezahlen, wenn sie wissen, dass der Gewinn schneller wächst als bei einem anderen Unternehmen. Nicht selten ist jedoch das genaue Gegenteil der Fall, Wachstumsaktien werden mit einem Abschlag gehandelt. In diesen Fällen bestehen offensichtlich Glaubwürdigkeitsdefizite über die zukünftigen Wachstumsaussichten des Unternehmens, die die eigentlich angebrachte Wachstumsprämie überwiegen. Um das Wachstum des EBITDAs in der Unternehmensbewertung nicht mehr nur implizit, sondern auch explizit zu berücksichtigen, verwenden einige Analysten die Kennzahl EV/EBITDA-to-EBITDA-growth, eine der PEG-Ratio vergleichbare, dynamische Kennzahl. Vergleichbar ist sie auch insofern mit der PEGRatio, als dass sich keine einheitliche Definition am Kapitalmarkt einbürgern konnte. In Formel (9.9) ist sie als EV/EBITDA-Multiple der laufenden Periode, dividiert durch das in den folgenden fünf Perioden erwartete EBITDA-Wachstum dargestellt:
364
9â•… EV-basierte Multiplikatoren
EV/EG =
EVt EBITDAt EBITDAt+5 EBITDAt
15 .
(9.9)
Dass das EBITDA in der Unternehmensbewertung eine so hohe Bedeutung hat, liegt nicht zuletzt daran, dass das EBITDA auch bei der Berechnung des finanziellen Leverage zum Einsatz kommt. Die Debt-to-EBITDA-Quote oder, häufiger noch, die Net Debt-to-EBITDA-Quote ist eine dynamische Kennzahl zur Messung des Leverage, die sowohl in einer „quick & dirty“-Analyse zum Einsatz kommt als auch eine der populärsten Solvenzkennzahlen bei der Bestimmung von KreditCovenants ist:
Leverage =
NetDebt . EBITDA
(9.10)
Kritische Grenzwerte sind von der beobachteten Industrie abhängig. In einigen Branchen wie Öl und Gas sind sogar negative Net Debt-to-EBITDA-Quoten an der Tagesordnung, in anderen wie der kapitalintensiven Versorgerbranche erreichen die Quoten manchmal zweistellige Werte. Als Daumenregel gelten Werte von über vier als kritisch, Werte von über sechs gelten als „High Yield“, der begriffspolitisch korrekten Variante des „Junk Bonds“8. Darunter liegende Werte weisen auf Unternehmen hin, die generell ihre Kreditverpflichtungen erfüllen können. Unternehmen mit einem Leverage von 3,5 wären demnach theoretisch in der Lage, innerhalb von dreieinhalb Jahren sämtliche zinstragenden Verbindlichkeiten zurückzuführen, wenn sie keine weiteren Sachanlageinvestitionen tätigen würden und keine Steuern zu zahlen hätten. Schwierigkeiten treten bei der Bestimmung des EBITDA auf, wenn nicht vollkonsolidierte Tochtergesellschaften zum Konzernverbund zählen. Sie gehen nicht in das operative Ergebnis der Muttergesellschaft ein, sondern werden erst im Finanzergebnis unter der Position „Ergebnis aus Beteiligungen“ oder „Ergebnis aus assoziierten Unternehmen“ berücksichtigt. Demgegenüber sind im Marktwert des Eigenkapitals Erträge aus nicht vollkonsolidierten Töchtern durchaus enthalten. Es liegt also eine methodische Inkonsistenz vor, die dazu führt, dass der EV/EBITDA-Multiplikator für Unternehmen mit einem breiten Beteiligungsportefeuille tendenziell zu hoch ausgewiesen wird. Für den Außenstehenden erscheint die Aktie damit überbewertet. Ein gegenteiliger Effekt ergibt sich, wenn Tochterunternehmen vollkonsolidiert werden, die sich nicht vollständig im Besitz der Muttergesellschaft befinden. In diesem Fall wird der Wert der Tochtergesellschaft zwar vollständig im Marktwert des Eigenkapitals widergespiegelt, das EBITDA ist jedoch tendenziell zu hoch, da Minderheitsanteile erst unterhalb des EBITDA subtrahiert werden. Für den Außenstehenden erscheint diese Aktie mithin unterbewertet.
8╇
Vgl. Vernimmen et€al. (2009, S.€219).
9.3â•… EV/EBITDA, EV/EBITA und EV/EBIT
365
Zu beachten ist ferner, dass die Berechnung von „Earnings-Before“-Kennzahlen wie das EBITDA am Kapitalmarkt und in der Berichterstattung der Unternehmen nicht standardisiert sind. Sie zählen zu den so genannten „Non-GAAP Figures“, also zu Ergebnisgrößen, für die keine allgemein anerkannten Prinzipien oder Ableitungsbestimmungen definiert wurden. Aus den Überleitungsrechnungen in den Geschäftsberichten ist ersichtlich, dass zwischen Jahresüberschuss und EBITDA nicht nur Abschreibungen, Unternehmenssteuern und das Zinsergebnis aufgeführt werden, wie man zunächst vermuten könnte, sondern regelmäßig eine Reihe von Bereinigungspositionen genannt werden. In Rechnung gestellte Zinskomponenten umfassen bei manchen Unternehmen nur das Zinsergebnis, bei anderen das gesamte Finanzergebnis. Bei der Ableitung des EBITDA wird ersichtlich, dass der Ergebnisbestandteil Abschreibungen und Amortisation bei manchen Unternehmen nur planmäßige Abschreibungen umfasst, bei anderen auch außerplanmäßige Wertminderungen. Analog zum EV/EBITDA-Modell kann auch das EV/EBIT-Verfahren in seine Bestandteile zerlegt werden. Aus Formel (5.17) folgt, dass der freie Cashflow to the Firm FCFF gleich ist der Differenz aus versteuertem EBIT und Nettoinvestitionen In, also FCFFâ•› = â•›EBIT(1╛╛− τ)╛╛− In. In Verbindung mit Formel (5.46) und Formel (9.6) ergibt sich für WACCâ•›>â•›g:
EV0 = EBIT1
In EBIT1 . WACC − gR
(1 − τ ) −
(9.11)
Damit hier ist der EV/EBIT-Multiplikator umso höher, je niedriger die Steuerquote, je niedriger die notwendigen Nettoinvestitionen, je niedriger die gewichteten durchschnittlichen Kapitalkosten und je höher das erwartete Langfristwachstum ist. Abschreibungen und Amortisationen haben demgegenüber keine direkten Auswirkungen mehr auf die Höhe des Vervielfältigers. Die vereinzelt verwendeten Kennzahlen P/EBITDA oder P/EBIT dagegen unterliegen einem systematischen Defekt: Hier wird der Kurs als der allein den Aktionären zustehende Teil des Unternehmenswertes mit einer Ertragskennzahl (EBITDA oder EBIT) verglichen, aus der auch Fremdkapitalgeber bedient werden. Damit stehen im Zähler und im Nenner der beiden Kennzahlen Parameter, die unterschiedlichen Kapitalgebern zustehen. Daher sind beide Kennzahlen vom theoretischen Standpunkt aus abzulehnen.
Kapitel 10
Substanzwertbasierte Kennzahlen
10.1 Will the Real Value Please Stand Up? Empirischen Untersuchungen zufolge liegt die Eintrittswahrscheinlichkeit einer von Finanzanalysten erstellten Ertragsprognose nach gerade einmal zwei Jahren bei unter 10€%1. Abgesehen davon, dass sich ein Analyst nach Veröffentlichung seiner Schätzungen kaum die nächsten beiden Jahre in den Keller setzt und darauf wartet, ob sie eintreten oder nicht, sondern sie vielmehr regelmäßig den sich verändernden Umweltbedingungen anpasst, stellt sich schon die Frage, wie sich professionelle Kapitalmarktteilnehmer angesichts derartiger Schätzfehler allen Ernstes auf die Einschätzung professioneller Finanzanalysten verlassen können. Nicht wenige Fondsmanager und seriöse Anlegermagazine vertreten daher die Auffassung, der Wert einer Aktie lasse sich besser anhand von sicheren, weil vergangenheitsbezogenen zeitpunktspezifischen Bestandsgrößen aus der Bilanz ermitteln als anhand von prospektiven und daher unsicheren, zeitraumspezifischen Stromgrößen aus der Gewinn- und Verlust- bzw. Kapitalflussrechnung. Prominenteste dieser Bestandsgrößen ist der Substanz- oder Kapitaleinsatzwert. Unter dem Bruttosubstanzwert werden die Summe der Zeit- oder Wiederbeschaffungswerte der betriebsnotwendigen Vermögensgegenstände zuzüglich der Liquidationswerte der nicht betriebsnotwendigen Vermögensgegenstände verstanden (Einzelbewertungsansatz). Dass die Reproduktions- oder Wiederbeschaffungskosten der richtige Ansatz für den Substanzwert sind, kann aus dem Ansatz abgeleitet werden, im Erwerb eines Unternehmens die maßgebliche Handlungsalternative gegenüber der Neugründung eines vergleichbaren Unternehmens zu sehen. In einem IFRS-Regime ohne stille Reserven entspricht dieser Wert der Summe der in der Bilanz ausgewiesenen Buchwerte. Den Nettosubstanzwert, auch hierzulande besser bekannt unter seinem englischen Ausdruck Net Asset Value (NAV), erhält man nach Subtraktion des zu seiner Finanzierung eingesetzten Fremdkapitals. Bildlich gesprochen kann man den Substanzwert auch mit dem Betrag beschreiben, der erforderlich ist, ein Unternehmen von Grund auf neu wiederaufzubauen. Diesem Teilreproduktionswert steht der Vollrekonstruktionswert gegenüber, der auch 1╇
Vgl. Montier (2009, S.€154).
P. T. Hasler, Aktien richtig bewerten, DOI 10.1007/978-3-642-21170-6_10, ©Â€Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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10â•… Substanzwertbasierte Kennzahlen
nicht messbare immaterielle Vermögenswerte wie den Kundenstamm, den Markenwert oder das Image des Unternehmens erfassen soll. Infolge der schwierigen praktischen Durchführbarkeit, immaterielle nicht verkehrsfähige Güter wertmäßig zu erfassen, bleibt der Vollrekonstruktionswert nicht viel mehr als ein theoretisches Konstrukt2. Substanzwertbasierte Kennzahlen gehen von einem Nachbau des Unternehmens auf der grünen Wiese aus3. Ein Unternehmen soll damit nur so viel wert sein wie der Betrag, den ein Investor für eine Kopie des Unternehmens ausgeben würde. Wenn aber der Wert eines Unternehmens davon abhängt, wie hoch die Summe der Werte aller Vermögensgegenstände ist, wie wären dann die Bewertungs-Multiplikatoren von Internetwerten, die mit relativ geringem investiertem Kapital arbeiten können, zu begründen? Darüber hinaus können von den meisten Vermögensgegenständen – man denke nur an Wohnimmobilien in Toplagen – gar keine Kopien erstellt werden, an Kopien anderer Unternehmen mit technisch überholten Maschinen ist ein Investor vielleicht gar nicht interessiert. Substanzwertbasierte Bewertungskennzahlen vernachlässigen meist auch mögliche Synergieeffekte und andere immaterielle Werte wie Standortvorteile, das Humankapital, den Wert des Markennamens und der Kundenbeziehungen. Schon bald wird klar, dass ein Unternehmen mehr ist als eine statische Summierung seiner Einzelteile. Ein Unternehmen ist ein organisches Gebilde mit immateriellen und nicht zu konkretisierenden Elementen, die erst in ihrer Zusammensetzung den Wert des Unternehmens ausmachen. Es kommt eben nicht nur darauf an, Fabrikgelände, Fertigungshallen, Maschinen, Bürogebäude, den Fuhrpark und die Vorräte zu bewerten, viel wichtiger sind im Zweifel die zündende unternehmerische Idee und der Wille, sie zu verwirklichen, eine schlagkräftige Organisation und das Humankapital sowie das Engagement der Mitarbeiter, ein effizientes, unter Umständen internationales Vertriebsnetz, ausgewählte und verlässliche Zulieferer sowie ausreichende und langfristig sichere Finanzierungsquellen. Und noch ein grundlegender Unterschied zwischen der Bewertung aller Vermögensgegenstände eines Unternehmens anhand der aus diesen zukünftig erwarteten Cashflows und der Bewertung des Unternehmens selbst fällt ins Auge: Als Größe ohne Restlaufzeit besteht ein Unternehmen nicht nur aus den Vermögenswerten, die sich derzeit in der Bilanz finden, sondern auch aus den Vermögenswerten, die das Unternehmen in Zukunft erwerben wird. Dies verdeutlicht ein Blick auf eine vereinfachte Bilanz4 (Abb.€10.1). Diese Abbildung macht deutlich, dass ein guter Teil des heutigen Unternehmenswertes aus den zukünftig zu tätigenden Investitionen stammt. Bei etablierten Unternehmen, deren Aktivseite zum überwiegenden Teil aus Sachanlagevermögen besteht, mag es vielleicht noch angemessen sein, die Vermögenswerte des Wachstums zu „übersehen“. Stammt dagegen der wesentliche Teil des Unternehmenswertes aus zukunftsbezogenen Investitionen, dürfte die Verwendung von substanzbasierten Vgl. Mellerowicz (1952, S.€39). Vgl. Ballwieser (2007, S.€182). 4╇ Vgl. Damodaran (2008, S.€355). 2╇ 3╇
10.1â•… Will the Real Value Please Stand Up? Abb. 10.1↜渀 Die Bilanz eines Unternehmens – Gegenwart und Zukunft
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Aktiva
Bestehende Vermögenswerte Getätigte Investitionen erzeugen heute Cashflows
Vermögenswerte des Wachstums Noch zu tätigende Investitionen schaffen in Zukunft Werte
Passiva
Eigenkapital Mittelherkunft der Aktionäre
Fremdkapital Mittelherkunft der Kreditgeber
Bewertungsmethoden eine deutliche Unterschätzung des Unternehmenswertes nach sich ziehen. Je nachdem, wie die Wachstumsaussichten in Zukunft eingeschätzt werden, variieren substanzwertbasierte Bewertungskennzahlen daher stark zwischen den einzelnen Branchen, ja selbst innerhalb einer Industrie können beträchtliche Abweichungen von den jeweiligen Durchschnittswerten beobachtet werden. Aufgrund der tendenziell steigenden Bedeutung der vielfach nicht bilanzierungsfähigen immateriellen Vermögenswerte kann der Substanzwert immer weniger ein Abbild des Unternehmenswertes sein. Nur bei solchen Unternehmen, deren Wert erkennbar zu einem überwiegenden Teil durch die (bilanzierte) Substanz widergegeben wird und bei denen sich gleichzeitig der Wert der Substanz an den aus ihnen erzielbaren Erlösen orientiert, kann die Anwendung des Substanzwertverfahrens das relevante Bewertungsverfahren sein. Infolge des fehlenden direkten Bezugs zu den zukünftigen finanziellen Überschüssen wird dem Substanzwert häufig eine eigenständige Bedeutung abgesprochen5. Eine weitere Frage spaltet den Kapitalmarkt: Ist IFRS mit seiner marktwertorientierten Bewertung von Vermögensgegenständen hilfreich für eine substanzwertbasierte Unternehmensbewertung oder eher kontraproduktiv? Während die einen darauf bestehen, dass aus bilanziellen Marktwerten durchaus zusätzliche Schlüsse gezogen werden können6, zeigen andere anhand von empirischen Untersuchungen, dass die veröffentlichten Marktwerte etwa in Quartalszahlen nur geringen Erklärungswert haben7. Wieder andere zeigen, dass die Veröffentlichung von Marktwerten allenfalls eine zeitlich nachgelagerte Erklärung dessen abgibt, was in der Kursentwicklung bereits vorweg genommen wurde und aus der erklärenden Variablen des Unternehmenswertes dann quasi die Erklärte wird8. Dies geht so weit, dass die Verwendung von substanzbasierten Kennzahlen sogar kontraproduktiv sein kann: So ist ein Immobilienentwickler gerade dann besonders effizient, wenn er ein möglichst geringes Eigenkapital möglichst häufig umsetzt; je höher das Eigenkapital zur Erzielung eines bestimmten Umsatzniveaus gewesen ist, desto Vgl. IDW (2007, S.€156). Vgl. Barth und Clinch (1998, S.€199–233). 7╇ Vgl. Nelson (1996). 8╇ Vgl. Rehkugler und Goronczy (2009, S.€90€ff.). 5╇ 6╇
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10â•… Substanzwertbasierte Kennzahlen
ineffizienter hat das Unternehmen gewirtschaftet. In anderen Fällen sind substanzwertbasierte Kennzahlen bestenfalls nichtssagend. Vor allem für Technologie- oder Biotechnologiewerte ohne oder mit nur geringem Sachanlagevermögen ist der Buchwert des Eigenkapitals nur wenig mit der Wertschöpfung des Unternehmens korreliert. Trotz dieser Defizite haben substanzwertbasierte Kennzahlen wie das KBV ihren Reiz selbst während der Technologieblase nie völlig verloren. Nach einer Analyse von Merrill Lynch war das KBV auch in den Jahren 1999 bis 2001 unter institutionellen Investoren nur unwesentlich weniger populär als das hochgeschätzte KGV. Von Zeit zu Zeit haben substanzwertbasierte Kennzahlen sogar Hochkonjunktur. Gerade in Zeiten eines zyklischen Konjunktureinbruchs stellen substanzwertbasierte Kennzahlen vergleichsweise stabile Werte dar, da in ihnen häufig Unterstützungsniveaus für Aktien gesehen werden. Darüber hinaus können Substanzkennzahlen intuitiv nachvollzogen werden, da sie auf wesentlich weniger Annahmen als DCF-Modelle basieren, und sie können für Unternehmen in Verlustsituationen eingesetzt werden, da sie selbst nur selten negative Werte annehmen.
10.2 Kurs/Buchwert-Verhältnis Während der vergangenen Jahrzehnte wurden nur wenige Elemente der modernen Investitionstheorie ähnlich extensiv analysiert wie die Frage, ob Value die bessere Anlagealternative sei als Growth. Obwohl sich die Zunft bereits über die Definition von Value und Growth uneins zu sein scheint, wird in den meisten Fällen eine ad hoc-Klassifizierung anhand der anzuwendenden Bewertungsmultiplikatoren vorgenommen. Der Praktiker definiert Value in der Regel über Bewertungsmultiplikatoren, die unter dem Durchschnitt liegen. Growth-Aktien wären demgegenüber mit Multiplikatoren bewertet, die über dem Durchschnitt des Aktienmarktes liegen. Dieselbe Aktie könnte also in einem Jahr als Growth, im nächsten als Value klassifiziert werden. Aus naheliegenden Gründen kann dies nicht zufriedenstellend sein. Insofern scheint auch die Wahl des Multiplikators selbst für die Einstufung, ob eine Aktie als Value-Wert anzusehen ist oder nicht, relevant zu sein. Dabei scheint es durchaus naheliegend zu sein, einen kausalen Zusammenhang zwischen der Marktkapitalisierung und dem Eigenkapital bzw. zwischen dem Kurs einer Aktie und dem Buchwert zu erkennen. Dieses Kurs/Buchwert-Verhältnis KBV hat eine lange Tradition unter den etablierten Bewertungsverfahren9, ja vermutlich war es sogar die erste systematisch ermittelte Bewertungskennzahl überhaupt. Als Verhältnis aus Marktwert des Eigenkapitals P0 zu bilanziellem Buchwert des Eigenkapitals EK ist das KBV ein Maß für die Prämie oder den Abschlag, die bzw. den ein Investor bereit ist auf das in das Unternehmen investierte und den Aktionären zustehenden Kapital zu bezahlen: 9╇
Vgl. bereits Graham und Dodd (1940, S.€485€ff.).
10.2â•… Kurs/Buchwert-Verhältnis
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KBV =
P0 . BVPS
(10.1)
Im Zähler des KBV steht der aktuelle Aktienkurs P0, im Nenner der zuletzt veröffentlichte Buchwert je Aktie BVPS. Grundsätzlich als Einheit „je Aktie“ berechnet repräsentiert der Buchwert die historischen (nominalen) Anschaffungskosten sämtlicher, von den Aktionären bislang in das Unternehmen investierten Vermögenswerte. Als rein auf Vergangenheitsdaten basierende Kennzahl ist der Buchwert eine schlechtere Näherungsgröße für die zukünftige Wertschöpfung eines Unternehmens als der erwartete Gewinn. Er wird jedoch als Indikator für den Zerschlagungswert des Unternehmens angesehen. Die Marktkapitalisierung auf der anderen Seite ist ein Indikator für den Fortführungswert des Unternehmens, da sie auf der Einschätzung der in Zukunft vom Unternehmen erwirtschafteten Wertschöpfung basiert. Die dem KBV zugrunde liegende und vor allem von Börsen- und Anlegermagazinen10 verbreitete Philosophie ist, dass eine Aktie dann als unterbewertet anzusehen ist, wenn ihr Kurs unter dem Buchwert notiert bzw. wenn im PeergroupVergleich das KBV der Aktie niedriger ist als das der Referenzunternehmen11. Für dieses Konzept spricht eine ganze Reihe von Argumenten12. Ein schlagkräftiges wäre, dass der Kapitalmarkt in der Bepreisung weniger zuverlässig ist als der von konservativen Überlegungen geleitete Wirtschaftsprüfer. Alternativ dazu kann argumentiert werden, dass ein Investor, dem es gelingt, die vollkommene Herrschaft über das Unternehmen zu übernehmen, durch die Liquidation des Unternehmens größere Werte vereinnahmen kann als er durch den Kauf der Anteile hingegeben hat, sofern nur der Aktienkurs unterhalb des Buchwertes des Eigenkapitals notiert. Die Grundlage der Berechnung des Buchwerts bildet das bilanzielle Eigenkapital des Unternehmens EK, das um Minderheitsanteile MI – die dem Aktionär naturgemäß nicht zustehen – korrigiert wird. Ebenfalls zu subtrahieren sind die vom Unternehmen an der Börse zurückgekauften Treasury Shares TS. Damit ergibt sich der Buchwert je Aktie BVPS über folgende Gleichung13:
BVPS =
EK − MI − TS . NoSh
(10.2)
Das ausgewiesene Eigenkapital ohne Anteile Dritter und eigene Aktien wird anschließend mit dem Börsenwert gleichgesetzt. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass Werte, die bilanziell nicht angesetzt werden können, den Buchwert und damit letztlich auch den Unternehmenswert nicht steigern können. Darunter Vgl. stellvertretend Bertram et€al. (2010, S.€34) oder Dreher (2008, S.€38). Vgl. für eine empirische Analyse des KBV: Rosenberg et€al. (1985). 12╇ Die auch von einer Reihe empirischer Studien belegt werden: Banz (1981) oder Fama und French (1993). 13╇ Anders dagegen u.€a. Ernst et€al. (2006, S.€168), die das gesamte bilanzielle Eigenkapital mit seinem Buchwert gleichsetzen. 10╇ 11╇
10â•… Substanzwertbasierte Kennzahlen
372
fallen zum Beispiel immaterielle Vermögenswerte wie Marktstellung, Wettbewerbsvorteile oder Patente – und natürlich auch sämtliche, in der Zukunft geschaffenen Werte. Beispiel 10.1: Berechnung des Buchwertes je Aktie╇ Mitte März veröffentlicht ein Stahlhersteller seine Bilanz zum Ende des vorangegangenen Geschäftsjahres. In dieser werden folgende Eigenkapitalpositionen ausgewiesen: Mio.€€ Eigenkapital Gezeichnetes Kapital Eigene Anteile Kapitalrücklage Gewinnrücklagen Unterschiedsbetrag aus der Kapitalkonsolidierung Minderheitenanteile Währungsumrechnungsdifferenz
66,4 10,0 6,8 35,8 12,9 2,2 0,5 0,4
Der Nennwert je Aktie beläuft sich auf 1,00€ €. Damit wurden insgesamt 10,0€Mio. Stück Aktien ausgegeben. Ein Blick in die Aktionärsstruktur zeigt, dass das Unternehmen zwischenzeitlich seinen Bestand an eigenen Aktien auf 9,0€% des ausgegebenen Grundkapitals aufgestockt hat. Damit wurden insgesamt 900.000 Stück Aktien zum Preis von durchschnittlich 7,56€€ je Aktie an der Börse erworben. Im ersten Schritt berechnen wir die aktuell gültige Anzahl ausstehender Aktien NoSh: NoSh = 10.000.000 − 900.000 = 9.100.000.
Daraus errechnet sich der Buchwert je Aktie über BVPS =
EK − MI − TresasuryShares 66,4 − 0,5 − 6,8 = = 6,49. NoSh 9,1
Der Buchwert liegt also bei 6,49€€ je Aktie. Neben diesem nicht adjustierten Buchwert kursieren auch diverse adjustierte Varianten, die einen Bewertungsvergleich vereinfachen sollen. Relativ verbreitet ist der tangible Buchwert je Aktie. Der hierbei zugrunde liegende Gedanke ist, dass immaterielle Vermögenswerte in bestimmten Fällen nicht liquidiert werden können und dem Aktionär theoretisch auch nicht zur Verfügung stehen. Immaterielle Vermögenswerte sind allerdings präzise auf ihre Werthaltigkeit zu analysieren. Am einen Ende der Skala rangiert zweifellos der Goodwill, da dieser nur in den seltensten Fällen bei einem Weiterverkauf realisiert werden kann. Am anderen Ende
10.2â•… Kurs/Buchwert-Verhältnis
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befinden sich selbst geschaffene Wirtschaftsgüter, insbesondere Patente, deren Buchwert zumindest teilweise durch einen Verkauf realisiert werden kann. Auch außerbilanzielle Verpflichtungen können bei der Berechnung des adjustierten Buchwertes berücksichtigt werden. Kommt es zur Liquidation des Unternehmens, sind diese Verpflichtungen vorrangig zu bedienen. Prominentestes Beispiel hierfür sind Operative Leasingverpflichtungen. Im Kontrast dazu sind Aktivposten, bei denen absehbar ist, dass sie nicht den aktuellen Marktwert widerspiegeln, zum Buchwert hinzuzuzählen. Ein Beispiel hierfür sind Immobilien, die in bestimmten Fällen zu Anschaffungs- und Herstellkosten und nicht zu Marktpreisen bilanziert werden. Derartige Anpassungen sind jedoch für einen Außenstehenden schwierig und sollten daher nur in begründeten Ausnahmefällen durchgeführt werden. Eine Bewertung mit Hilfe des Buchwertes kommt insbesondere für Unternehmen in Frage, deren Vermögenswerte schnell und problemlos liquidiert werden können. Fungibel sind insbesondere kurzfristige Vermögenswerte, also der Kassenbestand, marktgängige Wertpapiere, Vorräte und Forderungen aus Lieferungen und Leistungen, sofern sie fakturiert werden können. Bei den langfristigen Vermögenswerten sind vor allem nicht zweckgebundene Immobilen in guten Lagen zu nennen. Vor diesem Hintergrund ist das KBV vor allem bei Banken und Versicherungen, bei Beteiligungsgesellschaften und bei Immobilienbestandshaltern weit verbreitet14. In diesen Branchen kommt dem Verhältnis aus Marktwert und Buchwert des Eigenkapitals ein besonderer Stellenwert zu: Banken und Versicherungen sind hochgradig reguliert und müssen gesetzliche Eigenmittelvorschriften einhalten, die auf Buchwerten basieren. Eine Ausdehnung der Geschäftstätigkeit ist daher mit einem Anstieg der Buchwerte des Eigenkapitals verbunden. Ein weiterer Vorteil des Buchwerts ist, dass er eine im Zeitablauf relativ stabile Größe darstellt. Zyklische Schwankungen wie beim Nachsteuerergebnis sind beim Buchwert weit weniger markant. Damit ist der Buchwert eine Kennzahl, die in stabilen Branchen wie Immobilienbestandshaltung oder Versicherungen angewendet werden kann, in denen Wachstum stetig ist, aber tendenziell auf einem gemächlichen Niveau stattfindet. In zyklischen Branchen, in denen das Ergebnis je Aktie konjunkturelle Höchst- oder Tiefstwerte aufweist, kann der Buchwert auch als eine Art zyklischer „Normalwert“ interpretiert werden. Analysen haben denn auch belegt, dass Unterschiede in den Buchwerten von Unternehmen auf langfristig unterschiedliche Performancekennziffern von Unternehmen zurückgeführt werden können15. Der größte Vorteil des Buchwerts ist, dass er in den überwiegenden Fällen eine positive Größe ist. Kann er überhaupt negativ werden? Natürlich, hoch verschuldete Unternehmen werden nach langen Verlustperioden ein negatives Eigenkapital aufweisen. Die Fremdkapitalquote übersteigt dann den Wert von 100€ % und die durchschnittlichen gewichteten Kapitalkosten werden zu einer bedeutungslosen Größe. Doch derartige Fälle sind in der Realität selten, wesentlich seltener als Verlustsituationen, bei denen das KGV nicht angewendet werden kann. Das KBV kann 14╇ 15╇
Vgl. auch Wild et€al. (2001, S.€233, 456). Vgl. Bodie et€al. (2001).
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10â•… Substanzwertbasierte Kennzahlen
also immer dann zum Einsatz kommen, wenn sich das Unternehmen noch in der Verlustzone befindet und ertragsbasierte Kennzahlen negativ werden. Aber auch bei jungen Wachstumsunternehmen wird der Buchwert nur sehr kleine Werte annehmen und nicht das wahre Ausmaß der zukünftigen Wertentwicklung widerspiegeln. Eher ungeeignet ist das KBV bei Unternehmen, die in besonderem Maße von Humankapital abhängig sind. Hier entscheidet sich der innere Wert eines Unternehmens weniger anhand der investierten Vermögenswerte, als anhand der Qualität seiner Mitarbeiter. In diese Kategorie fallen zum Beispiel Softwareunternehmen, Investmentbanken oder Immobilien- bzw. Windparkentwickler. Bei letzteren ist die Verwendung des Buchwertes sogar ausgesprochen kontraproduktiv, da bei ihnen ein Unternehmen gerade dann einem anderen überlegen ist, wenn es einen bestimmten Output mit einem möglichst geringen Input zu erwirtschaften in der Lage ist. Immaterielle Vermögensgegenstände, die zum Zeitpunkt, als die meisten der heute noch gültigen buchhalterischen Grundsätze entwickelt worden waren, keine Rolle spielten, werden weder in der Bilanz erkannt, wo sie Einfluss auf den Buchwert nehmen sollten, noch in der Gewinn- und Verlustrechnung, wo sie umsatzund ertragssteigernd wirken sollten. Unternehmen wie Microsoft oder Google, die über die Jahre beträchtliche immaterielle Werte geschaffen haben, die unabdingbare Basis ihrer Marktstellung sind, können diese Werte nicht verbuchen – außer sie werden von Dritten erworben. Auf der anderen Seite wirken sich die mit ihrer Entstehung verbundenen Kosten unmittelbar ertragsbelastend aus. Die Konsequenz ist, dass Buchwerte signifikant unterschätzt werden, was das KBV zu einer irrelevanten Kennzahl für derartige Firmen macht. Nachdem Buchwerte auf buchhalterischen Entscheidungen basieren, dürfte es wenig überraschend sein, dass die höchsten Kurs/Buchwert-Verhältnisse tendenziell in Branchen beobachtet werden können, in denen die wichtigsten Vermögenswerte keinen Eingang in die Bilanz finden. Werden in der Software- oder Biotechnologieindustrie Entwicklungsaufwendungen nicht kapitalisiert, sondern unmittelbar als Aufwand verkostet, werden aus dem KBV abgeleitete Unternehmenswerte tendenziell zu niedrig ausgewiesen. Auch Markenunternehmen generieren einen Großteil ihrer Erträge aus einem Vermögensgegenstand, der ebenfalls nicht bilanziell verbucht werden kann, ihrem Markennamen. In beiden Fällen mag dies ursächlich dafür sein, dass diese Unternehmen vergleichsweise hohe Eigenkapitalrentabilitäten erzielen können und mit weit überdurchschnittlichen Kurs/Buchwert-Verhältnissen gehandelt werden. Auch in anderen Fällen kann das KBV zu Fehlbewertungen führen und gerade die effizienten Unternehmen aus der Peergroup bestrafen. Stellt ein Hersteller seine Produktion auf eine Just in Time-Belieferung um, was einen deutlich effizienteren Lagerumschlag zur Folge hat, wird dies auch Auswirkungen auf den Buchwert haben. Gleiches gilt für Produktionsunternehmen, die nicht auf Halde produzieren, sondern auftragsbezogene Fertigungskonzepte verfolgen. Diese Unternehmen sind effizienter als andere, die für eine Produktion erforderlichen Mittel geringer. Unter sonst gleich bleibenden Bedingungen werden ihre Aktien mit höheren Multiplikatoren bewertet sein als andere, weniger effiziente Unternehmen.
10.2â•… Kurs/Buchwert-Verhältnis
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Vorsicht ist auch bei einem Bewertungsvergleich von Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen angebracht, insbesondere wenn diese unterschiedlichen Buchhaltungsregimen unterliegen. Weichen die angewendeten Buchhaltungsregeln zwischen den Unternehmen zu sehr voneinander ab, ist ein Bewertungsvergleich kaum zielführend. Aus diesem Grund wird eine internationale Peergroup-Analyse anhand des KBV nur selten durchgeführt. Nachdem der Buchwert eines Vermögenswertes seine ursprünglichen Anschaffungskosten widerspiegelt, kann der Marktwert des Vermögens signifikant darunter liegen, falls absehbar ist, dass sich die Ertragskraft des Vermögenswertes im Zeitablauf abschwächen wird. Im Extremfall eines Unternehmens, das einen Paradigmenwechsel verpasst hat, repräsentiert der Buchwert ein auf veralteter Technologie aufgebautes Unternehmen, nicht jedoch dessen zu erwartenden Ertragseinbruch. Noch nicht einmal die Insolvenz kann durch den Einsatz des Buchwertes als Bewertungsmaßstab vermieden werden. So wies zum Beispiel der Computerspielehersteller 10tacle Studios weniger als ein Jahr vor seiner Insolvenz im Jahre 2008 einen Buchwert von rund 6,70€€ je Aktie auf. Bei Unternehmen, deren Going Concern gerade nicht unterstellt werden kann, kann die Verwendung des KBV drastische Fehlbewertungen zur Folge haben. Zu vergleichbaren Defiziten kann es kommen, wenn es keinen effizienten Markt für Vorräte gibt oder weil die Forderungen aus Lieferungen und Leistungen nicht mehr werthaltig sind. Letzten Endes gelten alle Kritikpunkte, die beim KGV genannt wurden, cum grano salis auch für das KBV: Schließlich ist der Buchwert nichts anderes als das ursprüngliche Eigenkapital der Gesellschaft zum Börsengang zuzüglich sämtlicher danach thesaurierten Gewinne. Dass das KBV eng mit dem KGV verwoben ist, zeigt die Erweiterung von Formel (10.1) um den Jahresüberschuss je Aktie EPS zu folgendem Zusammenhang:
KBV =
P0 P0 EPS = = KGV · ROE. BVPS EPS BVPS
(10.3)
Eine geläufige Argumentation für die Verwendung des KBV ist, dass ein Unternehmen von seinen Anteilseignern jederzeit liquidiert und mindestens ein Ertrag in Höhe des Buchwertes erzielt werden kann. Vielfach wird daher behauptet, eine Aktie solle mindestens auf Höhe ihres Buchwertes notieren oder eine Aktie, die mit einem KBV von unter Eins gehandelt wird, sei unterbewertet. Schließlich könne man das Unternehmen vollständig übernehmen, in seine Einzelteile zerlegen und liquidieren und hätte anschließend einen risikolosen Arbitragegewinn erzielt, wenn man zuvor das Unternehmen unter Buchwert erwerben konnte. Selbst wenn man den zweiten Teil der Aussage akzeptieren würde, heißt das noch lange nicht, dass der Buchwert ein geeigneter Indikator für den Liquidationswert ist. Wachstumsunternehmen sind vielfach in sehr speziellen Nischen tätig, so dass es selten funktionsfähige Märkte für die Vermögenswerte gibt, so dass der nach buchhalterischen Vorgaben ermittelte Buchwert nicht erzielt werden kann. Doch Formel (10.3) zeigt, dass diese Aussage auch aus einem anderen Grund nicht richtig sein kann. Danach darf das KBV umso höhere Werte annehmen, je
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10â•… Substanzwertbasierte Kennzahlen
höher das KGV und/oder je höher die Eigenkapitalrendite ist. Profitablere Unternehmen werden demnach ein grundsätzlich höheres KBV ausweisen als weniger profitable Unternehmen. Profitable Unternehmen, die eine Rendite oberhalb ihrer Eigenkapitalkosten erwirtschaften, werden sehr wohl mit einem KBV von deutlich über als Eins gehandelt, während weniger profitable Unternehmen mit einem KBV von zum Teil weit unter Eins bewertet werden. Gerade reife Unternehmen oder Unternehmen im Niedergang sind oft nicht (mehr) in der Lage, ihre Kapitalkosten zu verdienen. Sofern diese Unzulänglichkeit nicht allein der Unfähigkeit des Managements zuzuschreiben (und damit grundsätzlich zu heilen) ist, wird der innere Wert des Vermögens unter seinem aktuellen Buchwert notieren. Die unter institutionellen Investoren wie auch unter Privatanlegern weit verbreitete Aussage, eine Aktie müsse mindestens auf ihrem Buchwert notieren, kann daher nicht aufrechterhalten werden. Das KBV-Verfahren beruht überwiegend auf Vergangenheitsdaten und leitet die Bewertung von der Passivseite der Bilanz ab. Vorwärts gerichtete Konzepte, beispielsweise auf Basis des laufenden oder kommenden Geschäftsjahres, kommen nur selten zur Anwendung, beispielsweise wenn absehbar ist, dass sich das wettbewerbliche Umfeld im Zeitablauf deutlich verändern wird und dies Einfluss auf die Buchwerte hat. Derartige Fälle sind allerdings eher selten. Wichtig ist in jedem Fall, dass für alle Unternehmen der Vergleichsgruppe dasselbe Konzept verwendet wird. Apropos Vergleichsgruppe: Der Buchwert ist mindestens genauso stark von buchhalterischen Bewertungsspielräumen geprägt wie der Jahresüberschuss. Der Blick von Buchhaltern auf das Eigenkapital ist ein völlig anderer als der des Kapitalmarktes. Die buchhalterische Einschätzung von Vermögenswerten ist abhängig vom ursprünglich bezahlten Kaufpreis, von den kumulierten Abschreibungen und anderen buchhalterischen Anpassungen. Selbst innerhalb einer Industrie kann das KBV der einzelnen Unternehmen stark voneinander abweichen, sogar ohne dass notwendigerweise eine Aussage über die Qualität der Investitionen oder über das zukünftige Wachstumspotenzial getroffen wurde. Trotz des vergangenheitsorientierten Ansatzes sollten also auch beim KBV die fundamentalen Werttreiber der Kennzahl analysiert und die Frage beantwortet werden, wie das KBV auch ohne Referenzunternehmen für eine Unternehmenswertfindung herangezogen werden kann. In früheren Kapiteln wurde gezeigt, dass die relevanten Werttreiber von Dividenden- und Cashflow-Diskontierungsmodellen (Niveau der Liquiditätsströme, die erwartete Wachstumsrate und das zu ihrer Erzielung verbundene Risiko) für Unternehmen in einer stabilen Wachstumsphase grundsätzlich auch für die Multiplikatorbewertung Bestand haben. Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt man, wenn man im Gordonschen Wachstumsmodell für Dividenden (4.9) die Dividende durch das mit der Ausschüttungsquote δ multiplizierte Nettoergebnis NetInc ersetzt, also
P0 =
δNetInc0 (1 + g) δNetInc1 = , rEK,R − gR rEK,R − gR
für rEK,R > gR .
(10.4)
10.2â•… Kurs/Buchwert-Verhältnis
377
Da die Eigenkapitalrendite definiert ist als16
ROE1 =
NetInc1 , EK0
(10.5)
folgt nach Umformung und Substitution in (10.3), dass
P0 =
δEK0 · ROE1 . rEK,R − gR
(10.6)
Nach Division beider Seiten der Gleichung durch den Buchwert des Eigenkapitals – der im Folgenden als Näherungsgröße für den Buchwert angesehen wird –, wird ersichtlich, von welchen fundamentalen Treibern das Kurs/Buchwert-Verhältnis letztendlich abhängig ist:
δROE1 P0 = KBV = , EK 0 rEK,R − gR
für rEK,R > gR .
(10.7)
Auf der linken Seite steht das Kurs/Buchwertverhältnis, auf der rechten die erwartete Eigenkapitalrendite der folgenden Periode ROE1, die multipliziert wird mit der Ausschüttungsquote δ und dividiert wird durch die Differenz aus langfristigen Eigenkapitalkosten rEK,R und Wachstumsrate gR. Damit ist bewiesen, dass eine Aktie, die mit einem KBV von unter Eins gehandelt wird, nicht automatisch unterbewertet ist. Das Kurs/Buchwert-Verhältnis ist umso größer, je größer die Ausschüttungsquote δ, die Eigenkapitalrendite ROE1 und die Wachstumsrate gR sind und je kleiner die geforderten Eigenkapitalkosten rEK sind. Auch die Differenz zwischen der Eigenkapitalverzinsung und der erwarteten Wachstumsrate spielt eine bewertungsrelevante Rolle: Je näher das Wachstum an den Eigenkapitalkosten liegt, desto höher ist auch das aus Fundamentalfaktoren abgeleitete KBV. Ein Vergleich mit Formel (8.4) offenbart, dass die prospektive Eigenkapitalrendite ROE1 der einzige fundamentalanalytische Unterschied zwischen der Höhe des KGV und des KBV ist. Auch substanzwertbasierte Kennzahlen sind damit von der Ertragslage abhängig, und zwar stärker, als dies intuitiv zu vermuten gewesen wäre. So erstaunlich dieser Zusammenhang auf den ersten Blick sein mag, so verständlich wird er, wenn man sich der Mechanismen zwischen Ertragswert und Buchwert bewusst wird: Der Wert eines Unternehmens wird zum großen Teil durch die nachhaltige Ertragskraft seiner Vermögensbestandteile definiert. Dieses wiederum kommt maßgeblich im Marktwert des Vermögens zum Ausdruck. Berechnet man den Marktwert der Vermögensbestandteile als Barwert der zukünftig mit diesen Vermögenswerten erzielten Erträgen, so errechnet sich der Unternehmenswert als Summe der einzelnen Vermögensgegenstände abzüglich des Marktwertes der Ver-
16╇ Anm.: In dieser und den folgenden Gleichungen bezieht sich der Suffix 0 des Eigenkapitals nicht auf den Marktwert des Eigenkapitals, sondern ist eine zeitbezogene Größe.
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10â•… Substanzwertbasierte Kennzahlen
bindlichkeiten. Damit zeigt sich, dass auch der Substanzwert letztlich eine modifizierte Ertragsbewertung darstellt. Durch den Zusammenhang (10.7) wird ersichtlich, dass ein Rückgang der Eigenkapitalrendite nur dann Auswirkungen auf das KBV hat, wenn dieser von einem simultanen Rückgang der Ausschüttung begleitet wird. Unter sonst gleichbleibenden Bedingungen geht zwar bei einem Gewinnrückgang die Eigenkapitalrendite zurück, bleibt die Dividende hingegen konstant, etwa weil das Unternehmen den Gewinnrückgang als einmaligen Ausrutscher betrachtet und eine stetige Ausschüttungspolitik verfolgt, bleibt das Produkt aus Eigenkapitalrentabilität ROE1 und Ausschüttungsquote δ per Saldo unter Umständen konstant. Beispiel 10.2: Einmaliger Gewinneinbruch und Auswirkung auf das KBV╇ Der Jahresüberschuss des Stahlunternehmens aus Beispiel (10.1) bricht infolge einer Brandkatastrophe in einer Montagehalle von 7,0€ Mio.€ € auf 5,0€Mio.€€ ein. Das Management hält dennoch an seiner Gesamtausschüttung des Vorjahres von 4,0€Mio.€€ fest. Die Ausschüttungsquote steigt damit von 57,1€% auf 80,0€% an. Bei einem Eigenkapital von 66,4€Mio.€€ verschlechtert sich die Eigenkapitalrentabilität von 10,5€% auf 7,5€%. Unter Berücksichtigung von Formel (10.7) und angesichts eines Unternehmenswachstums von 4,5€ % sowie Eigenkapitalkosten von 9,7€ % ergibt sich für das Vorjahr ein Kurs/Buchwert-Verhältnis von KBV =
δROE1 0,571 · 0,105 = = 1,17 rEK − g 0,097 − 0,045
und für das laufende Jahr von KBV =
δROE1 0,800 · 0,075 = = 1,17. rEK − g 0,097 − 0,045
Das sich aus den Fundamentalfaktoren des Unternehmens ergebende KBV liegt damit in beiden Fällen bei 1,17x. Mit anderen Worten: Die Aktie sollte für dieses Unternehmen um 17,0€ % über dem Buchwert notieren, da sich die Veränderungen der Eigenkapitalrentabilität und die Veränderungen der Ausschüttungsquote gegenseitig neutralisieren. Unter sonst gleichbleibenden Bedingungen muss ein einmaliger Ertragsrückgang keine negativen Auswirkungen auf das Kurs/Buchwert-Verhältnis haben. Ist der Rückgang dagegen dauerhaft, wird dies auch Auswirkungen auf die durchschnittliche Wachstumsrate der Unternehmensgewinne haben und damit auch den Nenner beeinflussen. In Verbindung mit dem in Beispiel (10.1) ermittelten Buchwert liegt das aus den Fundamentaldaten abgeleitete Kursziel bei V0 = 6,490 · 1,17 = 7,60,
also bei 7,60€€ je Aktie.
10.2â•… Kurs/Buchwert-Verhältnis
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Aus den Dividendendiskontierungsmodellen – vgl. Formel (4.29) – ist bekannt, dass die Beziehung g = (1 − δ)ROE gelten muss. Damit folgt für eine Bewertung im Gleichgewicht:
KBV =
ROE1 − gR , rEK,R − gR
für rEK,R > gR
und
ROE1 > gR .
(10.8)
Damit wurde die Ausschüttungsquote δ aus der Beziehung getilgt und das aus den Fundamentaldaten eines Unternehmens abgeleitete KBV ist nur noch von der Eigenkapitalrendite ROE, den Eigenkapitalkosten rEK,R und den erwarteten Wachstumsraten gR abhängig. Der dominierende Einflussfaktor auf das KBV ist damit die Differenz zwischen der Eigenkapitalrendite eines Unternehmens und seinen Eigenkapitalkosten, eine Beziehung, die bekanntlich die Grundlage von Wertschöpfungsmodellen ist. Beispiel 10.3: Berechnung des Kurs/Buchwert-Verhältnisses╇ Die alternative Berechnung des inneren KBV über Formel (10.8) ergibt für das Stahlunternehmen aus Beispiel (10.1) mit KBV =
ROE1 − gR 0,105 − 0,045 = = 1,17 rEK − gR 0,097 − 0,045
denselben Wert wie Beispiel (10.2). In der Realität ist das KBV üblicherweise größer als Eins, ein Indiz, dass der Fortführungs- oder Going Concern-Wert eines Unternehmens von den Investoren höher wertgeschätzt wird als sein Liquidationswert17. Daraus lässt sich wiederum die Schlussfolgerung ableiten, dass die Differenz zwischen ROE1 und gR größer sein muss als die Differenz zwischen rEK,R und gR, was wiederum nichts anderes bedeutet als dass Eigenkapitalrendite ROE1 größer sein muss als die geforderten Eigenkapitalkosten rEK,R. Unternehmen, deren Fortführungswert ihren Liquidationswert übersteigt, und das dürfte die überwiegende Mehrheit der börsennotierten Gesellschaften sein, sind dementsprechend durch folgende Ungleichung charakterisiert: ROE1 > rEK,R > gR . Nachfolgende Abbildung gibt einen Überblick über die Zusammenhänge zwischen KBV, Wachstumsrate und Eigenkapitalrendite (Abb.€10.2). Darüber hinaus ist das KBV umso höher, je höher die Differenz zwischen ROE1 und rEK,R ist. Die Gültigkeit dieser Aussage offenbart sich im Extremfall eines langfristigen nicht wachsenden Unternehmens, wenn also gRâ•› = â•›0. In diesem Nullwachstumsmodell folgt aus (10.8): 17╇ Auch dass immaterielle Vermögenswerte nicht bilanziert werden dürfen, könnte hierzu beitragen. Vgl. ausführlich: Lev (2001).
380
10â•… Substanzwertbasierte Kennzahlen
Abb. 10.2↜渀 KBV in Abhängigkeit von der Wachstumsrate g
120
ROE=11% ROE=15% ROE=20%
100
KBV
80 60 40 20 0 0%
1%
2%
KBVg=0 =
3%
4%
5% g
ROE1 . rEK,R
6%
7%
8%
9%
(10.9)
Beispiel 10.4: Berechnung des Kurs/Buchwert-Verhältnisses╇ Angenommen, das Stahlunternehmen aus Beispiel (10.1) würde aufgrund einer ausreichenden Marktsättigung kein weiteres Wachstum erzielen können. Eine Bewertung anhand Formel (10.9) ist daher angebracht. Wir berechnen das innere KBV aus KBVg=0 =
ROE1 0,105 = = 1,09. rEK 0,097
Sogar im Nullwachstumsfall kann daher das KBV den Wert von eins übersteigen. Damit liegt das über Formel (10.9) abgeleitet Kursziel der Aktie im Nullwachstumsfall bei V0 = 6,49 · 1,09 = 7,09,
also bei 7,09€€ je Aktie. Zusammengefasst zeigt sich, dass die Aussage, ein KBV von unter Eins würde uneingeschränkt auf eine Unterbewertung der Aktie hindeuten, nicht aufrechterhalten werden kann. Nicht einmal die gängige Argumentation, dass eine Aktie umso attraktiver bewertet ist, je niedriger das KBV ist, kann uneingeschränkt aufrechterhalten werden. In jedem Fall ist die Profitabilität des Unternehmens mit in Betracht zu nehmen. Die Praxis folgt hier auch den Erkenntnissen der Theoretiker, denn eine Outperformance von Aktien mit niedrigem KBV kann auch in empirischen Analysen
10.2â•… Kurs/Buchwert-Verhältnis
381
nicht nachvollzogen werden.18 Die dabei zugrunde liegende Argumentation ist, dass bei Aktien mit niedrigem KBV am Kapitalmarkt ein höheres Insolvenzrisiko unterstellt wird. Die Aufmerksamkeit des Investors auf sich zu ziehen sollten insbesondere jene Aktien, bei denen eine hohe Eigenkapitalrendite mit einem niedrigen KBV bzw. ein hohes KBV mit einer niedrigen Eigenkapitalrentabilität gepaart sind: Erstere lassen eine Outperformance der Aktie erwarten, letztere eine Underperformance. Verdient ein Unternehmen mehr als seine Kapitalkosten, übersteigt der Wert, der sich aus der Diskontierung zukünftiger Cashflows ergibt, das bislang in das Unternehmen investierte Kapital. Vom Standpunkt der Unternehmensbewertung ist dies kein sonderlich überraschendes Ergebnis: Vermögenswerte, die Werte schaffen, sind mehr wert als ihre Anschaffungskosten. Demnach kann es aus Sicht des Managements Sinn machen, noch mehr Vermögenswerte zu erwerben und zwar so lange, bis die zuletzt erworbene Einheit gerade noch die Kapitalkosten erwirtschaftet. Doch die getätigten Investitionen ziehen sprunghafte Veränderungen der Kapitalbasis nach sich, was eine Prognose der Ertragszahlen schwierig macht. Darüber hinaus werden Risikoparameter wie das Beta von den unterjährigen Neuinvestitionen beeinflusst, was ebenfalls zu Bewertungsunsicherheiten führt. Eine weitere Erkenntnis lässt sich ebenfalls aus Formel (10.8) ableiten. Nach Addition und Subtraktion von rEK zum Zähler des Bruchs, also
ROE1 − gR + rEK,R − rEK,R P0 , = EK rEK,R − gR
(10.10)
erhält man durch Umformung
ROE1 − rEK,R P0 =1+ EK rEK,R − gR
(10.11)
und schließlich
P0 = EK +
ROE1 − rEK,R EK. rEK,R − gR
(10.12)
Aus diesem Zusammenhang wird auf alternative Weise gezeigt, dass der Börsenkurs P0 nur dann berechtigt über dem Buchwert des Eigenkapitals EK notieren soll, wenn die Eigenkapitalrendite ROE1 die Eigenkapitalkosten rEK,R übersteigt. Erst unter Berücksichtigung der Eigenkapitalrendite kann also aus dem KBV eine Schlussfolgerung für die Bewertung gezogen werden. Der Wert eines Unternehmens, dessen Kapitalrendite deutlich über seinen Eigenkapitalkosten liegt, kann auch deutlich über seinem Buchwert notieren, ohne dass dies eine Überbewertung
Rosenberg et€al. (1985) zeigen, dass im Zeitraum von 1973 bis 1984 US-amerikanische Aktien mit hohem KBV eine durchschnittliche monatliche Outperformance von 36 Basispunkten erzielen konnten. Vergleichbare Ergebnisse stammen von Fama und French (1992).
18╇
382
10â•… Substanzwertbasierte Kennzahlen
der Aktie anzeigen würde, et vice versa. Damit können auch Aktien mit einem KBV von unter oder über Eins fair bewertet sein. Und noch eine weitere Schlussfolgerung ergibt sich: Weil das Management eines Unternehmens durch den Kauf oder den Verkauf von Wertpapieren keine Überrenditen erzielen kann, weisen diese ein KBV von Eins auf. Damit haben unterschiedlich hohe Wertpapierbestände einen verzerrenden Einfluss auf die Höhe des Multiplikators. Beispiel 10.5: Auswirkungen von Wertpapierbeständen auf das KBV╇ Aus Beispiel (10.1) ist bekannt, dass der Stahlhersteller einen Buchwert des Eigenkapitals von 6,49€€ je Aktie aufweist. Angenommen, die Aktie wird gegenwärtig bei 7,79€€ gehandelt. Damit errechnet sich ein KBV in Höhe von KBV =
7,79 = 1,2x. 6,49
Nimmt das Unternehmen zusätzlich 20,0€Mio.€€ Eigenkapital auf und erwirbt damit Wertpapiere zum Marktwert von 20,0€ Mio.€ €, dann verbessert sich diese Relation bei 9,1€Mio. ausstehender Aktien auf 20,0 9,1 KBV = = 1,15x, 20,0 6,49 + 9,1 7,79 +
obwohl sich das Nettovermögen der Eigentümer nicht verändert hat. Dies liegt an der Wertneutralität der Wertpapierbestände, die dazu führt, dass der Übergewinn aus den restlichen Vermögenswerten auf eine breitere Eigenkapitalbasis verteilt wird.
10.3 Marktwert/Firmenwert-Verhältnis Im Gegensatz zum KBV analysiert und bewertet das eher selten verwendete Marktwert/Firmenwert- (MVFV-) Verhältnis die gesamte Bilanz, nicht nur das Eigenkapital. Die Kennzahl wird üblicherweise auf Basis der Marktwerte berechnet, also
MVFV =
EK0 + Debt0 , EK + Debt
(10.13)
aber auch Enterprise Value-basierte Konzepte sind bekannt, wenngleich seltener in der Anwendung und beziehen sich beispielsweise auf das nicht-liquiditätsbezogene investierte Capital:
10.3â•… Marktwert/Firmenwert-Verhältnis
EVCE =
383
EK0 + Debt0 − ExcessCash + MI0 + PR0 . EK + Debt − ExcessCash + MI + PR
(10.14)
Das Marktwert/Firmenwert-Verhältnis errechnet sich aus der Summe aus dem Marktwert des Eigenkapitals und Marktwert der zinstragenden Verbindlichkeiten dividiert durch die Summe aus Buchwert des Eigenkapitals und Buchwert der zinstragenden Verbindlichkeiten. So wie bei der Berechnung des Wertes des Eigenkapitals sämtliche Ansprüche der Aktionäre wiedergegeben werden müssen, insbesondere also die Ansprüche der Stamm- und Vorzugsaktionäre, so sind auch hier theoretisch sämtliche Ansprüche der Kapitalgeber zu berücksichtigen, also falls vorhanden inklusive operativem Leasing oder andere außerbilanzielle Verpflichtungen. Auch hier sollen die Einflussfaktoren auf das MVFV-Verhältnis herausgearbeitet werden. Aus dem Bewertungsmodell (5.46) und der Definition des FCFF (5.17) folgt, dass
EV0 =
EBIT1 (1 − τ ) − In , WACC − gR
für WACC > gR .
(10.15)
Nach Division beider Seiten durch den Buchwert des Gesamtkapitals ergibt sich unter Vernachlässigung von Minderheitsanteilen und Pensionsrückstellungen:
EBIT1 (1 − τ ) − In EV0 = EK + Debt − ExcessCash . EK + Debt − ExcessCash WACC − gR
(10.16)
Aus der Definition der Rendite auf das eingesetzte Kapital ROCE (Angaben jeweils ohne Zeitindex)
ROCE =
EBIT(1 − τ ) EK + Debt − ExcessCash
(10.17)
vereinfacht sich (10.16) zu:
EVCE =
ROCE −
In EK + Debt − ExcessCash . WACC − gR
(10.18)
Auf der rechten Seite von Gl.€(10.18) steht im Zähler die Differenz aus der Gesamtkapitalrendite und der zu ihrer Erwirtschaftung erforderlichen Investitionsquote. Je größer die Differenz zwischen Input und Output, desto größer ist bei sonst gleichbleibenden Bedingungen das EVBV-Verhältnis. Die Profitabilität eines Unternehmens hat damit unmittelbare Auswirkungen auf die Höhe des EVCE-Verhältnisses. Wem Gl.€(10.18) bekannt vorkommt, hat ein gutes Gespür: Ein ähnlicher Zusammenhang zwischen Input und Output wurde bei den Wertschöpfungsmodellen in Kap.€6 vorgestellt.
384
10â•… Substanzwertbasierte Kennzahlen
10.4 Liquidationswert Benjamin Graham, einer der Urväter des Value Investing, hat einst zwei Bewertungsmethoden vorgeschlagen: Eine davon basierte auf Substanzwerten, genauer auf dem Liquidationswert eines Unternehmens. Er schrieb dazu: „The first rule in calculating liquidating value is that the liabilities are real but the assets are of questionable value”19. Betrachtet man die Substanz nicht vor dem Hintergrund der Fortführung eines Unternehmens, sondern der Beendigung der unternehmerischen Tätigkeit, spricht man vom Liquidationswert. Reichen zum Beispiel die Erlöse eines Unternehmens nicht (mehr) aus, um die Kosten zu decken, muss früher oder später ein Investor gesucht werden, der Teile oder die Gesamtheit des Unternehmens übernimmt. Lässt sich ein solcher nicht finden und muss davon ausgegangen werden, dass das Unternehmen zahlungsunfähig wird, ist eine herkömmliche Unternehmensbewertung nicht mehr möglich, da diese in der Regel von einem Going Concern der Gesellschaft ausgeht. In diesen Fällen kommt der Liquidationswert des Unternehmens zum Zug. Dieser ergibt sich aus
V0 = LV0 − FK0 − KostenL .
(10.19)
Der Liquidationswert LV0 entspricht jenem Betrag, der aus einer Zerschlagung eines Unternehmens und der Veräußerung aller Vermögensgegenstände voraussichtlich erzielt werden kann, sei es in Form eines Notverkaufs an den höchsten Bieter, zum Beispiel im Gefolge einer Insolvenz, oder in Form eines strukturierten Verkaufsprozesses, nachdem ein Aufkäufer das Unternehmen in seine operativen Einzelteile zerlegt hat (auch Break up-Value genannt). Auf eine Formel gebracht entspricht damit der Liquidationswert dem beim Verkauf des gesamten betrieblichen Vermögens erwirtschafteten Betrag abzüglich der bei der Unternehmensauflösung abzulösenden Verbindlichkeiten und abzüglich der mit der Liquidation verbundenen Aufwendungen (u.€a. Zerschlagungskosten, Anwalts- und Gerichtsgebühren, aber auch Sozialplanverpflichtungen oder Steuerzahlungen in Zusammenhang mit der Auflösung stiller Reserven). Zu beachten ist, dass bei einer bestehenden Insolvenzgefahr die Aktionäre derartige Wertverluste antizipieren und höhere Kapitalkosten fordern. Der an ein insolvenzgefährdetes Unternehmen anzusetzende Diskontierungssatz steigt damit unter Umständen erheblich an. Vor diesem Hintergrund dürfte der Liquidationswert die absolute Wertuntergrenze eines Unternehmens darstellen. Die für den Praktiker nicht ganz unbedeutende Frage, wie der Wert der einzelnen Aktiva und Passiva bestimmt werden soll, wird in der bewertungstechnischen Literatur indes meist nicht einmal tangiert. Verkehrs- oder Wiederbeschaffungswert sind die in diesem Zusammenhang immer wieder genannten Begriffe, bei denen freilich übersehen wird, dass es sich entweder um theoretische Konstruktionen handelt – schließlich wird ja gerade nicht wiederbeschafft – oder um Schätzungen – so 19╇
Graham und Dodd (1940, S.€579).
10.4â•… Liquidationswert Tab. 10.1↜渀 Wertbandbreiten bei der Berechnung des Liquidationserlöses. (Quelle: Vgl. Graham und Dodd 1934, S.€579)
385 Vermögenswert Umlaufvermögen Kassenbestand Marktfähige Wertpapiere Forderungen aus Lieferungen und Leistungen Vorräte Anlagevermögen Immobilien
Bandbreite Durchschnittswert 100 100 75–90
100 100 80
50–75
66,6
1–50
15
können sich zwischen dem Zeitpunkt der Bewertung und dem Zeitpunkt des Verkaufs substantielle Änderungen ergeben, die echten Kosten der finanziellen Notlage. Ist ein Unternehmen aus seinen Freien Cashflows nicht mehr in der Lage, seine Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen, ist es gezwungen, zu diesem Zweck Vermögenswerte zu verkaufen. Da es sich in der Mehrheit der Fälle um einen Notverkauf handelt, wird der zu erwartende Erlös aufgrund der zeitlichen Dringlichkeit des Verkaufs unter den Marktwerten dieser Vermögenswerte liegen: Jeder, der etwas verkaufen muss, hat die Erfahrung machen müssen, dass er in den seltensten Fällen den Wert erzielt, den er in einem geordneten Verkaufsprozess erzielen könnte. Als Advocatus Diaboli könnte man im Extremfall die Frage stellen, ob Vermögensgegenstände überhaupt einen Wert haben, welcher unabhängig von der betrieblichen Aktivität der Gesellschaft ermittelt werden kann? Die typische Antwort des Bewerters lautet: Das kommt darauf an. Handelt es sich bei den Vermögenswerten um fungible Werte, beispielsweise um die Fahrzeuge einer Autovermietung, ist sie zu bejahen. Gibt es dagegen keinen Markt für Gebrauchtgüter, also beispielsweise für die Werkzeuge einer Fabrik, ist die Frage zu verneinen. Darüber hinaus fallen während einer Liquidation auch Kosten an, beispielsweise für die Abfindung der Angestellten oder für Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte. Je nach Ausgangslage kann der Abschlag zum Buchwert auch beträchtliche Größenordnungen einnehmen20. Können die Vermögenswerte beim Verkauf nicht ihre Buchwerte erzielen, entstehen bei der Liquidation der Gesellschaft Verluste, die das Eigenkapital schmälern, es unter Umständen sogar negativ werden lassen. Weitere direkte Kosten aus der operativen Schieflage entstehen aus einem höheren Personalumschlag, aus reduzierten Zahlungszielen der Zulieferer, aus gekündigten Kreditlinien der Banken oder aus Factoring. Diese Kosten werden auf 10 bis 25€ % des gesamten Unternehmenswertes eingeschätzt21. Um diese Kosten in der Berechnung des Liquidationswertes berücksichtigt zu sehen, schlug Benjamin Graham bereits 1934 bestimmte Abschläge vor (Tab.€10.1). Gemäß dieser Systematik haben immaterielle Vermögenswerte bei einem Notverkauf keinerlei Wert. Für welche Unternehmen macht die Verwendung des Liquidationswertes keinen Sinn? Zunächst natürlich für Unternehmen, für die die Liquidation keine Option ist, 20╇ 21╇
Vgl. auch Shleifer und Vishny (1988). Vgl. Andrade und Kaplan (1998).
386
10â•… Substanzwertbasierte Kennzahlen
etwa weil es sich um sehr große Unternehmen handelt oder weil es unter der Protektion des Staates steht. Bei Unternehmen des DAX oder des MDAX als die Repräsentanten der größten deutschen börsennotierten Unternehmen dürfte die Verwendung des Liquidationswertes im Investorenkreis eher auf Unverständnis stoßen. Grundsätzlich dürfte der Liquidationswert auch bei Unternehmen, die über einen sehr guten Zugang zu Fremdkapital verfügen, eher ungewöhnlich sein, da diese Unternehmen auch in Rezessionszeiten gut mit Fremdkapital ausgestattet sein werden.
Kapitel 11
Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
11.1 Über Ausnahmen und Regeln Die Mehrheit der Literatur zum Thema Unternehmensbewertung ist der Analyse reifer, etablierter Geschäftsmodelle gewidmet. Die Bewertung von Unternehmen, deren Kennzahlen sich im Jahresvergleich vielleicht nur geringfügig unterscheiden, ist in der Tat ein guter Anfang, um in die Thematik einzusteigen. Die Einstufung als „reifes“ Unternehmen ist gleichbedeutend mit moderatem einstelligem Umsatzwachstum und – bei aller Zyklizität des Geschäftsmodells – einer langfristigen Stabilität der Profitabilitätskennzahlen. Daneben gibt es eine Vielzahl von Unternehmen, die sich vom Normalfall derart drastisch unterscheiden, dass man mit der Lehrbuchmethode nicht mehr weiterkommt. Einige Unternehmen zeigen volatile Wachstumsentwicklungen in beiden Richtungen, andere haben als Holding überhaupt keine operative Geschäftstätigkeit, und auch die zunehmende Globalisierung mag Auswirkungen auf die Bewertung haben. Zusätzlich zum Lebenszykluskonzept, das in Dividenden- und Cashflow-Diskontierungsmodellen von besonderer Bedeutung ist, unterscheidet der Kapitalmarkt Unternehmen nach ihrer Art und Weise, auf Konjunkturzyklen zu reagieren – oder nicht zu reagieren. Dabei haben sich drei Unternehmenskategorien herauskristallisiert: • Wachstumsunternehmen weisen überdurchschnittliche, in der Regel zweistellige Umsatzwachstumsraten auf, sogar unabhängig vom Konjunkturzyklus. Die Gewinnmarge steigt im Zeitablauf an, so dass das durchschnittliche jährliche Ertragswachstum das der Umsätze sogar noch übersteigt. Unter Umständen ist das Unternehmen cash-negativ, da ihm eine breite Palette von Investitionsopportunitäten offensteht. Klassische Wachstumswerte stammen häufig aus innovativen, zukunftsweisenden Wachstumsbranchen wie den TIME-Industrien (Telekommunikation, Informationstechnologie, Medien und Entertainment) oder Bereichen wie der Bio- oder Nanotechnologie, aber auch Internetwerte und Unternehmen der Informationstechnologie sowie der Telekommunikation gehören in der Regel in diese Kategorie.
P. T. Hasler, Aktien richtig bewerten, DOI 10.1007/978-3-642-21170-6_11, ©Â€Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
387
388
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
Boom Handel Maschinenbau, Anlagenbau
Aufschwung
Stahlhersteller Medien Abschwung
Autohersteller, -zulieferer Bau Transport und Logistik
Chemie
Elektronik, Elektrotechnik Rezession
Abb. 11.1↜渀 Konjunkturzyklus und Branchen
t
• Defensive Unternehmen sind durch eine stabile Geschäftsentwicklung charakterisiert, die ebenfalls weitgehend unabhängig vom Konjunkturzyklus verläuft. Die Umsätze bewegen sich auf einem leichten Aufwärtstrend, der in etwa dem langfristigen Wachstum der Volkswirtschaft entspricht. Typische Beispiele hierfür sind Immobilienbestandshalter, Nahrungsmittelhersteller, Healthcare-Unternehmen und Stromerzeuger. Unternehmen dieser Gruppe stehen meist als Synonym für „reife“ Unternehmen. • Bei zyklischen Unternehmen richtet sich die Umsatz- und Ertragsentwicklung nach dem Konjunkturzyklus, meist in deutlich ausgeprägter Weise: Zykliker profitieren überproportional vom konjunkturellen Aufschwung, aber leiden während der Rezession an einem markanten Ertragseinbruch, der die Unternehmen bis in die Verlustzone führt. Beispiele sind die Bauindustrie, der Maschinenbau, die Stahl- und die Automobilindustrie (Abb.€11.1).
11.2 Die Bewertung von Wachstumsaktien Ein Unternehmen wird als Wachstumswert bezeichnet, wenn es mit überdurchschnittlichen Wachstumsraten wächst. Was als „überdurchschnittlich“ eingestuft wird, variiert von Zeit und Zeit, doch eine durchschnittliche jährliche Umsatzwachstumsrate von 20€% oder mehr, erzielt über einen Zeitraum von fünf Jahren, dürfte – unabhängig vom vorherrschenden Zeitgeist – eine Wachstumsaktie auf jeden Fall definieren. Gemäß dieser Vorgabe können Wachstumsunternehmen in drei Gruppen kategorisiert werden:
11.2â•… Die Bewertung von Wachstumsaktien
389
• Das klassische Wachstumsunternehmen entwickelt ein innovatives Produkt, das bislang nicht auf dem Markt erhältlich war und von dem Konsumenten noch nicht einmal ahnten, dass sie es benötigen: Die Produkte sind meist Ausfluss intensiver Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten des First Movers mit kurzer Unternehmensgeschichte. Häufig ist das Pionierunternehmen Teil eines neuen Booms oder Trends, an dessen Beginn mehrere Unternehmen mit ähnlichen Produkten um Marktanteile konkurrieren. Der sicherlich prominenteste Fall eines klassischen Wachstumsunternehmens während der letzten Dekade ist Apple mit seinem iPod. • Zweitens gibt es Unternehmen, die sich über die organische Gewinnung von Marktanteilen als Wachstumsunternehmen qualifizieren: Unternehmen aus dieser Klasse konnten sich bereits am Markt etablieren, ihre Produkte und Dienstleistungen sind jedoch gegenüber anderen überlegen. In einem theoretisch reifen Markt können sie sich durch überlegene Produktspezifikationen oder günstigere Preise als Wachstumswert qualifizieren. • Drittens gibt es Unternehmen, die über externes Wachstum den Markt konsolidieren wollen: Diese Unternehmen verfügen über eine ausreichend gefüllte „Kriegskasse“, mit der sie kleinere Wettbewerber aus dem Markt nehmen, oder über ausreichend Zugang zu Eigen- oder Fremdkapital. In einem ebenfalls reifen Markt sind viele Teilnehmer mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen vertreten, viele davon weisen jedoch eine subkritische Größe auf. Mit jeder Akquisition kann das konsolidierende Unternehmen von Skalen- und Synergieeffekten profitieren, die die Wettbewerbssituation der verbleibenden Anbieter weiter verschlechtert. Eine derartige Buy and Build-Strategie wird häufig von Private Equity dominierten Gesellschaften verfolgt. Bei klassischen Wachstumsunternehmen ist eine Referenzgruppenbewertung über Multiplikatoren problematisch, einfach weil es in der frühen Phase des Produktzyklus, in dem sich das Wachstumsunternehmen per Definition befindet, keine oder nur wenige Vergleichsunternehmen gibt, die zudem selten börsennotiert sind, und weil die, die es gibt, wie die zu bewertende Aktie auch nur über eine sehr beschränkte Unternehmenshistorie verfügen. Von Investorenseite wird sogar die Meinung vertreten, dass derartige Start-Up-Geschäftsmodelle bei privaten Geldgebern oder Venture Capital-Gesellschaften besser aufgehoben sind, da sie meist eines aktionistischen Investors bedürfen, der nicht allein Kapital zur Verfügung stellt, sondern dem vielfach jungen und unerfahrenen Management auch Expertise und Unterstützung angedeihen lässt. Nicht selten stellen Aktionäre mit größeren Beteiligungsportefeuilles, vor allem Hedge Fonds, dem Unternehmen Managementunterstützung, z.€B. in Form von speziellem Know-how, Netzwerken, Bar- oder Sachmitteln zur Verfügung. Im Gegenzug erhalten sie besondere Kontroll- und Mitspracherechte in Form von Aufsichtsratsposten. Das Being Public mit all seinen Folgeverpflichtungen wie Finanzberichterstattung oder Investor Relations ist ohne eine professionelle Unterstützung häufig eine zeitraubende Angelegenheit, die nicht zuletzt zu Lasten der operativen Performance geht. Aber auch Unternehmen der zweiten und dritten Kategorie stellen den Bewerter vor hohe Hürden, da die beschriebenen, traditionellen Methoden der Unternehmensbewertung schwerwiegende Defizite in ihrer Integration auf die für Wachs-
390
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
tumsunternehmen spezifischen Charakteristika aufweisen. Denn zum einen tragen die bislang besprochenen Bewertungsansätze nicht dem Umstand Rechnung, dass es sich bei Wachstumswerten um Unternehmen handelt, die sich in einer Frühphase ihres Lebenszyklus befinden und damit für einen begrenzten Zeitraum und aufbauend auf einer geringen Basis weit überdurchschnittliche Wachstumsraten bei Umsatz und Ertrag erwirtschaften. Gleichzeitig können sie sich nicht wie etablierte Unternehmen auf eine breite Produktpalette stützen, die ihnen den nötigen Cashflow zur Finanzierung von Neuentwicklungen bereitstellt. Vor dem Hintergrund hoher Investitionsbedürfnisse und angesichts des Fehlens eines aktuell vermarktbares Produktspektrums ist ihr Freier Cashflow zunächst negativ, so dass der Bestand an liquiden Mitteln während der Wachstumsphase deutlich zurückgeht. Ein Vorstand wie Jerry Kennelly, CFO des Softwareherstellers Inktomi, meinte denn auch, dass „early profitability is not the key to value in a company like this“1. Wenn nicht nur in diesem Buch gebetsmühlenartig wiederholt wird, dass der Wert eines Unternehmens abhängig ist von der Höhe der Cashflows, die dieses Unternehmen in Zukunft erwirtschaften wird, von der Lebensdauer der Vermögensgegenstände, die diese Cashflows erwirtschaften, und dem Risiko, das mit der Erwirtschaftung der Cashflows verbunden ist, und wenn gleichzeitig die solide Prognose ebendieser zukünftigen Cashflows nur unter sehr erschwerten Bedingungen möglich ist, dann können DCF- und Dividendendiskontierungsmodelle nicht zu glaubhaften Ergebnissen kommen. Konventionelle DCF-Verfahren basieren häufig auf Endwerten, die um ein Vielfaches höher sind als die während der Detailplanungsphase geschaffenen Unternehmenswerte, ein Phänomen, für das der Umstand verantwortlich ist, dass das zum jeweils gegenwärtigen Zeitpunkt beobachtete Unternehmenswachstum über den Detailprognosezeitraum hinaus fortgeschrieben wird. Bereits vor fast 50 Jahren hat denn auch Malkiel festgestellt, dass die erwarteten Wachstumsraten hochbewerteter „high-Multiple“ Aktien viel zu aggressiv eingeschätzt werden, weit jenseits dessen, was in einem DCF-Modell als „normal“ eingestuft werden würde2, ein Zustand, der sich seither vermutlich nicht wesentlich verbessert hat. Auch andere klassische Bewertungsverfahren wie Dividendendiskontierungsmodelle sind für eine Bewertung ungeeignet, da Wachstumsunternehmen von einem hohen Kapitalbedarf zur weiteren Finanzierung des überproportionalen Wachstums gekennzeichnet sind, weswegen sie meist auf absehbare Zeit keine Dividenden ausschütten. Eine extrem langfristige Prognose von Dividenden abzugeben und diese abzudiskontieren hätte bei den Bewertungsadressaten keine Glaubwürdigkeit, zumal Aktionäre von Wachstumsunternehmen ohnehin keine laufende Ausschüttung für das von ihnen zur Verfügung gestellte Kapital anstreben, sondern einen Kapitalgewinn zum Zeitpunkt der Veräußerung ihrer Beteiligung. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie riskante Wachstumsunternehmen überhaupt bewertungstechnisch in den Griff zu bekommen sind, wenn „the market overpays for superior growth expectations with statistical significance“3? Zitiert nach Aggarwal et€al. (2005, S.€1). Vgl. Malkiel (1963). 3╇ Arnott et€al. (2009, S.€3). 1╇ 2╇
11.2â•… Die Bewertung von Wachstumsaktien
391
Zu beginnen ist mit der Prognose der Umsätze, der Schlüsselgröße jeder Unternehmensbewertung. Die übliche Vorgehensweise wäre es, einen Blick auf die jüngsten Geschäftsabschlüsse zu werfen und aus diesen Schlüsse über die zukünftige Umsatz- und Ertragslage zu ziehen. Aufgrund der kurzen Unternehmenshistorie und der geringen absoluten Höhe der Vermögenswerte ist diese Vorgehensweise jedoch nur eingeschränkt möglich: Insbesondere in der Anfangsphase des Produktlebenszyklus können Unternehmen durchaus exponentielle Wachstumsraten erreichen und erst später in eine Phase rückläufiger Wachstumsraten eintreten. Dreistellige jährliche Wachstumsraten sind möglich, aber auch im Jahresvergleich erratisch schwankende, die keinen nachvollziehbaren Charakteristika folgen. Beispiel€ 11.1: Szenarioanalyse zur Umsatzentwicklung╇ Ein von einem Nobelpreisträger gegründetes Biotechnologieunternehmen konnte im vergangenen Jahr seine Umsätze von 40,0€Mio.€€ auf 52,0€Mio.€€ steigern. Ursächlich hierfür war ein innovatives Krebsmedikament, das neu auf den Markt gebracht wurde. Da keine vergleichbaren Präparate am Markt verfügbar sind, können die erwarteten Umsätze anhand der Zahl an Krebsindikationen und der Absatzpreise in einer top-down-Analyse geschätzt werden. Daraus ergibt sich folgende Entwicklung: Mio.€€
t╛╛−╛╛2
t╛╛−╛╛1
t
Umsatz 40,0 YoY (%) n/a
52,0 30,0
65,6 26,1
tâ•› + â•›1 80,2 22,3
tâ•› + â•›2 95,2 18,6
tâ•› + â•›3 109,5 15,1
tâ•› + â•›4 122,3 11,6
tâ•› + â•›5 132,4 8,3
tâ•› + â•›6 139,1 5,0
Damit ein Unternehmen über einen längeren Zeitraum sehr hohe Wachstumsraten aufweisen kann, sind Markteintrittsbarrieren oder die Existenz eines Unique Selling Points erforderlich, also beispielsweise eine überlegene, patentgeschützte Technologie; auch ein etablierter Markenname kann als solche Barriere fungieren. Existieren dagegen keine Markteintrittsbarrieren, wird das Unternehmen sehr viel schneller auf sich einen am Gesamtmarktwachstum orientierenden Entwicklungspfad zurückkehren So wird auch dieses Szenario schnell Makulatur, wenn es dem einzig verbliebenen Wettbewerber gelingt, sein Alternativpräparat marktreif zu bringen. Sollte dies, wie von einigen Analysten erwartet, gegen Ende von tâ•›+â•›2 der Fall sein, dürften die Erlöse ab tâ•›+â•›3 einen ganz anderen Verlauf nehmen: t╛╛−╛╛2
t╛╛−╛╛1
t
Umsatz 40,0 YoY (%) n/a
Mio.€€
52,0 30,
65,6 26,1
tâ•› + â•›1 80,2 22,3
tâ•› + â•›2 95,2 18,6
tâ•› + â•›3 101,6 6,8
tâ•› + â•›4 97,7 −â•›3,9
tâ•› + â•›5 84,5 −â•›13,5
tâ•› + â•›6 65,8 −â•›22,2
Eine seriöse Unternehmensbewertung sollte beide Szenarien, den Monopolund den Wettbewerbsfall, berücksichtigen und mit jeweils einer Eintrittswahrscheinlichkeit gewichten.
392
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
Die Abwesenheit relevanter Vergangenheitsdaten macht es schwierig, die Umsätze und andere betriebliche Kennzahlen vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Konjunkturerwartung zu prognostizieren. Als Außenstehender wird man sich daher an den erwarteten Wachstumsraten vergleichbarer Unternehmen orientieren oder auf die Management-Guidance zurückgreifen. In einem zweiten Schritt sind Prognosen über die mögliche operative Ertragslage des Unternehmens fällig. Wachstumsunternehmen sind in aller Regel unprofitabel, häufig auch auf operativer (EBITDA-) Ebene, manchmal sogar auf der Ebene des Rohertrags. Dies hat für die Bewertung verschiedene Konsequenzen. Erstens können die Wachstumsraten des operativen Ergebnisses nicht endogen aus dem Modell erklärt werden. Beide Inputfaktoren auf der rechten Seite der Formel (5.21) gEBITâ•› = â•›εROCE basieren auf dem operativen Ergebnis und können in einer Verlustsituation nicht zu einem sinnvollen Ergebnis führen. Dies trifft den bewertenden Investor doppelt, denn zur Einschätzung der Qualität des Wachstums benötigt er Informationen über die bislang getätigten Investitionen, die wiederum nur dann wertschöpfend waren, wenn die aus ihnen erwirtschafteten Renditen die an sie gestellten Kosten übersteigen. Zweitens kann sich die Ertragslage bei jungen Wachstumswerten von einem auf das nächste Jahr sprunghaft verändern, etwa weil ein bestimmtes Produkt besser angenommen wird als angenommen. Daher mag es aus Bewertungssicht sinnvoll sein, nicht den Abschluss des vergangenen Geschäftsjahres zur Basis für die Analyse der Ertragslage zu machen, sondern den kombinierten Abschluss der vergangenen vier Quartale (LTM). Und drittens ist bei Unternehmen, deren gesamte Historie womöglich aus operativen Verlusten besteht, die Steuerquote aufgrund der Verlustsituation und der hohen steuerlichen Verlustvorträge nicht aussagekräftig. Für sie ist in Deutschland nur eine Mindestbesteuerung anzusetzen, nicht jedoch der für eine Unternehmensbewertung eigentlich relevante Grenzsteuersatz. Eine Wachstumsrate an ein negatives EBIT anzulegen wäre gleichbedeutend damit, dass dieses in der Folgeperiode noch stärker negativ wird. Nachdem die endogene Variante fehlgeschlagen ist, würde sich der Investor behelfsweise auf eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der Vergangenheit zurückziehen. Doch auch diese ist für ein unprofitables Unternehmen nicht hilfreich. So errechnet sich die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate CAGR eines Unternehmens, dessen operativer Verlust sich innerhalb von fünf Jahren von ╛╛−╛╛10,0€Mio.€€ auf ╛╛−╛╛5€Mio.€€ 1 −5,0 5 − 1 = −0,129 = −12,9 % ein völlig unhalbiert hat, mit CAGREBIT = −10,0
brauchbares Ergebnis. Daneben gibt es eine weitere Besonderheit bei der Bewertung von Wachstumsaktien: Die Hauptursache für die erwartete negative Ergebnisreihe ist häufig in hohen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung zu suchen, die gemäß IFRS oder HGB nicht aktiviert werden dürfen. Eine Aktivierung von F&E-Aufwendungen ist jedoch für die Bewertung der meisten Wachstumsunternehmen hilfreich. Dies hat einen weiteren Hintergrund: Wie häufig lässt sich der Kapitalmarkt von Ertragszahlen täuschen, die über den Erwartungen lagen? Und wie oft stellt sich hinterher heraus, dass dies allein einem Rückgang der F&E-Aufwendungen geschuldet war und nicht der Existenz von Skaleneffekten? Eine sorgfältige Analyse, ob das Ma-
11.2â•… Die Bewertung von Wachstumsaktien
393
nagement gerade die zukünftigen Wachstumspotenziale auf dem Altar der aktuellen Quartalszahlen geopfert hat, ist bei Wachstumsunternehmen also unabdingbar. Um überhaupt zu einem akzeptablen Bewertungsergebnis zu gelangen, ist eine Einschätzung der langfristig erreichbaren Profitabilität erforderlich. Damit diese nicht allzu subjektiv bleibt, kann es hilfreich sein, einen Blick auf die Ertragslage von vergleichbaren Unternehmen aus der Branche zu werfen. Der Wettbewerbsvergleich findet also nicht erst beim Vergleich der Bewertungskennziffern statt, sondern bereits einen Schritt früher, nämlich bei der Analyse der operativen Ertragszahlen. Bei dieser Gelegenheit begehen nebenbei bemerkt viele Analysten den Fehler, dass sie sich auf die falschen Vergleichswerte versteifen: Viele online-basierte Einzelhändler, die um die Jahrtausendwende mit dreistelligen Umsatzwachstumsraten glänzten und dem Kapitalmarkt hohe operative Margen versprachen, sind letzten Endes doch nur Einzelhändler, deren Wachstumsraten und Nettogewinnmargen sich früher oder später im niedrigen einstelligen Prozentbereich einpendeln. Dessen ungeachtet wurden während der dot.com-Blase zentnerweise Berichte darüber verfasst, warum die Ertragslage eines Online-Händlers weit über der des filialen Einzelhandels liegen sollte, dennoch haben sich viele dieser Argumente trotz ihrer intuitiven Logik nicht bewahrheitet. Beispiel€11.2: Analyse der Margenentwicklung╇ Das Biotechnologieunternehmen aus Beispiel€ 11.1 rechnet mit einer Rohertragsmarge von 90,0€ %, mit Aufwendungen aus F&E bzw. aus Marketing und Vertrieb von 20,0€ % bzw. von 15,0€% vom Umsatz sowie Overhead-Kosten (der Summe aus Verwaltungskosten und sonstiges betriebliches Ergebnis) von 10,0€ Mio.€ €, die gleichmäßig um 10,0€% pro Jahr ansteigen sollen. Damit lässt sich im Monopolfall folgende Entwicklung der EBIT-Margen ableiten: Mio.€€ Umsatz Materialaufwand Rohertrag F&E-Aufwand Marketingaufwand Overhead EBIT
t╛╛−╛╛2
t╛╛−╛╛1
t
tâ•› + â•›1
tâ•› + â•›2
tâ•› + â•›3
tâ•› + â•›4
tâ•› + â•›5
tâ•› + â•›6
40,0 52,0 65,6 80,2 95,2 109,5 122,3 132,4 139,1 −╛╛4,0 −╛╛5,2 −╛╛6,6 −╛╛8,0 −╛╛9,5 −╛╛11,0 −╛╛12,2 −╛╛13,2 −╛╛13,9 36,0 46,8 59,0 72,2 85,6 98,6 110,0 119,2 125,2 −╛╛8,0 −╛╛10,4 −╛╛13,1 −╛╛16,0 −╛╛19,0 −╛╛21,9 −╛╛24,5 −╛╛26,5 −╛╛27,8 −╛╛6,0 −╛╛7,8 −╛╛9,8 −╛╛12,0 −╛╛14,3 −╛╛16,4 −╛╛18,3 −╛╛19,9 −╛╛20,9 −╛╛10,0 −╛╛11,0 −╛╛12,1 −╛╛13,3 −╛╛14,6 −╛╛16,1 −╛╛17,7 −╛╛19,5 −╛╛21,4 12,0 17,6 24,0 30,8 37,7 44,1 49,5 53,3 55,0
Für die EBIT-Margen bedeutet dies: %
tâ•›−╛╛2
t╛╛−╛╛1
t
EBIT-Marge (%)
30,0
33,8
36,5
tâ•› + â•›1 38,4
tâ•› + â•›2 39,6
tâ•› + â•›3 40,3
tâ•› + â•›4 40,5
tâ•› + â•›5 40,3
tâ•› + â•›6 39,6
Da die EBIT-Margen anderer Biotechnologieunternehmen mit ähnlicher Marktstellung mit den Unternehmensplanungen durchaus vergleichbar sind, kann die Guidance des Managements als glaubwürdig eingestuft werden.
394
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
Den Detaillierungsgrad einer Bilanzprognose derartig stark zu abstrahieren kann sinnvoll sein, wenn bereits die Schätzung der Kerndaten der Bewertung – Umsätze und operative Marge – mit hoher Unsicherheit verbunden ist. Eine Bewertung gewinnt nicht allein deshalb an Glaubwürdigkeit, weil versucht wird, das sonstige betriebliche Ergebnis in allen Facetten vorherzusagen, gleichzeitig aber die Prognose der Umsätze mangels Daten kaum möglich ist. Daher kann es in diesen Fällen vollkommen ausreichend sein, mit einer vergleichsweise hochgranularen Ertragsprognose zu arbeiten. Den Insolvenzfall ausgenommen ist es nicht die entscheidende Frage, ob das Wachstumsunternehmen eine im Wettbewerbsvergleich adäquate Marge erreicht, sondern wann. Ein Zeitraum ist zu schätzen, weniger ein Renditeniveau, was durch das Vorhandensein von Wettbewerbern zusätzlich kompliziert wird. Um die Glaubwürdigkeit der Unternehmensbewertung zu erhöhen, kann es daher sinnvoll sein, Szenarioanalysen aufzustellen, in denen unterschiedlich lange Zeiträume überdurchschnittlichen Wachstums bewertet werden. Eine wichtige Rolle spielen dabei Markteintrittsbarrieren und Marktmacht, die in Kombination die Fähigkeit des Unternehmens bestimmen, wie lange und wie hoch die erzielten Margen ausfallen. Im nächsten Schritt sind Annahmen über die erforderlichen Investitionen zu treffen. Oben wurde erwähnt, dass die sich endogen aus dem Modell erklärende Wachstumsrate g für unprofitable Unternehmen nicht aus der Formel gEBITâ•› = â•›εROCE ermittelt werden kann, so dass sich auch die Investitionen nicht endogen aus dem Modell errechnen. Gibt es alternative Wege, diesen Zusammenhang zu nutzen? Naheliegend mag es sein, behelfsweise auf die Investitionsquoten des Sektors zurückzugreifen und diese als Prozentsatz vom Umsatz zu ermitteln. Durch dieses Vorgehen können Größenunterschiede der Peergroup eliminiert werden. Stark wachsende Unternehmen würden sich mittelfristig dem Wert der Peergroup annähern, eine Methode, die natürlich nur funktioniert, wenn sich die Peergroup nicht ebenfalls aus verlustreichen Gesellschaften zusammensetzt. Ist diesem Fall kann es sinnvoll sein zu unterstellen, die erforderlichen Nettoinvestitionen in das Anlagevermögen und das Working Capital könnten mit derselben Rate wachsen wie die Umsätze. Durch diese Vereinfachung wird unterstellt, dass die aktuellen Erweiterungsinvestitionen ein Normalniveau erreicht hätten und sich der Auslastungsgrad der bestehenden Kapazitäten durch neue Anlagen nicht verändern würde. Damodaran schließlich schlägt einen dritten Weg vor4, die Umsatz/Kapital-Ratio UKR. Anstelle der operativen Erträge, die negativ sein können, nimmt er die Umsätze als Inputfaktoren, um anhand dieser die für ihre Erzielung notwendigen Investitionen zu schätzen:
4╇
Umsatz Capex + M&A + WC − Dep Umsatz , für Umsatz > In . = In
UKR =
Vgl. Damodaran (2000, S.€26€f.).
(11.1)
11.2â•… Die Bewertung von Wachstumsaktien
395
Eine Umsatz/Kapital-Ratio von 2,0 würde bedeuten, dass jeder in das eingesetzte Kapital investierte Euro in der darauf folgenden Periode Umsätze von zwei Euro zur Folge hätte. Notwendige Voraussetzung für das Funktionieren der Gl.€(11.1) ist, dass die Veränderung des Umsatzes die hierfür notwendigen Erweiterungsinvestitionen übersteigt, man es also in jedem Fall mit einem Wachstumsunternehmen zu tun hat. Die Erweiterungsinvestitionen umfassen nach dieser Definition sowohl solche in Sachanlagen, in Working Capital und externes Wachstum. Die zur Erzielung des geplanten Umsatzes erforderlichen Nettoinvestitionen können dann aus den Umsätzen sowie der Umsatz/Kapital-Ratio berechnet werden, und zwar durch Auflösung von Gl.€(11.2) nach In:
In =
Umsatz . UKR
(11.2)
Je höher die Umsatz/Kapital-Ratio ist, desto geringer sind die für die Erzielung der geplanten Erlöse erforderlichen Erweiterungsinvestitionen und umgekehrt. Beispiel€ 11.3: Schätzung der Investition anhand der Umsatz/KapitalRatio╇ Damit das Biotechnologieunternehmen aus Beispiel€11.1 seine Erlöse von 40,0€Mio.€€ auf 52,0€Mio.€€ steigern konnte, musste das Unternehmen Investitionen in Sachanlagen in Höhe von 11,0€Mio.€€ und in Working Capital in Höhe von 2,0€ Mio.€ € tätigen. Die Abschreibungen beliefen sich auf 10,0€Mio.€€. Damit ergibt sich eine UKR von UKR =
52,0 − 40,0 Umsatz = = 4,0. Capex + M&A + WC − Dep 11,0 + 2,0 − 10,0
Da vergleichbare Werte auch für andere Biotechnologiewerte in derselben Nische beobachtet werden können, berechnen wir die zukünftigen Erweiterungsinvestitionen anhand dieses Wertes sowie der geplanten Umsätze und gelangen damit zu folgender Datenreihen: Mio.€€
t╛╛−╛╛2
t╛╛−╛╛1
t
Umsatz YoY (%) UKR (x) In CE
40,0 n/a 4,0 10,0 60,0
52,0 30,0 4,0 13,0 73,0
65,6 26,1 4,0 16,4 89,4
tâ•› + â•›1 80,2 22,3 4,0 20,1 109,4
tâ•› + â•›2 95,2 18,6 4,0 23,8 133,2
tâ•› + â•›3 109,5 15,1 4,0 27,4 160,6
tâ•› + â•›4 122,3 11,6 4,0 30,6 191,2
tâ•› + â•›5 132,4 8,3 4,0 33,1 224,3
tâ•› + â•›6 139,1 5,0 4,0 34,8 259,0
Das eingesetzte Kapital CE, das zu Beginn der Periode t╛╛−╛╛2 bei 60,0€Mio.€€ gelegen hatte, ergibt sich jeweils als Summe des Vorjahreswertes zuzüglich der Erweiterungsinvestitionen der laufenden Periode.
396
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
Durch diese Vorgehensweise können die notwendigen Erweiterungsinvestitionen in einen fundamentalen Zusammenhang mit der erwarteten Umsatzentwicklung gebracht werden. Zur Plausibilisierung der Ergebnisse sollte nun auch ein Blick auf die operative Ertragslage des Unternehmens geworfen werden. Dabei ergibt sich folgende Datenreihe:
EBIT EBIT-Marge τ EBIT(1â•›−â•›τ) ROCE
Mio.€€ % % Mio.€€ %
t╛╛−╛╛2
t╛╛−╛╛1
t
12,0 30,0 0,0 12,0 n/a
17,6 33,8 0,0 17,6 29,3
24,0 36,5 0,0 24,0 32,8
tâ•› + â•›1 30,8 38,4 0,0 30,8 34,5
tâ•› + â•›2 37,7 39,6 0,0 37,7 34,4
tâ•› + â•›3 44,1 40,3 13,0 38,4 28,8
tâ•› + â•›4 49,5 40,5 31,0 34,2 21,3
tâ•› + â•›5 53,3 40,3 31,0 36,8 19,2
tâ•› + â•›6 55,0 39,6 31,0 38,0 16,9
Während die EBIT-Marge sich bis tâ•›+â•›4 stetig verbessert und anschließend auf hohem Niveau verharrt, geht die Rendite auf das eingesetzte Kapital ROCE (berechnet anhand des jeweiligen Jahresanfangswertes) von ihrem Höchstwert in tâ•›+â•›1 deutlich zurück und nähert sich gegen Ende der Planungsperiode den durchschnittlichen gewichteten Kapitalkosten an. Nach den Umsätzen, den operativen Renditen und den Investitionen sollen im nächsten Schritt die Diskontierungssätze betrachtet werden. Von besonderer Bedeutung ist bei Wachstumsunternehmen der für die Berechnung der Eigenkapitalkosten zu verwendende Betafaktor. Häufiger als bei anderen Unternehmen nimmt das Beta von Wachstumsunternehmen extreme Werte an, was zumeist Ausfluss einer kurzen Börsenhistorie und/oder eines geringen Handelsvolumens ist. Selbst wenn das Beta auf den ersten Blick sinnvolle Größenordnungen annehmen mag, ist es aufgrund der kurzen Börsenhistorie von wenigen Jahren oder gar Monaten ein statistisch nicht relevanter Wert, der für eine Unternehmensbewertung nicht verwendet werden kann. Daher ist es sinnvoll, auf Schätzungen der Fundamental-Betas auszuweichen, in dem das spezifische Geschäftsmodell, das operative und das finanzielle Leverage widergespiegelt werden (vgl. hierzu Kap.€ 3.2). Im jeweiligen Bewertungsmodell nähern sich die Betafaktoren diesen langfristigen, aus der Peergroup abgeleiteten Durchschnittswerten an. Für den Terminal Value sollte ein Beta von Eins gewählt werden, da langfristig das Beta der Aktie dem Risiko des Marktportefeuilles entsprechen muss. Gleichzeitig sollten sich auch die gewählten Fremdkapitalkosten und die Verschuldungsquoten dem jeweiligen Segmentdurchschnitt annähern. Damit zeigt sich, dass sich die Bewertung von Wachstumswerten langfristig der Bewertung eines durchschnittlichen Unternehmens annähert und spätestens bei der Berechnung des Terminal Value kein Unterschied mehr gemacht werden sollte. Viele Bewertungsverfahren basieren auf konstanten Diskontierungssätzen, zumindest in den jeweiligen Phasen. Bei Unternehmen, deren Risikostruktur sich im Zeitablauf verändert, etwa weil Unternehmensbestandteile ver- oder gekauft werden oder sie sich in einem Restrukturierungsprozess befinden, wird die vergangenheits-
11.2â•… Die Bewertung von Wachstumsaktien
397
oder zielkapitalstrukturbasierte Ermittlung der Diskontierungssätze zu einer fehlerhaften Berechnung des Unternehmenswertes führen. Verwendet man für die einzelnen Jahre wechselnde Diskontierungssätze, sind diese im Zeitablauf zu kumulieren. Das bedeutet zum Beispiel, dass in die WACC des Jahres tâ•›+â•›3 sämtliche vorhergehenden WACC eingehen müssen, und zwar gemäß folgendem Zusammenhang:
WACCt+3 = (1 + WACCt+1 )(1 + WACCt+2 )(1 + WACCt+3 ) − 1
(11.3)
oder allgemein:
WACCt+i =
n i=1
(11.4)
(1 + WACCt+i )−1.
Beispiel€ 11.4: Berechnung der Diskontierungssätze╇ Nachdem das Biotechnologieunternehmen aus Beispiel€11.1–11.3 erst vor acht Monaten an die Börse gegangen ist, ist das Beta aufgrund des geringen Korrelationskoeffizienten statistisch nicht relevant. Vergleichbare Biotechnologieunternehmen mit längerer Börsenhistorie weisen ein Beta von 1,8 auf, reife Pharmaunternehmen mit langjähriger Börsenhistorie liegen bei durchschnittlich 1,1. Da die Rendite-Risikostrukturen eher mit denen der ersten Gruppe vergleichbar sind, wählen wir zur Schätzung der Eigenkapitalkosten zunächst ein Beta von 1,8, das sich im Zeitablauf dem Beta von Pharmawerten annähert. Zur Berechnung des Terminal Value verwenden wir das Markt-Beta von 1,0. Für die Berechnung der WACC verwenden wir konstante risikolose Zinssätze von aktuell 3,5€ % und eine konstante Risikoprämie von 5,0€ %. Die Kosten des Fremdkapitals ermitteln wir aus einer Unternehmensanleihe vergleichbaren Risikos (B-Rating), die derzeit mit 10,0€% rentiert. Aufgrund der laufenden Verluste und der hohen steuerlichen Verlustvorträge liegt die Steuerquote auf Konzernebene bis einschließlich tâ•›+â•›2 bei 0€%, danach nähert sie sich dem inländischen Grenzwert von rund 31,0€% an. Als Zieleigenkapitalquote strebt das Management einen Wert von 60,0€% an. Per Saldo ergibt sich damit folgende Entwicklung der gewichteten Kapitalkosten: %
t
Beta rf (%) rp (%) rEK (%) rDebt (%) τ (%) rDebt(1â•›−â•›τ) (%) Debt/EK (%) WACC (%)
1,8 3,5 5,0 12,5 10,0 0,0 10,0 0,0 12,5
tâ•› + â•›1 1,6 3,5 5,0 11,5 10,0 0,0 10,0 0,0 11,5
tâ•› + â•›2 1,5 3,5 5,0 11,0 10,0 0,0 10,0 20,0 10,8
tâ•› + â•›3 1,4 3,5 5,0 10,5 9,5 13,0 8,3 25,0 9,9
tâ•› + â•›4 1,3 3,5 5,0 10,0 9,0 31,0 6,2 30,0 8,9
tâ•› + â•›5 1,2 3,5 5,0 9,5 8,5 31,0 5,9 35,0 8,2
tâ•› + â•›6 1,1 3,5 5,0 9,0 8,0 31,0 5,5 40,0 7,6
398
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
Die Faktoren, durch die die Cashflows eines jeweiligen Jahres zur Ermittlung des Barwertes dividiert werden müssen, die so genannte kumulativen WACC, ergeben sich aus den Formeln (11.3) bzw. (11.4). In nachstehender Tabelle sind die kumulativen WACC zusammengefasst:
Kumulative WACC (%)
tâ•› + â•›1 11,5
tâ•› + â•›2 23,5
tâ•› + â•›3 35,8
tâ•› + â•›4 47,9
tâ•› + â•›5 60,0
tâ•› + â•›6 72,2
Auch über die Steuerquote können bewertungsrelevante Überlegungen angestellt werden. Wachstumsunternehmen haben vermutlich noch nicht ein einziges Mal in ihrer kurzen Unternehmensgeschichte Steuern bezahlt. Während Vorsteuerverluste von Haus aus steuerbefreit sind, gilt dies innerhalb bestimmter Eckwerte auch für Vorsteuergewinne, sofern diese mit steuerlichen Verlustvorträgen aus der Vergangenheit verrechnet werden können. Seit der letzten Novellierung des Körperschaftsteuergesetzes können in Deutschland nicht ausgeglichene Verluste in den folgenden Veranlagungszeiträumen bis zu einem Gesamtbetrag der Einkünfte von 1,0€Mio.€€ unbeschränkt, darüber hinaus bis zu 60€% des 1,0€Mio.€€ übersteigenden Gesamtbetrags der Einkünfte vorrangig vor Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Abzugsbeträgen abgezogen werden. Es sind also präzise Planungen anzustellen, wie sich die Steuerquote nach Erreichen der Gewinnzone entwickeln wird und wann der in Deutschland herrschende Grenzsteuersatz von rund 31,0€ % für ausschließlich im Inland tätige Unternehmen erreicht wird. Aus Vorsichtsgründen sollte unmittelbar nach Aufbrauchen des Verlustvortrags mit dem herrschenden Grenzsteuersatz gerechnet werden. Zur abschließenden Berechnung des Unternehmenswertes hat eine Phasendifferenzierung zwischen Detailprognosezeitraum und Terminal Value besonderen Charme. Da bei Wachstumsunternehmen die Prognose der zukünftigen Cashflows problematisch und unsicher ist, sollte der Bewertungszeitraum in mindestens zwei Phasen unterteilt werden. Diesem Two-Stage-Modell liegt der Gedanke zugrunde, dass überdurchschnittliche Gewinne und Cashflows in Märkten ohne prohibitive Markteintrittsbarrieren nicht dauerhaft vereinnahmt werden können. Die Existenz von Wettbewerbsvorteilen (oder USP, Unique Selling Propositions) ist Voraussetzung für Übergewinne5. Während des Detailprognosezeitraums können diese zwar unter Umständen für einen befristeten Zeitraum verteidigt werden, dies kann jedoch kein dauerhafter Zustand sein. Während der Übergangs- oder Konvergenzphase kommt es zu einem sukzessiven Abschmelzen der Monopolgewinne, bis das Unternehmen letztlich markt- bzw. branchenübliche Renditen erzielt. Die danach erzielbaren Renditen werden nur noch geringfügig über den Kapitalkosten liegen. Ein (hohes) Wachstum der Cashflows während der Endphase ist daher ökonomisch wenig sinnvoll. 5╇
Vgl. ausführlicher Mauboussin und Johnson (1997).
11.2â•… Die Bewertung von Wachstumsaktien
399
Für eine Unternehmensbewertung ist es naheliegend, den Detailprognosezeitraum bis zum Erreichen der Reifephase zu strecken und dadurch den schwankungsanfälligen Geschäftsverlauf von Wachstumsunternehmen zu berücksichtigen. Im Terminal Value kann dann unterstellt werden, dass das Wachstumsunternehmen dauerhaft positive Cashflows bei konstant niedrigen Wachstumsraten erwirtschaftet. Der Zeitraum bis zum Eintritt in die Steady State-Phase kann unterschiedlich lang ausfallen, zehn bis 20 Jahre sind durchaus angemessen. Nach Erledigung diverser Vorarbeiten erscheint die Ermittlung des Unternehmenswertes eines derzeit unprofitablen Wachstumswertes eine wesentlich konventionellere Tätigkeit zu sein als ursprünglich erwartet. Sämtliche, für eine Bewertung erforderlichen Parameter, namentlich die Entwicklung der Cashflows, der Investitionsquoten und der Diskontierungssätze, wurden sukzessive ermittelt und können nun für die Bewertung zusammengefasst werden. Beispiel€11.5: Ableitung des Wertes eines Wachstumsunternehmens╇ Aus den bislang ermittelten Daten berechnen wir nun den Unternehmenswert des Biotechnologieunternehmens. Zunächst berechnen wir die jährlichen Cashflows to the Firm. Mio.€€
t
EBIT(1â•›−â•›τ) In Abschreibungen FCFF
24,0 −â•›16,4 1,4 8,9
tâ•› + â•›1 30,8 −â•›20,1 2,3 13,0
tâ•› + â•›2 37,7 −â•›23,8 3,8 17,7
tâ•› + â•›3 38,4 −â•›27,4 5,5 16,5
tâ•› + â•›4 34,2 −â•›30,6 6,4 10,0
tâ•› + â•›5 36,8 −â•›33,1 7,2 10,9
tâ•› + â•›6 38,0 −â•›34,8 7,9 11,1
Die langfristig erwartete Wachstumsrate des Unternehmens setzen wir auf 4,0€% und damit tendenziell am oberen Rand der am Kapitalmarkt akzeptierten Bandbreite fest. Die durchschnittlichen gewichteten Kapitalkosten WACC des Jahres tâ•›+â•›6 sollen auch die langfristig angestrebten Kapitalkosten sein. Aus den WACC ermitteln wir die kumulativen WACC über Formel (11.3) bzw. (11.4) und es ergeben sich für die Barwerte der FCFF folgende Größen: Mio.€€
t
WACC (%) kumulative WACC (%) PV FCFF
8,9
tâ•› + â•›1 11,5 11,5 11,7
tâ•› + â•›2 10,8 23,5 14,3
tâ•› + â•›3 9,9 35,8 12,1
tâ•› + â•›4 8,9 47,9 6,7
tâ•› + â•›5 8,2 60,0 6,8
tâ•› + â•›6 7,6 72,2 6,4
Die Summe der Barwerte der Detailplanungsphase ergibt demnach 67,0€ Mio.€ €. Für die Berechnung des Terminal Value würden wir ein Key Man-Risk mit in die Bewertung aufnehmen, da der Wert des Biotechnologieunternehmens stark von seinem Firmengründer, einem Nobelpreisträger, abhängig ist. Wir gehen davon aus, dass dieser sein Unternehmen nach t + 6 noch fünf weitere Jahre leiten wird, anschließend wird unterstellt, dass er es für 20,0€Mio.€€ an einen Pharmakonzern verkaufen kann.
400
Mio.€€ FCFF Kumulative WACC (%) PV FCFF
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
tâ•› + â•›7 11,5 85,3 6,2
tâ•› + â•›8 12,0 99,4 6,0
tâ•› + â•›9 12,5 114,6 5,8
tâ•› + â•›10 13,0 130,9 5,6
tâ•› + â•›11 13,5 148,5 5,4
tâ•› + â•›12 20 167,4 7,5
Für die fünfjährige Übergangsphase summieren sich die Barwerte zu 29,1€ Mio.€ €. Die Summe aller Barwerte des Zeitraums tâ•›+â•›1 bis tâ•›+â•›6, der Übergangsphase tâ•›+â•›7 bis tâ•›+â•›11 sowie des Verkaufserlöses in tâ•›+â•›12 belaufen sich damit auf 67,0â•›+â•›29,1â•›+â•›7,5â•› = â•›103,6€ Mio.€ €. Zuzüglich des Barwertes des Verkaufserlöses von 7,5€ Mio.€ € und abzüglich der Nettoverschuldung, Pensionsrückstellungen und Minderheitsanteile und zuzüglich der nicht betriebsnotwendigen Vermögenswerte erhalten wir schließlich den Wert des Eigenkapitals. Um vom Enterprise Value zum Equity Value zu gelangen, sind die bestehenden liquiden Mittel sowie marktfähige Wertpapiere hinzuzuzählen und die Finanzverbindlichkeiten abzuziehen. Der diesem Vorgehen implizit zugrunde liegende Gedanke ist, dass dem Unternehmen ausreichend Liquidität zur Verfügung steht, um die bestehenden Investitionspläne zu finanzieren. Bei jungen Wachstumsunternehmen ohne Unternehmenshistorie muss diese Voraussetzung jedoch nicht erfüllt sein, da sich der Zugang zu Fremdkapital wesentlich schwieriger gestaltet als bei etablierten Unternehmen. Da ist es kein Wunder, dass bei Wachstumswerten eine bestimmte Kennzahl der Bilanzanalyse häufiger zur Unternehmensbewertung herangezogen wird als bei anderen Unternehmen, die Cash Burn-Rate. Im eigentlichen Sinne für eine Einschätzung der Bonität und Solvenz eines Anleiheemittenten angewendet, kann sie bei Pionierunternehmen auch für eine Aktienbewertung behilflich sein, da sie den Zeitraum beschreibt, in dem das Unternehmen mit den vorhandenen liquiden Mittel überleben kann:
CashBurnRate =
Casht . EBITDAt
(11.5)
Damit verbunden ist auch die für eine Unternehmensbewertung unerlässliche Frage nach dem Going Concern der Gesellschaft. Wachstumsunternehmen weisen ein wesentlich höheres Risiko auf, in Insolvenz zu gehen als etablierte Gesellschaften. Im Insolvenzfall kann jedoch der Terminal Value nicht mehr anhand der erwarteten Cashflows berechnet werden, sondern nur noch über den Break-up-Value. Schafft es das Unternehmen jedoch, sich dauerhaft am Markt zu etablieren, stammt ein hoher Anteil des Unternehmenswertes aus denjenigen Cashflows, die in weiter Zukunft erwirtschaftet werden, unter Umständen ist sogar die Summe der Barwerte während der Detailplanungsphase negativ und mehr als 100€% des Unternehmens-
11.2â•… Die Bewertung von Wachstumsaktien
401
wertes stammen aus dem Terminal Value. Vor diesem Hintergrund werden völlig neue Fragen bewertungsrelevant: • Zunächst die digitale Frage, ob das Unternehmen bis zum Erreichen des Terminal Value überleben wird. Empirischen Untersuchungen zufolge liegt die jährliche Insolvenzquote von neu gegründeten Unternehmen bei rund 10€ %6 Statistisch gesehen ist also nach spätestens fünf Jahren jedes zweite Unternehmen vom Markt verschwunden. Da der Terminal Value bei Wachstumsunternehmen eine größere Rolle spielt als bei anderen Unternehmen, ist eine kritische Einschätzung der Überlebenswahrscheinlichkeit erforderlich. • Wird die erste Frage mit ja beantwortet, gilt es zu klären, wann das Unternehmen in die Reifephase eintreten wird. Nur während der Wachstumsphase kann ein Unternehmen seinen Wert steigern. Jedes Jahr, um das sich der Terminal Value nach hinten verschiebt, hat Auswirkungen auf das Kursziel und das Anlageurteil zum betrachteten Wertpapier. • Und schließlich ist es auch von Bedeutung, wie sich das Risiko des Unternehmens während der Reifephase entwickelt. Definitionsgemäß sind Wachstumsunternehmen riskanter als andere und ihre Aktien sind volatiler als andere. Im Terminal Value gilt dies nicht mehr. Dennoch müssen Annahmen getroffen werden, wie volatil die Aktie sich im Terminal Value verhalten soll und mit welchen Zinssätzen die Erträge diskontiert werden sollen. Wie würde man einen Peergroup-Vergleich von Wachstumsaktien aufbauen? Angenommen, ein junges unprofitables Wachstumsunternehmen soll anhand einer Gruppe profitabler Vergleichsunternehmen bewertet werden. Unterstellt man, dass der aktuell ermittelte Peergroup-Multiplikator langfristig repräsentativ wäre und dass das zu bewertende Unternehmen im Jahr tâ•›+â•›4 in die Gewinnzone eindringt, so ergibt sich ein Unternehmenswert von
EVt+4 = EBITDAt+4
EVPeergroup . EBITDAPeergroup
(11.6)
Anschließend ist der ermittelte EVtâ•›+â•›4 mit den durchschnittlichen gewichteten Kapitalkosten des Unternehmens zu diskontieren, um den aktuellen Enterprise Value zu erhalten. Notwendige Bedingung für diese Vorgehensweise ist allerdings, dass das Unternehmen mittelfristig profitabel wird. Kann dagegen eine Insolvenzwahrscheinlichkeit ω quantifiziert werden, ergibt sich der Unternehmenswert aus:
EV0 = EV0 ω + Liquidationserlös(1 − ω).
(11.7)
Die fundamentale Bewertung von Wachstumsaktien ist mit weit größerer Unsicherheit verbunden als die Bewertung stabiler, solider, mit der Gesamtwirtschaft wachsender Unternehmen. Investoren und Analysten sollten also darauf gefasst sein, dass die Unternehmensbewertung eine zeitpunktbezogene Analyse ist und – realis6╇
Vgl. zum Beispiel: Watson und Everett (1996); Knaup (2005); Amy und Piazza (2007).
402
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
tisch betrachtet – ex post mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht das richtige Ergebnis ermittelt hat. Allein das Ausmaß des Bewertungsfehlers ist offen, seine Höhe kann jedoch durch fundierte Prämissen minimiert werden.
11.3 Die Bewertung zyklischer Unternehmen Die Prognose der Ertragslage von reifen, etablierten Unternehmen ist für den Bewerter nicht übermäßig problematisch: Wenn sich keine gravierenden Änderungen ergeben, wird sich das Unternehmen mit der in der Vergangenheit beobachteten durchschnittlichen Wachstumsrate weiterentwickeln – mehr oder weniger. Warum sollten die Menschen auch aufhören, ihren Cappuccino bei Starbucks zu trinken? Warum sollten schlagartig keine iPods mehr gekauft werden, warum keine Solarmodule verbaut werden? Bei Wachstumsunternehmen, so problematisch die Prognose auch sein mag, ist für einen absehbaren Zeitraum zumindest ein überdurchschnittlich hohes Unternehmenswachstum vorhersehbar. Die Ertragsentwicklung von zyklischen Unternehmen dagegen ist zum überwiegenden Teil von der gesamtwirtschaftlichen Lage abhängig, Marktstellung, Managementqualitäten oder Wettbewerbsintensität spielen demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle. Auto- oder Stahlhersteller, Luftfahrtgesellschaften und Chemieunternehmen sind typische Zykliker, Stromversorger oder Healthcare-Anbieter, deren Produkte in jeder Phase des Konjunkturzyklus mehr oder weniger gleich nachgefragt werden (müssen), sind es nicht. Stahlunternehmen sind zyklisch, weil sich Stahlpreise im Konjunkturzyklus verändern, Papier- und Chiphersteller sind zyklisch, weil die angebotenen Papiermengen schweinezyklusartigen Schwankungen unterworfen sind, Autohersteller sind zyklisch, weil große Anschaffungen in rezessiven Zeiten, in denen Menschen von Arbeitslosigkeit bedroht sind, zurückgestellt werden, Airlines sind zyklisch aufgrund von übergeordneten makroökonomischen Faktoren. Neben diesen allgemeinen makroökonomischen Schwankungen der Geschäftsentwicklung gibt es noch verschiedene zyklische Phänomene, die von der gesamtwirtschaftlichen Lage unabhängig sind: Investmentbanken zeigen typische zyklische Charakteristika: In Zeiten steigender Aktienkurse ist der Kapitalmarkt für hochprofitable Börsengänge und Kapitalerhöhungen aufnahmebereiter als während Baisse-Phasen. Und auch in der Informationstechnologie, einer Branche, die tendenziell als Wachstumssektor eingestuft wird, sind zyklische Muster erkennbar. Allen Branchen jedoch ist gemeinsam, dass sie im konjunkturellen Abschwung von fallenden Umsätzen und fixkostenbedingt stark rückläufigen Ergebnissen gekennzeichnet sind, so dass eine Verlustsituation selbst für große, marktführende Unternehmen nicht ausgeschlossen werden kann. Im konjunkturellen Aufschwung dreht sich der Spieß um und bei steigenden Umsätzen verbessert sich die Ertragslage sprunghaft. Viele zyklische Unternehmen haben hohe Fixkosten in der Produktion. Diese sind das Ergebnis hoher Infrastrukturinvestitionen. Auto- oder Stahlproduzenten ebenso wie Bauunternehmen müssen einen substantiellen Overhead unterhalten,
11.3â•… Die Bewertung zyklischer Unternehmen
403
der aus den Abschreibungen der Produktionsanlagen, den Erweiterungsinvestitionen und den Kapitalkosten besteht. Während einer Rezession erweist sich dieser Overhead als Belastung, da er sich auf eine geringere Zahl ausgelieferter Produkte verteilt. Umgekehrt im Boom, wenn die Fixkosten je ausgelieferter Einheit fallen und die Gewinnmargen mit jeder abgesetzten Einheit steigen. Als logische Konsequenz folgt daraus, dass zyklische Unternehmen am Zyklustief sehr niedrige Erträge erwirtschaften – sofern sie denn überhaupt positiv sind – und damit sehr hohe Multiplikatoren aufweisen. Das der Bewertung zugrundeliegende Ergebnis je Aktie liegt im niedrigen Cent-Bereich, das KGV wird nicht selten drei- oder sogar vierstellig. Im Gegensatz dazu erwirtschaften zyklische Unternehmen am Zyklushoch ihre größten Gewinne und werden, da sich Aktienkurse gegenüber der Ertragsentwicklung unterproportional verhalten, tendenziell mit niedrigen Multiplikatoren bewertet. Ein ertragsabhängiger Multiplikator wie das KGV ist dementsprechend das denkbar schlechteste Verfahren, zyklische Unternehmen zu bewerten, da es zu vollkommen gegenläufigen Anlageempfehlungen führt: Eine niedrige Bewertung zum Zyklushoch würde eine Kaufempfehlung nach sich ziehen, eine hohe Bewertung zum Zyklustief eine Verkaufsempfehlung, wo doch das genaue Gegenteil Ergebnis der Bewertung sein sollte. Die Volatilität der Ertragsentwicklung bringt also eine zusätzliche, sehr komplexe Komponente in die Unternehmensbewertung ein. Zu urteilen, eine zyklische Aktie ist am Zyklushoch mit einem KGV von 5x über- und am Zyklustief mit einem KGV von 18x unterbewertet, widerspricht jeder Intuition. Vor dem Hintergrund des permanenten Auf und Ab eines zyklischen Geschäftsfeldes macht es daher keinen Sinn, die veröffentlichten oder prospektierten Ertragszahlen zur Grundlage einer Unternehmensbewertung zu machen. Eine Prämisse der Unternehmensbewertung, die eingangs dieses Buches aufgestellt wurde, lautet, dass eine Unternehmensbewertung immer stichtagsbezogen erstellt werden muss. Vor dieser Prämisse kann eine Bewertung anhand vergangenheitsbezogener Durchschnittswerte nicht sinnvoll sein, da für Wechselkurse, Rohstoffpreise und andere Inputfaktoren ebenfalls Durchschnittspreise errechnet werden müssten. Für zyklische Unternehmen allerdings führt die geforderte stichtagsbezogene Vorgehensweise zu dem schlechtestmöglichen Ergebnis. Ist die Ertragsentwicklung ausschließlich davon abhängig, in welcher Phase des Konjunkturzyklus man sich befindet, kann eine stichtagsbezogene Bewertung, die ja zu einem guten Teil auf der Ertragsentwicklung des Vorjahres basiert, nur zu einem „veralteten“ Ergebnis führen. Befand sich die Konjunktur im vergangenen Jahr an ihrem Höhepunkt, führt die Extrapolation der Vorjahreswerte zu einer Überschätzung des Unternehmenswertes, da sich im folgenden Jahr bereits die Symptome der konjunkturellen Abkühlung in der Ertragsentwicklung niederschlagen werden. Befand sich das Unternehmen dagegen in der Rezession, wird sich dies auch in der gedrückten Unternehmensbewertung widerspiegeln, obwohl sich die Ertrags- und Cashflow-Entwicklung bereits wieder erholt. Die Unternehmensbewertung anhand von stichtagsbezogenen Dividenden- oder CashflowDiskontierungsmodellen hinkt der Realität also immer um mindestens eine Phase hinterher.
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Beispiel€ 11.6: Bewertung zum Zyklushoch╇ Kurz vor Erreichen des konjunkturellen Zyklushochs bekommt ein Finanzanalyst von einem institutionellen Kunden die Aufgabe, ein Stahllogistikunternehmen anhand eines DCF-Modells zu bewerten. Da sich der Verschuldungsgrad des Logistikunternehmens in den letzten zehn Jahren deutlich vergrößert hat, entscheidet sich der Analyst für ein FCFF-Modell. Der Analyst kann sich folgende Gewinn- und Verlustrechnung des Vorjahres von der Homepage des Logistikunternehmens herunterladen: Mio.€€ Umsatz Umsatzkosten Ergebnis aus operativer Geschäftstätigkeit Zinsergebnis Ergebnis vor Steuern EE-Steuern Jahresüberschuss
t 650,0 −╛╛578,0 72,0 −╛╛4,4 67,6 −╛╛23,7 44,0
Die Nettoinvestitionen in Sachanlagen und das Working Capital belaufen sich auf 5,2€Mio.€€ bzw. 3,2€Mio.€€. Damit ergibt sich für das Jahr t ein Freier Cashflow to the Firm von FCFFt = EBIT(1 − τ )−In = 72,0(1 − 0,35) − 5,2 − 3,2 = 39,3.
Die verkürzte Bilanz des Vorjahres zeigt folgende Positionen: Mio.€€ Langfristiges Vermögen Kassenbestand Sonstiges kurzfristiges Vermögen Bilanzsumme
t╛╛−╛╛1 230,0 50,0 65,0
Grundkapital Verzinsliches Fremdkapital
250,0 95,0
345,0
Bilanzsumme
345,0
Die Kosten für das Eigenkapital belaufen sich auf 10,4€ %, die Kosten für das verzinsliche Fremdkapital liegen bei 4,6€ %. Der Kurs je Aktie liegt aktuell bei 1,16€ €, was einer gesamten Marktkapitalisierung von 250,0â•›⋅â•›1,16â•› = â•›290,0€ Mio.€ € entspricht. Insgesamt ergeben sich folgende WACC: EK0,t−1 Debt0,t−1 + rDebt (1 − τ ) EK0,t−1 + Debt0,t−1 EK0,t−1 + Debt0,t−1 95,0 290,0 + 0,046 (1 − 0,35) = 0,086 = 8,6 % = 0,104 345,0 345,0
WACC = rEK
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Unterstellen wir eine langfristige Wachstumsrate des FCFF in Höhe von 2,5€%, ergibt sich über ein Steady-State-Modell folgender Unternehmenswert: EV0 =
FCFF0 (1 + gR ) 39,3(1 + 0,025) = = 660,4. WACC−gR 0,086 − 0,025
Unter Berücksichtigung der Nettoverschuldung ergibt sich ein innerer Wert des Eigenkapitals von V0 = EV0 + Cash − Debt = 660,4 + 50,0 − 95,0 = 615,4
bzw. von 2,46€€ je Aktie. Angesichts eines Kurspotenzials von 112,2€% entspricht dies einer signifikanten Unterbewertung der Aktie. Wie sollte man auf den zyklischen Charakter der Ertragsentwicklung reagieren? Anstelle von tagesaktuellen Daten verwenden manche Analysten normalisierte Daten. Ähnlich den Ratingagenturen, die ebenfalls eine Unternehmensbewertung „through the cycle“ erstellen, werden damit längerfristige Perspektiven eingenommen und Zeiträume betrachtet, die über den gegenwärtigen Zyklus hinausreichen. Unternehmen werden in der Aufschwungphase nicht besser und in der Abschwungphase nicht schlechter bewertet. Dies führt dazu, dass das Ergebnis einer Unternehmensbewertung überhaupt keinen zyklischen Schwankungen mehr unterworfen ist – was allerdings nicht bedeutet, dass dauerhafte Veränderungen des wirtschaftlichen Umfeldes nicht sofort berücksichtigt werden müssen. Bei zyklischen Unternehmen ist gegen dieses Vorgehen ausnahmsweise nichts einzuwenden – sofern auch tatsächlich normalisiert wird. Der Begriff der Normalisierung ist indes nicht präzise definiert, je nach Herkunft und Prägung des Bewertenden ist der Begriff unterschiedlich gefüllt. So dürfte es kaum ausreichend sein, lediglich die Erträge zu normalisieren, nicht jedoch die Profitabilitätskennzahlen, die Investitionen in Sachanlagen oder das Working Capital, die Kreditkosten oder den durchschnittlichen erwarteten Kapitalumschlag. Diese Daten auf ihrem Vorjahresniveau zu belassen und nur die Ertragszahlen zu normalisieren, kann kaum zu einem relevanten Ergebnis führen. Auch eine Doppelzählung des Wachstums ist in jedem Falle zu vermeiden. Als zweiten Schritt sollten tendenziell diejenigen Ertragskennzahlen zur Bewertung herangezogen werden, die die geringste Volatilität im Zeitablauf aufweisen. Aufgrund des hohen operativen und finanziellen Leverage, dem zyklische Unternehmen regelmäßig ausgesetzt sind, sind die ausgewiesenen Erträge umso volatiler, je tiefer in der Gewinn- und Verlustrechnung sie angesiedelt sind. Daher ist es unumgänglich, auf das EBIT oder sogar das EBITDA als Bewertungsgrundlage zurückzugreifen, zumal diese auch im konjunkturellen Abschwung mit größerer Wahrscheinlichkeit positive Werte aufweisen als das Ergebnis vor oder nach Steuern.
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11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
Als dritter Schritt ist die Zeitspanne zu wählen, innerhalb der die operativen Erträge normalisiert werden sollen. Bei zyklischen Unternehmen mag es naheliegend erscheinen, den absoluten Umsatz- oder Ertragsdurchschnitt eines kompletten Konjunkturzyklus heranzuziehen. Bei dieser Vorgehensweise bleibt jedoch zunächst unklar, was als vollständiger Zyklus anzusehen ist. Die Angaben reichen von drei bis zehn Jahren. Ein starkes organisches Wachstum des Unternehmens unterstellt, führt die Bildung eines absoluten Durchschnittswertes während besonders langer Zyklusphasen dazu, dass der Unternehmenswert tendenziell unterschätzt wird. Daher dürfte es sinnvoller sein, nicht den absoluten Durchschnittswert zu errechnen, sondern die während eines Konjunkturzyklus durchschnittlich erwirtschafteten operativen Margen, die auf die im letzten Geschäftsjahr erzielten Umsätze angelegt werden. Dieses Vorgehen kann auch für andere bewertungsrelevante Kennzahlen wie die Investitionsquote oder die Finanzierungskosten angewendet werden. Beispiel€ 11.7: Normalisierung der Erträge╇ Für das Logistikunternehmen aus Beispiel€11.6 ist eine Bewertung über eine normalisierte Ertragsentwicklung zu erstellen: Boom t╛╛−╛╛8 t╛╛−╛╛7 t╛╛−╛╛6 t╛╛−╛╛5 t╛╛−╛╛4 Umsatz 150,0 160,7 200,2 237,5 241,1 YoY (%) n/a 7,1 24,6 18,6 1,5 EBIT 11,4 15,9 20,0 24,2 26,1 Marge (%) 7,6 9,9 10,0 10,2 10,8
Rezession t╛╛−╛╛3 t╛╛−╛╛2 t╛╛−╛╛1 t Ø 240,3 203,2 193,5 188,5 −â•›0,3 −â•›15,4 −â•›4,8 −â•›2,6 3,6 25,4 19,4 12,5 11,3 18,5 10,6 9,5 6,5 6,0 9,0
Bezogen auf das operative Ergebnis ergibt sich für den gesamten Betrachtungszeitraum ein Durchschnittswert von 18,5€Mio.€€. Allerdings sind in dieser Zeit die Umsätze um durchschnittlich 2,9€% pro Jahr angestiegen, so dass die Verwendung von operativen Absolutzahlen zu einer Unterschätzung des normalisierten Unternehmenswertes führen würde. Wesentlich sinnvoller ist daher die Verwendung von normalisierten Margen, beispielsweise bezogen auf das operative Ergebnis EBIT. Hier ergibt sich für den Zeitraum ein Durchschnittswert von 9,0€% Bezogen auf die in t erwarteten Umsätze von 188,5€Mio.€€ ergibt sich ein normalisiertes EBIT von 17,0€Mio.€€, was deutlich über dem zum Zeitpunkt t erwarteten EBIT von 11,3€Mio.€€ liegt. Die Verwendung dieser Ertragsgröße spiegelt gut das für das Logistikunternehmen erfolgte organische Wachstum des Unternehmens wider. Zur Berechnung des Unternehmenswertes greifen wir auf weitere Daten des Logistikwertes zurück. Hierzu berechnen wir zunächst die durchschnittlichen gewichteten Kapitalkosten WACC. Über die Umlaufrendite zehnjähriger Bundesanleihen von 3,3€% und dem aus dem jüngsten Rating (BB) abgeleiteten CDS von 3,5€% ergeben sich zunächst Fremdkapitalkosten rDebt von 6,8€%.
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Aus dem Beta von 1,2 und der Risikoprämie von gegenwärtig 5,5€% ergeben sich Eigenkapitalkosten rEK von 9,9€%. Die Marktkapitalisierung liegt aktuell bei 80,0€Mio.€€, der Marktwert der zinstragenden Verbindlichkeiten liegt bei 17,0€Mio.€€. Nehmen wir an, dass sich der Verschuldungsgrad auf absehbare Zeit nicht ändert, ergeben sich WACC von WACC =
17,0 80,0 0,099 + 0,068(1 − 0,34) = 9,0 %. 80,0 + 17,0 80,0 + 17,0
Für die globale Logistikbranche, dem Kernmarkt des Unternehmens, rechnen Marktforscher mit einem langfristig erzielbaren, durchschnittlich jährlichen Marktwachstum von 2,3€ %. Wir nehmen ferner an, dass das Unternehmen im Steady-State-Zustand eine Rendite erwirtschaftet, die ihren Kapitalkosten entspricht, also ROCEâ•› = â•›WACC. Damit ergibt sich eine Investitionsquote ε von εR =
gR 0,023 = = 0,257 = 25,7 %. ROCER 0,090
Das Stahllogistikunternehmen muss während der Reifephase rund ein Viertel seines operativen Ergebnisses nach Steuern investieren, um die geplanten Wachstumsziele zu erreichen. Aus diesen Daten lässt sich nun anhand der Formel (5.67) der normalisierte Enterprise Value der betrieblichen Vermögenswerte bestimmen. Er ergibt sich aus EBIT(1+gR )(1 − τ )(1−εR ) WACC−gR 17,0(1 + 0,023)(1 − 0,34)(1 − 0,257) = = 128,0 0,090 − 0,023
EV0 =
Abzüglich des verzinslichen Fremdkapitals ergibt sich ein Wert des Eigenkapitals von 111,0€ Mio.€ €. Basierend auf einem normalisierten operativen Ergebnis ist das Unternehmen damit deutlich unterbewertet. Es ergibt sich ein Kurspotenzial von 38,8€%. Alternativ zu einem Durchschnittswert innerhalb einer gewissen Zeitspanne kann auch ein durchschnittliches Jahr innerhalb eines Zyklus ausgewählt werden, ein Jahr also, in dem die Erträge weder nach oben noch nach unten übertrieben wurden. Eine objektive Vorgehensweise bei der Auswahl dieses durchschnittlichen Jahres gibt es nicht. In der Normalisierung implizit enthalten ist die Annahme, die Erträge würden sich langfristig ihren Durchschnittswerten annähern. Dauert der konjunkturelle Abschwung jedoch länger oder ist die Rezession intensiver als erwartet, kann der Kurs nochmals deutlicher nachgeben als dies anfangs unterstellt.
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11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
Analysiert man zyklische Unternehmen über Multiplikatorverfahren, sollten vergleichbare Unternehmen mit einem ähnlichen bzw. im Extremfall sogar demselben Vielfachen der normalisierten Erträge gehandelt werden. Riskantere bzw. langsamer wachsende Unternehmen sollten mit einem niedrigeren Multiplikator der normalisierten Erträge gehandelt werden als Unternehmen mit prognostizierbaren Erträgen und hohen durchschnittlichen Ertragswachstumsraten.
11.4 Die Bewertung von Immobilienunternehmen Bis vor wenigen Jahren war die börsennotierte Immobiliengesellschaft ein „in Deutschland unbekanntes Wesen“7. Die indirekte Immobilienanlage wurde vorwiegend in Form der offenen und geschlossenen Immobilienfonds praktiziert, über Anlageformen also, die von hohen Ausgabeaufschlägen und geringer bis nicht vorhandener Zweitmarktliquidität geprägt waren. Börsennotierte Immobilienaktiengesellschaften spielen erst seit Anfang dieses Jahrtausends eine dann allerdings immer bedeutendere Rolle, die durch die Einführung der Gesellschaftsform des Real Estate Investment Trusts (REITs) noch gesteigert wurde. REITs sind Vehikel, über die ein Privatinvestor an den Entwicklungen der Immobilienmärkte partizipieren kann, ohne gleichzeitig eine den üblichen Diversifikationsbestrebungen zuwiderlaufende Kapitalallokation vornehmen zu müssen. Die Besonderheit des REITs bestehen darin, dass ein REIT selbst weder Körperschaftnoch Gewerbesteuer abführen muss, sofern • mindestens 75€% der gesamten Einkünfte der REIT-AG aus Immobilieneinkünften stammen, • mindestens 75€% des Gesamtvermögens der REIT-AG aus Immobilienvermögen stammen, • sich zum Zeitpunkt der Börsenzulassung mindestens 25,0€% der REIT-Anteile im Streubesitz befinden (initiale Streubesitzquote), • sich dauerhaft mindestens 15,0€% der Aktien in den Händen von Aktionären befinden, die jeweils nicht mehr als 3,0€% der Aktien halten, • sich die direkte Beteiligung eines einzelnen Aktionärs auf 10€% des Grundkapitals begrenzt (Höchstbeteiligung), und schließlich • mindestens 90€% des nach HGB vorsichtig (also unter Ausschluss stiller Reserven) ermittelten Gewinns als Dividende an die Aktionäre ausgeschüttet wird. Abschließend muss die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft einen „Schwerpunkt auf der passiven Immobilienbewirtschaftung“8 aufweisen, also auf das Halten und die Bewirtschaftung ihrer Immobilien, nicht den Handel mit ihnen. Bestandshalter im Allgemeinen und REITs im Besonderen sind Unternehmen, die Immobilien zu Bestandszwecken erwerben und hierfür Vermietungserlöse ge7╇ 8╇
Rehkugler (2003, S.€5). §Â€14 REITG.
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nerieren. Abgesehen von der Verpflichtung, mindestens 90€% des ausschüttungsfähigen Gewinns tatsächlich auszuschütten, besteht dabei kein Unterschied zwischen REITs und einer ebenfalls auf die Bestandshaltung ausgerichteten Real Estate Operating Company (REOC). Im Immobilienbereich ist der bestandshaltende REIT bzw. REOC von Immobilienhändlern und Immobilienentwicklungsgesellschaften abzugrenzen. Bei diesen Geschäftsmodellen basiert die Wertschöpfung weniger auf dem Einsatz von Kapital, sondern überwiegend auf der Kreativität des Managements und hat nur eine vernachlässigbare Beziehung zur Wertenwicklung des vorhandenen Grundbesitzes. Berücksichtigt man, dass sich der Wert eines Vermögensgegenstandes – unabhängig von dem rechtlichen Mantel, in den er eingekleidet ist – aus dem Barwert der zukünftigen Einzahlungsüberschüsse während der Laufzeit des Vermögenswertes ergibt, dann stellt sich grundsätzlich die Frage, warum Immobilienbestandshalter anders zu bewerten sein sollten als etwa Softwarehersteller. Denn bei rationaler Abwägung und ausschließlicher Ausrichtung auf monetäre Zielfunktionen wird niemand bereit sein, für ein Unternehmen oder einen Vermögensgegenstand mehr als diesen Barwert bezahlen. Warum also sollte für ein Immobilienunternehmen nicht auch eine Bewertung anhand des Kurs/Gewinn-Verhältnisses oder EV/EBITMultiplikators möglich sein? Hält man sich vor Augen, das beim NAV Liquiditätsströme auf der Ebene der Einzelobjekte erfasst, diskontiert und summiert werden, während beim DCF-Modell in der Entity-Methode die Erfassung und Diskontierung der Liquiditätsüberschüsse auf der Ebene des Gesamtunternehmens erfolgt, müssten doch beide Verfahren unmittelbar zum gleichen Ergebnis kommen, zumindest wenn dieselben Zahlungsströme erfasst und mit demselben Zinssatz diskontiert wurden. Allerdings müsste ein Analyst, der ein Immobilienunternehmen anhand eines DCF-Modells bewerten wollte, sämtliche Kriterien, die bei der Bewertung der Immobilien eine Rolle spielen, implizit berücksichtigen. Dies fängt bereits bei der Festlegung des Diskontierungszinssatzes an: Marktgängige Immobilienrenditen liegen zwischen 3,0€% für eine 1a-Innenstadtimmobilie einer A-Stadt und 15,0€% und mehr für eine Lagerhalle im Außenbereich einer Kleinstadt. Die Unsicherheit wird noch verstärkt, wenn das zu bewertende Unternehmen in heterogenen Märkten aktiv ist. Daher ist es sinnvoll, immobilienwirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Kriterien bei der Bewertung von Immobilienunternehmen nicht zu vermischen, sondern jeweils getrennt zu bewerten9. Aus der betriebswirtschaftlichen Sphäre sind ferner bilanzielle Wahlrechte für das Scheitern konventioneller Bewertungsverfahren verantwortlich. Bei der Bilanzierung nach IFRS erfolgt die erstmalige Bilanzierung von langfristig als Finanzinvestitionen gehaltenen Immobilien, die dem Anlagevermögen zuzuschreiben sind, zu Anschaffungs- und Herstellungskosten. Wird eine Folgebewertung durchgeführt, besitzt das Immobilienunternehmen ein Wahlrecht, ob es die fortgeführten Anschaffungs- und Herstellungskosten ansetzen will oder eine jährliche Neubewertung zum aktuellen Zeitwert, dem Fair Value, durchführen will. Entscheidet sich das Unter9╇
Vgl. Cadmus (2000, S.€97).
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11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
nehmen für eine Fair Value-Bewertung, müssen alle positiven und negativen Veränderungen des Zeitwertes nach IAS 40 direkt als Bewertungsgewinn oder -verlust in der Gewinn- und Verlustrechnung erfolgswirksam erfasst werden. Dabei ist der Fair Value als derjenige Betrag definiert, auf den sich unabhängige Parteien einigen würden. Zu seiner Ermittlung kommen Discounted Cashflow-Modelle ebenso in Frage wie Vergleichs- oder Ertragswertverfahren. Lediglich die gewählte Methode ist im Konzernanhang zu veröffentlichen, nicht jedoch die Annahmen, auf denen die Bewertung beruht, und selbst der Gutachter, der die Bewertung vorgenommen hat, ist nicht explizit zu benennen. Die wichtigsten, in die Ermittlung des Fair Value eingehenden Parameter sind die tatsächlich und voraussichtlich erzielbaren Mieteinnahmen, die erwarteten Bewirtschaftungskosten und die aus Vergleichsobjekten erzielbaren Multiplikatoren. Selbstverständlich handelt es sich bei den gutachterlichen Bewertungen nicht um tatsächliche Transaktionen, sondern um fiktive Marktpreise, die von den Sachverständigen auf Basis von Schätzungen und Vergleichen ermittelt wurden. Abweichungen von tatsächlich erzielbaren Marktpreisen können daher nicht ausgeschlossen werden, ja sind sogar wahrscheinlich. Ein Korridor von ±â•›15€% vom beobachteten Marktpreis gilt allgemein als hinnehmbar.10 Wird eine Immobilie dagegen zum Zwecke der Weiterveräußerung als Vorratsbestand im Umlaufvermögen gehalten, muss diese zu fortgeführten Anschaffungskosten erfasst werden. Planmäßige und eventuell außerplanmäßige Abschreibungen sind zu berücksichtigen, nicht hingegen Werterhöhungen, die über die fortgeführten Anschaffungskosten hinausgehen. Dieses Wahlrecht zwischen Cost- und Fair Value-Ansatz ist dafür verantwortlich, dass bei bestandshaltenden Immobiliengesellschaften unrealisierte Wertsteigerungen vollständig, teilweise oder gar nicht angesetzt werden. Gewinne von Immobiliengesellschaften sind damit nicht miteinander zu vergleichen und müssen zum Peergroup-Vergleich um Normalabschreibungen und unrealisierte Wertsteigerungen adjustiert werden. Da die Prognose der Mieteinnahmen mit weitaus geringeren Risiken verbunden ist als Analyse der Absatzchancen beispielsweise einer innovativen Software, eines Medikaments oder einer neuen Fahrzeugklasse, werden Aktionäre an REITs deutlich niedrigere Renditeforderungen stellen als an sonstige Unternehmen. Da REITs in Deutschland für Bestandsobjekte allein gewerblich genutzten Immobilien vorbehalten ist, ergibt sich für den REIT-Aktionär darüber hinaus der Vorteil eines Inflationsausgleichs der Erträge: Durch die Inflationsanpassung gewerblicher Mietverträge sichern REITs dem Aktionär überdies einen langfristigen Hedge11. Vor diesem Hintergrund ist aus theoretischer Sicht festzuhalten, dass DCF-Modelle zwar grundsätzlich die sachlich zutreffende Methodik zur Bewertung von Immobilienbestandshaltern darstellen, sie in der Praxis jedoch in der Regel nicht akzeptiert werden. Der außenstehende Bewerter müsste die freien Cashflows nicht nur für die vergangenen Perioden aus den Jahresabschlüssen herausrechnen, um eine Startbasis für die zukünftig zu schätzenden Werte zu finden, sondern sie auch 10╇ 11╇
Vgl. Rehkugler (2008, S.€30). Vgl. Chatrah und Liang (1998).
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für eine im Grundsatz unendliche Periode ermitteln. Die Wertunterschiede durch differierende implizite Annahmen aufgrund des langfristigen Charakters des Geschäftsmodells sind hier für den Anleger einfach zu groß. In der Bewertungspraxis werden die Aktien von Bestand erhaltenden Immobiliengesellschaften12, nicht jedoch von Entwicklern von Immobilien, über zwei Verfahren bewertet: Funds From Operations FFO und Net Asset Value NAV. Die zuweilen zu lesende Begründung13, der operative Ertrag einer Immobiliengesellschaft spiele für diese nur eine untergeordnete Rolle, wichtiger wäre dagegen die Substanz an sich, weist allerdings einen logischen Defekt auf, ist doch die NAV-Bewertung nichts anderes als eine modifizierte Ertragsbewertung. Denn der Wert der Immobiliengesellschaft wird in erster Linie durch die Ertragskraft des Immobilienvermögens bestimmt. Diese wiederum wird im Verkehrswert des Immobilienbestands widergespiegelt. Wird der Verkehrswert als abdiskontierter Strom der in Zukunft zu vereinnahmenden Mieterträge abzüglich der zu ihrer Erzielung erforderlichen Kosten betrachtet, zeigt sich schnell die Identität aus Ertragswert und Substanzwert. Die Funds From Operations (FFO) wurden 1991 von der National Association of Real Estate Investment Trust (NAREIT), der US-amerikanischen Standesorganisation für REITs und andere Immobilienunternehmen, entwickelt, um einen einheitlichen Standard zur Performancemessung bestandserhaltender Immobiliengesellschaften zu ermitteln und Probleme zu umgehen, die durch das Ausnutzen von Wahlrechten beim Ansatz von Ab- und Zuschreibungen sowie durch Veräußerungsaktivitäten entstehen. Ursprünglich als zusätzliche Kennzahl zum Jahresüberschuss 1991 gedacht, bilden die FFO heute den entscheidenden Industriestandard zur Einschätzung der Ertragskraft von Immobilienbestandshaltern. Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass das Nachsteuerergebnis kein zufriedenstellendes Ertragsmaß sein kann: Die als Aufwand verrechneten und nach steuerlichen Regeln bestimmten Abschreibungen auf das Immobilienvermögen entsprechen nur zufällig ihrem tatsächlichen Werteverzehr. Meist verlaufen die steuerlichen Abschreibungen degressiv. Das Grundstück kann dagegen überhaupt nicht abgeschrieben werden, sondern wird häufig mit der Zeit immer werthaltiger. Per Saldo und in Abhängigkeit von der Lage ist damit sogar der umgekehrte Fall vorstellbar, in dem im Lauf der Zeit mit einer Steigerung des Immobilienwertes auszugehen ist, der sich erst bei einem späteren Verkauf positiv in der Erfolgsrechnung bemerkbar machen wird. Während also Abschreibungen angesetzt werden, denen keine tatsächlichen regelmäßigen Wertminderungen gegenüberstehen, bleibt der dominante Werttreiber, die Entwicklung des relevanten Immobilienteilmarktes, völlig unberücksichtigt. Zur Ableitung der FFO ist das Nachsteuerergebnis um folgende Faktoren zu korrigieren: • Addition der planmäßigen Abschreibungen auf Immobilien, auf Mietereinbauten und auf Mietforderungen; 12╇ 13╇
Vgl. stellvertretend Rehkugler (2003, S.€17) oder Scharpenack et€al. (1998, S.€670). Siehe zum Beispiel Hens et€al. (1998, S.€156).
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11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
• Bereinigung der Veräußerungsgewinne oder -verluste aus Gebäuden (den abschreibungsfähigen Immobilien); • Mögliche (Wahlrecht) Bereinigung der Gewinne oder Verluste aus der Veräußerung von Grundstücken; • Bereinigung der Gewinne und Verluste aus Bewertungsänderungen der Immobilien; • Bereinigung des Ergebniseffektes derivativer Finanzinstrumente; • Bereinigung der Gewinne und Verluste von nicht fortgeführten Geschäftstätigkeiten und von außerordentlichen Ergebnisbestandteilen; Damit ist die Berechnung üblicherweise beendet. Problematisch an dieser Herangehensweise ist allerdings die Tatsache, dass echte Wertminderungen einer Immobilie unberücksichtigt bleiben. Darunter sind Instandhaltungs- und Renovierungsmaßnahmen zu verstehen, die in regelmäßigem Abstand vorgenommen werden müssen, also beispielsweise die Erneuerung von Bodenbelägen in Wohnimmobilien oder individuelle Einbauten bei Gewerbeimmobilien (z.€B. Trennwände). Derartige Investitionen, die der Vermietbarkeit des Objektes dienen und üblicherweise kapitalisiert und abgeschrieben werden, sind bei der Berechnung der FFO zu berücksichtigen. Durch die Eliminierung des Kapitalaufwands erhält man die Adjusted FFO oder AFFO. In einem letzten Rechenschritt können aus dem AFFO die Funds Available for Distribution FAD bzw. Cash Available for Distributrion CAD ermittelt werden, die den maximalen, nachhaltig erwirtschafteten Cashflow darstellen. Diese Größe kann auch als Basis für die Dividendenausschüttung verstanden werden. Der Nettoinventarwert oder Net Asset Value NAV als zweite gebräuchliche Immobilienkennzahl ist definiert als die Differenz aus Marktwerten des Vermögens, typischerweise abgeleitet aus deren Ertragswerten, und den Marktwerten der Verbindlichkeiten. In einer HGB-Welt würde der NAV also dem Reinvermögen der Gesellschaft zuzüglich der stillen Reserven entsprechen. Gerechtfertigt wird die Verwendung des NAV aus dem spezifischen Geschäftsmodell des Bestandshalters: Immaterielle Vermögensgegenstände wie Brandname, Goodwill oder Kundenbeziehungen spielen für die Bestimmung der Ertragskraft eines Immobilienunternehmens nur eine untergeordnete Rolle, ebenso wenig können Synergieeffekte zwischen den einzelnen Immobilien gehoben werden. Die jeweiligen Liquiditätsströme können daher einer Immobilie relativ gut zugeordnet werden. Da der NAV nichts anderes als den Barwert der zukünftigen Nettoüberschüsse einer Immobilie repräsentiert, kann der NAV durchaus als objektivierter Näherungswert eines DCF-Wertes interpretiert werden14. Von Finanzanalysten wird der NAV in aller Regel nicht einfach aus dem Jahresabschluss übernommen, sondern mit eigenen Erfahrungswerten verglichen, insbesondere, inwieweit die angegeben Verkehrswerte und Mieteinnahmen mit den marktüblichen Mietmultiplikatoren übereinstimmen. Abweichungen können bei ungewöhnlichen Leerständen, geringen Mietrestlaufzeiten oder hohen Abweichungen vom Mietspiegel vorkommen. 14╇
Vgl. Rehkugler und Goronczy (2009).
11.4â•… Die Bewertung von Immobilienunternehmen
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Um aus den FFO eine Kennzahl zu bilden, die mit den üblichen Multiplikatoren wie dem KGV vergleichbar ist, werden die FFO ins Verhältnis zum NAV gesetzt. Hierdurch wird eine ertragsabhängige Stromgröße mit einer zeitpunktabhängigen Bestandsgröße verglichen, ganz wie dies beim KGV oder dem EV/Umsatz-Multiplikator der Fall ist. Je größer die Kennzahl im Peergroup-Vergleich ausfällt, desto profitabler ist die Gesellschaft. Wurden FFO und NAV für die gesamte Referenzgruppe an bestandshaltenden Unternehmen berechnet, stellt sich die Frage, ob die zu bewertende Aktie mit einer Prämie oder einem Abschlag gehandelt werden sollte. In jedem Fall ist die Antwort darauf weitgehend unabhängig von der jeweiligen Marktsituation und für jedes Unternehmen gesondert festzulegen. Eine Bewertung, der ausschließlich der NAV zugrunde gelegt wird, gleicht einer Zerschlagungsbilanz, die ein Konkursverwalter aufstellen würde, wenn ihm die negative Fortführungsprognose eine Bilanzierung nach dem Going Concern-Grundsatz verbietet. Das kann für hochlebendige und dynamische Immobiliengesellschaften natürlich nicht gelten. Neben dem NAV ist die erwartete Performance der Aktie per Saldo von weiteren Faktoren abhängig, zum Beispiel • von der Qualität des Managements, u.€a. in Bezug auf ihre Immobilienexpertise und ihrer Bereitschaft zu einer transparenten Finanzmarktkommunikation, • von der Prognostizierbarkeit der erwarteten Cashflow-Ströme im Vergleich zu anderen Unternehmen, • von der erwarteten Dividendenrendite im Vergleich zu Bundesanleihen und des Aktienindex und • vom erwarteten Wachstum der Funds From Operations je Aktie (dynamischer Ansatz). Ursächlich für eine Abweichung des Aktienkurses vom errechneten NAV kann also eine Unter- oder Überbewertung der Aktie sein, muss aber nicht. Es gibt verschiedene Parameter, die nicht nur zu einer unterschiedlichen Bewertung von Immobilienunternehmen führen können, sondern sogar müssen. So ist ein Unternehmen mehr als die Summe seiner Einzelobjekte. Bewertungsrelevant sein kann das Management, das attraktivere Objekte identifiziert und erwirbt als seine Wettbewerber, aber auch die Besteuerung kann auf Unternehmensebene eine Rolle spielen, wenn wie im REIT-Fall keine, im Fall einer Real Estate Operating Company jedoch eine durchschnittliche Besteuerung anfällt. Unternehmen mit ausgewiesenen Managementqualitäten und einer hohen Reputation können also durchaus mit einer Prämie zum NAV gehandelt werden, während gleichzeitig andere Gesellschaften mit schwachem Track Record einen Bewertungsabschlag hinnehmen müssen. Weil die Gründe für einen Zu- oder Abschlag auf Erfahrungen beruhen, kann auch keine abschließende Liste der Beurteilungskriterien angeboten werden. Zu nennen sind insbesondere • eine spezifizierte Formulierung des Geschäftsmodells und der Kernkompetenzen, die Vermeidung außergewöhnlicher Risikopotenziale, • die Fähigkeit zu internem Wachstum durch Nutzung von Ausbaureserven, eine Verbesserung der Mieterstruktur, die Herbeiführung höherwertiger Nutzungen oder aktives Portfoliomanagement,
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• die Fähigkeit zu externem Wachstum durch Akquisition neuer Anlageobjekte oder die Entwicklung von Projektimmobilien, und nicht zuletzt • die Qualität des Managements, also zum Beispiel Interessenskonflikte, Ausschaltung des Principal Agency-Problems durch Beteiligung des Managements am Unternehmenserfolg. Die Einordnung innerhalb dieser Spanne sollte danach erfolgen, in welchem Umfang die vorstehenden Kriterien von dem jeweiligen Unternehmen erfüllt werden. Gravierende Mängel dürften regelmäßig zu einem Discount führen. Erfüllt das Unternehmen im Wesentlichen die hier vorgestellten Kriterien und handelt es sich deshalb um ein brauchbares Kapitalmarktprodukt aus dem Immobilienbereich, so dürfte eine Prämie in Höhe von rund â•›+â•›10€% über dem NAV eine vernünftige Kompensation für den Wert des Unternehmens als organisatorische Einheit und die Fungibilität der Beteiligungsmöglichkeit darstellen. Aufgrund der geringen Homogenität der operativen Aktivitäten von Immobiliengesellschaften gelten die Kritikpunkte, die für Referenzgruppenmultiplikatoren allgemein angeführt werden können, auch hier. Reine Immobilienbestandshalter haben andere Werttreiber als Projektentwickler, Immobilienhändler oder -dienstleister. Bestandshalter von Wohnimmobilien gelten gemeinhin als weniger risikoreich als der Besitz von Gewerbeimmobilien, gute Lagen und Standorte sind weniger riskant als schlechte u.€s.€w.
11.5 D er Sum of the Parts-Ansatz bei der Bewertung von Konglomeraten Wie würde man idealerweise zwei Unternehmen bewerten, die sich bezüglich ihrer Komplexität unterscheiden? Angenommen, in der roten Ecke stünde ein fokussiertes, einfach zu verstehendes Pure Play-Unternehmen, das ausschließlich in seinem Heimatmarkt tätig ist, während sich in der blauen Ecke ein komplexer, diversifizierter Konzern befindet, der mit unterschiedlichen Produkten in unterschiedlichen Ländern weltweit tätig ist. Annahmegemäß sollen beide Unternehmen ähnliche Profitabilitätskennzahlen und ein vergleichbares finanzielles Leverage aufweisen. Vor dem Hintergrund identischer Cashflows und Abzinsungssätze würde eine DCFBewertung für beide Unternehmen theoretisch denselben Unternehmenswert ermitteln. In der Kapitalmarktpraxis dürfte dagegen das Konglomerat mit einem Bewertungsabschlag gehandelt werden, da Investoren diversifizierte Unternehmen häufig mit der Begründung ablehnen, dass sie die Diversifizierung gerne selbst über ihre Asset Allocation vornehmen. Unabhängig davon, ob derartige Bewertungsabschläge gerechtfertigt sind, treten bei einer Vergleichsgruppenbewertung bislang völlig unbekannte Probleme auf. Allein dass es nur sehr wenige Konglomerate geben dürfte, die einander so ähnlich sind, dass ihre Aktien überhaupt miteinander verglichen werden können, ist ein Spezifikum. Nicht nur, dass Vergleichsunternehmen zu finden sind, deren Ka-
11.5â•… Der Sum of the Parts-Ansatz bei der Bewertung von Konglomeraten
415
pitalströme, Wachstumsraten und Risikostrukturen mit dem zu bewertenden Titel ähnlich sind, sollten auch die Geschäftsfelder, in denen die Unternehmen tätig sind, ähnlich sein. Holding- oder Beteiligungsgesellschaften sind jedoch nur in seltenen Fällen untereinander ähnlich, zu groß sind in der Realität die Unterschiede in der operativen Ausrichtung der Konzerngesellschaften. Mit welchem Unternehmen sollte ein Siemens-Konzern auch verglichen werden? Mit der US-amerikanischen GE? Der Schweizer ABB? Oder der amerikanisch-französischen Alcatel-Lucent? Angesichts der existenziellen Unterschiedlichkeit von Konglomeraten dürfte es naheliegend sein, dass eine Ableitung eines Multiplikators aus einer Referenzgruppe für einen Unternehmensvergleich kein befriedigendes Ergebnis zur Folge haben kann und gleich mehrere Schwachstellen aufweist. Konglomerate erwirtschaften ihre Cashflows in unterschiedlichen Risikoklassen mit unterschiedlichen Wachstumsraten. Manche sind riskanter und sollten dementsprechend mit höheren Diskontierungssätzen abgezinst werden, andere sind weniger riskant und mit niedrigeren Diskontierungssätzen zu versehen. Das Beta des Gesamtkonzerns kann daher nur als gewichteter Durchschnitt der Betas der Tochtergesellschaften verstanden werden. Für eine Bewertung der einzelnen Geschäftsbereiche ist es daher kaum brauchbar, vor allem, wenn die einzelnen Geschäftsbereiche nicht miteinander korreliert sind. Im Bestreben, diversifizierte Konzerne miteinander zu vergleichen, gehen viele Analysten daher einen Umweg. Anstelle einer Gesamtbewertung auf Konzernebene isolieren sie bei stark heterogenen Konglomeratsstrukturen die einzelnen Geschäftsbereiche bzw. Unternehmensteile und bewerten diese individuell mit börsennotierten Pure Plays. Bei diesem Sum of the Parts-Ansatz werden für jeden Konzernbereich marktspezifische Multiplikatoren angewendet oder über DCF-Modelle intrinsische Marktwerte berechnet – sofern die erforderlichen Informationen bezüglich der operativen Grunddaten wie Umsatz, EBIT, Investitionen oder Nettoverschuldung einem Außenstehenden zur Verfügung stehen. Durch Addition der Einzelwerte mit den nicht betriebsnotwendigem Vermögen und anschließender Subtraktion der Holdingkosten, des verzinslichen Fremdkapitals und sonstiger, nicht den Aktionären zustehenden Werte errechnet sich der innere Wert des Eigenkapitals. Der Mehrwert, den eine Sum of the Parts-Bewertung erbringt, ist dementsprechend am größten, je stärker die Charakteristika der einzelnen Teilbereiche voneinander abweichen. Liegen die hierfür erforderlichen Daten nicht vor, wie dies beispielsweise bei der Schätzung der erforderlichen Investitionsbedürfnisse der Geschäftsbereiche oder bei der Schätzung der Betafaktoren der einzelnen Konzernbereiche der Fall ist, bietet sich die Verwendung industriespezifischer Werte bzw. Multiplikatoren an. Besonders wichtig bei dieser Vorgehensweise ist die präzise Abgrenzung der einzelnen Geschäftsbereiche: Jeder einzelne Geschäftsbereich sollte isoliert für sich bewertet werden und sollte im Modell unabhängig und eigenständig agieren. Auch sollte immer hinterfragt werden, welche Synergien zwischen den einzelnen Geschäftsbereichen bestehen und ob diese bei einer Herauslösung des Geschäftsbereichs aus dem Konzernverbund untergehen. Problematisch an dieser Vorgehensweise ist, dass a priori nicht bekannt ist, ob die Zusammenfassung von Gesellschaften zu einem Konzernverbund eine Wert steigernde Maßnahme ist, etwa weil Syn-
416
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
ergieeffekte gehoben werden können, oder eine Wert vernichtende Maßnahme, zum Beispiel weil Effizienzverluste auftreten. Doch auch diese Vorgehensweise kommt nicht ohne eine Klarstellung aus. So stellt sich die Frage, auf welche Weise die in den Zentralstellen angefallenen Kosten auf die Tochtergesellschaften verteilt werden können. Ein mögliches Verfahren ist es, die Overhead-Kosten in der Bewertung der Teilkonzerne zunächst zu unterschlagen und erst als Pauschalposition in Abzug zu bringen, eine Vorgehensweise, die natürlich eine substantielle Überbewertung der betrieblichen Vermögenswerte zur Konsequenz hat. Die aus der Kostenstellenrechnung bekannten Verteilungsschlüssel über Bereichsumsätze oder -mitarbeiter stellen eine theoretisch mögliche Verbesserung dar, doch ist es für einen Außenstehenden kaum möglich herauszufinden, in welcher Höhe betriebliche Kosten im einzelnen Geschäftsbereich tatsächlich angefallen sind. Gänzlich verloren dürfte sich ein an der Unternehmensbewertung interessierter Anleger angesichts der Konsequenzen der innerbetrieblichen Leistungsverrechnung vorkommen: Unternehmen gestalten in der Regel innerbetriebliche Verrechnungspreise nicht at arm’s length, sondern zu steuerminimierenden Konditionen. Der intern einkaufende Bereich wird bei überhöhten Preisen zu schlecht, der verkaufende Bereich zu ertragreich wiedergegeben. Zusätzlich verstärkt wird dieser Trend, wenn eine innerbetriebliche Kreditvergabe stattfindet; auch hier können die vereinbarten Zinsen die Marktzinssätze widerspiegeln, müssen aber nicht, so dass eine künstliche Verschlechterung oder Verbesserung der Ertragslage die Folge ist. Und auch Investitionen in Sachanlagen und in Working Capital werden von der Konzernzentrale nur höchst selten für die einzelnen Geschäftsbereiche untergliedert veröffentlicht. In der Theorie sind also unterschiedliche, nach dem Einfluss von Geschäftsbereichen gewichtete Diskontierungssätze zu verwenden. In der Praxis stehen diese den Anlegern nicht zur Verfügung. Selbst wenn die Betas der einzelnen Geschäftsbereiche bekannt wären und ein gewichteter durchschnittlicher Diskontierungssatz ermittelt werden könnte, kann dieser bei unterschiedlichen Wachstumsraten der einzelnen Geschäftsbereiche nur ein zeitpunktbezogener Diskontierungssatz sein, der für eine zeitraumbezogene Unternehmensbewertung, zum Beispiel über ein DCF-Modell, unbrauchbar ist. Überhaupt ist auch der zweite Input-Faktor der WACC, das finanzielle Leverage, auf Geschäftsbereichsebene nicht bekannt, weil weder das verzinsliche Fremdkapital noch der Marktwert der einzelnen Bereiche veröffentlicht wird. Bei der Schätzung der Diskontierungssätze werden die aus den einzelnen Vergleichsgruppen abgeleiteten Betas sowie die aus dem Bereich abgeleiteten Verschuldungsquoten verwendet – soweit diese publiziert werden; falls nicht, können sie aus den Verschuldungsquoten von Vergleichsunternehmen abgeleitet werden. Risikolose Zinssätze und Risikoprämien bleiben gegenüber der aggregierten Unternehmensbewertung unverändert, da das Unternehmen ja über einen einzigen Markt bewertet wird. Aus den genannten Daten können anschließend die durchschnittlichen gewichteten Kapitalkosten eines Teilbereichs berechnet werden. Mit Hilfe der gewichteten Kapitalkosten kann eine Bewertung der Cashflows der einzelnen Teilbereiche vorgenommen werden. Jeder einzelne Geschäftsbereich wird dabei separat
11.5â•… Der Sum of the Parts-Ansatz bei der Bewertung von Konglomeraten
417
bewertet, indem die operative Geschäftsentwicklung, die Investitionsquoten und die Nettoaufnahme von Finanzverbindlichkeiten geschätzt werden. Anschließend sind die Werte der Teilbereiche zu summieren und der Marktwert des Fremdkapitals (netto, nach Abzug des Cash-Bestandes) zu subtrahieren. Nach Addition des Marktwertes der nicht betrieblichen Vermögensgegenstände ergibt sich der Wert des Eigenkapitals und, nach Division durch die Zahl ausstehender Aktien, der Wert je Aktie. Beispiel€11.8: Bewertung von Konglomeraten╇ Die HighTex AG, ein führender deutscher Technologiekonzern, ist in fünf verschiedenen Geschäftsbereichen tätig. Aus der Segmentberichterstattung des Geschäftsberichts können wir folgende Angaben entnehmen: Mio.€€ Telekommunikation Energieerzeugung Medizintechnik Maschinenbau Verkehrstechnik Konsolidierung Overhead Konzern
Umsatz 1.525,0 1.499,0 1.188,0 1.085,0 652,0 −â•›99,0 0,0 5.850,0
EBIT 188,0 223,0 245,0 135,0 55,0 0,0 −â•›92,0 754,0
EBIT-Marge (%) 12,3 14,9 20,6 12,4 8,4
12,9
Zunächst berechnen wir das Beta für HighTex. Über die für jeden Geschäftsbereich ausgewählten Vergleichsunternehmen ermitteln wir ein durchschnittliches unlevered Beta, das wir mit den anteiligen operativen Ergebnissen von HighTech gewichten. Damit ergibt sich ein unlevered Beta für den Konzern in Höhe von 1,07: Telekommunikation Energieerzeugung Medizintechnik Maschinenbau Verkehrstechnik Konzern
EBIT (Mio.€€)
Anteil (%)
β U
β U gewichtet
188,0 223,0 245,0 135,0 55,0 846,0
22,2 26,4 29,0 16,0 6,5 100,0
1,22 1,03 1,05 0,94 1,11
0,27 0,27 0,30 0,15 0,07 1,07
Aus diesem berechnen wir nun das levered Beta für den Konzern. Die Konzernsteuerquote liegt bei 33,0€%, die Marktkapitalisierung bei 5.600,0€Mio.€€, der Marktwert des verzinslichen Fremdkapitals bei 1.250,0€ Mio.€ €, zudem bestehen operative Leasingverpflichtungen mit einem Marktwert von 280,0€Mio.€€. Damit ergibt sich ein levered Beta von 1,26:
ß L = ßU 1 + (1 − τ )
Debt 1.250,0 + 280,0 = 1,07 1 + (1 − 0,33) = 1,26. EK 5.600,0
418
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
Vor der Berechnung der WACC ist es erforderlich, eine konzernweite Risikoprämie zu ermitteln. Diese ergibt sich als Mittelwert der in den einzelnen Regionen angesetzten Risikoprämien. Als Gewichtungsfaktor wählen wir hierzu die quotalen Konzernumsätze:
Europa USA APA Sonstige Konzern Gewichtete Risikoprämie
Umsatz (Mio.€€)
Anteil (%)
rP (%)
2.750,0 1.580,0 980,0 540,0 5.850,0
47,0 27,0 16,8 9,2 100,0
5,5 5,5 7,0 8,5
rP gewichtet (%) 2,6 1,5 1,2 0,8 6,0
Wir errechnen also eine gewichtete Risikoprämie in Höhe von 6,0€%. Zehnjährige Staatsanleihen verzinsen aktuell bei 3,5€%. Damit ergeben sich Eigenkapitalkosten von rEK = rf + rP = 0,035 + 1,26 · 0,06 = 0,111 = 11,1 %.
Das letzte Rating von HighTex war A-, was einem Default-Spread von 2,0€% entspricht. Die Fremdkapitalkosten vor Steuern liegen damit bei rDebt = rf + CDS = 0,035 + 0,02 = 0,055 = 5,5 %.
Damit ergeben sich für HighTex durchschnittliche gewichtete Kapitalkosten in Höhe von WACC = 0,111
1.250,0 + 280,0 5.600,0 + 0,055 (1 − 0,33) = 0,095 = 9,5 %. 7.130,0 7.130,0
Aus dem Buchwert des Eigenkapitals von 2.375,0€Mio.€€, des Fremdkapitals von 1.280,0€Mio.€€ und des Kassenbestands von 350,0€Mio.€€ (alle Angaben zur Vorperiode) ergibt sich eine Rendite auf das eingesetzte Kapital ROCE von ROCE =
846,0(1 − 0,33) = 0,172 = 17,2 %. 2.375,0 + 1.280,0 − 350,0
Aus den gesamten Investitionen von 480,0€Mio.€€, den Abschreibungen von 290,0€Mio.€€ und dem Aufbau an Working Capital von 66,0€Mio.€€ ergibt sich eine Investitionsquote ε von ε=
480,0 − 290,0 + 66,0 = 0,452 = 45,2 %. 846,0(1 − 0,33)
11.5â•… Der Sum of the Parts-Ansatz bei der Bewertung von Konglomeraten
419
Die erwartete endogene Wachstumsrate g von HighTex liegt damit bei g = 0,172 · 0,452 = 0,077 = 7,7 %.
Mithilfe dieser Wachstumsrate errechnen wir das operative Ergebnis EBIT der folgenden fünf Jahre, in denen wir eine überdurchschnittliche Wachstumsphase vermuten. Die Investitionen berechnen wir anhand der bekannten Formel, die daraus abgeleiteten FCFF werden mit den gewichteten Kapitalkosten diskontiert: Mio.€€ EBIT(1â•›−â•›τ) Investitionen FCFF Barwert FCFF
tâ•› + â•›1 602,0 −╛╛257,9 344,1 316,7
tâ•› + â•›2 639,3 −╛╛273,9 365,4 309,5
tâ•› + â•›3 678,9 −╛╛290,9 388,0 302,5
tâ•› + â•›4 721,0 −╛╛308,9 412,1 295,7
tâ•› + â•›5 765,7 −╛╛328,0 437,7 289,0
Die Summe der Barwerte der FCFF im Zeitraum tâ•›+â•›1 bis tâ•›+â•›5 ergibt 1.513,5€ Mio.€€. Nach Beendigung der Wachstumsphase tritt das Unternehmen in den Steady State-Zustand ein. Die vom Management avisierte Zielkapitalstruktur liegt bei 50:50, für den Steady State wird ein Beta von 1,1 veranschlagt. Unter sonst gleichbleibenden Bedingungen ergibt sich für den Terminal Value WACCTV ein Wert von WACCTV = 0,101 · 0,5 + 0,055 · 0,5(1 − 0,33) = 0,074 = 6,9 %
ergeben. Die ROCETV werden auf 8,0 geschätzt, das Unternehmenswachstum auf 3,0€%. Damit ergibt sich eine stabile Investitionsquote ε für den Terminal Value von ε=
gTV 0,03 = 0,375 = 37,5 %. = ROCETV 0,08
Der Wert des Terminal Value gegen Ende der Periode tâ•›+â•›5 beläuft sich damit auf EBITt+5 (1 − τ )(1 + gTV )(1 − εTV ) WACCTV − gTV 765,7(1 + 0,03)(1 − 0,375) = 12.612,9. = 0,069 − 0,03
TV5 =
Diskontiert auf den Zeitpunkt t ergibt sich ein Barwert des Terminal Value TV0 von TV0 =
TVt+5 11.192,8 = = 9.031,6. (1 + WACCTV )5 (1 + 0,069)5
420
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
Der gesamte Enterprise Value von HighTex beläuft sich damit auf 1.513,5 + 9.031,6 = 10.545,1.
Abzüglich der Nettoverschuldung und des Marktwertes der Leasingverpflichtungen ergibt sich ein Wert des Eigenkapitals von V0 = 10.545,1 − 1.250,0 − 280,0 + 372,0 = 9.387,1.
Verglichen mit der aktuellen Marktkapitalisierung von 5.600,0 ergibt sich ein Kurspotenzial für die Aktie in Höhe von 67,6€%. Die Aktie ist damit deutlich unterbewertet. Bei einer Gesamtbewertung eines Konglomerats würden die unterschiedlichen Chance-Risiko-Profile der einzelnen Geschäftsbereiche unberücksichtigt bleiben. Je heterogener die Konzernstruktur ist, je geringer die Beziehung zwischen den einzelnen Geschäftsbereichen und je unterschiedlicher die Risiken der einzelnen Konzernteile sind, desto unpräziser ist das Ergebnis einer Gesamtbewertung des Unternehmens. Als Ausweg bietet sich das Sum of the Parts-Verfahren an. Hierbei werden die Aktiva des Unternehmens separat bewertet und dann die Einzelwerte aufaddiert. Infolgedessen kommt das Sum of the Parts-Verfahren bevorzugt in Konglomeraten zum Einsatz, deren einzelne Geschäftsbereiche sich in punkto Ertragslage, Ertragsentwicklung und Risiko signifikant unterscheiden. Ein entscheidender Nachteil des Sum of the Parts-Ansatzes ist es, dass nicht alle Kapitalmarktteilnehmer die eigene Bewertungsmethodik kennen – bzw. selbst wenn sie sie kennen – auch unterstützen würden. Im Gegenteil, finden sich kaum zwei gleich lautende Sum of the Parts-Ansätze zu ein und demselben Unternehmen. In der Praxis werden häufig Konglomeratsabschläge erhoben. In welcher Höhe diese bei einer Holding oder einem diversifizierten Unternehmen anzusetzen sind, ist a priori schwer zu beantworten, gibt es doch eine große Diskrepanz zwischen den am Kapitalmarkt als „fair“ eingestuften Holdingabschlägen. Zum einen gibt es nur spärliche empirische Studien, zum anderen können mehrere Gründe für Zuoder Abschläge gleichzeitig auftreten und sich gegenseitig verstärken. In einigen Studien wurde das Verhältnis aus Marktwert und Ersatzkosten, das so genannte Tobins Q, von Konglomeraten und Pure Plays miteinander verglichen. Danach würden diversifizierte Unternehmen mit einem etwa 8€%igen Abschlag gegenüber spezialisierten Vergleichsunternehmen bewertet15. Sind derartige Abschläge gerechtfertig? Andere Frage: Gibt es überhaupt noch Pure Plays? Ist nicht die Reinheit der geschäftlichen Ausrichtung grundsätzlich einer Aufweichung in verschiedene Geschäftsfelder gewichen, so dass allenfalls die Frage zu beantworten wäre, in welchem Ausmaß eine Diversifizierung vorliegt? 15╇
Vgl. Zum Beispiel: Berger und Ofek (1995).
11.6â•… Auswirkung der Globalisierung auf die Unternehmensbewertung
421
Während bis in die 1970er Jahre hinein der Wunsch nach Risikostreuung im Vordergrund der Diversifizierung stand, waren es in den 1980er und 1990er Jahren Portfoliooptimierungsüberlegungen, die bei der Übernahme von schwach performenden Unternehmen im Vordergrund standen. Ein Trend, der auch heute noch beobachtet werden kann, vor allem wenn Unternehmen in die Reifephase eintreten. Die Erfahrung zeigt, dass Unternehmen höchstens so lange in ihrem ursprünglichen Geschäftsbereich verhaftet bleiben, wie sich ihnen dort neue Investitionschancen bieten. Trocknen diese im Zeitablauf aus, trifft die Gesellschaft irgendwann auf ihren Sättigungspunkt und muss sich entscheiden, ob man sich damit abfindet, ein reifes Unternehmen mit unbefriedigenden Wachstumschancen zu sein, oder ob eine Strategie der vertikalen und horizontalen Differenzierung verfolgt werden soll.
11.6 A uswirkung der Globalisierung auf die Unternehmensbewertung Wohl kaum ein Thema wurde in den letzten Jahren so kontrovers diskutiert wie die Globalisierung. Wie schlägt sich die Globalisierung in der Bewertung von Unternehmen nieder? Sind Unternehmen mit großem internationalem Footprint anders zu bewerten als ausschließlich auf dem Heimatmarkt tätige? Sind Geschäftstätigkeiten in Industrieländern anders einzustufen als in weniger entwickelten Ländern? Was im Extremfall die Frage aufwirft, ob Unternehmen anders zu bewerten sind, die den Schwerpunkt ihrer Geschäftstätigkeit in Schwellen- oder Entwicklungsländern haben? Die Bewertung von Unternehmen, die nicht nur ein Produkt, sondern viele Produkte herstellen und über Sum of the Parts-Verfahren zu bewerten sind, wurde im vorangegangenen Kapitel umfänglich erklärt. Nun soll ein Schritt weitergegangen und ein Unternehmen analysiert werden, das verschiedene Produkte in verschiedenen Ländern herstellt und vertreibt. Unternehmen, die ausschließlich in einem Markt tätig sind, sind nur einem Landesrisiko, einer Risikoprämie und einem risikolosen Zinssatz ausgesetzt, man muss nur eine Investitionsquote berechnen, einen Cashflow und eine Wachstumsrate der Cashflows. Bei Unternehmen, die in verschiedenen Märkten tätig sind, steigt die Komplexität der geforderten Datenmenge mit jedem Geschäftsbereich an. Ist das Unternehmen mit mehreren Geschäftsfeldern in mehreren Ländern tätig, wird die Bewertung rasch unüberschaubar. Die Komplexität der Unternehmensbewertung gewinnt eine zusätzliche Dimension, und ein Unternehmen, das mit fünf Produktgruppen in 30 Ländern tätig ist, würde über eine Sum of the Parts-Bewertung mit 150 einzelnen Cashflow-Strömen zu bewerten sein. Dass dies schnell unübersichtlich werden und im praktischen Einsatz undurchführbar sein kann, ist einsichtig. In der Praxis der Unternehmensbewertung ist daher pragmatisch vorzugehen, denn würde ein Unternehmen aus 150 Cashflow-Strömen bestehen, so wäre der Beitrag eines einzelnen Cashflow-Stromes dermaßen gering, dass es sinnvoll sein kann, gleich das Unternehmen als Ganzes zu
422
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
bewerten, anstatt sich die Arbeit einer Detailanalyse zu machen. Allerdings bleibt ein fader Beigeschmack übrig und zudem die Frage unbeantwortet, wie die verschiedenen Risiken, Cashflows und Wachstumscharakteristika von Multinationals oder Global Playern eigentlich in den Griff zu bekommen sind. Der nach der Lektüre von mehreren hundert Seiten dieses Buches mittlerweile geschulte Leser wird der These zustimmen, dass Unternehmen, deren Präsenz in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich hoch ist, unterschiedlich zu bewerten sind. Ein Unternehmen, das 50€% seiner Umsätze in Lateinamerika erwirtschaftet, sollte anders bewertet werden als ein Unternehmen, das den Schwerpunkt seiner Geschäftstätigkeit in der Euro-Zone hat. Es kann sogar naheliegend sein, ein Pharmaunternehmen, das die Hälfte seiner Erlöse in Südamerika erwirtschaftet, allein mit südamerikanischen Pharmaunternehmen als Referenzunternehmen zu vergleichen, mindestens jedoch in dem Ausmaß, in dem das zu bewertende Unternehmen in diesen Ländern tatsächlich den jeweiligen Länderrisiken ausgesetzt ist. Allerdings kann ein Unternehmen auch dann länderspezifischen Risiken ausgesetzt sein, wenn es in dem bestimmten Land keine oder nur geringe Umsätze erwirtschaftet, sondern dort Produktionsstätten unterhält. Ein Beispiel hierfür ist SKW Stahl-Metallurgie, das eine Produktionsstätte für Kalziumsilizium im asiatischen Königreich Bhutan aufgebaut hat. Würde es in diesem Land politische Unruhen, Erdbeben oder andere Naturkatastrophen geben, kämen auf das Unternehmen substanzielle Abschreibungspotenziale und Ertragsrisiken zu, die umso größer sind, je weniger das Unternehmen in der Lage ist, seine Geschäftstätigkeit im Notfall in andere Länder zu verlagern. Im Grunde genommen gibt es nur wenige Unternehmen, die ausschließlich auf den Heimatmarkt fixiert sind. Selbst Telekommunikationsdienstleister wie die Deutsche Telekom AG oder Postdienstleister wie die Deutsche Post AG generieren, anders als dies ihre Namensgebung vermuten ließe, ihre Erlöse nicht mehr ausschließlich in Deutschland, sondern haben sich – meist durch diverse Zukäufe – substantielle Standbeine im Ausland geschaffen. Nur sehr wenige, meist kleine Gesellschaften erzielen ihre Erlöse noch ausschließlich im Inland – zu nennen wären insbesondere Einzelhandelsunternehmen wie die Ludwig Beck AG, die noch nicht einmal deutschlandweit tätig ist, sondern ausschließlich im Münchener Raum. Eine Methode, anhand derer die im Ausland und im Inland erwirtschafteten Erträge bewertet werden können, dürfte also für den Großteil der börsennotierten Gesellschaften relevant sein. Dabei macht es einen entscheidenden Unterschied, in welchen Ländern ein global tätiges Unternehmen vertreten ist. Die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich sind wesentlich geringer als die zwischen Deutschland und den USA, wo immerhin eine Währungskomponente mit ins Spiel kommt, die wiederum geringer sind als zwischen Deutschland und einem afrikanischen Entwicklungsland, wo sich neben der Währungskomponente auch das ökonomische Gesamtbild ändert und schließlich auch eine Einschätzung der Stabilität der Wirtschaftsordnung vorgenommen werden muss. Cashflows, die in Entwicklungsländern erwirtschaftet werden, unterliegen einem deutlich größeren unternehmerischen Risiko als Cashflows, die innerhalb der Eurozone oder auf dem nordamerikanischen Kontinent ge-
11.6â•… Auswirkung der Globalisierung auf die Unternehmensbewertung
423
neriert werden. Auch die Inflationsrate hat Auswirkungen auf den Unternehmenswert: Denn dass nicht kurzerhand der Diskontierungssatz der Eurozone für alle Cashflows im Konzern angesetzt werden kann, wird unmittelbar einsichtig, wenn es um die Diskontierung von Cashflows aus Entwicklungsländern, zum Beispiel aus Südamerika, geht: Hier würde eine tendenziell zu niedrige Inflationsrate in den Diskontierungssatz eingearbeitet werden, um Cashflows zu diskontieren, die einer hohen Inflationsrate ausgesetzt sind: ein klarer Fall der Überbewertung des Unternehmens. Aber auch der gegenteilige Fall ist an den Kapitalmärkten zu beobachten: Wenn bei der Bewertung von Cashflows aus Entwicklungsländern höhere risikolose Zinssätze (die das länderspezifische Ausfallrisiko widerspiegeln sollen), höhere Risikoprämien (um sich von reifen Industrieländern abzuheben) und ein pauschaler Abschlag auf die erwarteten Cashflows angesetzt werden, handelt es sich nicht nur um eine Doppelzählung des Risikos, sondern sogar um eine Dreifachzählung. Auch die Frage, in welcher Währung eine Unternehmensbewertung zu erfolgen hat, ist bei einem multinationalen Konzern nicht von vorneherein eindeutig festgelegt. Währungen in Entwicklungsländern sind volatiler als in den führenden Industrieländern, auch wenn die Anbindung mancher Währungen an den US-Dollar oder den Euro Stabilität vorspiegeln mag. Unternehmen, die in verschiedenen Währungsräumen tätig sind, erwirtschaften notwendigerweise Cashflows, die von der Heimatwährung abweichen. Aus pragmatischen Gründen erfolgt die Bewertung der Ertragsströme in der jeweiligen Landeswährung mit den landesspezifischen Diskontierungssätzen. Abschließend erfolgt die Umrechnung der Werte in die Währung, in der die Aktie notiert ist. Länderspezifische Risiken sollten in extra länderspezifischen Risikoprämien widergespiegelt werden. Besonderheiten aus der Bewertung ausländischer Tochtergesellschaften ergeben sich insbesondere aus eventuellen politischen und wirtschaftlichen Risiken und aus anderen Rechts- und Wirtschaftsordnungen. Weitere länderspezifische Risiken entstehen aus der demographischen Stabilität eines Landes. Abwertungsrisiken fallen dagegen nicht unter diese Kategorie, weil zum Beispiel exportorientierte Rohstoffproduzenten von einer schwächeren Heimatwährung profitieren würden; für sie eine extra Risikoprämie anzulegen würden das Risiko über- und den Unternehmenswert unterschätzen. Länderspezifische Risikoprämien basieren auf dem jeweiligen Länder-Rating und dem Anleihen-Spread gegenüber deutschen Bundesanleihen. Darüber hinaus sollte die Länderprämie auch ein Maß dafür sein, wie volatil sich der Aktienindex gegenüber dem jeweiligen Anleihenmarkt verhält16. Hierfür sollen die Standardabweichungen des jeweiligen Aktienindizes σAktienindex mit den zehnjährigen Staatsanleihen des Landes σStaatsanleihen verglichen werden. Die landespezifische Risikoprämie rP,Land errechnet sich dann über folgenden Zusammenhang:
16╇
rp,Land = (rf ,Land −rf ,Deutschland )
Vgl. Damodaran (2001, S.€67).
σAktienindex,Land σStaatsanleihen,Land
(11.8)
424
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
Beispiel€11.9: Berechnung der landespezifischen Risikoprämie╇ Im Zuge der Finanzmarktkrise wird das Rating eines Mittelmeerstaates von der Ratingagentur Standard & Poor’s mit BBâ•›+/B auf einen Junk-Status herabgestuft. Zehnjährige Staatsanleihen des Landes rentieren nunmehr bei 8,0€%, deutsche bei 2,8€%. Der Default-Spread gegenüber Deutschland beläuft sich damit auf 5,2€ %. Die Standardabweichung des Aktienindizes des Landes (basierend auf wöchentlichen Renditen, gemessen über einen Zeitraum von zwei Jahren) beträgt 18,0€%, die des Anleihenmarktes 11,0€%. Damit ergibt sich eine Länderprämie von rp,Land = (rf ,Land −rf ,GER )
σAktienindex 0,18 = 0,052 = 0,085 = 8,5 %. σStaatsanleihen 0,11
Diese Länderprämie ist nun zur impliziten Risikoprämie Deutschlands hinzuzurechnen, die Ende 2010 bei etwa 3,0€% lag. Die bisweilen vertretene Aussage, dass länderspezifische Risiken nicht in die Berechnung der Diskontierungssätze mit aufzunehmen sind, weil aus der Perspektive eines global tätigen Investors nur das systematische Risiko zählt und länderspezifische Risiken unkorreliert mit den weltweiten Marktschwankungen sein müssen, würde bedeuten, dass die erwartete Eigenkapitalrendite an ein diversifiziertes äthiopisches Aktienportefeuille genauso hoch zu sein hat wie an ein diversifiziertes deutsches Portefeuille. Kein Wunder also, dass Mitarbeiter des Institutional Sales vermutlich aller Investmentbanken der Welt unmittelbar nach Ausbruch einer xbeliebigen Krise reflexartig bei ihrem Head of Research vorstellig werden und sich bei ihm nach denjenigen Unternehmen erkundigen, die das jeweils höchste prozentuale Umsatz- und Ertragsexposure in einer jeweiligen Krisenregion aufweisen. Aber nicht nur aus der Übertragung der Cashflows sind bestimmte Risiken zu ermitteln, auch bei der Ermittlung der zu ihrer Diskontierung verwendeten Zinssätze. Denn wenn die Krise um Island und die PIIGS-Staaten 2010 etwas Gutes hatte, dann zu zeigen, dass es in vielen Staaten risikolose Zinssätze nicht mehr uneingeschränkt gibt17. Auch Staaten, und zwar nicht mehr nur kleine, politisch unstabile Entwicklungsländer, können insolvent gehen, sondern überraschenderweise auch Länder der Eurozone. Wie hoch die verwendeten Zinssätze für die Komponente rf letzten Endes sind, wird von Ratingagenturen ermittelt und in Tabellen über die wahrscheinlichen Ausfallrisiken veröffentlicht. Nachstehend eine Liste der zehnjährigen Credit Default Swaps (CDS), die eine Indikation für länderspezifische Risikoprämien abgeben. CDS bezeichnen die jährlichen Versicherungsprämien, die für eine Versicherung gegen das Risiko zu zahlen sind, dass das entsprechende Land zahlungsunfähig wird. CDS werden in Basispunkten angegeben. Ein Lesebeispiel: Die für eine Versicherung einer zehnjährigen italienischen Staatsanleihe zu bezahlende CDS-Prämie liegt bei 226; eine Versicherung über 100€Mio.€€ gegen die 17╇
Vgl. Damodaran (2010).
11.6â•… Auswirkung der Globalisierung auf die Unternehmensbewertung
425
Zahlungsunfähigkeit von Italien kostet 100€Mio.€€ multipliziert mit 0,00226, also 226.000€€ pro Jahr. Über die gesamte Laufzeit der zehnjährigen Anleihe beläuft sich die Versicherungsprämie damit auf 2,26€Mio.€€. Aus diesen Prämien kann abgeleitet werden, wie hoch die Wahrscheinlichkeit angesehen wird, dass das Land zahlungsunfähig wird (PD, Probability of Default) und ein Staatsbankrott eintritt. Damit ist auch einsichtig, dass es einen Unterschied gibt zwischen den Zinssätzen, die von Staatsanleihen der jeweiligen Länder gezahlt werden, und den risikolosen Zinssätzen in diesen Ländern. Diese beiden Zinsen dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Eine Staatsanleihe enthält in ihrer Verzinsung immer auch das jeweilige Ausfallrisiko des Landes. Ein Teil der Verzinsung ist also diesem Ausfallrisiko geschuldet. In die Bewertung der Cashflows eines in Russland tätigen Unternehmens darf dieses genau genommen nicht enthalten sein, da es sonst zu einer Doppelzählung kommen würde18. Um herauszufinden, wie hoch der Anteil des Ausfallrisikos einer russischen, in Rubel gehandelten Staatsanleihe ist, ist lediglich der für das russische Länder-Rating (hier BBB) angemessene Default Spread von der Verzinsung der Staatsanleihe zu subtrahieren, also
rf ,Land = rStaatsanleihe,Land −CDSLand .
(11.9)
Beispiel€ 11.10: Berechnung des risikolosen Zinssatzes╇ Eine russische Staatsanleihe, die bei 9,75€% rentiert, enthält in dieser Verzinsung das Ausfallrisiko einer BBB-Anleihe. Aus Tab.€ 11.1 ist ersichtlich, dass der Credit Default Spread einer russischen Staatsanleihe mit BBB-Rating bei 214 Basispunkten liegt. Damit ergibt sich für die risikolose Verzinsung Russlands ein Wert von rf ,RUS = rStaatsanleihe,RUS −CDSRUS = 9,75 % − 2,14 % = 7,61 %.
Die Verwendung der Rendite russischer Staatsanleihen als risikolosen Zinssatz in einer Unternehmensbewertung würde also eine systematische Unterschätzung des Unternehmenswertes mit sich bringen. Aus Tab.€11.1 wird ersichtlich, dass streng genommen auch für Deutschland ein CDS in Rechnung gestellt werden muss. Liegt die Verzinsung einer zehnjährigen Staatsanleihe bei 3,35€ %, dann ergibt sich unter Verwendung des Credit Default Spreads von 53 Basispunkten für den risikolosen Zinssatz ein Wert von: rf ,GER = rStaatsanleihe,GER −CDSGER = 3,35 % − 0,53 % = 2,82 %.
18╇
Vgl. Damodaran (2008a, S.€23€f.).
426
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
Tab. 11.1↜渀 Credit Default Swaps für zehnjährige Staatsanleihen Thomson Financial Datastream (Juni 2010)) Land CDS PD (%) Rating Land Venezuela 1.287 94,9 BB− Mexiko Argentinien 1.142 92,5 B− Thailand Griechenland 672 76,4 Tschechien BB+ Ukraine 633 74,2 Estland CCC+ Lettland 410 57,5 BB− Israel Rumänien 391 55,7 Belgien BB+ Ungarn 386 55,2 BBB− Slowakei Bulgarien 338 50,3 BBB Chile Kroatien 326 49,0 BBB Japan Portugal 318 48,2 A− Slowenien Litauen 310 47,3 BBB Österreich Island 304 46,6 BBB− China Irland 257 41,0 AA Frankreich Spanien 251 40,3 AA Großbritannien Italien 226 37,0 BBB− Neuseeland Uruguay 220 36,2 BB− Australien Türkei 216 35,7 BB− Schweiz Russland 214 35,4 BBB Niederlande Südafrika 206 34,3 Dänemark BBB+ Philippinen 204 34,1 BB− Deutschland Polen 193 32,5 A− Schweden Kolumbien 190 32,1 USA BB+ Brasilien 170 29,2 BBB− Finnland Korea 170 29,2 A Norwegen
ausgewählter Länder. (Quelle: CDS 165 156 142 142 137 133 131 126 121 115 115 112 101 97 73 67 66 61 55 53 51 49 39 34
PD (%) 28,5 27,2 25,0 25,0 24,3 23,6 23,3 22,5 21,7 20,8 20,8 20,3 18,5 17,8 13,7 12,6 12,4 11,6 10,5 10,1 9,7 9,4 7,5 6,6
Rating BBB BBB+ A A+ A AA+ A+ A+ AA AA AAA A+ AAA AAA AA+ AAA AAA AAA AAA AAA AAA AAA AAA AAA
Aus den Renditen für die jeweiligen Staatsanleihen und den landesspezifischen Risikoprämien ergeben sich die landesspezifischen Kosten des verzinslichen Fremdkapitals. Je nach Herkunft der Wertschöpfung und Risikostruktur der generierten Cashflows können diese also völlig unterschiedliche Werte annehmen. In Verbindung mit den landesspezifischen Verschuldungsquoten, die zugegebenermaßen von den Gesellschaften nur sehr selten und hoch granular veröffentlicht werden, können dann die durchschnittlichen gewichteten Kapitalkosten eines Marktes berechnet werden. Wie gezeigt wurde, ist in jedem Fall die Konsistenz zwischen den Währungen des Unternehmens und den Diskontierungssätzen sicherzustellen. Wird ein russisches Unternehmen in Euro bewertet, muss auch der Diskontierungssatz aus dem Euro abgeleitet werden, also beispielsweise basierend auf dem risikolosen Zins einer zehnjährigen Staatsanleihe. Da üblicherweise viele Staaten zehnjährige EuroAnleihen begeben haben, sollte diejenige mit der geringsten Nominalverzinsung angesetzt werden, da davon auszugehen ist, dass diese dem Konzept „risikolos“ am nächsten kommt. Wird das russische Unternehmen dagegen in Rubel bewertet, sollte auch der Diskontierungssatz aus einer auf Rubel basierenden „risikolosen“ Staatsanleihe abgeleitet werden. Während die Betafaktoren von der Internationalisierung eines Unternehmens unbeeinflusst bleiben betrifft ein dieses Kapitel abschließendes Problemfeld die zu
11.7â•… Die Bewertung von Markenunternehmen
427
verwendenden Steuerquote von Unternehmen, welche einen Großteil ihrer Erträge in ausländischen Steuerregimen erwirtschaften. Von den meisten Praktikern wird eine durchschnittliche Steuerquote propagiert, bei der die Gewichtungsfaktoren in Abhängigkeit von den im jeweiligen Land erwirtschafteten Vorsteuerergebnissen gewählt werden. Allerdings werden Erträge früher oder später in das Land zurückgeführt, in dem das Unternehmen seinen Firmensitz hat. Weist dieses Land einen höheren Steuersatz auf als die übrigen Länder, in denen das Unternehmen präsent ist, würde die Verwendung durchschnittlicher Steuersätze eine tendenziell zu niedrige Steuerquote zur Folge haben. Daher sollte unterschieden werden: • Liegt der Grenzsteuersatz des Landes, in dem das Unternehmen seinen Firmensitz hat, über dem Durchschnittswert der anderen Länder, sollte der Grenzsteuersatz des Heimatlandes auch für den Gesamtkonzern angewendet werden; • Liegt der Grenzsteuersatz des Landes, in dem das Unternehmen seinen Firmensitz hat, unter dem Durchschnittswert der anderen Länder, ist der mit den jeweiligen Vorsteuerergebnissen gewichtete, durchschnittliche Grenzsteuersatz relevant für den Gesamtkonzern.
11.7 Die Bewertung von Markenunternehmen Vergleichbar einem forschungsintensiven Unternehmen werden auch Markenunternehmen von den buchhalterischen Gegebenheiten benachteiligt. Das Marketingbudget stellt bei ihnen einen beträchtlichen Kostenfaktor dar, der unmittelbar im Jahr ihrer Entstehung als Aufwand verbucht werden muss, obwohl es zumindest in Teilen zur Schaffung langfristiger Werte geeignet ist. Bei Markentiteln besteht die langfristige Wertschöpfung unter anderem in der Fähigkeit, einen höheren Preis für ein vergleichbares Produkt durchzusetzen, als dies einem No-Name-Anbieter möglich wäre. Die sofortige „Verkostung“ der Marketingaufwendungen in der Gewinnund Verlustrechnung belastet also die operative Lage von Markenunternehmen, obwohl diese einen kapitalisierungsfähigen Tatbestand darstellen, der die Ertragslage nur langfristig – nämlich über die Abschreibungen – belasten sollte. Zumindest ein Teil des Marketingbudgets sollte daher nicht als Aufwand behandelt werden. Für eine sorgfältige Behandlung von Marketingaufwendungen sind a priori vier Entscheidungen zu fällen: • Handelt es sich tatsächlich um Aufwendungen, die den Unternehmenswert langfristig steigern? Marketingaufwendungen entfalten ihre Wirkung in der Regel recht kurzfristig. Nur wenn es sich um ein echtes Markenunternehmen handelt – zum Beispiel Sony, Apple oder auch Google –, deren Preispunkte und Marktstellung zum wesentlichen Teil von der Marketingstrategie geprägt werden, kann es überhaupt gegeben sein, Marketingaufwendungen zu kapitalisieren. • Wurde die erste Frage mit Ja beantwortet, ist als zweiter Schritt der Zeitraum zu definieren, über den das operative Ergebnis von den Marketingaufwendungen begünstigt wird. • Anschließend ist in einem dritten Schritt die Höhe des Vermögenswertes zu schätzen, der durch die Marketingausgaben geschaffen wurde.
428
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
• Abschließend ist viertens das operative Ergebnis um die Marketingaufwendungen und die aus der Kapitalisierung entstandenen Abschreibungen zu korrigieren.
Beispiel€ 11.11: Bewertung von Markenunternehmen╇ Ein global tätiger Luxusgüteranbieter investiert im Durchschnitt 12,0€ % seiner Umsätze in Werbung und PR. Wir unterstellen, dass die Hälfte davon für den Aufbau und die Pflege des Markennamens verantwortlich ist. In nachstehender Tabelle haben wir diesen Teil der Marketingaufwendungen für die vergangenen zehn Jahre abgetragen. Wir nehmen an, dass dies auch dem durchschnittlichen Abschreibungszeitraum der Marketingaufwendungen entspricht (zu beachten ist in unten stehender Tabelle, dass die Abschreibungen des jeweiligen Jahres abhängig sind von der Höhe der kapitalisierten Marketingaufwendungen zu Ende des Vorjahres). Mio.€€ Marketingaufwand Marketingaufwand kumuliert ╅╇ (1) Abschreibungen Abschreibungen Abschreibungen Abschreibungen Abschreibungen Abschreibungen Abschreibungen Abschreibungen Summe Abschreibungen kumuliert (2) Marketing-Kapitalisierung [ = â•›(1)-(2)]
t╛╛−╛╛8 t╛╛−╛╛7 t╛╛−╛╛6 t╛╛−╛╛5 t╛╛−╛╛4 t╛╛−╛╛3 t╛╛−╛╛2 t╛╛−╛╛1 t 100,0 105,0 111,0 120,0 130,0 142,0 158,0 159,0 162,0 100,0 205,0 316,0 436,0 566,0 708,0 866,0 1.025,0 1.187,0 10,0
10,5 10,5
11,1 11,1 11,1
14,2 14,2 14,2 14,2 14,2 14,2
15,8 15,8 15,8 15,8 15,8 15,8 15,8
10,0 10,0
21,0 31,0
33,3 48,0 65,0 85,2 64,3 112,3 177,3 262,5
110,6 373,1
15,9 15,9 15,9 15,9 15,9 15,9 15,9 15,9 127,2 500,3
100,0 195,0 285,0 371,7 453,7 530,7 603,5
651,9
686,7
0,0 0,0
12,0 12,0 12,0 12,0
13,0 13,0 13,0 13,0 13,0
Nehmen wir an, das operative Ergebnis EBIT des Jahres t beliefe sich auf 140,0€Mio.€€, so erhöht sich dieses durch die Aktivierung der Aufwendungen zur Pflege des Markennamens und die periodengerechte Abschreibung auf EBITadj = EBIT + Mktg − DepMktg = 140,0 + 162,0 − 127,2 = 174,8.
Das um die Marketingaufwendungen adjustierte EBIT ist mithin um 24,9€ % höher als der nicht adjustierte Wert, eine nicht unbeträchtliche Größenordnung. Kritisch an dieser Vorgehensweise dürfte die Wahl des Abschreibungszeitraums sein: In der Realität ist der Aufbau von Markennamen ein überaus langwieriges, womöglich Jahrzehnte dauerndes Unterfangen, so dass ein
11.7â•… Die Bewertung von Markenunternehmen
429
Abschreibungszeitraum von zehn Jahren – wie in unserem Beispiel – zu kurz sein könnte. Bei längerfristigen Abschreibungszeiträumen ist zudem zu erwägen, ob eine Inflationsbereinigung sinnvoll sein könnte. Somit kann die Kapitalisierung der Marketingaufwendungen tiefgreifende Effekte auf die Ertragslage des Unternehmens haben. Aber nicht nur sie, natürlich ist auch die Kapitalbasis des Unternehmens höher als im nicht adjustierten Fall. Im oben genannten Beispiel€11.11 steigt sie um 686,7€Mio.€€ an. Auch die Investitionsquote muss adjustiert werden, denn kapitalisierte Marketingaufwendungen sind wie Investitionen zu behandeln. Und schließlich verändert sich die endogene Wachstumsrate des Unternehmens, die sich aus der Investitionsquote und der Kapitalrendite berechnet, durch die Adjustierung: Während der Anstieg der Investitionsquote in jedem Fall einen wachstumssteigernden Effekt hat, sind die Auswirkungen der Adjustierung auf die Kapitalrendite prima vista unklar, sie können einen steigernden oder rückläufigen Effekt haben. Beispiel€11.12: Bewertung von Markenunternehmen╇ Wir analysieren die Auswirkungen der Kapitalisierung der Marketingaufwendungen auf die Profitabilität des Luxusgüteranbieters aus Beispiel€11.11. Vor der Kapitalisierung belief sich die Rendite auf das eingesetzte Kapital ROCE bei einem unterstellten Vermögen von 650,0€Mio.€€ und einem Grenzsteuersatz von 33,0€% auf ROCEt =
EBITt (1 − τ ) 140,0(1 − 0,33) = = 0,249 = 24,9 %. CEt−1 650,0
Nach der Kapitalisierung sinkt dieser Wert auf EBIT(1 − τ ) + Marketing − DepMarkteting CE+V0,Marktg 140,0(1 − 0,33) + 162,0 − 127,2 = = 0,096 = 9,6 %. 650,0 + 686,7
ROCEadj =
Die Kapitalisierung von Marketingaufwendungen hat in diesem Fall signifikante Auswirkungen auf die Rendite auf das eingesetzte Kapital. Der Freie Cashflow to Equity FCFE dagegen, aus dem die nicht liquiditätswirksamen Investitionen ebenso wie die liquiditätswirksamen Marketingaufwendungen bereits eliminiert worden sind, wird durch die Kapitalisierung der Marketingaufwendungen nicht beeinträchtigt.
430
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
11.8 Industriespezifische Multiplikatoren Die meisten Ratgeber zur Unternehmensbewertung fokussieren auf die Bewertung von reifen etablierten Unternehmen. In der Tat ist die Analyse von Unternehmen, die nur geringfügig von ihrem langfristigen Wachstumspfad abweichen, ein guter Einstieg in die Unternehmensbewertung. Das unangenehme Erwachen folgt dann in der rauen Wirklichkeit, wenn die für reife Unternehmen geltenden Spielregeln für eine Vielzahl anderer Unternehmen nicht angewendet werden können. Spätestens mit dem Aufkommen des Internets und der „New Economy“ begann für die in traditionellen Bewertungsmethoden geschulten Analysten und Investoren eine traumatische Zeit: Standen die Kapitalmärkte jahrzehntelang ausschließlich etablierten Unternehmen als Medium zur Kapitalbeschaffung offen, wurden plötzlich Unternehmen an die Börse gebracht, die kurz zuvor gegründet worden waren und von denen oft kaum mehr als eine veritable Geschäftsidee existierte19. Wie soll nur ein Unternehmen bewertet werden, das noch nicht einmal Umsätze generiert? Das nur auf einer Geschäftsidee basiert und in entfernter Zukunft den Break Even-Punkt möglicherweise überschreiten mag? Das keinen Buchwert hat? Dessen Finanzberichterstattung wenig darüber aussagt, welche Vermögenswerte den größten zukünftigen Wertbeitrag leisten sollen. Und für das es ausschließlich Vergleichswerte gibt, die ebenfalls keine Umsätze erwirtschaften und für die es ebenfalls keine aussagekräftigen Vervielfältiger gibt?20 Traditionelle Bewertungsverfahren wie EV/Umsatz oder KBV weisen Defizite auf, wenn sie für Peergroups angewendet werden, in denen profitable und unprofitable Unternehmen gleichermaßen enthalten sind. Es ist auch keine Lösung, wenn, wie dies von Praktikern regelmäßig getan wird, das unprofitable Unternehmen kurzerhand mit einem Profitabilitäts-Discount versehen wird, um eine Diskriminierung gegenüber den restlichen Referenzunternehmen durchzuführen: Der EV-Multiplikator eines unprofitablen Unternehmens multipliziert mit einem prozentualen Abschlag kann in keinem Fall mit dem Multiplikator eines profitablen Unternehmens verglichen werden. Wie also hätten Analysten und Investoren mit dieser für sie neuen Situation umgehen sollen? Hätten sie sagen sollen, diese Unternehmen sind nicht zu bewerten, einfach weil sie mit ihren herkömmlichen Bewertungsverfahren schnell am Ende waren, zumindest was die Berechnung von Kurszielen anbelangt? Unternehmen wurden mit Kursen gehandelt, die ein Vielfaches des ermittelten Kurszieles betrugen, und dennoch weiter anstiegen21. Viele fragten sich: „Bin ich zu pessimistisch in meinen Erwartungen oder habe ich etwas Wesentliches übersehen?“ Man darf nicht vergessen, dass noch 1990 die zehn in punkto Marktkapitalisierung schwersten Unternehmen der Welt bereits den größten Teil des 20. Jahrhunderts über existiert Vgl. Ip et€al. (2000). Vgl. auch Estrada (2000). 21╇ Nur vereinzelt wurden übrigens moderate Kursentwicklungen vorhergesehen; vgl. bereits: Cole et€al. (1996). 19╇ 20╇
11.8â•… Industriespezifische Multiplikatoren
431
haben. Zehn Jahre später wurde die Liste von Microsoft und Cisco angeführt und vier der zehn schwersten Unternehmen waren noch keine 25 Jahre alt. Dabei nimmt die Geschwindigkeit, mit der Unternehmen veralten, sogar noch zu: Microsoft, gegründet 1977, wird aufgrund einer verfehlten Onlinestrategie bereits vereinzelt als Dinosaurier des Internets22 betrachtet. Die, die nicht aufgegeben haben, schoben die Schuld für das Unvermögen, derartige Unternehmen zu bewerten, den Modellen zu und dachten sich kurzerhand neue aus. Aber nicht nur von Seiten der Analysten war Kreativität gefordert. Auch von den Investoren und nicht zuletzt von den Emittenten selbst wurden Kennzahlen gefordert, mit deren Hilfe Webportale oder transaktionsbasierte Internetgeschäftsmodelle in den Griff zu bekommen sind, wie also die zentralen Werttreiber des Unternehmens ermittelt werden können, die als Näherungsgröße für die zukünftig zu erwartenden Erträge herhalten können. Als Ausweg bieten sich Enterprise ValueMultiplikatoren an, die nicht auf Finanzkennzahlen wie Umsatz oder EBIT basieren, sondern auf nicht-finanziellen Bezugsgrößen, den so genannten Non-Financials23. Von besonderer Relevanz sind Non-Financials in abonnentenbasierten Geschäftsmodellen wie dem Bezahl- oder Kabelfernsehen, im Mobilfunk oder im Internet. Dort ist es üblich, den Wert eines einzelnen Abonnenten zu ermitteln, indem der Enterprise Value des Unternehmens durch die durchschnittliche Anzahl der Abonnenten einer Periode dividiert wird, also
EV0 EK0 + Debt0 −ExcessCash + MI0 +PR0 . = Abonnentent + Abonnentent−1 Abonnent 2
(11.10)
Die Kennzahl EV/Abonnent eines bestimmten Unternehmens wird dann mit dem Vervielfältiger eines anderen Unternehmens oder der ganzen Branche verglichen und eine relative Über- oder Unterbewertung des Unternehmens festgestellt. Der zugrunde liegende Gedanke ist es zu unterstellen, dass die Abonnenten untereinander sehr homogen sind, dass also zum Beispiel die Kündigungsraten der Abonnenten oder ihre durchschnittlichen Umsatzbeiträge (ARPU) im Wettbewerbsvergleich ähnliche Größenordnungen haben. Innerhalb der Telekommunikationsindustrie ist der Unternehmenswert je Telefonanschluss eine verbreitete Kennziffer:
EV0 . Anzahl Telefonanschlüsset + Anzahl Telefonanschlüsset−1 2
(11.11)
Im Hotel- und Gaststättengewerbe kommen beispielsweise der Wert je Restaurant
22╇ 23╇
EV0 Anzahl Restaurantt + Anzahl Restaurantt−1 2
Vgl. The Economist (2006). Vgl. Hasler (2010, S.€149).
(11.12)
432
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
oder der Wert je Hotelzimmer
EV0 Anzahl Hotelzimmert + Anzahl Hotelzimmert−1 2
(11.13)
zur Anwendung. Bei den Fluglinien sind es der Wert je Passagiermeile
EV0 Jährliche Passagiermeilen
(11.14)
und der Wert je verkauften Sitz
EV0 . Anzahl verkaufter Passagiersitze in der Periode
(11.15)
In typischen Infrastrukturbereichen wie der Zement- oder Stahlindustrie kommt der Wert je Tonne Kapazität zum Einsatz
EV0 Tonne Jahresproduktionskapazitatät
(11.16)
und bei Kinobetreibern der Unternehmenswert je Leinwand
EV0 Anzahl Kinoleinwäde
(11.17)
und so weiter, allein in der Phantasie des Bewerters sind hier Grenzen gesetzt. Diese Methodik weist eine Reihe von Vorteilen auf. Zunächst ist sie intuitiv nachvollziehbar. Wird einem Parameter ein Wert zugeordnet, ist nur noch die zukünftige Entwicklung dieses Parameters zu prognostizieren und schon kann die Bewertung als beendet erklärt werden. Zudem erklärt sich die Methodik von buchhalterischen Bewertungsspielräumen unabhängig. Der Wert je Einheit des Parameters gilt universell, also insbesondere auch in Ländern, in denen es keine zuverlässigen Buchhaltungsvorschriften gibt oder diese mit HGB, IFRS oder US-GAAP nicht vergleichbar sind. Gleichzeitig weisen industriespezifische Multiplikatoren auf der Basis von NonFinancials entscheidende methodische Defekte auf. Da sie industriespezifisch sind, können sie per definitionem nicht für den restlichen Kapitalmarkt angewendet werden. Sie werden von Analysten und Investoren verwendet, die sich überwiegend nur mit Unternehmen aus einer Branche beschäftigen. Dass dann in dieser Branche früher oder später Bewertungsblasen entstehen ist beinahe unvermeidlich, im Grun-
11.8â•… Industriespezifische Multiplikatoren
433
de genommen werden diese richtiggehend gefördert. Was bedeutet es eigentlich, 1,50€€ pro Ad Impression zu bezahlen? Ist die entsprechende Aktie eines vergleichbaren Unternehmens günstig bewertet, wenn für einen vergleichbaren Wettbewerber 2,50€€ zu bezahlen wären? Würde ein Investor, der auf der Grundlage dieser Information bereit wäre, eine Aktie zu erwerben, dies immer noch tun, wenn er wüsste, dass dieses Unternehmen mit dem 15-fachen Jahresumsatz gehandelt wird? Darüber hinaus gibt es ernsthafte Zweifel an der grundsätzlichen Aussagekraft sektorspezifischer Bewertungskennzahlen: Selbst wenn man unterstellen würde, dass der Preis pro Klick ein adäquater Maßstab für die Attraktivität von internetbasierten Werbemodellen ist, kann damit noch keine Kausalität über andere bewertungsrelevante Kennzahlen getroffen werden. Denn früher oder später müssen sich industriespezifische Kennzahlen an den traditionellen ertrags- oder substanzwertbasierten Kennzahlen messen lassen. Ob sich indes ein Ad Click tatsächlich in Erträgen niederschlägt und wenn ja, wann, ist prima vista unklar und von Industrie zu Industrie unterschiedlich. Darüber hinaus sollten industriespezifische Multiplikatoren niemals isoliert betrachtet werden, sondern immer im Zusammenhang mit den sie treibenden Fundamentalparametern. In abonnentenbasierten Geschäftsmodellen wären zunächst die Wachstumsraten der Abonnentenzahlen zu berücksichtigen: Unternehmen mit höheren Wachstumsraten sollten höher bewertet sein als solche mit niedrigeren Wachstumsraten. Die Höhe des EV/Abonnent-Multiplikators kann zudem nicht abschließend beurteilt werden, wenn nicht auch analysiert wurde, inwieweit die Dienstleistung an die Abonnenten mit unterschiedlicher betrieblicher Effizienz ausgeliefert wird. Vor allem kleinen Unternehmen mangelt es an den nötigen Skaleneffekten, um gegenüber ihren größeren Vergleichswerten reüssieren zu können. Daher wäre bei kleineren Unternehmen ein Abschlag angemessen. Als prominentes Beispiel hierfür kann hierzulande der Bezahlsender Premiere/Sky Deutschland herangezogen werden, der gegenüber seinen internationalen Vergleichsunternehmen BSkyB oder Canalâ•›+ deutlich kleiner und damit ineffizienter ist. In die gleiche Kerbe schlägt auch das Argument, dass Unternehmen mit geringeren Kundengewinnungskosten mit höheren Multiplikatoren bewertet sein sollten als ihre Wettbewerber mit höheren Kundengewinnungskosten24. Die Kategorisierung von Unternehmen kann auch Probleme aufwerfen, wenn sich die Nische ändert oder wenn sogar die ursprüngliche Kategorie unzutreffend war. Industriespezifische Nuancen werden dann von einer übergeordneten Kategorie überdeckt. Überhaupt ist der Zusammenhang zwischen dem gewählten Parameter und der zukünftige Ertragslage des Unternehmens nur in den seltensten Fällen eindeutig. So fehlt in den meisten Fällen eine kausale Verbindung zwischen dem sektorspezifischen Indikator und der betrieblichen Wertschöpfung. Selbst wenn es mehr oder weniger einstimmiges Ergebnis der Forschung sein mag, dass die Anzahl der Unique User diejenige Kennzahl ist, die am stärksten mit den zukünftigen Umsätzen korreliert ist25, ist doch prima vista unklar, ob ein Unique Visitor oder eine 24╇ 25╇
Vgl. Damodaran (2001, S.€350). Vgl. u.€a. Hand (2000), Dewers und Lev (2000) oder Rajgopal et€al. (2000).
434
11â•… Spezialprobleme der Unternehmensbewertung
Page Impression überhaupt jemals zu Umsatz und damit zu Ertrag wird. Darüber hinaus kann die Conversion Rate, also der Anteil jener Besucher einer Website, der eine gewünschte Handlung ausführt, nur schwer vorhergesagt werden und variiert zudem von Unternehmen zu Unternehmen. Letztlich sind Non-Financials nur dann eine angemessene Alternative für finanzbezogene Kennzahlen, wenn zwischen ihnen und dem Umsatz ein hinreichend stabiler Zusammenhang hergestellt werden kann und wenn gleichzeitig Umsätze als Werttreiber des Unternehmens akzeptiert werden. Insbesondere mit dem Platzen der Internet-Blase im Jahre 2001 hat sich jedoch herausgestellt, dass derartige Kennzahlen nur eine geringe Korrelation zum operativen Ertrag und dem Unternehmenswert aufweisen.
Kapitel 12
Die Unternehmensbewertung zum IPO
12.1 Über Interessenskonflikte und Bauchgefühle1 Bislang hat sich dieses Buch ausschließlich mit der Bewertung bereits börsennotierter Unternehmen beschäftigt. Beim Börsengang, bei dem die zu bewertenden Aktien aus einer Kapitalerhöhung – das sogenannte Primary – oder aus dem Bestand der Altaktionäre – das sogenannte Secondary – stammen, können Altgesellschafter und Anleger nicht miteinander in Verhandlungen treten, und auch ansonsten liegt kein objektiver Maßstab für den Unternehmenswert vor. Daher ist in beiden Fällen eine Unternehmensbewertung durchzuführen, deren Ziel es ist, eine Preisspanne zu finden, in der Altgesellschafter ihre Aktien gerade abgeben und sich gleichzeitig Investoren am Börsenkandidaten gerade noch beteiligen wollen. Zunächst sind für nicht börsennotierte Unternehmen die Werttreiber zu bestimmen und zu analysieren, ob diese sich grundsätzlich von denen börsennotierter Gesellschaften unterscheiden. Die umfängliche Literatur zum Börsengang hat insgesamt drei Kategorien von Werttreibern identifiziert: • Finanzanalytische Fundamentaldaten wie Umsatz, Gewinne, Ausgaben für Forschung und Entwicklung2, • ausgewählte Non-Financials wie M&A-Aktivitäten, innovative Produkte und IP, die Attraktivität der Produktpipeline, Joint Ventures und strategische Allianzen3 sowie • aktientechnische Besonderheiten wie der Anteil, mit dem die Altaktionäre nach dem Börsengang an ihrem Unternehmen beteiligt sind4. Erfahrungsgemäß wird in der Unternehmensplanung das zukünftige Unternehmenswachstum tendenziell überschätzt. Empirischen Analysen zufolge kann ein Unter1╇ So der Herausgeber des Red Herring, A. Gove, der meint, dass „valuations are just as often based on gut feel, …it’s as if everybody just settles on a number that they are comfortable with.“ Gove (2000). 2╇ Vgl. Kim und Ritter (1999) oder Purnanandam und Swaminathan (2004). 3╇ Vgl. Rajgopal et€al. (2002). 4╇ Vgl. Leland und Pyle (1977).
P. T. Hasler, Aktien richtig bewerten, DOI 10.1007/978-3-642-21170-6_12, ©Â€Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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436
12â•… Die Unternehmensbewertung zum IPO
nehmen nach dem Börsengang durchschnittlich gerade einmal fünf Jahre schneller wachsen als seine Wettbewerber, danach können keine Unterschiede mehr zwischen den Unternehmen festgestellt werden5. Da an der Börse bei der Preisbildung insbesondere Zukunftspotenziale von Unternehmen einen hohen Stellenwert haben, gleichzeitig manche Unternehmen vor ihrem Börsengang nicht gerade vor Ertragskraft strotzen, sie weder Cashflows noch materielles Vermögen in nennenswertem Ausmaß aufweisen, scheint die Kategorie Zwei der Schlüssel zum Verständnis der Besonderheiten der IPO-Bewertung zu sein. Darüber hinaus ist die Aktionärsstruktur nach dem IPO ein Spezifikum, da die Weigerung der Altaktionäre, Anteile zum Börsengang zu verkaufen, Vertrauen signalisiert und geeignet ist, einen höheren Emissionspreis durchzusetzen. Nicht gelistete Gesellschaften, deren Börsengang unmittelbar bevorsteht, sind demzufolge speziellen Problemen hinsichtlich der Börsenbewertung ausgesetzt6, und obwohl die Bewertung von Börsenkandidaten nicht nur in der kapitalmarkttheoretischen Forschung einen prominenten Platz einnimmt7, sondern auch in Medien der Finanz- und Wirtschaftspresse weit ausführlicher diskutiert wird als sonstige Unternehmensnachrichten, bleibt der Bewertungsvorgang zum Börsengang ein mysteriöses8, weil von spieltheoretischen Gegensätzen geprägtes Thema: Ist doch die Preisfindung von verschiedenen elementaren Interessenskonflikten geprägt9, die bei börsennotierten Gesellschaften in diesem Ausmaß normalerweise nicht auftreten: • Der mit dem Börsengang betraute Finanzanalyst versucht einen möglichst niedrigen Unternehmenswert anzusetzen, damit er auf eine gute After-Market-Performance verweisen kann. Dass von den Konsortialanalysten mehrere Methoden parallel und gleichberechtigt angewendet werden – ein Verfahren, um die Bewertungssicherheit zu steigern und die Ergebnisse zu plausibilisieren10 –, kann diese Tendenz des „IPO Underpricing“11 nicht verhindern. • Auf der anderen Seite versucht die konsortialführende Investmentbank, der neben der Strukturierung und Durchführung der Aktienemission u.€a. auch die Steuerung der Emissionspreisfindung und die Platzierung der Aktien obliegt, als Interessensvertreter der Altaktionäre einen möglichst hohen Emissionskurs durchzusetzen, schon um die performanceabhängigen Bestandteile des Konsortialvertrags zu maximieren12. Gleichzeitig muss die Bank das Platzierungsrisiko minimieren, also nach Möglichkeit sämtliche Aktien am Markt platzieren und dadurch ihre Reputation als Emissionsbank stärken. Die Erreichung dieses Ziels würde durch einen niedrigen Emissionskurs begünstigt. Die vollständig integ╇ Vgl. Metrick (2007). ╇ Vgl. auch Mills (2003). ╇ 7 ╇ Vgl. für eine Übersicht Bhagat und Rangan (2003, S.€7–12). ╇ 8 ╇ Vgl. Guo et€al. (2005, S.€2). ╇ 9 ╇ Vgl. Blättchen und Jacquillat (1999, S.€128€f.). 10╇ Bösl (2004, S.€165). 11╇ Vgl. stellvertretend Ibbotson et€al. (1988) und Ibbotson und Ritter (1995). 12╇ Vgl. Michaely und Womack (1999). ╇ 5 ╇ 6
12.1â•… Über Interessenskonflikte und Bauchgefühle
437
rierte Investmentbank mit Beratungs-, Research- und Handelsaktivitäten steckt damit in einem klassischen Zielkonflikt. • Auf den ersten Blick besteht die Zielfunktion des Unternehmens in der Maximierung des Emissionspreises, was einen größtmöglichen Mittelzufluss ins Unternehmen bewirkt. Allerdings muss sich das Unternehmen bewusst sein, dass ein übertriebener Emissionspreis mit hoher Wahrscheinlichkeit eine negative Kursentwicklung am Sekundärmarkt zur Folge hat, wodurch das Vertrauen in die Gesellschaft und die Reputation für etwaige spätere Kapitalmaßnahmen belastet werden. Das Unternehmen sollte daher an einem möglichst „fairen“ Emissionspreis interessiert sein, der allen Seiten gerecht wird. • Ganz im Gegensatz zum Alteigentümer: Je größer seine Abgabebereitschaft ist, desto weniger wird er an der zukünftigen Kursentwicklung nach dem IPO partizipieren. Im Extremfall der vollständigen Abgabe besteht – rationales Handeln vorausgesetzt – seine Zielfunktion allein in der Maximierung des Emissionspreises. Aber selbst für den Fall, dass der Alteigentümer nach dem Börsengang am Unternehmen beteiligt bleibt, muss er an einem möglichst hohen Emissionspreis interessiert sein, schon um die Verwässerung der Kapitalerhöhung, bei der er auf sein Bezugsrecht verzichten muss, zu minimieren. Nur wenn der Alteigentümer nach dem Börsengang mit einem signifikanten Anteil im Unternehmen investiert bleibt, geht ein aggressiver Emissionspreis zu Lasten seiner zukünftigen Vermögensposition, da er aufgrund bestehender Lock up-Vereinbarungen nicht in der Lage ist, etwaige Verluste durch sofortige Aktienverkäufe zu begrenzen. • Dass der Fondsmanager an einem niedrigen Emissionspreis interessiert ist, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Aus Performancegründen strebt er einen initialen Zeichnungsgewinn (der genau dem Verzicht der Alteigentümer am inneren Wert der Aktie entspricht) an, der ausreichende Kurssteigerungspotenziale im Sekundärmarkt zulässt13. Pokert er allerdings bei der Abgabe seiner Order zu hoch, indem er etwa sein Limit ans untere Ende der Bookbuilding-Bandbreite setzt, erhält er möglicherweise keine Zuteilung, wenn nämlich die Marketingmaschine der Konsortialbanken auf ein aufnahmebereites Kapitalmarktumfeld trifft. Wird dann die Aktie zum Hot Deal erklärt, die jeder haben will, und entwickelt sich das IPO zum Selbstläufer, dann ist das Buch schnell überzeichnet und eine Zuteilung findet am oberen Rand der Bookbuilding-Bandbreite statt. Um dann nicht leer auszugehen muss der Fondsmanager also mindestens den Preis bieten, bei dem er im Falle einer Überzeichnung der Emission das von ihm gewünschte Aktienpaket gerade noch zugeteilt bekommt. Letzten Endes ist der Emissionspreis immer ein Kompromiss und das Ergebnis umfangreicher Preisverhandlungen zwischen Konsortialbank, Emissionsberater, Alteigentümer und den institutionellen Investoren. Die Ergebnisse der fundamentalen Wertpapieranalyse dienen dabei als Grundlage und Argumentationshilfe14. Doch selbst 13╇ Auch wenn es zumindest hierzulande empirisch keinen Zusammenhang zwischen Zeichnungsgewinn und Sekundärmarktentwicklung zu geben scheint; vgl. Brühl und Oei (2001, S.€685). 14╇ Vgl. Bösl (2004, S.€151).
438
12â•… Die Unternehmensbewertung zum IPO
eine allein die Interessen der Investoren berücksichtigende Preisfindung ist keine Garantie dafür, dass der Unternehmenswert am Kapitalmarkt angenommen wird. Immer wieder nämlich kann beobachtet werden, dass Unternehmen kurz vor der Notierungsaufnahme den Emissionsprozess abbrechen müssen, da die Aktien zum angebotenen Preis nicht vollständig platziert werden konnten. Auch wenn die beteiligten Emissionsbanken selbst in normalen Marktphasen das „schlechte Kapitalmarktumfeld“ als Ursache für den geplatzten Börsengang heranziehen werden, hat doch meist auch der angebotene Preis eine maßgebliche Rolle gespielt. Dies sollte jedoch nicht als Plädoyer für einen möglichst niedrigen Emissionspreis verstanden werden. Denn auch ein Underpricing über den kurzfristigen Kursgewinn hinaus ist keine Voraussetzung für eine nachhaltig positive Kursentwicklung und einen erfolgreichen Börsengang, eine Erkenntnis, die wiederum die Stellung des Alteigentümers bzw. des Unternehmens festigen und eine Emissionspreisfindung ohne Bewertungsabschlag nahelegen sollte.
12.2 Der Prozess der Preisfindung Für jeden Börsenaspiranten stellt das IPO eine Zäsur dar, da es die erste Gelegenheit ist, dass das Management seine Preisvorstellungen mit denen des Kapitalmarktes vergleichen kann. Diese können bestätigt werden oder enttäuscht, mit entsprechenden Konsequenzen für die zukünftige Investitionsbereitschaft des Managements. Insofern ist der Emissionspreis immer auch das Resultat von Verhandlungen, wie besprochen häufig sogar in einem größeren Ausmaß als das Ergebnis einer fundamentalanalytischen Unternehmensbewertung15. Es genügt also nicht zu fragen, wie sich der Emissionspreis errechnet, sondern es ist zu untersuchen, wie er sich bildet. Also sind die relevanten Fragestellungen: Wer legt den Emissionspreis fest und wie bilden sich die Vorstellungen der beteiligten Parteien über den Emissionspreis?16 Bereits von den Konsortialbanken werden in den verschiedenen Phasen des Börsengangs unterschiedliche Unternehmenswerte ermittelt, die den stetigen Zuwachs an bewertungsrelevanten Informationen widerspiegeln. Die Zusammenfassung des Prozessablaufs zeigt, dass sich das Thema Unternehmensbewertung durch sämtliche Phasen des Börsengangs zieht: Unter anderem werden Unternehmenswerte • im Beauty Contest von den interessierten Corporate Finance-Teams der Investmentbanken erstmals als indikative Preisvorstellung ermittelt, die sich zum Teil substantiell voneinander unterscheiden und Ausfluss der unterschiedlichen Einschätzung der zukünftigen Entwicklungspotenziale des Emittenten sind: Je weniger Informationen über den Börsenkandidaten bei der im Beauty Contest antretenden Bank vorhanden sind, desto breiter ist die indikative Bewertungsspanne und desto unverbindlicher ist diese erste Wertindikation. • im Rahmen der mehrwöchigen Due Diligence von den Banken an die aktuellen wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmendaten des Emittenten, an seinen Business Plan und an die veränderten Kapitalmarktgegebenheiten angepasst, was ins15╇ 16╇
Vgl. Yeh (2004, S.€2). Vgl. Killat (1998, S.€235).
12.2â•… Der Prozess der Preisfindung
439
Bewertungsspanne
Bewertung des Research Report
Pre-IPOMarketing
Pilot Fishing
Nachfrageindikation und Preissensitivität
Gezielte Ansprache europäischer Opinion Leaders
Investor Education
Management Roadshow
BookbuildingBandbreite
Feedback der Investoren
Erweiterung der Ansprache auf globale institutionelle Fonds Regionale Ansprache von Privataktionären
Umwandlung von Interesse in Orders
Abb. 12.1↜渀 Ermittlung der Emissionspreisbandbreite im IPO-Prozess
•
• •
•
besondere bei ungünstiger Nachrichtenlage von Seiten der Best Comparables Gegenstand lebhafter Diskussionen mit dem Management sein und gegebenenfalls den gesamten Börsengang in Frage stellen kann. im Anschluss an die Konsortialanalystenveranstaltung von den Finanzanalysten im Research Report (in dem sie das Geschäftsmodell des Unternehmens vorstellen und im Rahmen ihres Industrie-Know-hows einschätzen, eine eigene mehrjährige und integrierte Unternehmensplanung durchführen) anhand verschiedener marktgängiger Bewertungsverfahren hergeleitet, im Prozess des Pilot Fishing, inzwischen bevorzugt Pre-Sounding genannt, ausgewählten, branchenaffinen institutionellen Investoren vorgestellt und aufbauend auf deren detailliertem Feedback als Bookbuilding-Bandbreite17 von den Lead-Banken und der Gesellschaft verhandelt und von den Unternehmensvertretern und Research-Analysten während der Bookbuilding-Phase – im Regelfall eine zweiwöchige Periode – der Öffentlichkeit und insbesondere einer breiten Palette an unterschiedlich ausgerichteten, institutionellen Fondsmanagern unterbreitet, ein Prozess, der am Kapitalmarkt unter dem etwas abschätzigen Terminus Investor’s Education bekannt ist. in Abhängigkeit von der Nachfrage und der angestrebten Überzeichnung des Buches schließlich als Emissionspreis innerhalb der Bookbuilding-Bandbreite festgelegt.
Kennzeichnend für diesen mehrstufigen Bewertungsprozess ist, dass die Bewertungsbandbreite immer weiter eingeengt wird und das Wettbewerbs- und Kapitalmarktumfeld sowie die Einstellung der Investoren gegenüber dem Börsenkandidaten immer stärker in der Unternehmensbewertung berücksichtigt werden (Abb.€12.1). Trotz dieser sukzessiven Einengung der Wertbandbreite ähnelt die Emissionspreisbildung aufgrund der fehlenden Kurshistorie und des geringen Informationsstands Das bis Mitte der 1990er Jahre etablierte Festpreisverfahren spielt heute in der Preisfindung nur noch in Ausnahmefällen eine Rolle.
17╇
440
12â•… Die Unternehmensbewertung zum IPO
über zu erwartende Umsätze, Erträge und Cashflows der Gesellschaft häufig mehr einem intellektuell ambitionierten Stochern im Nebel als einer analytisch anspruchsvollen Ausarbeitung. Bereits die jeweilige Industrie des Börsenaspiranten kann ursächlich für spezifische Probleme in der Wertfindung sein: Bei zyklischen Unternehmen mit einer nur kurzen Unternehmensgeschichte ist die Normalisierung der bewertungsrelevanten Kennzahlen nicht möglich, da das Unternehmen nicht auf die Daten eines vollständigen Konjunkturzyklus zurückgreifen kann. In diesem Fall kann es sinnvoll sein, auf Industriedurchschnitte auszuweichen. Allerdings entfernt sich der Analyst mit dieser Vorgehensweise um eine Stufe von den Unternehmensspezifika, die das zu bewertende Unternehmen vom restlichen Sektor abheben sollen. Auch bei Technologieaktien, die in den vergangenen 20 Jahren die Mehrheit der Börsenkandidaten stellten, können spezielle Probleme auftreten: anstatt auf materiellen Vermögenswerten basiert ihr Geschäftsmodell häufig auf immateriellen, also auf Patenten, Markennamen oder auf technischem Know-how und Innovationskraft. Dies kann Anpassungen wie die Kapitalisierung von F&E-Aufwendungen erforderlich machen, was sich unter Umständen nachteilig auf die Akzeptanz des Börsengangs auswirkt. In Abhängigkeit vom gewählten Börsensegment gehen in die Bewertung nur die letzten zwei oder drei Jahresabschlüsse des Unternehmens sowie sämtliche, öffentlich zugängliche Informationen ein. Dass den Analysten im Rahmen der Analystenveranstaltung zwar eine breite Palette an Unternehmensdaten (nicht selten undifferenziert) zur Verfügung gestellt wird, jedoch nicht die für eine Bewertung wichtigsten, die mehrperiodischen Planzahlen des Unternehmens, trägt zweifellos zur Bewertungsunsicherheit bei. Ausgerechnet die Plandaten sind neben dem Unternehmen selbst nur den Corporate Finance-Bankern bzw. den Equity Capital Markets- (ECM-) Abteilungen der Lead Manager bekannt. Den Analysten der Investmentbanking-Division werden sie vorwiegend aus Haftungsgründen verweigert. Konsortialanalystenmeeting und jedes Gespräch mit den Finanzanalysten nämlich stehen unter dem Postulat, dass das Unternehmen den Analysten nur jene Informationen bereitstellen darf, die auch im Wertpapierprospekt enthalten sind – und Prognosen sind dort garantiert nicht zu finden. Durch die Errichtung von „Chinese Walls“ soll die Unabhängigkeit des Research, dessen Ziel eine sachgerechte und neutrale Analyse ist, sichergestellt und ein eventuell vorhandenes Konfliktpotential von vorneherein ausgeschlossen werden. Aus diesen Gründen versucht das Management, auf der so genannten „Tonspur“ den Analysten eine Guidance zur zukünftigen Unternehmensentwicklung zu geben. Da die Wortwahl bei der Guidance naturgemäß nicht konkret, sondern eher schwammig gefasst ist, fällt die Interpretation bei den Analysten nicht immer gleich aus. Diese Reglementierung der Informationslage hat zur Folge, dass die Analysten für ihre Bewertung eigene Planungsprämissen und Umsatz- bzw. Ertragsprognosen aufstellen, die in Abhängigkeit von den Erfahrungen und Industriekenntnissen des Analysten mitunter beträchtlich voneinander abweichen können. Bezüglich der verwendeten Bewertungsverfahren dürften beim Börsengang alle in diesem Buch vorgestellten zur Anwendung kommen, abgesehen von einer Ausnahme: Die Bewertung auf Basis des Liquidationswertes dürfte bei einem IPO kaum akzeptiert sein, wird mit ihm doch ein Unternehmen nicht vor dem Hintergrund der Fortführung betrachtet, sondern seiner Beendigung, eine Vorstellung, die zum Zeitpunkt des Börsengangs geradezu skurril ist.
12.2â•… Der Prozess der Preisfindung 9,000
441 100%
Underpricing DAX
7,000
80% 60%
5,000
40%
3,000
20% 1,000 0% – 1,000 – 20% – 3,000
– 40%
– 5,000 – 7,000 – 9,000 2001
– 60%
Overpricing
– 80%
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
– 100%
Abb. 12.2↜渀 Over- und Underpricing in Deutschland, 2001–2011. (Quelle: Thomson Financial Datastream, eigene Berechnungen)
Dass in den daraus abgeleiteten unterschiedlichen Unternehmenswerten erhebliches Konfliktpotenzial liegt, muss nicht eigens erwähnt werden, vor allem wenn man sich vor Augen hält, welche hohe Bedeutung der Research Report für das Gelingen des Börsengangs hat. Schließlich stellen der Analystenbericht und die daraus abgeleitete Unternehmensbewertung für viele Investoren die wichtigste, womöglich sogar einzige Orientierungsgröße dar. Wenigstens übernimmt der Research Report des Konsortialführers in der Praxis eine Signalfunktion für die übrigen, am Börsengang beteiligten Bankhäuser: An seinem Unternehmenswert sollen sich die übrigen Banken orientieren18. In der Realität liegt die Preisfindung der Lead-Bank jedoch meist etwas über der der anderen Konsortialmitglieder. Kennzeichnend für die Bewertungsunsicherheit ist das weltweit zu beobachtende systematische Underpricing, ein Phänomen, das meist durch asymmetrische Information und adverse Selektion erklärt wird. In Abb.€12.2 ist die Entwicklung des Over- und Underpricing in den vergangenen zehn Jahren dokumentiert. Ausgewertet wurde die Kursperformance von 185 Börsengängen in Deutschland während der ersten 100 Tage nach Notierungsaufnahme. Während unmittelbar nach dem Platzen der Technologie-Blase 1999/2000 ein signifikantes Overpricing zu beobachten war, hat sich die Situation gegen Mitte des Jahrzehnts normalisiert, so dass sich Ober- und Underpricing die Waage hielten. Mit dem Aufkommen der Immobilien- und Finanzmarktkrise wurden die Ausschläge nach unten wieder größer. Insgesamt überwiegen die Zeichnungsgewinne: In 59,0€ % der IPOs konnten die 18╇
Vgl. Bösl (2004, S.€168).
442
12â•… Die Unternehmensbewertung zum IPO
Zeichner gegenüber der Erstnotiz nach 100 Tagen eine positive Performance verbuchen, in 41,0€% mussten sie dagegen Kursverluste hinnehmen. In Absolutzahlen gemessen waren jedoch die durchschnittlichen Kursverluste mit − 12,8€% größer als die durchschnittlichen Kursgewinne mit +â•›7,9€%, so dass ein Zeichner, der an sämtlichen deutschen Börsengängen teilgenommen hätte, eine durchschnittliche Performance von rund − 4,9€% erzielt hätte. Das Phänomen des Underpricing und die Präzision der Unternehmensbewertung sind Themen einer kaum mehr überschaubaren Anzahl empirischer Analysen19. Derartige Analysen verwenden ex-post Kursentwicklungen, um die ursprünglichen Bewertungsmethoden der Analysten einzuschätzen. Eine Stichprobe aus US-amerikanischen IPOs ergab zum Beispiel, dass eine Bewertung anhand historischer KGVs bzw. KBVs zu sehr ungenauen Ergebnissen geführt hat, während prospektive Kennzahlen deutlich präzisere Ergebnisse zur Folge hatten20. Eine andere Studie über 45 neuseeländische IPOs zeigte dagegen, dass DCF-Modelle und KGV-Bewertungen zu ähnlichen Ergebnissen kamen21. Zur Optimierung des Platzierungsergebnisses werden von den Konsortialbanken meist Bewertungsabschläge vorgenommen. Je nach Marktverfassung können Abschläge von bis zu 20€% gegenüber dem fundamentalanalytisch abgeleiteten Unternehmenswert beobachtet werden (der so genannte Kaufanreiz). Immerhin sind Investoren von einer Aktie zu überzeugen, die ihnen bis dato völlig unbekannt war: Das Unternehmen weist keine Kapitalmarkthistorie auf, es existiert kein Kurschart, an dem sich der Investor orientieren kann und er muss von dem ihm bislang unbekannten Management in einem einzigen, möglicherweise sehr kurzen One-on-One zu einem Engagement in die Aktie überzeugt werden. Auch psychologisch gibt es ein großes Fragezeichen: Warum teilt ein Altaktionär ausgerechnet jetzt die guten Zukunftsaussichten des Börsenkandidaten – denn ohne diese hat vermutlich noch kein Unternehmen den Gang an den Kapitalmarkt gewagt – mit einem ihm unbekannten Investor? Dieses klassische Problem der Informationsasymmetrie wird umso gravierender, je geringer der Primary-Anteil am gesamten Emissionsvolumen ist, das heißt, je geringer der Anteil der an die Gesellschaft fließenden Liquidität ist und je höher der Anteil ist, der an die Altaktionäre fließt. Daneben gibt es beim IPO methodische Besonderheiten: Wird ein Unternehmen nicht an einer Börse gehandelt, können kein Beta und damit auch keine Kapitalkosten bestimmt werden. Diese für eine Unternehmensbewertung wichtigen Parameter müssen also aus Vergleichswerten anderer, bereits börsennotierter Unternehmen oder aus dem Durchschnittswert der Branche abgeleitet werden. Dabei sind erhebliche Abweichungen der zudem oft recht instabilen Branchenwerte hinzunehmen22. Auch aus Liquiditätsgründen werden zuweilen Bewertungsabschläge angesetzt, die in der Realität sogar signifikant
Vgl. auch De Maeseneire et€al. (2002). Vgl. Kim und Ritter (1999). 21╇ Vgl. Berkman et€al. (2000). 22╇ Vgl. die empirischen Ergebnisse von Zimmermann (1997, S.€320–334). 19╇ 20╇
12.2â•… Der Prozess der Preisfindung
443
sein können; in älteren Untersuchungen werden Werte von 40–50€% genannt23, die heutzutage allerdings kaum mehr zeitgemäß sein dürften. Die Konsortialbanken wiederum begründen die Notwendigkeit von Bewertungsabschlägen damit, dass sie aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung die Preissensitivität und das Nachfrageverhalten der Investoren besser einschätzen können als das Unternehmen. Diese Abschläge werden in der Praxis umso höher ausfallen, je stärker der Gesamterfolg des Börsengangs durch ein schwaches Kapitalmarktumfeld oder eine fragwürdige Equity Story gefährdet ist. Dabei können sie selbst ursächlich für einen Bewertungsabschlag sein: Empirischen Untersuchungen zufolge ist nämlich die Sekundärmarktperformance positiv mit der Reputation des Konsortialführers korreliert24. Verschiedentlich wird argumentiert, dass die Höhe des Bewertungsabschlags auch vom aktuellen Kapitalmarktumfeld abhängig ist: In Zeiten eines schwachen Kapitalmarktumfelds muss der Emissionspreisabschlag höher sein, um einen Erfolg des Börsengangs sicherzustellen, in Boomphasen ist der Emissionsabschlag dagegen eher gering. Obwohl Abschläge meist erforderlich sind, um eine Emission erfolgreich durchzuführen, basieren diese jedoch nicht auf einem rational nachvollziehbaren Gleichungssystem, sondern sind nicht zuletzt das Ergebnis des Risikoappetits der Investoren: Der wohl größte Einflussfaktor dürfte daher die Attraktivität des Geschäftsmodells sein: So genannte Me-Too-Geschäftsmodelle, von denen verschiedene Repräsentanten bereits an der Börse gehandelt werden, müssen tendenziell höhere Abschläge hinnehmen als First Mover in attraktiven Branchen. Auch wenn es akzeptierte Standards25 zur Erstellung von Research Reports gibt, kann auch die allgemeine Verfassung des Kapitalmarktes verantwortlich für die Fehlbewertung eines Unternehmens sein. So kann in einem sehr guten Kapitalmarktumfeld mit vielen Börsengängen beobachtet werden, dass die Qualität der Research Reports nachlässt, da den einzelnen Analysten weniger Zeit für die Erstellung des Emissionsberichts zur Verfügung steht als in einer Marktphase ohne rege IPO-Aktivität. Dies umfasst nicht nur den Umfang des Analystenberichts, sondern auch die Tiefe der Analysearbeit, die Qualität der Aussagen und Schlussfolgerungen sowie die Interpretationen zum Unternehmen und seinem Umfeld. Die vom Konsortialführer in Abstimmung mit einer auf Kapitalmarktrecht spezialisierten Anwaltskanzlei entwickelten Research-Guidelines, die für die Konsortialanalysten für die Erstellung der Research Reports verpflichtend sind, können ebenfalls bewertungsrelevant sein. Sind diese unklar formuliert, sorgt die Unterscheidung zwischen einer pre money- und einer post money-Bewertung regelmäßig für Verwirrung. Der pre-money-Wert entspricht dem Unternehmenswert, bevor der Gesellschaft frisches Geld aus der Kapitalerhöhung zugeflossen ist, der post-money-Wert entspricht dem Unternehmenswert, in dem die Ergebniswirkung des Mittelzuflusses aus der Kapitalerhöhung berücksichtigt wurde. Vgl. Pratt et€al. (1997). Vgl. Campbell et€al. (2008, S.€17) Anderer Auffassung sind dagegen Booth et€al. (2010, S.€143). 25╇ Vgl. DVFA (1999). 23╇ 24╇
444
12â•… Die Unternehmensbewertung zum IPO
EK0,post−money = EK0,pre−money + Mittelzufluss.
(12.1)
Beispiel 12.1: Pre-money vs. post-money╇ Ein Venture Capital-Fonds will sich über eine pre-IPO-Finanzierungsrunde an einer Social CommunityWebsite zu beteiligen. Der Fonds ist bereit, 100€Mio.€€ für einen Anteil von 20,0€ % an der Gesellschaft zu bezahlen. Damit liegt der pre-money-Wert als Unternehmenswert vor der Zuführung zusätzlichen externen Kapitals bei 400,0€Mio.€€, die post-money Bewertung liegt gemäß Formel (12.1) bei 500€Mio.€€. Mit dem Mittelzufluss aus dem Börsengang erhöht sich der gesamte Unternehmenswert, zwangsläufig aber auch die Anzahl an Aktien. Unter stark vereinfachenden Annahmen steigt der Wert des Unternehmens exakt um den Liquiditätszufluss aus der Kapitalerhöhung. Bei einer korrespondierenden Verwendung der gestiegenen Zahl an Aktien würde sich also am Unternehmenswert je Aktie nichts verändern. Dieser Gedanke gilt jedoch nur in der Theorie. In der Realität werden die zugeflossenen Barmittel aus der Kapitalerhöhung nur höchst selten unmittelbar im Anschluss an den Börsengang investiert. Für den Mittelzufluss aus dem Börsengang ist daher eine fiktive Verzinsung zu unterstellen, die zwar das Planergebnis erhöht, jedoch im Regelfall deutlich unter der durchschnittlichen Eigenkapitalrendite der Gesellschaft liegt.
Kapitel 13
Typische Fehler in der Unternehmensbewertung
In diesem abschließenden Kapitel sollen die wichtigsten Fehler rekapituliert werden, die bei der Unternehmensbewertung auftreten können. Grob gesprochen lassen sich diese auf drei Quellen subsummieren: 1. Fehler bei der Analyse der Gewinn- und Verlustrechnung, Bilanz und Kapitalflussrechnung, 2. Fehler bei der Berechnung der durchschnittlichen gewichteten Kapitalkosten und 3. Fehler bei der Anwendung der Bewertungsmodelle.
13.1 F ehler bei der Analyse von GuV, Bilanz und Cashflow-Statement Fehler bei der Auswertung der Vergangenheitsdaten treten vor allem dann auf, wenn sich Finanzanalyst oder Investor auf die Analyse von lediglich einem oder zwei Geschäftsjahre beschränken. In einem derart kurzen Auswertungszeitraum dürfte es schwer möglich sein, die geschäftstypischen Vorgänge und die Besonderheiten des Unternehmens umfassend zu erkennen. Zwar kann nicht immer der für eine aussagekräftige Bewertung notwendige Idealfall von zehn verfügbaren Jahresabschlüssen erfüllt werden – schon aus zeitökonomischen Gründen – aber fünf sollten es für eine ernst zu nehmende Bewertung mindestens sein. Bei der unzureichenden Bereinigung von Einmaleffekten werden vermutlich die häufigsten Fehler gemacht1. Häufig werden historische Finanzdaten nur unzureichend um Sondereinflüsse bereinigt. Hockeystick-artige Prognosen sind die Folge, da dann kurzfristige Entwicklungen der Vergangenheit unreflektiert in die Zukunft fortgeschrieben werden. Die auftretenden Fehler sind umso gewichtiger, wenn konjunkturelle Sondereinflüsse missachtet oder wenn durchschnittliche jährliche
1╇
Vgl. zum Beispiel Baecker et€al. (2007, S.€272).
P. T. Hasler, Aktien richtig bewerten, DOI 10.1007/978-3-642-21170-6_13, ©Â€Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
445
446
13â•… Typische Fehler in der Unternehmensbewertung
Wachstumsraten in unzulässiger Weise mit einem arithmetischen anstelle eines geometrischen Durchschnitts hergeleitet werden. Inkonsistenzen entstehen in der operativen Planung häufig zwischen der Umsätzen und den Produktionskapazitäten, zum Beispiel, wenn die grundlegenden Formeln
g = (1 − δ)ROE,
für ROE > 0.
(13.1)
für ROCE > 0.
(13.2)
für Equity-Modelle bzw.
g = (1 − δ)ROCE,
für Entity-Modelle nicht beachtet werden. Natürlich ist ein Zuwachs in der Kapazitätsauslastung möglich, vor allem, wenn das Unternehmen aus einem konjunkturellen Abschwung kommt, in dem ein guter Teil der Produktionskapazitäten brach lag. Dauerhafte Zuwächse sind jedoch unmöglich, und dass sich Produktionskapazitäten auch während der Steady State-Phase ungebremst vermehren sollen, ist ebenso unrealistisch wie ein ungezügelter Anstieg der Pro-Kopf-Umsätze im Zeitablauf. Vielfach werden auch für den Terminal Value unrealistische Wachstumsraten angesetzt. Da diese Wachstumsrate ein unendlicher Modellparameter ist, sind die getroffenen Annahmen einer besonderen Prüfung zu unterwerfen. Im Steady StateFall sollten sich die unterstellten Wachstumsraten aufgrund der Unendlichkeit an den langfristig erzielbaren Wachstumsraten des realen Bruttoinlandsprodukts orientieren. Höhere Wachstumsraten können im Zustand der Unendlichkeit nicht aufrechterhalten werden. Bei der Prognose der unendlichen Wachstumsrate ist insbesondere die regionale Herkunft der Umsatzerlöse zu betrachten. Bereits rein aus statistischen Gründen muss die Wachstumsrate des Unternehmens kleiner sein als die der adressierten Märkte. Es gibt auch empirische Gründe, für die Wachstumsrate des Terminal Value deutlich niedrigere Wachstumsraten als für die Gesamtwirtschaft zu veranschlagen, da es eine historische Tatsache ist, dass viele der heute dominierenden Unternehmen und selbst Industriezweige in absehbarer Zeit keine Bedeutung mehr haben werden. Selbst ehemals als unantastbar geltende Unternehmen wie Microsoft, GM oder Nokia haben in den letzten Jahren so viele operative Fehlentscheidungen getroffen, dass ein Verschwinden auf Sicht einer Generation nicht mehr ausgeschlossen werden kann. Zum Zeitpunkt des Terminal Value ist auch zu berücksichtigen, dass die Kapitalkosten gegen die Kapitalrendite konvergieren. Damit ist ausgeschlossen, dass im Fortführungswert Über- oder Unterrenditen erwirtschaftet werden.
13.2 Fehler bei der Berechnung der Diskontierungssätze Der häufigste Fehler bei der Berechnung der WACC ist die Verwendung von Buchwerten anstelle von Marktwerten. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Buchwerten, die historische Anschaffungskosten widerspiegeln, und den aktuellen
13.2â•…Fehler bei der Berechnung der Diskontierungssätze
447
Marktwerten, die die Entscheidungsgrundlage für eine heutige Investition in eine Aktie sein müssen. Buchwerte sind für eine Investitionsentscheidung vollkommen irrelevant. Diese in Bewertungsmodellen abzubilden ist bislang nur in wenigen und außerordentlich komplexen Modellen gelungen2 Zudem kann der Buchwert des Eigenkapitals bei langfristig unprofitablen Unternehmen negative Werte annehmen. In diesem Fall müsste der Investor eine Verschuldungsquote von über 100€% ansetzen, was vergleichsweise niedrige durchschnittliche Kapitalkosten zur Folge hätte, eine angesichts der desolaten Ertragslage des Unternehmens geradezu skurrile Situation. Als Näherungsgröße der erwarteten Fremdkapitalkosten wird vielfach die Effektivverzinsung einer Unternehmensanleihe angesetzt. Diese entspricht der maximalen Rendite, die ein Gläubiger vereinnahmen kann, wenn er eine Anleihe bis zum Rückzahlungstag in seinem Depot behält. Geht das Unternehmen vorher insolvent, geht die Anleihe in Default und die ex post tatsächlich vereinnahmte Effektivverzinsung fällt bedeutend niedriger aus. Dieser Insolvenzanteil der Fremdkapitalkosten darf jedoch nicht Bestandteil der durchschnittlichen gewichteten Kapitalkosten sein, da diese die erwartete Verzinsung einer Unternehmensanleihe im Fall des Going Concern definiert. Dieser Unterschied zwischen erwarteten Fremdkapitalkosten und der vertraglich vereinbarten Effektivverzinsung wird in der Bewertungspraxis nur selten beachtet. Die aus Kap. 3 geläufige Definition der gewichteten durchschnittlichen Kapitalkosten (Darstellung ohne Zeitindex)
WACC = rEK
EK0 Debt0 + rDebt (1 − τ ) EK0 + Debt0 EK0 + Debt0
(13.3)
verleitet zu der Annahme, eine Veränderung der Zielkapitalstrukturen können eins zu eins in alternative Kapitalkosten umgesetzt werden. De facto gilt es allerdings zu beachten, dass sich das finanzielle Leverage in zweierlei Hinsicht auf die durchschnittlichen gewichteten Kapitalkosten auswirkt: Zum einen über die Gewichte der Marktwerte von Eigen- und Fremdkapital, zum anderen über die Eigenkapitalkosten, die ja selbst wiederum von der Höhe des finanziellen Leverage abhängen:
rEK = rEK,U + (rEK,U − rDebt )(1 − τ )
Debt0 , EK0
(13.4)
wobei rEK,U die Eigenkapitalkosten eines unverschuldeten Unternehmens darstellen. In einer Welt, in der das Theorem von Modigliani-Miller gelten soll, führt jede Veränderung des finanziellen Leverage zu einer entsprechenden Veränderung der Eigenkapitalkosten. Abgesehen vom Steuervorteil führt eine Erhöhung des günstigen Fremdkapitalanteils über einen gleichzeitigen Anstieg der Eigenkapitalkosten daher nicht automatisch auch zu sinkenden WACC.
2╇
Vgl. Essler et€al. (2004, S.€133).
448
13â•… Typische Fehler in der Unternehmensbewertung
Schließlich sind bei Betafaktoren häufig große Bandbreiten der ermittelten Werte festzustellen, je nachdem, wie die Beta-Werte berechnet wurden. Wenn wie in Deutschland etwa 80€% der (statistisch relevanten) Betafaktoren in einer Bandbreite zwischen 0,75 und 1,25 liegen, sind Werte von unter 0,5 oder über 2,0 Zufallswerte, die statistisch nicht von Belang sind. Für eine Bewertung sollten diese Werte nicht verwendet, sondern Fundamental-Betas aus den Vergleichsunternehmen abgeleitet werden. Insbesondere bei Wachstumsunternehmen kann es zu Beginn der Detailplanungsphase zu negativen Cashflows kommen. Zur Berechnung des Barwertes werden diese mit den Kapitalkosten diskontiert. Häufig werden dabei dieselben Diskontierungssätze verwendet wie während des Zeitraums, innerhalb dessen das Unternehmen profitabel ist. Dabei kommt es zu dem logischen Defekt, dass der Barwert der negativen Cashflows während der Verlustphase umso geringer ist, je höher der Diskontierungssatz ist. Diese Vorgehensweise kann nicht korrekt sein, da dadurch risikoreichere Projekte höher bewertet würden als risikoärmere, ein Ergebnis, das im Widerspruch zur Risikoaversion des Investors steht. Von verschiedener Seite wird daher bei Verlustfällen die Verwendung negativer Risikoprämien gefordert3.
13.3 Fehler in der Anwendung der Bewertungsmodelle Der unsaubere Einsatz der durchschnittlichen Kapitalkosten in DCF-Modellen ist eine permanente Fehlerquelle, insbesondere wenn Zielquoten für den Marktwert des Eigenkapitals und des Fremdkapitals bereits in der Detailplanungsperiode angelegt werden. In diesem Fall kommt es zu einer tendenziellen Überschätzung des Unternehmenswertes, da es während der Detailplanungsphase in der Regel zu einer Verringerung des Gearing kommt, was wiederum einen Anstieg der WACC zur Folge hat. Dieser Anstieg wird nicht modelliert, wenn die Kapitalquoten bereits zu Beginn der Detailplanungsperiode auf ihre jeweiligen Zielwerte fixiert worden sind. Ebenfalls weit oben auf der Fehlerliste stehen Inkonsistenzen bei der Berechnung des Terminal Value. Man erinnere sich: Ein bei der Berechnung des Endwertes unterstelltes Wachstum, das über die langfristig angesetzte Wachstumsrate der Gesamtökonomie hinausgeht, ist nicht möglich. Auch eine permanente Schrumpfung der Kapitalbasis ist nicht möglich, da sich damit das Unternehmen früher oder später aufgelöst haben wird. Ausgehend von einem Nullwachstum muss demzufolge gelten, dass zum Zeitpunkt des Terminal Value die Investitionen in das Sachanlagevermögen bzw. in immaterielles Vermögen ihren Abschreibungen entsprechen. Ausgiebig wurde bereits über operative Leasingverpflichtungen gesprochen und dass diese Einfluss auf die Kapitalbasis und die Kapitalkosten des Unternehmens haben. Häufig vernachlässigt wird jedoch, dass diese Adjustierung des eingesetzten Kapitals Auswirkungen auf das operative Ergebnis hat. Da Leasingaufwendungen eine feststehende zukünftige Verpflichtung darstellen, sollte der Finanzierungsan3╇
Zum Beispiel von Beedles (1978, S.€173).
13.3â•… Fehler in der Anwendung der Bewertungsmodelle
449
teil auch dem finanziellen Leistungsbereich zugeordnet werden, nicht dem operativen. Ansonsten würde es zu einer Diskriminierung gegenüber Unternehmen kommen, die ihre Investitionen als Kauf mit Fremdfinanzierung oder über Capital Leasing finanzieren. Das operative Ergebnis, in dem die Leasingaufwendungen rein buchhalterisch enthalten sind, wird um den Betrag der impliziten Zinsen zu gering ausgewiesen und ist dementsprechend zu entlasten. Dieser Adjustierungseffekt errechnet sich aus den Vorsteuerkosten des Fremdkapitals des Unternehmens und dem Barwert der operativen Leasingverpflichtungen. Die Anpassung erfolgt dabei nach folgender Formel:
EBITadj = EBITrep + OpLease − DepLease .
(13.5)
Die Einstufung der operativen Leasingaufwendungen in den finanziellen Leistungsbereich erhöht also das Betriebsergebnis und damit den Freien Cashflow. Es gibt aber auch einen gegenläufigen Effekt auf den Freien Cashflow: Veränderungen der operativen Leasingbeträge im Zeitablauf sind nämlich als Substitut für Sachanlageinvestitionen zu betrachten. Ausgaben für operatives Leasing erhöhen mithin die Sachanlageninvestitionen und verringern den Freien Cashflow. Die gesamten Capex einer Periode sind demnach die Summe aus den direkten Investitionen und den über operatives Leasing getätigten Investitionen, also Capexadj = Capex + (Lease − Lease t 0,t 0,t−1 ) = Capext + Lease0,t . t
(13.6)
Weitere Auswirkungen hat die Kapitalisierung der Leasingaufwendungen auf EVbezogene Multiplikatoren. So wird sich der EV/Umsatz-Multiplikator durch die Berücksichtigung von Leasing in jedem Fall verschlechtern, da hier zwar der Zähler ansteigt, der Nenner jedoch konstant bleibt. Anders im Fall des EV/EBITDAMultiplikators, bei dem Zähler wie Nenner gleichermaßen zu adjustieren sind, und zwar im Zähler mit den Leasingaufwendungen und im Nenner mit den impliziten Zinszahlungen:
EV/EBITDA =
EK0 + Debt0 + Lease0 . EBITDA + Intimplizit
(13.7)
Ob sich diese Bewertungskennzahl durch die Einbeziehung der Leasingzahlungen verbessert oder verschlechtert, kann prima vista nicht gesagt werden. Die Antwort ist davon abhängig, ob die nicht-adjustierte EV/EBITDA-Kennzahl größer oder kleiner ist als das Verhältnis aus dem Barwert der operativen Leasingverpflichtungen und den jährlichen Leasingzahlungen4. Eine weitere, häufig zu beobachtende Fehlerquelle in Bewertungsmodellen ist die Inkonsistenz von Diskontierungsfaktor und zu diskontierender Größe: Werden die Cashflows geschätzt, die Eigen- und Fremdkapitalgebern zur Verfügung stehen, sind als Diskontierungssatz die durchschnittlichen gewichteten Kapitalkosten anzu4╇
Vgl. auch Damodaran (2008, S.€23).
450
13â•… Typische Fehler in der Unternehmensbewertung
setzen. Erfolgt dagegen die Ermittlung des Unternehmenswertes über Cashflows to Equity, auf die allein Aktionäre einen Anspruch haben, muss die Diskontierung über die geforderten Eigenkapitalkosten erfolgen. In diese Kerbe schlagen auch Inkonsistenzen, wie sie bei der Bildung von Multiplikatoren entstehen können. Ein Beispiel ist der Kurs/Umsatz-Multiplikator. Bei diesem steht im Nenner eine gesamtkapitalspezifische Kennzahl, im Zähler eine eigenkapitalspezifische. Meist argumentieren die Befürworter dieser Kennzahl damit, dass ja schließlich alle Unternehmen der Referenzgruppe gleichermaßen von der Inkonsistenz betroffen wären. Daraus kann jedoch keine Legitimität dieser Kennzahl abgeleitet werden. Zwei unterschiedlich verschuldete Unternehmen mögen zwar gleich bewertet sein, jedoch ist die Aktie des höher verschuldeten Unternehmens relativ überbewertet, die des weniger verschuldeten Unternehmens relativ unterbewertet. Zu den schwierigsten Aufgaben in der Unternehmensbewertung zählt die Berechnung des Endwertes. Gleichzeitig kommt ihr aufgrund der hohen Bedeutung, den der Endwert auf den gesamten Unternehmenswert hat, eine der Hauptrollen im Bewertungsprozess zu. Dennoch werden bei der Berechnung des Endwertes immer wieder gravierende Fehler gemacht. Bekannt ist, dass zum Zeitpunkt des Steady-State annahmegemäß nur noch Ersatzinvestitionen stattfinden, die gerade ausreichen, das Wachstum widerzuspiegeln; Erweiterungsinvestitionen sind dann nicht mehr zulässig. Für ein Wachstum der Produktionskapazitäten ist ebenso wenig Spielraum wie für ein dauerhaftes Schrumpfen, da dieses aufgrund der Ewigkeitsannahme des Terminal Value in einem Unternehmenswert von Null enden würde. Erweiterungsinvestitionen und Endwert schließen sich also aus5. Eigen- wie Gesamtkapitalkosten sind nur in Einperiodenmodellen präzise definiert. Kommen sie in Mehrperiodenmodellen zum Einsatz, sind in der Regel Verzerrungen die Folge, da zum Beispiel bei der Berechnung des Terminal Value nicht dieselben Kapitalkosten zum Einsatz kommen sollten wie bei der Bewertung von Zahlungsströmen während der Detailplanungsperiode. Eigentlich ein Anfängerfehler, taucht er trotzdem immer wieder in Bewertungsmodellen selbst aus profilierten Research-Häusern auf: Die fehlerhafte Diskontierung des Endwertes. Anstelle der korrekten Diskontierung
TV0 =
TVT+1 (1 + WACC)T
(13.8)
,
liest man häufig fehlerhaft
TV0 =
TVT+1 (1 + WACC)T+1
.
(13.9)
Hierbei wird der Fortführungswert – vermutlich aus Symmetriegründen – um eine Periode zu viel diskontiert.
5╇
Vgl. Bamberger (1999, S.€656).
13.3â•… Fehler in der Anwendung der Bewertungsmodelle
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Schließlich ergeben sich auch aus Multiplikatormodellen verschiedene Probleme. Angenommen, die Peergroup ist mit einem EV/EBIT-Multiple von 3,0x bis 11,8x bewertet, der Durchschnittswert liegt bei 6,9x. Angesichts einer derart großen Bandbreite stellt sich natürlich die Frage, ob die Peergroup tatsächlich die richtigen Werte enthält und warum ein mathematischer Durchschnittswert überhaupt eine relevante Rolle einnehmen soll6. Auch sollte sich der Investor nicht vor allzu tiefsinnigen Ableitungen des Unternehmenswertes anhand von selbst geschaffenen „esoterischen“ Multiplikatoren blenden lassen, wenn, wie Fernández dies in einem erbaulichen Beispiel vorführt7, der Enterprise Value eines Internetunternehmens durch die Anzahl der Einwohner der von diesem Internetunternehmen adressierten Landesteile dividiert wird, dieser Wert anschließend mit dem Anteil des Bruttoinlandsprodukts dieses Landesteils am Bruttoinlandsprodukts des Landes und mit dem Marktanteil des Internetunternehmens multipliziert wird. Nach Subtraktion der Nettoverschuldung und Division durch den Wechselkurs erhält der Analyst den Wert je Aktie. Zum gleichen Ergebnis könne man, so Fernández, auch gelangen, wenn man das Alter der Schwiegermutter von Manolo, der in der Nähe des Firmensitzes des Internetunternehmens wohnt, mit zwei multipliziert.
6╇ 7╇
Vgl. Fernández (2001, S.€7€ff.). Fernández und Bilan (2007, S.€23).
Glossar
Adjusted Present Value-Ansatz╇ Beim APV-Ansatz wird der Unternehmenswert in drei separaten Schritten berechnet: Zunächst wird der Wert eines unverschuldeten Unternehmens hergeleitet, anschließend wird der Barwert der Steuerersparnisse ermittelt, der entsteht, wenn das Unternehmen einen bestimmten Kreditbetrag aufnimmt, und abschließend die Auswirkungen der Verschuldung in Abhängigkeit von der Wahrscheinlichkeit, mit der das Unternehmen in Insolvenz gehen kann. Im praktischen Einsatz kommt das APV-Konzept vor allem bei der Bewertung von Unternehmen zur Anwendung, die von Illiquidität bedroht sind und deren Überleben nicht uneingeschränkt vorausgesetzt werden kann. Alpha╇ Das Alpha (auch Alpha-Faktor oder Jensen-Alpha) bezeichnet in der Finanzmarkttheorie ein Maß für die Überrendite eines Wertpapiers oder eines Portefeuilles gegenüber seiner Benchmark. Es entspricht der Differenz zwischen der tatsächlich erzielten Wertpapierrendite und der Rendite, die man risikoadjustiert für diese Anlage hätte erwarten können. Bezogen auf einen Investor entspricht das Alpha dem Maß für seine Fähigkeiten, den Kapitalmarkt zu schlagen. Nur wenn das Alpha positiv ist, ist es dem Investor gelungen, eine risikoadjustierte Überrendite zu erwirtschaften. Ursächlich für ein positives Alpha sind exzellente analytische Fähigkeiten des Fondsmanagers, gute Kontakte auf den Kapitalmärkten, ein Informationsvorsprung gegenüber anderen Marktteilnehmern oder einfach nur Glück. Empirischen Untersuchungen zufolge erzielen Small Caps und Unternehmen mit niedrigem KGV über einen langen Zeitraum positive Alphas. Anzahl ausstehender Aktien╇ Die Anzahl ausstehender Aktien wird üblicherweise als „voll verwässerte“ Zahl angegeben. Darunter ist die Zahl an Aktien zu verstehen, die von der Gesellschaft in der Vergangenheit ausgegeben wurde, zuzüglich der Aktienoptionen, die sich im Geld befinden (in the money), zuzüglich der ausgegebenen Wandelanleihen und abzüglich der Treasury Shares, also der Aktien, die die Gesellschaft am Kapitalmarkt zurückgekauft hat und im eigenen Bestand hält. Ausschüttungsquote╇ Üblicherweise wird die Ausschüttungsquote als Quotient zwischen Dividendensumme und Nachsteuerergebnis definiert. Sie misst den Anteil des Jahresüberschusses, der an die Aktionäre ausgeschüttet wird. Da für die DiviP. T. Hasler, Aktien richtig bewerten, DOI 10.1007/978-3-642-21170-6, ©Â€Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Glossar
dendenhöhe ausschließlich der ausschüttungsfähige Gewinn der Muttergesellschaft bedeutsam ist, dürfte genau genommen nur der AG-Abschluss zur Berechnung der Ausschüttungsquote verwendet werden. Wachstumsunternehmen zu Beginn ihres Lebenszyklus weisen in der Realität sehr niedrige Ausschüttungsquoten auf, meist ist sie sogar Null. Mit zunehmendem Reifegrad des Unternehmens und sinkenden Investitionsalternativen steigt die Ausschüttungsquote sukzessive an. Der Kehrwert der Ausschüttungsquote wird Dividend Cover bezeichnet. Beta╇ Basierend auf dem Capital Asset Pricing Model (CAPM) stellt der Betafaktor das mit einer Investitions- oder Finanzierungsentscheidung übernommene systematische, also nicht-diversifizierbare Risiko eines Wertpapiers dar. Er gibt an, wie stark die Rendite eines Wertpapieres im Vergleich zum Marktportefeuille schwankt. Als theoretisches Konstrukt sind im Marktportefeuille sämtliche Anlageformen einer Volkswirtschaft enthalten. Ein Beta von Eins bedeutet, dass das Wertpapier so stark schwankt wie das Marktportefeuille. Liegt das Beta über Eins, sind die Schwankungen stärker ausgeprägt als die des Marktportefeuilles, ein Wert zwischen Null und Eins bedeutet, dass sich die Rendite des Wertpapiers unterproportional zum Marktportefeuille entwickelt, Betafaktoren von Null sind vollkommen risikolose Wertpapiere, während ein Beta von kleiner Null eine inverse Korrelation zwischen dem Wertpapier und dem Gesamtmarkt unterstellt, d. h. dass die Rendite des betroffenen Wertpapiers zurückgeht, wenn die Rendite des Gesamtmarktes steigt, und umgekehrt. Zu unterscheiden ist zwischen dem Asset- oder unlevered Beta und dem levered Beta. Betriebsergebnis╇ Das Betriebsergebnis, meist EBIT, ist das aus dem betrieblichen Geschäft erwirtschaftete Ergebnis vor Zinsen und Steuerzahlungen. Book to Bill-Ratio╇ Die Book to Bill-Ratio (BtB-Ratio) gibt das Verhältnis aus Auftragseingang (Bookings) zu Umsatz (Billings) innerhalb eines definierten Zeitraums wider. Als relevanter Indikator für die aktuelle Marktverfassung ist sie ein Indikator, ob der Gesamtmarkt wächst (BtB-Ratioâ•›>â•›1) oder schrumpft (BtB-Ratioâ•›