Dirk Barghop
FORUM _ERANGST Eine historischanthropologisc11e Studie zu Verhaltensmustern von Senatoren im Römischen Kaiserreich
Das Thema »Ailgst« ist in de:1 Altertumswissenschaften fast ausschließlich mit einem geistesgeschichtlichen Ansatz behandelt worden. Eine völlig andere Sicht wird in dieser Studie vorgestellt. Mit den Mitteln der Historischen Anthropologie und der Mentalitätsgeschichte arbeitet Dirk Barghop die Besonderheit der "'\l1gst von Senatoren im frühen Römischen Kaiserreich heraus. Typische Verhaltenskonflikte und eigentümlich~ Kommunikationsformen von Senatoren in der politischen Auseinandersetzung mit dem Kaiser lassen Rückschlüsse auf das Vorhandensein einer solchen spezifisch senatorischen Angst zu. Die sogenannte »senatorische Opposition« gegen den Kaiser, das Denunzialltentum, die Geserzgebung gegen den zunehmenden Luxus und die Konjunktur der stoischen Philosophie erfahren vor diesem Hintergrund eine neue Deutung.
ISBN 3-593-35094-7
Historische Studien Band 11 Wissenschaftlicher Beirat Heinz Gerhard Haupt, Ludolf Kuchenbuch, Jochen Martin, Heide Wunder
Dirk Barghop, geb. 1960, promovierte 1992 in Alter Geschichte mit den Nebenfächern Neuere und neueste Geschichte und Lateinische Philologie an der Universität Freiburg.
Dirk Barghop
Forum der Angst Eine historisch-anthropologische Studie zu Verhaltensmustern von Senatoren im Römischen Kaiserreich
Campus Verlag Frankfurt/New York
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Barghop, mrk:
Forum der Angst: eine historisch-anthropologische Studie zu Verhaltensmustern von Senatoren im Römischen Kaiserreich I Dirk Barghop. - FrankfurtlMain; NewYork: Campus Verlag, 1994 (Historische Studien; Bd. 11) ISBN 3-593-35094-7 NE:GT
D25 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtIich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere fürVervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 1994 Campus Verlag GmbH, FrankfurtlMain Umschlaggestaltung: Atelier Warminski, Büdingen Druck und Bindung: Druck Partner Rübelmann GmbH, Hemsbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany
Inhalt
Vorbemerkung.............................................................................................. 11 Einleitung...................................................................................................... 13 Die geschlossene Sänfte des Augustus: Ein paradigmatischer Verweis auf das Darzustellende .......................... 13 Disposition-für-Angst, Habitus und Figuration: Gegenstand, Fragestellungen und Ziel der Untersuchung..................... 16 Die Senatoren schaft von Tiberius bis Trajan: Die zeitlichen Grenzen der Untersuchung .............................................. 18 Rom und die Villeggiatur: Die räumlichen Grenzen der Untersuchung........................................... 21 Metus Gallicus, metus Punicus und die Angst bei Tacitus: Untersuchungen zur Angst in der römischen Geschichte ...................... 23 Teil I Angst als Objekt einer historisch-anthropologischen Studie: Ein flüchtiges Phänomen ............................................................................. 31 Die Angst: Ein natürliches Objekt der Geschichte? ................................................ 31 Die anthropologische Kompetenz Angst: Eine "gesichtslose Virtualität" ................................................................ 36 Dispositionen-für-Angst: Das Andere der Subjektivität. ...................................................................... 41 Der 'römische Geist', seine Werte und Ideen: Ein allgegenwärtiger Herrscher der römischen Geschichte ................... 41
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Der ethnologische Blick auf die Exotik der römischen Geschichte ..... .49 Das strebende Subjekt und seine Furcht-Angst.. ................................... 53 Figuration, Habitus und der Standort des Historikers ................................ 55 Die senatorische Gemeinschaft als 'Figuration interdependenter Menschen' ................................................................................................ 55 Soziales Feld und Subjektivitätsfonn: Ein neues 'dualistisches Problem'? ........................................................ 57 Die Unfähigkeit des Historikers, zugleich einen fremden Glauben zu glauben und zu beobachten ..................................................................... 58 Die 11 zwei Objektivierungen der Geschichte" ......................................... 60 Teil
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Ressourcenverfügung als Ordnungsprinzip der senatorischen Figuration ...................................................................................................... 65 Ressourcenverfügung und gesellschaftliche Stärke ................................ 65 Die Position des princeps: Das Zentrum der Ressourcenvergabe..................................................... 69 Die Nähe zum princeps: Kristallisationspunkt überlegener gesellschaftlicher Stärke ................... 71 Mobilisierung gesellschaftlicher· Stärke.................................................. 73 Ressourcenverfiigung oder Patronage? ................................................... 76 Körperliche Hexis und die Disposition-der-Umkehrbarkeit.. ..................... 80 Die Toga und die wandelnden aristokratischen Statuen ........................ 81 Die phonetische Verdichtung der res publica ........................................ 87 Die Fleischwerdung der Rangverhältnisse ............................................. 89 Die egalitäre Dimension der Zeit........................................................... 91 Der Körper des princeps.............................................................................. 96 Tiberius und die Allgegenwärtigkeit des kaiserlichen Sprechens......... 96 'Tyrannische' Körperbewegungen ...................................... :.................. 106 6
Der Panegyricus des Plinius: Die Symbolik der senatorischen körperlichen Hexis als normative Anforderung an das kaiserliche Verhalten................... .................... .... 109 Exkurs: Die 'senatorische Opposition' - Politisch motivierter Widerstand? ........ 113
Die außerkörperlichen symbolischen Setzungenund die Disposition-zum-Kursieren ........................................................................ 121 Das Kursieren der Zeichen .................................................................... 121 Status- und Ehrenabzeichen als kaiserliche Ressourcen...................... 128 Das Verschwinden des triumphalen Raumes ....................................... 131 Die Inflation der Symbole und die triumphale Praktik der Herrschaftsinszenierung......................................................................... 132 Die Disposition-zum-Kursieren und das Prinzip der Ressourcenverfligung............................................................................. 142 Exkurs: Die Luxusgesetzgebung - Ohnmächtige Moral und mächtiger Prunk ..... 143
Die Praktiken der Verhaltenskontrolle und die Disposition-des-inszenierten-Außenbezuges .............................................. 150 Beobachten von Angesicht zu Angesicht und allgemeines Ahnden ... 150 Beobachten als senatorische Ressource ................................................ 155 Exkurs: Das Delatorentum - Ein Disziplinierungsinstrument des Kaisers? ......... 160
Die Konjunktur der stoischen Philosophie ................................................ 165 Senecas Briefe an Lucilius und die "Wächter" des eigenen Verhaltens .............................................................................................. 166 Die stoische 'Sekte' in der aristokratischen Gemeinschaft: 'Therapie', Egalität und Maskerade ...................................................... 179
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Die domus principis und die Disposition-der-Distanzierung................... 183 Experten der Macht: Die kaiserlichen Freigelassenen ........................................................... 186 Die Imago vom hochmütigen Freigelassenen...................................... 187 Der doppelte Blick in Senecas Ad Polybium de Consolatione ........... 192 Senatorische Abgrenzungsversuche...................................................... 200 Zusammenfassung...................................................................................... 202 Das senatorische Reden über die Angst... ............................................ 202 Ein Phantombild senatorischer Angst. .................................................. 206 Bibliographie.............................................................................................. 212
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Meinen Eltern und Bärbel
Vorbemerkung
Die Angst, die Angst, wo sind die Federn, die Kardigramme, die sie aufzuzeichnen vermögen, ... Ingeborg Bachmann Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1992/93 vom Gemeinsamen Ausschuß der Philosophischen Fakultäten der Universität Freiburg als Dissertation angenommen; ihr ursprünglicher Titel lautete Forum der Angst. Habitus-Konflikte in der Senatorenschaft des frühen Prinzipats. Ein Beitrag zur historischen Soziologie der Angst im Altertum. Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet. Ohne das mir gewährte zweijährige Stipendium der Landesgraduierterrförderung hätte ich diese Arbeit nicht schreiben können; es verschaffte mir den Freiraum, mich intensiv mit meinem Thema auseinandersetzen zu können. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Renate Zoepffel für die Betreuung und Unterstützung während meines Studiums, meiner Bewerbung um das Stipendium und meiner Promotion. Sie hat meine Arbeit mit motivierender Diskussionsbereitschaft begleitet. Thre konstruktive Kritik und ihre kontinuierliche Förderung gaben mir großen Rückhalt. Danken möchte ich auch PD Dr. Egon Flaig für die Durchsicht der methodischen Kapitel meiner Studie und für manche Anregung zu einem anderen Blick auf die römische Geschichte. Prof. Dr. Jochen Martin danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens, für seine Förderung bei meiner Bewerbung um das Stipendium und für seine Fürsprache rür die Aufnahme der Arbeit in die Historischen Studien. Prof. Dr. Joseph Jurt danke ich dafür, daß er das Drittgutachten übernommen hat. Für die kritische Lektüre meiner Arbeit, für Hinweise auf Fehler und für Ratschläge danke ich Dr. Christine Rohweder und Ralf Lusiardi. Das am Seminar für Alte Geschichte veranstaltete Althistorische Forschungskolloquium gab mir die Möglichkeit, meine Untersuchung in einem frühen Stadium zur Diskussion zu stellen. Auch dafür sei gedankt. Der Austausch in diesem Rahmen bestärkte mich in meinen Überlegungen. Ganz besonders bedanke ich mich bei Dr. Bärbel Götz für ihre Unterstützung und ihre Geduld.
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Einleitung
Die geschlossene Sänfte des Augustus: Ein paradigmatischer Verweis auf das Darzustellende Unter der Herrschaft des Augustus konnten die Einwohner Roms auf dem Forum und in den Straßen einer geschlossenen Sänfte begegnen, die unschwer als die des princeps zu erkennen war. Sueton berichtet, daß sich Augustus regelmäßig "in einer geschlossenen Sänfte durch die Stadt tragen" ließ, wenn er ohne irgendwelche Amtsinsignien außer Hause weilte. Als Konsul, so der Biograph weiter, erschien der princeps "meist zu Fuß"! auf dem Forum. Warum vermied es Augustus, sich vor aller Augen als privatus sehen zu lassen? Warum versteckte er seinen Körper hinter den Vorhängen einer Sänfte? Warum begab er sich, wenn möglich, nur mit den magistratischen Ehrenzeichen auf das Forum? Die geschlossene Sänfte des Augustus war Ausdruck einer Unsicherheit, die sich in den Kommunikationsformen und Verhaltensmustern zwischen dem ersten princeps und den Mitgliedern des herrschenden Standes, den Senatoren, eingenistet hatte. Für die Mitglieder der aristokratischen Gemeinschaft konnte es sehr peinlich werden, dem Kaiser als privatus auf dem Forum oder auf der Straße zu begegnen. Gleiches galt umgekehrt für den princeps. Aufgrund seiner herausragenden Stellung in der res publica war zu erwarten, daß die Senatoren dem Augustus in der res publica auswichen und den Platz frei machten oder ihm gar Bitt- und Dankesgesten entgegenbrachten. Diese Verhaltensweisen wurden bisher nur gegenüber einem genau beschränkten Personenkreis praktiziert. Nur vor den Magistraten wich man aus; nur der Triumphator durfte Dankesgesten entgegennehmen. Die Senatoren sahen sich so vor die Schwierigkeit gestellt, den Ort der eigenen Person gegenüber dem Kaiser zu lokalisieren - und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Sollten sie ihm Platz machen? Sollten sie gar vor seinen Füßen auf
1
Suet., Aug. 53: In consulatu pedibus fere. extra consulatum saepe adoperta sella per publicum incessit.
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dem Boden knien? Symbolisch gesprochen: Sollten sie ihm mit diesen Gesten Ehrerbietung entgegenbringen?2 Oder sollten sie sich gegenüber dem Kaiser genauso benehmen wie gegenüber jedem anderen Standesgenossen auch? Die Situation war vor allem deswegen so brisant, weil sie vor aller Augen sichtbar Anlaß zu verschiedensten Interpretationen und Gerüchten geben konnte. "Was für ein Schmeichler, der sich dem princeps vor die Füße wirft!" "Was für eine Mißachtung der maiestas, dem Kaiser nicht einmal auszuweichen!" Oder: "Was ftir ein Hochmut, von einem Senatoren den Kniefall zu erwarten!" Um diesen Unsicherheiten in der Kommunikation und den unkontrollierbarenfamae zu entgehen, verbarg Augustus seine Person hinter den Vorhängen einer Sänfte. Nur als Inhaber des Konsulats konnte er sich ganz ohne Bedenken auch zu Fuß in der Öffentlichkeit sehen lassen. Die Verhaltensregeln für alle Beteiligten waren in diesem Fall eindeutig festgelegt.3 Suetons Geschichte von der geschlossenen Sänfte des Augustus verweist paradigmatisch auf ein Phänomen, das den Umgangsformen unter den Mitgliedern des herrschenden Standes im frühen Prinzipat eine ganz spezifische Kennzeichnung gab. Schon in den letzten beiden Jahrhunderten der Republik verloren verschiedene senatorische Verhaltensmuster ihre eindeutige Verbindlichkeit. Im Zeichen der gewaltigen Ausdehnung des römischen Herrschaftsgebietes drohten vor allem solche politischen Spielregeln und Umgangsformen unkontrollierbar zu werden, durch die die Mitglieder der aristokratischen Gemeinschaft Macht und Herrschaftsgewalt ausübten und teilten. 4 Als Reaktion berief man sich verstärkt auf einen mos maiorum, der den angeblich verderblichen Sitten der Gegenwart als Spiegel vorgehalten wurde: "Mos wurde überall dort, wo man ihn-mißachtete, als--Wert bewußt"s. Je gravierender die Verhaltensregeln verletzt wurden, desto strenger und schärfer trat der normierende Charakter des mos maiorum hervor. 6 Mit dem Ende der Bürgerkriege und der Errichtung des Prinzipats durch Augustus waren die Unsicherheiten in den senatorischen Verhaltensweisen
2
Zur Symbolik der Körperbewegungen s. das Kap. Körperliche Hexis und die Disposition-der-Umkehrbarkeit.
3
4
5 6
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S. auch Alföldi, Andreas (1970): Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche. Darmstadt, S. 101. Bleicken, Jochen (1975): Lex publica. Gesetz und Recht in der römischen Republik. Berlin, S. 372ff. Bleicken (1975), S. 374. Bleicken (1975), S. 376. Bleickens Ausführungen zum mos maiorum stellen wohl die genaueste Analyse und Bestimmung dessen dar, was die Genese und Funktion dieses aristokratischen Wenekanons ausmacht.
und Kommunikationsfonnen aber keineswegs aus der Welt geschafft. In der Person des princeps betrat ein völlig neuer Faktor die Bühne des politischen und gesellschaftlichen Geschehens. In ihr wurde etwas manifest, was für die Aristokratie bisher unvorstellbar gewesen war: Einem Mitglied ihrer Gemeinschaft war es gelungen, Herrschaftsressourcen auf die eigene Person zu monopolisieren und die Alleinherrschaft dauerhaft im römischen Gemeinwesen zu etablieren. Mochten sich die Senatoren aufgrund der traumatischen Erlebnisse und Erinnerungen der Bürgerkriege mit diesem Zustand als dem geringeren Übel abgefunden haben, so mußten die neuen Gegebenheiten doch mit verschiedenen Umgangsfonnen in vielfältige Spannungen geraten. Zu sehr hatten sich mit der Errichtung des Prinzipats auch die gesellschaftlichen Stärkeverhältnisse verändert, als daß diese sozialen Transfonnationen ohne Auswirkungen auf gewisse senatorische Verhaltensdispositionen7 bleiben konnten. Diese Situation kennzeichnete mit ModifIkationen und Festschreibungen verschiedenster Art das gesamte erste nachchristliche Jahrhundert. 8 Nicht allein die Kommunikation zwischen dem Kaiser und den Senatoren war vielfaltigen Störungen ausgesetzt, auch die Verhaltensmuster unter den Senatoren selbst konnten den neuen Gegebenheiten kaum gerecht werden. Die veränderten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Realitäten des Prinzipats ließen sich nicht mehr mittels der überkommenen Verhaltensdispositionen ausrechnen und ohne größere Verschiebungen ihrer Symbolik aktualisieren. Die Art und Weise, wie sich die Mitglieder der aristokratischen Gemeinschaft als Subjekte ihrer Handlungen konstituierten, war in Frage gestellt; verschiedene Verhaltensmuster gerieten in Gefahr, ihren Sinn zu verlieren. Es liegt daher der Verdacht nahe, daß sich in der Senatorenschaft ein 'Raum der Angst' ausbreitete - in einer sozialen Gruppe, die sich neben anderen Unterscheidungsmerkmalen ausgerechnet durch das Ideal der Furchtlosigkeit als herrschende Elite von anderen Teilen der römischen
7
Zum Begriff der 'Verhaltensdisposition' s. das Kap. D~ "zwei Objektivierungen der
Geschichte". 8
Zur allgemeinen Geschichte des Kaiserreiches s. u. a.: Bleicken, Jochen fI981): Verfassungs- und Sozialgeschichte des Römischen Kaiserreiches. 2 Bde. Paderbom. Christ, Karl (1988): Geschichte der römischen Kaiserzeit von Augustus bis zu Konstantin. München. - Gamsey, Peter und Salier, Richard P. (1989): Das Römische Kaiserreich. Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. Reinbek bei Hamburg. - Meise, Eckard (1969): Untersuchungen zur Geschichte der Julisch-Claudischen Dynastie. München. - Miliar, Fergus (1977): The Emperor in the Roman World (31 B. C.-A. D. 337). London Schrömbges, Paul (1986): Tiberius und die Res publica Romtlna. Untersuchungen zur Institutionalisierung des frühen römischen Prinzipats. Bonn. - Timpe, Dieter (1962): Untersuchungen zur Kontinuität des frühen Prinzipats. Wiesbaden.
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Gesellschaft hervorzuheben versuchte. 9 Hatte sich das römische Forum im frühen Prinzipat für die Senatoren in ein 'Forum der Angst' verwandelt?
Disposition-für-Angst, Habitus und Figuration: Gegenstand, Fragestellungen und Ziel der Untersuchung In der vorliegenden Untersuchung will ich dem erhobenen Verdacht nachgehen, indem ich mich dem Phänomen senatorischer Angst durch eine Beschreibung der Beziehungen zwischen aristokratischer Figuration1o und senatorischem Habitus ll nähere. Mit Hilfe einer historisch-anthropologischen Methodik, die ihr Augenmerk ausschließlich auf die überlieferten literarischen Zeugnisse richtet,12 sollen die Brüche und Spannungen zwischen diesen beiden Bereichen erfaßt werden. Die Untersuchung zielt darauf, solche Verhaltensdispositionen zu ennitteln, die sich im frühen Prinzipat in Dispositionen-für-Angse3 verwandelten und damit der senatorischen Angst ihr
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Auf die Thematisierung des Ideals der Furchtlosigkeit durch die herrschenden Klassen allgemein verweist Delumeau, Jean (1985): Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts. Bd. 1. Reinbek bei Hamburg, S. 15: "Von der Antike bis in die jüngste Vergangenheit, besonders jedoch in der Renaissance, hat die Literatur, von der Ikonographie unterstützt (Bildnisse in ganzer Figur, Reiterstandbilder, heroische Gebärden und Faltenwürfe), die - individuelle - Tapferkeit der Helden gerühmt, die die Gesellschaft lenkten. Sie mußten so sein oder wenigstens als solche hingestellt werden, um in ihren eigenen und in aeriAugen des Volkes die Machtstellung zu rechtfertigen, die sie innehatten. Umgekehrt war die Angst das schimpfliche, gemeinsame Los der Bauern und gleichzeitig der Grund für deren Abhängigkeit" Delumeau zitiert unter anderem Vergil, Aeneis 4, 13: "Niedre Geburt verrät sich durch Furcht" - degeneres animos timor arguit. (S. 13) - S. auch: Quint., inst. orat. 6, 2, 17: "[...] wobei wir gewöhnlich Bilder von bäurischen, abergläubischen, habgierigen und ängstlichen Menschen entwerfen [... ]." - {...] quibus plerumque rusti-
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Zum Begriff der 'Figuration' s. das Kap. Die senatorische Gemeinschaft als "Figurati-
11
Zum Begriff des 'Habitus' s. das Kap. Die "zwei Objektivierungen der Geschichte". Für dieses Vorhaben bieten sich von Münzen über Inschriften bis zu den archäologischen Überresten weitere Quellenarten an; auf ihre Berücksichtigung wurde hier zugunsten einer strikten Anwendung der noch darzulegenden methodischen Überlegungen auf die überlieferten literarischen Zeugnisse verzichtet
cos. superstitiosos, avaros, timidos {...] effingimus {.. .l. on interdependenter Menschen". 12
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Zum Begriff der 'Disposition-für-Angst' s. die Kap. Angst als Objekt einer historischanthropologischen Studie: Ein flüchtiges Phänomen und DispositioTU!n-für-Angst: Das Andere der Subjektivittit. Die in dieser Untersuchung vor allem im Zusammenhang mit
besonderes Gepräge gaben. Dabei wird sich zeigen, daß Konfliktbereiche wie die senatorische Opposition oder das Delatorentum, die in der Regel als politische Phänomene verstanden werden, auch als Indikatoren senatorischer Habituskonflikte und senatorischer Angst gelesen werden können. Während ich die Behauptung aufstelle, das römische Forum habe sich im frühen Prinzipat tatsächlich in ein 'Forum der Angst' verwandelt, soll diese Untersuchung zugleich selbst ein 'Forum der Angst'in dem Sinne darstellen, als sie den Begriff der' Angst' als historisch-anthropologische Kategorie festzuschreiben versucht. "Ein allgemeines, epochenübergreifendes anthropologisches Sachwissen" für die Beschäftigung mit dem Phänomen der Angst ist bisher weder für den Bereich der Altertumswissenschaften noch für die Geschichtswissenschaft insgesamt erarbeitet worden. 14 In einem den empirischen Ausführungen vorausgehenden methodischen Teil muß es deshalb zunächst darum gehen, ein geeignetes begriffliches Instrumentarium zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen. Indem gängige Definitionen und Erklärungsmuster der Angst auf ihre Tragfähigkeit und Brauchbarkeit für eine historisch-anthropologische Untersuchung überprüft werden, sollen auch die Ursachen aufgezeigt werden, warum das Phänomen der Angst nur selten im historischen Diskurs 1S einen Platz findet. Die Darlegungen des methodischen Teils werden allerdings auch zeigen, daß in einer historisch-anthropologischen Untersuchung mit dem Phänomen der Angst sehr vorsichtig umzugehen ist. Erst recht verbietet es sich, das Leben der Senatoren in apokalyptischen Metaphern zu beschreiben. Diese Vorgehensweise mag zwar ein lebendiges Bild vergangener Zeiten vennitteIn, einer differenzierten Analyse wird sie aber in keiner Weise gerecht. Vielmehr verschwindet das Spezifische senatorischer Angst hinter einem
dem Begriff der Disposition verwendeten Bindestrichausdrücke wollen nicht auf irgendwelche semiotischen Hintergedanken verweisen. Sie dienen ausschließlich dazu, die Tennini im Kontext der Darstellung optisch besser hervorzuheben. 14
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Meier, Christian (1986): Die Angst und der Staat. Fragen und Thesen zur Geschichte menschlicher Affekte. In: Rössner, Hans (Hg.): Der ganze Mensch. Aspekte einer pragmatischen Anthropologie. München, S. 245f. - S. auch Delumeau (1985), Bd. 1, S. 15: "Heutzutage gibt es unzählige wissenschaftliche Werke, Romane, Autobiographien und Filme, in deren Titel die Angst vorkommt. Merkwürdigerweise hat die Geschichtsschreibung, die in unserer Zeit so viele neue Bereiche erschlossen hat, den der Angst vernachlässigt. " Der Begriff des 'Diskurses' trägt aufgrund seiner inflationären Verwendung in vielen Fällen eher zur Verklärung als zur Erhellung eines Sachverhaltes bei. Hier soll er vor allem zur Bezeichnung für die wissenschaftliche Bearbeitung eines Themas verwendet werden; im methodischen Teil wird er auch zur allgemeinen Bezeichnung eines Systems sprachlicher Äußerungen benutzt.
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Vorhang von Bildern des Schreckens, die eine alles umfassende Allmacht der Angst suggerieren: Die Angst lauert überall, sie durchdringt alles, es gibt kein Entkommen. Solche apokalyptischen Phantasien wollen glauben machen, der historische Diskurs über die Angst könne tatsächlich die Angst einer vergangenen Zeit als solche nachweisen, ja dingfest machen. Dies ist, wie sich noch herausstellen wird, ein Irrtum. In den nachfolgenden Ausführungen wird daher von der Angst der Senatoren nur selten unmittelbar die Rede sein. Es werden keine Zeugen aussagen, die ihr Vorhandensein beeiden können. Stattdessen sollen Indizien in Form von Dispositionen-fütAngst vorgestellt werden, die es ermöglichen, gewissermaßen ein Phantombild senatorischer Angst zu skizzieren.
Die Senatorenschaft von Tiberius bis Trajan: Die zeitlichen Grenzen der Untersuchung Nach dem Tode des Augustus erwiesen sich die gesellschaftlichen und politischen Stärkeverhältnisse als so tragfahig, daß die neuen Machtstrukturen bei der Herrschaftsübernahme des Tiberius nicht erneut in sich zusammenbrachen und keine gewalttätigen Konflikte innerhalb der aristokratischen Führungsschicht provozierten. 16 Das neue System hatte mit der gelungenen Nachfolgeregelung eine entscheidende Bewährungsprobe bestanden; es stieß bei den bedeutendsten Gruppen der römischen Gesellschaft auch in dem Moment auf allgemeine Akzeptanz, als sich seine Existenz auch ohne die Persönlichk~it ihres maßgeblichen Trägers Augustus beweisen mußte. 11 Die Senatorenschaft,18 die in den Bürgerkriegen von Sulla bis Octavian
16
Schrömbges (1986), S. 65.
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Einziger Unruheherd waren die Meutereien der pannonischen und rheinischen Legionen; s. Tac., anno 1, 16-49. Flaig, Egon (1992): Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich. Frankfurt a. M., beschreibt das politische System des Prinzipats als ein Akzeptanz-System. Die Stabilität kaiserlicher Herrschaft baute nach Flaig auf die Zustimmung der drei maßgeblichen politischen Sektoren: der des Senatorenstandes, des Heeres und der plebs urbana (Zum Akzeptanz-System S. V. a. das Kapitel Das Akzeptanz-System: Usurpation und fehlende Immunisierung der Monarchie, S. 174-207.). Zur Senatorenschaft im frühen Prinzipat S. u. a.: Bergener, Alfred (1965): Die führende Senatorenschicht im frühen Prinzipat (14-68 n. ehr.). Diss. Bonn. - Eck, Werner (1970): Senatoren von Vespasian bis Hadrian. Prosopographische Untersuchungen mit Einschluß der Jahres- und Provinzialfasten der Statthalter. München. - Gelzer, Matthias (1915): Die Nobilität der Kaiserzeit. In: Hermes 50, S. 395-415. - Grenzheuser, B.
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hohe Verluste hinnehmen mußte, war unter Augustus neu gefestigt worden. Der erste princeps hatte die Mitgliederzahl des Senats, die unter Caesar auf 1200 angewachsen war, auf rund 600 beschränkt. 19 Zugleich erhob er einige angesehene Adelsfamilien in den Patrizierstand..20 Auch die finanziellen Grundlagen des 'neuen' ordo senatorius waren nach dem Tode des Augustus eindeutig geregelt. Für die Aufnahme in den herrschenden Stand hatten die zukünftigen Senatoren ein Mindestvermögen von einer Million Sesterzen nachzuweisen. 21 Unterschritten sie es nach ihrer Aufnahme, liefen sie auf Dauer Gefahr, den latus c1avus wieder aberkatint zu bekommen. Die regionale Zusammensetzung des Senates war unter Tiberius (14-37 n. Chr.) noch äußerst homogen. Nur etwa zwölf der rund 600 Senatoren stammten aus den Provinzen.22 Dies begann sich aber spätestens in der Regierungszeit des übernächsten princeps zu ändern. Claudius (41-54 n. Chr.) setzte gegen den Widerstand der Mehrzahl der Senatoren durch, daß auch außeritalische Familien in den Senatorenstand aufgenommen wurden und bis in die höchsten Ehrenstellen aufsteigen durften. 23 Da ungefähr 75% aller senatorischen Familien nach einer Generation wieder aus dem Senat verschwanden, "erhielten die reichsten und prominentesten Angehörigen der lokalen Eliten in jeder Generation Hunderte von Einstiegsmöglichkeiten in den Senat. "24 Der Anteil provinzialer Geschlechter nahm als Folge immer mehr zu. In der flavischen Ära (69-96 n. Chr') kamen schon ungefähr 25% der Senatoren aus den Provinzen des römischen Reiches.2S Trotz der regionalen Umschichtung der Senatoren schaft blieb ihre Integrationskraft außerordentlich hoch. Auch die Geschlechter der homines Mvi, die sich hauptsächlich aus den schon früh romanisierten Provinzen der westlichen Reichs-
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(1964): Kaiser und Senat in der Zeit von Nero bis Nerva. Diss. Münster. - Halfmann, Helmut (1979): Die Senatoren aus dem östlichen Teil des Imperium Romanum bis zum Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. Göttingen. - Hammond, Mason (1957): Composition of the Senate. A. D. 68-235. In: JRS 47. S. 74-81. - Talbert, Richard J. A. (1984): Tbe Senate of Imperial Rome. Princeton. - Vogel-Weidemann, Ursula (1982): Die Statthalter von Africa und Asia in den Jahren 14-68 n. Chr. Eine Untersuchung zum Verhältnis princeps und Senat. Bonn. Talbert (1984), S. 29.
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Aug., r. g. 8.
21
Talbert (1984). S. 10.
22
Christ (1988), S. 408.
23
Christ (1988), S. 408f. - Talbert (1984), S. 34.
7A
Gamsey/Saller (1989), S. 174f.
2S
Gamsey/Saller (1989), S. 175. - Talbert (1984), S. 33, spricht von "a significant proportion of senate' s membership."
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hälfte rekrutierten, übernahmen das aristokratische Ethos ohne große Anpassungsschwierigkeiten.26 Sie waren stolz auf ihren Senatorenstatus, der sie mit den italischen Adelsgeschlechtern verband. '1:1 Unter dem Prinzipat des Trajan (98-117 n. Chr.) lassen sich in der Entwicklung der sozialen und politischen Rahmenbedingungen gewisse neue Akzentuierungen beobachten. Er soll neben der Herrschaft des Tiberius den anderen zeitlichen Eckpunkt der Untersuchung bilden. Die meisten der alten republikanischen Patriziergeschlechter waren während des ersten nachchristlichen Jahrhunderts ausgestorben. 28 "Die Verfolgungswellen Domitians" hatten die "Exponenten der alten römischen und italischen Aristokratie" beseitigt.29 Bis zu Trajan verschwand selbst von den Familien jede zweite aus dem herrschenden Stand, die erst von Augustus, Tiberius oder Claudius in den Senat aufgenommen worden waren. 30 Gleichzeitig fanden seit Trajan immer mehr Geschlechter aus den östlichen Provinzen des Reiches den Weg in die Kurie. 31 Auch die Zahl der nicht-italischen Konsuln nahm kontinuierlich ZU. 32 Im 2. Jh. n. Chr. überwogen in der Senatorenschaft zwar immer noch die italischen Geschlechter, doch erreichten jetzt die senatorischen Familien aus den Provinzen einen Anteil von fast fünfzig Prozent in der aristokratischen Elite.33 Eine weitere Veränderung läßt sich im Verfahren beobachten, mit dem Trajan seine Herrschaft in Szene setzte. Nach den Schrecken der domitianisehen Tyrannei gelang es dem Kaiser, das politische System erneut zu stabilisieren. Durch die Stilisierung seines Prinzipats zu einem gemäßigten Adop-
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Talbert (1984), S. 37, verweist darauf, daß viele der überlieferten-Quellen des ersten nachchristlichen Jahrhunderts von Provinzialen geschrieben worden sind.
., Talbert (1984), S. 36. Daß die italischen gentes den 'Emporkömmlingen' oft mit Verachtung und Vorurteilen begegneten, steht auf einem anderen Blatt. So wurde der Provinziale und spätere princeps Hadrian wegen seines Akzents ausgelacht, als er in der Kurie als Quaestor eine Rede hielt; s. Talbert (1984), S. 268. 2B Bergener (1965), S. 20Hf. - Bleicken f1981), Bd. I, S. 279. - Talbert (1984), S. 30. Z9 Christ (1988), S. 304. 30 Talbert (1984), S. 30. 31
Hammond (1957), S. 79: "Under Trajan there is a marked rise in the percentage of provincials and this may be attributed to conscious policy. since Trajan alone, according to the surviving evidence, admitted more provincials than he inherited from his predecessors. [...] He, not Hadrian, first gave prominence to eastem senators."
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Unter Antonius Pius sollen schon 44% der Konsuln Provinziale gewesen sein; s. Christ (1988), S. 405.
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Christ (1988), S. 304. Unter Hadrian wuchs der Anteil der Provinzialen auf 42%, unter Mark Aurel auf 46 % an.
20
tivkaisertum konnte Trajan die Akzeptanz des politischen Sys,tems in der aristokratischen Elite erhöhen, ohne die Strukturen und Mechanismen der Machtausübung wirklich zu ändern. Mit demonstrativen Gesten und Formen des Respekterweises gelang es ihm, das Verhältnis zur Kurie entscheidend zu entspannen. Trajans Herrschaftstechniken wurden von den nachfolgenden principes übernommen. Auch in politischer Hinsicht stellt sein Prinzipat daher einen gewissen Einschnitt dar, der es erlaubt, die Zeit von Tiberius bis Trajan als chronologische Einheit der Untersuchung zu Grunde zu legen.
Rom und die Villeggiatur: Die räumlichen Grenzen der Untersuchung Obwohl sich das römische Herrschaftsgebiet weit über den Mittelmeerraum hinaus ausgebreitet hatte, blieben Rom und seine unmittelbare Umgebung das unumstrittene Zentrum fUr das politisch-gesellschaftliche Leben der aristokratischen Elite. Am Ende der Regierungszeit des Augustus erstrahlte die Hauptstadt des Imperiums, die schätzungsweise eine Million Bewohner umfaßte,34 in einem fUr römische Verhältnisse bisher unbekannten Glanz. Überall in Rom entstanden Tempel und andere repräsentative Gebäude, deren Prachtentfaltung in krassem Gegensatz zu den einfachen Wohngebieten mit ihren verwinkelten Straßen und Gassen standen. Auf dem Marsfeld waren Parks angelegt und Theaterbauten errichtet worden. Die Senatoren gingen auf dem Forum zwischen den marmornen Säulen und Fassaden der Basilica Aemilia und der Basilica Julia ihren politischen' Geschäften nach.· Zum Inbegriff römischer Repräsentationsbaulrunst avancierte das Forum Augusti. Seine Marmorbauten35 wurden durch eine ungefähr dreißig Meter hohe Umfassungsmauer vor Bränden geschützt, die regelmäßig in der Stadt wüteten. 36
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Gamsey/Saller (1989), S. 12lf.
3' Über die zahlreichen Prunkbauten des Augustus urteilt Sueton, Aug. 28, folgendenna-
Ben: "Rom [...] verschönerte Augustus in solchem Maße, daß er sich mit Recht rühmen durfte, an Stelle der Stadt aus Backsteinen, die er übernommen hatte, eine aus Mannor zu hinterlassen." - Urbem [ ...] excoluit adeo. ut iure sit gloriatus marmoream se relin-
quere, quam latericiam accepisset. 36
Zanker, Paul eI990): Augustus und die Macht der Bilder. München, S. 159f. Zur Bautätigkeit in Rom während der Regierungszeit des Augustus s. u. a. Hesberg, Henner v. (1988): Die Veränderung des Erscheinungsbildes der Stadt Rom unter Augustus. In: Kaiser Augustus und die verlorene Republik. Katalog zur Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin 7. Juni-14. August 1988. Mainz, S. 93-115.
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Neben der Hauptstadt des Imperiums bildeten die verschiedenen Villengegenden in Italien die zweite Örtlichkeit aristokratischen Lebens. Schon zu republikanischer Zeit waren die Berge östlich und südöstlich von Rom mit den Gebieten von Bovillae, Tusculum, Aricia, Lanuvium, Tibur oder Praeneste bei den Senatoren äußerst beliebt. 37 Eine Alternative bot der Golf von Neapel. Nachdem das Piratentum von Pompeius 67 v. Chr. endgültig beseitigt worden war, nahm der campanische Küstenstrich mit seinen Meeresvillen bei Baiae oder Puteoli in der ersten Hälfte des nachchristlichen Jahrhunderts einen lebhaften Aufschwung. Erst gegen Ende des Jahrhunderts wandte man sich von Campanien ab. Der Vesuvausbruch mit seinen verheerenden Folgen 79 n. Chr. ließ diese Gegend als zu unsicher für die Villeggiatur erscheinen.38 Gesellschaftliche Verbindlichkeiten und die Verpflichtung, in Rom selbst den 'Hauptwohnsitz ' zu haben, hinderten die Mitglieder der aristokratischen Gemeinschaft daran, sich allzu oft in ihre Villen in den Bergen oder am Meer zu begeben. Nur in den Senatsferien, dem discessus senatus, hatten sie genug Zeit, auch einen längeren Aufenthalt in der Villeggiatur zu planen. Vornehmlich im April und in den ersten zehn Tagen des Mai sowie in den Monaten September und Oktober9 reisten die Senatoren in die bevorzugten Villengegenden. Da die Senatoren außerhalb ihrer Statthalterschaften Italien nur mit der Genehmigung des princeps verlassen durften,40 spielten die römischen Provinzen im ersten nachchristlichen Jahrhundert für das politisch-gesellschaftliche Leben des herrschenden Standes nur eine sehr untergeordnete Rolle. Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich daher auf Rom und die Villeggiatur als Zentren aristokratischen Lebens.
37
38
Zu den verschiedenen Villen-Gegenden s. Mielsch, Harald (1987): Die römische Villa. Architektur und Lebensfonn. München, S. 135-137. Mielsch (1987), S. 137, sieht in der Tatsache, daß seit dem zweiten Jahrhundert die Senatoren vennehrt aus den Provinzen rekrutiert wurden, einen weiteren Grund für die schwindende Beliebtheit des Golfs von Neapel. Die aus den Provinzen stammenden Senatoren, so Mielsch, "dürften aber bestrebt gewesen sein, die Senatsferien für die Beaufsichtigung ihrer Güter außerhalb Italiens zu nutzen, nicht für einen Luxusurlaub in Baiae."
39
Mielsch (1987), S. 134. - Talhert (1984), S. 209ff.
40
Mielsch (1987), S. 134. - Talhert (1984), S. 40.
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M etus Gallicus, metus Punicus und die Angst bei Tacitus: Untersuchungen zur Angst in der römischen Geschichte Die Frage nach dem Phänomen der Angst ist in der Forschung nur sehr fragmentarisch behandelt worden. Dies gilt sowohl für das erste nachchristliche Jahrhundert als auch für die römische Geschichte im allgemeinen. Für die Zeit der Republik stehen der metus Gallicus und der metus Punicus im Mittelpunkt des Interesses. Das republikanische Rom wurde im Laufe seiner Geschichte von zwei Völkern ernsthaft bedroht. Zunächst waren es die Kelten, denen es Anfang des 4. Jh.s v. ehr. gelang, Rom zu erobern und auszuplündern. hn dritten vorchristlichen Jahrhundert entwickelte sich dann die Auseinandersetzung mit der punischen See-und Handelsrnacht Karthago zur größten Gefahr für das in Italien und im westlichen Mittelmeerraum expandierende Rom. Der Konflikt konnte erst nach zwei schweren und verlustreichen Kriegen (264-241 v. ehr.; 218-201 v. ehr.) zugunsten Roms entschieden werden. Karthago wurde schließlich 146 v. ehr. völlig zerstört und dem Erdboden gleichgemacht. In den überlieferten Quellen findet die Bedrohung durch die Kelten wie auch die durch die Punier in der Thematisierung eines metus Gallicus bzw. metus Punicus ihren Niederschlag. Heinz Bellen führt in seiner Arbeit Metus Gallicus - metus Punicus. Zum Furchtmotiv in der römischen Republik41 den Nachweis, daß es sich bei beiden Furchtkomplexen um eine "Realangst"42 handle, die "als geschichtliche Potenz der römischen Republik"43 wirksam gewesen sei. Vor allem der metus Punicus sei kein ftk:tives Element einer politischen Strategie, durch die die römische Welteroberung gerechtfertigt werden solle. Auch das Klagen über einen nach dem Fall Karthagos einsetzenden Sittenverfall beruhe daher auf Erfahrungen, die die Römer mit der "Realangst" gemacht hatten: Die griechische Theorie von der Dekadenz als Folge des nicht mehr vorhandenen ~~IDt'}EV tPIiOlus --~in iiinmer~ii-ier-T~Sci: a:iisdes;~; einem Fenster der Blick 'auf die [...] -TerasSe, aus dem -anderen -auf eine cWiese fällt, vorher aber, wie Plinius betont, auf ein Becken, das unter dem Fenster liegt und ihm 'dient', d. h. der Aussicht dient, in Bezug auf diese seine Funktion erhält: piscina(m), quae fenestris servit ae subiaeet (5, 6,23). Und 1, 3, 1 spricht Plinius sogar von dem Corner See im Hinblick auf die Villa eines Freundes als subiectus et serviens laeus." Plin. min., ep. 2, 17, 5: tria maria. Plin. min., ep. 2, 17, 6. Plin. min., ep. 2, 17, 8. Plin. min., ep. 2, 17, 13: in quo sol nascitur eonditurque. Plin. min., ep. 2, 17, 13. Plin. min., ep. 2, 17, 17. Plin. min., ep. 2, 17,21: a pedibus mare, a tergo villae, a capite silvae: [ ...]. Letevre (1977), S. 536. - Römer (1981), S. 100. Die ästhetische Qualität der VilIen- und Gartenarchitektur soll hier in keiner Hinsicht bestritten werden. Zu fragen bleibt aber, wo genau - d. h. in welchen symbolischen Zusammenhängen - der spezifisch rClmische Ort des Ästhetischen anzusiedeln ist Diese
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Briefen beschrieben. Die gezähmte Natur liegt dem Senatoren zu Füßen. Mit einem triumphalen Blick betrachtet er die seinen Vorstellungen unterworfene Natur von einem erhabenen Standpunkt aus. 9S Wie sich die im Triumphzug ausgestellten Beutestücke und die Bilder von Flüssen und Landstrichen der unterworfenen Gebiete unter den Augen des Triumphators vor seinem vierspännigen Triumphwagen fein säuberlich anordneten, so blickt der Senator nun aus den Räumen seines Landhauses auf die kunstvoll arrangierten Gartenanlagen und Naturausschnitte. Herrschaft inszeniert sich auch hier im Akt des 'Dressierens'. Das Landhaus des Senatoren beschränkt sich nicht auf die Funktion eines Rückzugsortes, in dem man sich quasi 'privaten' Tätigkeiten und dem otium hingeben kann. 96 Es wird zum zentralen Ort
9S
96
Frage, auf die weder Lefevre noch Römer mit ihren geistesgeschichtlich ausgerichteten Interpretationen eine Antwort geben, steht im Zentrum der hier dargelegten Überlegungen. Zu hinterfragen bleibt aber Lefevres Begriff der römischen "Landschaftsauffassung" . Für Lefevre scheint der Begriff der Landschaft, der von ihm nicht näher defmiert wird, eine ahistorische Kategorie zu sein. Wemer Flach hat jedoch gezeigt, daß 'Landschaft' das Ergebnis eines historisch und sozial bedingten Blickes auf die Natur ist und dementsprechend bestimmt werden kann als "Natur in der Zuwendung eines Subjektes" und als Produkt eines "Gefühl[s] der Zusammengehörigkeit" und der "Einheit" mit der Natur, das durch "reflektierende Auffassung" vermittelt wird; s. Flach, Wemer (1986): Landschaft Die Fundamente der Landschaftsvorstellung. In: Smuda, Manfred (Hg.): Landschaft Frankfurt a. M., S. 17, 15. Unter diesem Gesichtspunkt ist es zweifelhaft, ob man auf der Grundlage von Plinius' Schilderungen von einer römischen "Landschaftsauffassung" in der römischen Kaiserzeit sprechen kann. Lefevres Interpretationen zeigen ja gerade, daß es bei Plinius eher um Distanzierung als um emotionale Hinwen.dung zur Natur- geht. Gerade in diesem -Punkt -zeigt--sich -der,·besondere; andere-E>rtder-Naturästhetik in Rom und seine Differenz zur modemen "Landschaftsauffassung" . Die Kategorie des Ästhetischen alleine reicht deshalb nicht aus, um in der frühen Kaiserzeit eine "Landschaftsauffassung" feststellen zu können. S. Römer (1981), S. 66, die darauf verweist, daß die Tusci des Plinius "zwar nicht auf dem Gipfel [liegt], sie aber so beschrieben [ist], als wäre ihr Aussichtspunkt der höchste." Auch der scheinbar so private Rückzug in geistige Studien, denen man sich in der Villa gerne widmete [so dazu u. a. Lefevre, Eckard (1987): Plinius-Studien III. Die Villa als geistiger Lebensraum (1, 3; 1,24; 2, 8; 6, 31; 9, 36). In: Gymnasium 94, S. 247-262.], besitzt in diesem Zusammenhang eine symbolische - und damit 'öffentliche' - Relevanz. Das römische olium im allgemeinen und die geistigen Studien im besonderen lassen sich am ehesten mit dem Begriff des "demonstrativen Müßiggangs" kategorisieren [Veblen, Thorstein (1986): Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. Frankfurt a. M., S. 51-78, Zitat S. 58f.]: "Man wird hier bereits bemerkt haben, daß der Begriff der Muße, wie er hier gebraucht wird, nicht einfach Trägheit oder Ruhe bedeutet; gemeint ist damit vielmehr die nicht produktive Verwendung der Zeit. Dies geschieht aus zwei Gründen: 1. auf Grund der Auffassung, daß produktive Arbeit unwürdig sei, und 2. um zu beweisen, daß man reich genug ist, um ein untätiges
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einer triumphalen Symbolik, die Natur zum Material, mit dem Herrschaft inszeniert werden kann. Die prachtvollen Villenanlagen in einem mondänen Ort wie Baiae oder anderswo stellen sich in diesem Sinne als die friedlichen Varianten der Tierhetzen in Rom dar, die ebenfalls in einem sehr differenzierten System die Unterwerfung der Natur unter das Imperium Romanum und die es tragende Elite mit dem princeps an der Spitze symbolisierten.97 Wie eine Sintflut überschwemmte die Inflation von Speisen aus exotischen Ländern, wertvollem Eßgeschirr, kostbaren und seltenen Einrichtungsgegenständen, erlesenen Kleidungsstoffen, spezialisierten Sklaven, kunstvoll eingerichteten Speisesälen, raffinierten Fensterausblicken, stilisiert erscheinenden Naturausschnitten, zurechtgestutzten Buchsbaumhecken, windgeschützten Wandelhallen und lauschigen Rückzugsorten voll friedfertiger Stille ausgerechnet die Gruppe von außerkörperlichen Setzungen, die bisher genau überschaubar und auf wenige Situationen beschränkt gewesen war. Die imagines der Vorfahren und die im öffentlichen Auftrag errichteten Gebäude bekamen Konkurrenz in Form von beliebig verfügbaren Gegenständen, die in vollem Glanz erstrahlten. Auch die neuen triumphalen Zeichen trugen auf ihre Art dazu bei, das Ansehen ihres Besitzers festzuschreiben, ja zu verewigen. Wer besonders ausgefallene Speisen kredenzte oder seine Villa und seine Ganenanlagen besonders kunstvoll und raffiniert anlegte, der bewies sich und den anderen seine Fähigkeit zu herrschen und damit seine Mitgliedschaft zur herrschenden Elite. In zwei Dingen aber unterschieden sich die neuen triumphalen Zeichen von den alten Bildern und Monumenten. Zum einen waren sie für andere gesellschaftliche Gruppen ebenso verfügbar wie für die Senatoren selbst.
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Leben zu führen. Nun spielt sich aber nicht das ganze Leben eines müßigen Herrn in Gegenwart von Zeugen ab, die dieses Schauspiel ehrenvoller Muße - Ideal und Ziel des vornehmen Lebens - beeindrucken soll. Zu bestimmten Zeiten bleibt sein Leben zwangsläufig den Augen der Öffentlichkeit verborgen, und diese Augenblicke privaten Daseins müssen nun um des guten Ansehens willen überzeugend erklärt werden. Er muß also Wege fmden, um zu beweisen, daß er auch fern von den Augen etwaiger Beobachter den Müßiggang pflegt Dies ist nur möglich, wenn er irgendwelche konkreten und dauerhaften Ergebnisse der allein verbrachten müßigen Stunden vorweisen kann, [...] Derartige Beweise sind zum Beispiel quasi-gelehrte und quasi-künstlerische Werke sowie die Kenntnis von Erscheinungen und Vorfilllen. die nicht unmittelbar zur Förderung des Lebens beitragen." In diesem Sinne ist auch der These von Mielsch, Harald (1989): Die römische Villa als Bildungslandschaft. In: Gymnasium 96, S. 456, zu widersprechen, daß die "römische Villa [...] bis zu Domitian nicht so sehr Repräsentationsarchitektur als vielmehr ein Versuch der neuen Herrscher der Welt [ist], den Zwängen ihres eigenen Herrschaftssystems zu entkommen." S. dazu ~Iavel-Uveque. Monique (1984): L'Empire en Jeux. Espace symbolique el pratique sociale dans le monde romain. Paris.
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Die Mitglieder der aristokratischen Gemeinschaft begaben sich hier auf einen Markt, auf dem sie nicht konkurrenzlos waren. Zwar ließ sich mit der Praktik der Herrschaftsinszenierung durchaus Distanz zu anderen gesellschaftlichen Gruppen herstellen, doch bestand immer die reelle Gefahr, daß die triumphale Symbolik von statusniederen Gruppen quasi 'usurpiert' wurde. Vo, allem in den reichen Freigelassenen - allen voran den Iiberti Caesaris - sahen die Senatoren unwürdige Konkurrenten. Deren Versuche, aristokratischen Lebensstil zu imitieren, stießen bei der 'feinen Gesellschaft' auf entschiedenen Widerstand und forderten immer wieder beißenden Spott und Verachtung heraus. 98 Zum anderen, und dies ist hier von besonderer Wichtigkeit, ließen sich die triumphalen Zeichen kaum durch eine Disposition-zum-Kursieren setzen. In der Gesamtheit der imagines vereinigte sich noch Vergangenheit und Gegenwart der res publica; ihr unmittelbarer Bezug auf das Kursieren der magistratischen Ehrenabzeichen überzog sie mit einer egalitären Symbolik. Die Differenzen, die durch die Bilder und die im öffentlichen Auftrag errichteten Gebäude zwischen den verschiedenen gentes zu Tage traten, blieben jederzeit reversibel und durch die aristokratische Gemeinschaft als ganze beherrschbar. Ganz anders sah das bei der neuen triumphalen Symbolik aus. Eine Villa vergegenwärtigte nichts anderes als die Gegenwart in Form von Reichtum und Einfluß ihres Eigentümers. Sie war ein steinernes Monument des augenblicklichen Prestiges eines einzelnen Individuums, ohne jeden Bezug auf die Ordnung des Gemeinwesens und ihrer kursierenden Zeichen. Als Monument stand dieses triumphale Signum auch in der symbolischen Landschaft - unverrückbar, wie für die Ewigkeit gesetzt. Wie auch immer der Senator Herrschaft zu jl)szenieren gedachte,dievomtriumphalen . . -Raum entbundene triumphale Symbolik veranschaulichte und manifestierte auf drastische Art und Weise die Prestigeunterschiede und die gesellschaftlichen Stärkeverhältnisse, die in der Senatorenschaft anzutreffen waren. Solche außerkörperlichen symbolischen Setzungen waren kaum mehr reversibel; sie konnten nicht ohne weiteres zurückgenommen oder auf eine andere Person übertragen werden. Sie - im wahrsten Sinne des Wortes - zu egalisieren, bedurfte als Antwort eine entsprechende Leistung der anderen Senatoren. Ein ständiges Konkurrieren und Überbieten im Inszenieren von Herrschaft war die unausweichliche Folge. Die Dimension der Zeit aber verlor ihren egalitären Sinn. Sie erstarrte in unzählige monumentale Zeichen der
98
Zum Typus des 'undankbaren Freigelassenen' S.: Veyne, Paul (1988c): Leben des Trimalchion. In: Ders.: Die Originalität des Unbekannten. Für eine andere Geschichtsschreibung. Frankfurt a. M., S. 43-89.
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Ewigkeit, die untereinander nur den Bezug herzustellen in der Lage waren, 'ewiger' zu sein als alle anderen.
Die Disposition-zum-Kursieren und das Prinzip der Ressourcenverfügung Viele der beschriebenen Verschiebungen in der Symbolik der außerkörperliehen Setzungen traten nicht erst mit der Errichtung des Prinzipats zu Tage. Vor allem die Inflation der Symbole ist schon im letzten vorchristlichen Jahrhundert zu beobachten. Als sich ein Zentrum der Ressourcenvergabe dauerhaft im aristokratischen Funktionszusammenhang etablierte, erluhren diese Verschiebungen jedoch eine neue Dimension. Erst jetzt verlor die Disposition-zum-Kursieren, die die symbolischen Beziehungen zwischen Herrschafts ausübung, Herrschaftsinszenierung, Statussymbolik und Gleichheit gewährleistet hatte, endgültig den Raum, in dem sie sieh entfalten konnte. Das Prinzip der Ressourcenverfügung konstituierte sich nach anderen Gesetzmäßigkeiten als dasjenige, unter dem diese Disposition erzeugt worden war. Thr ZusammenpralI mit den Bedingungen einer veränderten senatorischen Figuration hob die beschriebenen Transformationen symbolischer Felder und ihrer Beziehungen zueinander auf eine ganz andere Ebene. Jede einzelne Nuance einer veränderten Semantik der außerkörperlichen Setzungen verweist unmittelbar darauf, daß die Disposition-zum-Kursieren unangepaßt war und sich in eine Disposition-für-Angst verwandelt hatte. Es bleibt zu· fragen, ob und worin sich mese Verwandlung manifestieite. In einern Exkurs soll gezeigt werden, daß das endgültige Scheitern der Luxusgesetze im frühen Prinzipat in diesen Zusammenhang gestellt und somit als ein weiteres Phänomen spezifisch senatorischer Angst gelesen werden kann.
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Exkurs: Die Luxusgesetzgebung Ohnmächtige Moral und mächtiger Prunk
In der frühen Kaiserzeit fehlte es nicht an Versuchen, der Inflation von triumphalen Symbolen durch entsprechende Maßnahmen Herr zu werden oder sie zumindest einzudämmen. Claudius entschloß sich zu einem eher demonstrativen Handeln. Während seiner Censur ließ er "einen prächtig gearbeiteten silbernen Wagen, der auf dem Kunstmarkt zum Verkauf angeboten wurde," erwerben und anschließend vor seinen Augen zertrümmern.! Jeder sollte sehen, daß hier die Grenze der Prachtentfaltung überschritten war und daß der Kaiser dieses aufs Schärfste mißbilligte. Andere Kaiser setzten eher auf direkte Verbote bestimmter Auswüchse. Nero erließ ein Gesetz zur Einschränkung des Luxus. Auch untersagte er "den Gebrauch violetter und purpumer Färbemittel"2. Tiberius verbot jedem Mann das Tragen von seidenen Kleidern. 3 Unter dem Nachfolger des Augustus befaßte sich auch der Senat in aller Ausführlichkeit mit dem immensen Aufwand, der den Lebensstil vieler Mitglieder der aristokratischen Gemeinschaft kennzeichnete. In den Jahren 16 und 22 n. Chr. lagen dem Senat entsprechende Gesetzesinitiativen zur Einschrhlung-des Luxusvoi:4 - Sowohl anläßlich der Maßnahmen der Kaiser als auch im Zusanunenhang mit den geplanten gesetzlichen Regelungen im Senat erhob sich in Teilen der Senatorenschaft eine Entrüstung, die den Luxus als Ausdruck eines allgemeinen Sittenverfalls brandmarkte. Mit der Niederlage Karthagos und dem endgültigen Aufstieg Roms zur alles beherrschenden Macht des Mittelmeerraumes hätten Verschwendungssucht, Habgier, Neid, Mißgunst, Falschheit und andere Laster in Rom Einzug gehalten, so lautete die fast einhellige
3
Suet, Claud. 16: quod essedum argenteum sumptuose jabricaJum ae venole ad Sigillaria redimi concidique coram impetravit. Suet, Nero 32: usum amethystini ae Tyrii eoloris. Cass. Dio 57, 15, 1.
4
Tac., rum. 2, 33; 3, 52ff.
1
1
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Meinung.s Zwietracht bis hin zu den blutige~ Bürgerkriegen ~ei~n die Folge gewesen. Senatoren, die sich dem ausschweIfenden u:bensstil m be~onde~ exzessiver Art und Weise hingaben, wurden als morahsch korrupt stIgmatIsiert. Kaum ein Autor des ersten nachchristlichen Jahrhunderts vergaß auf die moralische Verruchtheit seiner Zeit hinzuweisen. Literaten wie Horaz, Martial und Juvenal fanden in den Erscheinungsweisen des Luxus genügend Material rUr ihren beißenden Spott. Als sozusagen selbsternannte Chefankläger geißelten vor allem Plinius der Ältere und Seneca die Verschwendungssucht als das grundlegende Laster ihrer Zeit. 6 Der eine betrauerte in seinen naturwissenschaftlichen Studien den Abfall des römischen Gemeinwesens von der Natur, der andere bemühte sich, in seinen philosophischen Werken mittels stoischer praecepta einen Weg zurück zu eben diesem natürlichen, da vernünftigen Zustand aufzuzeigen.' Aufgrund des moralischen 'Protestpotentials' liegt die Vermutung nahe, daß die Maßnahmen der Kaiser und die Gesetzesvorschläge zur Einschränkung des Luxus allgemein willkommen gewesen und auch befolgt worden wären. Nichts dergleichen geschah. Als der Senat unter Tiberius selbständig über die vorgelegten Gesetze zur Eindämmung des Luxus entscheiden sollte, entbrannten in der Kurie heftige Auseinandersetzungen über den Sinn und Zweck eines solchen Gesetzes. Als der Senator Fronto 16 n. Chr. "ein Höchstmaß für den Besitz von Silber, Hausrat, Dienerschaft" festsetzen wollte,8 wandte sich Asinius Gallus entschieden gegen diesen Vorschlag: Mit dem Wachstum des Reiches habe auch der private Wohlstand zugenommen, und dies sei nichts Neues, sondern eine uralte Erfahrung: anders seien die Vermögensverhältnisse unter den Fabriciern gewesen als unter den Scipionen; und alles stehe in Wec~selbezieh",ng zur Lage des Staates; [, ..] Auch bei der Diencrschaft,dem Silbergeschirr und allen sonstigen Gebrauchsgegenständen könne man. von einem Zuviel oder einem richtigen Maß nur im Verhältnis zur Vermögenslage des Besitzers sprechen. Herausgehoben sei der Senatoren- und Ritterzensus, aber nicht weil sie
S
Die Klage, daß sich nach dem Ende der punischen Kriege allmählich ein Sittenverfall in Rom ausbreite, wurde zum ersten Mal von Sallust, de coniur. Cat. 7ff., ausführlich erhoben. S. auch Plin. mai., n. h. 33, 53, 150.
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S. exemplarisch Sen., ep. 90 [dazu: Pfliggersdorfer, Georg (1982): Fremdes und Eigenes in Sencas 90. Brief an Lucilius. In: Stagl, Jusrin (Hg.): Aspekte der Kultursoziologie. Aufsätze zur Soziologie, Philosophie, Anthropologie und Geschichte der Kultur. Zum 60. Geburtstag von Mohammed Rassem. Berlin, S. 303-326.]; weiter ep. 51; 56, in denen Seneca das Leben in Baiae kritisiert. - Plin. mai .• ß. h. 9, 17, 67; in n. h. 13, 29, 9lff., beklagt Plinius den immensen Aufwand mit Citrusholz bei der Anfertigung von Tischmöbeln. S. dazu das Kap. Die Konjunktur der stoischen PlUlosoplUe.
8
Tac., anno 2, 33, 1: modum argento supellectilijamiliae.
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Menschen anderer Art seien; sie sollten vielmehr wie durch ihre Plätze im Theater, ihren Stand, ihre RangsteIlung, so auch in allem bevorzugt werden, was der geistigen Erholung oder dem körperlichen Wohlbehagen diene - [...l.
auetu imperii adolevisse etiam privatas opes, idque non novum, sed e vetustissimis moribus: aliam apud Fabrieios, aJiam apud Seipiones peeuniam; et eUlleta ad rem publieam refe"i, [ ...}. neqUi! injamilia et argento quaeqUi! ad usum parentur nimium aliQuid aut modicum nisi exfortuna possidentis. distinctos sefUJlus el equitum census, non quia diversi natura, sed, ut locis ordinibus dignationibus antistent, ita iis quae ad requiem animi aut salubritatem eorporum parentur, [ ...}.9
Asinius Gallus setzte sich durch. "[...] das mit ehrenhaften Begriffen beschönigte Eingeständnis seiner [des A. Gallus, D. B.] Untugenden" fand die "willige Zustimmung" der Kurie, wie Tacitus lakonisch konstatiert. lo Ohne Ergebnisse blieb auch die Senatssitzung im Jahre 22 n. ehr. Obwohl Tiberius in einem Brief seine mißbilligende Haltung zum Phänomen des Luxus durchblicken ließ, lehnte er es ab, eine Entscheidung über diese Dinge zu treffen. Der an sich selbst verwiesene Senat verzichtete daraufhin auf die Verabschiedung eines Gesetzes. Zwischen der Entrüstung über den Aufwand und dem wirklich praktizierten Verhalten der Senatoren lag eine seltsame Diskrepanz. 11 Schon in der Republik blieben alle Versuche mehr oder weniger erfolglos, den Aufwand des Lebensstils gesetzlich zu reglementieren. 12 Seit Beginn des zweiten Punischen Krieges 13 wurden regelmäßig sogenannte leges sumptuariae erlassen, die die verschiedenen Spielarten des auswuchernden Luxus mit dem Tafelluxus an der Spitze einschränken sollten. 14 Sie scheiterten alle. In der
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Tac., ann: 2, 33, 2f. Tac., ann. 2. 33, 4: facilem adsensum Gallo sub nominibus honestis confessio vitiorum. Keine Person verkörpert diese Diskrepanz besser als einer der 'Chefankläger' des Luxus selbst: Seneca. Regelmäßig geriet der Philosoph in die Schußlinie der Kritik. Vor allem Publius Suillius polemisierte gegen die unstillbare Raffgier Senecas und warf ihm vor. seine Taten widersprächen seinen hehren philosophischen Worten (Tac., anno 13,42). In de vita beata sah sich Seneca schließlich veranlaßt. auf die Beschuldigungen zu antworten. Entscheidend sei nicht, ob man viel oder gar nichts besitze, sondern ob man von seinem Reichtum innerlich unabhängig sei oder nicht (s. Z. B. de vita beata 21, 4; 26). S. auch Maier (1985), S. I11ff. Baltrusch, Ernst (1988): Regimen morum. Die Reglementierung des Privatlebens der Senatoren und Ritter in der römischen Republik und frühen Kaiserzeit. München. S. 83. 97, 101, 125. Baltrusch (1988). S. 128.
Baltrusch (1988), S. 4lf, macht darauf aufmerksam. daß der Begriff der leges sumptuariae in der modernen Forschung in einer allgemeineren Bedeutung verwendet wird als in der Antike. Dort seien mit den leges sumptuariae ausschließlich die Speisegesetze gemeint. Die "inhaltliche Zusammengehörigkeit" mit anderen Gruppen der Luxusgesetz-
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Kaiserzeit fand das Schicksal der Luxusgesetzgebung seine überspitzte Fortsetzung. Während der Aufwand in der Lebensführung bis zum Ende der julisch-c1audischen Dynastie weiter zunahm, gelang es weder den Kaisern noch den Senatoren trotz anhaltender moralischer Bedenken, überhaupt ein Gesetz zustande zu bringen. Wie ist das endgültige Scheitern der Luxusgesetzgebung im frühen Prinzipat zu erklären? Vor allem aber: Worin liegt der Grund für die offensichtliche Kluft zwischen dem Reden über den Luxus und den praktizierten Verhaltensweisen? Waren die Senatoren tatsächlich dekadente Lebemänner, die ihren Tag mit Orgien und ähnlichem verbrachten? Baltrusch stellt in seiner Abhandlung Regimen trWrum. Die Reglementierung des Privatlebens der Senatoren und Ritter in der römischen Republik und frühen Kaiserzeit die These auf, daß in der Kaiserzeit "die politische Dimension des Luxus" nicht mehr vorhanden war. 15 "Der alte politische Einfluß" der aristokratischen Geschlechter sei nun "durch repräsentativen Glanz" ersetzt worden. 16 Demzufolge versagten die Senatoren der "vonnals gültige[n] innere[n] Rechtfertigung" der leges sumptuariae ihre Anerkennung. 17 Daß die herrschende Elite, so Baltrusch weiter, von sich aus und "aus besserer Einsicht" den Luxus bekämpfen würde, sei nichts anderes als "eine naive Hoffnung" gewesen; "zu sehr erwartete die Oberschicht [... ] die Jurifizierung bestimmter Verhaltensweisen, wurden Staat und Rechtsordnung miteinander identifiziert." 18 Baltruschs Erklärungsversuch bleibt in drei Punkten unbefriedigend. Zunächst macht er das verstärkte Ansteigen des Luxus in der julisch-claudisehen Dynastie abhängig von einer fehlenden Jurifizierung, d. h. Reglementierung der entsprechenden Verlralterrsweisen: Wenn'weser Zusa:tturtenhang tatsächlich zuträfe; dann hätte man aber schon in den letzten beiden vorchristlichen Jahrhunderten das Problem des Luxus aus der Welt geschafft. Genau das geschah aber, wie dargelegt, nicht. Trotz wiederholter Luxusgesetze nahm der Aufwand in der Lebensführung in dieser Zeit zu. Auch gelingt es Baltrusch nicht, der moralischen Entrüstung über den Luxus einen
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gebung erlaube aber Baltrusch (1988), S. Baltrusch (1988), S. Baltrusch (1988), S.
"eine Ausweitung des antiken Verstllndnisses des Begriffes". 153. 154. 130.
Baltrusch (1988), S. 158. Baltruschs Argumentation ist hier unklar. Von wem erwartete die Senatorenschaft die J uriflZierung? Wenn nicht von sich selber, dann nur vom Kaiser. Ob aber der Kaiser mit dem 'Staat', von dem Baltrusch spricht, zu identifizieren ist, muß bezweifelt werden. Denn auch die Senatsaristokratie begriff sich ja als Mittelpunkt dieses 'Staates'.
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spezifischen Ort zuzuweisen. Warum sollten sich die Senatoren noch empören, wenn sie auf der anderen Seite die "innere Rechtfertigung" der leges sumptuariae nicht mehr anerkannten? Baltruschs These kann die Kluft zwischen dem Reden über den verwerflichen Luxus und den tatsächlich praktizierten Verhaltensweisen nicht in seine Argumentation integrieren. Der Grund daflir liegt in einem dritten Punkt verborgen. Baltrusch spricht dem Phänomen des Luxus in der Kaiserzeit die - wie er es nennt - "politische Dimension" ab. In republikanischer Zeit habe diese Dimension des Luxus darin gelegen, die Homogenität und den Gleichheiisgrundsatz der aristokratischen Gemeinschaft zu korrumpieren. Die leges sumptuariae dienten daher vor allem der "Abwehr von ambitus und Wahrung der Gleichheit der Standes genossen durch die Normierung der Ausgaben, so daß die überlieferten politischen Spielregeln eingehalten wurden."19 Mit der Etablierung des Prinzipats ging die "politische Dimension" des Luxus aber gerade nicht verloren. Daß der eigene Lebensstil mit einer triumphalen Note versehen wurde und daß sich das Bemühen, Herrschaft zu inszenieren, in anderen Zusammenhängen entfaltete, heißt noch lange nicht, daß damit auch das Element der Egalität aus dem Spiel war. Baltrusch müßte nach seiner Argumentation für die Kaiserzeit einen völlig anderen, ja neuen Typ 'Senator' setzen. Eine "politische Dimension" des Luxus im von Baltrusch gemeinten Sinne ginge nur dann verloren, wenn sich zugleich mit der Errichtung der Alleinherrschaft die aristokratische Gemeinschaft als absolutistische "höfische Gesellschaft" konstituiert hätte. Hier fallen Repräsentationsstil und Rangstufe in eins. Luxus dient in dieser gesellschaftlichen Figuration als systemtragendes Element explizit der sozialen Differenzierung auch innerhalb der Aristokratie. Er regelt die symbolische -Kommunikation auf-der Grundlage einet" prestigemäßigen Hierarchisierung. 2o Die Senatoren aber waren keine absolutistischen Höflinge, weil ihr Verhalten auch weiterhin von einer Disposition-zum-Kursieren bestimmt wurde.
u Baltrusch (1988), S. 102. 20
S. dazu Elias, Norben (1983), S. 99: "Ein Herzog muß sein Haus so bauen, daß es ausdrückt: ich bin ein Herzog und nicht nur ein Graf. Das gleiche gilt von seinem ganzen Auftreten. Er kann nicht dulden, daß ein anderer herzoglicher auftritt als. er selbst. Er muß darüber wachen, daß er im offiziellen gesellschaftlichen Verkehr den Vorrang vor dem Grafen hat [... ] Der Zwang zur Repräsentation des Ranges ist unerbittlich. Fehlt das Geld dazu, so hat der Rang und damit die soziale Existenz des Ranginhabers nur noch eine sehr geringe Realitiit. Ein Herzog, der nicht wohnt, wie ein Herzog zu wohnen hat, der also auch die gesellschaftlichen Verpflichtungen eines Herzogs nicht mehr ordentlich erfüllen kann, ist schon fast kein Herzog mehr."
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· . . Daß. die Luxusgesetzgebung scheiterte, die Se~atoren sich abe:, gleichzeitig über einen angeblich überall beobachtbaren Sl~btenlverfall ehmponden, kD~n 't Hilfe der hier gewonnenen Ergebnisse plausl e gemac t wer en. le ~uft zwischen dem Reden über den und der Praktik des Luxus läßt sich als ein Phänomen senatorischer Angst lesen. Der Luxus erschien in dem Moment in der aristokratischen Elite, als diese von einer Inflation potentieller Symbole heimgesucht wurde und sich zugleich die triumphale Symbolik vor allem auf die Gruppe der Monumente verschob. Als sich zudem ein Zentrum der Ressourcenverfügung im aristokratischen Funktionszusammenhang etabliene, verschloß sich durch diese Verschiebung ein Raum, in dem sich die Disposition-zum-Kursieren entfalten konnte. An diesem Punkt veronet sich die moralische Entrüstung. Weil die Disposition-zum-Kursieren unangemessen geworden war und ein Unbehagen hervorrief, klagten die Senatoren über den Verfall der Sitten in Rom. Das Reden von der Dekadenz der Gegenwan wird somit selbst zum Indikator für den Zusammenbruch der symbolischen Verhältnisse. Mit anderen Wonen: Die Senatoren des frühen Prinzipats waren keine degenerienen Nachkommen ehemals stolzer Aristokraten, die ihr Leben der Verschwendungssucht, der Habgier, den Exzessen und Orgien hingaben. Auch gab es keinen selbstläufigen Prozeß des moralischen Verfalls als Movens der römischen Geschichte. Wer dies behauptet, reproduzien nichts anderes als die Meinung und die Erklärungsversuche der in ihrem sozialen Glauben verhafteten historischen Subjekte. Die angeblich so verdorbenen Senatoren legten ganz im Gegenteil sehr viel Gewicht auf Sinn und sinnvolles Kommunizieren. In den Klagen über die angeblich so sittenlose Zeit zeigt sich die Unmöglichkeit, den Zusammenhang zwischen der Inflation der Zeichen, der YerschieQung der triumphalen Symbolik. der Disposition-zum-Kursieren und dem verändenen aristokratischen Funktionszusammenhang zu erkennen. So mußte der Charakter der Senatoren für eine Erklärung der Mißstände und des Unbehagens herhalten. Ein Verfall der allgemeinen Sitten wurde als Ursache festgemacht. Aber genau deswegen konnten weder der moralische Protest noch gesetzliche Regelungen helfen, die Mißstände zu beseitigen. So wettenen die Senatoren immer wieder gegen die Dekadenz ihrer Zeit. Sie selber verhielten sich aber genauso 'dekadent', weil sie ihre Mitgliedschaft zur herrschenden Elite vor sich selber und vor den Augen der anderen auf irgendeine An und Weise inszenieren mußten. Das Reden vom Sittenverfall und das gleichzeitige Scheitern der LuxusgesetzgebungZl können somit auch als Phänomene einer spezifisch senato-
21
Die Luxusgesetzgebung sollte gewiß nicht nur innersenatorische Angelegenheiten regeln. Da die Senatoren auf dem Feld der triumphalen Zeichen mit statusniederen Gruppen vor allem mit reichen Freigelassenen - konkurrierten. galt die Luxusgesetzgebung auch
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rischen Angst gelesen werden. Die Transfonnierung der Disposition-zumKursieren, des Konstituens außerkörperlicher symbolischer Setzungen, in eine Disposition-fÜT-Angst stellt den Rahmen her, in der sich beide Erscheinungen verorten lassen.
dem Bemühen, diese Gruppen wenn nicht auszuschalten, so doch in ihren Aktivitäten zu beschneiden. Es konnte für einen Senatoren nicht angehen, daß sich ein libertus einen Lebensstil leisten konnte, den er selbst kaum praktizieren konnte. Dieser Zusammenhang bleibt aber ein Nebenaspekt der leges sumptuariae, der ihr Scheitern nicht erklären kann. Wäre er ihre Substanz, dann hätte die Luxusgesetzgebung gerade in der frühen Kaiserzeit, als die liberti Caesaris über riesige Vermögen verfügten, in der Senatorenschaft einhelligen Anklang finden müssen.
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Die Praktiken der Verhaltenskontrolle und die Disposition-des-inszenierten-Außenbezuges
In den bisherigen Ausführungen zum senatorischen Habitus war neben der Disposition-der-Umkehrbarkeit und der Disposition-zum-Kursieren von einer weiteren Verhaltensdisposition unterschwellig die Rede. Schon im Beispiel aus der Einleitung kam sie zum Tragen: Augustus und die Senatoren, die ihm begegneten, mußten damit rechnen, daß ihr Verhalten von der Umgebung genau registriert und interpretiert wurde. Auch in den Untersuchungen der senatorischen körperlichen Hexis und der außerkörperlichen symbolischen Setzungen tauchte diese Verhaltensdisposition in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder auf, beispielsweise in der argwöhnischen Beobachtung des kaiserlichen Leibes oder im Zeichencharakter der domus als Metapher senatorischer Existenz. Eine Disposition-des-inszenierten-Außenbezuges, die die Praktiken senatorischer Verhaltenskontrolle konstituierte, war immer dann im Spiel, wenn sich die schon beschriebenen Verhaltensdispositionen entfalteten.
Beobachten von Angesicht zu Angesicht und allgemeines Ahnden Die Sichtweise der Moderne kennt als Kontroll- und Strafinstanz einzig und allein ein (staatliches) Gewaltmonopol, das auf der legitimierenden Basis genau definierter rechtlicher Normen und mit Hilfe des Erzwingungsstabes einer Polizei die gesellschaftliche und staatliche Ordnung aufrechtzuerhalten hat. Dieses Modell kann und darf aber nicht apriori auf andere Epochen oder Kulturen übertragen werden.! Jede Gesellschaft und jedes soziale Feld
I
Zu welchen Konsequenzen diese Vorgehensweise führen kann, hat Nippel (1988), S. 7ff., am Beispiel des Polizeibegriffes dargelegt: "Gerade der Verzicht darauf, die Besonderheiten der eigenen Epoche zu bedenken, führt dazu, daß die Bedingungen des 19. und 20. Jahrhunderts ohne weiteres als welthistorischer Nonnalfall gesetzt werden, sei
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in dieser Gesellschaft bringt je eigene Modi der Kontrolle und der Bestrafung hervor, die sowohl den spezifischen Bedingungen ihrer Erzeugung wie auch denen ihrer Anwendung unterworfen sind? In der Senatorenschaft gab es kein legitimes Zentrum der Normensetzung, der Verhaltenskontrolle oder gar der Rechtsdurchsetzung. Die Mitglieder der aristokratischen 'face-to-face-Gemeinschaft' kontrollierten sich gegenseitig.3 Wer durch nichtstandesgemäßes Verhalten auffiel, wurde aus der Gemeinschaft ausgestoßen und in seiner sozialen und politischen Existenz vemichtet. 4 Der auf genaue Beobachtungen basierende Vorwurf der impro-
es, daß Lücken unserer Kenntnisse durch entsprechende Projektionen geschlossen werden, sei es, daß die antiken (übrigens auch andere vonnoderne) Verhältnisse nur als Folge eines Defizits an Staatlichkeit gewertet werden können, die ihnen eigene Art der Rationalität dagegen verkannt wird. [...] Das Fehlen von Polizei im institutionellen Sinne ist in der Folgezeit je länger je mehr als Erklärung für venneintliche oder tatsächliche Defizite der römischen Verhältnisse angesehen worden; [...] Diese Einschätzung ist in verschiedenen Hinsichten fragwürdig. Sie setzt offensichtlich einen unhistorischen Begriff von öffentlicher Ordnung voraus, anstatt danach zu fragen, welches die Anforderungen waren, die in der betrachteten Gesellschaft selbst galten. Sie impliziert ein naivoptimistisches Verständnis von umfassender Rechtsdurchsetzung durch modeme Polizei, ohne zu beachten, daß sich auch hier die Frage nach Selektivität und Effektivität der Ordnungssicherung stellt. Sie fragt nicht nach funktionalen Äquivalenten für die 'Polizei vor der Polizei'." 2
3
4
Daß man auch innerhalb einer Gesellschaft zwischen verschiedenen Arten der Verhaltenskontrolle zu unterscheiden hat, wird am Phänomen der Mafia besonders deutlich. Sie mit Hilfe von rechtsstaatlichen Kategorien beschreiben und erklären zu wollen, geht an -der Spezifitätliie-ses:soF1"alenRaomes voiliei:' Die Tatsäche~Uäß'das-ModeUdeslifuäifi: ehen Gewaltmonopols das einzig-legitime VerfahreIl desStrafens darstellt, darf nicht daran hindern, andere Modi des Überwachens und des Ahndens aus ihren eigenen, ihnen innewohnenden Gesetzmäßigkeiten heraus zu analysieren. Timpe (1987), S. 85f., verweist auf die öffentliche Kontrolle persönlicher Absichten sowie auf die Öffentlichkeit des Informationsflusses. - S. auch Zanker f1990), S. 15, der auf die gegenseitige Kontrolle der Senatoren aufmerksam macht. Baltrusch (1988), S. 6f. In der Regel drohte den geächteten Senatoren die Verbannung. Daß diese Strafmaßnahme die Senatoren wirklich traf, beweisen einige literarische Zeugnisse des Cicero, des Ovid und des Seneca; s. dazu Doblhofer, Ernst (1987): Exil und Emigration. Zum Erlebnis der Heimatfeme in der römischen Literatur. Dannstadt. Gerade an der Art der Strafsanktionierung wird deutlich, wie sehr sich der senatorische Habitus vom modemen (bürgerlichen) unterscheidet. Das senatorische Strafen zielt auf totale Ausgrenzung und auf symbolische Fonnen der Existenzzerstärung (wie etwa das schon erwähnte Einreißen der domus). Das modeme Strafrechtssystem setzt dagegen auf Freiheitsentzug und Geldstrafe. Beide völlig verschiedenen Strafmaßnahmen können nur strafen, wenn sie das Subjekt existentiell treffen: den Senatoren in seinem gesellschaftlichen Prestige, das bürgerliche Subjekt in seiner Freizügigkeit und in seinem Recht auf Eigentum. In diesem Sinne ließe sich weiterführend fragen, ob das Spezifi-
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bitas führte fast automatisch zur Ächtung der betreffenden Person. s Da jeder Verdacht, jede Anschuldigung, jede Anklage zu ihrem Erfolg die Zustimmung der gesamten Gemeinschaft benötigte, war ein Mißbrauch zum Zwecke persönlicher Intrigen zunächst weitgehend ausgeschlossen. Wer ungerechtfertigte Beschuldigungen in Umlauf brachte, mußte selbst damit rechnen, von den Standesgenossen verurteilt zu werden. Persönliche Feindschaften und Rivalitäten ließen sich auf dem Gebiet der Verhaltenskontrolle kaum austragen. Dem Beobachten von Angesicht zu Angesicht entsprach ein allgemeines Ahnden, an dem jeder Senator unmittelbar beteiligt war. Sowohl im Beobachten von Angesicht zu Angesicht wie auch im allgemeinen Ahnden manifestierte sich eine Disposition-des-inszenierten-Außenbezuges. 6 Nur durch sie konnten sich beide Praktiken wirkungsvoll entfalten. In ihrem aktiven Modus wird die Disposition-des-inszenierten-Außenbezuges durch eine - wie dargelegt - beobachtende 'Fürsorge' für die anderen gekennzeichnet,1 aber auch durch eine fast allumfassende 'Öffentlichkeit' des Lebens. 8 Der senatorische Lebensstil stellte sich vor aller Augen -
sche einer Kultur, Gesellschaft oder sozialen Gruppe nicht gerade an ihren Strafen ablesbar ist, die sie filr ihre Delinquenten bereithält. s Bleicken (1975), S. 222. - Hölkeskamp (1987), S. 217. 6 Der Begriff der 'Disposition-des-inszenierten-Außenbezuges' darf nicht mit dem des 'Begehrens' (s. S. 45) verwechselt bzw. gleichgesetzt werden. Ein Außenbezug des Subjekts ist immer vorhanden; die Frage ist nur, auf weIche Art und Weise er sich konkret aMsgestru~t.,DU[c!t. die~n_Begrif( .soll zugleiclLzum Ausdruck kommen, daß mit der TrennUng zWlschen'öffentlich' und 'privat' das Leben der römischen Aristokratie nicht annähernd adäquat beschriebCn werden kann. Diesem bipolaren Modell läßt sich allerdings im wissenschaftlichen Diskurs kaum entgehen, da es nicht nur eine abstrakte Denkkategorie darstellt, sondern zugleich als konkrete Existenzweise dem Wissenschaftssubjekt eingeschrieben ist. Obwohl (oder gerade weil) es als Bestandteil der eigenen symbolischen und sprachlichen Ordnung den Blick auf das Vergangene in erheblichem Maße verstellt, kann daher auch in dieser Untersuchung auf den Begriff der 'Öffentlichkeit' nicht ganz verzichtet werden. 7 Auch die Historiographie eines Tacitus, saUust oder eines Sueton läßt sich in diesen Kontext einordnen. Timpe (1987), S. 94, betont, daß die Geschichtsschreiber ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf konkrete Verhaltensweisen richteten, deren Sinn oder Unsinn - sie mit "zensorischem Urteil" kenntlich machten. Ihnen ging es nicht um die analytische Darstellung allgemeiner politischer, wirtschaftlicher und sozialer Strukturen oder um die Vennittlung leitender Überzeugungen der historischen Subjekte (S. 75f.). Auch die einfache Weitergabe von Fakten war ihnen unwichtig. Sie betteten die "Erkennttiis der Tatsachen" ein "in autoritatives Urteil" (S. 92). S. auch Timpe (1989),
S.I23. 8
Bleicken (1975), S. 364. - Hölkeskamp (1987), S. 219.
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pa/am - gut sichtbar und möglichst transparent9 dar. Allein schon der Ver-
such, sich dieser 'Öffentlichkeit' zu entziehen, mußte Verdacht erwecken, da der Senator die beobachtenden Blicke seiner Standeskollegen mied und damit ihrer Kontrolle entfloh. Der passive Modus der Disposition-des-inszenierten-Außenbezuges zeigte sich dagegen darin, daß die Senatoren auf die urteilende Beobachtung der anderen angewiesen waren. IO Die eigene Ehre war abhängig von ihrer Anerkennung durch die GemeinschaftY Nur wenn der eigene Lebensstil in jeder Situation und zu jeder Zeit unmittelbar auf die Meinung aller anderen Senatoren bezogen war, konnte sich das allgemeine Ahnden als effektive Strafmaßnahme entfalten. Erst die Disposition-desinszenierten-Außenbezuges ließ die Senatoren anfällig werden für die Praktik des gesellschaftlichen Boykotts durch die eigene Gemeinschaft Diese Disposition gewährleistete, daß jeder einzelne lWbilis [...) gewissermaßen eine Inkarnation der res-publica-orientierten Standesmoral sein [sollte), im "privaten" und gesellschaftlichen Leben, im Senat und in der Magistratur. Umgekehrt war dann gewissermaßen der Stand insgesamt, mit allem, was ihn auszeichnete, in jedem einzelnen Aristokraten gegenwärtig. 12
Weil der eigene Lebensstil 'öffentlich' und auf das Urteil der anderen angewiesen war, ließen sich Verstöße gegen die allgemeinen Regeln des Umgangs und der Kommunikation wirkungsvoll ahnden, ohne daß institutionell sanktionierte Strafmechanismen notwendig gewesen wären. Man bemerkte schnell und genau, daß sich jemand anders verhielt als üblich, und handelte dann als Gemeinschaft entsprechend. Selbst die Censur und der Versuch, gewisse Lebensgewohnheiten gesetzlich zu reglementieren, unterlagen dem Beobachten von Angesicht zu Angesicht und dem allgemeinen Ahnden'; und damit der Disposition-des~ins:te nierten-Außenbezuges. Dem Censor wurde zwar das regimen morum gegen
9
S. auch Baltrusch (1988), S. 6f., der darauf hinweist, daß bis ins 3. Ih. v. ehr. eine institutionalisierte Kontrolle von Verhaltensformen wegen der "Überschaubarlceit und Durchsichtigkeit" der "stillschweigend anerkannten Regeln" nicht notwendig war.
10
Hölkeskamp (1987), S. 21Of., 220.
II
Elias (1983), S. 147, spricht für den Fall der absolutistischen höfischen Gesellschaft von einer "existentiellen Gesellschaftsgebundenheit": "[...], da hier die Anerkennung der Zu· gehörigkeit durch die Meinung der anderen selbst für die Zugehörigkeit konstituierend ist, deswegen spielt die Meinung der Menschen übereinander und ihre Äußerung im Verhalten der Menschen zueinander als Formungs- und Kontrollinstrument in dieser 'guten Gesellschaft' eine besondere Rolle; deswegen konnte kein Zugehöriger hier dem Druck der Meinung entrinnen, ohne seine Zugehörigkeit, seine elitäre ldentit1lt, ein Kernstück seines persönlichen Stolzes und seiner Ehre, aufs Spiel zu setzen." Hölkeskamp (1987), S. 23lf. .
12
153
Ende des 4. Jh.s, spätestens im frühen 3. Jh. übertragen/ 3 doch lag es nicht in seiner Macht, wirklich strafen zu können. Er hatte sich vielmehr damit zu beschäftigen, das Verhalten der Senatoren genau zu beobachten und Verstöße gegen die anerkannten Regeln anzuzeigen. Das regimen morwn "war keine Institution zur Erzwingung von Geboten"14. Der Censor konnte die allgemeine 'Fürsorge' für die anderen nicht ersetzen, die von jedem Senatoren zu praktizieren war. Ob die censoriae notae zur Ächtung der betreffenden Personen führten, hing vom Ermessen und der Reaktion aller Mitglieder der aristokratischen Gesellschaft ab. Auch der Censor selbst sah sich in dieser Hinsicht der Beobachtung seiner Standesgenossen ausgesetzt. Während der censorische Blick uneingeschränkt auf fast alle senatorischen Lebensbereiche fiel,15 wurde die scheinbar herausgehobene und machtvolle Stellung des Censoren durch die Forderung nach einer hohen moralischen Integrität relativiert. 16 Das regimen morwn des Censoren stand nicht im Gegensatz zu dem Beziehungsgeflecht des Kontrollierens und des Strafens, das durch die Disposition-des-inszenierten-Außenbezuges hergestellt wurde. Es war vielmehr ein neuer Modus, der auf eine abnehmende Transparenz des senatorischen Lebensstils antwortete. 17 Das Sitten gericht stand nicht über den Senatoren und war nicht gegen sie gerichtet, sondern ein Institut der Selbstreinigung, Ausdruck einer Gesellschaftsordnung, deren
Existenz von der Gleichheit innerhalb ihrer führenden Schicht abhing. IB
Ähnliches gilt für die Versuche, die Lebensgewohnheiten der Senatoren durch Gesetze zu reglementieren. Auch hier lag es bei ihnen selbst, ob und wie die leges durchgesetzt wurden. Sie hatten sich - nun mit Hilfe der gesetzlichen Bestimmungen - auch weiterhin selber zu kontrollieren. Nur wenn dies gerang~veisprächeJrdie~GesetZeWrrkung~ Ein Element der Dysfunktionalität schlich sich jedoch in die Praktiken der Verhaltenskontrolle ein, als man sich bemühte, den senatorischen Lebensstil durch das censorische regimen morwn und durch Gesetze zu reglementieren. In dem Moment, in dem die innere Geschlossenheit der aristokratischen Gemeinschaft immer brüchiger wurde, ließen sich sowohl der censorische Blick wie auch die gesetzlichen Bestimmungen zunehmend als
15
Baltrusch (1988), S. 6. Zum regime" rrwrum s. auch Astin, Alan E. (1988): Regimen rrwrum. In: JRS 78, S. 14-34. Baltrusch (1988), S. 16. Baltrusch (1988), S. 13.
16
Bleicken (1975), S. 385.
13
14
17
18
Bleicken (1975), S. 382, 386. Baltrusch (1988), S. 28.
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Instrumente der persönlichen Intrige verwenden. Gerade in den letzten Jahrzehnten der res publica boten sie mächtigen Einzelpersönlichkeiten eine willkommene Gelegenheit, eigene Interessen, die nicht mehr die der Gemeinschaft waren, durchzusetzen, Rivalen auszuschalten oder die Senatorenschaft als Ganze zu kontrollieren. 19 Hier drohte die Disposition-des-inszenierten-Außenbezuges zum ersten Mal ernsthaft auf Bedingungen ihrer Anwendung zu treffen, die nicht mehr die ihrer Erzeugung waren. Das Beobachten von Angesicht zu Angesicht und das allgemeine Ahnden schienen ihre Verbindlichkeit zu verlieren. Im Prinzipat erhielt diese Entwicklung ihren entscheidenden Akzent.
Beobachten als senatorische Ressource Nach der Etablierung des Prinzipats richtete sich das senatorische Beobachten von Angesicht zu Angesicht und das allgemeine Ahnden in verstärktem Maße auf zwei Verhaltensbereiche. Da die Ehegesetzgebung des Augustus20 auf der senatorischen 'Fürsorge' für die anderen aufbaute, galt dem 'sittlichen' Lebenswandel der Senatoren besondere Aufmerksarnkeit. 21 Auch Mitglieder anderer gesellschaftlicher Gruppen konnten zwar Vergehen der Senatoren gegen die Ehegesetze anzeigen, doch war die Effizienz dieser leges in der Hauptsache von der aristokratischen Selbstkontrolle abhängig. Die 9 n. ehr. verabschiedete lex Papia Poppaea22 versprach Belohnungen für diejenigen, die Vergehen gegen bestimmte Ge- und Verbote zur Anzeige
19
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21
22
Baltrusch (1988), S. 29f., 131. - Bleicken (1915), S. 386. Die Censur wurde aufgrund des Mißbrauchs, der mit ihr getrieben wurde, von Sulla abgeschafft. - Anders Astin, Alan E. (1985): Censorship in the late Republic. In: Historia 34, S. 175-190. Er stellt die These auf, daß die Einrichtung der Censur erst durch Augustus ihre Funktion verlor. Zur Ehegesetzgebung des Augustus s.: Mette-Dittmann, Angelika (1991): Die Ehegesetze des Augustus. Familienpolitik als Gesellschaftspolitik. Stuttgart. - Nörr, Dieter (1911): Planung in der Antike. Über die Ehegesetze des Augustus. In: Baier, Horst (Hg.): Freiheit und Sachzwang. Beiträge zu Ehren Helmut Schelskys. Opladen, S. 309334. - Raditsa, Leo F. (1912): Augustus' Legislation Concerning Marriage, Procreation, Love Mfairs and Adultery. In: ANRW II, 13. Berlin, S. 218-339. Obwohl die Ehegesetzgebung des Augustus alle SUinde betraf, richtete sie sich in ihrer Zielsetzung primär an den Senatorenstand; s. Nörr (1911), S. 313. Vor der lex Papia Poppaea waren im Jahre 18 v. Chr. zwei weitere Ehegesetze erlassen worden: die lex lulia de aldulteris coercendis und die lex lulia de maritandis ordinibus. Das erste Gesetz beschäftigte sich mit dem Ehebruch, das zweite regelte die Heirat von Mitgliedern verschiedener Stände.
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brachten. 23 Daneben rückte das große Feld der maiestas-Vergehen mehr und mehr in den Mittelpunkt. In der inhaltlichen Bestimmung dessen, was ein maiestas-Vergehen ist, hatte sich im letzten vorchristlichen Jahrhundert ein einschneidender Wandel vollzogen. Das Majestätsgesetz, so Tacitus, hatte zwar bei den Vorfahren die gleiche Bezeichnung, doch kamen damals andere Verfehlungen vor Gericht: falls nämlich einer etwa dUICh Verrat das Heer, oder die Plebs durch aufhetzende Tätigkeit, schließlich durch verwerfliche Staatsführung die Hoheit des römischen Volkes beeinträchtigt hatte: [...].
nomen apud veteres idem, sed alia in iudieium veniebant: si quis proditione exercitum aut plebem seditionibus, denique male gesta re publica maiestatem populi Romani minuisset: [...J. Z4
Seit Augustus - genauer: seit der lex Julia de maiestate25 - konnten auch Taten und einfache Äußerungen26 gegen die Person des princeps und gegen Mitglieder der kaiserlichen Familie als maiestas-Vergehen belangt werden. Als Strafe drohte mit der Verbannung die (gesellschaftliche) Existenzvernichtung. Sowohl die Ehe- wie auch die Majestätsgesetze lenkten das senatorische Augenmerk auf Verhaltensweisen, die in dieser Art und Weise bisher noch nicht im Blickpunkt gestanden hatten. Ob aber die herkömmlichen Praktiken senatorischer Verhaltenskontrolle die Effizienz dieser gesetzlichen Reglementierungen gewährleisten konnten, schien fraglich zu sein. Bezüglich der lex Papia Poppaea bemerkt Tacitus, daß die Zahl derer zu[nahm], die in einen Prozeß verwickelt waren, da alle Familien durch die Verdächtigungen der Angeber ins Unglück gebracht werden konnten, und wie vorher mit den Gesetzesübertretungen, so hatte man jetzt seine Not mit den Gesetzen.
.multitudlTpericlitanlium-gli$cebat;-r:u7n'timneFäOmÜ$~di!laf(1rifm'iiiie;,ptelOitoni5iis subverterentur, utque antehae flagitiis,ito tune legibuslaliliraliatur:n
Plötzlich bereiteten nicht nur die Verstöße gegen die Regeln des Zusammenlebens, sondern die gesetzlichen Reglementierungen selbst die größten Probleme. Der Grund dafür ist - wie schon bei den besprochenen Verhaltensdispositionen - im veränderten aristokratischen Funktionszusammenhang des
23
Z4 2.\
26 1:/
Nllrr (1977), S. 311f. Tac., ann I, 72, 2; s. auch Bleicken (1962), S. 27f. Die Datierung der lex lulia de maiestate ist umstritten; s. Christ (1988), S. 187. Baumann, Richard A. (1974): Impietas in principem. A Study ofTreason against the Roman Emperor with Special Reference 10 the First Century A. D. München, S. 14, legt das Gesetz in das Jahr 8 n. Chr. Tac., anno I, 72, 2ff; s. auch Baumann (1974), S. 14f. Tac., anno 3, 25, 1.
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frühen Prinzipats zu suchen, der das Beobachten von Angesicht zu Angesicht in einen völlig neuen Kontext stellte. Wenn die Senatoren begehrte Ressourcen wie Ehrenämter arn leichtesten über möglichst unmittelbare Beziehungen zum Kaiser erlangen konnten und wenn das eigene Prestige in nicht unerh~blichem Maße von den Zugangsmöglichkeiten zum princeps abhing,28 dann hatten sie zuallererst auf sich aufmerksam zu machen und ihre Loyalität gegenüber dem princeps unter Beweis zu stellen. Was lag da näher, als Mitkonkurrenten oder beliebige andere Standeskollegen29 vor den Augen des Kaisers eines schlechten Lebenswandels zu bezichtigen oder sie mit dem Vorwurf schwerster Vergehen gegen das Wohl der res publica zu beschuldigen? Die Ehe- und Majestätsgesetze boten dafür ein willkommenes Instrumentarium. 3o In vielen Fällen warf man den vermeintlichen Delinquenten gleich Vergehen gegen beide Reglementierungen vor. 3! Auf diese Art und Weise konnte man sich seiner Rivalen entledigen und zugleich die Gunst des Kaisers gewinnen. Das Beobachten von Angesicht zu Angesicht ließ sich plötzlich als hervorragendes Kampfmittel der persönlichen Intrige verwenden. Es geriet zu einer bedeutenden Ressource, mit der sich der Senator in einem Spiel auf Gegenseitigkeit einen Zugang zum princeps eröffnete. Dem Domitius Afer gelang es mit dieser Strategie als einem der ersten Senatoren, die Gunst des Tiberius zu gewinnen. War er eben noch Praetorier und von geringem Ansehen, wurde er nach einer erfolgreichen Anklage vom princeps zum "Redner eigenen Rechts" ernannt. 32 Die Senatoren nutzten bei ihrem Vorgehen eine Schwäche des Kaisers aus. Selbst wenn der princeps Verfehlungen von Senatoren beobachtete oder tatsächlich von Mitgliedern der aristokratischen GemeinschaftlHlehrenhaft=,l?ehfUidclt·. wurde, konnte -er diese Ner.gehen"in·· eigener Person kaum zur Anzeige bringen. Der Kaiser konnte Senatoren riur
28
S. das Kap. Die Nähe zum princeps: Krista/Iisationspunkt aberlegener gesellschaftlicher Stärke.
29
Selbstverständlich konnten auch Mitglieder anderer gesellschaftlicher Gruppen angezeigt werden. Auch senatorische Frauen waren von möglichen Anklagen nicht ausgeschlossen; s. z. B. Tac., anno 3, 22f.; 6, 47; 12, 22; 13, 32.
30
Baumann (1974), S. 225. - S. auch Tac., anno 6, 18, 1ff.
31
S. Z. B. Tac., anno 2, 50; 3, 22; in anno 3, 38, I, bemerkt Tacitus, daß eine mniestasBeschuldigung anderen Anklagen oft als Abrundung beigegeben wurde (addito mniestatis crimine, quod tum omnium accusationum complementum erat.). Da man bei einer mniestas-Klage die Sklaven des Beschuldigten einer (peinlichen) Befragung unterziehen durfte, berief man sich sich auch aus diesem Grund gerne auf das Majestätsgesetz; S. Baumann (1974), S. 55, 94, 225.
32
Tac., anno 4, 52, 4: suo iure disertum eum appel/avit.
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unter größtem Risiko denunzieren, da er in diesem Fall in einem ganz anderen symbolischen Kontext handelte als die einfachen Mitglieder der aristokratischen Gemeinschaft. Zeigte der Kaiser einen Senatoren an, verriet er sich als Tyrann. 33 Das Beobachten vermeintlicher Delinquenz war daher die wertvollste senatorische Ressource im Kampf um Einfluß und Prestige. Zumindest hier waren die Senatoren dem princeps überlegen. Unter dieser Bedingung gewann das Beobachten von Angesicht zu Angesicht eine neue, zweite Blickrichtung. Mit dem einen Auge beobachtete der Senator auch weiterhin das Verhalten seiner Standeskollegen. Mit dem anderen Auge aber hatte er die Person des princeps im Blick. Worin zeigten sich gerade seine Vorlieben, worin seine Abneigungen? Wer waren seine Freunde, wer seine Feinde? Was sich schon beim senatorischen Abstimmungsverhalten in der Kurie feststellen ließ, schlug nun auch auf dem Gebiet der Verhaltenskontrolle durch: Der Senator richtete sein eigenes Handeln auf den Willen des Kaisers aus. Nicht ein stillschweigender Konsens innerhalb der Senatorenschaft, sondern vielmehr das gerade vorherrschende Verhalten und die Äußerungen des princeps bestimmten ganz entscheidend, was die Senatoren als vermeintliche Verfehlungen bei ihren Standeskollegen zu beobachten glaubten. 34 Das Ahnden wurde aus seinem 'multilateralen' Kontext gerissen und verlor seinen Bezug zur Allgemeinheit, da die überlegene gesellschaftliche Stärke des Kaisers alle Beobachtungsakte auf sich konzentrierte und beeinflußte. Die Praktiken senatorischer Verhaltenskontrolle und Strafens fanden de facto nicht mehr im Zusammenspiel aller Senatoren statt, sondern weitgehend im Spiel auf Gegenseitigkeit zwischen dem Kaiser und jeweils einzelnen Mitgliedern der aristokratischen Gemeinschaft Wenn sich das Beobachten von Angesicht zu Angesicht in eine besonders wertvolle senatorische Ressource verwandelt hatte, konnte es kein verläßliches Kriterium für die Richtigkeit des eigenen Verhaltens mehr geben. Die Vorlieben und Abneigungen, die Freundschaften und Gegnerschaften des Kaisers unterliefen jeden Versuch, sich der Anerkennung der gesamten aristokratischen Gemeinschaft zu vergewissern. Der stillschweigende senatorische Konsens, der gemeinhin als 'öffentliche Meinung' bezeichnet wird,3s atomisierte sich in unzählige Einzelmeinungen. Das Gerücht erschien in den
33
34
]j
S. z. B. Suet., CaI. 53: Das Verfassen von Anklageschriften und Verteidigungen wird dem CaIigula als Zeichen seiner Willkür, seiner Grausamkeit und seines Zynismus ausgelegt. Unter Caligula wurden selbst rhetorische Fähigkeiten bestraft: s. Baumann (1974), S. 136. Zur 'öffentlichen Meinung' s. S. 164, Anm. 19.
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Straßen Roms und auf den senatorischen Gastmählern und beeinflußte das Verhalten der Senatoren in nicht unerheblichem Maße. Was waren die Vorlieben des Kaisers? Mit wem durfte man sich nicht sehen lassen, da er beim princeps in Ungnade gefallen war?36 'Trends' und 'Moden' beherrschten die Szenerie. Die 'Öffentlichkeit' des senatorischen Lebensstils wurde mehr und mehr zu einem gefahrlichen Unterfangen. Sich intensiv auf die anderen zu beziehen, bedeutete ein Spiel auf Leben und Tod. Die 'Fürsorge' für die anderen (wenn man von ihr als senatorische Ressource überhaupt noch sprechen kann) wurde von nun an von einem Mißtrauen gegenüber den anderen begleitet?7 Die Disposition-des-inszenierten-Außenbezuges geriet durch den veränderten aristokratischen Funktionszusammenhang in ein geradezu agonales Verhältnis zu sich selber. Weil sie auch weiterhin die Praktiken senatorischer Verhaltenskontrolle aktualisierte, verwandelte sie sich, was die Öffentlichkeit des Lebensstils und den Bezug auf die Meinung der anderen betrifft, in eine Disposition-für-Angst. Dieses eigenartige Charakteristikum einer grundlegenden senatorischen Verhaltensdisposition erklärt auch das Erscheinen des Delatoren und das aristokratische Reden über ihn.
36
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Bawnann (1974), S. 111, betont, daß der inimicus des Kaisers der inimicus aller war. Wenn Flaig (1992), S. 116, den "gegenseitigen Einladungen" der Senatoren die Funktion zuspricht. "der hohen Konkurrenz ihre Gefilhrlichkeit zu nehmen", und "ein entscheidendes Motiv für die häufige Pflege solcher Kontakte" in der "Sorge um die eigene Sicherheit" sieht, erfaßt er damit nicht die ganze Brisanz der senatorischen Gasbnähler und Einladungen. "Die Verwobenheit in dichte Netze von Freundschaften" konnte nur dann "gegen Anklagen [schützen]", wenn sie sich in einem sozialen Raum entfaltete, der ganz anderen symbolischen Regeln unterlag als derjenige, dessen Gefährlichkeit die Senatoren entflohen. Genau dies ist aber nicht der Fall. Zwar ist es sicherlich richtig, daß die Senatoren durch eine erhöhte inneraristokratische Kommunikation der Gefahr von Anklagen vorbeugen wollten. Wer gut und früh genug informiert war, hatte beste Chancen, sich gegen potentielle Intrigen rechtzeitig zu wappnen. Auf der anderen Seite boten aber gerade die Gastmähler beste Gelegenheiten zur Denunziation. Auch in diesem Rahmen wurde die senatorische 'Etikette' keineswegs vor der Haustür des Gastgebers abgelegt. Der intensivierte Umgang untereinander potenzierte gleichzeitig das Risiko. in Intrigen verwickelt und auf vermeintliche Verfehlungen hin beobachtet zu werden.
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Exkurs: Das Delatorentum Ein Disziplinierungsinstrument des Kaisers?
Obwohl das Denunzieren innerhalb (und außerhalb) der Senatorenschaft weit verbreitet war, besaßen die delatores in der aristokratischen Gemeinschaft einen denkbar schlechten Ruf. Vor allem diejenigen Delatoren, die quasi berufsmäßig anzeigten und anklagten, sahen sich einer scharfen Kritik ausgesetzt, die auch in den Werken der römischen Historiographen ihren Niederschlag fand. Die Ankläger werden von ihnen durchweg als verkommene, von allen guten Sitten verlassene, egoistische, raffgierige, nur auf ihren eigenen Vorteil bedachte und verschlagene Kreaturen beschrieben. Cassius Dio glaubt eine typische delatorische Verhaltensweise erkennen zu können, die der eines agent provocateur ähnelt: Zunächst versuche der Denunziant, sein Opfer durch irgendwelche auffällige Bemerkungen aus der Reserve zu lokken, damit es durch unbedachte Äußerungen Anlaß zu einer Beschuldigung gäbe. Während das Opfer schon für die kleinste falsche Bemerkung bestraft werde, brauche sich der Denunziant, so Dio weiter, keine Sorgen um seine eigene Sicherheit machen. Ihm werde man jederzeit abnehmen, daß seine Worte nicht sejne wahr~ M~inuJ}g_}Viderspiegelten.l Auch für Taci~s galten die Tätigkeiten der Delatoren als "Machenschaften [ ...], die so -~ele-Jahre hindurch den Staat zersetzten."2 "Grausame Befehle, unaufuörliche Anklagen, trügerische Freundschaften, das Verderben Unschuldiger und die immer gleichen Gründe ihres Untergangs,,3 habe er in seinen Annalen aneinanderzureihen. Die Delatoren seien "eine Menschensorte, die zum Verderben des Staates aufgekommen war und auch durch Strafen nie hinreichend in Schranken gehalten werden konnte, [...]."4 Der unter Tiberius tätige Anklä-
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Cassius 58, I, Ib. Tac., anno 2,27, 1: reperta sum quae per tot annos rem publicam exedere. Tac., ann. 4, 33, 3: nos saeva iussa, continuas accusationes,laliaces amicitias, pernieiem innocentium et easdem exitii causas coniungimus. Tac.,~. 4, 30, 3: genus hominum publico exitio repertum et ne poenis quidem umquam satis coereitum.
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ger Fulcinius Trio, so Tacitus, "gierte nach schlechtem Ruf'5. Domitius Afer versuchte sich ebenfalls unter Tiberius "durch eine beliebige Schandtat einen Namen zu machen"6. Als Inbegriff des Delatoren galt Suillius, der vor allem unter Claudius unzählige Standeskollegen anzeigte. Ihn erlebten die Mitglieder der aristokratischen Gemeinschaft "als allmächtigen, käuflichen Menschen, der die Freundschaft des Kaisers Claudius lange mit Glück, doch nie zum Guten ausgenutzt hat. ,,7 Der Delator wurde von den römischen Historiographen zu einem gesellschaftlichen Außenseiter stigmatisiert. Diesen Ruf maßen ihm auch die Mehrzahl der Senatoren bei. Neben den Delatoren, denen die römischen Geschichtsschreiber fehlende moralische Integrität vorwarfen, gerieten auch die Kaiser in die Schußlinie der Kritik. Sie, die principes, seien eigentlich flir das Wüten der Denunzianten verantwortlich. 8 Indem sie Belohnungen aussetzten und an den Majestätsgesetzen ausdrücklich festhielten, würden sie die Ankläger überhaupt erst motivieren, ihrem hinterhältigen Geschäft nachzugehen. 9 Die Delatoren, so lautet die einhellige Meinung der römischen Historiographie, seien den Kaisern ein willkommenes Instrument, um die Senatorenschaft jederzeit terrorisieren zu können. Vor allem Sueton wird in seinen Kaiserviten nicht müde, die Grausamkeit der Kaiser als Ursache für das Delatorentum anzuprangern. Über Tiberius urteilt er beispielsweise: Es würde zu weit führen, einzeln seine Grausamkeiten zu berichten; es wird genügen, an Hand von Beispielen die verschiedenen Arten aufzuzählen. Kein Tag verging ohne Hinrichtungen, auch nicht die Feiertage oder sonst geheiligte Tage, ja es fanden sogar am Neujahrstag Hinrichtungen statt. Viele Leute wurden mitsamt ihren Kindern und auch von ihren Kindern angeklagt und verurteilt. Es war untersagt, daß die Angehörigen um ihre zum Tod verurteilten Verwandten trauerten. Anklägern wurden hohe Belohnungen ausgesetzt, manchmal auch den Zeugen. Keinem-Aßgeber versagte man den Glauben. Jedes Verbrechen wurde mit dem Tode bestraft, mochte es sich auch nur um wenige unschuldige Worte handeln.
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Tac., anno 2,28,3: Trionis ingenium erat avidum [ ...] famae malae: [ ...]. Tac., anno 4, 52, 1: quoquo facinore properus clarescere. Tac., anno 4, 31,3: praepotentem. venalem et Claudii principis amicitia diu prospere, numquam bene usum. Bleicken (1962), S. 47f., stellt fest. daß diese ErkIärung den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht wird. Nachfolgende Ausführungen werden diese These untermauern. Cass. Dio 58.4, 8; Tac., hist 1,2, 3. - Die Aussicht. sich durch Denunzieren reicher Männer eine lukrative 'Verdienstmöglichkeit' zu eröffnen, war gewiß eine wichtige Motivation der Delatoren. Sie erklllrt aber nicht dieses gesellschaftliche Phänomen als solches. Das Aussetzen von Prämien ist nicht die Ursache des Delatorentums, sondern nur eine Begleiterscheinung.
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Singillatim crudeliter facta eius exequi longum est; genera, velut exemplaria saevitiae, enumerare sat erit. nullus a poena Iwminum cessavit dies, ne religiosus quidem ac sacer; animadversum in quosdam ineunte anno novo. acusati damnalique multi cum liberis atque etiam a liberis suis. interdictum ne capite damnatos propinqui lugerent. decreta accusatoribus praecipua praemia, nonnumquam et testibus. nemini delatorumfldes ahrogata. omne crimen pro capitali receptum. etiam paucorum simpliciumque verborum.\O
Über Caligula, Claudius, Nero, Vitellius und Domitian behauptet Sueton fast schon stereotyp, daß unter diesen Kaisern jede beliebige Person aus jedem beliebigen Grund verdächtigt, beschuldigt, angeklagt, gefoltert und hingerichtet werden konnte. 11 Die römische Historiographie erweckt auf diese Art und Weise den Eindruck, als sei eine Gruppe von gesellschaftlichen Außenseitern zentraler Bestandteil eines politischen Unterdrückungssystems. Die von der aristokratischen Gemeinschaft geächteten delatores werden von den Geschichtsschreibern zu einem Disziplinierungsinstrument der principes gemacht, mit dessen Hilfe Herrschaft verteidigt und die Senatorenschaft jederzeit kontrolliert werden konnte. Die antik-römische Sicht der Dinge fand ihren Eingang auch in das modeme Bild vom frühen Prinzipat. Das Delatorentum erscheint hier entweder als Begleiterscheinung der Grausamkeit und des Wahnsinns der Kaiser12 oder als "konsequente[r] Ausdruck des neuen politischen Systems [des Prinzipats, D. B.]"13. In beiden Fällen wird das Delatorentum als ein rein poli-
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Suel, Tib. 61; s. auch Tac., anno 6,51~ 3.
llS-;;~t: C;J~27;-ca;~d.
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S. beispielhaft Koestennann, Erich (1955): Die Majestätsprozesse unter Tiberius. In: Historia 4, S. 72-106. Koestennann stellt fest, daß nicht nur die Berichterstattung des Tacitus über die Regierungszeit des Tiberius "vertrauenswürdig" ist, "sondern daß auch seine wertende Urteile auf jeden Fall ernsthafte Beachtung verdienen" (S. 105f.). Dementsprechend drastisch beurteilt Koestennann das Delatorentum. Ausgehend von der Bemerkung, daß Tacitus "das Krankheitsbild einer ganzen Epoche" scharf umreißt (S. 88), gelangt er zu der Diagnose, daß das Delatorentum ein "Geschwür" sei, das sich tief "in den Volkskörper hineingefressen hatte" (S. 96). Wenig später bezeichnet er es als "Krebsschaden" (S. 96). Die Delatoren sind für Koestennann "üble Elemente [...], die im Privatleben der im Vordergrunde des öffentlichen Lebens stehenden Persönlichkeiten herumschnüffelten, um Dinge zutage zu fördern, die sie dann an die große Glocke hängen konnten" (S. 91). An anderer Stelle spricht er von "unsaubere[n] Elementen" (S. 99, Anm. 65). Die Beschreibung sozialer und politischer Zusammenhänge mit Hilfe von Begriffen der Hygiene trägt in keiner Weise zur (Er-)Klärung des Sachverhaltes bei; ganz im Gegenteil: Sie reproduziert die Meinung des Tacitus nur auf einer anderen metaphorischen Ebene. n Christ (1988), S. 188; s. auch Nippel (1988), S. 31. \2
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tisches Phänomen erklärt, das seine Valenz als Instrument der Herrschaftssicherung und der Herrschaftsdurchsetzung erfährt. Die hier dargelegten Ausführungen können das Delatorentum dagegen als ein Phänomen erklären, das in der aristokratischen Gemeinschaft selbst erzeugt wurde. Wäre es tatsächlich nicht mehr als ein Mittel zur kaiserlichen Herrschaftssicherung gewesen, hätte das Delatorentum verschwinden müssen, als die Majestätsgesetze abgeschafft wurden. Genau dies geschah aber nicht. Auch als die Kaiser die Anwendung der Majestätsgesetze untersagten, wurde weiter angezeigt und angeklagt.14 Das DenunZieren stützte sich jetzt auf andere gesetzliche Reglementierungen - mit den gleichen Folgen für die aristokratische Gemeinschaft. 1s Die Kaiser hätten schon die Selbstkontrolle der Senatorenschaft als solche verbieten müssen, um die eigentlichen Wurzeln des Delatorentums auszurotten. Abgesehen davon, daß diese Möglichkeit jenseits jeglicher senatorischer bzw. kaiserlicher Handlungs- und Denkkapazitäten lag, hätte die Umsetzung einer solchen Maßnahme für jeden Kaiser tödlich enden müssen. Der princeps hatte den Senatoren das Überwachen der eigenen Verhaltensweisen zu belassen, wollte er sich nicht aufs Schwerste gegen die senatorische Standesehre vergehen und sich dem Vorwurf der Tyrannis ausgesetzt sehen. Die Praktiken senatorischer Verhaltenskontrolle selbst riefen das Delatorentum hervor. Das Delatorentum konstituierte sich, als sich das Beobachten in die wertvollste Ressource verwandelte, die die Senatoren dem Kaiser entgegenbringen konnten. Nicht die 'delatorischen' Verhaltensweisen an sich waren dabei neu, sondern die veränderten Bedingungen des aristokratischen Funktionszusammenhanges, in dem die Senatoren sich untereinander be. obachteten;~Erst in-cintF-'ätf§tokratischen-Figuration, me'dtiW:f( das-PrinZip' der Ressourcenverfügung geprägt war,' Konnte s1ch-:.cta-sDeilUnzleren als Kampfmittel um Einfluß und Prestige 16 in diesem Umfang etablieren.
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Caligula (bis 39 n. Chr.), Claudius und Nero (bis 62 n. ehr.) beseitigten die Majestätsgesetze in der Anfangszeit ihrer Herrschaft oder schränkten sie zumindest ein. Vespasian und Titus verboten sie für die Dauer ihrer ganzen Regierungszeit; s. Bleicken (1962), S. 105. - Baumann (1974), S. 141,157,208. Baumann beurteilt das Verbot der Majestätsgesetze gar als "a gigantic confidence trick". Ohne sie, so seine These, hätten die Kaiser viel besser handeln können (S. 227). Zu den Ersatzmöglichkeiten s. Baumann (1974), S. 226. S. auch Flaig (1992), S. 114f. - Ohne genauer auf den sozialen Kontext zu rekurrieren, bezeichnet Schrömbges (1986), S. 263ff., die Majestätsprozesse als Mittel senatorischer Politik, dem princeps die eigene Loyalität unter Beweis zu stellen. Es ginge hier nicht mehr um eigenständige Senatspolitik, sondern nur noch um die Sicherung von Einflußsphären in der Umgebung des Kaisers.
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Grundlegend konnten die Kaiser daran nichts ändern. 17 In ihrer Macht stand letztlich nur die Art und Weise, wie sie mit den ständig an sie herangetragenen Denunzierungen umgingen. Die Frage, ob und inwieweit der princeps den delatores Gehör schenkte, entschied dann allerdings in nicht unerheblichem Maße darüber, ob er als guter princeps oder als Tyrann in die Geschichte der res publica einging.18 In diesem Sinne ist auch das Problem einer 'Unterdrückung der öffentlichen Meinung'19 durch den princeps falsch gestellt. Es geht hier nicht um die 'Repression' ungelegener politischer Ansichten, sondern um den neuen sozialen Kontext, in dem sich die Disposition-des-inszenierten-Außenbezuges entfaltete. Eine 'Repression' nichtstandesgemäßer Ansichten und Verhaltensweisen hatte es - wie dargelegt - schon immer gegeben. Nicht sie ist das an sich Gefahrvolle und Bedrohliche, das die Sensibilität vieler Senatoren verletzte. Weil sich die Senatoren in intensiver Weise auf die Meinung(en) ihrer Standeskollegen bezogen, wirkte es sich verheerend aus, daß der stillschweigende senatorische Konsens zersplitterte. Die schnelle bigen und widersprüchlichen Gerüchte und der damit verbundene Ressourcencharakter des Beobachtens, nicht aber der bösartige Wille des Kaisers machten die 'Öffentlichkeit' des senatorischen Lebensstils unberechenbar und gefährlich. Vor diesem konkreten Hintergrund entstand das senatorische Reden über die Delatoren. Genauso wie das Reden über den Luxus indiziert es einen grundlegenden senatorischen Habituskonflikt. Das Delatorentum beruhte nicht allein auf moralischen Verfallserscheinungen, wie es die römische Historiographie suggerieren will. In dem Maße, wie sich die Dispositiondes-inszenie~D::Außenbezuges in eine Disposition-für-Angst verwandelte, sahen sich die Mitglieder der aristokratischen Gemeinschaft veraniaßt, das Beobachten von Angesicht zu Angesicht als Verhaltensweise eines gesellschaftlichen Außenseiters ohne jede Moral zu stigmatisieren.
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Bleicken (1962), S. 53, beschreibt diesen Umstand aus der Perspektive des princeps: Es habe nicht in der Absicht des Kaisers gelegen, "mit der Majestätsklage die Aristokratie zu terrorisieren oder sie gar als Mittel zur physischen Vernichtung der alten Geschlechter zu benutzen". S. Plin. min., pan. 34f., der die Verbannung der DeIaloren durch Trajan als Werk eines guten princeps feiert Zum Begriff der 'öffentlichen Meinung', der "in Deutschland zu Beginn der französischen Revolution als Lehnübersetzung von 'opinion publique' eingeführt worden" ist, s. Hölscher, Lucian (1978): Art. Öffentlichkeit. In: Brunner, Otto; Conze, Wemer u. Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 4. Stuttgart, S. 413-467, Zitat S. 448.
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Die Konjunktur der stoischen Philosophie
In der Zeit des frühen Prinzipats erlebte die stoische Philosophie in Rom eine ungeahnte Konjunktur. Die philosophische 'Sekte,l der Stoiker fand in der aristokratischen Gemeinschaft immer mehr Anhänger. Viele Senatoren bemühten sich, ihr Leben nach stoischen praecepta zu gestalten und erfüll-
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Der Begriff der 'Sekte' zur Bezeichnung der Gemeinschaft der Stoiker wird benutzt in Anlehnung an: Veyne. Paul (1989): Das Römische Reich. In: Ders. (Hg.): Vom römischen Imperium zum Byzantinischen Reich (Geschichte des privaten Lebens. Bd. 1. Hg. v. Philippe Aries und Georges Duby). Frankfurt a. M., S. 217ff. Er soll zum Ausdruck bringen, daß das Philosophieren in Rom als ein Phänomen zu begreifen ist, das sich in einem ganz bestimmten sozialen Raum entfaltet Dieser Aspekt wird mit den allgemein gehaltenen Begriffen des 'Philosophierens' oder der 'Philosophie' völlig unterschlagen. Sie implizieren eher das Gegenteil, da das Philosophieren in der Modeme meist mit Einsamkeit und Alleinsein, d. h. mit einem Rückzug vom Sozialen verbunden wird. Nicht nur für die Stoa aber bedeutete Philsosophieren immer auch intensives Kommunizieren. (1991): Philosophie als Lebensfoffi1. Geistige Übungen in der Antike. Hadot. Berlin, S. 175, betont die Wichtigkeit der sozialen Komponente im antiken Philosophieren allgemein: "Um die Wahrheit zu sagen, gibt es kein Klischee, das tiefer und unaustilgbarer in der Denkart der modemen Historiker verwurzelt wäre als die Idee. daß die antike Philosophie eine Flucht, ein Sich-auf-sich-selbst-Zuruckziehen, gewesen sei: [...] Zunächst einmal ist die antike Philosophie eine Philosophie, die stets in einer Gruppe praktiziert wird. ganz gleich, ob es sich nun um die pythagoreischen Gemeinschaften. um die platonische Liebe, die epiIrureische Freundschaft oder die stoische Seelenleitung handelt. Die antike Philosophie setzt eine gemeinschaftliche Bemühung vomus, eine Gemeinschaft, deren Mitglieder vereint forschen, sich gegenseitig helfen und geistigseelisch unterstützen." Der Begriff der 'Sekte' soll genau darauf anspielen, ohne damit aber zugleich die Vorstellung einer straff durchorganisierten Einrichtung zu verbinden. In einem weiteren Aspekt verdeutlicht dieser Terminus, daß das Philosophieren, verstmden als soziale Verhaltensweise und als Lebensstil, eine Distanzierung von konventionellen Verhaltensmustern vorauSsetzte. Das stoische Philosophieren fand in einem sozialen Rawn statt, der sich von den gewohnten Lebensbereichen abgetrennt hatte, ohne daß diese jedoch strikt abgelehnt wurden. - Zur Stoa im römschen Kaiserreich s. u. a.: Veyne, Paul (1993): Weisheit und Altruismus. Eine Einführung in die Philosophie Senecas. Frankfurt a. M.
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ten es mit philosophischen Pathos. 2 Zwei der bekanntesten wurden hier schon erwähnt: Thrasea Paetus und Helvidius Priscus. Auf der anderen Seite sahen sich die stoischen Senatoren Anfeindungen seitens des princeps, aber auch seitens ihrer Standeskollegen ausgesetzt. Zu den bedeutendsten Zeugnissen dieser Konjunktur gehären die philosophischen Schriften Senecas. Vor allem sein Spätwerk, das Briefkorpus ad Lucilium, kann zeigen, warum die stoische 'Sekte' für viele Senatoren dieser Zeit gleichzeitig eine so hohe Attraktivität und ein so großes Konfliktpotential besaß. Senecas Briefe lassen sich unmittelbar in die zuletzt dargelegten Zusammenhänge einbetten. Im folgenden soll gezeigt werden, daß zwischen dem stoischen Philosophieren und der Unangemessenheit senatorischer Praktiken der Verhaltenskontrolle ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. 3 Die Konjunktur der stoischen Philosophie erweist sich dabei als ein weiterer Indikator für das Erscheinen senatorischer Dispositionen-für-Angst.
Senecas Briefe an Lucilius und die "Wächter" des eigenen Verhaltens Seneca schrieb die Briefe an Lucilius in seinen letzten Lebensjahren. 4 Dabei handelt es sich nicht um einen tatsächlich stattgefundenen Briefwechsel, sondern um ein literarisches Produkt, das eine breitere Öffentlichkeit in die Grundzüge stoischen Philosophierens einweisen will. 5 Historisch nachweis-
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Veyne (1989), S. 223. Eine ausführliche Werkanalyse im eigentlichen Sinne können nachfolgende Überlegungen nicht leisten. Weder soll hier der rein gedankliche Inhalt der Briefe ausgeleuchtet noch die Gliederung des Briefkorpus exakt nachverfolgt werden; s. dazu: Maurach, Gregor (1970): Der Bau von Senecas epistu/ae mora/es. Heidelberg. - Cancik, Hildegard (1967): Untersuchungen zu Senecas epistulae morales. Hildesheim. - Zu den Briefen allgemein s. auch Grimal, Pierre (1978): Seneca. Macht und Ohnmacht des Geistes. Darmstadt, S. 155ff., und Griffin, Miriam (1976): Seneca. A Philosopher in Politics. Oxford, S. 334ff. - Eine ausführliche Interpretation des Briefkorpus, die über eine rein werkimmanente Auseinandersetzung hinausgeht, ist bisher unterblieben. Maurach, Gregor (1991): Seneca. Leben und Werk. Darmstadt, S. 157f., betont, daß es in der Forschung noch keinen Konsens darüber gibt, wie die Briefe zu lesen und aufzufassen sind. Grimal (1978), S. 157, läßt den Briefwechsel im Jahre 62 n. Chr. unmitelbar nach dem Rückzug Senecas aus der Umgebung Neros beginnen. Zum fiktiven Charakter des Briefwechsels s. Abel, Karlhans (1981): Das Problem der Faktizität' der senecanischen Korrespondenz. In: Hermes 109, S. 472-499. Abel geht davon aus, daß der Briefwechsel nicht tatsächlich stattgefunden hat. "Das Wechselspiel
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bar ist allerdings der Empfänger der Briefe: Lucilius war ein Freund des Seneca; ihm waren die Briefe quasi gewidmet.6 Seneca entwirft in seinen Briefen kein geschlossenes philosophisches System stoischer Prägung. Stattdessen bemüht er sich, seinem Gegenüber einige Anleitungen nahezubringen, mit deren Hilfe dieser sein Leben glücklich und frei von Sorge gestalten kann. Seneca geht es nicht darum, systematisch zu erklären und zu vermitteln, was Wahrheit ist. Er will ganz konkret einen bestimmten 'stoischen' Lebensstils formen. 7 Die Philosophie, so gibt Seneca dem Lucilius gleich in einem der ersten Briefe zu erkennen, besteht "nicht in Worten, sondern in Taten".s "Die Seele gestaltet und formt sie, das Leben ordnet sie, Handlungen lenkt sie, nötiges Tun und Lassen zeigt sie, [... ]. Ohne sie kann niemand furchtlos leben, niemand sorgenfrei"9. Die Philosophie müsse als Schutz gegen das Schicksal dienen. lo Eindeutig schreibt Seneca fest, was die eigentliche Aufgabe der Philosophie ausmacht: handeln lehrt die Philosophie, nicht reden, darauf dringt sie, daß nach seinem eigenen Gesetz ein jeder lebe, damit nicht zur Rede das Leben in Widerspruch stehe oder in sich selber [widersprüchlich seil. daß es bei allen seinen Handlungen nur eine Färbung gebe.
von Blief und Erwiderungsschreiben" sei "nur vorgetäuscht" (S. 475), Seneca spreche stattdessen "die Öffentlichkeit vor der Öffentlichkeit an" (S. 478). Abel betont weiter (S. 499), "daß die Fiktion sich nur auf die literarische Einkleidung bezieht, im übrigen aber das Leben, das der Autor und seine Freunde führen, mit großer Treue gespiegelt wird." Auch Maurach (1970), S. 181, spricht von "Kunstbriefen" , die keine "Briefsammlung im eigentlichen Sinne" seien; ähnlich Knoche, Ulrich eI987): Der Gedanke der Freund-schaft-in Senecas Briefen art LuciJius. In: Maurach',' Gregor'(Hg;)~ Se-nccaalsPhilosoph. Dannstadt, S. 152. - Cancik (1967), S. 53f., hält die "historische Frage als solche",ob der Briefwechsel echt sei, "mit unseren Mitteln" kaum entscheidbar, geht aber in ihrer Untersuchung ebenfalls von einer literarischen Form aus. - Grimal (1978), S. 155ff., entscheidet sich dagegen für die Faktizität des Briefwechsels. Die Briefe stellten ein philosophisches Tagebuch für das Leben zwischen dem Abgang vom Hof und Senecas Tod dar. - Ein detaillierter Überblick über die Forschungsmeinungen [mdet sich bei Abel (1981), S. 472f. 6
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S. dazu Abel (1981), S. 490ff. Hadot, P. (1991), S. 15: "Die Stoiker [...] bekunden es ausdrücklich: Für sie stellt die Philosophie eine 'Übung' dar. In ihren Augen besteht die Philosophie nicht in der Lehre einer abstrakten Theorie, noch weniger in der Auslegung von Texten, sondern in einer Lebenskunst, einer konkreten Haltung, einem festgelegten Lebensstil, der sich auf die ganze Existenz auswirkt."
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Sen., ep. 16, 3: non in verbis, sed in rebus.
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Sen., ep. 16, 3: animum formal el jabrieal. vilam disponit. aetiones regit. agenda et omittenda demonstrat. [. .. j. Sine hae nemo intrepide potest vivere. nemo seeure. Sen., ep. 16, 5.
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facen! docet philosophia, non m.cere: et hoc e~git, ut ad legem .soom ~uisque .vivat, ne orationi vita dissentiat aut lpsa znter se VIta,
unus Slt omnzum actlOnum color <sit>.J1
Nicht das einfache Wissen dfufe das Produkt und der Zweck des Philosophierens sein, sondern Verhaltensweisen, die von diesem Wissen durchdrungen und eingefärbt sind. Die 124 Briefet:z erwecken so den Eindruck, als seien sie in ihrer Gesamtheit unzusammenhängend und ohne klare gedankliche Bezüge untereinander. 13 Eine Struktur oder gar eine systematische Anordnung der Briefe läßt sich auf den ersten Blick nicht erkennen. Viele Briefe beschäftigen sich mit ganz konkreten Anlässen und Ereignissen. Scheinbar wahllos fmden die verschiedensten Themen in Senecas Briefen Eingang: das Reisen,14 das Erröten,ts die Saturnalien,t6 die Behandlung von Sklaven,t7 das Leben in Baiae,18 der Tafelluxus,19 der Brand von Lugdunum (dem heutigen Lyon);20 die Reihe ließe sich weiter fortführen. Andere Briefe beinhalten bestimmte Erlebnisse Senecas: eine stürmische Schiffsreise in der Bucht von Neapel, die den Philosophen seekrank machte;21 eine Fahrt durch den Tunnel von Neapel, bei der ihn ein seltsames Gefühl beschlich, "eine Art von Eindruck auf meine Seele und eine, ohne Furcht, Wandlung, die des ungewohnten Erlebnisses Neuigkeit und zugleich Häßlichkeit bewirkt hatte."22 Auch Briefe mit rein philosophischen Inhalten fehlen nicht. Ausgiebig beschäftigt sich Seneca unter anderem mit dem Wirken der Vernunft (ratiO),23 mit dem Wert der sittlichen Vollkommenheit (virtus),24 mit der
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Sen., ep.20, 2..-
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Der 125. Brief, der von Gellius, Attische Nächte, 12, 2-3, zitiert wird, ist dabei nicht mitgezählL Gerade diese Tatsache kann schnell dazu verleiten, die Briefe als Bestandteil eines tatsächlich stattgefundenen Briefwechsels anzusehen. Sen., ep. 2; 28. Sen., ep. 11. Sen.. ep. 18. Sen., ep. 47.
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Sen.• ep. 51: 56. Sen., ep. 60. Sen., ep. 91. Sen., ep. 53. Sen., ep. 57, 3: sensi quendam ictum animi et sine metu mutationem, quam insolitae rei novitas si"}ul ac foeditas fecerat. Sen., ep. 37; 38.
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Einübung des Todes,2S mit sophistischen Spielereien,26 mit der Philososphie des Platon,27 des Quintus Sextius,28 des Aristori9 und des Fabianus Papirius30 sowie mit dem Einüben des Scharfsinns31 • Eine klare Konzeption des Briefkorpus läßt sich aber auch hier kaum erkennen. Die Art und Weise, wie denn Seneca den Lucilius in die Kunst des stoischen Lebensstils einweisen will, ist weder aus dem Inhalt noch aus der Anordnung der Briefe sofort ablesbar. In der scheinbaren Strukturlosigkeit des Briefkorpus manifestiert sich jedoch eine recht eindeutige Praktik, die es näher zu untersuchen gilt. Sie entfaltet sich nicht auf einer sprachlich-systematischen Ebene, sondern im Ablauf der senecanischen Rede selbst. Hier zeigt sie auch, was sie bezweckt. Seneca lenkt die Blicke des Lucilius zunächst auf die allgemeinen und persönlichen Lebensumstände des Subjekts. Im Mittelpunkt steht das gesellschaftliche Umfeld, mit dem sich der Leser seiner Briefe tagtäglich auseinanderzusetzen hat. Ausführlich beschäftigt sich Seneca mit dem senatorischen Lebensstil. Kann dieser das Subjekt glücklich machen? Die Frage wird von Seneca entschieden verneint: Die purpurgesäumte Toga wird es nicht machen: [...] Der Ruf wird es nicht machen noch dein prunkvolles Auftreten noch die über die Völker verbreitete Kenntnis deines Namens: [...] Nicht die Schar der Sklaven, deine Slinfte über Wege in Stadt und Land tragend: [...].
Praelexla non/adel: [...J Fama non/aciel nec oslenlatio tui el in populos nominis dimissa notitia: [...J Non turba servorum lecticam tuam per itinera urbana ac peregrina portantium: [...J. 31
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Sen., ep. 66; 71; 74; 92.
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Sen., ep. 26; 30; 54; 61; 82; 101.
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Sen., ep. 49; 111; 113; 117.
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Sen., ep. 58.
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Sen., ep. 64.
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Sen., ep. 94. Sen., ep. 100.
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Sen., ep. 109.
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Sen., ep. 31, 10. Seneca umschreibt hier das Glücklich-Sein mit einem Gott-ähnlichSein. An dieser Stelle zeigt sich auch, daß das Briefkorpus an eine Öffentlichkeit gerichtet ist. Seneca spricht explizit von senatorischen Ehren, Lucilius aber war ein Ritter (s. ep. 44, 2). Wäre der Brief wirklich an Lucilius gerichtet gewesen, ginge Senecas Rede an den Lebensumständen des Ritters völlig vorbei. Auch die Erklärung, Seneca wolle Lucilius in diesem Brief davon abhalten, sich um die senatorische Laufbahn zu bemühen, greift zu kurz, da er die philosophische Übung vernachlässigt, die sich in dieser Unterweisung ausdrückt.
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Die aristokratische Lebensweise, so Seneca, sei nicht erstrebenswert und in manchen Fällen sogar gefährlich. Freundschaften würden nur aus Geldgier gesucht,33 Einfluß und Macht seien nur flüchtig und niemals gesichert. 34 Der allgemeine (senatorische) Lebensstil, so lautet Senecas Fazit, sei eine Lebensform, "die niemals dir ein Ende des Elends und der Sklaverei von sich aus setzen wird. ,,35 Alles das, was die senatorische Existenz auszeichnete - weit verzweigte Freundschaften, Ämter, Gastmähler, Auftritte auf dem Forum, in der Kurie oder bei Spielen - erfahrt in den ersten Briefen an Lucilius eine radikale Umwertung seiner Bedeutung. 36 Was bisher das Leben bestimmte, wird jetzt zu einer Belanglosigkeit zurückgestuft, gegenüber der sich das Subjekt völlig gleichgültig zu verhalten hat. 37 Dementsprechend kritisch beurteilt Seneca auch die Meinungen und die Ansichten der Mitmenschen: Das gewährleiste mir: sooft dich [Menschen] umstehen, die dir einreden wollen, du seiest unglücklich - nicht, was du hörst, sondern was du empfmdest, bedenke, und mit deiner Geduld überlege und frage dich selbst, der du deine Eigenart am besten kennst: Was ist es, weswegen diese Leute mich bedauern? Was ist es, daß sie unruhig sind, daß sie sogar die Berührung mit mir fürchten, als ob ein Unglück überspringen könnte? [...] Selber frage dich: vielleicht quäle ich mich ohne Grund und trauere und mache, was nicht schlimm ist, erst dazu?
IlIud praesta mihi, ut, quotiens circumsteterint, qui tibi te miserum esse persuadeant, non quid audias. sed quid sen/ias. cogi/es e/ eum patientia tua deliberes ae /e ipse in/erroges, qui tua optime nosti: quid est, quare isti me complorent? Quid est, quod trepident, quod contagium quoque mei timeant. quasi transilire calamitas possit? [ ...] Ipse te interroga: numquid sine causa crucior et maereo et quod non est malum./acio?31
"der
Keinen Anlaß gebe es, sich einreden-'zu lassen, sei glücldich,der -von vielen belagert wiTd"39~ .L~cilius~ -söSene~a,- müsse lernen, sich in seinem eigenen Verhalten von den Ansichten seiner Umwelt unabhängig zu machen. Nicht der eigene Lebensstil sei falsch, wenn er den allgemeinen Konventionen widerspricht, sondern die Konventionen selbst Unterwerfe man sich erst einmal der allgemeinen Meinung, sei man auch den Gerüchten
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Sen., ep. 19, 4. Sen., ep. 21,6. Sen., ep. 19,6: quae numqUilm tibi terminum miseriarum ac servitutis ipsa/actura si!. Grundlage dieser Umwertung war die stoische Lehre von den indifferentia; s. dazu Cancik (1967), S. 121ff. - Hadot, P. (1991), S. 77ff.
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S. auch Maurach (1970), S. 33ff., 66f. Sen., ep. 13, 6.
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Sen., ep. 36, 2: eum esse /elicem. qui a multis obsidetur.
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hilflos ausgeliefert. Anstatt das zu widerlegen, "was uns in Furcht versetzt", zittere man davor und lasse sich von den Gerüchten so erschrecken40 , daß "sich in Furcht ein kleines Bedenken" verwandelt. 41 Noch am Ende des Briefkorpus weist Seneca den Lucilius darauf hin, daß es falsch sei, den eigenen Lebensstil der Meinung der anderen anzupassen: Du hast keinen Grund, die zu beneiden, die die Menge groß und glücklich nennt, keinen Grund, daß dir die Verfassung und Gesundheit einer wohlgeordneten Seele der Beifall ins Wanken bringt, keinen Grund, daß dir deine Seelenruhe verleidet jener Mann, der hinter den Rutenbündeln im Purpur einherschreitet, keinen Grund, daß du für glücklicher den hältst, dem man Platz macht, als dich, den der Liktor vom Weg verweisL
non eSI quod invideas islis quos magnos felicesque populus vocat, non est quod libi compositae mentis habitum et sanitatem plausus excutiat, non est quod tibi tranquillitatis tuaefastidiumfaciat iIle sub illisfascibus purpura cultus, non est quodfeliciorem eum iudices cui summovetur, quam te quem lictor semita deicit. 41
Senecas Ratschläge führen zunächst zu einer völligen Desorientierung des Subjekts. 43 Sein ganzer gewohnter Lebensstil wird destruiert; in ihm erscheint eine grundlegende Differenz. Mit der radikalen Abwertung der gewohnten Lebensweisen konstituiert sich vor den Augen des Subjekts zunächst ein Außen, das plötzlich etwas völlig anderes sein soll als sein eigentliches Leben, in dem ihm Sinnhaftigkeit und Glück widerfährt. Ausgerechnet das gesellschaftliche Umfeld, nach dem es bisher sein Leben ausrichtete, verliert seine ganze existentielle Besetzung.44 Praktiziert das Subjekt diese philosophische Übung, so verschwindet damit die Institution, die seinem bisherigen Lebensstil die notwendige Anerkennung zugesprochen .. hat. Die Meinung deraristokr~!ischen Stand~lcollegeIJ,. die über die Richtigkeit und Angemessenheit des Verhaltens urteilten, -gehört von -aneinem Außen an, das für das eigene Leben gleichgültig und unwichtig zu sein hat. Konsequemerweise muß sich das Subjekt zugleich der entschiedenen Gegnerschaft eben dieses Umfeldes ausgesetzt sehen, da es sich des-
nun
40
41
42 43
44
Sen., ep. 13,8: quae nos in metum adducunt. Sen., ep. 13, 13: in timorem vertit scrupulus. Sen., ep. 94, 60. Mawach (1970), S. 93: "Zunächst wurde abgebaut: die vana müssen [...] verlassen werden, die fremden Dinge muß man fahren lassen." Maurachs Beschreibung trifft nicht ganz den Kern der Sache. Die Dinge waren für das Subjekt eben nicht fremd, sie mußten durch philosophische Übungen erst fremd gemacht werden! Hadot, P. (1991), S. 16, betont für die philosophischen Übungen der Antike allgemein, daß es sich dabei "um eine völlige Umkehrung der geläufigen Art, die Dinge zu sehen", handelt.
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sen Konventionen zu entziehen versucht. Die. Differenz im. eig~nen Leben lind zum Lebensstil der anderen (Senatoren) wrrd auch für die Mltmenschen sichtbar. Seneca warnt seinen Freund daher eindringlich, sich mit seiner neuen Lebensweise nicht dem Haß, der Mißgunst und der Verachtung seiner Umwelt auszusetzen.4S Die Philosophie habe man ruhig und zurückhaltend zu betreiben.46 Wenn sich aber in dem gewohnten Umfeld, das jetzt der Belanglosigkeit anheimgefallen war, potentieller Widerstand breitmachte, auf wen oder auf was hatte das Subjekt sein Streben stattdessen zu richten? Die Position des Beobachters der eigenen Verhaltensweisen war vakant geworden. Dem gewohnten senatorischen Lebensstil und der damit verbundenen Tyrannei der Meinungen stellt Seneca zwei klare Alternativen entgegen. Die eine konkretisiert sich in der Auswahl der Freunde: Aber wenn du einen für deinen Freund hältst, dem du nicht ebensoviel vertraust wie dir, irrst du gewaltig und kennst nicht genug die Kraft wahrer Freundschaft. Ja, in
allem berate dich mit deinem Freund, aber über ihn vorher: nachdem eine Freundschaft geschlossen, muß man vertrauen, vorher urteilen.
Sed si aliquem amicum existimas. cui non tantundem credis quantum tibi. vehementer erras et non satis nosti vim verae amicitiae. Tu vero omnia cum amico delibera. sed de ipso prius: post amicitiam credendum est. ante amicitiam iudicandum:'
Den aristokratischen Freundschaften, die allgemein als 'politische' Freundschaften bezeichnet werden, stellt Seneca ein ganz anderes Modell des freundschaftlichen Umgangs entgegen. Nicht der gegenseitige Nutzen sei die Essenz der Freundschaft, sondern die Bereitschaft zur völligen Aufopferung für den anderen:
zu
Wozu mache ich jemanden zUm Freüfide?Uffi einen Menschen- haben. für den ich . sterben kann; um einen Menschen zu haben, dem ich in die Verbannung folge, dessen Tod ich mich entgegenstellen und für den ich mich aufopfern kann: [...].
In quid amicum paro? Ut habeam pro qua mori passim. ut habeam quem in exilium sequar. cuius me morti et obponam et impendam: [...J:8
Seneca verkündet hier die Maxime der Kommunikation innerhalb der stoischen 'Sekte' selbst. Sie ist nicht auf eigenen Vorteil und Berechnung ausgerichtet, sondern im Gegenteil auf "Gemeinsinn, Freundlichkeit und Zu-
4.5 46 47
48
Sen., Sen., Sen .• Sen.,
172
ep. ep. ep. ep.
14, 10; s. auch ep. 5. 14, 11. 3, 2.
9, 10.
sammengehörigkeitsgefühl"49. Für das Subjekt eröffnet sich so in klarer Abgrenzung zu den herkömmlichen Beziehungen ein neuer Raum, in dem es seinen stoischen Lebensstil anhand entsprechender 'freundschaftlicher' Umgangsformen einüben kann. 50 Auch versäumt es Seneca nicht, einen neuen Beobachter des Verhaltens als zweite Alternative vorzustellen. Schon im elften Brief legt Seneca dem Lucilius einen Satz Epikurs ans Herz: "Einen Mann von Wert müssen wir hochachten und uns stets vor Augen halten, damit wir so, als schaue er uns zu, leben und alles, als sähe er es, tun. ,,51 Einen "Wächter" solle man sich nehmen, um vor ihm das eigene Verhalten zu rechtfertigen. "Nötig ist, sage ich, jemand, bei dem unser Charakter sich selber prüfen kann: [... ].,,52 Ein Cato oder ein Laelius könne das durchaus geeignete Vorbild sein, dem man nachzueifern habe: Wähl daher Cato aus: wenn er dir vorkommt allzu unbeugsam, wähl als Mann von nachgiebigerer Gesinnung Laelius. Wähl den, bei dem dir gefällt Lebensform und Art zu sprechen und das Gesicht selbst, die Gesinnung in sich zeigend: ihn halte dir stets vor Augen als Wächter oder als Beispiel.
Elige itaque Catonem; si hic tibi videtur nimis rigidus, elige remissions animi virum Laelium. Elige eum, euius tibi placuit et vita et oratio et ipse animum ante se ferens vultus: ilIum tibi semper ostende vel custodem vel exemplum.53
In regelmäßigen Abständen betont Seneca immer wieder, wie wichtig es sei, die eigene Lebensweise von einem "Wächter" beaufsichtigen zu lassen. 54 Es muß also einen Wächter geben, und er soll uns immer wieder am Ohr ziehen, femhalten das Gerede und widersprechen dem gleisnerisch lobenden Volk. Du irrst nämlich, wenn. du meinst, mit uns entstünden die Fehlhalwngen: sie überkommen uns, sinduns-aufgenötigt Daher sollen mit häufigen ErmaImungendie G~chte, die uns umschwirren, vertrieben werden, damit wir sie zum Versüimmen bringen. -
49
Sen., ep. 5, 4: sensum communem. humanitatem et eongregationem.
50
Knoche e1987) bestimmt ausschließlich den Begriff der Freundschaft. Die konkreten Verhaltensweisen, die 'Freundschaft' in der stoischen 'Sekte' begründen, fmden in seine Untersuchungen keinen Eingang. Zur Auseinandersetzung mit dem Begriff der Freundschaft s. auch: Brinckmann, W. (1963): Der Begriff der Freundschaft in Senecas Briefen. Diss. Köln. - Maurach (1970), S. 33ff.
51
52 53
S4
Sen., ep. 11, 8: Aliquis vir bonus nobis diligendus est ac semper ante oeulos habenLius, ut sie tanquam iIIo spectante vivamus et omnia tamquam illo vidente faciamus. Sen., ep. 11, 10: Opus est, inquam, aliquo, ad quem mores nostri se ipsi exigant: [ ...]. Sen., ep. 11, 10; zum exemplum s. Cancik (1967), S. 24ff. Maurnch (1970), S. 15, verweist auf das Element der Wiederholung, durch die die wichtigsten Grundthemen "'eingehämmert'" werden.
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Sit ergo aliquis custos et aurem suhinde pervellat abigatque rumores et reclamet populis laudantibus. Erras enim si existimas nobiscum vitia nasci: supervefU!runt. ingesta sunt.ltaque monitionibus crebris opiniones quae nos circumsonant. repellantur. compescamus. ss
Ein "Wächter" beaufsichtigt die Ablösung von einem anderen "Wächter". Das Beobachtet-Werden als solches bleibt weiter bestehen; es ändert sich jedoch die Qualität des Beobachters. War dieser in der Meinung der Mitmenschen sehr real vorhanden, so existiert er jetzt nur noch imaginär in der Vorstellung des Subjekts. Die Entscheidung über richtig und falsch, über gut und böse fmdet nicht mehr in der Kommunikation mit den anderen statt, sondern im Subjekt selbst, indem dies sein Verhalten an einer vorgestellten Persönlichkeit mißt. Im Verlauf des Briefkorpus nimmt die imaginäre 'Person' des Beobachters fast unmerklich eine andere Gestalt an. Werden in den ersten Briefen konkrete historische Persönlichkeiten wie Cato oder große Philosophen zu Leit- und Vorbildern erkoren, so versucht Seneca schon bald, auch diese "Wächter" von ihrem Sockel zu stoßen: Es nützt ohne Zweifel, einen Wächter sich zu setzen und jemanden zu haben, auf den du blickst, der an deinen Erwägungen teilnimmt, wie du weißt. Das freilich ist bei weitem großartiger, so zu leben, als wie unter eines guten Mannes und stets gegenwärtigen Augen; aber ich bin auch damit zufrieden, daß du SO handelst - was immer du tust -. als schaue jemand zu: zu allem Schlechten beredet uns die Einsamkeit. Wenn du bereits so weit vorangekommen bist, daß du auch Ehrfurcht vor dir selber hast, wirst du entlassen können deinen Lehrer: [... ].
Prodest sine duhio custodem sibi imposuisse et habere quem respicias. quem interesse cogitationibus tuis iudices. Hoc quidem longe mognijicentius est. sic vivere --Iamquarn sub- alicuius-boni vir-i-ac Sempe7:--prQesentis oculis;sed ego -ettam-hoi coii" ' . lentus sumo ut sie facias. quaecumque facies. lamquam spectet aliquis: omnia hobis mola solitudo persuadet. Cum iam profeceris tantum. ut sit tibi etiam tui reverentia. licebit dimittas paedagogum: [, ..1. 56
Männer wie Cato, Scipio oder Laelius seien zwar besser als das unmittelbare Umfeld des Subjekts, aber dennoch nur ein Provisorium. Schon bald beginnt Seneca den erneuten Wechsel in der Beobachterposition durchzuführen. Bezüglich der Sinnsprüche verschiedener Philosophen, die er dem Lucilius regelmäßig am Ende der Briefe mit auf den Weg gegeben hatte, bemerkt Seneca, daß sie zwar für eine gewisse Zeit durchaus nützlich sein könnten, daß es aber falsch sei, "von einem Vorbild abhängig zu sein und
55
Sen., ep. 94, 55; s. auch ep. 83, l.
56
Sen., ep. 25, 5f. - Maurach (1970), S. 101: "So wird nun der Fortschreitende zum eigenen CUSlOS, wodurch ep. 11 überhöht und überholt wird."
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so oft sich umzusehen nach dem Lehrer."57 Stattdessen habe man sich nunmehr auf sich selbst zu stützen. 58 In der Folge verzichtet Seneca konsequent auf die am Ende der Briefe stehenden Sinnsprüche - und führt einen neuen Beobachter des eigenen Lebensstils ein: "ein heiliger Geist wohnt in uns, unserer schlechten und guten [Taten] Beobachter und Wächter: wie er von uns behandelt wird, so behandelt er selber uns."59 Hier ist der Beobachter unmittelbar verbunden mit der eigenen Person, mit der ganzen eigenen Existenz. Die Position des "Wächters" hat sich endgültig von einem unwichtig gewordenen Außen wegverlagert; sie befindet sich nun unauswechselbar im Subjekt selbst. 60 Völlig überflüssig werden die Leitbilder damit aber nicht. Auch in späteren Briefen verweist Seneca auf die Wichtigkeit von exempla, an denen das Subjekt sein Verhalten ausrichten kann,61 nur sind sie jetzt nicht mehr als Hilfsmittel. Als letztgültige Instanz über Gut und Böse haben sie ausgedient, hat sich das Subjekt erst einmal ganz dem stoischen Lebensstil verschrieben: Wie jedes Wesen das ihm eigene Gut nur in der Vollendung hervorbringt, so gibt es des Menschen Gut bei ihm allein dann, wenn dort die Vernunft vollkommen ausgebildet ist. Was aber für ein Gut? Ich will es sagen: ein freier Geist, aufrecht, anderes sich unterwerfend, sich selbst niemandem.
57
'8 59
Sen., ep. 33,~:_ad_e.x.!!"pJar_pe.!!c~re _er totiens rR.Spicere adJMgistr.wn. Sen., ep. 33, 7. Sen., ep. 41, 2: sacer intra nos spiritus sedet, mIllorum bonorumque nostrorum observa-
tor et custos: hic prout a nobis tractatus est. ita nos ipse tractat. 60
61
In diesem Zusammenhang wird in der Regel von 'Verinnerlichung' gesprochen; s. z. B. Cancik (1967), S. 133. Sie versteht unter 'Verinnerlichung' "eine Verwerfung, Umwertung und Neuaneignung geheiligter aber erstarrter Wette in einem neuen 'verinnerlichten' Verständnis." Hadot, Dsetraut (1969): Seneca und die griechisch-römische Tradition der Seelenleitung. Berlin, S. 27f., verwendet den Begriff der 'Seelenleitung' . Beide Kategorien können im Rahmen des methodischen Konzepts der vorliegenden Untersuchung nicht verwendet werden. Zum einen rekurrieren diese Termini auf das Paradigma des autonomen Subjekts. I. Hadots Begriff der 'Seelenleitung' inlpliziert beispielsweise, daß eine an sich unveränderliche Seele von als falsch erkannten Wetten weg und zu den richtigen, wahren Werten hingeführt wird. Ähnliche Schlußfolgerungen läßt Canciks Begriff der 'Verinnerlichung' zu. Wenn 'Verinnerlichung' die Bewegung von 'äußerlichen' Werten in ein schon vorhandenes 'Innen' bedeuten soll, dann liegt auch hier die Vorstellung eines autonomen Subjekts vor. Zum anderen verleiten beide Tennini dazu, dieses 'Innen' mit der Aura eines transhistorischen natürlichen Objektes zu umkleiden. S. z. B. Sen., ep. 104, 2lf.
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Quemadmodum omnis natura bonum suum nisi eonsummata non pro/ert, ita hominis bonum non est in homine nisi eum illie ratio perfeeta est. Quod autem hoe bonum? Dieam: liber animus, ereetus, alia subiciens sibi, se nu1li.62
Das stoische Subjekt übt die Kontrolle über das eigene Verhalten selbst aus. Es praktiziert eine Selbstbeobachtung.63 Entsprechend den verschiedenen "Wächtern", die in Senecas Briefen die Position des Beobachters einnehmen, ordnen sich auch die Übungen an, mit Hilfe derer sich das Subjekt einen stoischen Lebensstil aneignen soll. Ein Cato oder die Gemeinschaft vergangener philosophischer Größen beobachtet noch einen Lucilius, der sich darum bemüht, Abstand von seiner gewohnten Lebensweise zu gewinnen. Die Realität des alltäglichen Lebens und ihr Bezug zum Subjekt ist hier das eigentliche Thema der senecanischen Rede. In dem Maße aber, wie auch diese imaginären "Wächter" um ihre kontrollierende Funktion gebracht werden, wird das Umfeld des Subjekts als unmittelbares Objekt philosophischer Übungen immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Die Briefe, die sich mit der Behandlung von Sklaven, mit dem Leben in Baiae, mit Erlebnissen auf Reisen und mit Schilderungen von scheinbar ganz unwichtigen Eindrücken beschäftigen, finden hier als Materie spezieller stoischer Übungen ihre konkrete Zuordnung im gesamten Briefkorpus. Die verschiedenen alltäglichen Begebenheiten werden als Anlaß benutzt, durch die der Sinn und die Zielsetzung der stoischen Lehren verdeutlicht werden kann. Zum Schluß bestimmen fast ausschließlich philosophische Gedankengänge den Inhalt der Briefe. Beginnend mit der Bestimmung dessen, was die Aufgabe der Philosophie ausmacht, über die Einführung in die Grundfragen des Philosophierens und des philosophischen Lebensstils bis hin. zum Einüben des Scharfsinns beschäftigt sich· Seneca mit immer abstrakt~r-an;n~t~~den-ThemeQ. Auch sie entsprechen genau dem Modus der Verhaltenskontrolle, den das Subjekt einüben soll. Wer sein Verhalten der Selbstbeobachtung überantworten will, braucht dafür eine im Scharfsinn geübte Vernunft. Die Auseinandersetzung mit der Realität ist in diesem Stadium der stoischen Übungen überflüssig, ja sogar störend. Das Subjekt
62 63
Sen., ep. 124, 11f. Die Deutung von Oppenheim, David E. f1987): Selbsterziehung und Fremderziehung nach Seneca. In: Maurach, Gregor (Hg.): Seneca als Philosoph (WdF Bd. 414). Darmstadt, S. 188, wird den sozialen und habituellen Rahmenbedingungen nicht gerecht. "Fremderziehung" und "Selbsterziehung" sind bei Oppenheim in der historischen Realilät schon vorhandene Kriterien, zwischen denen das Subjekt jederzeit wählen kann. Hier soll dagegen gezeigt werden, daß genau dies nicht der Fall ist. Es geht nicht um die Entscheidung zwischen diesen beiden Möglichkeiten, sondern überhaupt erst um die Etablierung.einer Praktik, die dann - wenn man will - als "Selbsterziehung" bezeichnet werden kann.
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hat sich durch entsprechende Übungen so weit von seiner Umwelt gelöst, daß es in diesem Bereich nicht mehr an sich arbeiten muß. Allerdings versäumt es Seneca nicht, die konkreten Lebensumstände in regelmäßigen Abständen anzusprechen. Gerade als es darum geht, den stoischen Lebensstil durch die Einübung des Scharfsinns zu vervollkommnen, gewinnt das Verhältnis dieses Lebensstils zu seinem Umfeld schlagartig und erneut Aktualität. Jetzt müsse man sich erst recht darum bemühen, so Seneca, nicht die Mißgunst der Mitmenschen zu erwecken. Seneca. gibt dem Lucilius daher zum wiederholten Male den Rat, seinen philosophischen Lebensstil möglichst unauffällig zu führen: Mit der Philosophie darfst du dich nicht brüsten: viele Gefahren birgt sie, wenn man übermütig mit ihr umgeht und herablassend. Dir soll sie die Fehler nehmen, nicht anderen vorwerfen; sie soll nicht in Gegensatz stehen zu den allgemeinen Verhaltensweisen und nicht den Anschein erwecken, sie verurteile, was immer sie nicht tut.
Philosophiam non debebis iactare: multisfuit periculis insolenter trac/ata et contumaciter. Tibi vitia detrahat. non aliis exprobret; non abho"eat a publicis moribus nec Me agat ut quidquid non/acit. damnare videatur. 64
Wenig später macht Seneca noch einmal darauf aufmerksam, daß man zu jeder Zeit mit der Mißgunst und dem Haß seiner Umgebung zu rechnen habe. Der Rat bleibt derselbe: "Der Mißgunst wirst du entgehen, wenn du dich den Blicken nicht aufdrängst, wenn du mit deinen Gütern nicht angibst, wenn du es verstehst, dich im stillen daran zu freuen."65 Die Umwelt des Subjekts gewinnt am Ende des Briefkorpus ein ganz andere Qualität. Während sie in den ersten Briefen noch den gesamten Inhalt und die ganze Zielsetzung der stoischen Übungen bestimmt, bleibt sie hier nur deswegen noch erwähnenswert; weil sie bei einer·falschen Darstellung der neuen Lebensweise für das Subjekt gefährlich werden kann. An sich aber ist sie in der Tat belanglos, als Objekt philosophischer Übungen im Grunde genommen gar nicht existent. Die Meinung der Zeitgenossen als "Wächter" des eigenen Verhaltens hat endgültig abgedankt. Das Subjekt beschäftigt sich weitgehend mit sich selbst. In Senecas Briefen ad Lucilium entfaltet sich eine Praktik, die sich nach Michel Foucault als "Sorge um sich" umschreiben läßt. 66 In ihnen manife-
64 6S
66
Sen., ep. 103, 5. Sen., ep. 105, 3: Invidiam ejfugies si te non ingesseris oculis, si bona tua non iactaveris, si scieris in sinu gaudere. Zur Definition der "Sorge um sich" s. Foucault, Michel (1986): Sexualität und Wahrheit. Bd. 3: Die Sorge um sich. Frankfurt a. M., S. 60. Foucault sieht in der "Sorge um sich" das lenkende Prinzip einer '''Kultur seiner selber' [...l, in welcher die Beziehungen eines [Subjekts, D. B.l zu sich selber intensiviert und aufgewertet worden sind." Die "Sorge
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stiert sich nicht einfach ein philosophischer Diskurs um seiner selbst bzw. einer Wahrheit und ihrer systematischen Erklärung willen. Senecas Rede ist vielmehr selbst Bestandteil eines komplexen Gebildes von philosophischen Techniken der Verhaltensformung. Jedes Wort in den Briefen zielt primär nicht auf einen abstrakten Bedeutungsinhalt, sondern auf eine konkrete Lebensweise; im Grunde genommen ist es selbst schon Bestandteil dieses stoischen Lebensstils. 67 Auch die Briefe, in denen sich Seneca explizit mit philosophischen Teilgebieten wie etwa der Dialektik68 beschäftigt, gewinnen ihre Funktion ausschließlich in bezug auf die Techniken, durch die das Verhalten des Subjekts verwandelt werden soll. Die verschiedenen stoischen Übungen sollen den Bezug des Subjekts zu sich selber konstituieren, kultivieren und stärken. Ohne daß sich die historischen Subjekte dessen bewußt gewesen wären, zielte diese Praktik damit auf eine Verhaltens disposition, die sich im veränderten aristokratischen Funktionszusammenhang in eine Disposition-fÜT-Angst transformiert hatte. Durch die Benennung und gleichzeitige Disqualifizierung eines Außens als sanktionierende Institution des Verhaltens und durch die Inthronisierung 'imaginärer' Beobachter wurde die Disposition-des-inszenierten-Außenbezuges verwandelt in eine Dispositionzur-Selbstbeobachtung. Die stoische 'Sekte' stellte dafür den notwendigen Raum und die notwendigen Techniken, d. h. Übungen zur Verfügung. Durch die Kommunikation ihrer Mitglieder untereinander lieBen sich die neuen Verhaltensweisen gezielt einüben. Die Mitglieder der 'Sekte' konnten sich gegenseitig ermuntern, stärken, aber auch kritisieren69 • In seiner Korrelation zur Unangemessenheit der Disposition-des-inszenierten-Außenbezuges gewinnt das stoische Philosophieren seinen spezifischen Ort in der aristokratischen -Oemeihschaft.C:
um sich" soll hier allerdings von ihrem bei Foucault auf das Gebiet der sexuellen Praktiken begrenzten Kontext entbunden und auf das allgemeine Gebiet der sozialen Verhaltensweisen übertragen werden. ~ Hadot, P. (1991), S. 69-98, weist dies am Beispiel von Mare AnreIs "Ennahnungen an sich selbst" nach. 68 Sen., ep. 45i 48; 49; 82; 83; 85; 87; s. dazu Cancik (1967), S. 35ff. 6\1 S. z. B. Sen., ep. 32; 34; 46; 59.
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Die stoische 'Sekte' in der aristokratischen Gemeinschaft: 'Therapie', Egalität und Maskerade Dieser besondere Ort stoischen Philosophierens läßt sich in seinem Verhältnis zum Ensemble senatorischer Verhaltensmuster noch genauer beschreiben. Zunächst fanden senatorische Verhaltensdispositionen, die bestimmte aristokratische Umgangsformen bestimmten, in der stoischen 'Sekte' einen neuen Raum zur Entfaltung. Der Prozeß und die Organisation der Verhaltensformung erinnern in ihrer Struktur an gewisse senatorische Praktiken. Seneca unterscheidet drei Gruppen von "Fortschreitenden" - projicientes -, die sich mit stoisch-philosophischen Übungen beschäftigen. 7o "Erste sind, die die Weisheit noch nicht besitzen, aber bereits in ihrer Nähe Fuß gefaßt haben: Trotzdem ist auch, was nahe ist, draußen. ,071 Der zweiten Gruppe gehören solche Leute an, "die die größten seelischen Krankheiten und Leidenschaften abgelegt haben, jedoch so, daß ihnen ihrer Sorgenlosigkeit Besitz noch nicht verläßlich ist: sie können nämlich in dieselben Fehler zurückfallen."72 Das Subjekt, das schließlich in die dritte und letzte Gruppe der projicientes aufgestiegen ist, "hat zahlreiche und bedeutende Fehlhaltungen hinter sich, jedoch nicht alle.,,73 Unter der Gruppe der Fortschreitenden stehen diejenigen, die den Fehlhaltungen, d. h. einem falschen Lebensstil, ganz ausgeliefert sind. Wer diesen dagegen völlig und für alle Zeit abgelegt hat, verläßt die Gruppe der projicientes und kann sich sapiens74 nennen. In den verschiedenen Stufen der Verhaltensformung - vom imperjectus über den projiciens bis zum sapiens - zeigt sich ein differenziertes Rangsystem mit philosophischer Codierung. Es entspricht damit in auffälliger Art und Weise- der Äm1er1aufbannuder dertaffgdifferenzteNhWdiecift 'der-senatöt1-:O sehen Sitzordnung im Senat zum Ausdruckkaiil.-nie Mitglieder' derstoi-
10
Sen., ep. 75, 8; zum 75. Brief s. Maurach (1970), S. 159ff.
11
Sen., ep. 75, 9: Primi sunt, qui sapientiam nondwn habent. sed iam in vicinia eius constiterunt: tamen etiam quod prope est. extra est. Sen., ep. 75, 13: Secundum genus est eorum qui el maximLJ animi mLJla et affectus deposuerunt. sed ita. ut non sit illis securitatis suae certa possessio: possunt enim in eadem relabi. Sen., ep. 75, 14: extra mulla el mLJgna vitia est. sed non extra omnia. Hadot, I. (1969), S. 73, ordnet den drei Gruppen der proficienles jeweils eine bestimmte Art von Übun-
12
73
gen zu: die erste Gruppe der Übungen beschäftigt sich mit der Aneignung von Wissen, in der zweiten geht es um die Einprägung des Wissens durch Übung und Gewöhnung, in der dritten schließlich um die aktive Bewährung des Wissens. 74
Der sapiens war allerdings eher ein Ideal als eine tatsächlich zu erreichende höchste Stufe des stoischen Lebensstils.
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sehen 'Sekte' durchliefen bei ihren philosophischen Übungen genauso wie die jungen Senatoren verschiedene Ränge, nach denen sich ihr Prestige in der Gemeinschaft gestaltete. Alte angesehene Senatoren, meistens waren sie Konsulare, wiesen die iuvenes in die komplizierten Umgangsformen im Senat ein. Proficientes höherer Stufen unterrichteten neue Anhänger ihrer Gemeinschaft in den Zielsetzungen philosophischer Übungen. Im Gegensatz zum senatorischen Rangsystem des frühen Prinzipats funktionierte das der stoischen 'Sekte' ohne große Widerspruche. Die eigene Leistung entschied über das Vorankommen im System, nicht die Fürsprache weniger oder gar eines einzigen; der Lehrer konnte eingeholt oder gar überholt werden. Die Rangunterschiede, die sich im Stand der erlernten Übungen manifestierten, waren immer nur temporärer Art und jederzeit reversibel. Das Verhältnis zwischen Lehrendem und Lernenden stellte sich niemals als ein strikt hierarchisches dar. Als äußerliches Kennzeichen dieser Beziehung diente das Pathos einer Freundschaft, das an die Stelle des gegenseitigen Nutzens die gegenseitige affektive Zuneigung setzte. Die Gemeinschaft der Stoiker stellt in diesem Sinne ein soziales Phänomen dar, das bestimmten senatorischen Dispositionen-für-Angst entgegenwirkt.75 Das Versprechen der Stoa, das Subjekt von der Todesfurcht zu befreien,16 findet auf einer Ebene seine Entsprechung, die in den Briefen ad Lucilium mit keinem Wort thematisiert wird. Durch die stoischen Übungen wird die Disposition-des-inszeniertenAußenbezuges als Disposition-für-Angst 'therapiert', indem sie sich - wie beschrieben - in eine Disposition-zur-Selbstbeobachtung verwandelt. Daneben sind die Kommunikationsformen in der stoischen 'Sekte' überzogen mit einer egalitären Symbolik, die in der aristokratischen Gemeinschaft so keinen -Platz mehr.,-hatte. -Hier:injst -der--Grun4 fjj-rdie Attraktivität "zu -suchen" -, die das stoische Philosophieren in der Senatorenschaft besaß. Die eindringlichen Ermahnungen, die Seneca an Lucilius wegen der Andersartigkeit des stoischen Lebensstils richtet, verweisen auf ein zweites, ganz anderes Verhältnis zwischen der "Sorge um sich" und dem Ensemble aristokratischer Verhaltensmuster. Setzt man die strukturellen Eigenarten der aristokratischen Gemeinschaft voraus, dann erweist sich das Vorhandensein einer stoischen 'Sekte' als weiteres Element in einem Prozeß, in dem sena-
75
76
In diesem Sinne sind die Briefe ad Lucilium mehr als nur ein Reflex der Angst von prominenten Männem vor dem princeps, wie Griffin (1976), S. 361, meint. Auch die Feststellung von Maier (1985), S. 143, greift zu kurz: "Die epistu/ae mora/es spiegeln die Ängste und Befürchtungen wider, die viele Angehörige der Oberschicht unter einem solchen Regime [des Nero, D. B.l hatten." S. z. B. Sen., ep. 4; 30; 82; zur Bekämpfung der Todesfurcht s. Maurach (1970), S. 67ff.
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torisehe Umgangsfonnen ihre eindeutige Verbindlichkeit verlieren. Indem sich die Mitglieder dieser philosophischen Gemeinschaft gezielt eine Disposition-zur-Selbstbeobachtung antrainierten, erlernten sie die Fähigkeit, sich vom senatorischen Lebensstil zu distanzieren und zu ihm ein Verhältnis aufzubauen, das genau definierten Kriterien und Maßstäben unterlag. Das stoische Subjekt konnte die senatorischen Verhaltensweisen praktizieren, ohne daß diese unbedingt existentiell aufgeladen waren. In diesem Sinne bestand für den Stoiker kein Zwang, zwischen' öffentlich' -politischer Tätigkeit und philosophischem otium entscheiden zu müssen. Es ging nicht darum, bestimmte Verhaltensweisen abzulegen, sondern dem Bezug zum eigenen Verhalten eine andere Richtung zu geben. Man interpretiert häufig die Bedeutung, die dem Thema der Rückkehr zu sich oder der Aufmerksamkeit, die man sich selbst zu erweisen hat, im hellenistischen und römischen Denken zukommt, als die Alternative, die sich zur staatsbürgerlichen Tätigkeit und zu den politischen Verantwortungen bot. Wohl findet man in gewissen philosophischen Strömungen den Rat, sich von den öffentlichen Angelegenheiten, den Wirrungen und Leidenschaften, die sie hervorrufen, abzuwenden. Doch die prinzipielle Scheidelinie verläuft nicht zwischen Teilnahme und Enthaltung; und die Kultur seiner selbst entwirft ihre Werte und Praktiken nicht im Gegensatz zum tätigen Leben. Weit eher sucht sie das Prinzip einer Beziehung zu sich zu definieren, von dem aus sich die Formen und Bedingungen bestimmen lassen, unter denen ein politisches Handeln, eine Teilhabe an den Lasten der Macht, die Ausübung einer Funktion möglich oder unmöglich, akzeptabel oder notwendig sein werden.77
Das Subjekt erlernte auf diese Art und Weise die Fähigkeit zur Maskerade. Es umkleidete seinen eigentlichen Lebensstil mit dem Mantel senatorischer Umgangsfonnen und entschied situativ, wann und unter welchen Umständen er abzuiegellwar. Miteinem.ßis~alten ,i!Jneren Lächeln spielte das Mitglied
77
Foucault (1986), S. 117. Foucault betont, daß die eigentliche Frage in der Art und Weise besteht "wie man sich als Moralsubjekt im Gesamtgefüge der gesellschaftlichen, bürgerlichen und politischen Tätigkeiten konstituieren sollte; [... l Die Frage der Wahl zwischen Rückzug und Tätigkeit stellte sich erst rückläufig von da aus." - Die Tendenz, die Alternative zwischen politischer Tätigkeit und philosophischem Rückzug derart in den Mittelpunkt zu stellen, beruht auf einer Überbewertung der stoischen Übung der Distanzierung; s. z. B. bei Maurach (1991), S. 187, und Griffin (1976), S. 323ff. Besonders deutlich ist diese Überbewertung bei Maier (1985) abzulesen. Sie richtet ihre ganze Untersuchung - wie ihr Titel Philosophie und römisches Kaisertum. Studien zu ihren wechselseitgen Beziehungen in der Zeit von Caesar bis Marc Auerel schon zeigt - auf die Alternative res publica - otium aus, ohne nach den Bedingungen zu fragen, die diese Alternative zu thematisieren erlauben. - Anders Grimal (1978), S. 5. In bezug auf Seneca hält er die Annahme für nicht richtig, daß die "philosophische Bildung [...] Seneca auf einen Weg gedrängt [habel, der ihn von seiner politischen Tätigkeit weggeführt habe."
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der stoischen 'Sekte' das Spiel der aristokratischen Gemeinschaft so lange mit, wie es nach seiner Meinung vertretbar war. Wenn es nötig war, verabschiedete es sich vom Theater der senatorischen Eitelkeiten mit einem Freitod, den es als Fanal seiner Unabhängigkeit inszenierte.78 In diesem Sinne entzogen die stoische 'Sekte' und die "Sorge um sich" das Subjekt den senatorischen Kommunikationsfonnen und damit dem Zugriff der aristokratischen Gemeinschaft. Ein stoischer Senator war gegen den gesellschaftlichen Boykott und gegen die Ächtung durch seine Standeskollegen weitgehend immun. Ein allzu provokant an den Tag gelegtes stoisches Verhalten bot daher Anlaß zu Haß, Verachtung und Anfeindungen, da ein Mitglied der eigenen 'feinen Gesellschaft' den Anschein erweckte, es wolle sich den geltenden Konventionen entziehen. Die stoischen Übungen konnten nicht nur gegenüber dem princeps, sondern gegenüber der aristokratischen Gemeinschaft überhaupt äußerst gefährlich werden. Zwar ließ sich dieser neue Verhaltensstil in Gegnerschaft zum Kaiser vortrefflich als 'republikanisch' darstellen, um damit Rückhalt bei den eigenen Standeskollegen zu gewinnen, doch war dies nicht notwendigerweise der Fall. Die Stoiker blieben umstritten und sahen sich nicht selten in die Rolle des gesellschaftlichen Außenseiters gedrängt.79 Ausgerechnet jene Praktik, die in der Lage war, sich als 'Therapie' senatorischer Dispositionen-für-Angst zu konstituieren, produzierte gleichzeitig weitere Bruche und Verschiebungen in der Symbolik aristokratischer Umgangsfonnen. Die stoische 'Sekte' erweist sich damit als ein Phänomen, das mit dem Erscheinen von Dispositionen-fürAngst in einer zweifachen Korrelation steht. Zum einen eröffnet sie einen sozialen Raum der 'Therapie', zum anderen untergräbt sie die an sich schon .brüG1rige .. Symbolik-deF.:;arl~tokratiscbcm",6emeinschaf.t..",iD-OOm,•.sie··ihm-ein:Element der Distanzierung beimischt. Die senarorische Gemeinschaft wurde auf diese Art und Weise quasi in zwei Lager geteilt: Sie umfaßte die Mehrheit solcher Senatoren, die in ihrem alten Lebensstil befangen blieben, und eine Minderheit solcher, die ihn - nach entsprechenden Übungen - genau abwägend und kalkulierend praktizierten, um seinen Unzulänglichkeiten zu entgehen. Senatorisches Verhalten war nicht mehr unbedingt gleich senatorisches Verhalten. Für das eine Subjekt war es das eigene Selbst, für das andere nicht mehr als Maskerade eines ganz anderen Lebensstils.
78
So z. B. der Freitod des Thrasea Paetus (Tac., anno 16,35); der Freitod des Seneca wird von Tac., anno 15, 62f, ausführlich beschrieben, - Veyne (1989), S. 223f., sieht in der "Häufigkeit des philosophisch begründeten Selbstmordes" einen Beweis für den Erfolg der Philosophie.
79
S. auch Timpe (1989), S. 125: "stoische Kompromißlosigkeil konnte als vorbildliche virtus gepriesen oder als unnötige, ja törichte Provokation verurteilt werden."
182
Die domus principis und die Disposition-der-Distanzierung
In dem Maße, wie sich die Person des princeps als Zentrum der Ressourcenvergabe im aristokratischen Funktionszusammenhang etabliert hatte, konnten auch solche Angehörige statusniederer Gruppen Macht und Einfluß ausüben, die unmittelbare Zugangsmöglichkeiten zum Kaiser besaßen. Durch ihre Nähe zum princeps gewannen sie eine bisher nicht gekannte gesellschaftliche Stärke. Wirklich aktuell und brisant wurde die veränderte Konstellation zum ersten Mal unter Tiberius, als dem Ritter L. Aelius Seianus eine Macht zuwuchs, die für einen Nicht-Senatoren bisher unbekannt war. 1 Sejan war unmittelbar nach dem Tode des Augustus zum Praefekten der Garde ernannt worden. 2 Schon für das Jahr 21 n. Chr. schreibt ihm Tacitus einen solchen Einfluß zu, daß die bloße Verwandtschaft mit ihm ausreiche, um an begehrte Ämter und Stellen zu gelangen.3 Als Tiberius sich 26 n. Chr. 4 entschloß - unter anderem durch den Praetorianer-Praefekten dazu überredet -, Rom den Rücken zu kehren und fern von der turbulenten Hauptstadt des Imperiums auf Capri ein neues Domizil zu errichten, kannte :der,politische,-Spielraum des-8ejan- scheinb~k~",grenzenmehr~D& Rikter sah sich in die Lage versetzt, die Zugänge zum' Zentrum des arlstokrati ~ , sehen Funktionszusammenhanges vollständig zu kontrollieren. Die Senatoren konnten mit dem auf Capri weilenden princeps nur brieflich in Kontakt treten. Da aber der Praetorianerpraefekt die Korrespondenz des Kaisers zu organisieren hatte, waren die Senatoren zum ersten Mal gezwungen, ernsthaft mit einem Angehörigen einer statusniederen Gruppe zu kommunizieren, wollten sie ihre eigenen Belange oder die ihrer Klienten durchsetzen. Sejan
Zur Geschichte des Sejan s. vor allem: Hennig, Dieter (1975): L. Aelius Seianus. Untersuchungen zur Regierung des Tiberius. München. z Hennig (1975), S. 19. 3 Tac., anno 3, 35; s. auch: Hennig (1975), S. 22. Inwiefern der Nachricht des Tacitus geglaubt werden darf, muß offen bleiben, da der römische Historiograph ein Sejan-Bild zeichnet. das von "ausgesprochenem Haß" geprägt ist; s. dazu Hennig (1975), S. 32. 4 Hennig (1975), S. 64. - Christ (1988), S. 198, nennt das Datum 27 n. Chr. I
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konnte darüber entscheiden, wer mit dem Kaiser in Verbindung treten durfte und wer nicht. Tacitus durchschaut diesen Zusammenhang klar: "In seiner Hand werde der Zutritt zum Kaiser liegen, der Schriftverkehr zum großen Teil unter seiner Aufsicht stehen [... ]. "S Sejan nutzte seine aus der unmittelbaren Nähe zum Kaiser resultierende Machtposition rigoros aus, als er offen gegen Agrippina und Nero Stellung bezog.6 Nachdem er die GennanicusWitwe und ihren Sohn, der als Anwärter auf den Kaiser-Thron gehandelt wurde, schon bald nach der Abreise des Tiberius unter militärische Bewachung gestellt hatte/ zog der Praetorianerpraefekt die beiden unter Zustimmung des Kaisers in ein Anklageverfahren hinein. 8 Ein Jahr später, 29 n. Chr., wurden Agrippina und Nero verbannt. Nun konnte Sejan seine eigene Person in der bisher ungeklärten Nachfolgefrage ins Spiel bringen. Der Tiberius-Enkel Gemellus besaß jetzt die größten Chancen, die Herrschaft vom alternden princeps zu übernehmen. Da er aber noch unmündig war, brauchte er einen Vonnund, der seine Regentschaft bis zur Volljährigkeit vertrat; sie bot sich in der Person des Sejan an, des nach der Ausschaltung der Gennanicus-Familie einflußreichsten Mannes in Rom. Die 'feine Gesellschaft' der Senatoren beobachtete diese Vorgänge in der unmittelbaren Nähe des princeps indes äußerst argwöhnisch und voller Mißtrauen. Der Praetorianerpraefekt, dessen· zentrale Stellung in der unmittelbaren Umgebung des princeps durch "die ständig in sein Haus strömenden Besucher"9 für jedennann sichtbar war, sah sich ständig einer Vielzahl von Verdächtigungen und Neid ausgesetzt. Ohnmächtig standen die Senatoren einem völlig neuen Phänomen gegenüber. Nicht etwa sie, die sich zur Herrschaft über das gesamte Imperium berufen fühlten, entschieden über die politischen Gesehioke:.,Roms; -.sondern ein ,Ritter, ,der durch- besondereMm-. stände mitten in das -Zentrum der Herrschaftsausübung geworfen worden war und der sich der uneingeschränkten Gunst des princeps erfreuen konnte. 10 Ausgerechnet mit ihm hatten sie einen freundlichen Umgang zu pfle-
, 6
Tac., anno 4,41,2: sua in manu aditus litterarumque magna ex parte se arbitrumfore; s. auch Hennig (1975), S. 87. Hennig (1975), S. 88.
arm. 4, 67,4.
7
Tac.,
S
Tac., anno 4, 68ff.
9
Tac., anno 4, 41, 1: atJsiduos in domum coetus.
10
Sejan hatte Tiberius bei seiner Reise nach Capri das Leben gerettet. Der Kaiser hatte sich zum Speisen in eine natürliche Grotte zurückgezogen und wurde dort von herabfallenden Felsstücken verschüttet. "Seianus, sich mit Knie, Gesicht und Händen über den Kaiser hinbeugend, flOg mit dem Körper die herabfallenden Steine ab und wurde in dieser Haltung von den Soldaten angetroffen, die zur Hilfe gekommen waren." (Tac.
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gen, wollten sie das eigene Prestige in der aristokratischen Gemeinschaft festigen oder weiter stärken. Das stellte die Senatoren vor größte Schwierigkeiten; der Praetorianerpraefekt erschien in ihren Augen als ein machtgieriges, skrupelloses und verschlagenes Geschöpf, das ihre Kreise nachhaltig störte, aber eben durch die Deckung des Kaisers ein Übel war, das hingenommen werden mußte. Nachdem Sejan 31 n. ehr. gestürzt worden und seine scheinbar unverletzliche Machtstellung in kürzester Zeit in sich zusammengebrochen war,11 konzentrierte sich das Augenmerk der Senatoren unter den nachfolgenden principes auf den kaiserlichen Wohnsitz in Rom. Die domus principis war kein beliebiger senatorischer 'Haushalt' mehr; das Gebäude wie auch die in ihr lebenden Personen und das dazugehörige Dienstpersonal gewannen in der veränderten senatorischen Figuration eine völlig neue Funktion. Ob es die kaiserlichen Frauen oder Mätressen waren, ob Hofastrologen, die sich die Gunst des Kaisers sichern konnten, sie alle profitierten von der neuen zentralen Stellung des princeps und seiner domus im aristokratischen Funktionszusammenhang. 12 Die Nähe zum princeps war in den Gemäuern des kaiserlichen Domizils zu Stein - oder besser: zu Mannor - geworden. Was die Senatoren zum ersten Mal gegenüber der Person des Sejan erfahren mußten, verortete sich jetzt im Haus des Kaisers: Es gab Personen, die keine Mitglieder ihrer Gemeinschaft waren und dennoch in vielen Fällen mehr Einfluß und Macht als die Senatoren selbst besaßen. Wer etwas vom princeps erbitten oder mit ihm in Verbindung treten wollte, mußte sich auch mit den in seinem Hause lebenden statusniederen Personen ernsthaft arrangieren können. Dies galt vor allem gegenüber den kaiserlichen Freigelassenen, den geheimen -1Machthabern' in-der--domus prineipis. Nach-der Analyse des Verhältnisses Kaiser - Senatoren sowie der Umgangsformen in der Senatorenschaft selbst schließt die Beschreibung des Verhältnisses zwischen den Mitgliedern der aristokratischen Gemeinschaft und den kaiserlichen Freigelassenen die Untersuchung von senatorischen Dispositionen-ftir-Angst ab.
anno 4, 59, 2: Seianus genu vultuque et manibus super Caesarem suspensus opposuit sese incidentibus. atque habitu tali repertus est a militibus. qui subsidio venerant.) Das 1l
12
Vertrauen des Tiberius in Sejan kannte nach diesem Vorfall keine Grenzen mehr. Hennig (1975), S. 139ff. Vor allem die Frauen des Claudius, zuerst Messalina, dann Agrippina, besaßen einen großen Einfluß auf die Entscheidungen des princeps (s. Suet., Claud. 25; 29).
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Experten der Macht: Die kaiserlichen Freigelassenen In zunehmendem Maße übernahm auch die jamilia Caesaris Aufgaben der reichsweiten Herrschaftskoordination. Vor allem ihre hierarchische Spitzel3 rückte direkt in das Zentrum der Macht. Durch die Bekleidung der höchsten Hofämter - a rationibus, ab epistulis, a libellis, a studiis, a cognitionibus, a codicillis, a memoria, a diplomatibus _14 besaßen die Freigelassenen des Kaisers einen unmittelbaren Zugriff auf die Machtressourcen. Die Leitung der großen palatinischen Büros im Hause des princeps ermöglichte es ihnen, an der Herrschaftsausübung des Kaisers zu partizipieren und sie - wenn nötig - im eigenen Interesse zu manipulieren. ls Da die kaiserlichen Freigelassenen nach dem Tod des princeps an den Thronfolger, der nun ihr neuer Schutzherr war, innerhalb einer Dynastie quasi weitervererbt wurden,I6 nahm ihr Einfluß weiter zu. Die principes kamen und gingen, ihre Freigelassenen blieben in der Regel dort, wo sie von ihnen hingesetzt worden waren: an den Schalthebeln der Macht. Pallas und der Vater des Claudius EtrusCUS l7 hielten allein den Posten a rationibus und Narcissus den ab epistulis länger als zehn Jahre inne. 18 Die liberti Caesaris entwickelten sich zu wahren Experten der Macht, die sich in Fragen der Herrschaftsausübung, aber auch, was das Spinnen von Ränken und Intrigen anbelangt, so gut aus-
13
Zur familia Caesaris s. Weaver, P. R. C. (1972): Familia Caesaris. A social Study of the Emperor's Freedmen and Slaves. Cambridge. - Chantraine, Heinrich (1961): Freigelassene und Sklaven im Dienst der römischen Kaiser. Studien zu ihrer Nomenklatur.
14
Zu den großen palatinischen Büros s;Weaver (1972), S.'·259ff. - Duff, Amold M. (1928): Freedmen in the early Roman Empire. Oxford, S. 150-159.
Wies~aden.
l' 16 17
18
Zur Stellung der Freigelassenen im Dienst des princeps s. Weaver, P. R. C. (1914): Social Mobility in the Early Roman Empire: The Evidence of the Imperial Freedmen and Slaves. In: Finley, Moses 1. (Hg.): Studies in Ancient Society. London, S. 121-140. Weaver (1912), S. 2. Dieser Freigelassene ist wohl das einprägsamste Beispiel dafür, wie sich die Karriere eines libertus Caesaris über die Regierungszeiten der einzelnen principes hinweg entwickeln konnte. Der Vater des Claudius Etruscus galt als einer der mächtigsten und reichsten Freigelassenen im 1. Jh. n. Chr. War er unter Tiberius noch ein einfacher Sklave, so stand er unter Vespasian an der Spitze der kaiserlichen Finanzverwaltung und besaß einen ritterlichen Status. Schon vor dem sonst üblichen Alter von 30 Jahren war er freigelassen worden. Gaius begleitete er - wahrscheinlich als tabellarius - nach Gallien. Unter Claudius nahm er - parallel zu der Karriere des Pallas - seinen weiteren Aufstieg. Seinem Einfluß wurde ein abruptes Ende gesetzt, als er unter Domitian in die VerbannuJ1g gehen mußte; s. Weaver (1912), S. 284ff. Weaver (1912), S. 261.
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kannten wie kein anderer. Bei der Bekleidung der höchsten Hofämter sammelten sie im Laufe der Zeit ein enormes Wissen, das sie jederzeit in die Lage versetzte, auf neue Situationen entsprechend flexibel reagieren zu können. Callistus rät bei der Besprechung mit Pallas und Narcissus davon ab, "Messalina durch geheime Drohungen von der Liebe zu Silius" abzubringen, "weil er schon am Hof des vorigen Herrschers Erfahrungen gemacht hatte und wußte, daß man seinen Einfluß mehr durch vorsichtige als durch tatkräftige Maßnahmen sichert [...]."19 Auch deiriGraptus, der unter Nero eine Intrige gegen Cornelius Sulla inszenierte, wird von Tacitus bescheinigt, daß er "als erfahrener alter Mann den Kaiserhof seit Tiberius genau kannte [... ]."20 Die Möglichkeit einer zeitlich unbeschränkten Ausübung bestimmter Hofämterl sowie das differenzierte Wissen über die Mechanismen der Macht begründeten eine Machtstellung der kaiserlichen Freigelassenen, die einen atemberaubenden Umfang annehmen konnte. Die faktische Positionierung im Zentrum imperialer Herrschaftskoordination und die damit verbundene Aufwertung der liberti Caesaris entsprach jedoch ganz und gar nicht dem gesellschaftlichen Status, den die Freigelassenen einzunehmen hatten. Die Diskrepanz zwischen Rang und Status22 mußte im Verkehr mit den Senatoren immer wieder schwere Konflikte heraufbeschwören.
Die Imago vom hochmütigen Freigelassenen .Bie'-AUSÜbung del'--ilinelf aüferlegteir Ä"üfgabeiR1ftdllie~daraus-resultierendec Ma.chtfülle der kaiserlichen Freigelassenen führte fast zwangsläufig dazu, daß bestehende Standesschranken immer wieder durchbrochen wurden. Regelmäßig prangern die antiken Historiographen in ihren Werken die Mißachtung der gesellschaftlichen Etikette durch die liberti Caesaris an. Da bekam Harpocas, ein Günstling des Claudius, das Recht, sich in einer Sänfte
19
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22
Tac., anno 11,29, H.: Messalinam secretis minis [ ...] a11Wre Si/ii [ ...] Callistus prioris quoque regiae peritus et potentiam cautis quam acribus consiliis tutius haberi. Tac., anno 13,47, 1: usu et senecta Tiberio abusque domum principum edoctus. Weaver (1972). S. 2. und (1974). S. 139. sieht in der Stellung der kaiserlichen Freigelassenen wie auch in der Bedeutung der familia Caesaris insgesamt ein gewichtiges Element für die Kontinuität des frühen Prinzipats im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Gamsey/Saller (1989), S. 170.
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durch Rom tragen zu lassen und öffentlich Spiele veranstalten zu dürfen. 23 Polybius, der Hofgelehrte des Claudius und spätere Amtsinhaber a libellis, ging oft zwischen den amtierenden Konsuln in aller Öffentlichkeit spazieren. 24 Icelus, der Freigelassene des Galba, bekam den Ritterring zugesprochen und wurde mit dem ritterlichen Beinamen Marcianus ausgezeichnet. 2S Angeklagte wurden unter Claudius in Anwesenheit kaiserlicher Freigelassener in der Kurie verurteilt. 26 Zum Inbegriff gesellschaftlicher Tabuverletzungen und Grenzüberschreitungen wurde das Verhalten der mächtigen Freigelassenen des Claudius, vor allem des Pallas 27 und des Narcissus. Ihre Intrigen und Machtspiele werden von Tacitus in den Annalen genauestens vermerkt. 28 Unübersehbar wurde die Diskrepanz zwischen gesellschaftlichem Rang und Status auch durch die unermeßlichen Reichtümer, die manche der kaiserlichen Freigelassenen infolge der Bekleidung von Hofamtem ansammeln konnten. 29 Vier der zehn reichsten Männer des Prinzipats gehörten dem Stand der Freigelassenen an. 3D Der Reichtum eines Pallas oder eines Narcissus war schon sprichwörtlich geworden. 31 Er ermöglichte ihnen, einem Lebensstil zu huldigen, bei dem so manches Mitglied der römischen Aristokratie vor Neid erblassen mußte. Für die Senatoren schienen die kaiserlichen Freigelassenen dagegen nur aus moralisch minderwertigen Subjekten zu bestehen. Glaubt man den Schilderungen des Tacitus in den Annalen und Historien, dann wurde der Charakter der liberti Caesaris vorwiegend von Hochmut, Habgier und Lasterhaftigkeit geprägt. Der Hochmut des Narcissus erreichte nach den Worten des Historiographen einen solchen Grad, daß dem ehemaligen Sklaven die -Auszeichnun.g 'mit-'uen-lnsignien'4es· QuästOFs~ nadi~der - Hinrichtung-der;
23
Suet., Claud. 28.
24
Suet., Claud. 28.
25
Suet., Galba 14.
26
Cassius Dio 60, 16.
rl
Zur Person des Pallas s. Oost, Stewart I. (1958): The Career of M. Antonius Pallas. In: AJPh 79, S. 113-139.
28
S. u. a. Tac., anno 11, 28ff.; 12, Hf.; 25; 53; 57; 65; 13, 2; 14; 23; 14, 2; 65.
29
3D
Weaver (1974), S. 129, meint, daß die kaiserlichen Freigelassenen unter finanziellen Gesichtspunkten einer begünstigten Gruppe der römischen Gesellschaft angehörten. Zum Reichtum der liberti Caesaris S. auch Duff (1928), S. 182f. Garnsey/Saller (1989), S. 170.
)1
S. Juvenal. sat. I, 108f.. und 14, 329.
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Messalina als "eine ganz unbedeutende Ehre"32 erschien. Icelus, der sich, so Tacitus, unter Galba die potentia principatus mit dem Konsul Titus Vinius und dem Prätorianerpräfekten Comelius Laco teilte,33 formulierte seine Ratschläge beim Kampf gegen Otho "aus rein persönlicher hartnäckiger Gehässigkeit [... ], der Allgemeinheit zum schweren Verderben."34 Asiaticus, der unter Vitellius zu großem Einfluß kam,35 wird vom römischen Geschichtsschreiber als "niederträchtige[r], mit allen schlimmen Mitteln um Gunst buhlende[r] Sklave"36 bezeichnet. Die moralische Verruchtheit per se verkörperte Pallas. Er hätte "durch seine widerliche Anmaßung die Schranken, die dem Freigelassenen gezogen sind, überschritten't37. Seinen Gelüsten ergeben38 triebe es Pallas bis zu einem ehebrecherischen Verhältnis mit Agrippina, der er vorher die Ehe mit Claudius vermittelt hatte. 39 Seinen unermeßlichen Reichtum von 300 Millionen Sesterzen ließe er sarkastischerweise als Ausdruck altrömischer Sparsamkeit feiern. 4O Auch in der Behandlung der eigenen Freigelassenen tritt nach Tacitus der Hochmut des Pallas zutage.41 Als der libertus zusammen mit Burrus wegen einer Verschwörung gegen Nero vor Gericht angeklagt wurde und ihm aus seinen eigenen Freigelassenen Mitwisser der angeblichen Tat benannt wurden, antwortete er, nie habe er irgendeinen Wunsch in seinem Hause anders als durch Nicken oder eine Handbewegung zu erkennen gegeben, oder er habe sich, wenn er mehr Hinweise habe geben müssen, der Schrift bedient, wn sich nicht durch Sprechen mit der Dienerschaft gemein zu machen.
respondit nihil umquam se domi nisi nutu aut manu significasse, vel, si plura demonstranda essen!, scripto usum, ne vocem consociaret. 42
Pallastritt s~inen eigeneI?-oFrelg~las~~nen mitgr9,~trnögli~~~!:J).i~arr~oge.gen
-libero -EinecKommuIiWliiPn ~wisc1teI!1hoii:l iI~doos~tnem-_'J)i~nstPersQmiI' °fui_ " . . .•.. . -. -.- . ."' _~
32 33 34
3S 36
37 38 39
40 41 42
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Tac., anno 11, 38,4: levissimumfastidjo. Tac., bist. I, 13, 1. Tac., bist. 1,33,2: privati odii pertinacia in publicum exitium. Tac., bist. 2, 95, 2. Tac., hist 2, 57,2: foedum mancipium et malis artibus ambitiosum. Die hier benutzte Übersetzung ist an dieser Stelle unangenau. Tacitus selbst spricht in bezug auf Asiaticus nicht explizit von einem Sklaven. Tac., anno 13, 2, 2: tristi adrogantia modum liberti egressus. Tac., anno 14, 2, 2. Tac., anno 12, 25, 1. Tac., anno 12, 53, 3. Tac., anno 13,23. Tac., anno 13, 23, 2.
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det so gut wie gar nicht statt, ja er nimmt seine eigenen liberti fast nicht mehr wahr. Darin, urteilt Tacitus, bestehe die superbia des Pallas. Der römische Historiograph befand sich mit seiner Einschätzung der kaiserlichen Freigelassenen in Übereinstimmung mit der überwältigenden Mehrheit seiner aristokratischen Standes genossen. Auch die Senatoren sahen in den liberti Caesaris verabscheuenswürdige Kreaturen, die ihre Ränke, Intrigen, sexuellen Exzesse und was die Senatoren sonst noch an ihnen zu beobachten meinten, auf Kosten des Zusammenhalts und der moralischen Integrität der aristokratischen Gemeinschaft betrieben. Daß die von ihnen gezeichnete Imago des hochmütigen und lasterhaften Freigelassenen keineswegs die Realität widerspiegelt, steht auf einem anderem Blatt. Das Urteil des Tacitus über die Behandlung der eigenen Freigelassenen des Pallas wäre gewiß ein ganz anderes, handelte es sich um einen normalen Senatoren. Was bei Pallas mit dem Vorwurf des Hochmutes abqualifiziert wird - nämlich die äußerst distanzierte Behandlung der liberti, wäre bei einem Patron des obersten Standes überhaupt nicht erwähnenswert gewesen. Was tat denn Pallas - freilich in extremer Weise - anderes, als eine aristokratische Verhaltensweise gegenüber den eigenen Freigelassenen zu imitieren? Aber exakt das war sein Fehler. Nicht etwa die Tatsache, daß sein distanziertes Verhalten an sich hochmütig war, diskreditierte ihn in den Augen des aristokratischen Historiographen. Nur daß er als Freigelassener so handelte, provozierte den Vorwurf der superbia. Daß ein Freigelassener selbst als Patron von Freigelassenen auftrat und sich dementsprechend benahm, kollidierte unmittelbar mit traditionellen aristokratischen Wahrnehmungsmustern und Verhaltensdispositionen. 43 III der Imago des· hochmütigen. und lasterhaften FreigelllssenertteaUsierte .. siCh die ölininächtige Reaktion der Senatoren auf die TatSa.che, daß siCh "eine- . sozial und prestigemäßig weit unterlegene Gruppe Dinge leisten konnte, die eigentlich nur dem senatorischen Stand vorbehalten war. Weil sie sich mitten im Zentrum der reichsweiten Herrschaftskoordination befanden, klafften gesellschaftlicher Rang und Status der Ziberti Caesaris weit auseinander. Die Mitglieder der römischen Aristokratie mußten Handlungen und Verhaltensweisen der kaiserlichen Freigelassenen wahrnehmen, die ihrem Bild von den ehemaligen Sklaven ganz und gar widersprachen. Tag für Tag sahen und spürten die Senatoren, daß ihnen in den kaiserlichen Freigelassenen Konkurrenten um die Macht erwachsen waren; diese waren ihnen nicht allein durch
43
Zwar gab es dieses Problem auch schon in republikanischer Zeit, doch wurde es gerade am Phänomen der liberti Caesaris besonders evident und gewann eine neue Dimension.
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die Nähe zum princeps weit überlegen. 44 Die ehemaligen Sklaven hatten im Laufe der Jahre ein umfangreiches Wissen über die Mechanismen der Herrschaft angesammelt; sie besaßen zudem eine fast einzigartige Fähigkeit zu mimetischem Verhalten45, die sich vor allem in der Imitierung adeliger Verhaltensweisen ausdrückte. Die Freigelassenen konnten daher auf verschiedenste Situationen mit einer Flexibilität reagieren, die aus der Sicht der Senatoren etwas völlig Neues und Unvorstellbares war. Wollten sie sich gegenüber einem solchen Inventar von Handlungsmaximen nicht ohnmächtig geschlagen geben, mußten die Aristokraten immer wieder darauf verweisen, wie lasterhaft und anmaßend diese Nutznießer kaiserlicher Herrschaftsgewalt doch seien. Die Senatoren sprachen ihren Konkurrenten um die Macht jegliche Moral ab, um ihre eigene Selbstachtung aufrechtzuerhalten und das aristokratische Selbstbild zu bestätigen, das besagte, daß einzig und allein die Senatoren zur Ausübung von Herrschaft berechtigt seien. Und doch: Die Imago des hochmütigen und lasterhaften libertus Caesaris nutzte den Senatoren überhaupt nichts, waren sie doch gezwungen, vor allem in der domus principis mit den Freigelassenen bei den morgendlichen salutationes zu verkehren. Die realen Verhältnisse ließen sich nicht mehr wegpolemisieren, wenn die Mitglieder der aristokratischen Gemeinschaft auf die Hilfe des kaiserlichen Dienstpersonals angewiesen waren. Die Gewährung von Bittgesuchen, ja sogar die Audienzen beim Kaiser waren in vielen Fällen nur durch die Fürsprache eines libertus Caesaris möglich. Die Senatoren mußten sich mit den kaiserlichen Freigelassenen arrangieren, wollten sie nicht womöglich das eigene Prestige im Verkehr mit ihnen aufs Spiel setzen. Das aber gestaltete sich wesentlich schwieriger, als es auf den ersten .IlJic:-k den. Ans(;h_ein. haQejl_ ~ochte~p-'y'!!JLqtp §.()!~~hJl