Monika Niebuhr Konflikte im Betrieb
VS RESEARCH Schriftenreihe TELLL Herausgegeben von Christiane Hof, Universität Fl...
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Monika Niebuhr Konflikte im Betrieb
VS RESEARCH Schriftenreihe TELLL Herausgegeben von Christiane Hof, Universität Flensburg Jochen Kade, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main Harm Kuper, Freie Universität Berlin Sigrid Nolda, Technische Universität Dortmund Burkhard Schäffer, Universität der Bundeswehr München Wolfgang Seitter, Philipps-Universität Marburg
Mit der Reihe verfolgen die Herausgeber das Ziel, theoretisch und empirisch gehaltvolle Beiträge zum Politik-, Praxis- und Forschungsfeld Lebenslanges Lernen zu veröffentlichen. Dabei liegt der Reihe ein umfassendes Verständnis des Lebenslangen Lernens zugrunde, das gleichermaßen die System- und Organisationsebene, die Ebene der Profession sowie die Interaktions- und Biographieebene berücksichtigt. Sie fokussiert damit Dimensionen auf unterschiedlichen Aggregationsniveaus und in ihren wechselseitigen Beziehungen zueinander. Schwerpunktmäßig wird die Reihe ein Publikationsforum für NachwuchswissenschaftlerInnen mit innovativen Themen und Forschungsansätzen bieten. Gleichzeitig ist sie offen für Monographien, Sammel- und Tagungsbände von WissenschaftlerInnen, die sich im Forschungsfeld des Lebenslangen Lernens bewegen. Zielgruppe der Reihe sind Studierende, WissenschaftlerInnen und Professionelle im Feld des Lebenslangen Lernens.
www.TELLL.de
Monika Niebuhr
Konflikte im Betrieb Eine erziehungswissenschaftliche Studie zur Perspektive der Beteiligten
Mit einem Geleitwort von Burkhard Schäffer
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main, 2010, u.d.T. Monika Niebuhr: Konflikte im Betrieb – ein erziehungswissenschaftlicher Zugang aus der Perspektive von Konfliktbetroffenen und Intervenierenden D 30
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Verena Metzger / Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17800-4
Geleitwort
Die von Monika Niebuhr vorgelegte Arbeit behandelt mit „Konflikten im Betrieb“ ein Gebiet, das bislang eher in der (pädagogischen) Psychologie, der Betriebswissenschaft oder der Organisationssoziologie angesiedelt war und weniger in der Erziehungswissenschaft bzw. der Erwachsenenbildungswissenschaft behandelt wurde. Den im Untertitel versprochenen „erziehungswissenschaftlichen Zugang eröffnet sich Niebuhr durch einen Bezug auf die bildungswissenschaftlichen Fundamentalkategorien des Lehrens und Lernens oder in den Worten der Autorin: Es geht um die Frage, „wie Intervenierende und Konfliktbetroffene sich auf Lernen und Lehren als Möglichkeiten des Umgangs mit Konflikten beziehen“. Hierbei macht sie gleich zu Beginn klar – und darin liegt m.E. die große Stärke dieser Arbeit – dass Konflikte in Betrieben von „Vielschichtigkeit, fehlende(r) Eindeutigkeit und Variantenreichtum“ gekennzeichnet sind und nicht, wie von programmatischer und am common sense orientierter Ratgeberliteratur behauptet, mittels einfacher Interventionen „gelöst“ werden können. Im theoretischen Teil der Arbeit setzt sich die Autorin zunächst mit dem Konfliktbegriff auseinander, favorisiert hierbei einen Luhmannschen Konfliktbegriff (Konflikt als „kommuniziertes Nein“) einerseits und folgt andererseits aber auch einem handlungstheoretischen Modell der Eskalationslogik von Konflikten sensu Glasl. Den erziehungswissenschaftlichen Anschluss erreicht sie durch einen Bezug auf die These der „Entgrenzung des Pädagogischen“. So werde in Betrieben bei Konflikten von den Konfliktbeteiligten in unterschiedlicher Weise auf Lehren und Lernen Bezug genommen bzw. Lehr- und Lernprozesse angestoßen, weshalb die Arbeit exemplarisch für die Vielschichtigkeit und auch Widersprüchlichkeit „lebenslangen Lernens“ auch in außerbetrieblichen Kontexten zu verorten sei. Letztendlich thematisiert Niebuhr Konflikte und den betrieblichen Umgang mit ihnen als eine hybride Quasi-Institutionalisierungsform von betrieblichem Lernen und Lehren. Empirisch ist die Autorin zunächst an den subjektiven Konflikterfahrungen unterschiedlicher Stakeholder („Intervenierende“ und „Konfliktbetroffene“) in den Betrieben interessiert, was zwingend ein qualitatives Untersuchungssetting erfordert: Individuelle Konflikterfahrungen lassen sich nur über die Rekonstruktion biographischer und auf die aktuelle Lebenssituation bezogener Hintergründe erschließen. Hierauf aufbauend ist Niebuhr gleichwohl an einer überindividuel-
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Geleitwort
len Verortung der Ergebnisse interessiert und zielt in ihren vielschichtigen Analysen letztlich auf eine typologische Verortung in „Konflikt-, Lehr und Lerntypen“. Einen hohen Mehrwert erfährt diese sehr differenziert durchgeführte und gut nachvollziehbare typologische Verortung dadurch, dass die Autorin im Anschluss an die fundierte Analyse Zusammenhänge zwischen diesen drei Typologien aufzeigt sowie deren Bedeutung für Intervenierende und Beteiligte diskutiert. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse geht Niebuhr in einem gesonderten Teil dann auf die besonderen Konflikte von Betriebsräten ein und widmet sich abschließend dem „Mobbing“, einer aus ihrer Sicht gesteigerten Form von Konflikten. Die Arbeit hat das Verdienst, die betriebliche Konfliktthematik in einer theoretisch und empirisch anspruchsvollen Weise in die Erziehungswissenschaft bzw. die Wissenschaft von der Erwachsenenbildung eingeführt zu haben. Vor dem Hintergrund der zeitdiagnostisch gerahmten These von der Entgrenzung des Pädagogischen gelingt es der Autorin, durch die systematische Koppelung der Konfliktthematik mit der des Lehrens und Lernens Zusammenhänge sichtbar zu machen, die bisher im Kontext der Bearbeitung von Konflikten im Betrieb eher im Impliziten verblieben sind. Ich wünsche dem Werk einen breiten Kreis von interessierten Leserinnen und Lesern zu dem – im besten Falle und im eigenen Interesse – nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern auch von betrieblichen Konflikten Betroffene bzw. in diese Intervenierende gehören sollten. Burkhard Schäffer
Dank
Um ein solches Forschungsprojekt erfolgreich durchführen zu können, braucht es Unterstützung von vielen Seiten. All denjenigen, die mir im Laufe der Arbeit in unterschiedlicher Weise geholfen haben, sei es durch konkrete Anregungen, Ideen und Ratschläge, sei es durch moralische Unterstützung, Interesse an mir und meinem Projekt, möchte ich an dieser Stelle aufs Herzlichste danken. Prof. Dr. Jochen Kade danke ich für die beste Betreuung, die es für mich geben konnte. Er hatte stets ein offenes Ohr und fand immer die richtigen Worte, auch wenn der Forschungsprozess in schwierige Phasen geriet. Ein weiterer Dank gilt den Teilnehmern der Interpretationswerkstatt für viele wertvolle Impulse. Jeder Termin in der Interpretationswerkstatt hat mich im Forschungsinteresse beflügelt und im Forschungsprozess weitergebracht. Auch den einundzwanzig Interviewpartnern möchte ich danken. Sie haben mir von ganz persönlichen, manchmal schmerzhaften Ereignissen – ihren beruflichen und privaten Konflikten und Katastrophen – berichtet. Dem Bildungszentrum Oberjosbach – meinem Chef und meinen Kolleginnen und Kollegen – möchte ich dafür danken, dass sie mich immer wieder motivierten und ich, besonders zum Ende der Arbeit, die erforderlichen Freiräume hatte, um meine Dissertation erfolgreich abschließen zu können. Meinem Ehemann und meinen beiden Kindern habe ich in den letzten Jahren manchmal einiges zugemutet. Die Arbeit an der Dissertation hat viel Raum in unserem Leben eingenommen. Meiner Familie möchte ich danken, dass sie zu mir gehalten hat, dass sie mich unterstützt hat und dass sie mir immer wieder gezeigt hat, dass es auch eine Welt jenseits von Berufstätigkeit und Dissertation gibt. Ein letzter und ganz besonderer Dank gilt meiner Oma Rosa Pfister, die im März 2010 im Alter von fast 95 Jahren gestorben ist. Ich kannte sie immer als eine zielstrebige und selbstbestimmte Frau. Sie hat sich all die Jahre immer wieder nach dem aktuellen Stand meiner Arbeit erkundigt, und sie hat ihr Versprechen gehalten, erst zu sterben, wenn meine Arbeit erfolgreich abgeschlossen ist. Monika Niebuhr
Inhaltsverzeichnis
Erster Teil: Theoretische Grundlagen, Forschungsgegenstand, Fragestellung und Methode…………………………………………….1 1
Einleitung...................................................................................................... 19
2
Konflikte im Betrieb ..................................................................................... 23 2.1 2.2 2.3 2.4
Arbeitsplatzkonflikte als Forschungsgegenstand ................................ 23 Konflikt als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung ............ 29 Konflikte als kommuniziertes ‘Nein! ’ ............................................... 34 Konflikteskalation aus Sicht Betroffener und Intervenierender.......... 38
3 Erwachsenenbildung - Entgrenzung des Pädagogischen – Lebenslanges Lernen .................................................................................... 45 3.1
3.2 3.3 3.4
Entgrenzungsthese als Ausgangspunkt für die Betrachtung von betrieblichen Konflikten aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive......................................................................................... 45 Erwachsenenbildung zwischen Selbststeuerung und Beeinflussung .. 47 Betriebliches Handeln zwischen Arbeiten, Lernen und Konflikten.... 53 Betriebliche Konflikte als Institutionalisierung von Lernen und Lehren im Kontext des lebenslangen Lernens ................................... 57
4
Entwicklung der Fragestellung ..................................................................... 63
5
Methode und Forschungsprozess.................................................................. 67 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6
Theoretische Annahmen und Konzepte .............................................. 67 Auswahl der Befragten ....................................................................... 68 Erhebung der Daten durch Interviews ................................................ 72 Kriteriengesteuerte Fallauswahl. Sequenzielle Feinanalyse ............... 74 Erste grobe Datenauswertung ............................................................. 75 Herstellen einer Ordnung durch Einbeziehen des gesamten Datenmaterials ................................................................................... 77
10
Inhaltsverzeichnis
5.7
Von der Einzelfallanalyse zur Bildung von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen........................................................................................... 78
Zweiter Teil: Konflikte aus der Perspektive von Betroffenen und Intervenierenden.......................................................................... 81 1
Direkt von Konflikten Betroffene................................................................. 83 1.1
1.2
Eine in Dauerkonflikten steckende Mitarbeiterin und beschuldigte Mobberin............................................................................................ 83 1.1.1 Isolde, ein Leben in Konflikten: Interpretation der Eingangssequenz................................................................... 83 1.1.2 Betriebliche Konflikte als tägliche Lernanlässe.................... 99 1.1.2.1 Zentraler Konflikt: Anpassung an die Gruppenarbeitsbedingungen ................................. 100 1.1.2.2 Arbeitsalltag zwischen Führungsaufgaben und Fließbandarbeit...................................................... 117 1.1.2.3 Konfliktvermeidung statt Konfliktbewältigung .... 118 1.1.2.4 Konflikte beim Einstieg ins Berufsleben............... 119 1.1.2.5 Zusammenfassung................................................. 120 1.1.3 Isoldes berufliche Stagnation in einer betrieblichen Atmosphäre von Erziehung Kontrolle und Konflikt ........... 122 1.1.3.1 Betrieb als ausgeklügeltes System von Erziehung und Kontrolle ........................................................ 122 1.1.3.2 Berufsverständnis zwischen Leistung und Konflikt ................................................................. 124 1.1.3.3 Zusammenfassung................................................. 126 1.1.4 Biographie und Lebenswelt als Deutungsgrundlagen ......... 126 1.1.4.1 Biographische Kontinuität durch Konflikte .......... 127 1.1.4.2 Lebenswelt zwischen Tradition und Aufbruch...... 128 1.1.4.3 Zusammenfassung................................................. 129 1.1.5 Zusammenfassung der gesamten Interpretation .................. 130 Eine von einem einzigen Konflikt betroffene Führungskraft............ 135 1.2.1 Rolfs einmalige Konflikterfahrungen: Interpretation der Eingangssequenz................................................................. 135 1.2.2 Betriebliche Konflikte als wirtschaftliche Unvernunftshandlung und individuelle Wachstumschance 147 1.2.2.1 Konflikte als persönlichkeitsförderndes Überlebenstraining ................................................ 147
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1.2.2.2 Wirtschaftliche Fehlentwicklungen durch Veränderungsverweigerer – Konflikte zwischen Bewahrern und Erneuerern ................................... 149 1.2.3 Bedeutungswandel des Betriebs innerhalb der Berufsbiographie................................................................. 150 1.2.4 Private Beziehungen als Gegenwelt zum konfliktträchtigen Job ......................................................... 152 1.2.5 Zusammenfassung der gesamten Interpretation .................. 155 2 In Konflikten Intervenierende..................................................................... 157 2.1
2.2
Eine in Konflikten intervenierende Mitarbeiterin und betriebliche Pädagogin ........................................................................................ 157 2.1.1 Cora, eine in Konflikten kompetente Person: Interpretation der Eingangssequenz .................................... 157 2.1.2 Betriebliche Konflikte als Kompetenzdemonstration, akzeptierte Lernzumutung und Mittel zur Abgrenzung ...... 165 2.1.2.1 Markante Konflikte als Kompetenzdemonstration 165 2.1.2.2 Weniger markante Konflikte als akzeptierte Lernzumutung ....................................................... 175 2.1.2.3 Konfliktpflege als Mittel der Abgrenzung und der Mobbingprävention......................................... 177 2.1.2.4 Zusammenfassung................................................. 178 2.1.3 Betrieb als berufliches Wirkungs- und Entwicklungsfeld... 184 2.1.3.1 Bedeutung des Betriebs für Biographie und Lebenswelt ............................................................ 184 2.1.3.2 Berufliche Orientierung zwischen Chemielaborantentätigkeit, innerbetrieblicher Vermittlerrolle und den Aufgaben einer Betriebsrätin .......................................................... 187 2.1.4 Moralische Lebensgestaltung als Deutungsgrundlage für betriebliche Konflikte ......................................................... 189 2.1.4.1 Biographische Einordnung: Kontinuität und Brüche ................................................................... 189 2.1.4.2 Moralische Einordnung: Kollektive Unmoral contra individuelle Moral...................................... 190 2.1.4.3 Zusammenfassung................................................. 194 2.1.5 Zusammenfassung der gesamten Interpretation .................. 195 Ein unerfahrener Vorgesetzter – der über Beobachtung und Konflikte seines Beruf als Führungskraft erlernt ............................. 199 2.2.1 Rico – Mobbing als Dilemma für Vorgesetzte: Interpretation der Eingangssequenz .................................... 199
12
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2.2.2 Betriebliche Konflikte als notwendige Lernherausforderung für den jungen Vorgesetzten............. 211 2.2.2.1 Mobbingereignis: der unlösbare Konflikt und die eingeschränkte Handlungsfähigkeit eines Vorgesetzten.......................................................... 211 2.2.2.2 Doppelkonflikt: Wie Konflikte sich gegenseitig ‘kontrollieren’ ....................................................... 214 2.2.2.3 Kleinkonflikte als Führungsinstrument eines Vorgesetzten in der Produktion............................. 217 2.2.2.4 Zusammenfassung................................................. 220 2.2.3 Innerbetriebliche Karriere – vom Hilfsarbeiter zum Chef .. 221 2.2.3.1 Keine Konflikte in der Ausbildung – trotz cholerischem Meister ............................................ 221 2.2.3.2 Einführung der Gruppenarbeit als Karrierechance für den engagierten jungen Mann.......................... 222 2.2.3.3 Experte im Aufstellen und der Inbetriebnahme von Maschinen im In- und Ausland ...................... 222 2.2.3.4 Vorgesetztenposition als eine besondere Herausforderung.................................................... 223 2.2.4 Partnerschaft und Ehe als Unterstützung und/ oder als Hindernis beim beruflichen Aufstieg .................................. 224 2.2.4.1 Ehe und Familie als Lernbarriere und Karrierebremse – der Ehekonflikt als ein Ringen um berufliche Lernchancen......................................... 224 2.2.4.2 Freiheit und Ungebundenheit als Voraussetzung für lebensbegleitendes, berufliches Lernen ........... 225 2.2.5 Zusammenfassung der gesamten Interpretation .................. 226 3 Erste Muster: Konflikt-, Lehr- und Lerntypen der vier Eckfälle ................ 229 4 Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews................ 237 4.1
4.2
Interviews, die sich um einen einzigen Arbeitsplatzkonflikt drehen 237 4.1.1 Christine K. – kein Interesse mehr am Lernen und Lehren. 237 4.1.2 Max H. – ein außerbetrieblicher, charismatischer Lehrer .. 238 4.1.3 Beate B. – ein Opfer elterlicher und betrieblicher Erziehung ............................................................................ 240 4.1.4 Josef J. – Vorbild für den erfolgreichen Umgang mit Konflikten ........................................................................... 242 4.1.5 Zusammenfassende Beschreibung der Interviews .............. 244 Interviews bei denen es um begrenzte Arbeitplatzkonflikte geht ..... 245
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4.3
5
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4.2.1 Dr. Dorit D. – Lernen als bedeutsames Moment ihrer Biographie........................................................................... 245 4.2.2 Bärbel K. – Konfliktkompetenz als arbeitsbezogenes Fachwissen.......................................................................... 248 4.2.3 Anita G. – zwischen Betriebsrat und Management............. 250 4.2.4 Jens F. – Einsatz für die Schwachen als Lebensaufgabe..... 252 4.2.5 Nils G. – als Betriebsratsvorsitzender in einer unternehmenspolitisch schwierigen Zeit............................. 254 4.2.6 Elena S. – Kämpferin für Mitarbeiterinteressen und Gerechtigkeit....................................................................... 256 4.2.7 Carmen S. – Professionalisierung in der Betriebsratsarbeit durch Konflikte ......................................................... 258 4.2.8 Olga G. – Insolvenzerfahrung als Betriebsrätin .................. 260 4.2.9 Zusammenfassende Beschreibung ...................................... 261 Interviews über unbegrenzte Konflikte............................................. 262 4.3.1 Kassandra W. – Konflikte mit Männern im privaten und betrieblichen Bereich .......................................................... 263 4.3.2 Rita N. – Konflikte auf dem Weg von der Auszubildenden zur akzeptierten Kollegin .................................................... 265 4.3.3 Anna A. – einmal Opfer immer Opfer ................................ 267 4.3.4 Dr. Paul S. –Identitätsfindung als Chemiker und als Betriebsrat........................................................................... 268 4.3.5 Ilse M. – Konfliktvorbeugung durch Teamlernen............... 270 4.3.6 Zusammenfassende Beschreibung ...................................... 272
Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen ................... 273 5.1
5.2
5.3
Konflikttypen .................................................................................... 273 5.1.1 Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis ................ 278 5.1.2 Konflikte als Ergebnis einer Rolle ...................................... 279 5.1.3 Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung ..... 280 Lerntypen.......................................................................................... 281 5.2.1 Pragmatisches Nicht-Lernen ............................................... 282 5.2.2 Seminar-Lernen................................................................... 283 5.2.3 Habitualisiertes Lernen ....................................................... 285 5.2.4 Genutzte Lernchancen......................................................... 287 5.2.5 Unerfüllte Lernerwartungen................................................ 289 5.2.6 Punktuelle Akzeptanz von Lernzumutungen ...................... 290 Lehrtypen.......................................................................................... 292 5.3.1 Problembestimmtes Lehren................................................. 294
14
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5.4
5.5
5.3.2 Zufälliges Lehren ................................................................ 295 5.3.3 Generalisiertes Lehren ........................................................ 297 5.3.4 Selbsternannter Pädagoge ................................................... 299 5.3.5 Erwartungsfreies Nicht-Lehren........................................... 301 5.3.6 Alternative zum Lehren ...................................................... 301 Zusammenhänge zwischen Konflikt-, Lehr- und Lerntypen............. 303 5.4.1 Konflikte und Lernen ........................................................ 303 5.4.2 Konflikte und Lehren ........................................................ 306 5.4.3 Lernen und Lehren.............................................................. 309 5.4.4 Konflikt-, Lern- und Lehrtypen........................................... 312 Die Bedeutung von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen für Intervenierende und Betroffene ....................................................... 315
Dritter Teil: 1
Orientierungen beim Umgang mit Konflikten ............................................ 321 1.1 1.2 1.3
2
Politische Orientierung ..................................................................... 322 Orientierung an anderen Mitarbeitern/ Kollegen .............................. 324 Orientierung an sich Selbst ............................................................... 325
Wie Betriebsräte aus ihren Konflikten lernen............................................. 329 2.1 2.2 2.3
3
Die Betriebsräte und ihre besonderen Konflikte ....................... 319
Bildung durch Konflikte ................................................................... 329 Dazulernen durch Konflikte.............................................................. 333 Nicht-Lernen trotz Konflikte .......................................................... 335
Wie Betriebsräte im Zusammenhang mit Konflikten lehren ...................... 337 3.1 3.2 3.3 3.4
Vermitteln von lebensbedeutsamen Wissen...................................... 337 Vermitteln von berufsbezogenen sozialen Kompetenzen ................. 340 Lehren als Mittel der Abgrenzung und der Verteidigung ................. 343 Betriebsräte zwischen Bildung, Lernen und Nicht-Lernen ............... 344
Vierter Teil:
Mobbing eine gesteigerte Form von Konflikt........................ 347
1 Mobbing als Institutionalisierung von Betroffenheit .................................. 349 2 Die Bedeutung von Lernen und Lehren bei Mobbingkonflikten ................ 353 Fünfter Teil: Zusammenfassung und Ausblick .............................................. 357 Literatur ............................................................................................................ 367
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20: Abbildung 21: Abbildung 22: Abbildung 23: Abbildung 24: Abbildung 25: Abbildung 26: Abbildung 27: Abbildung 28: Abbildung 29: Abbildung 30: Abbildung 31:
Methoden der Konfliktbehandlung ....................................... 43 Zusammenfassung Fallportrait Isolde S.............................. 134 Zusammenfassung Fallportrait Rolf R. ............................... 156 Zusammenfassung Fallportrait Cora G. .............................. 198 Zusammenfassung Fallportrait Rico K. .............................. 227 Erste empirische Muster...................................................... 235 Zusammenfassung Fallportrait Christine K. ....................... 238 Zusammenfassung Fallportrait Max H................................ 239 Zusammenfassung Fallportrait Beate B. ............................. 241 Zusammenfassung Fallportrait Josef J. ............................... 243 Zusammenfassung Fallportrait Dr. Dorit D. ....................... 247 Zusammenfassung Fallportrait Bärbel K. ........................... 249 Zusammenfassung Fallportrait Anita G. ............................. 251 Zusammenfassung Fallportrait Jens F................................. 253 Zusammenfassung Fallportrait Nils G. ............................... 255 Zusammenfassung Fallportrait Elena S............................... 257 Zusammenfassung Fallportrait Carmen S. .......................... 259 Zusammenfassung Fallportrait Olga G. .............................. 260 Zusammenfassung Fallportrait Kassandra W. .................... 264 Zusammenfassung Fallportrait Rita N. ............................... 266 Zusammenfassung Fallportrait Anna A. ............................. 267 Zusammenfassung Fallportrait Dr. Paul S. ......................... 269 Zusammenfassung Fallportrait Ilse M. ............................... 271 Dimensionalisierung Ausmaß der Arbeitsplatzkonflikte und Ausmaß der Umfeldkonflikte....................................... 275 Dimensionalisierung Konfliktdeutung und Umgangsstrategien.............................................................. 276 Konstruktion der drei Konflikttypen................................... 278 Überblick über die drei Konflikttypen ................................ 280 Konstruktion der sechs konfliktbezogenen Lerntypen........ 282 Überblick über die sechs Lerntypen.................................... 291 Konstruktion der sechs konfliktbezogenen Lehrtypen........ 293 Überblick über die sechs Lehrtypen.................................... 302
16 Abbildung 32: Abbildung 33: Abbildung 34: Abbildung 35: Abbildung 36:
Abbildungsverzeichnis
Zusammenhänge zwischen Konflikten und Lernen ............ 304 Zusammenhänge zwischen Konflikten und Lehren ............ 307 Zusammenhänge zwischen Lernen und Lehren .................. 310 Gesamtüberblick über den Zusammenhang zwischen Konflikt-, Lern- und Lehrtypen........................................... 313 Konflikt-, Lern- und Lehrtypen bei Betroffenen und Intervenierenden ................................................................. 316
1 Einleitung
In der Moderne haben Arbeitsplatzkonflikte an Bedeutung und Umfang zugenommen. In- und Outsourcing, Unternehmensverkäufe und –zukäufe, ständig wechselnde Führungskräfte und Manager aus aller Welt, Umstrukturierungen und Umorganisationen, die Einführung neuer Arbeitsmodelle (wie z.B. die Gruppenarbeit) gehören in manchen Betrieben fast zum Alltag und führen immer wieder zu Unsicherheiten, Uneindeutigkeiten und Aushandlungsprozessen, die auch in Form von Konflikten ausgetragen werden. Die so verstärkt auftretenden Konflikte variieren zwischen täglichen Kleinkonflikten und massiven sozialen Teamkonflikten – und manchmal werden einzelne Personen dabei systematisch ausgegrenzt, benachteiligt, schikaniert und schließlich möglicherweise aus dem Unternehmen gedrängt. Dann sprechen wir von Mobbing. Seit der groß angelegten Mobbingstudie von Meschkutat u. a. (2002) haben wir es alle schriftlich – in allen Branchen, Berufen und Unternehmen kommt es auch zu massiven Konflikten, mehr als eine Million Menschen in Deutschland leidet unter diesen krankmachenden Arbeitsplatzkonflikten. Wenn Konflikte im Arbeitsumfeld zugenommen haben, ist es von allgemeinem Interesse zu erfahren, wie Mitarbeiter und Führungskräfte damit umgehen – wie sie die Konflikte steuern, zur Eskalation und zur Deeskalation/ Befriedung beitragen. Auch in der betrieblichen Praxis und in der pädagogischpsychologischen Ratgeberliteratur hat das Interesse am Thema Konflikte zugenommen. Hier wird in der Regel zwischen Intervenierenden und Betroffenen unterschieden, weil man davon ausgeht, dass hoch eskalierte Konflikte ohne Eingreifen von außen nicht mehr zu steuern bzw. zu befrieden sind. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht interessiert besonders, welche pädagogischen Elemente beim Umgang mit Konflikten genutzt werden – konkreter: wie Intervenierende und Konfliktbetroffene sich auf Lernen und Lehren als Möglichkeiten des Umgangs mit Konflikten beziehen. Der Konflikt ist ein wichtiges Thema in der pädagogischen Praxis. Pädagogisches Handeln findet immer in sozialen Settings statt, die sich dadurch auszeichnen, dass entweder (vermuteter) Konsens oder Konflikt vorherrscht. Von Schule über die Arbeitswelt bis zur Gesellschaft als Ganzes – überall werden somit auch Konflikte beobachtet und Ideen für den kompetenten Umgang mit konflikthaften Situationen entwickelt. Die pädagogische Praxis bietet heute eine M. Niebuhr, Konflikte im Betrieb, DOI 10.1007/978-3-531-92696-4_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
20
Einleitung
Vielzahl von Schulungen, sozialpädagogischen Maßnahmen, Gruppeninterventionen (z.B. Mediation) und auch Einzelbetreuung (z.B. in der Form von Coaching) an. Die öffentliche Diskussion verläuft dabei eher dichotom und normativ gesteuert. ‘Gute’ Konflikte gelten als Vorbilder, wie man in einer modernen Gesellschaft fair streitet und wie man lernt, Grenzen zu setzen. ‘Schlechte’ Konflikte werden als Belege angeführt, wie viel es noch zu lernen gibt und wie nötig dabei weitere pädagogische Unterstützung ist. In den Schulen wird nach mehr Schulpädagogen, in den Betrieben nach mehr Betriebspädagogen und mehr pädagogisch ausgebildeten Führungskräften gerufen. Diese Zuspitzungen verdecken die Vielschichtigkeit, die fehlende Eindeutigkeit und den tatsächlichen Variantenreichtum beim Umgang mit Konflikten. Variantenreichtum und überindividuelle Muster werden nur sichtbar, wenn man einen empirischen Blick auf den sozialen Sachverhalt lenkt. Dieser distanzierte, empirische Blick aus der Perspektive der Erziehungswissenschaften soll bei der im Folgenden vorgestellten Untersuchung eingenommen werden. Die Arbeit grenzt sich damit von den üblichen Mobbing-Studien ab, die sich ebenfalls mit Konflikten am Arbeitsplatz beschäftigen. Erstens, indem sie nicht nur den Fokus auf die Perspektive einer unterlegenen Konfliktpartei (Mobbingbetroffener) legt, sondern unterschiedliche Akteure in Konflikten (Mobber, Mobbingbetroffene, Intervenierende) berücksichtigt. Zweitens, indem sie nicht Mobbingkonflikte voraussetzt, sondern offen für unterschiedliche Nutzungen des Mobbingbegriff bzw. die Abgrenzungen von ihm ist. Und drittens, indem sie nach subjektiven Deutungen der Konflikterfahrungen durch die betrieblichen Akteure fragt. Im Mittelpunkt der Dissertation stehen die Konflikte im Betrieb. In einer qualitativen Studie wird untersucht, welche Bedeutung zwei unterschiedliche Betriebsgruppen (Konfliktbeteiligte und Intervenierende) ihren Konflikterfahrungen vor dem Hintergrund ihrer Biographie und ihrer aktuellen Lebenssituation zumessen und welchen Stellenwert in ihrer individuellen Rekonstruktion Lernen und Lehren einnimmt. Um die individuellen Deutungen von Konflikten und deren Bearbeitung – d.h. die subjektiven Wirklichkeitserfahrungen der Personen herauszuarbeiten, greife ich auf die Methoden der qualitativen Sozialforschung zurück (vgl. Flick 1995). Über thematisch strukturierte, offene Interviews mit Konfliktbeteiligten und Intervenierenden werde diese erfasst. Ziel der anschließenden Interpretationen und Kontrastierungen ist es, aus dem empirischen Material Konflikt-, Lehr- und Lerntypen zu rekonstruieren. Die Untersuchung geht von der These der Entgrenzung des Pädagogischen aus. Das macht die Ergebnisse aus dem betrieblichen Lernen und Lehren im Zusammenhang mit Konflikten auf das Erwachsenenlernen allgemein beziehbar. Unter der Annahme der Entgrenzung sind Konflikte im Betrieb Anlässe für das
Einleitung
21
Lernen und Lehren im Bereich der Erwachsenen und damit Anwendungsfälle für das lebenslange Lernen. Damit kann durch die Beschäftigung mit betrieblichen Konflikten und dem Umgang mit ihnen das Wissen über das lebenslange Lernen erweitert werden. Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile. Der Erste Teil behandelt die theoretischen und methodischen Grundlagen der Arbeit. Zunächst wird das theoretische Verständnis von Konflikten auf der Grundlage von empirischen Studien und theoretischen Überlegungen entwickelt. Anschließend werden Auftreten und Bedeutung von Konflikten im Konzept und in der Praxis des lebenslangen Lernens diskutiert. Ausgegangen von der These der Universalisierung und Entgrenzung des Pädagogischen wird das Thema Konflikte somit aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive diskutierbar. Auf der Grundlage dieser Vorarbeiten wird die erziehungswissenschaftliche Fragestellung entwickelt. Es geht im Kern um die Bedeutung von Konflikten, den Umgang mit ihnen und den Stellenwert, den beim Umgang mit Konflikten Lernen und Lehren einnehmen. Den Abschluss des ersten Teils bildet die methodische Vorgehensweise unter Anlehnung an die Grounded Theory (Glaser/ Strauss 1998). Der zweite, dritte und vierte Teil beschäftigen sich mit der empirischen Ausarbeitung. Im Zweiten Teil, dem empirischen Hauptteil, geht es um Konflikte aus der Perspektive von Intervenierenden und von Von-Konflikten-Betroffenen. Es werden je ein schwerer und ein weniger schwerer Fall aus der Intervenierenden und aus der Betroffenenperspektive sequenzanalytisch bearbeitet. Die ersten Muster aus der Kontrastierung der vier Fälle werden dann durch die Einordnung der weiteren Fälle ausdifferenziert und schließlich zu Konflikt-, Lern- und Lehrtypen verdichtet. Im Dritten Teil wird der Fokus auf eine spezielle Gruppe im Betrieb gerichtet – die Betriebsräte. Bei dieser Weiterführung der Analysen handelt es sich um eine lehr-lernbezogene Spezifizierung von Konflikterfahrungen durch eine Mitarbeitergruppe im Betrieb, die es von ihrem Tätigkeitsprofil her in besonderer Weise mit Konflikten zu tun hat. Im Vierten Teil werden die bisherigen Analysen schließlich durch eine lehr-lernbezogene Spezifizierung von Mobbing als einer gesteigerten Form von Konflikten abgerundet. Im Fünften Teil werden die wichtigsten Ergebnisse noch einmal zusammengefasst und diskutiert.
Erster Teil Theoretische Grundlagen, Forschungsgegenstand, Fragestellung und Methode
2 Konflikte im Betrieb
2.1 Arbeitsplatzkonflikte als Forschungsgegenstand Mit der Erforschung von klassischen Arbeitsplatzkonflikten beschäftigen sich seit Jahrzehnten Psychologen, Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler. Sie stellen dabei jeweils spezifische Aspekte des Themas in den Mittelpunkt, nutzen unterschiedliche Konfliktbegriffe und greifen auf verschiedene Erklärungsansätze zurück (vgl. Regnet 2001, Thiel 2003, Bonacker 2008a). In den letzten Jahren wird verstärkt für spezielle, lang anhaltende und besonders belastende Konflikte zwischen Einzelpersonen und deren Kollegen und/ oder Vorgesetzten der Begriff Mobbing benutzt. Mobbing hat weit reichende Folgen für den Gemobbten – er oder sie wird häufig, manchmal bis zur endgültigen Arbeitsunfähigkeit, krank. Eine spezielle Mobbingforschung gibt es erst seit wenigen Jahren, die ersten Untersuchungen gehen auf Leymann (1986, 1993, 1996) zurück. Mittlerweile gibt es aus einigen europäischen Ländern repräsentative Studien über Verbreitung, Erscheinungsform und Folgen/ Auswirkungen von Mobbing (z. B. seco 2002, Meschkutat u.a. 2002, Hogh / Dofradottir 2001, Hoel et al. 2001). Auch Staat und Politik interessieren sich immer mehr für das Thema. In der Schweiz wurde die große Mobbingstudie (3320 Befragungen) vom Staatssekretariat für Wirtschaft (vgl. seco 2002), in Deutschland (4396 Interviews) von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (vgl. Meschkutat u.a. 2002) in Auftrag gegeben. In den letzten Jahren hat ein anderer gesellschaftlicher Bereich in der Mobbingdiskussion stark an Bedeutung gewonnen – die Schulen. Auch hier wird eine Zunahme der selbstwertverletzenden, systematischen Handlungen zwischen Schülern behauptet. Aber auch aus Altenheimen, Gefängnissen und Vereinen (von überall dort, wo es Zwangsgemeinschaften gibt) wird von Mobbingvorfällen berichtet. In der aktuellen Diskussion und Forschung werden Mobbing und Konflikte meist als zwei qualitativ unterschiedliche Phänomene dargestellt. Wie ist aber die Abgrenzung vom Konflikt zum Mobbing? Ab wann kann man von einem Mobbingfall sprechen? Zunächst gibt es unterschiedliche Mobbingdefinitionen
M. Niebuhr, Konflikte im Betrieb, DOI 10.1007/978-3-531-92696-4_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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und unterschiedliche Auslegungen der gleichen Definitionen1. Außerdem gibt es verschiedene Methoden, Mobbing zu messen – also quantitativ zu erfassen. Abhängig von der Untersuchungsmethode erhält man Ergebnisse über die Ausbreitung von Mobbing, die zwischen drei und fünfzehn Prozent liegen (vgl. Zapf/ Einarsen 2003). Bei jedem Messverfahren gibt es ‘echte’ Mobbingfälle, die man nicht erkennen kann und es gibt auch vermeintliche Mobbingfälle, die einer anderen Definition nicht standhalten würden (vgl. auch seco 2002). Hier werden die Schwierigkeiten und das ‘Fehlerrisiko’ bei der üblichen quantitativen Vorgehensweise diskutiert. Man geht davon aus, dass ein Ereignis, das der Überprüfung als Mobbingfall nicht standhält, dann eben als Konflikt einzuordnen ist. In der Pilotstudie zu diesem Forschungsprojekt (Niebuhr 2002) habe ich, auf der Grundlage eines qualitativen Zugangs gezeigt, dass mit der Bezeichnung Mobbing ein Konflikt durch das Opfer selbst oder sein Umfeld eingeordnet und bewertet wird. So gibt es nach Augenschein echte Mobbingopfer, die die Definition für sich ablehnen – und es gibt minderschwere Fälle, die viel Wert auf die Einordnung ihres Falls als Mobbing legen. Es gibt bei der Bezeichnung eines Konflikts als Mobbing ein unterlegenes, sich unschuldig fühlendes Opfer, das einen oder mehrere (beschuldigte) Täter benennt2. Es gibt Hinweise darauf, dass es sich bei der Einordnung eines Konflikts als Mobbing oder alternativ als Konflikt um eine folgenschwere soziale Konstruktion handelt, mit Auswirkungen auf die Art des Umgangs mit dem Vorfall und die Bedeutung von Lernen im Rahmen der Konfliktbearbeitung.
Was zeigen Studien über die Praktiken des Umgangs mit Konflikten? Es gibt eine Vielzahl von Untersuchungen zu bevorzugten Konfliktstilen in der Unternehmensrealität (Berkel 1980; Grüne 2001, Martin/ Bergmann 1996, Ren1
Nach Zapf (1999) liegt Mobbing vor, wenn jemand am Arbeitsplatz häufig und wiederholt (z.B. mindestens einmal die Woche) und über einen längeren Zeitraum (z.B. mindestens ein halbes Jahr) von Kollegen, Vorgesetzten oder Untergebenen schikaniert, belästigt, drangsaliert, beleidigt, ausgegrenzt oder beispielsweise mit kränkenden Arbeitsaufgaben bedacht wird und der oder die Mobbingbetroffene unterlegen ist. - Das Landesarbeitsgericht Thüringen hat in einer Entscheidung vom 10.04.2001 Mobbing definiert als „fortgesetzte, aufeinander aufbauende oder ineinander übergreifende, der Anfeindung, Schikane oder Diskriminierung dienende Verhaltensweise, die nach ihrer Art und ihrem Ablauf im Regelfall einer übergeordneten, von der Rechtsordnung nicht gedeckten Zielsetzung förderlich sind und jedenfalls in ihrer Gesamtheit das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder andere ebenso geschützte Rechte, wie die Ehre oder die Gesundheit des Betroffenen verletzen.“ 2 Von Tätern wird auch deshalb gesprochen, weil, lassen sich die Mobbinghandlungen nachweisen, sich diese Person(en) strafbar gemacht haben. „Während bei Mobbing häufig vom Mobber und Mobbingopfer gesprochen wird, unterscheidet man bei Konflikten lediglich zwischen den Konfliktparteien.“ (Niebuhr 2002, S. 8)
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wick 1975). Den Studien liegt in der Regel ein theoretisches Modell möglicher Handlungsstrategien zugrunde. Z.B. unterscheidet Berkel (1995) fünf verschiedene Konflikthandhabungsstile: Nachgeben, Flucht, Kompromiss, Machtstrategie und gemeinsames Problemlösen. Blake, Shepard & Mouton (1964) dagegen benennen in ihrem Modell situativer Konflikthandlungen neun Strategien: Gewinn-Verlust-Machtkampf, Dritt-Parteien-Urteil, Zufallsurteil, Rückzug, Isolation, Indifferenz/ Ignoranz, Problemlösen, Teilen des Streitwerts und friedliche Koexistenz. Die Untersuchungen beschäftigen sich damit, welches Verhalten unter welchen Bedingungen (Hierarchie, Thema, Ursachen, Wichtigkeit, subjektive Lösbarkeit) im Zusammenhang mit betrieblichen Konflikten gezeigt wird, welche typischen Verhaltensmuster vorkommen und wie unterschiedliche Betriebsgruppen (Vorgesetzte, Mitarbeiter ohne Weisungsfunktion, Auszubildende) Verhalten wahrnehmen und einschätzen. Nach Martin & Bergmann (1996) ist das Ansprechen der Probleme (Verbalisierung) die am häufigsten genutzte Konfliktstrategie. Ihr folgen häufig ein Gefühl der Hilflosigkeit und der anschließende erneute Versuch, das Problem im Gespräch zu klären. Thomas & Pondy (1977) verglichen die Einschätzung von konkretem Führungsverhalten durch die Führungskräfte mit der Beurteilung desselben Verhaltens durch die Mitarbeiter und stellten dabei starke Diskrepanzen fest. Während die Führungskräfte sich selbst in der Regel als kooperativ beschrieben, nahmen ihre Mitarbeiter verstärkt Konkurrenz- und Fluchtstrategien in Konfliktsituationen wahr. Mehrere Untersuchungen weisen darauf hin, dass Konflikte in den Betrieben und Organisationen eher geleugnet, bagatellisiert, unterdrückt und negativ bewertet werden (vgl. auch Hartmann u a. 1973; Bock-Rosenthal 1974; Gebert/ v. Rosenstiel 1981; Regent 2001). In den Befragungen zu den Mobbingstudien wurden Mobbingbetroffene, mit Hilfe von vorher festgelegten Items, nach bestimmten Bewältigungsformen und -strategien gefragt. Meschkutat u.a. (2002) fanden bestätigt, dass sich Mobbingbetroffene gegen die mobbenden Personen aktiv wehren und, dass sie innerbetriebliche Unterstützung suchen. Auch außerbetriebliche Ansprechpartner, eine rückblickende Bewertung der Vorfälle und individuelle/ persönliche Bewältigungsformen sind für die Mobbingbetroffenen von Bedeutung (vgl. auch Zapf/ Knorz 1996). In der Pilotstudie (Niebuhr 2002) konnte ich zeigen, dass das Darüber-Reden die wichtigste, kurzfristige Strategie im Umgang mit Konflikten ist. Konfliktbetroffene erwarten von ihren Kollegen, Vorgesetzten und Betriebsräten nicht unbedingt, dass die gleich handeln, sondern, dass sie ihnen zunächst zuhören und damit zeigen, dass sie sie und ihre Probleme ernst nehmen. Ich konnte auch zeigen, dass Konfliktbetroffene ganz im Sinn der Entgrenzung des Pädagogischen vielfältige pädagogische Angebote nutzen – einmal um zu lernen, aber auch aus ganz anderen Gründen. Groß (2004) hat in ihrer Tagebuchstudie Ver-
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gleiche zwischen Mobbingbetroffenen und Konfliktbetroffenen vorgenommen. Mobbingbetroffene erleben nach ihren Erkenntnissen sowohl am Arbeitsplatz als auch im Privatleben häufiger und intensiver soziale Konflikte. Sie setzten auch bevorzugt andere Bewältigungsstrategien – weniger aktive Problemlösestrategien und mehr Vermeidungsverhalten – ein als Nicht-Mobbingbetroffene. In den meisten (quantitativ ausgerichteten) Studien interessieren sich die Forscher zwar für die objektiven Begebenheiten, erheben aber (besonders in den großen Mobbingstudien) durch ihre Befragungen (der Opfer) möglicherweise nicht immer die geeigneten Daten. Statt objektiver Daten erfassen sie möglicherweise oft eher perspektivabhängige Wahrheiten und subjektive Wirklichkeitskonstruktionen (vgl. Gockel 2004). Mobbingstudien zur Praxis des Intervenierens gibt es nicht. In der klassischen Konflikt- und Mobbingforschung werden Konflikte außerdem eher als abgeschlossene Ereignisse, denn als lebensgeschichtlich bedeutsame Schlüsselsituationen betrachtet3. Doch sind lang anhaltende, belastende Konflikte für die Betroffenen oft bedeutsame Punkte in ihrer Biographie. Leute kündigen nach Mobbingerfahrungen ihren langjährigen Arbeitsplatz, suchen sich einen neuen Job, beginnen mit einem Studium, lassen sich als Betriebsräte wählen oder werden zu langjährigen Mitarbeitern in Selbsthilfegruppen oder Mobbingberatungsstellen (vgl. Niebuhr 2002, Meschkutat u.a. 2002). In der Erziehungswissenschaft richtet sich das Interesse auf den Zusammenhang von Biographien mit Lern- und Bildungsprozessen einerseits und mehr oder weniger fest organisierten, professionell betreuten Vermittlungsprozessen andererseits (vgl. Kade/ Nittel 1997, Kade/ Seitter 1998, Kade/ Nittel/ Seitter 2007).
Was zeigen Studien über die Konsequenzen, die mit den Praktiken des Umgangs mit Konflikten verbunden sind? Klassisch ist dies die Frage nach den Auswirkungen. In der Wissenschaft geht man heute davon aus, dass Konflikte für die Konfliktparteien, je nach Bewertung und Handhabung, negative, positive oder neutrale Folgen haben können. Auf die negativen Auswirkungen wie Kommunikationsprobleme, Abfallen der Leistung und der Zufriedenheit, nervöse Anspannung, körperliche Beschwerden und niedriger Arbeitsmotivation weisen z.B. Grüne (1999), Jehn (1997) und Deutsch (1976) hin. Andere Autoren (z.B. Kirsch 1977) betonen besonders die Chancen, die in Konflikten liegen. Nur durch Konflikte käme es zu Innovation und zu neuen Gemeinsamkeiten. Regnet (2001) nimmt eine Zwischenposition ein, wenn 3 Vgl. Leymann 1993: Mobbing endet für ihn damit, dass das Mobbingopfer erkrankt und seinen Arbeitsplatz verliert.
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sie feststellt, dass Konflikte nur dann leistungsfördernd seien, wenn eine Gewinner-Gewinner-Strategie realisierbar sei, wenn es also keine Verlierer (durch Rückzug/ Nachgeben, Machteinsatz) gebe. Die Auswirkungen von Mobbing dagegen werden in der Literatur durchgängig als ausschließlich negativ und problematisch dargestellt (Krankheit, Arbeitsplatzwechsel, Kündigung, Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit) (vgl. Neuberger 1995, Resch 1994). Sollte ein Konflikt keine negativen Folgen für den Gemobbten haben, handelt es sich per Definition nicht mehr um Mobbing. Im Rahmen der Pilotstudie (Niebuhr 2002) konnte ich zeigen, dass selbst positive (Neben-) Folgen eines Mobbingereignisses nicht gewürdigt werden können, wenn man sich selbst als Mobbingopfer sah bzw. immer noch sieht.4 Ich konnte aber auch zeigen, dass sich Menschen in Konfliktsituationen aktiv und kritisch mit Inhalten, Personen, und Rahmenbedingungen von Bildungsangeboten auseinandersetzen. Sie fühlen sich manchmal bedroht, gehen auf Distanz und wehren sich. Diese schmerzliche Auseinandersetzung mit Konflikten und pädagogischen Maßnahmen kann zur Quelle von Lernen werden, weil sie eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema provoziert. Ich hatte die Frage aufgeworfen, ob diese kritische, ambivalente Haltung gegenüber institutionellen Angeboten eine notwendige Bedingung für Lernen in Krisensituationen sein könnte. Zu den Auswirkungen von Mobbing auf andere Personen als den Mobbingbetroffenen, z.B. auf die Intervenierenden, gibt es keine empirischen Untersuchungen. Mobbingforschung ist bis jetzt eine reine Opferforschung. Einzig die Mobbingbetroffenen werden danach gefragt, wer sie attackiert hat, welche Ursachen sie für die Konflikte vermuten und wer wie im Mobbingkonflikt intervenierte und mit welchem Erfolg. In der Ratgeberliteratur findet man allerdings auch die Feststellung, Mobbing habe Auswirkungen auf Betriebe und Gesellschaft (vgl. Esser und Wolmerath 2008). Seit wenigen Jahren wird auch auf mögliche negative (rechtliche) Konsequenzen für den Mobber, z.B. Versetzung, Abmahnung und Kündigung hingewiesen. Groß (2004) hat in ihrer Studie herausgefunden, dass Mobbingbetroffene am Arbeitsplatz weniger soziale Unterstützung erhalten als Konfliktbetroffene. Zusammen mit den Ergebnissen aus der Pilotstudie lässt sich vermuten, dass man andere Gruppen im Mobbingprozess (Mobber, Chefs, unbeteiligte Kollegen) mit in die empirische Untersuchung einbeziehen muss, will man ein umfassendes Verständnis von Konflikten (mit Konflikten und Mobbing als zwei Erscheinungs- und/ oder Deutungsformen) entwickeln.
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Vgl. den Fall Ann A.: Erst in Folge des Mobbingfalls und der anschließenden Arbeitslosigkeit machte sie in eine Ausbildung, die ihr heute die finanzielle Existenz sichert. Das empfindet sie immer noch nicht als positiven Nebeneffekt.
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Was zeigen Studien über die Voraussetzungen, die die Personen in die Konflikte mit einbringen? Welche Fähigkeiten/ Kompetenzen haben sie (nicht), um in der Konfliktsituation zu agieren? In Bezug auf die Konfliktparteien ist dies die Frage nach den in den Personen begründeten Ursachen für den Konflikt und dessen Bewältigung. In der Konfliktforschung werden hier sowohl Defizite als auch Fähigkeiten thematisiert. Es ist abhängig vom jeweiligen Ansatz bzw. dem konkreten Forschungsinteresse, welche Faktoren für die Entstehung von Konflikten grundsätzlich verantwortlich gemacht werden und welche Bedeutung darin individuelle Fähigkeiten überhaupt haben. Konfliktursachen werden auf der Ebene der Personen (Lewin 1963; Berkel 1984), der gesellschaftlichen und betrieblichen Strukturen (Dahrendorf 1959, 1961) oder auf der Ebene der (rationalen) Entscheidungsprozesse (Kirsch 1977, Simon 1981) erforscht. Neuere Forschungen interessieren sich weniger für konkrete Ursachen, als für die Kontextbedingungen, die aus latenten Konflikten manifeste werden lassen (vgl. Bonacker 2008a). In der Mobbingforschung geht es lediglich um die Feststellung von Defiziten. Die Arbeitsorganisation, zwischenmenschliche Probleme, individuelle Schwächen/ Besonderheiten und Gruppenphänomene wurden hier als Ursachen identifiziert. Zapf (1999) hat zehn Risikofaktoren beschrieben, die Mobbing begünstigen. In dieser Forschungstradition hat man die Frage nach der Verantwortung der Opfer aus Prinzip und Überzeugung nicht gestellt (vgl. Zapf/ Einarsen 2003). Erst in jüngster Zeit diskutiert man auch hier individuelle Gründe für Mobbing (vgl. Jacobshagen 2004). Fragt man bei den Intervenierenden nach Voraussetzungen, die die Personen in die Konflikte mit einbringen, ist dies die Frage nach den Fähigkeiten/ Unfähigkeiten und den Kompetenzen/ Positionen/ Rollen, die Vorgesetzte, intervenierende Kollegen oder Betriebsräte dazu prädestinieren, in Konflikte einzugreifen. Obwohl sich viele Konfliktstudien mit Konfliktstilen und Konfliktverhalten unterschiedlicher betrieblicher Gruppen (Mitarbeiter, Führungskräfte usw.) beschäftigen, werden die Kompetenzen/ Positionen/ Rollen häufig als quasi ‘Organismusvariable’ in den Untersuchungen vorausgesetzt (vgl. Thomas/ Pondy 1977, Regnet 2001, Berkel 1980). In der Ratgeberliteratur wird aber gebetsmühlenartig darauf hingewiesen, dass Intervenierende über spezielle Fähigkeiten verfügen müssen und wo und wie Vorgesetzte und andere potentielle, betriebliche Konflikthelfer Konfliktkompetenz erwerben können (vgl. Esser/ Wolmerath 2001, Eyer 2003, Budde 2001). Möglichen Intervenierenden wird die Teilnahme an Seminaren und umfangreichen Weiterbildungen und Zusatzqualifizierungen zu z.B. Konfliktmanagement, Coaching von Mitarbeitern, Mediation, gewaltfreies Kommunizieren usw. empfohlen.
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2.2 Konflikt als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung Will man eine Arbeit über Konflikte am Arbeitsplatz schreiben, stellt sich unweigerlich die Frage, von welchem Konfliktverständnis auszugehen ist. Die zurückliegenden Ausführungen haben gezeigt, dass man mit einem sehr eng gefassten, normativen Konfliktbegriff und der Unterscheidung von Mobbing und Konflikten das Phänomen in seiner ganzen Breite nicht angemessen erfassen kann. Für die beabsichtigte empirische Arbeit ist es zudem wichtig, Konflikte als soziale Phänomene – in Abgrenzung zum psychischen – auch beobachten zu können. Deshalb wird zunächst ein Blick auf die sozialwissenschaftliche Forschung gerichtet, um zu sehen, wie über Konflikte dort theoretisch diskutiert wird. Ziel ist es eine Konfliktdefinition zu finden, die dieser empirischen Forschungsarbeit zugrunde liegen kann. Bonacker (2008a) gibt in seiner Einleitung zu „Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien – eine Einführung“ einen Überblick über wichtige soziologische Theorien unter dem Fokus Konflikte. Er erklärt, der Konfliktbegriff in den Sozialwissenschaften sei uneindeutig, weil eine Konfliktdefinition von der theoretischen Perspektive und vom konkreten Erkenntnisinteresse abhänge und, weil sozialwissenschaftliche Theorien mit unterschiedlichen Vorstellungen von Gesellschaft operieren. Nach Bonacker handelt es sich beim Konfliktbegriff um einen sozialwissenschaftlichen Grundbegriff, der sich gegenüber anderen nicht besonders hervorhebe. Der Konflikt sei als soziales Phänomen auch nicht ausgezeichneter Gegenstand sozialwissenschaftlicher Theoriebildung.5 Und außerdem sei die Konflikttheorie keine eigenständige Theorie - kein Paradigma.6 Was könnte dann die Wichtigkeit des Konfliktthemas für die Sozialwissenschaften ausmachen? Die Relevanz des Konfliktbegriffs sieht Bonacker darin, dass es sich um einen interdisziplinären und theorieübergreifenden Grundbegriff handele. Offenbar kommen keine sozialwissenschaftliche Teildisziplin und keine Theorie ohne ihn aus. „Das Soziale als Gegenstand der Sozialwissenschaften kann nämlich in zwei Arten vorkommen: als Konsens und als Konflikt. Entweder stimmen wir Angeboten, Erwartungen, etc. wenigstens implizit zu oder wir lehnen sie ab. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass der Konfliktbegriff eine prominente Rolle in allen sozialwissenschaftlichen Bereichen spielt, bezeichnet er doch eine grundsätzliche Möglichkeit der Form des Sozialen: Internationale Beziehungen, Arbeitsbeziehungen, Intimbeziehungen können immer auch konflikthaft sein.“ (ebenda, S.15)
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Sozialwissenschaftliche Theorien haben einen bestimmten – politikwissenschaftlichen, soziologischen oder sozialpsychologischen – Gegenstand und beschäftigen sich in diesem Zusammenhang mit dessen Konflikthaftigkeit. 6 Die sozialwissenschaftliche Konflikttheorie oder einen einheitlichen Konfliktbegriff gebe es nicht.
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Was als Konflikt bezeichnet werde, hänge, so Bonacker weiter, auch von den konkreten, aktuellen gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen ab. Wie wird in einer Gesellschaft über Konflikte kommuniziert? Was konkret wird als Konflikt bezeichnet? Werden latente Konflikte eher durch das Ansprechen sichtbar gemacht – oder verschwiegen? Werden einfache Meinungsverschiedenheiten zu Konflikten hochstilisiert? Hier werde, so Bonacker, die „doppelte Hermeneutik“ (Giddens) der Sozialwissenschaften offensichtlich, denn die sozialwissenschaftliche Verwendungsweise des Konfliktbegriffs beeinflusse unser Verständnis dessen, was wir im Alltag als Konflikt bezeichnen und man erhebe in empirischen Studien wieder, was allgemein als Konflikt angesehen werde (vgl. Bonacker 2008a). Ausgehend von diesen Überlegungen sei eine Zusammenstellung der aktuellen und wichtigen sozialwissenschaftlichen Konflikttheorien (wie in diesem Einführungsband zu Konflikten vorgenommen) auch als eine Bestandsaufnahme des modernen und postmodernen Verständnisses von Konflikten zu lesen, mit denen sich die moderne Gesellschaft selbst beschreibe. Sie beobachte an sich selbst eine Konflikthaftigkeit oder ein „Konsensparadox“ (Giegel 1992), also den gleichzeitigen Bedarf und die zunehmende Schwierigkeit, Konsens herzustellen. Die Konflikttheorien seien daher auch als eine gesellschaftliche Selbstbeobachtung zu verstehen, die zu den gesellschaftsstrukturellen Differenzierungsprozessen der Moderne passten. Der Konfliktbegriff hatte in der sozialwissenschaftlichen Diskussion immer eine normative und sogar politische Konnotation (vgl. Thiel 2003; Bonacker 2008a). Es gab in der soziologischen Theoriebildung in den 50er und 60er Jahren in der Bundesrepublik einen Streit zwischen Konflikttheorie und Konsenstheorie und eine Zweiteilung der Theorienlandschaft zwischen denen, die an den gesellschaftlichen Verhältnissen festhalten wollten und denen, die auf Veränderung (mehr Demokratie, Fortschritt, …) drängten. Die einen nutzten deshalb für ihre Forschung Dahrendorfs normativen Konfliktbegriff und gingen von Konflikten als Motor für notwendige gesellschaftliche Veränderungen aus. Die anderen mieden den Konfliktbegriff. Es gab zwar viele Einzelaktivitäten, doch die waren durch die Gegensätzlichkeit verschiedener Theorieausrichtungen geprägt. Systematische Versuche, den Stellenwert des Konfliktbegriffs zu rekonstruieren, waren eher halbherzig. Luhmann (1984) fasste es zusammen und machte einen Vorschlag für eine mögliche Neuausrichtung: „Manches spricht dafür, dass die Konflikttheorie heute selbst zu sehr in Konflikt mit anderen theoretischen Bemühungen ist und dadurch ihre eigentliche Entwicklung selbst behindert hat. Wir schlagen einen Neubeginn vor – nicht als Alternative zu, sondern auf der Basis von Systemtheorie.“ (S. 529)
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Bonacker erklärt, mittlerweile können man von einer „Renaissance des Konfliktbegriffs“ (ebenda, S. 10) sprechen. Er nennt dafür theoretische und empirische Gründe. Empirisch seien auf der Ebene der internationalen Beziehungen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts neue Konfliktkonstellationen zu beobachten. Aber auch allgemeine gesellschaftliche Entwicklungstendenzen seien Anlass für die Wiederbelebung des Konfliktbegriffs gewesen. Durch die allgemeinen gesellschaftlichen Individualisierungs- und Mobilisierungstendenzen sei der traditionelle Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft abgeschwächt. Individualisierung und Entscheidungsdruck führe zu Entscheidungsabhängigkeit der Individuen. Prinzipielle Dilemmasituationen und Konflikte würden heute eher auftreten. Konflikte würden aber nicht mehr primär zwischen großen sozialen Gruppen verlaufen, „sondern sie sind gleichsam konstitutiv für den lebensweltlichen Alltag der Akteure und für die nicht normativ zu bindenden Funktionssysteme.“ (ebenda, S. 11) Auch die zunehmende Präsenz des Themas Konflikte in der Öffentlichkeit – z.B. im Zusammenhang mit dem Entstehen multikultureller Gesellschaften, der Beobachtungen einer Verschärfung sozialer Ungleichheit, Debatten über die Notwendigkeit neuartiger Konfliktregelungsmechanismen, die zunehmende Inszenierung von Konflikten durch die Ausdehnung massenmedialer Kommunikation und die Wahrnehmung des politischen Raum als Inszenierung von Dissens und als Austragungsort von Konflikten – habe das Interesse von Gesellschaft und Wissenschaft an diesem Thema, so Bonacker, wieder belebt. Bonacker beschreibt auch die Entwicklungen in der allgemeinen sozialwissenschaftlichen Theorieentwicklung, die dazu führten, dass der Konfliktbegriff aus der alten Gegenüberstellung theoretischer Grundpositionen befreit wurde. Dies habe zur Konsequenz, dass erstens der Konfliktbegriff entpolitisiert worden sei, d.h. er werde heute nicht mehr normativ bewertet. Zweitens habe eine Verallgemeinerung stattgefunden, d.h. heute werde unter Konflikt ganz Verschiedenes verstanden (Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kindern, in/ zwischen Organisationen, zwischen politischen Akteuren, …). Dadurch sei der Begriff an Facetten reicher aber auch inhaltlich unbestimmter geworden. Und drittens habe eine Entmischung von Konflikt und Konfliktursache („Entdinglichung des Konfliktbegriffs“; ebenda, S. 14) stattgefunden. Statt auf die oft schwer fassbaren (strukturellen) Ursachen von Konflikten, konzentrieren sich die sozialwissenschaftlichen Konflikttheorien heute auf die Kontextbedingungen, die aus latenten/ schwelenden/ nicht beobachtbaren Konflikten manifeste/ sichtbare werden lassen. Da Konflikte keine unveränderlichen Tatbestände sondern Abläufe seien, könnten auch die Konflikte selbst wieder zu wichtigen Kontextbedingungen für Konflikte werden. Und außerdem seien die Ursachen auch abhängig vom Betrachter:
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Konflikte im Betrieb „Es lässt sich nicht in jedem Fall theoretisch klären, welche Ursachen ein Konflikt hat, denn diese Ursache ist unter Umständen Teil der Situationsdefinition seitens der Akteure. Je nach dem, welche Ursachen sie einem Konflikt zuschreiben, kann dieser ganz unterschiedliche Formen annehmen und die Wahrscheinlichkeiten einer erfolgreichen Regelung beeinflussen. Dazu gehört auch, dass ein Konflikt seitens der Akteure erst einmal festgestellt werden muss. Auch darüber kann es zum Konflikt kommen, der sich dann paradoxerweise daran entzündet, ob man sich überhaupt streitet oder nicht. Mit anderen Worten: Konflikte müssen kommuniziert werden, sonst macht es wenig Sinn, sie zu einem sozialwissenschaftlichen Gegenstand zu machen.“ (ebenda, S. 13,14)
Bonacker stellt in seinem Übersichtwerk 20 unterschiedliche theoretische Ansätze vor. In Anschluss an die „ideengeschichtlichen Vorläufer konflikttheoretischen Denkens“ (ebenda, S.19) Hobbes, Marx, Weber und Simmel ordnet er die sozialwissenschaftlichen Konflikttheorien drei konflikttheoretischen Feldern zu: Konflikttheorien im Kontext der Theorie internationaler Beziehungen, Konflikttheorien im Kontext von Gesellschaftstheorien und Konflikttheorien im Kontext von soziologischen und sozialpsychologischen Akteurstheorien. Als weiteres Unterscheidungskriterium für Konflikttheorien nennt er ihr Selbstverständnis als normativ, deskriptiv oder analytisch. In fast allen Konflikttheorien lassen sich grundsätzlich alle drei Aspekte finden, doch unterscheiden sich die Theorien in ihren Schwerpunktsetzungen. Stark normativ ausgerichtete Theorien konzentrierten sich auf die Suche nach Konfliktaustragungsinstrumenten, mit denen gewaltsame Austragungen verhindert werden könnten – sie rekonstruierten dabei soziale Konflikte in einer moralischen Dimension. Deskriptive Theorien beschreiben die Konflikte und die Bedeutung, die sie in modernen Gesellschaften, Organisationen und Interaktionszusammenhängen einnehmen. Analytische Theorien erfassen Konflikte, so Bonacker, über Begründungen, Erklärungen, Kausalitäten und Modelle. Wie kann ich Bonackers Ausführungen für die Ausrichtung meiner Arbeit nutzen? Ich werde mich nicht an der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung beteiligen. Mein Fokus liegt auch nicht auf der Gesellschaft als Ganzes, sondern auf einem Ausschnitt von Gesellschaft – dem Betrieb als wirtschaftlich ausgerichteter Organisation. Ein politisch oder moralisch eng geführter Konfliktbegriff scheint für mein Forschungsinteresse ungeeignet. Ich suche als Grundlage für meine Untersuchung eine theoretisch begründete Bezeichnung von Konflikten, die nicht normativ, sondern weit gefasst und eher beschreibend ist. Mein Verständnis von Konflikten ist dabei nicht bestimmt durch ein Entweder-Oder sondern durch ein Sowohl-als-auch. Konflikte sind Teil der modernen Gesellschaft und damit auch ein Teil moderner Betriebe. Sie tragen zum sozialen Wandel und zum gesellschaftlichen bzw. unternehmerischen Forschritt bei. Konflikte und die prinzipielle Offenheit und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrungen bedingen sich gegenseitig, denn nur wenn auch gestritten werden kann, besteht die
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Chance auf Veränderung. Konflikte bedeuten aber nicht nur Wandel und Unsicherheiten, sondern auch Stabilität. Zum sozialen Wandel gehört auch die Stabilität des sich Wandelnden, sonst würden Veränderungsversuche nicht Neues schaffen, sondern lediglich zerstören7. – Konflikte tragen schließlich sowohl zur Integration als auch Desintegration bei. In Bereichen, in denen verbindliche Regeln für die Austragung von Konflikten existieren, wirken Konflikte als übliches Instrument der Durchsetzung von Interessen in der demokratischen Zivilgesellschaft integrierend. Wenn die Regeln selbst Thema des Konflikts sind, wenn es um das Aushandeln von Regeln geht, wirken Konflikte dagegen desintegrierend. Beides trägt zur Strukturbildung/ zum Strukturwandel bei. Um soziale Konflikte im Rahmen einer Studie empirisch beobachten zu können, braucht es ein Konfliktverständnis, das auf manifeste, d.h. kommunizierte Konflikte fokussiert. Wirft man, wie in der Untersuchung beabsichtigt, auch einen (berufs-) biographischen Blick auf das Konflikterleben von Individuen, muss man einen Konfliktbegriff zugrunde legen, der nicht von sozial abgrenzbaren, unabhängigen Einzelereignissen ausgeht, sondern eine prozessorientierte Auffassung von Konflikten vertritt. Gerade Mobbing, aber auch andere, lang anhaltende Konflikte sind eben nicht als eine Aneinanderreihung von Einzelereignissen zu charakterisieren. Der Hinweis von Bonacker auf die Situationsdefinitionen seitens der Akteure weist auf eine weitere Bedingung für den hier zugrunde gelegten Konfliktbegriff hin. Konflikte/ Konfliktverläufe hängen nicht allein von strukturellen Begebenheiten (tatsächlich erfahrenen Nachteilen, Angriffen usw.), sondern von individuellen Erwartungen und subjektiven Einschätzungen der beteiligten Personen ab. Deshalb erscheint für meine Arbeit ein Konfliktbegriff sinnvoll, bei dem nicht die objektiven Ursachen betont werden, sondern die subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen und individuellen Konflikterfahrungen der Individuen. Die für diese Untersuchung geeigneten theoretischen Grundlagen finde ich bei Luhmann und bei Glasl. Ich gehe von Luhmanns auf Kommunikation aufbauenden, prozessorientierten Konfliktverständnis aus. Um die Eskalationsdynamik von Konflikten und die damit einher gehenden Verhaltensänderungen von Betroffenen, (Beobachtern) und Intervenierenden in Konflikten (also die Handlungsebene) konkreter erklären zu können, greife ich auf Glasls „Neun Stufen der Konflikteskalation“ (2004) zurück.
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So betont Luhmanns Theorie der autopoietischen Systeme gerade die Stabilisierungsfunktion von Konflikten für soziale Systeme. Ausschließlich auf Konsens ausgerichtete Systeme würden bei jedem kommunikativen Widerspruch, bei jedem Konflikt sofort zerbrechen. Konflikte setzen nach Luhmann soziale Systeme aber unter anderen Vorzeichen fort.
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2.3 Konflikte als kommuniziertes ‘Nein! ’ Niklas Luhmann schreibt Konflikten auf der Basis seiner Systemtheorie eine große Bedeutung zu. Konflikte lösen die Erwartungssicherheit auf, nehmen die reduzierte Komplexität, die üblicherweise durch Kommunikation entsteht, zurück und zeigen damit, dass in der konkreten sozialen Situation mehr als das Aktuelle möglich ist. Da soziale Systeme aus Kommunikation und Erwartung bestehen, ist es erwartbar, selbstverständlich und normal, dass es zu Negationen, Enttäuschungen und Konflikten kommen muss. Konflikte sind deshalb Luhmann zufolge Bedingung für die Systembildung überhaupt. Konflikte eröffnen dem System die Chance, flexibel zu bleiben. Damit ermöglichen sie letztlich die Lernfähigkeit des Systems. Für Luhmann ist ein Konflikt also in neutraler Weise ein Anwendungsfall sozialer Kommunikation. Er vermeidet es, Konflikte als grundlegend positiv oder negativ herauszustellen. Die Charakterisierung von Konflikten erfolgt bei Luhmann nicht in Anbindung an Handlung, sondern an Kommunikation. Er geht in seinen konflikttheoretischen Überlegungen von folgender Definition aus: „Von Konflikt wollen wir immer dann sprechen, wenn einer Kommunikation widersprochen wird. Man könnte auch formulieren: wenn ein Widerspruch kommuniziert wird.“ (Luhmann 1984, S. 530) Ein Konflikt ist also eine mitgeteilte Ablehnung. Dadurch wird der Konfliktbegriff auf einen präzisen und empirisch fassbaren Kommunikationsvorgang bezogen: „auf ein kommuniziertes „Nein“ das eine vorherige Kommunikation beantwortet“ (ebenda, S.530). Kommunikation ist das kleinste Element von Gesellschaft und produziert Luhmann zufolge soziale Systeme (letztlich Gesellschaft), sodass Gesellschaft aus nichts anderem besteht als aus Kommunikation. Jede Kommunikation setzt Gesellschaft fort und begrenzt das soziale System, das sie als Kommunikation fortsetzt. Durch die laufende Anschlusskommunikation werden soziale Systeme konstituiert und reproduziert und gegen die systemspezifische Umwelt abgeschlossen. Luhmann bezeichnet diesen Vorgang als Autopoiesis, d.h. als Fähigkeit von Systemen, die eigenen konstitutiven Elemente selber herzustellen und sich dadurch gegen die Umwelt abzugrenzen. Nach Luhmann kann also auf zwei Arten an Kommunikation angeschlossen werden: Das Einverständnis mit der vorangegangenen Kommunikation wird zurückkommuniziert – dadurch entsteht der Eindruck eines Konsenses. Oder die Kommunikation wird negiert. Die Unterscheidung zwischen Konflikten und Nicht-Konflikten als zwei Ergebnisse der Kommunikation nutze ich in meiner Untersuchung für die Analyse des Materials. Die Beschreibung der beruflichen und gesellschaftlichen Realität durch Individuen kann, angelehnt an Luhmann,
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als Reden über Konflikte oder als Reden über Nicht-Konflikte bzw. Konsens stattfinden. Lehnt eine Kommunikation eine andere ab, entsteht nach Luhmann ein Widerspruch. Die kommunikative Ablehnung negiert eine Sinnselektion und setzt eine andere gewissermaßen dagegen. Damit entstehen neuer aktualisierter Sinn, neue Selektion, neuer Überschuss und neue Widerspruchschancen. Kommunikationen strukturieren Erwartungen. Die Negation von Kommunikation bedeutet deshalb die Zurückweisung der Erwartung auf Annahme der Kommunikation. Es kann dabei zum Widerspruch zwischen kognitiven Erwartungen und beobachteten Ereignissen kommen – hier kommt es zu einer Veränderung der Erwartungshaltung, d.h. es findet Lernen statt. Kommt es zum Widerspruch zwischen normativen Erwartungen und beobachteten Ereignissen, folgt daraus normalerweise ein Konflikt, weil beide Erwartungen kontrafaktisch abgesichert sind. „Ein Konflikt ist die operative Verselbständigung eines Widerspruchs durch Kommunikation. Ein Konflikt liegt also nur dann vor, wenn Erwartungen kommuniziert werden und das Nichtakzeptieren der Kommunikation zurückkommuniziert wird“ (Luhmann 1984, S. 530). Es kann Konflikte also nur aufgrund von Erwartungen geben, die enttäuscht werden8. Hier wird ein Zusammenhang zwischen Erwartungen, Lernen und Konflikten konstruiert. Während kognitive Erwartungen, wenn sie negiert werden (ohne Konflikt) direkt zum Lernen führen, bewirkt eine Negation bei normativen Erwartungen kein konfliktfreies Lernen, sondern zunächst einmal einen Konflikt. Konflikte können sowohl Lernen temporär verhindern, als auch auf längere Sicht die Lernfähigkeit des Systems garantieren. Konflikte können nach Luhmann relativ erwartungsfrei beginnen. Es reicht aus, dass Erwartungen kollidieren. Doch sind Konflikte auf soziale Systeme angewiesen, in denen sie entstehen können. Erwartungen die negiert werden, und die zur Etablierung eines Konfliktsystems führen, müssen erst einmal gebildet werden, bevor sie abgelehnt werden können. Konflikte haben Luhmann zufolge deshalb einen parasitären Status. Sie entstammen einem sozialen System und negieren in diesem normative Erwartungen. Luhmann unterscheidet drei Ebenen der sozialen System- und Erwartungsbildung: Interaktion, Organisation und Gesellschaft. In allen drei Ebenen sozialer Systeme können Konflikte parasitär existieren. Das umfassendste Sozialsystem bildet die Gesellschaft. Erst sie erlaubt durch ihre Differenzierung in Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Wissen8 Wie Widersprüche müssen auch Konflikte zurückkommuniziert werden, um ein soziales Ereignis zu sein. Der Unterschied zwischen Widerspruch und Konflikt ist, dass Konflikte einer verbalen/ sprachlichen Äußerung bedürfen (müssen immer kommuniziert sein), während Widersprüche von einem Beobachter festgestellt werden kann, ohne dass Kommunikation stattgefunden hat. (vgl. Bonacker 2008b)
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schaft, usw. eine Normalisierung und Steigerung sozialer Konflikte. Die Wahrscheinlichkeit von Konflikten ist aufgrund des ausdifferenzierten Systems (miteinander konkurrierende Funktionssysteme) gestiegen. Die Moderne kann aber auch mehr Konflikte zulassen, denn Konflikte stellen keine Bedrohung, sondern die Fortsetzung von Gesellschaft dar. Im Interaktionssystem hingegen gibt es nur die Möglichkeit Konflikt zu sein oder Nicht-Konflikt zu sein. Konflikte in Interaktionsystemen zerfallen schnell – nämlich sobald die lokale Kommunikation beendet ist. Dass auch belanglose, niedrig-schwellige Alltagskonflikte durch Luhmann Konfliktdefinition erfassbar sind (und nicht nur komplexe Konfliktsysteme), macht diesen Ansatz für die beabsichtigte Untersuchung interessant. Damit muss ich mich nicht mit der Abgrenzung von Missverständnissen, Scheinkonflikten usw. zu echten Konflikten beschäftigten. Jeder Widerspruch – auch ein kleiner – ist als Konflikt zu werten, sobald er kommuniziert wird und damit auf eine vorherige Kommunikation geantwortet wird. In Organisationssystemen können Konflikte intern zwischen ihren Mitgliedern und als externe Konflikte, in denen die Organisation (vertreten durch einzelne Organisationsmitglieder) als Konfliktpartei auftritt, auftauchen. Mein Untersuchungsfeld, der Betrieb, ist somit das gastgebende System für die zu untersuchenden Konflikte. Dabei handelt es sich oft um Konflikte innerhalb der Organisation (z.B. Teamkonflikte, Streitigkeiten zwischen Mitarbeiter und Vorgesetzter). Wenn es allerdings um Themen der betrieblichen Mitbestimmung geht, kommen neben Arbeitgeber und Betriebsrat oft auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände mit hinzu. Dann kann daraus ein Konflikt zwischen Organisationen werden. Die Differenzierung der modernen Gesellschaften in funktionale Subsysteme sorgt nach Luhmann dafür, dass Konflikte aus interaktiven Zusammenhängen gelöst und die Negativpotentiale in die Subsysteme (z.B. ins Rechtsystem) verlagert werden. Das Rechtssystem ist nach Luhmann das Immunsystem der Gesellschaft. Es ermöglicht und absorbiert Konflikte und schwächt damit die strukturellen Risiken von Kommunikation ab. Wenn z.B. bei Mobbingfällen der Vorwurf der Körperverletzung im Raum steht, wird der Konflikt gelegentlich an ein gesellschaftliches Subsystem, in der Regel das Rechtsystem, abgegeben. Gerichte müssen dann klären, ob jemand tatsächlich gemobbt wurde und, ob der Betrieb angemessen reagiert hat. Es gibt aber auch Konflikte, die dem Rechtsystem nicht zugängig gemacht werden können, weil sie nicht mit dem Code Recht/ Unrecht zu erfassen bzw. zu beobachten sind. Dazu gehören die üblichen organisationsinternen Konflikte. Für jene müssen nach Luhmann systemspezifische Immunsysteme eingerichtet werden. Immunsysteme als parasitäre Konfliktsysteme sorgen in Organisationen
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dafür, dass Konflikte die Autopoiesis bei Widersprüchen fortsetzen und zeitlich/ sachlich/ sozial begrenzt bleiben. Auch hier zeigen sich Konflikte als notwendige Bedingung für die Entwicklung und Ausdifferenzierung des Systems. Konfliktsysteme (z.B. die betriebliche Mitbestimmung) geben anderen Systemen, z.B. dem gastgebenden System (dem Betrieb) die Chance, Konflikte zu beobachten, Erwartungen zu verändern und so zu lernen. Konflikte können also nicht nur flüchtig in einfachen Interaktionssystemen existieren, sondern es gibt auch Konfliktsysteme, die hoch integrierte, autopoietische Sozialsysteme sind. Es gibt drei Sinndimensionen, die das Sinnerleben in Konfliktsystemen ermöglichen und strukturieren und die, weil es sich ja um autopoietische Systeme handelt, zur Fortsetzung der Kommunikation und auch zur Eskalation des Konflikts beitragen. So tendieren autopoietische Konfliktsysteme dazu, dass immer mehr Themen, Merkmale, Sachverhalte in den Konflikt hineinkommen (Sachdimension), – dass das ego-alter-Verhältnis als FreundFeindbeziehung konzipiert wird, d.h. dass der Feind zunehmend wichtiger wird, weil sonst eine Leere entstehen würde (Sozialdimension) – und, dass der Konflikt, weil er sich ständig fortsetzt, generalisiert wird (Zeitdimension). Generalisieren bedeutet hier, die Vorfälle der Vergangenheit werden in die Gegenwart gezogen. Es kommt also insgesamt „zur Ausdehnung auf alle Eigenschaften, Lagen, Beziehungen und Mittel der Gegner“ (Luhmann 1989, S. 101). Aufgrund der Veränderungen in den drei Sinndimensionen ist nicht damit zu rechnen, dass schon länger andauernde Konflikte plötzlich wieder verschwinden. Es ist im Gegenteil sogar wahrscheinlich, dass die Konfliktparteien ihre Umwelt beobachten, um Möglichkeiten zu finden, den Konflikt fortzusetzen. Die Umwelt von Konfliktsystemen fungiere, vom Konfliktsystem aus betrachtet, als permanente Anregung und als Informations- und Materialsammlung, um weiter streiten zu können. Eine Beilegung des Streits würde dagegen die Autopoiesis gefährden und ist deshalb nicht zu erwarten. So würde das Konfliktsystem in einer ‘schwierigen’ Abteilung zusammenbrechen, wenn es nicht mehr in regelmäßigen Abständen zu Auseinandersetzungen kommen würde. Das hätte zur Folge, dass die Abteilung nicht mehr schwierig wäre. Und auch das Konfliktsystem der betrieblichen Mitbestimmung würde zerstört werden, wenn es zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat überhaupt keine Konflikte mehr gebe. Es muss immer wieder Kommunikation angeschlossen werden, um die Autopoiesis nicht zu gefährden, damit das System weiter bestehen bleibt. Konflikte unterschiedlicher Intensität, vom täglichen Kleinkonflikt bis zum schweren Mobbingfall, werden also von Luhmanns neutralen, auf Kommunikation aufbauenden, prozessorientierten Konfliktverständnis erfasst. Wie Konflikte allerdings genau eskalieren und welche Rolle darin unterschiedliche Betriebsgruppen (Betroffene, Beobachter, Intervenierende) einnehmen, das wird bei
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Luhmann nicht bzw. nicht hinreichend thematisiert. Hier benötige ich eine weitere theoretische Grundlage, dazu eignet sich der handlungsorientierte Ansatz von Glasl.
2.4 Konflikteskalation aus Sicht Betroffener und Intervenierender Glasls Werk, in dem die heute wohl bedeutendste eskalationstheoretische Analyse enthalten ist (vgl. Thiel 2003), gilt vor allem als Standardwerk für Praktiker im Konfliktmanagementbereich. Glasl (2004) beschäftigt sich viel mit Konflikten in Organisationen. Er erhebt den Anspruch, den Konflikt sowohl theoretisch zu erklären als auch praktische Anregungen bei der Bewältigung von Konflikten zu geben. Doch das Glaslsche Verständnis von Konflikten ist keine in sich geschlossene Konflikt- oder Gesellschaftstheorie. Unter den Konflikttheoretikern findet er eher wenig Beachtung, weil er – so die Kritik – lediglich nebulöse, vieldeutige und unscharfe Bezüge zu Gesellschaftsmodellen herstelle9. Für Glasl sind Konflikte grundsätzlich weder gut noch böse, doch geht er davon aus, dass stark eskalierte Konflikte ausschließlich destruktive Eigenschaften entfalten. Daraus leitet er seine theoretischen Überlegungen für notwendige Interventionen ab. Nach Glasl (2004, S. 17) ist ein sozialer Konflikt „eine Interaktion zwischen Aktoren (Individuen, Gruppen, Organisationen usw.), wobei wenigstens ein Aktor eine Differenz bzw. Unvereinbarkeit im Wahrnehmen und im Denken bzw. Vorstellen und im Fühlen und im Wollen mit dem anderen Aktor (den anderen Aktoren) in der Art erlebt, dass bei Verwirklichen dessen, was der Aktor denkt, fühlt oder will eine Beeinträchtigung durch einen anderen Aktor (die anderen Aktoren) erfolge.“ Glasls Konfliktverständnis erfolgt anders als das Luhmanns, in Anbindung an Handeln. Der Konflikt muss nach seiner Definition in der Handlung mindestens einer Konfliktpartei sichtbar sein. Andererseits umfasst seine Konfliktdefinition viele Operationen, die von außen nicht zu beobachten sind. Was jemand denkt, fühlt, will oder sich vorstellt ist für einen Beobachter zunächst nicht zu ergründen. Und wie hat man sich die Feststellung von Differenzen und Unvereinbarkeiten zwischen Aktoren konkret vorzustellen? Alle sozialen Konflikte müssen irgendwann sichtbar werden, durch Kommunikation und/ oder durch Handlung, um überhaupt soziale Konflikte sein zu können. Ich werde zwar nicht Glasls Konfliktbegriff, doch die theoretischen Überlegungen seines Eskalationsmodells nutzen, um ein Verständnis von leichten, schweren und sich verändernden Konflikten aus der Sicht der Betroffenen und 9 Zur Kritik an der fehlenden theoretischen Begründung des Glaslschen Konfliktverständnis vgl. Thiel 2003
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der Intervenierenden zu erhalten. Die zentrale Annahme seiner Überlegungen ist die, dass bei Konflikteskalationen unterschiedliche Stufen zu beobachten sind, die durch Schwellenwerte und Wendepunkte getrennt sind. Innerhalb einer Stufe werden solange nur ganz bestimmte Konfliktmittel eingesetzt, bis einer der Akteure einen qualitativen Wechsel einleitet10. Vollzieht die zweite Konfliktpartei den Wechsel mit, ist eine höhere Stufe der Eskalation erreicht11. Glasl unterscheidet neun Stufen der Konflikteskalation. Bei zunehmender Eskalation geht die Fähigkeit zur Steuerung und Beherrschung des Konflikts sowohl für Betroffene als auch für Intervenierende mehr und mehr verloren. Die Konfliktdynamik treibt den Konflikt, wenn niemand dämpfend eingreift, schließlich in drei sich steigernden Phasen voran. Glasl nennt diese drei Phasen die Win-Win-Phase, die Win-Lose-Phase und die Lose-Lose-Phase. Aus Debatte wird Spiel - und aus Spiel wird schließlich Kampf (Rapaport 1976). Die ersten drei Eskalationsstufen (1. Verhärtung, 2. Debatte/ Polemik und 3. Taten statt Worte) bilden zusammen die Win-Win-Phase. Inhaltlich passiert kurz zusammengefasst Folgendes: Zunächst führen Meinungsverschiedenheiten zu Spannungen und Verstimmungen, aber beide Parteien sind sicher, die atmosphärischen Störungen mit Argumenten beseitigen zu können. Dann prägen Überheblichkeit und Arroganz die Verhaltensweisen der Konfliktparteien. Jetzt geht es vor allen Dingen um die Frage, welches ist der beste Standpunkt (Entwederoder-Dilemma). Schließlich erscheinen Diskussionen sinnlos, nonverbale Signale und unbeherrschte Ausbrüche belasten das Klima immer häufiger. – Von der Seite der Betroffenen bedeutet diese Phase, dass sie bei ausreichender persönlicher Kompetenz, ihre Konflikte selbst steuern können. Das heißt, die Konfliktbetroffenen sind keine hilflosen Opfer, sondern frei Handelnde. Sie bestimmen die Form des Umgangs mit diesen Konfliktereignissen. Konfliktkompetenzen kann man sich durch erfolgreiche und auch fehlgeschlagene Bearbeitungsversuche aneignen12. Sie sind Ergebnis von Lernprozessen. – Von der Seite der Intervenierenden würde man sagen, die sind in niedrig eskalierten Konflikten zunächst verzichtbar. Um Zeit zu sparen, bei Konflikten mit mehr als zwei Beteiligten und um das Risiko einer weiteren Eskalation durch fehlgeschlagene Konfliktklärungsversuche durch die Beteiligten zu begrenzen, wird von Glasl für Intervenieren in dieser Win-Win-Phase die Moderation (vgl. Abbildung 1) vorgeschlagen. 10
.B. wenn der Betriebsrat nicht mehr nur mit Arbeitsgericht droht, sondern wirklich eine einstweilige Verfügung bei Gericht erwirkt. Auch der Arbeitgeber provoziert dann gerichtliche Klärungen, indem er z.B. versucht, Betriebsratsmitgliedern zu kündigen. 12 Berkel (2008, S. 66) spricht bei gekonnter Konfliktbeherrschung von „kalkulierter Eskalation“. Dies sei die strategische Mischung aus eskalierenden und deeskalierenden Momenten – mit dem Ziel immer die Kontrolle über den Konflikt zu behalten. Dies ist nach Glasl nur in den Eskalationsstufen 1 bis 3 möglich. 11
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Ein unbeteiligter Dritter übernimmt dabei die Verantwortung für die Gesprächsführung, stellt Fragen, fasst zusammen und unterstützt die Konfliktparteien auf diese Weise dabei, ihren Konflikt selber zu bearbeiten. Er stößt bei ihnen Lernprozesse an. Formen des offenen Lehrens widersprechen aber der Idee der Moderation (vgl. Benien 2003; Berkel 2008). Lehren durch Intervenierende könnte hier die Form der Lernberatung einnehmen. Die Eskalationsstufen vier bis sechs (4. Images und Koalitionen, 5. Gesichtsverlust und 6. Drohstrategien) bilden nach Glasl die Win-Lose-Phase. Zusammengefasst kann man sie folgendermaßen charakterisieren: Zunächst heißt die Devise ‘Du oder Ich’. Ein strahlendes Selbstbild steht einem negativen Feindbild gegenüber. Beide Konfliktparteien werben nun um Verbündete von außen. Dann sind öffentliche Diskriminierung der Gegner und persönliche Angriffe unter die Gürtellinie an der Tagesordnung. Die Kontrahenten haben den Glauben verloren, den Konflikt alleine lösen zu können. Schließlich erschweren gegenseitige Drohungen und zunehmendes Misstrauen die Kontrolle über den Konflikt. – Auf Seiten der Konfliktparteien findet hier eine Machtverschiebung statt. Aus zwei ungefähr gleich starken Kontrahenten werden Unter- und Überlegene. Die eigene Schwäche soll – auf der einen Seite – jetzt durch das Hinzuziehen von Kollegen ausgeglichen werden. Die neu gewonnene Überlegenheit der anderen Seite soll durch Koalitionsbildung weiter ausgebaut werden. In dieser Phase wird der Konflikt (öffentlichkeitswirksam) aufgebläht, gewaltsam und bedrohlich. Die Unterlegenen erwarten von außen Schutz vor der Stärke des Konfliktgegners. Die Überlegenen lehnen ein Einmischen entweder komplett ab, bezeichnen sich selbst auch als Opfer oder beschreiben ihr Verhalten lediglich als Reaktion auf das Verhalten des Konfliktgegners. Die Betroffenen können vorhandene Kompetenzen (aus früheren Lernprozessen) oft nicht mehr sinnvoll einsetzen und aus den aktuellen Erfahrungen auch nicht mehr lernen. Lernerwartungen von außen werden als ungerechtfertigte Einmischung, als Zumutung (Warum soll ich lernen, der andere ist schuld!) und Bedrohung (Ich werde nichts lernen, was meine Position schwächt!) empfunden. – In dieser Phase können sich potentiell Intervenierende dem Konflikt nicht mehr entziehen. Sie werden z.B. von der unterlegenen Partei oder den Kollegen angefordert. Glasl schlägt als Interventionsmethode die Prozessbegleitung, die Vermittlung und das Schiedsverfahren vor (vgl. Abbildung 1). Eine übliche Form der Prozessbegleitung bei Konflikten in Teams ist die Teamentwicklung (vgl. auch Schwarz 2005). Hierbei
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handelt es sich um ein klar gekennzeichnetes Lehr-Lernsetting. Über die reine Deeskalation des aktuellen Konflikts hinaus, ist es Ziel einer Teamentwicklung zu lernen, wie man das Verhalten im Team so verändern kann, dass zukünftige Konflikte nicht mehr so weit eskalieren und wieder selbst vom Team gelöst werden können. Eine Form der Vermittlung ist die Mediation (vgl. auch Berkel 2008; Haeske 2003; Hösl 2002). Die Konfliktbeteiligten sind bei der Vermittlung/ Mediation geradezu gezwungen, sich die alternative Konfliktrealität zumindest anzuhören. Wenn die Konfliktparteien es schaffen, die eigene Position distanziert zu reflektieren, besteht für sie die Chance zum Lernen (vgl. auch Thiel 2003; Schwarz 2005). Das Schiedsverfahren ist dagegen überhaupt kein pädagogisch motiviertes Konfliktlöseinstrument. Es kommt dann zum Einsatz, wenn pädagogische Maßnahmen endgültig versagt haben. Abschließend folgen die Eskalationsstufen sieben bis neun (7. Begrenzte Vernichtungsschläge, 8. Zersplitterung, 9. Gemeinsam in den Abgrund). Sie bilden nach Glasl die Lose-Lose-Phase und sind durch folgende Verhaltensweisen charakterisiert: Zunächst ist es nun das Ziel der Kontrahenten, die Existenz des Gegners zu erschüttern. Beide Parteien sind sich bewusst, dass es nichts mehr zu gewinnen gibt. Dann geht es nur noch darum, die Macht- und Existenzgrundlage des Gegners völlig zu vernichten. Schließlich bleibt die Genugtuung, im eigenen Untergang den Feind mit in den Abgrund zu reißen, der einzige Trost und Antrieb. – In dieser Phase geht es für die Betroffenen nur noch um Kampf und die Schädigung des Konfliktgegners. Gelernt wird möglicherweise das, was dem anderen schadet – was ihn endgültig aus dem Feld drängt. Allen anders gearteten Lernmöglichkeiten werden sich die Parteien verweigern. Da es keine moralischen ‘Bremsen’ mehr gibt, werden Intervenierende, die für die Normen und Werte der Gesellschaft/ der Organisation stehen, nun nur noch als Hindernisse der eigenen Sache angesehen. – Intervenierende haben in dieser Phase jenseits offizieller Machtinstrumente keine Chance mehr, den Prozess zu beeinflussen. Sie werden von allen Konfliktparteien abgelehnt. Wenn sie lehren würden, würde ihnen niemand mehr zuhören. Glasl nennt das Schiedsverfahren und den Machteingriff als geeignete Methode des Umgangs mit solchen Konflikten (vgl. Abbildung 1). Diese Verfahren setzen voraus, dass die Intervenierenden von der Organisation mit der nötigen Autorität und Macht ausgestattet werden. Aufgabe der Intervenierenden ist es, den Konfliktparteien eine Lösung aufzuzwingen. Die Betroffenen müssen nichts mehr lernen. Sie müssen die gefundene Lösung lediglich (formal) verstehen und akzeptieren. Was bedeuten diese theoretischen Überlegungen für meine Untersuchung? Die Eskalationsstufen nach Glasl zeigen, dass die Möglichkeiten des Umgangs mit Konflikten von der Schwere des Falls bzw. vom Eskalationsniveau abhängen. Es gibt dabei typische Betroffenenmechanismen. Für sie bedeutet eine Es-
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kalation einen zunehmenden Steuerungsverlust und, dass sie immer mehr Zeit und Energie für den Konflikt selbst und (im betrieblichen Kontext) nicht mehr für die Arbeit aufwenden müssen. Das hat Einfluss auf die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Lernen. Am Anfang kann und will aus den Konflikterfahrungen gelernt werden, später wird Lernen nach Glasl immer unwahrscheinlicher. Und es gibt auch einen typischen Intervenierendenmechanismus bei Konflikteskalationen. Für sie bedeutet ein Konflikt, dass sie häufig erst in der Phase vier in die Kontroverse hineingezogen werden – entweder, weil ein Konfliktbeteiligter um Hilfe bittet oder, weil die Arbeitsleistungen einzelner oder aller Konfliktparteien so stark nachgelassen haben, sodass die Vorgesetzten es für geboten halten, aus wirtschaftlichen Gründen einzugreifen. Die Intervenierenden haben durch ihr zeitverzögertes Eingreifen in die Konflikte aber kaum eine Chance zu erfahren, welche Konflikthandlungen tatsächlich bisher stattgefunden haben. Sie sind konfrontiert mit widersprüchlichen Wahrheiten, einer emotionsgeladenen Atmosphäre und sich ausschließenden Erwartung von beiden Seiten. Intervenierende laufen hier Gefahr, wenn sie für eine Seite Position beziehen, selbst Teil des Konflikts zu werden. Was ihre Rolle als Vermittler/ Lehrer angeht kann man sagen, werden sie von den Konfliktparteien in der Win-Lose-Phase (freiwillig) in den Konflikt hinzu gebeten (was eher unüblich ist), ist Lehren an Bedingungen geknüpft, aber als Mittel der Konfliktklärung grundsätzlich geeignet (vgl. dazu auch Thiel 200313). Je weiter der Konflikt fortgeschritten ist, umso ungeeigneter sind Lehr-Lern-Settings für die Bearbeitung von Konflikten, weil die Konfliktbeteiligten die Vermittler als Lehrer nicht mehr akzeptieren. Glasl gegründet mit der Konfliktdynamik, warum Intervenierende besonders ausgebildet, besonders kompetent und eher nicht in die betriebliche Sozialstruktur integriert sein sollten. Mobbing ist nach Glasl ein stark eskalierter Konflikt, der zunächst auch, wie oben aufgeführt, für potentiell Intervenierende und für unbeteiligte Kollegen 13
Erzeugen eskalierende Konflikte Schäden für das gastgebende System, stellt sich die Frage, wie man diese Konflikte zur Deeskalation/ zur Beendigung bringen kann. Nach Thiel thematisiert Luhmann Deeskalation als eine Kommunikation über Konfliktkommunikation, die durch das Hinzuziehen einer weiteren, nicht am Konflikt beteiligten, neutralen Person/ einer dritten Partei ins Konfliktsystem ermöglicht werde. Verlaufsformen der Deeskalation sind nach Thiel: 1. Deeskalation nach Selbstreflexion infolge von Ereignissen in der inneren oder äußeren Umwelt des Konfliktsystems (durch Selbstreflexion und Lernen oder durch Flucht) 2. Deeskalation nach Kontextsteuerung durch Akteure der äußeren Umwelt des Konfliktsystems (durch Unterordnung oder Vermittlung/ Mediation) und 3. Deeskalation nach Destruktion des Konfliktsystems (durch Vernichtung oder Selbstzerstörung). Auch Thiel diskutiert Lernen und Lehren als für die Deeskalation geeignete Form des Umgangs mit Konflikten. Über Vermittlung/ Mediation kommen die Intervenierenden als Vermittler/ Lehrende in den Blick. Selbstreflexion und Lernen ist die Herausforderung für Konfliktbetroffene. Wie Glasl weist er darauf hin, dass diese Strategien nur bei niedrig eskalierten Konflikten mit Erfolg eingesetzt werden können.
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unbemerkt verlaufe. Wenn er schließlich, oft später als andere Konflikte, sichtbar werde, sei die Betriebsöffentlichkeit über das hohe Eskalationsniveau überrascht. Mobbing sei aber ein ‘normaler’ Konflikt insofern, dass er alle Phasen der Konflikteskalation durchlaufe: die gegenseitigen Provokationen bis Stufe drei, der Versuch Verbündete zu finden (was dem späteren Mobbingopfer nicht so gut gelingt wie dem vermeintlichen Mobber), die einseitige Darstellung der zurückliegenden Ereignisse. Die Erinnerung des Opfers lasse die gesamte Vorgeschichte später aufgrund des Eskalationsgeschehens als einseitiges Opfer-TäterVerhältnis erscheinen. Glasl sieht auf der Grundlage seiner theoretischen Überlegungen zur Konflikteskalation die Gefahr, dass Konfliktgegner ungerechtfertigt als Mobber/ Täter beschuldigt werden können.
Abbildung 1:
Methoden der Konfliktbehandlung bei unterschiedlich stark eskalierten Konflikten (abgeändert nach Glasl 2004, S. 394) Machteingriff Schiedsverfahren Vermittlung
Moderation
Prozessbegleitung
Ein interner oder externer Mediator versucht, die Probleme durch inhaltliche und prozedurale ‚Selbstheilungseingriffe’ zu koordinieren.
Gefestigte Rollen und Beziehungen werden durch einen psychologisch erfahrenen Gesprächsleiter zum Thema gemacht.
Ein von beiden Seiten anerkannter Vermittler bemüht sich um einen, für alle Seiten guten Kompromiss.
Ein ‘Schiedsrichter’ löst das Problem nach eigener Lageeinschätzung. Die Parteien akzeptieren das Verfahren.
Eine befugte Autorität führt Maßnahmen gegen den Willen der Streitenden durch.
1.............2.............3.............4.............5.............6...............7...............8.............9 Win-Win-Phase Win-Lose-Phase Lose-Lose-Phase Eskalationsstufen und Phasen (Glasl 2004)
3 Erwachsenenbildung Entgrenzung des Pädagogischen – Lebenslanges Lernen
Bei den betrieblichen Konflikten und dem individuellem Umgang mit ihnen handelt es sich nicht um einen typischen Forschungsgegenstand der Erziehungswissenschaften. Da sich aber die betriebliche (pädagogische) Praxis intensiv mit dem Umgang mit sozialen Konflikten beschäftigt, handelt es sich durchaus um ein wichtiges Thema, das durch die These von der Entgrenzung des Pädagogischen unter einer erziehungswissenschaftlichen Fragestellung diskutiert werden kann.
3.1 Entgrenzungsthese als Ausgangspunkt für die Betrachtung von betrieblichen Konflikten aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive Die Erziehungswissenschaft meint mit der Universalisierung des Pädagogischen und der Entgrenzung der Erwachsenenbildung (vgl. Lüders 1994; Kade 1997), dass sich „die hergebrachten Formen pädagogischen Denken und Handelns von vertraut gewordenen Bereichen, Bezügen, Räumen und Institutionen lösen und auf neue, von der Pädagogik bisher noch nicht erfassten Alterstufen und Lebensbereichen übertragen werden“ (Lüders/ Kade/ Hornstein 2004, S. 226). Dies bedeutet, dass auch außerhalb der klassischen (institutionalisierten) Erwachsenenbildung eine zunehmende „pädagogische Strukturierung des Lernens“ (Kade/ Seitter 2005b, S. 47) zu beobachten ist. Die Formen, in denen das entgrenzte Lernen in modernen Gesellschaften stattfindet, liegen im Spannungsfeld von „professionell-organisierter Gestaltung und individueller Selbststeuerung, von interaktiven und medialen Formen, von ausdifferenzierten und milieu- bzw. arbeitsintegrierten Formen [und] von auf Lernen spezifizierten und hybriden Mischformen“ (Kade/ Seitter 2005a, S. 10). Ines Himmelsbach (2009) fasst die Universalisierung und Entgrenzung des Pädagogischen auf den drei Ebenen nach Kade (1997) folgendermaßen zusammen: Auf der institutionellen Ebene bedeutet sie die Loslösung von typischen pädagogischen Institutionen und Räumen. Auf der normativen Ebene zeigt sie sich als eine Vermischung von pädagogisch
M. Niebuhr, Konflikte im Betrieb, DOI 10.1007/978-3-531-92696-4_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Erwachsenenbildung - Entgrenzung des Pädagogischen – Lebenslanges Lernen
strukturierter und nicht-pädagogisch strukturierter Aneignung. Auf der individuellen Ebene bedeutet es, dass die individuelle Aneignung selbst entgrenzt ist und zunehmend die von der Erwachsenenbildung angenommene Grenze hin zur Lebenswelt und Biographie unterläuft. Meine Forschungsarbeit bezieht sich auf den individuellen Arbeitsplatz von Individuen, also auf das Unternehmen/ den Betrieb. Heute gilt es als selbstverständlich, dass pädagogische Muster in allen relevanten Bereichen der Gesellschaft die unmittelbare Lebenswelt und Lebensführung ihrer Mitglieder beeinflussen (vgl. auch Kade/ Nittel/ Seitter 2007). Betriebe gelten somit heute als selbstverständliche Lernorte. Auch hier hat die institutionelle Entgrenzung des Pädagogischen stattgefunden. Das pädagogische Denken und Handeln hat sich unter den Bedingungen ihrer weitgehenden Entgrenzung (im betrieblichen Kontext) dabei selbst verändert – z.B. indem es mit wirtschaftlichen Prämissen durchwoben ist – und findet so verändert wieder Einzug in die allgemeine Erziehungswissenschaft. Die betriebliche Handlungslogik ist zum Vorbild für die Modernisierung der gesamten Gesellschaft geworden (vgl. Harney 2004). Der Betrieb wird somit auf das ganze Leben beziehbar. Damit ist die Betriebspädagogik nicht mehr eng umgrenzt, sondern im Hinblick auf eine begrifflich weit gefasste Erwachsenenbildung bedeutsam. Für meine Arbeit bedeutet das, dass von den Ergebnissen aus dem betrieblichen Lernen auf allgemeines, lebenslanges Lernen geschlussfolgert werden kann. Lebenslanges Lernen im Betrieb bedeutet, dass dort Mobilität und Flexibilität als neue Norm erwerbsbezogener Kompetenz zu einer Frage individueller Vergesellschaftung werden (vgl. Harney 1994, 1998). Jeder ist für seine persönliche Weiterentwicklung im Rahmen der betrieblichen Personal- und Organisationsentwicklung selbst verantwortlich (vgl. Neuberger 1991; 1992; Sattelberger 1989). Seit Beginn der achtziger Jahre sind auch die Betriebe im Zuge moderner Strategien der Personal- und Organisationsentwicklung in direkter Weise zu pädagogischen Handlungsfeldern und zum Einsatzfeld ausgebildeter PädagogInnen geworden (vgl. Harney/ Nittel 1995; Arnold 1991; Harney 2004). Die Bedeutung institutionalisierter, auch betriebsexterner Lern- und Bildungsangebote ist dabei die einer unverzichtbaren, regulierenden und inputsichernde Umwelt (vgl. Harney 2004). Das bedeutet, auch im Betrieb bleibt Lernen immer auf Lehren, wenn auch in abgeschwächter Form, bezogen. Einerseits sind beim lebenslangen Lernen ausgebildete Pädagogen und minimal gegliederte/ vernetzte Bildungsangebote also nach wie vor unverzichtbar. Andererseits ist ein Ergebnis der Entgrenzung des Pädagogischen, dass nicht nur professionelle Pädagogen, sondern auch die vielfältigen Akteure, die in nichtpädagogischen Handlungszusammenhängen agieren, verstärkt über pädagogisches Wissen verfügen (Kade/ Seitter 2005b). Auch die Adressaten der Erwach-
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senenbildung haben sich durch die Ausbreitung der Pädagogik verändert. Lüders/ Kade/ Hornstein (2004) verweisen in diesem Zusammenhang auf eine Zunahme ihrer Aneignungskompetenz. Kade/ Seitter (2005b) haben eine Universalisierung pädagogischer Rollensegmente14 und eine Generalisierung eines Lerner- und eines Vermittlerhabitus15 festgestellt. Der Personenkreis der Lernenden wie der Lehrenden hat sich also ausgedehnt und ist unübersichtlicher geworden. Er ist nicht mehr klar an offizielle Rollen und Phasen gebunden. Für meine Forschungsarbeit ergibt sich daraus die Frage, wie Lernen und Lehren in Konflikten an Rollen wie Mitarbeiter, Vorgesetzter oder Betriebsrat gebunden sind – und ob sich beim Umgang mit Konflikten eine Generalisierung eines Vermittler- bzw. Lernerhabitus beobachten lässt. Diese Untersuchung geht von der These der Entgrenzung des Pädagogischen aus. Das macht die Ergebnisse aus dem betrieblichen Lernen auf das Erwachsenenlernen allgemein beziehbar. Unter der Annahme der Entgrenzung sind Konflikte im Betrieb Anlässe für das Lernen und Lehren im Bereich der Erwachsenen und damit Anwendungsfälle für das lebenslange Lernen. Damit kann durch die Beschäftigung mit betrieblichen Konflikten und dem Umgang mit ihnen das Wissen über das lebenslange Lernen Erwachsener erweitert werden. Der Betrieb gilt hier als Lern- und Lehrort. Lernen und Lehren sind im Betrieb bei der täglichen Erfüllung der Arbeitsaufgaben, aber auch bei Schwierigkeiten und beim Umgang mit Konflikten als eine Mischung mit anderen nicht pädagogisch strukturierten Verhaltensweisen zu beobachten. Es stellt sich die Frage, wie Mitarbeiter das Spannungsverhältnis zwischen Leben, Lernen/ Lehren, Konflikten und Arbeiten vor diesem entgrenzten Hintergrund beschreiben. Und wie verlaufen die Grenzen und Verbindungen zur Lebenswelt und Biographie? Haben die Lern- und Konflikterfahrungen aus dem privaten Bereich eine Bedeutung für den individuellen betrieblichen Kontext? Und umgekehrt: Findet im betrieblichen Kontext erworbenes Wissen und Können Einzug in den privaten Lebensraum? Kommt es beim Umgang mit Konflikten möglicherweise dazu, dass die Grenzen zwischen beiden sozialen Welten verwischen können?
3.2 Erwachsenenbildung zwischen Selbststeuerung und Beeinflussung In unserer oft als Wissensgesellschaft bezeichneten Moderne hat Bildung stark an Bedeutung gewonnen. Gegenwärtig wird die Institutionalisierung der Er14
.h. Rollen sind nicht fest zugeordnet. Sie werden temporär und situativ von einem immer größeren Personenkreis ausgeübt. 15 Die Generalisierung eines Lerner- und eines Vermittlerhabitus ist ein wesentliches Merkmal der Institutionalisierung des Lernens im Erwachsenenalter.
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Erwachsenenbildung - Entgrenzung des Pädagogischen – Lebenslanges Lernen
wachsenenbildung häufig auf das lebenslange Lernen zugespitzt beschrieben. Es hat sich als „neue Form der Vergesellschaftung individueller Aneignung von Welt“ (Kade/ Seitter 2007a, S.139) etabliert. Auch den kompetenten Umgang mit Konflikten sollen wir (wenn nötig) lebenslang lernen. Das kann in der Schule mit dem Konfliktlotsensystem beginnen und setzt sich im Erwachsenenalter im Beruf und auch im Privatleben fort. Moderne Mitarbeiter und Vorgesetzte sollen auch sozial kompetent und konfliktfähig sein. Im öffentlichen Bildungsdiskurs erfahren Wissen, Bildung und lebenslanges Lernen viel Aufmerksamkeit und Interesse. Politiker und Wirtschaftsbosse weisen darauf hin, dass gesellschaftliche, aber auch wirtschaftliche Herausforderungen der (globalisierten) Moderne auf Dauer nur gemeistert werden können, wenn sich alle Bürger und Mitarbeiter dem lebenslangen Lernen verpflichten. Aktuell können wir erleben, dass sogar der Ausweg aus einer der ‘schwersten Wirtschaftskrise aller Zeiten’ von einigen Medien und Politikern als weltweiter Lernprozess beschrieben wird. In Deutschland sollen sich die Mitarbeiter deshalb während ihrer Kurzarbeit weiter qualifizieren. So soll die sonst ungenutzte Arbeitszeit dazu verwandt werden, für die Zeit nach der Krise zu lernen. Zugespitzt könnte man formulieren, lebenslanges Lernen wird hier auch regional als Maßnahme gegen die Krise eingesetzt. Von Mitarbeitern und Führungskräften wird dabei erwartet, dass sie die Krise individuell als Lernchance begreifen. In der öffentlichen Diskussion findet allgemein eine Engführung auf die positiven Aspekte und Auswirkungen des lebenslangen Lernens für Integration/ Qualifikation/ wirtschaftliches Wachstum/ Arbeitsmarkt usw. und ihre unbedingte Anschlussfähigkeit an das wirtschaftliche System statt (vgl. Kade/ Nittel/ Seitter 2007). Es herrscht – nicht nur in der Krise – eine normativ gesteuerte, wertebezogene Argumentation vor, die die Schattenseite – die Ambivalenzen, Probleme, negativen Auswirkungen und Kosten dieses allumfassenden Lernens ausblendet. Das Konzept des lebenslangen Lernens geht auf den humboldtschen Bildungsbegriff zurück. Bildung bezeichnet danach die weitestgehende Aneignung von Welt durch den Menschen als individuelles Subjekt. Diesem weit gefassten Bildungsbegriff ist die unmittelbare Verknüpfung von Aneignung und Leben elementar. Durch die zunehmende Institutionalisierung der Erwachsenenbildung erfuhr dieser eine Angleichung an das Schulsystem und damit eine Eingrenzung und Engführung auf die Verknüpfung von Aneignen und Lernen. Außerhalb des schulisch definierten Bildungssystems wurde hingegen die Aneignung von Welt durch die Erziehungswissenschaft unter dem Begriff der Entgrenzung diskutiert. Das strukturelle Problem der „Gleichzeitigkeit von (traditioneller) bildungssystembezogener Engführung und aneignungsbezogener Entgrenzung“ (Kade/ Seitter 2007a, S. 135) sei erst durch die Aufwertung/ Erhö-
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hung und das Ernstnehmen des Individuums ‘gelöst’ worden.16 Das Konzept des lebenslangen Lernens sei – so Kade und Seitter – „die Antwort auf die Frage des Ortes von Bildung unter den Bedingungen eines sich universell ausdifferenzierenden Erziehungssystems“ (Kade/ Seitter 2007a, S. 135). Die Autoren sehen mehrere Gründe, warum das Konzept des lebenslangen Lernens mittlerweile einen so „prominenten Status“ (S.136) eingenommen habe: Durch die Stärkung der Aneignungsreferenz Individuum seien die Differenz zwischen individueller Bildung und dem gesellschaftlichen Erziehungssystem und die Formen ihrer Verknüpfungen selbst zum Thema gemacht worden. Das Konzept des lebenslangen Lernens habe außerdem die klassischen Elemente von Bildung als subjektive Aneignung von Welt aufgenommen, modifiziert und neu bestimmt. Konkreter bedeute das: Die Aneignung wurde als Lernen generalisiert, was zur Universalisierung der Schülerrolle auch im Erwachsenenalter geführt habe und dazu, dass Aneignung als lehrbezogenes Lernen beobachtbar, kommunizierbar und kontrollierbar wurde. Von ihr unterschieden wurde eine marginale, individuelle, nicht sichtbare Bildung. – Das Individuum/ Subjekt tauchte in „temporalisierter Gestalt“ (Kade/ Seitter 2007a, S. 137) (individuell geformter Lebenslauf operationalisiert als Karriere oder Biographie) wieder auf. – Auch die Einheit von Leben und Aneignung sei wieder ins Konzept eingebracht worden, indem das Verhältnis von Lernen und Aneignung über eine Vielfalt von Aneignungsformen, die in unterschiedlicher Weise mit Lernen verknüpft sind, beschrieben wurde. Generalisiertes Lernen ist danach lediglich eine spezifische Form der Aneignung von Welt. Auch das in der klassischen Bildungstheorie thematisierte Lernen des Lernens gewinne im neuen Konzept des lebenslangen Lernens an Beachtung. Wenn vom lebenslangen Lernen gesprochen wird, wird in der Regel die Aneignungsseite thematisiert. Es geht um die Selbstbestimmung, die Möglichkeiten und die Verantwortung des Individuums für seine Aneignung/ für sein Lernen. Wie sieht es aber mit der Vermittlungsseite aus? Das Zusammenspiel zwischen Vermittlung und Aneignung kann beim Lernen grundsätzlich ganz unterschiedlich ausgestaltet sein. So können sich Lehr-Lernarrangements nach Kade/ Seitter (2005b, S. 51) als „aneignungsvergessene Vermittlung“, „aneignungsfokussierte Vermittlung“ oder als „habitualisierte Selbstpädagogisierung“ (d.h. Aneignung und Vermittlung sind nicht mehr als eigenständige soziale Formen erkennbar) konstituieren. Das Lernen Erwachsener bedeutet damit entweder eher klassische „pädagogische Lernverhältnisse mit Lehren im Zentrum“ oder 16 Nohl (2006) beschreibt den Unterschied zwischen Lernen und Bildung, angelehnt an Marotzki (1990) wie folgt: „Lernen lässt sich demnach als Mehrung von Wissen und Erfahrung innerhalb einer gegebenen Lebensorientierung begreifen, während Bildung als die Subjektivierung durch Transformation solcher Lebensorientierungen definiert wird.“ (S. 20)
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„Selbstbeobachtungs- und Selbstpädagogisierungsverhältnisse mit Lernen im Zentrum“ (Kade 2007, S. 292). Für das, auf das ganze Leben bezogene, lebenslange Lernen gilt, dass es „abgeschwächte Ursachen-Wirkungs-Ketten, sowie eine Pluralität von sozialen Zugängen und individuellen Aneignungsspielräumen“ (Kade/ Seitter 2005a, S. 10) gibt. Dadurch erhöht sich aber die Unsicherheit und direkte Erreichbarkeit für Wissensvermittlung und Lehren. Kompensiert wird diese vermeintliche Schwäche durch die allgegenwärtige Präsenz des Pädagogischen in allen Lebensbereichen, die Erreichbarkeit aller Individuen durch massenmediale Vermittlungsformen und durch die Weiterentwicklung der Steuerungsinstrumente des Überprüfens, Bewertens und Zertifizierens des angeeigneten Wissens. Durch die Programmierung von Lernentscheidungen, die Zertifizierung des Gelernten und die ständige (individuelle oder kollektive) Selbstbeobachtung (in organisatorisch verdichteter oder organisationsdistanzierter Form) werde auf die individuelle Aneignung von gesellschaftlicher aber auch von betrieblicher/ wirtschaftlicher Seite Einfluss auf das Lernen und Nicht-Lernen der Individuen ausgeübt (vgl. Kade/ Seitter 2007a). Diese Steuerungs- und Kontrollelemente erscheinen auf den ersten Blick eher unscheinbar. Aber gerade weil die Beeinflussung eher „reduziert“ (ebenda, S.138) ist, sei sie möglicherweise so effektiv. Das Konzept des lebenslangen Lernens berücksichtigt neben den individuellen Aneignungsdimensionen also auch gesellschaftliche Steuerungsfunktionen und beschreibt ihr Zusammenspiel. Die Entgrenzung des Pädagogischen bedeutet also auch, dass, wo Lehr-Lern-Settings unbestimmt werden, d.h. der Einfluss potentieller Lehrer nachlässt, neue Formen der Einflussnahme etabliert werden. Kade/ Seitter beschreiben den Erfolg des Konzeptes des lebenslangen Lernens als eine entwickelte Form des Umgangs mit dem Paradox der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit pädagogischer Kommunikation. Die Wissensaneignung werde weitgehend verborgen, während das Wissen selbst sichtbar präsentiert und dokumentiert werde (vgl. auch Kade 2007). (Erziehungswissenschaftliche) Untersuchungen zeigen die Praxis des lebenslangen Lernens – anders als der öffentliche Diskurs – dann auch als komplex, vielschichtig, facettenreich, oszillierend und teilweise konflikthaft (vgl. Brödel/ Kreimeyer 2004; Hartz 2004; Herzberg 2004; Schäffer 2003; Seitter 1999, Kade/ Seitter 1996, Himmelsbach 2009). Es gibt positive und negative Effekte, die miteinander verknüpft sind. Da findet man Hoffnung und Zumutung, Erfolg und Scheitern, Gegenwart- und Zukunftsbezug (vgl. Kade/ Seitter 2007a, Kade/ Nittel/ Seitter 2007). So behauptet der öffentliche Bildungsdiskurs, lebenslanges Lernen sei immer Steigerung und bedeute damit mehr Vernunft, mehr Glück, mehr Gerechtigkeit und mehr Freiheit. Empirisch zeigt sich allerdings, dass manchmal nicht
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Steigerung, sondern Kontinuität und die Fortsetzung der bisherigen Lebenspraxis das individuelle Ziel von Lernenden ist. Sie nutzen Lernen als gegenwartsorientierte, stabilisierende und nicht als zukunftsorientierte, Veränderung indizierende Maßnahme (vgl. Kade/ Nittel/ Seitter 2007, Kade/ Seitter 1996). Der öffentliche Diskurs behauptet auch, lebenslanges Lernen sei eine Versicherung gegen die Risiken der Moderne17. Empirisch zeigt sich aber, dass das lebenslange Lernen selber auch Risiken erzeugt. Es gibt Entscheidungszwänge, die das Risiko bergen, sich falsch zu entscheiden. Es gibt das Risiko das Falsche, zu wenig, zu viel oder zur falschen Zeit zu lernen. – Individualisierungs-, Flexibilisierungs- und Globalisierungsprozesse bedeuten für die persönliche Lebensgestaltung eines jeden Einzelnen vielfältige Unsicherheiten. Sich-Verändern und Lernen sind dabei unverzichtbar - doch ist nicht klar, ob dies letztlich ausreicht, die negativen Folgen zu verhindern (vgl. Kade/ Seitter 2007a, Kade/ Seitter 1996). Lebensgeschichtlich folgenreiche Entscheidungen müssen Erwachsene heute fortwährend unter der Bedingung von Ungewissheit, Nichtwissen und Widersprüchlichkeit treffen (vgl. Nittel 2003). So soll ein Erwachsener sein eigenes Leben einerseits penibel planen – sich aber andererseits auch nicht zu ernst nehmen. Er soll einerseits beratungsfähig sein – aber sich andererseits auch nicht zu stark von anderen beeinflussen lassen. Nittel spricht hier von der „hybriden Erwachsenenidentität“ (S.88), für die es keine sichere, konstante und verlässliche Orientierung gebe. Sie müsse unter den Bedingungen außergewöhnlicher Herausforderungen und Entscheidungskrisen immer wieder neu und situativ hergestellt werden. Brödel (2003) weist darauf hin, dass viele Erwachsene mit der Aufgabe konfrontiert sind, eine risikoreicher werdende und enttäuschungsanfälligere Erwerbsbiographie zu managen und ihr einen Sinn zuzuschreiben. Der öffentliche Diskurs beschreibt das lebenslange Lernen des Weiteren als nützliche und geeignete Lernform, um Defizite zu beheben und ein in der Zukunft liegendes, positiv besetztes (Lern-)Ziel zu erreichen. Der Preis dafür sei, dass man in der Gegenwart Verzicht üben müsse (z.B. indem man lernt statt sich zu vergnügen). Doch Untersuchungen zeigen, dass Individuen Bildungsangebote auch nach anderen Gesichtspunkten als zukünftigen Zielen aussuchen. So entstehen in der Praxis Mischformen des Lernens (Verbindung von Lernen mit Spaß, Freizeit, Reisen, Essen, Kunst usw.) deren primäres Ziel der Genuss/ die Befriedigung eigener, aktueller, lernfremder Interessen ist (vgl. Kade/ Nittel/ Seitter 2007; Kade/ Seitter 1996). Menschen wollen nicht nur lernen, sondern auch leben, soziale Kontakte pflegen, reisen, genießen und Spaß haben. Die Etablierung der Idee des lebenslangen Lernens wurde vielleicht auch deshalb zu einer Erfolgsgeschichte, weil die Individuen (unabhängig von den Absichten und 17
Gestaltbarkeit von Welt und eigener Biographie: präventiv oder nachholend nutzbar.
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Wünschen der Verantwortlichen in Gesellschaft, Bildungswesen und Wirtschaft) oftmals ihre eigenen Prioritäten setzen und das Konzept eigenlogisch und zu ihrem eigenen Nutzen mit Leben erfüllen. Da verwundert es nicht, dass Bildungsinstitutionen in dieser bunten, für manche Menschen aber auch unüberschaubaren und nicht-bewältigbaren Welt nicht mehr ausschließlich durch das dort stattfindende Lernen und Lehren bedeutsam sind. Sie werden manchmal auch zu Orten der Entlastung von der Zumutung, das eigene Leben selbst gestalten zu müssen. Damit führt die starke Verbreitung der Idee des lebenslangen Lernens indirekt auch zur Entpädagogisierung der klassischen Bildungsinstitutionen (vgl. Kade/ Lüders/ Hornstein 2004). Die institutionalisierte Erwachsenenbildung entwickelt sich so in Richtung Kultur oder Lebensberatungsinstitution. Es gibt sie also, die individuellen Widerstände gegen die Forderung nach sozial erwünschten Aneignungsleistungen. In verdeckter Form tauchen sie als Tun-als-ob, Selbstbegrenzung, Autonomisierung oder Orientierung an anderen Kriterien auf (vgl. Kade/ Seitter 2007a). Offene Formen des Sich-Verweigerns sind dagegen riskant. Riskante Formen des Sich-Verweigerns können direkt in Konflikte führen. Neben dem Nicht-Wollen gehört das Nicht-Können zu den wenig diskutieren, problematischen Auswirkungen des lebenslangen Lernens. Nicht alle Individuen, die sich dem das ganze Leben durchziehenden Lernen verpflichtet fühlen, können diese Idee auch positiv für sich nutzen. Individuen scheitern z.B. an ihrer unbewältigten Individualisierung, weil sie zu viele Erfahrungen des Nichtgelingens machen mussten, und weil sie die Unterstützung, die sie gebraucht hätten, um sich erfolgreich Wissen und Fähigkeiten anzueignen, nicht erhalten haben18. An den offensichtlichen und vermeintlichen Misserfolgen wird sichtbar, dass auch lebenslanges Lernen nicht ohne geeignete Lernbegleiter auskommt. Es entwickelt sich nicht für jeden quasi von selbst und naturwüchsig. Durch die starke Fokussierung auf Individualität und Selbsttätigkeit ist oft aus dem Blick geraten, dass Menschen diese vermeintliche Freizügigkeit und Offenheit auch als unüberwindbare Hürde erfahren können. Damit stellt sich die Frage nach den ‘neuen’ Lehrern, nach den Besonderheiten der (Wissens-)Vermittlung in der Moderne. Zusammenfassend kann man sagen: In der bildungspolitischen und der gesellschaftlichen Diskussion findet eine sehr einseitige, vereinfachte, normativ geführte und auf die positiven Effekte fokussierte Darstellung des lebenslangen Lernens statt. Diese Engführung macht blind für Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten und Konflikte. Der erziehungswissenschaftliche Forschung/ Bildungsforschung kommt häufig die Aufgabe zu, diesen verengten Blick wieder weit zu 18
.B. Das Leben als ein lebenslanges Lernexperiment: Immer auf dem Weg sein, doch nie ankommen.
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stellen. Daran will ich mich mit meiner Forschungsarbeit beteiligen. Ich erwarte, dass durch die Fokussierung auf Konflikte (und damit auch auf ihre Unterscheidung zu Nicht-Konflikten) die Praxis des lebenslangen Lernens noch weiter aufgehellt werden kann, weil erstens von Menschen in der Moderne erwartet wird, dass sie einen angemessenen Umgang mit Konflikten lernen, weil sich zweitens bei der Durchsetzung des lebenslangen Lernens Konflikte ergeben und weil drittens dem Konzept des lebenslangen Lernens Uneindeutigkeiten/ Konflikte immanent sind. In meiner Arbeit werde ich mich mit Konflikten im Betrieb unter einer erziehungswissenschaftlichen Fragestellung beschäftigen. Es geht im Kern darum, die beiden, sonst getrennt laufenden Diskussionen um die Bedeutung und Zunahme von Konflikten einerseits und um das Lernen und Lehren im Erwachsenenbereich andererseits zusammenzuführen. Mein Interesse ist es, die Chancen und Zumutungen des entgrenzten, lebenslangen Lernens und Lehrens im Umfeld des Betriebs und den sich dort entwickelnden sozialen Differenzen näher zu analysieren. Konflikte gehören zu den Kennzeichen der Moderne und des lebenslangen Lernens. Von der Seite der individuellen Aneignung stellt sich die Frage, wie Individuen, die mit betrieblichen Konflikten umgehen, sich auf Lernen beziehen. Von der Seite der gesellschaftlichen/ betrieblichen/ pädagogischen Steuerung her ergibt sich die Frage, wie eine Steuerung des Lernens im Zusammenhang mit Konflikten durch verdeckte oder offene Formen der Vermittlung und durch Lehren aussehen kann. Ziel meiner Arbeit ist es, die Vielfalt, Vielschichtigkeit und Konflikthaftigkeit der modernen/ heutigen individuellen Umgangsvarianten weiter aufzuhellen. Ich versuche zu erhellen, wie Individuen mit den Chancen und der Zumutung des lebenslangen Lernens unter den erschwerten Bedingungen von Konflikten umgehen – wie Konflikte das Lernen und Lehren Erwachsener beeinflussen.
3.3 Betriebliches Handeln zwischen Arbeiten, Lernen und Konflikten Der immer härter werdende Wettbewerb zwischen den Unternehmen, die zunehmenden Flexibilitätsanforderungen an Mitarbeiter und die weiter ansteigende Arbeitsverdichtung führen in den Unternehmen und Betrieben verstärkt zur Forderung nach ständigem Lernen, Verlernen und Umlernen. Unsicherheiten, SichVerändern und Konflikte sind danach ein selbstverständliches Moment der modernen Arbeitswelt. Die Dauerbelastungen der Einzelnen führen im sozialen Bereich manchmal aber auch zu Situationen, in denen man sich (als verantwortliche Führungsperson) ein Nicht-Eingreifen nicht erlauben kann. Das eigentliche Ziel des betrieblichen Handelns ist und bleibt der wirtschaftliche Erfolg des
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Unternehmens. In diesem Sinne wird auch die Pädagogik in den Betrieben genutzt – zweckfreie Bildung, die ausschließlich der individuellen Vervollkommnung dient, soll es dort (offiziell) nicht geben. Unter den Bedingungen der Globalisierung verändern sich Betriebe heute aber ständig und in immer kürzeren Abständen. Der Kostendruck wächst. Veränderungen und Umbrüche sind oftmals zum Normalzustand geworden. Das betriebliche Management ist schon in vermeintlich ruhigen Zeiten19 mit Hilfe von Instrumenten wie KVP (Kontinuierlicher Verbesserungsprozess), Qualitätszirkel, betriebliches Vorschlagswesen, usw. darauf ausgerichtet, Konventionen zu stören, Veränderungen zu initiieren und das betriebliche Handeln einem kontinuierlichen Veränderungsprozess zu unterwerfen (vgl. Baecker 1997). Das bedeutet, Betriebe nutzen im täglichen Geschäft absichtsvoll herbeigeführte Provokationen, Irritationen und Kleinkonflikte, um Mitarbeiter immer wieder zu Veränderungen, zum Lernen, Verlernen und Umlernen zu motivieren. Um mit höchstmöglicher Flexibilität am Markt reagieren zu können, fordern Unternehmen, heute mehr denn je, die ‘passenden’ Mitarbeiter – den modernen Betriebsmenschen, der teamfähig, flexibel, schlüsselqualifiziert, sich selbst steuernd und immer bereit ist, sich an betriebliche Veränderungszumutungen anzupassen (vgl. Harney 2004). So bleibt der Beruf als Voraussetzung für eine erwerbsbezogene individuelle Veränderung nach wie vor wichtig, reicht aber nicht mehr aus (Harney/ Geselbracht/ Weischet 1999). Er ist lediglich die ‘Eintrittskarte’. Durch den Bedeutungszuwachs des Lernens für die Mitarbeiter im Betrieb und die Bedeutungsverschiebung beim Lernen von Beruf auf Betrieb, sind die Lernerwartungen an die Mitarbeiter auf Dauer gestellt. Es wechseln sich nicht mehr Phasen des Lernens (Ausbildung, Umschulungen, Zusatzqualifizierungen) mit Phasen des Arbeitens ab – es soll einfach immer gelernt werden. Der ideale Mitarbeiter ist also der, der für sich die Idee des lebenslangen Lernens verinnerlicht hat und danach lebt und arbeitet. Kontinuierliche Lernbereitschaft (Lernen trotz Kompetenz) gilt als selbstverständlicher Bestandteil der betrieblichen Rolle und einer modernen Unternehmenskultur (vgl. Kade 2007). Ein kompetenter Mitarbeiter muss sich für die Arbeit im Rahmen eines solchen Systems auch Wissen und Fertigkeiten im Bereich des Umgang mit Forderungen/ Provokationen/ (Klein-) Konflikten aneignen. Zum Anforderungsprofil einer modernen Führungskraft gehören heute selbstverständlich Kommunikationsfähigkeit und Konfliktkompetenz (vgl. von Rosenstiel 2003; Neuberger 2002). Dazu gehört auch, Defizite (bei Mitarbeitern) in einer angemessenen Form anzusprechen und Verbindlichkeit für betriebliches Lernen herzustellen. Da Erwachsene aber grundsätzlich als kompetent und wissend gelten, werden 19
.h. ohne eine spezielle Umbruchsituation nach Verkauf, Unternehmenszusammenschluss oder Aufspaltung
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Defizite eher nicht offen kommuniziert. Kade (2007) nennt es die „Grundparadoxi pädagogischer Kommunikation mit Erwachsenen“ (ebenda, S. 280). Alle verstehen sich als kompetent und trotzdem geht es auch um Defizite.20 Die Bedeutung der hier beschriebenen Entwicklung/ der Zunahme an Anforderungen an alle Mitarbeiter geht über die Erfüllung der eigentlichen, arbeitsvertraglichen Pflichten hinaus. Niemand hat in seinem Arbeitsvertrag stehen, dass er oder sie verpflichtet ist, sich den ständigen Veränderungen anzupassen und fortlaufend zu lernen. Doch Personen, die nicht lernen wollen oder können, sind auf Dauer im Betrieb nicht tragbar. Sich offen den allgegenwärtigen Lernzumutungen zu entziehen, kann im Rahmen der Berufsausübung zur riskanten Maßnahme werden. Nicht lernende Mitarbeiter gefährden die Moral der anderen Lerner und entwerten die betrieblichen Instrumente der Aufrechterhaltung einer allgegenwärtigen Lernbereitschaft. Damit wird es notwendig, gegen bekannte Lernverweigerer (pädagogisch, disziplinarisch oder auch arbeitsrechtlich) vorzugehen21. Konflikte können hier als Maßnahmen der Disziplinierung von Lernverweigerern und der Aufrechterhaltung des Allgemeinverbindlichkeitsanspruchs von Lernen für alle verstanden werden. Eine ungestrafte, lang anhaltende, öffentliche Demonstration von Lernverweigerung könnte das gesamte Steuerungssystem gefährden. Lebenslanges Lernen im Betrieb findet somit immer auch unter Veränderungsdruck und unter (Klein-) Konfliktbedingungen statt22. Die fragile Beeinflussung des (lebenslangen Lernens) von Individuen nimmt in den Betrieben unter dem Primat der Wirtschaftlichkeit und der ständigen Wachstumsforderungen, im Vergleich zu außerbetrieblichen Bereichen, eine verschärfte Form an (gesteuert und kontrolliert wird über Kennzahlen, standardisierte Mitarbeiter-/ Zielvereinbarungsgespräche, Gruppenarbeitskonzepte, Verhaltensrichtlinien usw.). Kade und Seitter (2007a) erklären, dass im Rahmen der 20 Ein beim Erwachsenenlernen typisches Problem ist es, die für das Lernen folgenreiche Defizitkonstruktion vorzunehmen und die Defizitzuschreibungen in der Kommunikation gleichzeitig unsichtbar zu machen. Wenn es um die Etablierung von Lehr-Lern-Verhältnissen im Erwachsenenbereich geht, spielt nach Kade (2007) Kompetenzdemonstration eine große Rolle. Sie sei der von Erwachsenen genutzte Modus der Reaktion auf Annahmezumutungen/ auf Lernerwartungen. Kompetenzdemonstration ermögliche eine Ablehnung der Veränderungszumutung, ohne dass die Ablehnung auch als Ablehnung sichtbar werde. 21 Indem sich Mitarbeiter als Lernende definieren (Selbstpädagogisierung) und stattgefundene Lernprozesse kommunizieren (Kompetenzdemonstration, Zur-Schau-Stellen von Lernfähigkeit und Lernwilligkeit), können Defizite positiv gewertet und betriebliche Selektionsprozesse verhindert oder herausgeschoben werden. (vgl. Kade 2007) 22
gl. dazu auch Baecker (2003) und Kade (2007 „Das Lernen Erwachsener findet grundsätzlich in diesem Spannungsverhältnis statt, weil Erwachsene zunächst immer durch ihr Wissen, ihre Kompetenz bestimmt sind. Lernen ist mit Verlernen verbunden, potentiell hat man es immer mit einem Konfliktverhältnis von Lernen und Verlernen, von Kompetenzdemonstration und Lernzumutung zu tun.“ (Kade 2007, S. 292)
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Ausweitung und Ausdifferenzierung des Konzepts des lebenslangen Lernens eine Annäherung der Erwachsenenbildung an Schule stattgefunden habe und somit die Erziehung Einzug in die Erwachsenenbildung genommen habe. Andere Autoren stellen fest, dass einige Formen betrieblicher Schulungsmaßnahmen keine klassische Weiterbildung sondern eine Form der Erziehung darstellen (vgl. Arnold 1991, Merkens/ Schmidt 1988, Nittel 2003a). Diese Erziehung ziele auf die Übernahme einer bestimmten Unternehmenskultur und/ oder eines bestimmten Wertesystem durch die Mitarbeiter. Nittel (2003a) merkt an, dass unsere Kultur Erwachsenen scheinbar nicht nur lebenslange Bildung, sondern auch lebenslange Erziehung zumute. Wittpoth (1997) unterscheidet lebenslanges Lernen im Modus der Bildung von lebenslangem Lernen im Modus der Erziehung. Egloff (2007) arbeitete am Beispiel eines Wirtschaftsunternehmens und eines Vereins heraus, dass das Management jeweils mit sehr allgemein gehaltenen Lernerwartungen an die Mitarbeiter herantritt. Ziel des Managements sei es, dass die neue Unternehmenskultur/ eine Reflexionskultur für alle Mitarbeiter alltäglich und selbstverständlich werde. Bei den Mitarbeitern solle Einsicht dahingehend erzeugt werden, dass die zugemuteten Veränderungen gut und richtig sind. „Die Einsicht soll dabei zu einer verschärften Selbstbeobachtung und schließlich Selbstpädagogisierung bezüglich der eigenen Professionalität führen. Damit setzen beide Welten [das Wirtschaftsunternehmen und der Verein: Anmerkung M.N.] auf Bildung.“ (ebenda, S. 266). Der Betrieb ist als Untersuchungsgegenstand für eine empirische Arbeit besonders interessant, weil zu erwarten ist, dass die Varianten der Steuerung und die Bedeutung von Vermitteln und Lehren als eine Form der Steuerung im betrieblichen Kontext gut sichtbar hervortreten. Belehrung im Rahmen einer Konfliktintervention (durch nicht offiziell legitimierte Personen) könnte als eine Form der Steuerung des lebenslangen Lernens (im betrieblichen Kontext) sichtbar werden. Die Bedeutung des Mitarbeiters liegt aus ökonomischer Sicht also in seinem Beitrag für das Erreichen der wirtschaftlichen Ziele des Unternehmens. Bei radikaler Umsetzung dieser wirtschaftlichen Sicht auf die Ressource Mensch (Human Ressources) würden Betriebe aber nicht funktionieren23. Nicht wenige betriebliche Umstrukturierungen sind schon gescheitert, weil die Mitarbeiter sie unbemerkt torpedierten, weil sie sich von den zugemuteten Veränderungen bedroht fühlten24. Für einen erfolgreichen Veränderungs- und Anpassungsprozess müssen die sozialen und die Sicherheitsbedürfnisse der Mitarbeiter hinreichend berücksichtigt werden25. Die Mehrheit der Mitarbeiter muss für sich innerhalb 23
gl. Personal- und Organisationsentwicklung: Neuberger (1991)
gl. das Konzept der Mikropolitik; Neuberger (2002) 25
gl. die Bedürfnispyramide von Maslow 24
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des Systems eine subjektiv ‘sichere’ Position finden können. Neben der Selbstverpflichtung zum lebenslangen Lernen und der gezielten, standardisierten und institutionalisierten Steuerung durch das Unternehmen kommen in den Betrieben auch Elemente der (Sozial-) Pädagogik zum Einsatz. Hier öffnet sich ein großes Betätigungsfeld für Betriebsräte. Große Unternehmen haben zusätzlich gelegentlich eine eigene Sozialberatungsstelle, an die sich die Mitarbeiter bei jeder Art persönlicher (privater wie dienstlicher) Probleme wenden können und die (neben dem Betriebsrat) auch hinzugezogen werden kann, wenn es Schwierigkeiten in den Abteilungen gibt. Doch die Quote der Mitarbeiter, die sich durch die ständigen betrieblichen Unsicherheiten und Veränderungserwartungen überfordert fühlen, wird ständig größer. Die Zahl der psychischen Erkrankungen und der Rückenleiden26 nimmt nach Angaben aller Krankenkassen in den letzten Jahren kontinuierlich zu. Burnout und Mobbing gelten genauso wie lebenslanges Lernen als Phänomene unserer Zeit. Aus dieser Perspektive kann man die Frage nach dem Zusammenhang zwischen krankmachenden Konflikten/ Mobbing und Lernen bzw. Lehren stellen27. Bei der Diskussion um Lernen im betrieblichen Arbeitszusammenhang geht es auch darum, wie mit Schwachen/ Kranken/ Unterlegenen umgegangen wird. Auch an dieser Diskussion möchte ich mich im Rahmen meiner Arbeit mit Fokussierung auf Konflikte vs. Mobbing beteiligen. Es werden Fragen bearbeitet wie: Welche Probleme im Betrieb werden unter dem Mobbingbegriff diskutiert? Warum bezeichnet sich jemand als (Mobbing-)Opfer? Wie werden (Mobbing-) Täter bestimmt? Müssen vermeintliche und echte Mobbingbetroffene vom Lernen befreit werden? Benötigen sie spezielle Unterstützung, um trotz massiver Konflikte lernen zu können? Wie zeigt sich die Entgrenzung des Pädagogischen im Zusammenhang mit der Mobbingdiskussion? Ist Mobbing möglicherweise ein Argument, um nicht lernen zu müssen (vgl. dazu Niebuhr 2002)?
3.4 Betriebliche Konflikte als Institutionalisierung von Lernen und Lehren im Kontext des lebenslangen Lernens Es gilt heute als selbstverständlich, dass für und durch Konflikte gelernt werden kann und, dass man in vielen Berufen auch auf diese Art und Weise lernen muss 26
Psychischen Erkrankungen und der Rückenleiden gelten heute als typische Erkrankungen, die durch lang andauernde emotionale Überlastung, Konflikte und Stress entstehen. 27 Vgl. auch die Entwicklung in den Schulen: Mobbing und Leistungsverdichtung haben zeitgleich zugenommen. Die Werte aus der Wirtschaft haben unter der Problematisierung „zu weniger Lehrstellen – unzureichend qualifizierte Abgänger aus dem Schulsystem“ Einzug in die Schule genommen. Lebenslanges, auf die spätere Erwerbstätigkeit ausgerichtetes Lernen ist bereits dort ein Thema.
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(vgl. Mahlmann 2000, Schwarz 2005, Berkel 2008). Es gibt vielfältige Seminarund Beratungsangebote zu Mobbing, Konflikten und dem richtigen Auftreten am Arbeitsplatz und in schwierigen Situationen. Sogar allgemeine Zeitungen und Zeitschriften bringen Aufsätze zum Thema, beklagen Mobbing und geben Tipps für einen angemessenen Umgang mit sozialen Schwierigkeiten am Arbeitsplatz. Wenn über Konflikte im Betrieb gesprochen wird, kommt es in der (betrieblichen) Öffentlichkeit, in der Praxisliteratur und erst recht in der allgemeinen Presse oft zu einer sehr verengten, polaren, einseitigen Zuspitzung. Konflikte werden dann entweder ausschließlich positiv oder ausschließlich negativ gewertet. Beide Positionen nehmen für sich dabei in Anspruch, dass sich ihre Einschätzung auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien stützt. Wie kann man diese Extrempositionen beschreiben, und wie lassen sie sich in die Diskussion um das lebenslange Lernen einordnen? Für die eine Extremposition stehen Konflikte als rationale, rein objektive Entscheidungsprozesse in Vordergrund. Sie sind Teil des kontinuierlichen, unverzichtbaren, betrieblichen Veränderungsmanagements (Kirsch 1977; Simon 1981; Kirsch/ Esser 1975). Unbeherrschbare soziale und emotionale Konflikte hingegen weisen auf Unprofessionalität und Nicht-Lernen-Wollen bzw. NichtLernen-Können von Mitarbeitern und Managern hin. Hier wird oft zwischen positiven Konflikten und (negativen) Störungen (die weitgehend ausgeblendet/ nicht thematisiert werden) unterschieden (vgl. Schwarz 2005). Ziel einer entgrenzten Pädagogik ist es, die Erwachsenen auf eine an den Unternehmensinteressen orientierten Konfliktkultur (die der lernenden, konfliktbereiten Organisation) und Unternehmensphilosophie einzuschwören. Eine Philosophie und die propagierten Ziele gelten so lange als richtig und verbindlich, bis sie durch neue ersetzt werden. Alle Konflikte sind im Kern Sach- und Entscheidungskonflikte. Die richtige Entscheidung müsse sich im Rahmen der Auseinandersetzung herauskristallisieren. Individuelle Konfliktfähigkeit wird als Ergebnis des lebenslangen Lernens bei den Mitarbeitern schon vorausgesetzt. Trotzdem sollen die Mitarbeiter sich in der praktischen, täglichen Arbeit, durch die zweckmäßige Nutzung von produktiven Konflikten, weiterhin (ein Arbeitsleben lang) Kompetenzen und Wissen anzueignen – und zwar für spätere Entscheidungskonflikte, die man heute noch nicht kennt und noch nicht planen kann. Lebenslanges Lernen wird hier als wichtig propagiert, um die guten Konflikte zuzulassen und zu nutzen. Ein guter Konflikt ist nur der, aus dem man etwas für künftige Entscheidungen lernen kann, um die berufliche Tätigkeit noch besser ausfüllen zu können. Hier finden wir eine normative Sicht auf das lebenslange Lernen, die die, der Wirtschaft dienliche Steigerungslogik aufgreift (vgl. Kade/ Seitter 2007a) und zur obersten Maxime für die Konfliktaustragung erhebt. Zur Bedeutung der Selbstbestimmung
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des Subjekts wird in der Regel angemerkt, jeder könne sich seinen Arbeitsplatz ja frei wählen. Man könne sich beruflich ja verändern, wenn einem etwas an der Unternehmenskultur nicht zusage. Die andere Extremposition stellt die negativen Auswirkungen von Konflikten in den Vordergrund. Auch hier handelt es sich um eine normative Ausrichtung. Die Argumentation ist aber nicht wirtschaftslogisch, sondern auf die sozialen Aspekte hin ausgerichtet. In dieser Position werden die sozialen Konflikte auf die Kosten zugespitzt und als Beleg für falsche Arbeitsorganisation, inkompetente Führungspersonen und eine moralische Erosion des Betriebsklimas/ der Unternehmenskultur interpretiert. Aus diesem Blickwinkel werden Konflikte als Bedrohung für das soziale Gefüge des Betriebes, in dem Schwächere immer seltener einen Platz fänden, gedeutet. Konflikte seien Ausdruck eines Wirtschaftssystems, das individuelle und soziale Bedürfnisse negiere. Diese Position schließt beim lebenslangen Lernen an die fragilen Steuerungsinstrumente an (vgl. Kade/ Seitter 2007a) und kritisiert die modernen Methoden der Mitarbeiterführung und des Umgangs miteinander als unangemessene Erziehungsversuche. Die Mitarbeiter könnten sich diesem System eben nicht entziehen, weil der Arbeitsplatz die Grundlage ihrer Existenz bilde. In Zeiten weit verbreiteter Arbeitslosigkeit könnten nur wenige ihren Arbeitsplatz wirklich frei wählen. Damit seien die Mitarbeiter als selbstbestimmte Subjekte durch solche Konflikte bedroht. Die konkreten negativen Auswirkungen werden zum einen in Richtung Mitarbeiter formuliert. Sie würden unter krankmachenden Konflikten, Arbeitsverdichtung und Mobbing leiden. Zum anderen wird der wirtschaftliche Schaden dieser Entwicklung beziffert. Durch Mobbing und Innere Kündigung entstünden den Unternehmen Kosten in dreistelliger Milliardenhöhe (vgl. Gallup 2006). Auch motivierte und leistungsstarke Mitarbeiter, die schließlich frustriert den Betrieb verließen, würden wichtiges Know-how mitnehmen und Kosten verursachen. In der globalisierten, auf Veränderung gestellten Welt der Betriebe sei es deshalb zunehmend wichtig, die negativen Folgen dieser Unsicherheiten und Zumutungen, die durch betriebliche Konflikte nach außen sichtbar würden, zeitnah aufzuarbeiten. Man sei zwar nicht grundsätzlich gegen Veränderungen, die Orientierung an wirtschaftlichen Notwendigkeiten und das lebenslange Lernen – aber die negativen Auswirkungen der Moderne müssten abgefedert werden. Hier wird häufig gefordert, im Interesse der Schwachen, die Mechanismen der neuen betrieblichen Lehr- und Lernkulturen aufzudecken, gezielter zu steuern und ein Sicherheitsnetz für die Schwachen einzurichten. Schwach ist hier nicht wer körperliche Gebrechen hat, sondern wer nicht (mehr) lernen kann. In dieser Diskussion spielen in vielen Betrieben die Betriebsräte eine wichtige Rolle. Sie argumentieren sozial/ moralisch/ politisch und weisen auf die
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Verlierer der Moderne und auch des lebenslangen Lernens hin. Sie fordern immer wieder institutionalisierte Formen der Kommunikation und der Konfliktbearbeitung/ des Konfliktmanagements – eine auch die schwächeren Mitarbeiter schützende betriebliche Konfliktkultur. Sie schalten sich damit in die Steuerung des lebenslangen Lernens ein und fordern eine stärkere Berücksichtigung der sozialen gegenüber den wirtschaftlichen Interessen. Alle Konflikte sind für sie im Kern Wertekonflikte – weil immer den wirtschaftlichen die sozialen Interessen entgegenstünden. Die jetzige Praxis des lebenslangen Lernens schließe Teile der Belegschaft aus und sei deshalb so nicht zu akzeptieren. Damit setzen sie sich oft dem Vorwurf aus, gegen jegliche Veränderungen und damit ‘von gestern’ zu sein. Beide Extrempositionen nehmen auf unterschiedliche Art eine Generalisierung vor. Die erste Position erklärt die Individuen, die sich der Steigerungslogik verpflichten und ständig und überall lernen zum Normalfall. Wenn die Selbststeuerung so hoch ist, werden die Steuerungsinstrumente entweder überhaupt nicht wahrgenommen, oder noch als zusätzliche Motivatoren erlebt, weil sie den, hoffentlich zum eigenen Vorteil ausfallenden Vergleich mit anderen zulassen. Konflikte treten hier beim Ringen um Neues, durch die Konkurrenz zu anderen Leistungsträgern und durch die Auseinandersetzung mit ‘Lernverweigern’ auf. In der zweiten Orientierung wird die Situation der Schwachen, die an den Anforderungen des lebenslangen Lernens scheitern, weil sie unter den aktuellen Bedingungen nicht (mehr) lernen können, verallgemeinert. Wenn der Blick auf die eigenen Defizite gerichtet ist, werden die gesellschaftlichen und betrieblichen Steuerungsinstrumente des lebenslangen Lernens als Bedrohung erlebt. Konflikte stellen hier immer eine Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren, dar. Doch eines verbindet beide Positionen: Lernen und Lehren wird bei der Bewältigung von (betrieblichen) Konflikten in beiden Positionen eine herausragende Bedeutung zugesprochen. Ich habe versucht nachzuzeichnen, dass nicht nur beim lebenslangen Lernen zwischen normativer und empirischer Betrachtungsweise unterschieden werden muss. Auch ein normatives Verständnis von Konflikten ermöglicht nur einen begrenzten Blick auf das Phänomen (vgl. Regnet 2001, Thiel 2003, Bonacker 2008a) – und korrespondiert mit einer jeweils sehr einseitigen Bezugnahme auf lebenslanges Lernen. Wenn in klassischen Konfliktdefinitionen und –theorien zwischen guten und bösen, zwischen produktiven und unproduktiven Konflikten unterschieden wird, klammert man von vornherein einen Teil der empirischen Wirklichkeit aus. Anschließend an die vorangegangenen Überlegungen, werden Konflikte und der betriebliche Umgang mit ihnen im Rahmen dieser Untersuchung als eine hybride Quasi-Institutionalisierungsform von betrieblichem Lernen und Lehren
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betrachtet. Denn auf die unvermeidbaren (oder bewusst indizierten), mehr oder weniger regelmäßig auftretenden Schwierigkeiten/ Konflikte, die durch das lebenslange Lernen und durch die nur bedingte Kompatibilität von sozialen und wirtschaftlichen Zielen im Betrieb auftreten, soll heute (theoretisch/ normativ) mit einem Setting von pädagogisch vorstrukturierten Maßnahmen reagiert werden. Konflikte könnten aus dieser Sicht, individuell bedeutsame Unsicherheitsund Ungewissheitserfahrungen sein, die den Möglichkeitsraum für Pädagogik erweitern. Konflikte sind aber auch, anders als in diesen Extrempositionen sichtbar, ein wesentliches Merkmal dieser neuen, entgrenzten Erwachsenenbildung selbst. Die Erwachsenenbildung kann die Versprechen, bei der Behebung der subjektiven Risiken zu helfen, nicht mehr uneingeschränkt einlösen. Sie ist selbst zu einer risikobelasteten Größe geworden (vgl. Kade 2001). Durch die Konflikte kommt die Risikohaftigkeit und Unsicherheit der modernen Erwachsenenbildung selbst noch genauer in den Blick. Durch die Fokussierung auf Konflikte, wie sie in dieser Forschungsarbeit vorgenommen wird, kann die Erwachsenenbildung somit in doppelter Weise genauer analysiert werden: als Antwort auf die Unsicherheiten der modernen Zeit und als Verunsicherung selbst.
4 Entwicklung der Fragestellung
Diese Forschungsarbeit schließt an eine Pilotstudie28 an. Mein damaliges Interesse resultierte aus der Aktualität des Themas Mobbing29, meiner damaligen Tätigkeit als Seminarleiterin in Konflikt- und Mobbingseminaren und den wenig erfreulichen Ergebnissen der Mobbingstudien zu Auswirkungen von Mobbing bzw. zu Erfolgen bei Interventionsbemühungen (vgl. Zapf/ Knorz 1996 und 1999; Meschkutat u.a. 2002). Schon mit der Pilotstudie habe ich mich von den üblichen quantitativen Forschungen und der strickten Unterscheidung von ‘normalen’ Konflikten von Mobbingfällen abgegrenzt und im Sinne eines subjektorientierten Zugangs (vgl. Kade/ Nittel/ Seitter 2007) direkt an den Wirklichkeitskonstruktionen der Individuen angeschlossen. Die damalige Arbeit konnte zwar einige Fragen beantworten, hat aber auch neue aufgeworfen. Besonders zwei Beobachtungen haben erneut meine Neugier geweckt und auch die Ausrichtung der hier vorgestellten Arbeit stark beeinflusst. Ein Ergebnis war: Es gibt einen Zusammenhang zwischen individueller Konfliktdeutung und der Einstellung zum Lernen bzw. Nicht-Lernen. Ich konnte zeigen, dass nur Personen, die sich selber in ihren Arbeitsplatzkonflikten als handlungsfähig beschreiben, auch von positiven Lernerfahrungen berichten. Fremdhilfe, auch durch institutionelle pädagogische Angebote, zeigte sich nur in diesen Fällen als wichtige Unterstützung. Der Bezeichnung eines Konflikts als Mobbing oder alternativ als Konflikt scheint Einfluss auf Lernen als Möglichkeit des Umgangs mit den Konflikten zu haben. Aus diesen Feststellungen heraus resultiert das Interesse, sich in der neuen Studie die Lernaktivitäten noch genauer anzuschauen und auch die Unterscheidung Konflikte und Mobbingfälle weiter zu verfolgen. Eine zweite Feststellung war: Auch Mobbingbetroffene verfügen manchmal über wichtige Erfahrungen im Intervenieren. Ein Interviewpartner bezeichnete sich vor dem Interview selbst als Mobbingbetroffener – präsentiert im Interview aber sehr ausgeprägt seine Interventionsbemühungen. Dies hatte mich damals zunächst verwirrt. In der Analyse zeigte sich dann, dass in diesem Fall der eigene Betroffenenstatus eine wichtige Voraussetzung fürs Intervenieren darstellt. Auch 28
Niebuhr, M. (2002): Mobbing oder was? - Die Bedeutung von pädagogischen Angeboten bei der Bewältigung von Arbeitsplatzkonflikten 29 le großen europäischen Studien sind bis 2003 datiert
M. Niebuhr, Konflikte im Betrieb, DOI 10.1007/978-3-531-92696-4_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Entwicklung der Fragestellung
Meschkutat u.a. (2002) stellen fest, dass sich ca. ein Drittel der ehemals Mobbingbetroffenen, später im Bereich Mobbingprävention und Mobbingintervention engagieren. Dabei werden sie möglicherweise Jahre später immer noch als (ehemalige) Mobbingbetroffene wahrgenommen. Es scheint so, als könne man das Phänomen Konflikte/ Mobbing nur hinreichend analysieren, wenn man den Blick weit stellt, d.h. neben den Konfliktbetroffenen auch andere Perspektiven und mit einbezieht. Für die Arbeit wird eine doppelte forschungsrelevante Verortung gewählt. Ausgehend von der Konfliktforschung untersuchte ich, unter welchen Bedingungen unterschiedliche Deutungen und Umgangsformen mit Konflikten subjektiv bedeutsam sind. Diese Arbeit gliedert sich außerdem in die Reihe der Untersuchungen ein, die sich mit Lehr-Lernerfahrungen aus der Perspektive der Lernenden und Lehrenden beschäftigen. Aus dieser Perspektive ist es das Ziel, etwas über Vermittlungs- und Aneignungsleistung von Erwachsenen zu erfahren, bei denen Lernen und Lehren als spezifische Formen vorkommen. Die Konflikte tauchen hier als eine, allen gemeinsame, normativ begründete Aufforderung zum Lernen (und Lehren) auf. Es geht um die Frage, welche Bedeutung die Interviewten dem Lernen und Lehren im Vergleich mit anderen Konfliktbewältigungsstrategien zumessen. Aus der Perspektive der Lehr-Lernforschung interessiert, ob und wenn ja, welchen Zusammenhang es zwischen Lernen/ Lehren und Konflikten gibt. Und der Betrieb taucht hier als ein Ort auf, an dem zwar in erster Linie gearbeitet werden soll, der aber im Sinne der Entgrenzungsthese für Mitarbeiter auch zum Lehr- und Lernort geworden ist – und zum Einfalltor für die Pädagogisierung des Lebenslaufs (vgl. Harney 1992, 1998). Die Untersuchung soll einen Beitrag für die erziehungswissenschaftliche Diskussion um die Bedingungen/ Möglichkeiten der Erwachsenenbildung und des Lernens und Lehrens bei Erwachsenen leisten. Sie schließt damit an die immer wiederkehrende Diskussionen über das lebenslange Lernen als Grundvoraussetzung für moderne, risikobelastete Erwerbsbiographien an (vgl. Kade/ Seitter 1996; Kade/ Nittel/ Seitter 2007; Kade 2001; Kade/ Seitter 2007a; Kade/ Seitter 2007b). Die Beschäftigung mit den betrieblichen Konflikten, dem individuellen Umgang mit ihnen und der Nutzung und Nicht-Nutzung von Lernen und Lehren als Bewältigungsstrategien ermöglicht letztlich einen schärferen Blick auf das Thema Erwachsenenbildung/ lebenslanges Lernen. Die Relevanz des Themas ergibt sich aber auch aus der Zunahme von Konflikten in den Betrieben (vgl. Regnet 2001, Glasl 1999 und 2000, Berkel 1999, Esser / Wolmerath 2008, Mahlmann 2000, Naase 1978, Neuberger 1990) und der Ausweitung der pädagogischen Unterstützungsmaßnahmen in Konfliktkontexten. Von Vorgesetzten, Mitarbeitern und Betriebsräten wird heute erwartet, dass sie in Konfliktsituationen kompetent handeln und intervenieren. Meschkutat u.a.
Entwicklung der Fragestellung
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(2002) konnten zeigen, dass fast 70 % der Mobbingbetroffenen Unterstützung beim Betriebsrat und fast 50 % Unterstützung beim Vorgesetzten suchten. Das Angebot an Konflikt- und Mobbingseminaren, Zusatzqualifikationen (für Pädagogen) an Universitäten und Fachhochschulen zu den Themen Coaching, Supervision und Mediation usw. nimmt stetig zu. Und Pädagogen gehen als Moderatoren, Berater oder Mediatoren in die Betriebe (vgl. Berkel 1995, Besemer 2000, Budde 2001, Eyer 2003, Gordon 1992, Haeske 2003, Hösl 2002). Die Fragestellung aus erziehungswissenschaftlicher Sicht lautet allgemein also: In welcher Weise hängen Konflikte mit pädagogisch erziehungswissenschaftlichen Themen zusammen? Und spezifischer: Wie hängen Konflikte mit Lernen und Lehren zusammen? Ziel der Untersuchung ist es, etwas über Lernen und Lehren im Kontext von Konflikten herauszufinden – und zwar auf der Ebene der individuellen Erfahrungen und Deutungen. Lernen und Lehren werden hier im Sinne der Entgrenzung des Pädagogischen als kontinuierliche und reflektierte Aneignung und Weitergabe von Wissen und Fähigkeiten verstanden. Im Mittelpunkt der Dissertation stehen dabei die Konflikte im Betrieb. Es soll untersucht werden, welche Bedeutung zwei unterschiedliche Betriebsgruppen (Konfliktbetroffene und Intervenierende) ihren Konflikterfahrungen vor dem Hintergrund ihrer Biographie und ihrer aktuellen Lebenssituation zumessen und welchen Stellenwert in ihrer individuellen Rekonstruktion Lernen und Lehren einnimmt. Die Grundannahme für das Forschungsprojekt ist, dass beide Gruppen sich diesbezüglich unterscheiden. Da Intervention eine Nähe zum Lehren hat, wird weiter vermutet, dass es auch zum Interventionsinstrumentarium von Intervenierenden gehört. Das Lehren kann der ausschließliche Modus der Intervention sein, es kann aber auch randständig sein (z.B. beiläufiges Lehren, Lehren in Seminaren). Zum Umgang mit Konflikten für Betroffene gehört neben weglaufen, den Betrieb verlassen, kämpfen, leiden usw. auch das Lernen. Lernen ist also ein möglicher Modus des Umgangs mit Konflikten der Betroffenen. Lernen kann die einzige Antwort auf die betrieblichen Konflikte sein – es kann aber auch eher am Rande stehen. Und es wird im Sinne der Entgrenzung des Pädagogischen erwartet, dass Lernen und Lehren nicht zufällig und beliebig auftauchen, sondern dass sich Muster erkennen lassen (vgl. Kade 1997a; Kade/ Lüders/ Hornstein 2004; Kade/ Seitter 2006; Kade/ Seitter 2004). Ziel dieser Arbeit ist es, diese Muster zu identifizieren. In der aktuellen Untersuchung wird mit der Unterscheidung Konfliktbetroffene und Intervenierende gearbeitet. Hierbei handelt es sich um zwei sehr unterschiedliche Gruppen innerhalb des (gleichen) offiziellen als auch des informellen, betrieblichen Konfliktmanagementsystems. Deshalb stellt die Unterscheidung in Bezug auf Rollen und Rollenerwartungen in betrieblichen Konflikten eine maximale Kontrastierung dar. Klassische Intervenierende in den Betrieben
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Entwicklung der Fragestellung
sind Vorgesetzte, Betriebsräte, Schwerbehindertenvertrauensleute und weitere besonders vertrauenswürdige und geschätzte Mitarbeiter. Von ihnen wird erwartet, dass sie Konfliktverläufe positiv beeinflussen. Den typischen Konfliktbetroffenen gibt es zwar nicht, doch einige Mitarbeitern und Führungskräfte machen auch wiederholt massive, eigene Konflikterfahrungen (vgl. Glasl 2004, Berkel 1999). Sie haben sich manchmal konfliktbezogen einen ‘Ruf’ erworben. Daraus resultieren wiederum Erwartungen von Kollegen und Mitarbeiter bezüglich des Verhaltens dieser Personen in schwierigen Situationen. Neben der Kontrastierung von Konfliktbeteiligten und Konfliktintervenierenden, werden im Verlauf der Studie noch zwei Spezifizierungen vorgenommen, um das Wissen über Lernen und Lehren in Konfliktsituationen noch weiter zu vertiefen. Dabei kommen die Betriebsräte – als besondere betriebliche Gruppe, die durch ihr Ehrenamt besonders viel mit Konflikten zu tun hat – und Mobbing als besonders ‘schwere’ Form von Konflikten gesondert in den Blick. Qualitative Forschung ist immer ein zirkulärer Prozess. Am Anfang stehen in der Regel relativ vage formulierte Annnahmen. Es wird zunächst mit eher allgemeinen Fragen das Material aufgebrochen, um schrittweise auf ein höheres Abstraktionsniveau zu gelangen. Eher allgemein wurde gefragt: Wie erzählen die Betroffenen und Intervenierenden von ihren Konflikten? Was und wie erzählen sie vom Umgang mit ihnen? Was streichen sie dabei besonders heraus? Was übergehen oder überspielen sie? Schließlich wurden mit den nachfolgenden konkreten Fragen der Erkenntnisprozess und die Arbeit an den Fällen strukturiert. Wie deuten Individuen ihre (betrieblichen) Konflikte? Was erzählen sie vom Umgang mit Konflikten? Welche Rolle spielen beim Umgang mit Konflikten Lernen und Lehren im Vergleich zu anderen Umgangsformen? Welche Bedeutung haben die betrieblichen Konflikte vor dem gesamten, präsentierten, betrieblichen Hintergrund? Welche Bedeutung haben die betrieblichen Konflikte für außerbetriebliche Bereiche?
5 Methode und Forschungsprozess
Ich werde im folgenden Kapitel die methodologischen Grundannahmen und das methodische Vorgehen darstellen. Ziel dabei ist es, vom Ergebnis her, den Forschungs- und Analyseprozess, der in seinem Verlauf nicht immer klar und geradlinig war, in einer Begründungslogik nachzuzeichnen30.
5.1 Theoretische Annahmen und Konzepte Die Studie knüpft theoretisch an einen „subjektorientierten Zugang“ innerhalb der Erziehungswissenschaften an. Lernprozesse werden dabei nicht aus der Perspektive der Profession oder Institution, sondern aus der individuellen Perspektive der handelnden Subjekte analysiert. Und es wird von einer inhaltlichen Differenz zwischen institutioneller Vermittlung und individueller Aneignung ausgegangen (vgl. Kade/ Nittel/ Seitter 2007). Durch das Aneignungskonzept kommt das von Dauerärger am Arbeitsplatz betroffenen Individuum bzw. das zur Intervention eingeschaltete in den Mittelpunkt. Es geht also um die Innensicht der Beteiligten. Sobald das Forschungsinteresse auf subjektive Wirklichkeitskonstruktionen, individuelle Deutungen und Innensichten sozialer Akteure gerichtet ist, bietet sich die qualitative Sozialforschung als Forschungsstrategie an. Mit ihren Verfahren kann besonders gut die soziale Wirklichkeit analysiert und ihre Komplexität erfasst werden (vgl. Flick/ von Kardorff/ Steinke 2000). Die Entscheidung für die Forschungsstrategie ergibt sich dabei aus der Fragestellung. Das Thema Konflikte, die weitgehende Unerforschtheit individueller Konfliktdeutungen (unter erziehungswissenschaftlicher Fragestellung) und die Komplexität der vermuteten Deutungszusammenhänge erfordert ein forschungspraktisches Vorgehen, das in der Lage ist, komplexe individuellen Deutungen kontrolliert zu erfassen und zu analysieren. Der Forschungsprozess für diese Untersuchung erfolgt deshalb in Anlehnung an die Grounded Theory (Glaser/ Strauss 1967; Strauss 1991). Mein Ziel ist es dabei nicht eine Theorie von Konflikten zu
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gl. zur Darstellungsproblematik qualitativer Forschung (Reichertz/ Soeffner 1994)
M. Niebuhr, Konflikte im Betrieb, DOI 10.1007/978-3-531-92696-4_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Methode und Forschungsprozess
entwickeln. Vielmehr geht es mir um das spezifische Verständnis vom Forschungsprozess und um die Nutzung einiger methodischer Instrumente. Der Forschungsprozess der Grounded Theory ist nicht linear strukturiert. Die Anwendung basiert auf einer offenen und zirkulären Vorgehensweise. Das bedeutet, dass sich Phasen der Datenerhebung und Analyse abwechseln und gegenseitig beeinflussen. Der Ablauf in nicht im Voraus konkret planbar, sondern entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material. So besteht eine Priorität der Daten bzw. des untersuchten Feldes gegenüber theoretischen Vorannahmen. Der Forschungsprozess verläuft auch nicht hypothesengesteuert – es gibt lediglich einige vage Grundannahmen und Fragen, die an das Material gestellt werden. Das bedeutet für die Forscherin, jeden Fall in seiner eigenen Logik zu ergründen, theoretische Erklärungen aus den empirischen Daten zu erschließen und im Laufe des Forschungsprozesses immer wieder zu den Daten zurückzukehren. Theoretische Konzepte werden im Zuge der Analyse von Daten entdeckt und müssen sich wieder an ihnen bewähren (vgl. Hildenbrand 2000). Es geht in meiner Untersuchung also um individuelle Deutungen von Konflikten und deren Bearbeitung, die in einem zirkulären Forschungsprozess aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive analysiert werden. Dabei steht eher wenig erziehungswissenschaftliches Vorwissen zur Verfügung – den Daten wird Priorität eingeräumt. Die Sicht der Konfliktbeteiligten und der Intervenierenden wird mittels thematisch fokussierter Interviews erhoben (vgl. Flick 1995, S.94 ff). Die Datenerhebung erfolgt durch ein Mischung aus „theoretical sampling“ (vgl. Glaser/ Strauss 1967, 1968, 1974, 1998) und Stichprobenplan. Ziel der Untersuchung ist die Konstruktion empirisch begründeter Konflikt-, Lern- und Lehrtypen (vgl. Kelle und Kluge 1999).
5.2 Auswahl der Befragten In der qualitativen Sozialforschung gibt es nicht wie in der quantitativen Forschung Zufallsstichproben, die eine Repräsentativität der Ergebnisse garantieren (sollen). Die mit Hilfe qualitativer Forschungsverfahren gewonnenen Ergebnisse wollen nicht in statistischem Sinne repräsentativ sein, doch sie sollen über die Einzelfälle hinausgehend auf etwas Allgemeineres verweisen. Nicht das Allgemeine im Sinn von repräsentativ, sondern das Besondere ist hier von Interesse. Deshalb stellt die Auswahl der Fälle auch eine spezielle Herausforderung dar. Es müssen die, für die Untersuchungsfragestellung und das Untersuchungsfeld relevanten Fälle ausgewählt werden. Dabei interessieren auch die, die am Rande des Feldes liegen. Zur qualitativen Stichprobenziehung stehen grundsätzlich mehrere
Auswahl der Befragten
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Verfahren zur Verfügung. Ich werde hier auf das theoretical sampling und den qualitativen Stichprobenplan näher eingehen, um zu zeigen, warum für mein Forschungsvorhaben eine Verbindung beider Verfahren sinnvoll erscheint. Beim theoretical sampling (Glaser/ Strauss 1967, 1998) geschieht die Festlegung der Stichprobe durch eine schrittweise bewusste, kriteriengesteuerte Fallauswahl und Fallkontrastierung. Die Analyse des Datenmaterials und die Fallauswahl erfolgen synchron und beeinflusst sich gegenseitig. „Beim theoretical sampling werden Untersuchungseinheiten miteinander verglichen, die eine oder mehrere interessierende Kategorien gemeinsam haben und hinsichtlich theoretisch bedeutsamer Merkmale entweder relevante Unterschiede oder große Ähnlichkeiten aufweisen. Glaser und Strauss sprechen dabei von den Methoden der Minimierung („minimization“) und Maximierung („maximitation“) von Unterschieden.“ (Kelle / Kluge 1999, S. 45).
Durch die Minimierung der Unterschiede entdeckt man ähnliche Daten zu einem bestimmten Thema und findet dadurch die „theoretische Relevanz“ (ebenda, S. 45) bestätigt. Durch die Maximierung von Unterschieden soll die Heterogenität und Varianz des Untersuchungsfeldes abgebildet werden. Der Prozess der Datenerhebung ist dann abgeschlossen, wenn eine theoretische Sättigung erreicht ist, d.h. wenn weitere Fälle keinen Erkenntnisgewinn mehr bringen würden. Diese Methode eignet sich, wegen seines offenen Forschungsdesigns, besonders für explorative Studien, in denen noch sehr wenig über das Forschungsfeld bekannt ist. Wenn die UntersucherInnen am Beginn der Studie bereits über fundierte Arbeitshypothesen, genügend Vorwissen über das Untersuchungsfeld und/ oder weit reichende theoretische Vorüberlegungen verfügen, kann die kriteriengeleitete Fallauswahl anhand eines qualitativen Stichprobenplans erfolgen (vgl. Kelle / Kluge 1999). Dabei werden a priori, d.h. vor der Feldphase, die theoretisch relevanten Kriterien definiert. Vor der Erhebung der Daten müssen beim qualitativen Stichprobenplan31 Festlegungen getroffen werden – erstens über die relevanten Merkmale für die Fallauswahl, zweitens über die Merkmalsausprägung und drittens über die Größe des qualitativen Samples (vgl. Kelle / Kluge 1999). Bei der Konstruktion eines Stichprobenplans spielen klassische soziodemographische Merkmale wie Geschlecht, Beruf, Alter und Bildungsabschluss häufig eine wichtige Rolle. Sie müssen in qualitativen Samples in allen relevanten Merkmalskombinationen vorliegen. Damit soll sichergestellt werden, dass die, für das zu untersuchende Handlungsfeld relevanten sozialstrukturellen Kontextbedingungen bei der Auswahl der Untersuchungseinheiten berücksichtigt werden.
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uch als selektives Sampling bezeichnet (vgl. Schatz/ Strauss 1973)
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Methode und Forschungsprozess
Die Datenerhebung erfolgt in meinem Projekt schließlich durch eine Mischung aus theoretical sampling und qualitativem Stichprobenplan. Wie bei der Entwicklung der Fragestellung gezeigt wurde, existieren im beschriebenen Untersuchungsfeld ‘Konflikte im Betrieb’ eher vage Ausgangshypothesen. Andererseits erfordert das Forschungsdesign unterschiedliche Kontrastierungen. Neben Intervenierende und Betroffene sollen auch Betriebsräte und Nicht-Betriebsräten – und Personen, die von Mobbing erzählen und welche, die von Konflikten berichten, in der Stichprobe vorkommen. Bei der Unterscheidung Intervenierende und Betroffene werden auch allgemeine soziokulturellen Merkmale berücksichtigt. Es wird festgelegt, dass es im Sample ein ungefähres Gleichgewicht von Frauen und Männern und eine große Streuung bezüglich des Alters und der schulischen und beruflichen Bildung geben soll. Es sollen Personen in Vorgesetztenpositionen und einfache Mitarbeiter vertreten sein. Ziel ist eine möglichst heterogene Stichprobe. Wie beim qualitativen Stichprobenplan (vgl. Kelle/ Kluge 1999, S.46) wird deshalb anhand vor der Datenerhebung festgelegter Vergleichsdimensionen eine vorläufige, ungefähre Stichprobenzusammensetzung bestimmt. Wie beim theoretical sampling (Glaser/ Strauss 1998; vgl. auch Kelle/ Kluge 1999, S.44) werden aber auch noch während der Auswertung weiter Vergleichsdimensionen - z.B. Einbeziehen der außerbetrieblichen Lebenswelt - für neue Interviews entwickelt. Für die Unterscheidung Betriebsräte vs. Nicht-Betriebsräte muss außerdem eine heterogene Gruppe von Betriebsräten in der Stichprobe berücksichtigt werden. Hier wird darauf geachtet, dass sowohl Betriebsräte im Sample sind, die sich als Konfliktbetroffene begreifen als auch solche, die sich als Intervenierende präsentieren. Es sollen außerdem verschiedene Branchen und unterschiedlich große Gremien, vollständige freigestellte Betriebsräte (hauptberuflicher Betriebsrat) und solche, die nur zeitweise, für konkrete Betriebsratstätigkeiten freigestellt werden, Betriebsräte in Führungsfunktionen (Vorsitzender/ Stellvertreter) und einfache Betriebsratmitglieder in der Stichprobe vertreten sein. Weitere Kriterien, die für die Heterogenität der Stichprobe wichtig sind, sind zwar vom Grundsatz her im Voraus klar, doch kann hier die Zuordnung erst nach dem Interview und der ersten Sichtung des Materials vorgenommen werden. Diese Kriterien sind: die Rolle in der betrieblichen Hierarchie im Kontext der erzählten Konflikte (Mitarbeiter, Vorgesetzter, Personalabteilung und Betriebsrat), das Ausmaß der erzählten Konfliktgeschichten/ die ‘Schwere’ des Falls (leicht, mittelschwer, schwer), die dominierende Rolle des Interviewten in den Konflikten (Mobbingopfer/ Konfliktbeteiligter, Mobber, Intervenierender) und die Zuordnung der Fälle nach der individuellen Einordnung durch den Interviewten als Konflikt- bzw. Mobbingfall.
Auswahl der Befragten
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Wie sind schließlich die realen Personen für diese Untersuchung gefunden worden, die sich selber als Konfliktbetroffene oder Konfliktintervenierende sehen bzw. von anderen so bezeichnet werden – und die zu einem Interview bereit sind? Die Forscherin äußert bei allen sich bietenden Gelegenheiten, dass sie Interviewpartner suche. Durch unverbindliches Streuen von Informationen, durch die Kontaktvermittlung durch Personen in Schlüsselpositionen (Vorgesetzte, Personalverantwortliche, Betriebsräte), durch direktes Ansprechen von Personen, die in Seminaren, Tagungen, informellen Treffen von ihren betrieblichen Konflikten erzählten – und durch den allgemeinen Schneeballeffekt kann ich genügend Interviewpartner finden. Je weiter sich die Datenerhebung dem Ende nähert, um so mehr suche ich gezielt aus, frage in Betrieben und bei mir bekannten Betriebsräten gezielt nach (z.B. nach Personen in Vorgesetztenpositionen). Ich habe schließlich zwischen Mai 2001 und Juli 2005 insgesamt einundzwanzig Interviews geführt – zwölf mit Konfliktparteien und neun mit Intervenierenden. Dreimal zwei Personen kennen sich und kommen jeweils aus demselben Betrieb (Cora und Christine, Josef und Anna, Nils und Elena). Datenerhebungsphase und Analysephase wechselten sich ab und beeinflussten sich gegenseitig. Die Auswahl der Interviewpartner richtet sich nach den vorher festgelegten Gesichtspunkten, nach während des Forschungsprozesses noch hinzukommenden Kriterien und auch nach den praktischen Möglichkeiten. Eine maximale Kontrastierung erfolgt zunächst durch die Festlegung der Untersuchungsgruppen (Konfliktbeteiligte/ Intervenierende), durch äußere Kriterien und durch die bei der Analyse der bereits geführten Interviews entwickelten Vergleichdimensionen. Als Datenmaterial stützt sich die Arbeit auf zwei Interviewserien. Fünf Interviews sind bereits für die Pilotstudie geführt worden. Damals wurde aber lediglich nach einem einzigen, zentralen Konflikt und nur nach dem Betroffensein gefragt. Die Interviewten Rolf, Beate und Josef berichteten damals erwartungsgemäß ausschließlich von einem einzigen Konflikt. Anna dagegen erzählte eine umfangreiche Konfliktgeschichte, die im Rahmen der aktuellen Analyse für die neue Studie einem anderen Konflikttyp (als die Fälle Rolf, Beate und Josef) zugeordnet werden muss. Und Dorit, der fünfte Fall aus der ersten Interviewserie, präsentierte ihren Fall als Beispiel für einen Rollenkonflikt ‘Kind und Karriere’ – dieser Fall kann in der hier vorgestellten Studie dem dritten Konflikttyp zugeordnet werden. Der damalige engere Leitfaden ließ den Interviewten also die Möglichkeit, ihre Geschichte in einen selbst gewählten, beruflichbetrieblichen und außerbetrieblichen Kontext einzuordnen. Umgekehrt kann man sagen, auch der umfangreichere Leitfaden aus der zweiten Interviewserie führt dazu, dass einzelne Interviewte lediglich von einem einzigen Konflikt berichten. In der zweiten Interviewserie wird jede Person aufgefordert, mehrere Konflikte
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Methode und Forschungsprozess
zu erzählen, sich aus der Betroffenen- und Intervenierendenperspektive zu präsentieren. Doch trotz wiederholten Nachhakens präsentieren zwei Interviewte (Christine und Max) genau einen einzigen zentralen Konflikt in dem sie ausschließlich das Betroffensein aufgreifen. Bei der Ein-Konflikt-Erzählung handelt es sich also, unabhängig von den konkreten Nachfragen eines Interviewers, um einen bestimmten Typus der individuellen Konfliktdeutung. Das heißt nicht, dass diese Personen nur einen einzigen Konflikt erlebt haben, aber sie fokussieren bei ihrer individuellen Einordnung von betrieblichen Konflikten auf diesen einen. Erst durch die fortschreitende Analyse im Rahmen der hier vorgestellten Untersuchung wird klar, dass die Interviews aus der ersten Interviewserie als Ergänzung der sechzehn neuen Interviews herangezogen werden können.
5.3 Erhebung der Daten durch Interviews Im Zentrum der Studie stehen offene, thematisch fokussierte Interviews mit Konfliktbetroffenen und Intervenierenden (vgl. Flick 1995, S. 94 ff), die orientiert an einem lockeren Leitfaden mit Erzählaufforderung geführt werden. Dieser Typ des Interviews nimmt eine Zwischenstellung zwischen sehr offenen Formen (z.B. dem narrativen Interview) und stärker strukturierten Formen (wie z.B. dem Leitfadeninterview) ein und eignet sich gut, die Sichtweisen, Erfahrungen und Wirklichkeitskonstruktionen von Individuen zu erheben. In den Leitfaden fließen die vagen theoretischen Vorannahmen, die Forschungsfragestellungen und allgemeine Alltagskonzepte vom Zusammenhang zwischen Konflikten und Lernen/ Lehren, die zu Beginn der Untersuchung vorhanden sind, ein. So werden durch die Festlegung eines qualitativen Interviewleitfadens bereits schwache Vergleichsdimensionen eingebracht. Dies widerspricht eigentlich den Grundsätzen der Grounded Theory. Doch ist der qualitative Interviewleitfaden hier kein starres Gebilde. Er erfährt durch die Erfahrungen aus den bereits geführten Interviews und die parallel durchgeführten Analysen der ersten Interviews Änderungen und Erweiterungen. Wie wird ein solch qualitativer Interviewleitfaden aber professionell eingesetzt? Wie kann sichergestellt werden, dass nicht zu viel Einfluss auf den zu Interviewenden ausgeübt wird? Die befragte Person wird zunächst durch die Erzählaufforderung ermuntert, ihre eigene Sichtweise und ihre Deutungen einzubringen. Daran schließen die Nachfragen der Interviewerin an. Themen, die vom Interviewten selbst eingebracht werden, werden durch Nachfragen vertieft (vgl. Hopf 1978, Kelle / Kluge 1999). Eine feste Reihenfolge für die Bearbeitung der Fragen gibt es nicht. Der Interviewleitfaden dient hier nur als Gedächtnis- und Orientierungsrahmen. Neben der Offenheit des Interviews ist die Auswahl des richtigen Analyseverfahrens für
Erhebung der Daten durch Interviews
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die Fallinterpretationen wichtig. Durch eine starke Konzentration auf die Eingangsequenz (den Teil des Interviews, der an die Erzählaufforderung anschließt), wie es bei der Auswertung durch die hier angewandte Sequenzanalyse üblich ist, wird die steuernde Wirkung des Leitfadens nochmals abgeschwächt. Diese theoretischen Überlegungen bedeuten für meine Untersuchung konkret, dass die Interviews den thematischen Schwerpunkt Arbeitsplatzkonflikte haben, aber auch für weitere Themen, die durch die Interviewten eingebracht werden, offen sind (vgl. Flick 1995, 94ff). Als Gesprächseinstieg dient eine Erzählaufforderung, die ungefähr folgendermaßen lautet: „Ich interessiere mich für Ihre Erfahrungen mit schwierigen Situationen/ mit Konflikten im Betrieb. Was haben Sie Besonderes/Interessantes erlebt? Erzählen Sie einfach mal.“ Mit Hilfe eines Leitfadens werden die Themenbereiche ‘Konflikte als Betroffene(r)’, ‘Konflikte als Intervenierende(r)’ und berufsbiographische Aspekte in jedem Interview angesprochen. Auf die von den Interviewten eingebrachten Themen wird mit Nachfragen reagiert. Nachdem in den ersten Interviews einige Interviewte auch den außerbetrieblichen Bereich stark in ihre Erzählungen mit einbeziehen, wird der Leitfaden diesbezüglich erweitert. Umgekehrt ist die Interviewerin später auch nicht mehr überrascht, wenn einzelne Interviewte auf die Frage nach Konflikten mit ihnen als Intervenierende keine Antwort geben können. Die Interviews finden entweder bei den Interviewten zu Hause, in Betriebsratsbüros, im heimischen Büro der Forscherin oder am Rande von Seminaren oder gewerkschaftlichen Treffen statt und werden auf Minidisc aufgezeichnet. Alle Interviews werden von mir persönlich geführt. Ich schreibe an jedes Interview anschließend ein Interviewprotokoll. Beim ersten, groben Überblick über alle Interviews fällt auf, dass die Interviewerin sich mit einigen Interviewten duzt und, dass da ein vertrauter kumpelhafter Umgangsstil vorherrscht. In anderen Interviews ist der Umgangsstil distanzierter und es wird sich gesiezt. Das ‘Du’ ist nicht durch eine besondere Nähe zu den interviewten Personen bedingt, sondern durch die allgemein kollegialen Kommunikationsgewohnheiten im gewerkschaftlichen und betriebsrätlichen Umfeld, aus dem ein Teil der Interviewten stammt. Im Verlauf der Analysetätigkeit hat eine komplette Loslösung von den hinter den Interviews stehenden Personen stattgefunden. Deshalb spielen das ‘Du’ und das ‘Sie’ bei der Vorstellung der Untersuchung keine Rolle mehr. Es sind nur noch Fälle, die durch die Interviewtranskriptionen repräsentiert werden und die über die Vornamen unterschieden werden (der Fall Rolf, der Fall Anita, der Fall Cora usw.).
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Methode und Forschungsprozess
5.4 Kriteriengesteuerte Fallauswahl. Sequenzielle Feinanalyse Für die Auswertung einzelner Fälle ist im Rahmen der qualitativen Sozialforschung die Sequenzanalyse ein übliches und bewährtes Verfahren (vgl. Lüders/ Meuser 1997, S. 68). Es werden in dieser Studie Kontrastfälle ausgewählt, transkribiert und sequenzanalytisch interpretiert (vgl. Gerhard 1991, Knorr-Cetina 1984, Witzel 1985, Kelle / Kluge 1999), um die subjektiven, individuell gedeuteten Konflikterfahrungen herauszuarbeiten. Nach dem Prinzip der minimalen und maximalen Kontrastierung (vgl. Strauss 1991) werden die Ergebnisse aufeinander bezogen und verglichen. Es werden durch die Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden unterschiedliche Deutungszusammenhänge ermittelt und erste Muster beschrieben. Für das Aufspannen des Feldes soll also mit Kontrasten und Eckfällen gearbeitet werden. Um etwas über die Bedeutung von Lernen und Lehren in Konflikten sagen zu können, muss man erstens Intervenierende und Beteiligte (Betroffene/ Erleidende) heranziehen. Die Vertreter dieser unterschiedlichen Gruppen im betrieblichen Konfliktmanagementsystem sind vor dem Führen der Interviews erkennbar. Die Personen charakterisieren sich vorab persönlich in der einen oder anderen Weise. Durch diese erste Unterscheidung wird das Feld aber noch nicht spezifisch genug abgebildet, deshalb wird eine zweite Unterscheidung eingeführt. Man muss außerdem zweitens zwischen Fällen, in denen Konflikte eine große Rolle, und denen in denen Konflikte eine nicht so große Rolle spielen, differenzieren. Diese Unterscheidung wird erst im Laufe des Forschungsprozesses durch die schrittweise Sichtung der geführten Interviews durch die Forscherin möglich. Aus diesen Überlegungen ergeben sich die Bedingungen für die zweite Kontrastierung: Es wird mit je zwei Fällen für Intervenierende und Beteiligte gearbeitet. Innerhalb jeder Gruppe gibt es einen ‘schwachen’ und einen ‘starken’ Fall. Die Auswahl der vier Eckfälle erfolgt schrittweise und parallel zur laufenden Datenerhebung. Die Entscheidung für den nächsten Eckfall fällt jeweils auf der Grundlage der vorherigen Sequenzanalyse und einer relativ genauen Kenntnis der Gesamtheit der zum Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Interviews. So wird mit der Intervenierenden Cora G. (dem ‘starken’ Fall) begonnen. Es folgt aus der Gruppe der Konfliktbetroffenen Isolde S. (ebenfalls der ‘starke’ Fall). Daran schließt die Analyse des ‘schwachen’ Betroffenenfalls (Rolf R.) an. Den Abschluss bildet der ‘schwache’ Intervenierendenfall Rico K. Durch diese Vorgehensweise ist die Wahrscheinlichkeit, die richtigen Fälle ausgesucht zu haben, relativ hoch. Im schlimmsten Fall kann eine weitere Fallanalyse notwendig werden, wenn ich feststellen muss, dass ein wichtiger Aspekt noch nicht berücksichtigt ist.
Erste grobe Datenauswertung
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Bei der Interpretation der vier Eckfälle werden jeweils die Eingangssequenzen einer sequenziellen Feinanalyse unterzogen (vgl. Ganz/ Kaimer 1994), um jeweils das konfliktfokussierte Leitmotiv des Falls herauszuarbeiten. Bei diesem Verfahren werden die Äußerungen im Interview Zeile für Zeile unter der Frage, wie reden die Interviewten über ihre Konflikterfahrungen, untersucht. Ziel ist es, die individuellen Deutungen und Bedeutungszusammenhänge aufzuspüren. „Die Sequenzanalyse geht dabei von der Annahme aus, dass jede Aussage erst im Kontext und in ihrem tatsächlichen zeitlichen Verlauf verständlich wird und durch eine sukzessive Interpretation langsam eine Struktur des Gesagten sichtbar gemacht werden kann. Da sich diese Struktur des Interviewtextes bereits in den ersten Zeilen herausbildet, ist es sinnvoll, mit der Eingangssequenz zu beginnen.“ (Egloff 2002, S. 72)32
Die aus der Eingangsequenz gewonnen Erkenntnisse und Vermutungen werden für die weitere weitflächigere Interpretation des restlichen Interviews genutzt. Dieser Teil der Sequenzanalyse wird außerdem durch die vier, am ersten Fall (Cora G.) ermittelten Kategorien (1.) Deutung der individuellen, betrieblichen Konflikte, (2.) Art und Weise des Umgangs mit diesen Konflikten – und die Bedeutung von Lernen und Lehren in diesem Kontext, (3.) Einordnung der erzählten, betrieblichen Konflikte in einen allgemeinen beruflich/ betrieblichen Kontext und (4.) Einordnung der eigenen betrieblichen Konflikterfahrungen in einen außerbetrieblichen Bereich, gesteuert. Abschließend werden über die Feststellung fallübergreifender Ähnlichkeiten und Unterschiede erste Muster beschrieben. In der hier vorgestellten Untersuchung repräsentieren die vier analysierten Fälle drei unterschiedliche Deutungen von betrieblichen Konflikten.
5.5 Erste grobe Datenauswertung Bereits nachdem das erste, neue Interview (Cora G.) geführt ist, beginnt die Analysephase. Es wurde zunächst anhand dieses Falls getestet, welche Möglichkeiten für die Auswertung gegeben sind und ob die Fragestellung anhand des Materials überhaupt bearbeitet werden kann. Deshalb wurde zunächst dieses eine Interview und später noch weitere in Gänze transkribiert33. Von allen Interviews 32
gl. auch Knorr-Cetina (1984): Eingangssequenz als Ort der Relevanz-Inszenierung. Bei der Transkription werden alle Personen-, Städte- und Firmennamen anonymisiert. Es werden Abkürzungen genutzt. So steht I. für die Interviewerin, die Interviewten werden durch den Anfangsbuchstaben des Vor- und des Nachnamens gekennzeichnet (z.B. A.A. für Anna A.). Die Äußerung ‚Äh hä‘ bedeutet ‚ja‘. - ‚Ne‘ bedeutet ‚nicht wahr‘ (Bestätigung suchend) oder ‚eine‘. Und ‚Nee‘ steht für ‚nein‘. Die Regeln für die Kennzeichnung von Stocken im Redefluss sind: (.) steht für eine kurze Pause oder Verzögerung, (..) markiert eine längere Pause und 33
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Methode und Forschungsprozess
werden im Laufe des Forschungsprozesses zumindest Teiltranskriptionen angefertigt. Fortlaufend werden von allen neu geführten Interviews thematische Überblicke und Zusammenfassungen angefertigt. Da die Datenerhebung und die Auswertung parallel verlaufen, befruchten sich die neu geführten Interviews, die Zusammenfassungen und die Arbeit (die Sequenzanalyse) an einem konkreten Fall gegenseitig. So werden schließlich die Themen und die Schwerpunkte für die vier Fallanalysen herausgearbeitet. Diesen Prozess kann als einen endlosen Suchprozess mit vielen Irrwegen beschrieben werden. Alle Klassifizierungen, die in der Konfliktliteratur zu finden sind, zeigten sich als wenig hilfreich. Ich probierte immer wieder neue Strukturierungen aus und musste sie wieder verwerfen. Schwierig war, dass es sich in den Interviews nicht um einzelne Konflikte, sondern um komplexe Konfliktgeschichten handelt, in denen ganz unterschiedliche Vorfälle zur Sprache kommen und in einen Zusammenhang gebracht werden. Dadurch scheint es lange Zeit, dass die Fälle überall oder nirgends einzuordnen sind. Am Ende dieses Suchprozesses kristallisieren sich dann doch die Kategorien heraus, die die Interviews bearbeitbar und die Fälle unterscheidbar machen. Erst an dieser Stelle im Forschungsprozess sind die relevanten Fragen an den Text, die eigentlichen Forschungsfragen, wie ich sie bereits unter ‘Entwicklung der Fragestellung’ vorgestellt habe und mit denen das übrige Material aufgeschlossen werden soll, klar zu benennen. Diese Kategorien werden schließlich sowohl für die Sequenzanalysen der restlichen Eckfälle, als auch für die Fallportraits der übrigen Interviews genutzt. Im Einzelnen geht es dabei um die Bedeutung und den Umgang mit betrieblichen Konflikten. Hier können Einzelkonflikte und Konfliktketten/ umfangreichere Konflikte unterschieden werden. Bei der Einordnung in den beruflich/ betrieblichen Kontext kann zwischen Einzelereignis, begrenzter Konflikt und Konflikt als Zustandsbeschreibung für die gesamte Arbeitswelt unterschieden werden. Im außerbetrieblichen Bereich wird zwischen Konflikten und NichtKonflikten unterschieden.
(...) zeigt, dass es an dieser Stelle zu länger andauerndem Schweigen kommt. Besondere Geräusche wie Lachen, Weinen, Klopfen, etc. werden in Klammern geschrieben, dem gleichzeitig gesprochen Text vorangestellt (z.B. (klopft rhythmisch auf den Tisch) und da hab ich ihm gesagt...). Worte die mit besonderer Betonung gesprochen werden, werden durch Unterstreichen herausgehoben. – Durch […] werden Textauslassungen gekennzeichnet. - Die Zeilenangaben im Text beziehen sich immer auf die Originalnummerierung im Anhang. Die Textstellen sind durch die Angabe von Seiten und die Zeilen (z.B. 5:15) den Originaltranskripten der Interviews eindeutig zuzuordnen.
Herstellen einer Ordnung durch Einbeziehen des gesamten Datenmaterials
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Ein Ziel dieser Arbeit ist es, Aussagen über die Bedeutung von Lernen und Lehren in Konfliktsituationen zu machen. Doch wie kann aus einem Interviewtext auf Lernen und Lehren geschlossen werden? Das Lernen ist ein innerpsychischer Prozess und damit weder im Konflikt noch im Interview direkt beobachtbar. Wie kann dann ausgehend von den Äußerungen im Interview auf zurückliegende Lernleistungen geschlussfolgert werden? Erst wenn Lernen/ Lernerfolge/ Lernhindernisse usw. kommuniziert werden (z.B. indem im Interview darüber geredet wird, explizit auf Verhaltensänderungen in Folge von Lernen in Konflikten hingewiesen wird) wird dieser innerpsychische Prozess für einen Beobachter greifbar. Empirische Befunde zeigen, dass beim lebenslangen Lernen die Aneignung generell eher unsichtbar/ nicht beobachtbar gemacht wird. Dagegen werde auf Wissensdemonstration (Kommunikation der Ergebnisse, Bekenntnis ein lebenslanger Lerner zu sein) viel Wert gelegt (vgl. Kade/ Seitter 2007b). Auch das Interview ist ein Ort, an dem Wissen nach außen markiert wird und wo auch auf zurückliegende Lernprozesse, mehr oder weniger direkt, hingewiesen wird. Es stellt sich also die Frage, mit welcher Methode Äußerungen aus Interviewtranskriptionen analysiert werden können, um teilweise verdeckte Hinweise auf bedeutsames Lernen sichtbar zu machen. Schließlich werden von allen Interviews auf Lernen (und auf Lehren) bezogene Fallportraits erstellt. Damit werden die Interviews (im Vergleich zu dem, was die Interviewten in ihre Berichte hineinlegten) in eine andere Ordnung gebracht. Sie werden quasi gegen den Strich gelesen. Wissensvermittlung bzw. Lehren kann in institutioneller, massenmedialer und in alltäglicher Form stattfinden (vgl. Kade/ Seitter 2005a; Hof 2003). Während der Begriff der Wissensvermittlung eher weiter gefasst ist, ist für die Definition von Lehren klar, dass Wissen und/ oder Werte durch eine Person mit pädagogischer Absicht vermitteln werden (müssen). Lehren ist im Interaktionszusammenhang grundsätzlich immer beobachtbar. Im Interview ist man dagegen ebenfalls darauf angewiesen, durch die spezielle Technik des auf Lehren bezogenen Fallportraits die in der Vergangenheit stattgefunden, im Zusammenhang mit Konflikten als bedeutsam angesehene Lehraktivitäten nachträglich sichtbar zu machen.
5.6 Herstellen einer Ordnung durch Einbeziehen des gesamten Datenmaterials Der an die Analyse der vier Eckfälle anschließende Analyseschritt hat das Ziel, die restlichen Interviews in die noch grobe Ordnung einzufügen, sie empirisch zu füllen und somit das Untersuchungsfeld in seiner Gesamtheit abzubilden. Fälle
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werden einerseits zur Bestätigung und andererseits zu einer weiteren Differenzierung hinzugezogen. Dieser Schritt ist ein arbeitsreicher Zwischenschritt und dient der Vorbereitung der Typenbildung. Dafür werden von allen Interviews auf Lernen und Lehren zugespitzte und an den vorher ermittelten Kategorien orientierte Fallportraits erstellt. Für diesen Schritt werden die Interviews mit den Betroffenen und den Intervenierenden gemeinsam betrachtet, weil die Analyse der vier Eckfälle die anfängliche Grundannahme, beiden Gruppen würden sich unterscheiden, ins Wanken gebracht hat. Die Fälle werden anschließend den drei, durch die Analyse der Eckfälle ermittelten, grundlegenden Konfliktmustern zugeordnet. Abschließend werden die drei Konfliktmuster genauer beschrieben, indem Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgestrichen werden. Es entsteht auf der Ebene der Konfliktdeutungen eine erste grobe Ordnung.
5.7 Von der Einzelfallanalyse zur Bildung von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen Kelle und Kluge nennen den letzten Schritt auf dem Weg vom Einzelfall zum Typus die „Konstruktion empirisch gegründeter Typologien“ (1999, S. 75). Innerhalb der qualitativen Sozialforschung spielt die Typenbildung eine entscheidende Rolle, weil man damit komplexe soziale Zusammenhänge erklären, verstehen und in gewisser Weise auch verallgemeinern kann. Darüber hinaus dient die Methode auch der Theoriebildung (vgl. Egloff 2002, Nohl 2006, Kelle / Kluge 1999). Unter einer Typologie ist nach Kelle & Kluge (1999) das Ergebnis eines Gruppierungsprozesses zu verstehen, bei dem ein Objektbereich anhand eines oder mehrerer Merkmale in Gruppen bzw. Typen eingeteilt wird, „so dass sich die Elemente innerhalb eines Typus möglichst ähnlich sind (interne Homogenität auf der „Ebene des Typus“) und sich die Typen voneinander möglichst stark unterscheiden (externe Heterogenität auf der „Ebene der Typologien).“ (Kelle / Kluge 1999, S. 78) Aus der Kombination aus Kategorien/ Merkmalen und ihren Subkategorien/ Ausprägungen ergibt sich für jede Typologie ein Merkmalsraum, welcher mit Hilfe von Mehrfeldertafeln mit all seinen theoretischen Kombinationsmöglichkeiten sichtbar wird. Kelle und Kluge teilen den Prozess der Typenbildung in vier Teilschritte ein (ebenda, S.81): (1.) Erarbeiten relevanter Vergleichsdimensionen, (2.) Gruppierung der Fälle und Analyse empirischer Regelmäßigkeiten, (3.) Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge und (4.) Charakterisierung der gebildeten Typen. Bei der „Erarbeiten relevanter Vergleichsdimensionen“ (ebenda, 1999, S.81) geht es darum, die Kategorien/ Merkmale zu definieren, mit deren Hilfe die Ähnlichkei-
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ten und Unterschiede zwischen den Untersuchungselementen beschrieben werden können. Dazu gehört auch die Dimensionierung, d.h. die Bestimmung der relevanten Subkategorien und Merkmalsausprägungen. – Bei der „Gruppierung der Fälle und Analyse empirischer Regelmäßigkeiten“ (ebenda, 1999, S.81) geht es um die konkrete empirische Verteilung der Fälle auf die Merkmalskombinationen. Die konkreten Fälle werden nach den vorher definierten Vergleichsdimensionen im Merkmalsraum eingeordnet. Auf der Ebene des jeweiligen Typs, d.h. bei Fällen, die der gleichen Merkmalskombination zugeordnet sind, muss interne Homogenität vorliegen. Auf der Ebene der Typologie, d.h. in Abgrenzung zu den anderen Merkmalskombinationen muss dagegen externe Heterogenität vorliegen. Auf dieser Auswertungsstufe geht es also wieder um Fallkontrastierung und um die Überprüfung, ob innerhalb eines Typs genügend Ähnlichkeit besteht und die Typen voneinander trennscharf unterschieden werden können. – Im dritten Schritt „Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge“ (ebenda, 1999, S.81) geht es darum, die vorher beschriebenen Zusammenhänge auch zu erklären, d.h. sie zu verstehen. Um die inhaltlichen Sinnzusammenhänge zu analysieren, die den empirisch vorgefundenen Gruppierungen zugrunde liegen, müssen die Kombinationsmöglichkeiten im Merkmalsraum verdichtet, d.h. zu wenigen aussagekräftigen Typen zusammengeführt werden. – Abschließend erfolgt die „Charakterisierung der gebildeten Typen“ (ebenda, 1999, S.81). Die vorher konstruierten (endgültigen) Typen werden jetzt anhand ihrer Merkmalskombinationen und der inhaltlichen Zusammenhänge charakterisiert. Ich folge in meinem Forschungsprojekt der von Kelle & Kluge beschriebenen vierstufigen Vorgehensweise. Die Typenbildung mündet in meiner Untersuchung zunächst in drei ‘einfache’ Typologien. Die Konflikttypologie ist durch drei Konflikttypen gekennzeichnet. Die Lehr- und die Lerntypologie umspannt jeweils sechs unterschiedliche Typen. In einem nächsten Schritt wird nach Zusammenhängen zwischen verschiedenen Konflikt-, Lern- und Lehrtypen gesucht. Im Einzelnen geht es um die Zusammenhänge zwischen Konflikt- und Lerntypen, Konflikt- und Lehrtypen, Lern- und Lehrtypen und Konflikt-, Lern- und Lehrtypen. Die eher lockeren Zusammenhänge werden abschließend beschrieben und es wird mit aller Vorsicht gefragt, welche Bedeutung die Ergebnisse über die Stichprobe hinaus haben. Hier wird erneut, wie bereits bei der Bestimmung der Stichprobe, das Problem der Generalisierung, der Verallgemeinerung von Ergebnissen aus der qualitativen Sozialforschung angesprochen. Nohl (2006) meint zur Generalisierung von Ergebnissen aus der qualitativen Forschung in der allgemeinen Erziehungswissenschaft, diese sei zunächst eine auf den Einzelfall ausgerichtete, interpretative Biographieforschung gewesen. Doch müsse sie sich heute auch dem Problem der Generalisierbarkeit stellen. Das Verfahren zur (mehrdimensionalen)
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Typenbildung durch den Vergleich zwischen verschiedenen Fällen hält er für geeignet, um „das Typische zu erkennen“ (Nohl 2006, S.23). Man dürfe bei der Debatte über Generalisierung das Typische aber nicht mit dem Allgemeinen verwechseln. Sein Ziel ist es, typische und in diesem Sinne generalisierbare Dimensionen in der Lebens- und Bildungsgeschichte zu identifizieren. Das bedeute eben gerade nicht, diese Ergebnisse „umstandslos zum Allgemeinen zu stilisieren, sondern in ihrer Überlappung (und das heißt Differenzierung) durch andere Typiken […] zu spezifizieren.“ (ebenda, S.24). In diesem Sinne soll auch der Generalisierungsversuch am Ende meiner Untersuchung verstanden werden. Es geht im engeren Sinne um das Typische und nicht um das uneingeschränkt Allgemeine.
Zweiter Teil: Konflikte aus der Perspektive von Betroffenen und Intervenierenden
1 Direkt von Konflikten Betroffene
1.1 Eine in Dauerkonflikten steckende Mitarbeiterin und beschuldigte Mobberin 1.1.1 Isolde34, ein Leben in Konflikten: Interpretation der Eingangssequenz Isolde S. (32) arbeitet seit 16 Jahren als angelernte Kraft in einem großen Produktionsbetrieb. Sie lebt in einem eher ländlichen Umfeld, ist geschieden und allein lebend. Einmal im Jahr nimmt sie an einem Bildungsurlaub teil. Am Rande dieser Veranstaltung findet das Interview statt. Es beginnt: I.S.: … auch so, oder das was mir im ersten Moment so einfällt? I.: Ich interessiere mich einfach für deine Erfahrungen, die du so mit schwierigen Situationen hast, mit Konflikten, was so im Betrieb, emm, und was du so Besonderes erlebt hast. Und wenn du einfach, einfach so erzählst. I.S.: Versuchen wir’s! I.: Ja, erzähl einfach! I.S.: Gut. (.) I.: Konflikte. Was fällt dir dazu ein? (1:02-09)
Die Aufnahme beginnt mitten in einem Satz. Isolde lenkt das Gespräch auf das bevorstehende Interview und fragt nach den Erwartungen der Interviewerin. Eine Möglichkeit wäre aus ihrer Sicht, zu erzählen was ihr gerade einfalle. Es gibt hier keine dokumentierte, klare Trennung zwischen dem vorangegangenen Privatgespräch und dem beabsichtigten Interview. Auffallend ist, dass es die Interviewte ist (und nicht wie zu erwarten wäre die Interviewerin), die die Initiative ergreift. Welche Erklärungen könnte es dafür geben? Direkt vor dem Start der Aufnahme hatte Isolde erzählt, dass sie schon viele Konflikte erlebt habe, jetzt aber nicht wisse, was genau die Interviewerin von ihr hören wolle35. Vielleicht möchte Isolde ‘die Spielregeln’ für das Interview klären, bevor die Aufzeichnung beginnt. Es gebe damit aus ihrer Sicht ein Informationsdefizit im Hinblick auf 34
Auszug aus dem Interviewprotokoll: Bei einer Bildungsurlaubsveranstaltung begegneten sich Interviewerin und Isolde erstmals vor einigen Jahren. Zwei oder drei Jahren später nahm Isolde an einem Mobbingseminar teil. Da erklärte sie, ihr sei in ihrem Betrieb unterstellt worden, eine Mobberin zu sein. Das Interview findet weitere ein oder zwei Jahre später (2004) statt. 35 Vgl. Interviewprotokoll
M. Niebuhr, Konflikte im Betrieb, DOI 10.1007/978-3-531-92696-4_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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den Ablauf des Interviews. Sie würde dann erwarten, dass die Interviewerin ihr die fehlenden Informationen zur Verfügung stellt. Möglicherweise ist ihr Initiativ-Werden aber auch Ausdruck von Unsicherheit im Hinblick auf die eigenen Fähigkeiten und Hinweis auf die Rollenverteilung im Seminar. Damit würde Isolde die Interviewerin als Pädagogin ansprechen, von der sie (auch im Interview) bei Bedarf Unterstützung und Verständnis erwarten kann. Hier scheinen die Bedingungen für den Wechsel in die Interviewsituation von Isolde thematisiert zu werden. Soll es, wie im Rahmen des Seminars üblich, weitergehen oder erfordert die Interviewsituation eigene Regeln? Die Interviewerin war den ganzen Tag über in der Rolle der Seminarleiterin, die Interviewte war eine von 20 Teilnehmern, die sich mit Lernerwartungen auf die Seminarleitung beziehen. Im Seminar handelt es sich einerseits um eine Lehr-Lern-Situation, andererseits um eine unter sozialen Gesichtspunkten sehr intensive Gruppen-Erfahrung. Man ist auch in den Pausen zusammen, man nimmt die Mahlzeiten gemeinsam ein, man duzt sich, alle sind Mitglieder einer großen Gewerkschaft. Ein Interview dagegen ist eine Datenerhebung im Rahmen eines wissenschaftlichen, distanzierten Vorgangs. Dafür steht zunächst sichtbar die Aufnahmeapparatur auf dem Tisch. Indem Isolde spontan und ohne Berücksichtigung der Aufnahme die Initiative ergreift, stellt sie bereits zu Beginn des Interviews zwei Bedingungen für eine wissenschaftliche Datenerhebung in Frage. Sie überlässt nicht der Interviewerin die Initiative und sie ignoriert die Aufnahmeeinrichtung. Eine Klarheit darüber, welche Regeln für das Interview gelten sollen und wie die Interviewsituation sich von der Seminarsituation und/ oder von den Interaktionen am Rande des Seminars unterscheiden, gibt es also zunächst nicht. Isolde fordert hier eine Klärung. Damit überrumpelt sie die Interviewerin, die immer noch mit ihrer Aufnahmeapparatur beschäftigt ist. Wie könnte die Interviewerin nun reagieren? Sie könnte den Redefluss abblocken, indem sie Isolde bittet, mit ihren Fragen und Erzählungen zu warten, bis sie das Aufnahmegerät eingeschaltet hat. Damit würde die Interviewerin den Unterschied zwischen dem seminarbegleitenden Alltagsgespräch und dem Interview dadurch kennzeichnen, dass das eine flüchtig ist, während das andere beständig ist und deshalb aufgezeichnet werden soll. Sie könnte auch einfach Isoldes Frage beantworten. Damit würde sie die Interviewsituation als eine Fortsetzung der alltäglichen Kommunikation am Rande eines Seminars anerkennen. Sie könnte der Interviewten aber auch Informationen über ihre geplante, wissenschaftliche Vorgehensweise oder Zielsetzung geben. Damit würde sie zeigen, dass sie sich mit der Interviewten auf einer Ebene sieht und sich auf eine methodische Diskussion einlassen. Sie könnte die Initiative der Interviewten auch grundsätzlich zurückweisen und sagen, dass sie als Interviewerin gern die Fragen stellen und das Interview steuern möchte. Die grundlegende Herausforderung für die Interviewerin ist es an dieser
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Stelle also, die Kontrolle über die Interviewsituation zu erreichen, ohne die Interviewte vor den Kopf zu stoßen. Die Interviewerin expliziert diese Unsicherheiten nicht. Sie interpretiert Isoldes Frage zunächst ganz oberflächlich, als eine Aufforderung, endlich mit dem Interview anzufangen und stellt ihre Eingangsfrage. Sie nutzt den Erzählimpuls aus ihrem Leitfaden, um die Oberhand über das Interview zu bekommen und damit das Interview ‘offiziell’ zu eröffnen. Sie hält sich nahezu an ihre vorbereitete Formulierung. Abweichend benutzt sie das Wort ‘einfach’ statt einmal gleich dreimal: „Ich interessiere mich einfach für deine Erfahrungen, die du so mit schwierigen Situationen hast, mit Konflikten, was so im Betrieb, emm, und was du so Besonderes erlebt hast. Und wenn du einfach, einfach so erzählst.“ Wie ist die Reaktion der Interviewerin zu verstehen? Ihr ist sicher in dem Moment klar, dass das Interview ohne ihren gezielten Gesprächsimpuls bereits begonnen hat – deshalb schaltet sie das Aufnahmegerät auch, ohne dies zu thematisieren, schnell ein. Intuitiv weiß sie vielleicht auch, dass hier gerade eine Situations- und Rollenaushandlung stattfindet. Wenn sie nicht aufpasst, interviewt Isolde die Interviewerin über ihr Forschungsvorhaben. Die Reaktion ist sicherlich genauso intuitiv. Sie hat keine Zeit, sich die Vor- und Nachteile verschiedener Vorgehensweisen zu überlegen. So nutzt sie ihren vorbereiteten Leitfaden (als Rettungsanker). Sie demonstriert der Interviewten damit, dass es feste Fragen gibt, die vorformuliert auf einem Papier stehen. Nachdem Isolde die Unterscheidung zwischen flüchtigem Alltagsgespräch und aufgezeichnetem Interview als wissenschaftliche Datenerhebung nicht von sich aus vornimmt bzw. von der Interviewerin übernimmt, bietet ihr diese jetzt eine andere Unterscheidungshilfe an. Es soll also nicht allein ums reine beliebige Erzählen über Konflikte gehen, sondern darum, dass die Interviewerin Antworten auf bestimmte, relevante Forschungsfragen erhält. Diese Fragen stehen fest, sind vorbereitet und schriftlich festgehalten. Durch die Hinwendung zu ihrem Leitfaden und dem Ablesen des Gesprächsimpulses stellt die Interviewerin die Besonderheit der Interviewsituation heraus. Ihre Botschaft ist: Ziel des Interviews ist nicht die persönliche Hilfe, sondern der Erkenntnisgewinn! Und: Ich bin die Forscherin! Inhaltlich bestätigt sie Isoldes Vorschlag. Ja sie soll einfach erzählen, aber erst nachdem die Interviewerin sie dazu aufgefordert hat. Hat Isolde die Botschaft jetzt verstanden? Sie reagiert auf die Antwort der Interviewerin, die keine Antwort ist, sondern ein Erzählimpuls, mit „versuchen wir’s“. „Versuchen“ impliziert im Gegensatz zu „machen“ Unsicherheit im Hinblick auf Realisierbarkeit. Entweder beurteilt Isolde die Aufgabenstellung als so schwierig, dass sie sich bezüglich der Zielerreichung unsicher ist – oder – sie ist sich unsicher, ob sie die Aufgabenstellung jetzt richtig verstanden hat. In ihren Versuch schließt sie die Interviewerin mit ein. Sie spricht von „wir“. Damit sig-
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nalisiert sie, dass sie von zwei aktiven Akteuren im Interview ausgeht. Wenn sie hofft, dass die Interviewerin sie unterstützt, wenn sie nicht weiter weiß, würde dies für den Fortbestand des Seminarverhältnisses sprechen. Wenn es ihr darum geht, sich den wissenschaftlichen Notwendigkeiten anzupassen, die sie aber noch nicht ganz durchschaut hat (Soll ich jetzt erzählen oder nicht?), ist es die Aufforderung an die Interviewerin, sich, wenn es ‘aus dem Ruder läuft’, korrigierend einzuschalten. Es ist also immer noch nicht klar, ob und wie Isolde für sich die Situation umdefiniert hat. Sieht sie sich als Produzentin wissenschaftlich relevanter Daten oder als Seminarteilnehmerin, die am Rande eines Seminars ein ganz persönliches Gespräch mit der Seminarleitung führt? Die Interviewerin reagiert auf Isoldes Unsicherheit, indem sie deren Angebot, es zu versuchen, bestätigt („ja“), die Erzählaufforderung wiederholt („erzähl“) und das Ganze als „einfach“ kennzeichnet. Sie fordert Isolde somit auf, sich auf das Interview einzulassen, auch wenn ihr vielleicht das eine oder andere unklar ist. Damit entzieht sich die Interviewerin dem unausgesprochenen Bedürfnis der Interviewten, zu verstehen, was sie hier genau macht. Während die Interviewte die Situation gerne (auch) als Lehr-Lern-Setting begreifen möchte, lässt sich die Interviewerin nicht darauf ein. Ein drittes Unterscheidungsmerkmal zwischen der Seminar- und der Interviewsituation wird hier implizit eingeführt. Neben der Tonbandaufnahme, den vorbereiteten Fragen ist es auch die Tatsache, dass Fragen der Interviewten von der Interviewerin (anders als im Seminar) hier nicht beantwortet werden. Isolde akzeptiert auch diese Vorgabe („gut“). Nachdem die Interviewerin nochmals das Thema wiederholt (Es geht um „Konflikte. Was fällt dir dazu ein?“), beginnt Isolde mit ihren Ausführungen. Kern der Aushandlung der Gesprächsebene ist der Wechsel, von der auf Lernen bezogenen Seminarsituation in eine nicht näher bestimmte Interviewsituation. Während Isolde versuchte, die bestehende Beziehungsdefinition fortzusetzen oder zu klären, forderte die Interviewerin eine veränderte Beziehungsdefinition (nicht mehr Lehrerin, sondern Forscherin) – aber ohne auf diese Unterschiede direkt und offen einzugehen. Für Isolde ist die Lehr-Lern-Situation zu Beginn des Interviews zunächst bestimmend. Aber sie scheint bereit zu sein, sich auf die unausgesprochenen Forderungen der Interviewerin einzulassen.
Isoldes Leben voll Konflikte und Anpassung Isolde kommt anschließend gleich auf das Thema Konflikte zu sprechen: „Konflikte sind (.) bei uns auf der Arbeit eigentlich täglich. Sie sind schlimmer geworden, nachdem die Gruppenarbeit bei uns eingeführt worden ist. Früher war das strukturierter mit dem Arbeiten: wer macht was. Und diese Leute hatten auch ganz einfach das Sagen und da hat
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sich auch keiner groß getraut, ja dagegen was zu sagen, dagegen aufzubegehren. Das war’n die Vorarbeiter und die hatten halt eben ne Sonderstellung und die haben einen auch en bisschen eingeschüchtert. Und dann kam halt die Gruppenarbeit und darauf wurde alles so en bisschen angehoben. Es hieß dann: „Es gibt keine Vorarbeiter mehr; alle Leute sind gleich! Es gibt dieses Mittel, dass wer mehr kann und mehr macht, der bekommt mehr Geld.“ Und dann ging das eigentlich los mit den Konflikten, dass mehr und mehr die Ellbogen gebraucht worden sind bei uns. (.) Richtig Konflikte hab ich eigentlich auch erst erlebt, an ner Arbeit. Also vom Elternhaus her Konflikte, das ist ja eigentlich, denk ich so, normal. Aber so Angst vor Konflikten, ja erst im Arbeitsleben bekommen. Und dann auch so en bisschen, wie manche Leute vorgehen um ihren Kopf durchzusetzen oder um dir en Beinchen zu stellen mit Intrigen und wie schnell du ausgegrenzt wirst, wenn du en bisschen anders bist oder wenn du deinen Mund mal en bisschen aufmachst (.) und (.) ja es ist en bisschen viel das Ganze jetzt. In den letzten paar Jahrn ist einfach auch sehr viel passiert. Man muss. Bei uns ist es zu mindestens so, das sagen auch viele: Du fängst an in der Firma und bist eigentlich en ganz normaler, fröhlicher, ausgeglichener Mensch und wenn du nicht anfängst selber zu inte intre inte (lachend) Intrigen zu spinnen, gemein zu werden, kannst du gar nicht überleben. Also ich sag immer, es ist so, es kommt mir manchmal so vor wie en Jekyll and Hyde –Syndrom, was man hat: Acht Stunden an der Arbeit ne miese Zecke und an sonsten. Ich hab das auch kennen gelernt. Viele Leute an ner Arbeit, wo du gedacht hast: „Um Gottes Willen, was sind das für Menschen!“ Und irgendwann hattest du mal aus nem dummen Zufall privat mit denen zu tun und dann sind die vollkommen anders. Die haben ne große Klappe an ner Arbeit, sind teilweise auch verbal ausfallend, und wenn du dann zuhause bei denen gewesen bist, ist alles pikobello und da wird dann nur geflüstert, wenn der Mann (lachend) Fernsehen gucken will. Und dann fragst du dich immer: „Was geht in diesen Menschen vor? Warum ist das so und warum sind die so an der Arbeit?“ Und dann versuchst du auch mal so en bisschen dahinter zu kommen. Aber viele sind dann schon so, die lassen dich gar nicht so weit an sich ran, damit du man verstehst, warum die sich so verhalten. Ja, und die Konflikte bei uns sind halt, das sind viele Menschen, also 150 Leute in einer Gruppe, also in einer großen Etage, und 150 Leute sind 150 verschiedene Charaktere. Und wenn die alle an einem Strang ziehen wollen oder sollen, das ist verdammt schwierig. Du weißt halt nie, wie machst du’s richtig. Wie auf welchem Fuß erwischt du jetzt jemanden. Dann wird ja von oben, wie ich jetzt, nach den Seminaren, die ich besucht hab, festgestellt hab, wird sehr viel noch inte, also, kann man nicht mal en anderes Wort dafür nehmen, von oben her sehr viel Unruhe reingestreut, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, das weiß ich jetzt net. Ich denk, beabsichtigt ist da viel. Es wird ausgehorcht. Da muss man wirklich aufpassen, wem man was erzählt, weil Privates darf man sowieso nicht erzählen, weil das wird meistens gegen einen verwandt. Also Schwächen sollte man keine zeigen.“ (1:10-2:19)
Nachdem die Rahmenbedingungen für das Interview jetzt festgelegt zu sein scheinen, beginnt Isolde nach einer umformulierten, reduzierten, zweiten Erzählaufforderung („Konflikte. Was fällt dir dazu ein?“) mit ihrer Geschichte. Isolde beginnt ihre eigentliche Erzählung mit „Konflikte sind …“. Danach kommt der Redefluss kurz ins Stocken. Sie berichtet weiter, bei ihr „auf der Arbeit“ gebe es täglich Konflikte, und die seien „schlimmer“ geworden, nachdem die Gruppenarbeit eingeführt worden sei. Zunächst steckt Isolde den Rahmen ihrer beabsichtigten Erzählung ab. Der Einstieg mit der Formulierung „Konflikte sind …“ erinnert dabei weniger an den Beginn einer Erzählung, als an die ersten Worte einer Definition, eines Fachvor-
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trags oder einer sehr theoretischen und allgemeinen Abhandlung über Konflikte. Eine solche Formulierung steht üblicherweise für Allgemeingültigkeit und (professionelle) Distanz. Die Konflikte stehen als Subjekte im Mittelpunkt. Gleich anschließend grenzt Isolde das Thema Konflikte auf die Vorfälle „auf der Arbeit“ ein und bezieht selbst Position. Sie spricht von „uns“ und nimmt damit eine Gruppenperspektive ein. Isolde redet hier als Mitglied einer Gruppe und gibt damit nicht ihre individuelle Einschätzung, sondern die kollektive Sichtweise der Gruppe wieder. Wen sie genau mit „uns“ meint, ihre direkten Kollegen, die Abteilung oder den gesamten Betrieb, bleibt hier unklar. Mit dieser Positionierung im Thema Konflikte nimmt sie eine doppelte Abgrenzung vor. Sie erklärt indirekt auch, von was sie nicht erzählen will: Sie will nicht (nur) von ihren individuellen Konflikterfahrungen reden. Und sie will dies nicht in einer subjektiven, einzelfallbezogenen, sondern in einer allgemeingültigen Art, quasi aus einer Außenperspektive, tun. Welchen Sinn macht diese Form der Selbstpositionierung? Ihre Bedeutung kann in der Interviewsituation begründet sein. Vielleicht denkt sie, die Interviewerin erwartet von ihr, objektive und allgemeingültige Aussagen. Sie kann aber auch Hinweis auf Isoldes Einstellung zu und ihren praktischen Umgang mit Konflikten sein. Vielleicht musste sie die Erfahrung machen, dass man als Einzelner nicht ernst genommen wird, während man als ‘Sprecher’ einer Gruppe gleich die besseren Argumente hat. Vielleicht stehen für sie betriebliche Konflikte auch immer im Zusammenhang mit einer Arbeitsgruppe und sind somit generell kollektive Erfahrungen. Für den Umgang mit Konflikten wäre es dann entscheidend, wie sich die Einzelnen in der Gruppe positionieren – wie sie Gemeinschaft erreichen und Distanz herstellen. Das könnte von Bedeutung sein, um in der Gruppe eine wichtige Position einzunehmen und zu sichern (z.B. Intervenierende, Führerin, Mitläuferin), aber auch um sich selbst gegen Anfeindungen und Ausgrenzungen zu schützen. Die Bedeutung der Konflikte für Isoldes Arbeitsalltag sind äußerst groß. Sie sagt, die treten „eigentlich täglich“ auf. Wenn es täglich zu Konflikten kommt, besteht ein großer Teil der Arbeit aus Auseinandersetzungen (Streiten, Klärungsgespräche, Konfliktvermittlungsbemühungen usw.). Die Bedeutung der eigentlichen Aufgabenerfüllung tritt damit in den Hintergrund. An dieser Stelle stellt man sich unweigerlich die Frage, ob ein störungsfreier Arbeitsablauf unter solchen Bedingungen überhaupt möglich ist. Oder übertreibt die Interviewte bei der Bedeutungszuschreibung von Konflikten in ihrem Betrieb? Oder hat nur Isolde täglich Konflikte? Vielleicht sollte man das „täglich“ eher nicht als konkrete Häufigkeitsangabe, sondern eher als Beschreibung der Gesamtstimmung interpretieren – in diesem Sinne wäre dann auch das „eigentlich“ als eine Abschwächung dieses Objektivitätseindrucks zu deuten: Es gibt auch konfliktfreie
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Phasen und Leute, die seltener oder häufiger in Konflikte verstrickt sind. Doch da ist die tägliche Erwartung von Konflikten (Man weiß nie, wann es losgeht!), die zu dem Eindruck führt, der gesamte Arbeitstag sei mit Konflikten belastet. Möglicherweise besteht auch ständig die Gefahr in fremde Konflikte hineingezogen zu werden. Isolde stellt die aktuellen Arbeitsplatzkonflikte in den Zusammenhang mit der Einführung der Gruppenarbeit. Es gab zwar bereits vorher Konflikte, doch die Umsetzung des neuen Führungskonzepts führte zu einer weiteren Verschärfung. Da Isolde als Arbeitsort nur diesen einen Betrieb kennt, kann man vermuten, dass die ganze Zeit ihrer Erwerbstätigkeit im Zusammenhang mit mehr oder weniger schlimmen Konflikten steht – die haben nicht erst mit der Einführung der Gruppenarbeit begonnen. Sie stellt damit ihre gesamte Berufstätigkeit unter den Konfliktaspekt. Es kann sich dabei um Konflikte während der Einarbeitszeit, bei Führungskräftewechsel, bei vorhergehenden Organisationsveränderungen, bei innerbetrieblichen Arbeitsplatzwechseln handeln. Welche besondere Bedeutung hat die Einführung der Gruppenarbeit als Konfliktauslöser? Gruppenarbeit steht immer für mehr Selbststeuerung der Gruppe, kombiniert mit einem Zuwachs an Eigenverantwortung. Damit stellt dies eine grundlegende Veränderung der Arbeitsbedingungen (und zwar zeitgleich für alle) dar, die für den Einzelnen als Chance und/ oder als Belastung erlebt werden können. An ihrer Formulierung, die Konflikte seien „schlimmer“ geworden, lässt sich ablesen, dass Isolde Konflikte grundsätzlich eher als Belastung/ Bedrohung, denn als Chance begreift. Möglicherweise hat sich durch die Einführung der Gruppenarbeit eine betriebliche Situation ergeben, die durch die Veränderungserwartungen an alle zu mehr und zu emotionaleren Konflikten führte. Es könnte auch sein, dass Gruppenarbeit für Isolde deshalb ein zentrales Thema ist, weil sich ihr schlimmster/ ihr wichtigster/ ihr folgenreichster Konflikt eben genau zu dieser Zeit ereignet hat. Damit wäre dieser Umbruch im Rückblick für Isoldes persönliche Entwicklung und Biographie von Bedeutung. Zusammenfassend kann man sagen, dass Isolde zunächst den Rahmen absteckt, in dem sie sich bewegen will, wenn sie über (betriebliche) Konflikte spricht. Sie schreibt dem Thema eine hohe Priorität zu und bringt es in Zusammenhang mit zwei Phasen in ihrer Berufsbiographie – die Zeit vor und die nach Einführung der Gruppenarbeit. Sie selbst positioniert sich, wenn es um Konflikte geht, in Relation zu ihren KollegInnen in der Arbeitsgruppe als gleich und trotzdem different. Isolde bleibt für die nachfolgenden Aussagen in ihrer Gruppenperspektive. Sie berichtet kurz und knapp, wie sich für die einfachen Mitarbeiter die beiden Systeme unterscheiden. Zunächst geht sie auf die Zeit vor Einführung der Gruppenarbeit ein. Früher, unter Leitung der Vorarbeiter, sei die Arbeit strukturierter
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gewesen, weil die Vorgesetzten bestimmten, wer welche Arbeit zu erledigen hatte. Ein Problem sei es gewesen, dass man sich nicht getraut habe, etwas „dagegen zu sagen“ und aufzubegehren. Man habe sich eingeschüchtert gefühlt. Innerhalb einer Gruppe gab es also drei mögliche Perspektiven. Da gab es den Vorarbeiter, der sich auf die Gruppe bezog. Er war offiziell legitimiert. Seine Aufgabe war es, die Gruppe zu führen – z.B. indem er die Arbeit aufteilte und strukturierte. Er konnte dabei nach festen Kriterien vorgehen, aber auch willkürlich einzelne Leute bevorzugen oder benachteiligen. Isolde erklärt, dass Vorarbeiter sich den Respekt bei den Mitarbeitern teilweise durch Einschüchterung verschafft hätten. Als zweites gab es die Perspektive des einfachen Mitarbeiters, der ein funktionierendes Verhältnis zum Vorarbeiter aufgebaut hatte. Diese Mitarbeiter richteten sich nach den Vorgaben und unterwarfen sich bedingungslos der Führung durch den Vorgesetzten. Vielleicht erreichten sie damit als Gegenleistung, dass sie nicht benachteiligt wurden und, dass ihnen die eher ‘besseren’ Aufgaben übertragen wurden. Und es gab eine dritte Gruppe, die sich zwar (auch) eingeschüchtert fühlte, sich aber trotzdem gelegentlich gegen empfundene Ungerechtigkeit wehrte. Die Chance damit Erfolg zu haben, war aber wohl eher gering, denn die Vorarbeiter hatten eine Sonderstellung. Sie waren zwar Teil der Gruppe, aber durch ihre eigenen Vorgesetzen vor Angriffen von unten geschützt. Isolde beschreibt hier ein ganz starres System, in dem die Vorarbeiter weniger durch Leistung/ Fähigkeiten/ besondere Ausbildung die Gruppe dominierten, denn durch formale Macht. Wer ist Isolde in diesem System? Sie distanziert sich von den Vorarbeitern, indem sie sie als „diese Leute“ bezeichnet. Sie selber ist also keine Vorarbeiterin, und wohl auch eher keine Mitarbeiterin, die dem Vorarbeiter grundsätzlich besonders nahe stand. Sie beschreibt dieses System am ehesten aus der Sicht einer einfachen Mitarbeiterin. Ihre vorsichtigen Formulierungen lassen vermuten, dass sie um die Gefahren einer offenen Auflehnung wusste und sich deshalb üblicherweise anpasste, sich aber gelegentlich auch mal getraute, den Mund aufzumachen und sich damit wahrscheinlich auch in Konflikte stürzte. Sie beschreibt hier, für die Zeit vor der Einführung der Gruppenarbeit, ein System, in dem man Konflikte aber auch durch Anpassung vermeiden konnte. Als einfache Mitarbeiterin konnte man sich zwischen offenen Widerstand und wissender Anpassung entscheiden. Aber man musste auch erst lernen, sich innerhalb des Systems zu bewegen. Anschließend geht Isolde auf die neue, veränderte Arbeitssituation ein. Sie berichtet, „dann kam halt die Gruppenarbeit“. Diese Formulierung assoziiert die Unausweichlichkeit einer weit reichenden Entwicklung. Aus Sicht der Gruppe ist nicht wichtig, wer sie einführte, sondern allein, dass es eine unumgängliche Veränderungszumutung war. Durch die Gruppenarbeit sei „alles so en bisschen
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angehoben“ worden. Es habe geheißen, dass es keine Vorarbeiter mehr gebe, alle Leute seien „gleich“. Für wen konnte die Veränderung eine potentielle Verbesserung sein? Die Vorteile, die diese Änderung mit sich bringen (sollte), liegen sicher auf der Ebene des Gesamtunternehmens, sonst hätte man das Konzept nicht realisiert. Ziel ist es sicherlich, flexibler und marktverträglicher zu produzieren. Auch aus Sicht einer einfachen Mitarbeiterin, die ihrem Vorarbeiter eher mit Vorsicht begegnet ist, bedeutet dies zunächst eine allgemeine Aufwertung oder zumindest die Möglichkeit, dass die Veränderung auch eine Verbesserung sein kann. Für sie bedeutet „es gibt keine Vorarbeiter mehr, alle Leute sind gleich“, dass sie sich jetzt weder von den alten Vorarbeitern, noch von deren Handlangern Arbeitsanweisungen geben lassen muss. Für die Vorarbeiter hingegen bedeutet die Einführung der Gruppenarbeit möglicherweise eine Degradierung, weil sie ihre Vorgesetztenfunktion verlieren. Auch die Vorarbeiterfreunde werden wieder zu ‘normalen’ Mitarbeitern und verlieren Privilegien. Indem Isolde die Gruppenarbeit einzig als Aufwertung kennzeichnet und negative Auswirkungen vollständig ausklammert, demonstriert sie, aus welcher Perspektive sie hier das Ganze betrachtet – aus der einer einfachen Mitarbeiterin. Die Einführung von Gruppenarbeit hat weit reichende Konsequenzen für jeden Mitarbeiter. Isolde sagt, es ging „los mit den Konflikten, dass mehr und mehr die Ellbogen gebraucht worden sind bei uns.“ Durch die Abschaffung der Hierarchie müssen die Mitarbeiter nicht mehr nur ihre eigentliche Arbeit machen, sie müssen auch organisieren/ (sich) umorganisieren. Diese Selbstorganisation erfordert neue Fähigkeiten, über die einige Gruppenmitglieder mehr, andere weniger verfügen. Die Gruppenmitglieder müssen umdenken. Das Schwierige bei diesem Umdenken ist wohl das propagierte Prinzip, dass jeder nach seiner Leistung bezahlt werden soll. In dieser Situation sind zwei gegensätzliche (theoretische) Extrempositionen vorstellbar: Die eine Seite denkt von der Gruppe her, hat die schwachen Kollegen im Auge und steht den Anforderungen des betrieblichen Managements kritisch gegenüber. Diese Position empfindet die Veränderungserwartung eher als unberechtigte Zumutung, der es sich zu widersetzen gilt. Die andere Extremposition verlangt, sich bedingungslos an betrieblichen Vorgaben anzupassen. Das bedeutet, sich selbst auf die Veränderungserwartungen einzulassen und von den KollegInnen zu erwarten, dass sie sich anstrengen oder mit weniger Geld zufrieden sind. Von jeder der beiden Extrempositionen werden also auch Forderungen an die andere Seite formuliert: Werde leistungsorientierter bzw. werde sozialer. Bei einer Absolutheit des Leistungsprinzips funktioniert aber keine Gruppe mehr. Ein angemessener Umgang mit den Schwächeren gehört zu den Bedingungen, unter denen Gruppen überhaupt erst arbeitsfähig werden. Die Aufgabe der Gruppe besteht nun darin, die individuelle Leistung mit der Grup-
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penleistung unter den Bedingungen von Gruppenarbeit und Leistungsbeurteilung neu auszutarieren. Durch den Aushandlungsprozess in dieser Umbruchsituation entstehen Verhaltensunsicherheiten in der Gruppe, die nach außen in Form von Konflikten sichtbar werden. Zusammenfassend kann man sagen, dass für Isolde Konflikte einen wichtigen Teil ihres betrieblichen Alltags ausmachen. Es gibt sie immer. Isolde erlebt sie vordergründig als Belastung der finanziellen und der sozialen, betrieblichen Realität. Wenn man über betriebliche Veränderungen und Konflikte redet, kann man deshalb nur vom ‘wir’ erzählen, weil es gerade für jeden Einzelnen darauf ankommt, sich (neu) ins ‘Wir’ einzuordnen. Die Veränderungs- und Lernzumutung die das Management durch die Einführung der Gruppenarbeit an die Mitarbeiter herangetragen hat, wird dabei innerhalb der Arbeitsgruppe weitergegeben und über Konflikte ausgetragen. Alle müssen ihr Verhalten reflektieren, Routinen verlernen und sich neue Fähigkeiten und Wissensbestände aneignen. Konflikte erscheinen im Kontext der Einführung der Gruppenarbeit somit als ein notwendiges Mittel um Veränderungsprozesse zu gestalten. Konfliktaustragung ist damit ein Weg, um aus dem Vorhaben der Geschäftsleitung ein Anliegen der Mitarbeiter zu machen. Nachfolgend erzählt Isolde von ihren anfänglichen, lange zurückliegenden Erfahrungen mit betrieblichen Konflikten. Sie markiert sie als individuelle, ganz persönliche Erfahrungen, indem sie hier explizit zum „ich“ überwechselt. Sie stellt jetzt also ihre persönlichen Erfahrungen in den Mittelpunkt und löst sich damit aus der Gruppe ihrer ArbeitskollegInnen heraus. Außerdem grenzt sie die betrieblichen Konflikte von denen im Elternhaus ab. Dass es in der Familie Konflikte gibt, hält sie für „normal“. Im Betrieb habe sie aber erfahren müssen, dass man Angst vor Konflikten haben muss, dass es dort Leute gebe, die rücksichtslos ihre Interessen durchsetzten und dabei auch ihre Mitmenschen beschädigten. Über ihre persönliche Entwicklung sagt sie, man beginne als „ganz normaler, fröhlicher“ und „ausgeglichener Mensch“ und entwickle sich zu einem gespaltenen Menschen mit zwei Gesichtern („Jekyll and Hyde“). Da gebe es schließlich den betrieblichen Menschen als „miese Zecke“ und den privaten Menschen, der ganz anders sei. Im Betrieb setze man aber oft den betrieblichen Menschen mit dem privaten gleich, wenn man denke: „Um Gottes Willen, was sind das für Menschen“. Diese Persönlichkeitsspaltung bezeichnet Isolde als notwendig, um im Betrieb bestehen zu können. Sie selbst habe erst begreifen müssen, dass es diesen Unterschied gebe. Sie bringt diese Erkenntnis mit einer Kollegin in Verbindung. Die habe in der Firma „ne große Klappe“, ordne sich aber zuhause ihrem Ehemann unter und präsentiere sich dort als klassische Hausfrau. Isolde erzählt an dieser Stelle im Interview davon, wie sie vor 16 Jahren, als junges Mädchen den Anpassungsprozess im Betrieb erlebt hatte. Dabei scheint
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sie ganz individuelle, prägende Erfahrungen gemacht zu haben, die sie hier im Interview durch das „ich“ besonders kennzeichnet. Sie kannte vorher Schule, Freundeskreis und Familie. Jetzt kommt der Betrieb als dritte soziale Welt hinzu. In welchem Zusammenhang ergibt die Gegenüberstellung von Betrieb und Elternhaus hier einen Sinn? Das Elternhaus steht für Kindheit und Schule, aber auch für abhängig bzw. beschützt sein und für eine eingeschränkte Selbstbestimmung. Kinder sind ihren Eltern immer ein Stück ausgeliefert und müssen sich manchmal auch gegen Überbehütung und/ oder Konflikte, die nicht ihre eigenen sind (z.B. bei Scheidungen, Gewalt, Alkoholismus) wehren. Meistens steht Kindheit aber für ein unbeschwertes Leben ohne Konflikte. Das Arbeitsleben dagegen steht für Erwachsensein, sein eigenes Geld haben, unabhängig sein und für eigenverantwortliche und selbstbestimmte Handlungsmöglichkeiten. Ein Erwachsenenleben und das Erwachsenwerden bringt man eher auch mit Konflikten in Verbindung, denn junge Menschen müssen ja ihren Platz in Beruf und Gesellschaft erst einmal finden und behaupten. Bei ihrem Berufsstart scheint Isolde den Betrieb extrem zu idealisieren. Scheinbar hat sie hier, anders als im Elternhaus, eher keine Konflikte erwartet. Was meint sie, wenn sie ausführt, dass es „normal“ ist, wenn es Konflikte im Elternhaus gibt? Vielleicht meint sie eher unspektakuläre Reibereien, die sich aus der Eltern-Kind-Beziehung und den notwendigen Distanzierungs- und Ablösungsprozessen zwangsläufig ergeben und die sie mit der Distanz einer Erwachsenen als normal beurteilt. Vielleicht hat Isolde aber auch in der Familie schlimme Konflikte erlebt und der Eintritt ins Arbeitsleben ohne Berufsausbildung war eher eine Flucht aus der (finanziellen und zwischenmenschlichen) Abhängigkeit und die Suche nach der heilen Gegenwelt. Das hätte zur Konsequenz, dass sie im Betrieb vielleicht die bessere Mutter/ den besseren Vater und nicht die Kollegin/ den Kollegen gesucht hätte. Normal würde in diesem Zusammenhang bedeuten, dass sie die Vorfälle (vielleicht als Ergebnis eines Lernprozesses) mittlerweile für sich (ihre Lebensgestaltung und ihre Biographie) akzeptiert hat. Normal würde dann auch bedeuten, dass diese Konflikte heute ihr Leben nicht mehr beeinflussen. Daraus lässt sich aber schließen, dass dies zur Zeit ihres Berufsstarts anders gewesen sein muss. Dieses idealisierte Bild vom Betrieb wird Isolde aber bald ausgetrieben. Sie erlebt, wie „manche Leute vorgehen um ihren Kopf durchzusetzen oder um dir en Beinchen zu stellen mit Intrigen und wie schnell du ausgegrenzt wirst, wenn du en bisschen anders bist oder wenn du deinen Mund mal en bisschen aufmachst“. Ein solches Verhalten der älteren den jüngeren KollegInnen gegenüber, würde man heute vielleicht sogar als Mobbing bezeichnen. Isolde erlebt es als Maßnahme zur betrieblichen Sozialisation. Sich anpassen, bedeutet für die 16jährige Isolde, durch Ausprobieren und durch eigene vielleicht schwierige
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Erfahrungen lernen. Es gibt auch Veränderungsappelle durch die KollegInnen („das sagen auch viele: […] wenn du nicht anfängst selber […] Intrigen zu spinnen, […] „kannst du gar nicht überleben.“). Vielleicht begehrt sie auch anfangs gegen die Intrigen auf und die Kollegen erklären ihr dann, dass man hier im Betrieb vorsichtig sein muss, wie man miteinander umgeht. Was im ersten Schritt als Sozialisation erscheint, verweist vielleicht auf pädagogische Szenen im Betrieb zwischen den älteren Mitarbeitern und ihrer neuen, jungen Kollegin. Nicht der Betrieb sozialisiert sie, sondern die älteren KollegInnen erläutern ihr ihre Erfahrungen. Die pädagogisch relevante Altersdifferenz aus der Schule setzt sich hier fort. Für Isolde handelt es sich beim Eintritt in das Arbeitsleben um einen schroffen Übergang, weil sie nicht zunächst als Auszubildende einen betrieblichen Pädagogen/ einen Ausbilder an ihrer Seite hat. Über den Betrieb lernt sie eine neue, vorher unbekannte Welt kennen. In dieser Berufswelt gibt es einen Unterschied zwischen drinnen und draußen. Sie stellt mit Verwunderung fest, dass sich Kollegen im privaten Bereich anders verhalten als im betrieblichen Umfeld. In diesem Sinne taucht der Betrieb hier biographisch als Lehr- und Lernort auf. Isolde muss etwas lernen – sie muss auch Dinge lernen, die sie nicht lernen will. Hier gibt es, wie in der Schule, einen heimlichen Lehrplan. Nur heißt es jetzt nicht mehr, du musst sagen was der Lehrer hören will, dann bekommst du eine gute Note – sondern, du musst Intrigen spinnen, ne Zecke sein, gemein sein, sonst kannst du nicht überleben. Anschließend im Interview formuliert Isolde eine rhetorische Frage und zeigt damit, über welche Themen sie sich Gedanken macht: „Was geht in diesen Menschen vor? Warum ist das so und warum sind die so an der Arbeit?“ Die Interviewte erklärt, dass sie immer Antworten auf solche Fragen suche, dass sie aber oft keinen Erfolg damit habe. Isolde demonstriert hier ihr Nicht-Wissen und Nicht-Begreifen. Aber sie zeigt auch ihren Wunsch und ihre Bemühungen, die fremde Welt des Betriebes zu verstehen und Wichtiges zu lernen. Indem die Kollegen sie nicht nahe genug an sich heranlassen, verhindern die ihre Beobachtung, ihr Begreifen und ihr Lernen. Welche Bedeutung hat Nicht-Begreifen und Begreifen für Isolde? Sie bringt das Nicht-Begreifen mit jeweils neuen Situationen in Verbindung. Wenn sich die Rahmenbedingungen verändert haben, funktionieren die alten Verhaltensstrategien nicht mehr. Es kommt zur Wiederholung einer Lernsituation. Mit den Konflikten in ihrer Familie hat sie gelernt umzugehen. Die erste Lernphase im Betrieb war irgendwann abgeschlossen. Sie kann intrigieren, das Problem war damit für sie gelöst. Jetzt, durch die Gruppenarbeit, gibt es wieder eine neuartige Situation. Alte Handlungsmuster funktionieren nicht mehr, es wird erwartet, dass die Akteure erneut ihr Verhalten verändern. Isolde ist auch hier scheinbar grundsätzlich bereit, sich den veränderten Verhältnissen anzupassen.
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Im weiteren Interviewverlauf konstruiert Isolde, zunächst wieder aus einer WirPerspektive, einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Konflikte und der Größe der Arbeitsgruppe: „150 Leute sind 150 verschiedene Charaktere“ und deshalb sei es schwierig in der Gruppe. Anschließend bezieht sie sich aus der Sicht einer Einzelperson darauf. „Du weißt halt nie, wie machst du’s richtig. Wie, auf welchem Fuß erwischt du jetzt jemanden.“ Während Isolde vorher, wenn sie von „uns“ spricht, offen lässt, ob sie den Betrieb, die Etage, die Abteilung oder die Arbeitsgruppe meint, legt sie hier fest, wer zu ihrer Gruppe gehört: es sind die 150 Leute auf ihrer Etage. Wie muss man sich die Zusammenarbeit von so vielen Leuten vorstellen? Da sich eine solch große Anzahl nie selbstorganisiert oder zufällig zusammenfinden und zusammenarbeiten kann, muss man annehmen, dass durch die Gruppenarbeit ihr ‘Schicksal’ arbeitsorganisatorisch enger miteinander verknüpft wurde. Neu sind sicherlich die stärkere Orientierung an gemeinsamen Zielen innerhalb der gesamten Arbeitseinheit (Etage) und damit auch eine Erweiterung der theoretischen Einsatzmöglichkeiten für jeden Mitarbeiter. Man ist nicht mehr nur Mitglied einer Kleingruppe, sondern immer auch direkter Kollege der 149 anderen. Danach müsste jeder Einzelne innerlich diesen Perspektivwechsel vornehmen und auch weitere Fähigkeit erwerben, um an unterschiedlichen Arbeitsplätzen für unterschiedliche Arbeiten einsetzbar zu sein. Damit wäre, „alles wurde aufgewertet“ jetzt rückblickend im doppelten Sinne zu verstehen: hierarchiebezogen und aufgabenbezogen – mit der Konsequenz einer hohen Qualifizierungsanforderungen für alle. Die 150 Mitarbeiter haben, nach Isoldes Auffassung, 150 unterschiedliche Charaktere – und sie „wollen oder sollen“ alle „an einem Strang ziehen“. Isolde beschreibt damit eine unüberschaubare Vielfalt an Motiven und Anforderungen. Sie vermittelt dabei den Eindruck, dass es bei einem Teil der Kollegen auf ihren eigenen Willen ankommt, während bei einem anderen Teil (nur) die Forderungen von außen bedeutsam und handlungsweisend sind und, dass dies alles zu den Konflikten führt. Gibt es da denn unterschiedliche betriebliche Vorgaben? Oder will Isolde mit ihrer Oder-Verknüpfung andeuten, dass die Vorgaben für alle gelten, aber nur ein Teil sich daran halte? Oder ist sie sich nicht sicher, ob das Eine oder das Andere gilt? Aus der Sicht des Einzelnen ergibt sich hier, bezogen auf die eigene Person, die Notwendigkeit, sich selbst in diesem Feld zu positionieren. Bezogen auf die KollegInnen ergibt sich hier die Schwierigkeit mit den unterschiedlichen Positionen/ Charakteren umzugehen, sie einzuschätzen und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Das Problem ist also nicht allein (wie anfangs vermutet) die Größe der Gruppe, sondern deren Heterogenität. Es ist nicht möglich, sich einer Gruppenmeinung anzupassen, weil es die nicht gibt. Auch wenn Isolde versuchen sollte sich anzupassen, kann sie nur scheitern, denn wenn sie sich an die eine Position
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anpasst, gerät sie mit anderen Positionen in Konflikt. In den Anfängen ihrer Erwerbszeit musste Isolde in kleineren Arbeitsgruppen lernen, zwischen privat und betrieblich zu unterscheiden – jetzt wiederholt sich die Jekyll and HydeErfahrung in verschärfter Form auf der Ebene dieser Großgruppe. Sie muss sich da anpassen, wo eine Anpassung eigentlich nicht möglich ist. Was ihr unter Gruppenarbeitsbedingungen fehlt, ist eine klare Orientierung wie damals die Vorarbeiter. Isolde stellt fest, dass es schwierig ist, es „richtig“ zu machen. Diese Formulierung impliziert zweierlei: Isolde versucht bewusst sich zu verändern und anzupassen (sie ist also lernwillig) und zweitens, sie ist davon überzeugt, dass es das richtige Verhalten gibt. Alternativ könnte man ja auch behaupten, in einer solchen Situation gibt es kein Richtig oder Falsch, sondern nur ein (zielbedingtes) Anders. Isolde ist aber auf der Suche nach dem richtigen Verhalten. Sie nimmt damit einen defizitorientierten und nicht einen differenzorientierten Blick ein. Ihre Lernmotivation kommt aus dieser Defizitannahme. Sie geht davon aus, dass man lernen kann, sich in einer solchen Großgruppe richtig (d.h. konfliktfrei) zu verhalten. Und sie sieht in dem zu erwerbenden Wissen und Können eine Möglichkeit, sich selbst vor Konflikten zu schützen. Isolde positioniert sich in der Großgruppe als jemand, der sich bewusst dafür entscheidet, sich anzupassen, ohne sich mit den tieferen Hintergründen, zu beschäftigen36. Für Isolde ist eine mündige Mitarbeiterin heute eine Person, die unterscheiden kann, was sie machen muss, wie weit sie sich verändern will und kann. Dazu gehört aber auch, zu wissen, wie man sich in seiner Organisationseinheit bewegt und wann man sich einen neuen Arbeitsplatz suchen bzw. die Gruppe wechseln sollte, weil eine Anpassung unmöglich ist. Wie ordnet Isolde sich selbst in dieser Großgruppe ein? Sie spricht auch hier nicht in der Ich-Form, sondern redet, wie bereits vorher, vom „du“. Welche Bedeutung hat hier, in diesem Zusammenhang, diese Distanzierung und Verallgemeinerung? Vielleicht ist Isolde mit ihrer Schul- und Berufsbiographie (Realschulabschluss, aber keine Ausbildung) eher nicht der Normalfall in dieser Arbeitsgruppe. Eventuell gibt es aber noch einige wenige andere KollegInnen, die bereit sind, sich wie Isolde auf die Veränderungserwartungen einzulassen, sich anzupassen und sich neue Fertigkeiten anzueignen. Mit denen würde sie sich hier solidarisieren. Vielleicht will Isolde damit auch ausdrücken, dass dies nichts mit ihr als Person zu tun hat, sondern dass ihr ‘Schicksal’ nur stellvertretend für eine bestimmte Position im Betrieb steht. Jedem anderen in ihrer Position würde es genauso ergehen. Möglicherweise nutzt sie das Du aber auch als Mittel der Selbstmotivation – im Sinne von: Und dann sage ich mir immer, du musst dich 36
Wissende Anpassung nur im Sinne von: sie weiß, dass sie sich anpasst
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mehr anstrengen! Damit wäre das Du als Hinweis einer fehlenden Identifikation mit den neuen betrieblichen Führungsidealen zu deuten. Aber nicht die anderen sagen ihr, wie sie sich verhalten muss, sondern sie diszipliniert sich selbst. Bezogen auf die bisherige Analyse, kann man festhalten, dass Isolde immer wieder im Interview von ihrer eigenen Person abstrahiert. Auch wenn sie Ich meint, spricht sie häufig in der Du-Form. Nur in seltenen Fällen redet sie tatsächlich in der Ich-Form. Sie unterscheidet also nochmals zwischen individuellen Erfahrungen (wie andere sie auch machen könnten) und ganz persönlichen privaten Erfahrungen. Zum Abschluss dieser einleitenden Erzählung geht Isolde noch auf die Rolle der Führungskräfte und/ oder Manager in diesen, im Zusammenhang mit Veränderungszumutungen entstehenden Konflikten ein. Sie beruft sich dabei auf Erkenntnisse, die sie durch ihre Seminarbesuche gewonnen hat. Von dort „oben“ würden wahrscheinlich absichtlich Unruhe gestreut und Leute ausgehorcht. Sie schließt mit der Feststellung, man müsse aufpassen, was man sage und dürfe nichts Privates erzählen und keine Schwäche zeigen, denn das würde sonst gegen einen verwandt werden. Wenn Isolde von denen da „oben“ spricht, fragt man sich zunächst, wen sie damit konkret meint – das Topmanagement, das letztlich für die Einführung der Gruppenarbeit verantwortlich ist oder die Vorgesetzten, die als verlängerter Arm der Geschäftsleitung agieren. Sollte sie das Topmanagement meinen, könnte man erwarten, dass sie im Weiteren auf betriebspolitische oder wirtschaftliche Aspekte eingeht, denn das sind die typischen Managementthemen. Da sie aber das Verbreiten von Unruhe durch Intrigen und das Ausnutzen von Schwächen einzelner Mitarbeiter anspricht, scheint sie eher die direkten Vorgesetzten im Blick zu haben, denn dass in einem solch großen Unternehmen das Management soviel Nähe zu den Mitarbeitern hat, um deren Schwächen zu kennen, erscheint unwahrscheinlich. Da es keine Vorarbeiter mehr gibt, müssen hier andere offizielle und/ oder informelle Führungspersönlichkeiten von Bedeutung sein. Isolde macht hier aber nur vage Andeutungen. Da scheint es Leute zu geben, die teilweise die Aufgaben der Vorarbeiter übernommen haben und diese Leute sorgen für Unruhe. Wie muss man sich diese neue Führung vorstellen? Vor Einführung der Gruppenarbeit fanden die Intrigen eher auf der Mitarbeiterebene (mit Unterstützung der Vorarbeiter) statt. Junge Mitarbeiter mussten lernen, sich in der Gruppe durch ‘Zecke sein’ eine Position zu erkämpfen. Heute scheint das Intrigenspinnen hierarchieübergreifend wichtig zu sein. Unter Umständen ist durch den Wegfall der Vorarbeiterebene ein Kommunikationsproblem entstanden. Die Meister (oder wie auch immer die nächste Vorgesetztenebene heißt) erfahren zu wenig von der Gruppe, um ihre eigenen Aufgaben, z.B. Führung ihrer Gruppen mit insgesamt 150 Leuten, ordnungsgemäß zu erfüllen. Sollte es so sein, wie
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Isolde es am Anfang formuliert (bei uns gibt es täglich Konflikte), könnten die Gruppenspannungen letztlich auch die Vorgesetzten gefährden, wenn die Gruppe überhaupt nicht mehr funktioniert. Damit wäre das Aushorchen und Intrigenspinnen die neue Form der notwendigen, hierarchieübergreifenden Kommunikation. Welche Probleme könnte Isolde mit den neuen Führungskräften haben? Vielleicht liegt die Schwierigkeit in einer, durch die Gruppenarbeit notwendig gewordenen, kommunikativen Nähe zum Vorgesetzten. Möglicherweise gibt es neue Vorgesetzten-Freunde, die als Informanten und Zuträger fungieren. Dann wäre „da muss man wirklich aufpassen, wem man was erzählt“ als Hinweis zu deuten, dass man leicht zum Informanten werden kann, ohne das beabsichtigt zu haben. Hier zeigt sich die innerbetriebliche Kommunikation als ein Mittel der Beeinflussung und Kontrolle. Isolde hat (vielleicht am eigenen Leib) erfahren, dass, wenn man Privates und Schwächen preisgibt, die Informationen weiter getragen werden und gegen einen genutzt werden. Sie musste also ihr Erfahrungswissen erweitern: Nicht nur Kollegen intrigieren, sondern auch Vorgesetzte. Und jeder muss sich gegen Aushorchen schützen. Isolde beschäftigt sich mit dem Konfliktthema auch außerhalb des Betriebs. Sie besucht (externe Gewerkschafts-) Seminare. Was sie vorher theoretisch gelernt hat, findet sie später in ihrem eigenen betrieblichen Arbeitsumfeld bestätigt. Dies macht sie hier am Beispiel deutlich. Sie weiß durch ihre Betriebserfahrungen, dass „von oben“ Uneinigkeit geschürt wird. In Seminaren hat sie gelernt, dass dies eine gezielte, geplante Strategie sein kann. Durch dieses Wissen kommt sie bei neuen Konflikterfahrungen im Betrieb zu der Erkenntnis: „ich denk, beabsichtigt ist da viel“. Seminare besuchen ist für Isolde Teil ihrer Strategie mit Konflikten umzugehen. Im Betrieb gibt es viele schwierige Situationen, die sie nicht versteht. In den Seminaren bekommt sie Interpretationshilfen für ihre betrieblichen Konflikte. Sie kann dadurch die Tragweite von Konflikten besser einschätzen, um sich z.B. bewusst für oder gegen das Sich-aushorchen-lassen zu entscheiden. Wissende Anpassung erfordert Kenntnisse über die Mechanismen und Zusammenhänge. Zusammenfassend kann man sagen, dass es in diesem ersten Interviewabschnitt darum geht, wie Isolde (aber auch ihre KollegInnen) auf Veränderungszumutungen reagieren und welche Bedeutung Konflikte in diesen Veränderungsprozessen haben. Isolde stellt das Thema Konflikte gleich in den Mittelpunkt ihrer Erzählung. Die sozialen Konflikte haben Relevanz für ihr ganzes Berufsleben und scheinbar auch noch darüber hinaus. Die Gruppenarbeit taucht als besondere Herausforderung und/ oder Belastung darin auf. Es geht dabei um die Gleichzeitigkeit von Leistungsorientierung und dem Schutz der Schwächeren. - Früher gab es die älteren KollegInnen. Die Hierarchie war klar. Es
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herrschte Konsens in der Arbeitsgruppe, wie man sich verhalten sollte. Wer neu in die Gruppe hineinkam, musste eingeführt werden. Das war ein Problem für Neue, nicht für den Rest der Gruppe. Die (intakte) Gruppe hatte immer Recht und gab die Handlungsnorm vor. Der Neue hatte noch Defizite und musste langsam lernen. – Heute ist Isolde älter geworden. Sie ist kein junges Mädchen mehr, sondern eine 32jährige Frau. Vom Alter her würde sie, in dem alten System, zu denen gehören, die die Neuen in die Gruppe integrieren. Doch in den heutigen Konflikten geht es nicht mehr darum, eine Person in ein entwickeltes, klares Verhaltensmuster einzuführen. Die Gruppe als Ganzes muss umlernen. In der Gruppe gibt es ‘den Lehrer’ nicht mehr. Es gibt kein richtiges und falsches Wissen. Das ist gerade umkämpft, deshalb kann sich kein Lehr-Lernverhältnis etablieren. Nur zwischen einem nur vage angesprochenem Vorgesetzten und der Gruppe könnte ein solches Verhältnis bestehen. Vielleicht gibt es in ihm einen neuen Lehrenden. Eventuell gibt es doch wieder eine Person, die über das richtige Wissen verfügt und von den anderen erwartet, dass die es übernehmen. Isoldes Strategie mit Veränderungszumutungen umzugehen, ist die der wissenden Anpassung. Für sie ist der Betrieb biographisch ein Lehr- und Lernort. Wenn sich die Rahmenbedingungen verändern (z.B. Einführung der Gruppenarbeit) kommt es zur Wiederholung einer Lernsituation. Für die weiterführende Analyse des Interviews sind diese neuen Vorgesetzten von besonderem Interesse. Welche Bedeutung haben sie für den betrieblichen Veränderungsprozess und für die Lernerfahrungen ihrer Mitarbeiter?
1.1.2 Betriebliche Konflikte als tägliche Lernanlässe Isolde erzählt im gesamten Interview von vier betrieblichen Konflikten. Sie beginnt mit einem Mobbingkonflikt, der sich nach der Einführung der Gruppenarbeit ereignete (3:16-10:20). Später erzählt sie von einem zeitlich davor liegenden Dauerkonflikt, der im Zusammenhang mit ihrer Arbeitsplatzflexibilität (mal arbeitete sie als einfache Produktionsmitarbeiterin, mal war sie Vorgesetzte) steht (17:37-20:06). Danach berichtet sie von aktuellen Problemen an ihrem jetzigen Arbeitsplatz – ihr Coach wirft ihr Mobbing vor (20:50-22:30). Relativ zum Ende des Interviews berichtet sie von ihrem problematischen Berufseinstieg, als sie als 16jährige direkt nach der Schule als ungelernte Kraft in diesen Betrieb kam (33:50-35:09). Isolde erzählt die Konflikte also nicht in zeitlicher Abfolge. Es gibt einen zentralen Konflikt, mit dem sie beginnt und der mit sieben Seiten Transkription und einigen Ergänzungen im weiteren Interview auch vom Umfang her dominiert. Die anderen, kleineren Erzählungen rahmen sich um ihn herum. Die Hypo-
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these aus der Interpretation der Eingangssequenz, dass für Isolde betriebliche Konflikte eine hervorstechende Bedeutung haben, findet man bereits durch einen ersten, umfassenden Überblick untermauert. Ihre betriebliche Karriere beginnt konfliktbelastet, zwischendurch erlebt sie 10 Jahre Dauerstress und einen massiven Konflikt, von dem die gesamte Betriebsöffentlichkeit erfährt und in dem sie des Mobbings beschuldigt wird. Und auch aktuell gerät sie immer wieder in Situationen, die sich zu Konflikten ausweiten können.
1.1.2.1
Zentraler Konflikt: Anpassung an die Gruppenarbeitsbedingungen
Diese Konflikterzählung setzt sich aus drei Teilbereichen zusammen, in denen Isolde jeweils eine andere Rolle einnimmt. Zunächst beschreibt sie den Kern des Konflikts. Sie erzählt von Schwierigkeiten in der Arbeitsgruppe, mit den Anforderungen der Gruppenarbeit zurechtzukommen. Die entwickeln sich zu Auseinandersetzungen zwischen Isolde und der Gruppe und zwischen Isolde und einem jungen Mann – Mobbingvorwürfe stehen dabei im Raum. Nach einem missglückten Konfliktklärungsversuch verlässt diese auf eigenen Antrieb hin die Arbeitsgruppe. Beim zweiten Teil der Erzählung handelt Isolde die erste Teilklärung des Konflikts ab. Sie erzählt von der Auseinandersetzung mit dem Coach (einem Vorgesetzten) über das misslungene Konfliktgespräch vom Vortag. Isolde hatte ihn zu diesem Termin nicht eingeladen – das verübelte er ihr. Der Konflikt wird gelöst, indem Isolde ihre eigenen Fehler eingesteht. Zum Abschluss erzählt sie, wie ihre frühere Arbeitsgruppe, ein dreiviertel Jahr nach ihrem Weggang, den ersten Konflikt durch das massive Eingreifen der „Führung“ endgültig befriedet. Auch der zwischenmenschliche Konflikt zwischen ihr und ihrem jungen Kollegen wird hier gelöst. Aus der Distanz ihrer neuen Arbeitsstelle bewertet sie schließlich das Ergebnis: Alle haben jetzt das begriffen, was Isolde bereits am Anfang wusste, aber nicht vermitteln konnte. Man müsse sich an das System anpassen. Die Teilkonflikte werden durch Isolde in diese zeitliche Abfolge gestellt (Vorgeschichte, der Streittag, der Tag danach, ein dreiviertel Jahr später) und inhaltlich miteinander verknüpft. Zentral ist die Auseinandersetzung mit den Anforderungen an die Arbeitsgruppe durch die Einführung der Gruppenarbeit. Man findet hier also eine Fortsetzung der Eingangssequenz. Isolde stellt die drei Teilkonflikte in einer großen und dramatischen Erzählung dar. Ein durch die Arbeitsorganisation ausgelöster Anfangskonflikt eskaliert immer weiter, zwischendurch kommt es zu einer Teilbefriedung, die endgültige Lösung erfolgt aber erst viel später. Isolde erzählt hier eine ‘runde’, scheinbar schon oft erzählte und nachbearbeitete Geschichte.
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Der Grundkonflikt: Anpassung oder Widerstand? „Und der Konflikt, den ich damals hatte, war, dass wir in der großen Gruppe zusammenarbeiten mussten. Und es geht halt wirklich um’s Geld. Da wird dann ne Kennzahl abgeschlossen mit dem Chef und die muss man dann erreichen. Das hat was damit zu tun, wie viel man halt an Stückzahlen schafft in nem halben Jahr. Das ist en etwas komplizierteres Verfahren, wie das ausgerechnet wird. Und dann bekommt die Gruppe halt mehr Geld, wenn sie’s denn schafft und erreicht diese Kennzahl. Wenn sie’s nicht schafft, gibt’s weniger Geld. Und es gibt bei zehn Leuten oder zwölf Leuten, gibt’s Leute, die sagen: „Okay, das versuchen wir, das schaffen wir!“ Und die schmeißen sich dann richtig rein, mit viel Engagement. Und da gibt’s aber auch Leute, die sagen: „Das ist eigentlich scheiß egal. Ich geh’ in ein oder zwei Jahren in Rente.“ Und da gibt’s aber auch Leute, die können das nicht. Aber die können nicht zugeben, dass sie bestimmte Aufgaben nicht können. Und wir haben dann nen jungen Mann zu uns in die Gruppe bekommen. Und der hat sich dann, das ist ja auch nicht verkehrt, der hat sich dann eingesetzt für alle, die so en bisschen schwach gewesen sind. Und hat die, aber mehr so, unter seine Fittiche genommen, mehr so in Schutz genommen und gesagt: „Das ist eigentlich ne Frechheit, und wir können uns das System nicht gefallen lassen. Wir müssen dagegen kämpfen.“ Klar leuchtet mir das auch ein. Aber ich hab zu dem Zeitpunkt schon gewusst, das System ist da und wir müssen uns damit anfreunden. Alle andern haben’s auch gemacht. Es nützt nichts, wenn 400 Leute in einem solchen großen Komplex danach arbeiten und wenn dann 12 Leute sagen: „Wir wollen das System aber nicht!“ Dann sagt die Führung: „Das ist uns doch scheißegal, was ihr wollt!“ Und ich hatt dann ne Kollegin gehabt, wir ham uns sehr gut verstanden, und dieser eine Kollege, der hat dann immer wieder Breitseiten geschossen. (.) [I.: Gegen wen?] Gegen mich und meine Kollegin. (.) [I.: Was hat der gemacht?] Emm. Ja, von hinten herum. Er hat die Leute also ausgefragt: „Wie kommt ihr eigentlich mit der Heike und der Isolde zurecht?“ Und. „Sagt doch mal ganz ehrlich.“ Und. „Das ist doch kein Zustand.“ Und. „Wie kann man denn so arbeiten wollen?“ Und hat sich en bisschen eingeschmeichelt bei den Leuten und die dann auch en bisschen, durch das Charisma, was er vielleicht hatte, auf seine Seite gezogen. Und die haben ihn dann auch bereitwillig Antworten gegeben. Es war teilweise aber so, dass die Leute sich bei uns über ihn beschwert haben. Und bei ihm haben sie sich über uns beschwert. Und, es hat aber nichts mehr funktioniert. Es hat keine Zusammenarbeit mehr funktioniert. [I.: An was habt ihr das gemerkt?] An der Stückzahl. Und an der Stimmung. Die Stimmung ist jedes Mal ganz fürchterlich gewesen. Weil keiner mehr so richtig wusste, was geht heute ab, was passiert heute und wogegen wird er heute wieder (.) sich auflehnen und. Er ist teilweise so ausfallend auch geworden. Meine Kollegin, die hatte damals nur noch sechs Wochen zu arbeiten, dann ist sie in Rente gegangen. Da hat sie sich schon drauf gefreut. Und die hat dann noch einmal ihm die Meinung gesagt. Und er hat sich dann vor sie hingestellt und gesagt: „Wenn du willst, dass deine letzten sechs Wochen dir zur Hölle gemacht werden, dann ist das kein Thema, dann kannst du das haben.“ Und darauf hab ich dann gesagt: „Jetzt kann’s so nicht mehr weitergehen.“ Und. „Ich glaub, wir müssen uns mal zusammensetzen und wir müssen mal da drüber sprechen. Wir müssen en System finden, nen neuen Ansatz finden.“ Und da ich weiß, dass wenn man so was schleifen lässt bei uns, wird das nichts. Und ich hab sogar noch en Betriebsrat mit dazu geholt und ich hab gesagt: „Wir müssen uns zusammensetzen und wir brauchen dich und wir wollen das machen nach der Spätschicht.“ Und dann hat der gesagt: „Das ist kein Problem, ich komme.“ Und ich wollte aber unseren damaligen Coach auch noch zu diesem Gespräch mit dazu holen. Und dann ham alle andern gesagt: „Nein, den wollen wir nicht mit dabeihaben.“ So und dann fand dieses Gespräch halt statt und es gab nur einen, der
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Direkt von Konflikten Betroffene groß geredet hat und das war halt eben dieser junge Mann. Und ich bin mit meiner damaligen Arbeitskollegin gnadenlos fertiggemacht worden. Da hat er alle auf seine Seite gezogen, und der Betriebsrat wusste nicht so richtig wie er sich verhalten sollte. Weil auf der einen Seite hat der Kollege, also, der junge Kollege hat das ja so gemacht, dass er das unter dem Deckmäntelchen der Besorgnis um seine etwas schwächeren und kranken Arbeitskollegen macht. Und auf der andern Seite wusste der Betriebsrat aber auch, wenn’s nicht harmoniert in der Gruppe. [I.: Was hat er euch denn vorgeworfen?] Der junge Mann? [I.: Ja.] Mobbing. (.) Also das hat er mir noch vorgeworfen, bevor es zu dieser Sitzung kam. Und eigentlich. Genau, das war dieser Vorwurf. Der hat also zu mir gesagt, ich würde die Leute mobben. Und da bin ich dann en bisschen hochgegangen und da hab ich dann gesagt: „Mein lieber Freund!“ Weil ich hatte zu dem Zeitpunkt schon ein Mobbingseminar hinter mir. Und dann hab ich gesagt: „Wenn du das so siehst, das lass ich nicht so auf mir sitzen. Ich geh jetzt sofort an’s Telefon, ich ruf jetzt sofort den Betriebsrat an und ich ruf unsern Chef an und ich will en Gespräch mit dir haben, weil das lass ich nicht auf mir sitzen.“ Und im selben Atemzug ist er dann soo klein geworden. Und hat: „Och, das hab ich nicht so gemeint.“ Weil ich hab immer nur versucht. Man muss ja immer mit seiner Wortwahl aufpassen, ich hab ihm dann nur immer so Sachen an en Kopf geschmissen wie: „Was willst du eigentlich, du Retter der Schwachen.“ Und er aber dann auch schon en bisschen so verbal richtig ausfallend geworden. Und mit Mobbing schmeißt man halt nicht einfach so um sich. [I.: Was hat er dir denn konkret vorgeworfen?] Ja, ich würde die Leute nicht a. Also Mobbing ist etwas. Er hat überhaupt keine Ahnung von Mobbing gehabt. Das hab ich ihm dann auch gesagt: „Du weißt doch gar nicht, was Mobbing ist!“ Weil ich hab die Leute immer, ich hab den Leuten direkt gesagt, was mir nicht gepasst hat und hab vielleicht deswegen manches Mal ne Wortwahl gehabt. Manche Leute müssen vielleicht en bisschen mit Vorsicht angefasst werden. Die haben sich vielleicht en bisschen durch meine Wortwahl angegriffen gefühlt, verletzt gefühlt. Das ist aber noch kein Mobbing. Weil ich hab sie ja drauf angesprochen. Ich hab gesagt: „Verdammt noch mal, wenn ihr jetzt euern Arsch nicht hochbekommt. Seht doch mal zu und.“ [...] Die wollten halt, weil, Verantwortung übernehmen, das heißt auch, wenn mal was schief geht, muss ich dafür grade stehn. Und das wollten die halt nicht. (.) Ja vielleicht liegt’s da dran, dass ich manchen dann en bisschen aufstoße. Vielleicht auch bei älteren Frauen, die früher en bestimmten Status innehatten, als Vorarbeiterinnen. Und wenn dann jemand kommt, der sagt: „Leute, das können wir so und so machen und.“ Und dann fühlen die sich halt schon en bisschen, vielleicht en bisschen am Stuhl gesägt. Obwohl die Stühle gibt’s ja gar nicht mehr, diese Posten der Vorarbeiter. Die sind alle gleich, heißt es. Und jeder soll das machen, was er am besten kann. Und das führt schon zu Konflikten, das seh ich jetzt auch so. Wenn jemand daherkommt. Ich hab mir nie etwas dabei gedacht. [I.: Und wie ging das in dem Fall weiter?] (gleichzeitig mit Isolde S.) Ja gut. [I.: Wie dann das Gespräch mit dem Betriebsrat und so.] Also es war für mich. Für mich war’s, weil ich und meine Kollegin, wir wollten eigentlich was Gutes für die Gruppe erreichen. Wir wollten eigentlich nur, dass mal jeder sagt, was er kann und was er nicht kann. Und dann, dass ma mal en Konzept festlegt, dass man mal sagt: „Lasst es uns so und so probieren und vor allem lasst uns wieder menschlich miteinander umgehen.“ Das war eigentlich das, was ich wollte. Das Ende war dann, dass ich überhaupt gar keine Chance mehr hatte, mich zu rechtfertigen, weil mein Kollege hat das Wort halt an sich gerissen. Der hat den Leuten, den andern Kollegen die Wörter in den Mund gelegt und des sind halt alles nun mal Menschen, die in der Gruppe sind, denen fehlt en gewisses Selbstbewusstsein. Die sind froh, wenn einer da ist, der des Ganze in die Hand nimmt, der, dass die da möglichst wenig sagen müssen. Je weniger ich sagen muss, um so mehr kann ich sagen: „Ich hab da nichts mit zu tun!“. Und ich hab dann noch zu meim Kollegen zum Schluss gesagt: „Du wirst es auch noch erleben, du kannst dich jetzt einsetzen für diese Leute, aber wenn’s mal drauf ankommt, treten sie dich in deinen Allerwertesten.“ „Ach das würde nie so weit kommen.“ Ich hab dann in der Nacht, als ich zuhause war - es war gut, dass es en Freitag
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war, weil ich hätt am nächsten Tag net an die Arbeit gehen können. Meine Kollegin, meine etwas ältere Kollegin, hat der Mann noch befürchtet, er muss sie in der Nacht zum Arzt bringen, weil die so dermaßen Herzschmerzen bekommen hat. Ich hab also nur noch geweint, ich war mit den Nerven so vollkommen am Ende, weil so platt- und so niedergemacht bin ich eigentlich noch nie. Ich weiß nicht was da verkehrt gelaufen ist. Ich hab auch wirklich nicht so. Das Problem bei diesem jungen Mann ist ja noch, dass sein Vater en freigestelltes Betriebsratsmitglied ist. Hinterher hat mir dann jemand gesagt, da hättest du machen können was du willst, da wird sich keiner gegen auflehnen. (.) Es war also von vorne herein ne Sache für, konnte man vergessen. [I.: Was ist dann dabei raus gekommen?] Ich bin dann weg von der Linie. Hab mich freiwillig dann auch weggemeldet. Bin dann an meinen jetzigen Arbeitsplatz gekommen.“ (3:16- 6:23)
Isolde beginnt den Bericht über ihren zentralen Konflikt zunächst mit einer zeitlichen und inhaltlichen Einordnung. Sie „hatte“ „damals“ einen Konflikt, der für sie persönlich („ich“) bedeutsam war. Thematisch geht es bei dem Konflikt um die finanziellen Aspekte, die sich aus der Zusammenarbeitszumutung innerhalb der großen Arbeitsgruppe ergeben. Anschließend wechselt sie in die Gegenwartsform. Sie skizziert die Grundzüge eines Gruppenleistungslohnverfahrens, das über Zieldefinition (mit dem Chef eine Kennzahl abschließen), gemeinsamer Zielverfolgung durch die Gruppe und Zielerreichungskontrolle, das Arbeitsentgelt aller Gruppenmitglieder voneinander abhängig gestaltet. Abhängig davon, ob die Gruppe eine verabredete Leistung erbringe, gebe es für alle mehr oder weniger Geld. Danach beschreibt sie, wie unterschiedlich auf dieses Lohngestaltungssystem innerhalb einer Arbeitsgruppe reagiert werde. Da gebe es die Hochmotivierten (die sagen, „das schaffen wir!“), die Gleichgültigen (die sagen, „das ist eigentlich scheiß egal. Ich geh’ in ein oder zwei Jahren in Rente.“) und die Schwächeren (die bestimmte Arbeitsroutinen nicht beherrschen, das aber nicht zugeben können). Der Konflikt, über den Isolde erzählen will, steht in Zusammenhang mit der Einführung der Gruppenarbeit, auf die die Interviewte bereits in der Eingangssequenz eingegangen ist. Damals wurde dieses Entgeltsystem eingeführt. Während der Konflikt allerdings zur Zeit des Interviews bereits der Vergangenheit angehört, existiert dieses Lohngestaltungssystem noch weiter. Isolde nennt hier, zum Anfang dieser Erzählsequenz, die Auslöser dieses zentralen Ereignisses (Schwierigkeiten der Gruppe durch die Änderung der Arbeitsorganisation) und präsentiert die später gefundene Lösung des Konflikts (Anpassung an die Veränderungen). Und es gab KollegInnen, die mit den Veränderungszumutungen zunächst nicht zu Recht kamen, doch auch die mussten sich schließlich an das System anpassen. Als Schwierigkeiten, die sich aus den betrieblichen Veränderungsvorgaben ergeben, nennt Isolde fehlendes Können und fehlendes Wollen. Die Leistungsstarken erleben die Schwachen und Unmotivierten sicherlich als Behinderung ihrer eigenen Arbeit. Sie können sich anstrengen soviel sie wollen, sie können
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die Minderleistungen der anderen nicht ausgleichen. Sie können sich aber auch nicht von der Gruppe abheben – denn nicht Einzelergebnisse zählen, sondern nur Gruppenergebnisse. Besonders ärgern sich die Leistungsträger sicherlich über die Unmotivierten, die mehr oder weniger offen die Arbeit verweigern. Damit verhindern die Schwachen und Unmotivierten, dass die Leistungsstarken soviel Geld bekommen, wie sie glauben zu verdienen. Die Schwachen könnten sich vom System überfordert fühlen und Angst haben. Wenn es auffällt, dass sie bestimmte Arbeiten nicht beherrschen, könnten sie herausgedrängt werden – vielleicht sogar ihren Arbeitsplatz verlieren. Es ist zu befürchten, dass die Schwachen ihr Nicht-Wissen eher verstecken. Die aktiven Veränderungsverweigerer setzt Isolde mit den älteren KollegInnen gleich, die nur noch ihre Zeit bis zur Rente ‘absitzen’. Da sie schon lange dabei sind, haben sie vor der Umstellung auf Gruppenarbeit sicherlich schon ein höheres Lohnniveau erreicht; wahrscheinlich waren einige von ihnen sogar Vorarbeiter. Durch die Gruppenarbeit könnte es für sie sowohl um Lohnverlust, als auch um Autoritätsverlust gehen. Diese Gruppe müsste am ehesten die ‘gute alte Zeit’ zurückwünschen. Isolde weist hier auf ein grundsätzliches Theorie-Praxis-Problem hin. Sie kritisiert die Umsetzung der theoretischen Vorgaben zur Gruppenarbeit. Eine Gruppe von Gleichen soll zusammenarbeiten, doch diese homogene Gruppe gibt es in der Praxis nicht. Da scheint es ein Missverhältnis zwischen Arbeitsleistung und Bezahlung zu geben. Möglicherweise erlebt sie, dass alle den gleichen Lohn bekommen, obwohl einige viel weniger arbeiten – oder vielleicht sogar, dass die Minderleister durch Alter und persönliche Zulagen mehr verdienen als die Jüngeren, die die meiste Arbeit machen. Dieser Konflikt bietet verschiedene Möglichkeiten, sich darauf zu beziehen. Erstens könnte man darüber diskutieren, wie kann man das System der Gruppenarbeit verändern oder sogar wieder abschaffen könnte? Voneinander lernen wäre eine Möglichkeit die Unterschiede zu verkleinern und den Konflikt (bei unverändertem System) damit zu lösen. Dann müsste es um die Frage gehen: Wie qualifiziert man die Schwachen? Wie motiviere ich die Unwilligen? Als drittes wäre vorstellbar, die Bezahlung noch stärker an der tatsächlichen Leistung des Einzelnen auszurichten. Hier stellt sich auch die Frage, wer nach Isoldes Auffassung für eine Konfliktlösung verantwortlich sein soll? Kann die Gruppe oder einzelne Gruppenmitglieder den Konflikt selbständig lösen oder muss jemand (Management, Vorgesetzte, Betriebsrat) mit hinzugezogen werden? Die Gruppenarbeit bietet dem Einzelnen theoretisch die Möglichkeit, sich in besonderer Art und Weise, durch mehr Eigeninitiative und Engagement, einzubringen. Doch sie begrenzt auch die Möglichkeiten des Einzelnen auf das, was innerhalb der Gruppe durchsetzbar ist. Unter welchen Bedingungen wäre überhaupt ein gruppeninternes, wechselseitiges voneinander Lernen möglich? Die Leistungsträger müssen nicht nur die
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Arbeiten beherrschen, sondern auch innerhalb der Gruppe anerkannt sein und als Vermittler akzeptiert werden. Und sie müssen die grundsätzliche Bereitschaft haben, den anderen das Wissen zu vermitteln. Isolde grenzt zu Beginn dieses Erzählstrangs das Thema ein, indem sie die eigentliche Ursache und die spätere Lösung des Konflikts präsentiert. Sie öffnet damit den Blick auf die Fragestellung: Wie werden Veränderungsprozesse in Gruppen gestaltet? Und sie lenkt den Blick von alternativen Perspektiven (z. B. einer politischen Betrachtung) ab. In welchem Zusammenhang macht ein solcher Einstieg Sinn? Es kann vermutet werden, dass solche grundlegenden Fragen in der damaligen Auseinandersetzung auch von Bedeutung waren. Isolde scheint hier ihre eigene Einstellung zu Veränderungszumutungen von außen als richtig herauszustreichen, weil sich, trotz Widerstandes durch einige KollegInnen, das neue System letztendlich durchsetzte. Möglicherweise herrschte damals Uneinigkeit in Bezug auf die eigentlichen Gründe und Lösungsmöglichkeiten für diese Schwierigkeiten. Die Gruppe könnte z.B. die Notwendigkeit von bestimmten Verhaltensweisen und Verhaltensänderungen angezweifelt haben. Dann würde Isolde hier vielleicht sagen wollen: Nicht mein (Fehl-) Verhalten im Zusammenhang mit dem Veränderungsprozess ist Thema des Konflikts, sondern die Fehleinschätzung der betrieblichen Lage und die Verweigerungshaltung bestimmter KollegInnen. Das weist darauf hin, dass sich Isolde (vielleicht auch hier im Interview) verteidigen will. Es geht also bei dem Konflikt zum einen um die Bedeutung der Anpassung an betriebliche Veränderungsvorgaben und zum anderen um den Umgang mit vermeintlich misslungenen Veränderungsprozessen. Isolde könnte im Laufe der Konfliktaustragung in eine Position gerückt sein, die man als positiv und vorausschauend, aber auch alternativ als unsensibel interpretieren könnte. Im nächsten Interviewabschnitt erzählt Isolde, wie sich aus diesen Anfangsschwierigkeiten ein handfester Konflikt entwickelte, der die Arbeitsleistung und das Betriebsklima in der Abteilung weiter beeinträchtigte und der schließlich in einer emotionsgeladenen Aussprache gipfelte. Zunächst sei ein junger Mann in die Arbeitsgruppe gekommen. Er habe sich für die Schwachen eingesetzt, das System kritisiert und zum offenen Widerstand („Wir müssen dagegen kämpfen.“) aufgerufen. In einem Einschub skizziert Isolde ihre, von der des jungen Manns abweichende, Meinung zum System der Gruppenarbeit. Sie nennt den Schutz der Schwachen zwar als wichtiges Ziel, erkennt aber auch uneingeschränkt die Autorität und Macht der Führung an. Daraus leitet sie ihre Position ‘Du musst dich anpassen! ’ ab und begründet sie mit ihrem Wissen um die Verhältnisse und Zusammenhänge im Betrieb. Anschließend erzählt Isolde, der junge Kollege habe sie und eine ihr nahe stehende Kollegin ständig attackiert,
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die übrigen Kollegen ausgehorcht, sich eingeschmeichelt und sie gegen die beiden Frauen aufgehetzt. Er habe die Gruppe damit „auf seine Seite gezogen“. Schließlich habe keine Zusammenarbeit mehr funktioniert, die Stimmung sei „fürchterlich gewesen“ und die Arbeitsleistung habe extrem darunter gelitten. Isolde erklärt, sie habe sich schließlich, durch die immer schwieriger werdende Situation und nach ganz persönlichen Attacken durch den jungen Mann, auch gegenüber der befreundeten Kollegin, zum Handeln verpflichtet gefühlt. Ihr Ziel für das gemeinsame Gespräch sei es gewesen, zu verhindern, dass es so weitergehe und ein „System“, einen „neuen Ansatz“ für die Zusammenarbeit zu finden. Anschließend geht Isolde auf das von ihr angeschobene Gruppengespräch genauer ein. Sie erwähnt Schwierigkeiten, die üblicherweise dann auftreten, wenn man es „schleifen“ lasse. Sie habe einen Betriebsrat mit hinzu gebeten und habe auch den damaligen Coach einladen wollen. Die anderen KollegInnen hätten sich aber gegen die Teilnahme des Coachs ausgesprochen („Nein, den wollen wir nicht mit dabeihaben.“). In dem, abends nach der Spätschicht stattfindenden Gespräch, habe dann nur der junge Mann gesprochen. Er habe alle KollegInnen auf seiner Seite gehabt. Isolde und ihre befreundete Kollegin seien von ihnen „gnadenlos fertiggemacht“ worden. Mit dem Erscheinen des jungen Manns verändert sich der Grundkonflikt. Aus diffusen Anpassungsschwierigkeiten wird ein offen ausgetragener Konflikt um die richtige betriebspolitische Meinung. Wer ist dieser junge Mann? Er könnte ein politisch interessierter Mensch sein, der hier etwas beobachtet, was er für ungerecht hält und sich deshalb betrieblich engagieren will. Dafür spricht, dass er die Gruppe auffordert, sich die Gruppenarbeit nicht gefallen zu lassen. Er hetzt sie auf, bietet sich als Anführer an. Der junge Mann würde damit versuchen, den Konflikt auf eine politische Ebene zu heben. Ziel wäre dann nicht die Anpassung an die Gruppenarbeit, sondern ihre Abschaffung. Damit würde er ein Thema besetzen, dass üblicherweise ins Tätigkeitsfeld des Betriebsrats fällt. Vielleicht entwickelt sich hier ein zukünftiges Betriebsratsmitglied. Hätte er eine eher pädagogische Orientierung, müsst er thematisieren, wie man einzelne, schwächere KollegInnen mit konkreten Unterstützungs- und Fördermaßnahmen für die Erfüllung ihrer Arbeitsroutinen befähigen kann. Doch wie sieht Isolde ihn? Aus ihren Erzählungen lässt sich eine zweite Deutung herauslesen. Der junge Mann könnte auch einfach ein rebellischer, unerfahrener Kollege sein, der Missstände aufzeigt und den naiven Idealismus mitbringt, dass man alles beeinflussen kann, wenn man sich nur wehrt. Für diese Sicht spricht zunächst, dass Isolde ihn ausschließlich als „den jungen Mann“ bezeichnet. Auch die Art und Weise, wie Isolde sich selber darstellt und sich von ihm abgrenzt – sie ist eine erfahrene Kollegin, die weiß was im Betrieb geht und was nicht – lässt ihn als einen unerfahrenen Neuling, der sich erst noch ‘die Hör-
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ner abstoßen’ muss, erscheinen. Das Verhältnis zwischen beiden stellt sich bei dieser Lesart als ein betriebliches Lehrer–Schüler–Verhältnis dar. Isolde als die Wissende und Erfahrene könnte dem jungen Mann erklären, wie die Arbeit in einem Betrieb funktioniert – so wie sie dies vor 16 Jahren durch die älteren KollegInnen gelernt hat. Damit könnte sie ihn vielleicht sogar vor problematischen Erfahrungen schützen, die sie früher machen musste. Er könnte Isoldes Äußerungen als wohlgemeinten Rat annehmen – er könnte sich aber auch gegen die Bevormundung wehren. Zusammenfassend kann man sagen, dass der junge Mann Akzente im Hinblick auf die betriebspolitische Dimension des Themas Gruppenarbeit setzt. Isolde steigt auf diese Argumentationsebene aber nicht ein. Sie spricht ihm die Kompetenz ab, die Unternehmenssituation richtig beurteilen zu können und konzentriert sich auf die umsetzungsbezogenen Problemaspekte. Sie will für die Gruppe erreichen, dass die sich den Gegebenheiten anpasst, und sie will für den jungen Kollegen betriebliche Sozialisations- und Lernprozesse anstoßen. Der junge Mann lehnt Isolde scheinbar als Lehrerin ab. Die daraus entbrennende Auseinandersetzung zwischen beiden könnte man als Ringen um die richtige politische Meinung oder alternativ als versuchte pädagogische Intervention durch Isolde deuten. Die Erzählung über die gegenseitigen Attacken erinnern abwechselnd an Mobbing und an einen Wahlkampf. Gekämpft wird mit harten Bandagen, abgestimmt wird mit den Füßen. Der Kampf wird mit Hilfe der Arbeitsgruppe ausgetragen. Jeder scharrt seine Anhänger um sich herum. Isolde hat aber nur eine Kollegin als Verbündete, der junge Mann ist erfolgreicher – er hat schließlich alle anderen auf seine Seite gezogen, aber nicht weil er die besseren Argumente hat, sondern weil er über „Charisma“ verfügt. Das merkt Isolde aber erst bei dem Katastrophengespräch. Hätte sie das Ganze vorher als eine politische Auseinandersetzung betrachtet, hätte sie sich ihrer Unterlegenheit bewusst sein müssen, sich weitere Verbündete suchen und eine offene Abstimmung um die richtige politische Linie zunächst vermeiden müssen. Wissend hätte sie sich wohl kaum auf eine solche Situation eingelassen. Vermutlich wurde Isolde vom Verlauf des Gesprächs überrascht. Auch im Rückblick geht es Isolde bei dem Konflikt immer noch um den Einfluss auf die KollegInnen, sich auf die Veränderungserwartungen der Führung einzulassen. Sie grenzt sich damit gegen andere mögliche Ursachen für den Konflikt, z.B. eigenes Fehlverhalten, ab. In dem Gruppengespräch war sie zwar die Angegriffene, die Person, die für alles die Schuld zugeschoben bekam. Doch für Isolde steht nach wie vor fest: Es geht eigentlich um das Thema Widerstand versus Anpassung an betriebliche Vorgaben. Sie selbst steht für die wissende, pragmatische und unpolitische Anpassung an die Unternehmensziele. Der junge Mann und auch die anderen KollegInnen repräsentieren Protest und Verweige-
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rung. Und für diese ihre Fähigkeiten wird Isolde nicht gelobt, sondern zum Sündenbock gemacht. Zur ungerechten Bezahlung durch die Führung kommt jetzt noch die ungerechte Behandlung durch die KollegInnen hinzu. Welche Bedeutung hat das Streitgespräch, in dem Isolde und ihre Freundin abgestraft werden? Teamsitzungen sind üblicherweise ein wichtiges, festes und offizielles Element in der Gruppenarbeit, dafür wird extra Arbeitszeit zur Verfügung gestellt. Diese Teamsitzung unterscheidet sich aber von den üblichen. Den eher informellen Charakter kennzeichnet Isolde dadurch, dass sie von „müssen uns mal zusammensetzen“ und „müssen mal da drüber sprechen“ redet. Der Betriebsrat verleiht dem Treffen einen offiziellen Charakter, die Nicht-Einladung des Coachs würde für ein quasi-privates Treffen sprechen. Der Hinweis auf die Schwierigkeiten, die auftreten, wenn man Probleme schleifen lässt und eben keine Sitzung einberuft, spricht für Besonderheiten im Hinblick auf zeitliche Aspekte (z.B. wie viel früher wird eingeladen) und könnte eine Entschuldigung dafür sein, warum einem in der Eile kleine Fehler unterlaufen können. Die Unregelmäßigkeiten scheinen einerseits im Teilnehmerkreis und andererseits in der Art des Zustandekommens der Sitzung zu liegen. Grund dafür könnte sein, dass Isolde mit ihrer Initiative offizielle Regeln missachtet hat. Vielleicht hätte eine Führungskraft – z.B. Gruppensprecher, Coach oder Chef – einladen oder zumindest informiert werden müssen. Es ist anzunehmen, dass unter normalen Umständen und unter Berücksichtigung der offiziellen Regeln eine Sitzung in dieser Form nicht zustande gekommen wäre. Möglicherweise ist es Isolde hier wichtig zu zeigen, dass die Situation so schwierig und die anderen KollegInnen und auch die Vorgesetzten so untätig waren, dass jemand aus der Gruppe handeln musste. Damit würde sie diese Gruppensitzung als eine besondere pädagogische Situation kennzeichnen und sich selbst als selbsternannte, verantwortungsvolle Vermittlerin, die die speziellen Aneignungsbedürfnisse und Barrieren der Gruppe berücksichtigen wollte – z.B. in dem sie den Coach nicht einlud. Die Gruppe hätte sich dann gegen eine kollegiale, pädagogische Intervention gewehrt und Isolde in ihrer selbst gewählten, exponierten Rolle abgestraft. Eventuell will sie aber auch zeigen, wie unberechenbar die Gruppe war; sie fordert solche Zusammentreffen und straft dann die Personen ab, die sich aktiv dafür einsetzen. Warum hat sich gerade Isolde in dieser Situation als Intervenierende berufen gefühlt? Sie weist mehrfach darauf hin, dass die alten Führungsstrukturen durch die Gruppenarbeit offiziell abgeschafft worden sind. Möglicherweise hat sie in der propagierten Eigenverantwortung eine Lösung für den Konflikt gesehen. Isolde zeigt sich hier als motivierte Mitarbeiterin, die nicht nur bereit ist, sich selbst an die neuen Vorgaben anzupassen, sondern die auch noch diesbezüglich auf ihre Kollegen einwirkt – und die sich von zusätzlich erschwerten Bedingungen, nämlich dem lernunwilligen jungen Mann, nicht abschrecken lässt.
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Isolde erklärt auf Nachfragen der Interviewerin, der junge Mann habe ihr und ihrer Kollegin vorgeworfen, sie „würde die Leute mobben“. Gegen diesen Vorwurf wehrt sich Isolde massiv. Sie führt die Teilnahme an einem Mobbingseminar als Gegenargument an und geht zum Gegenangriff über. Sie unterstellt dem jungen Kollegen Unwissenheit: „Du weißt doch gar nicht, was Mobbing ist!“ Sie baut ihre Position noch weiter aus, indem sie droht, sofort den Vorgesetzten und den Betriebsrat einzuschalten. Isolde erzählt, der Kollege sei daraufhin in die Defensive gegangen („Och, das hab ich nicht so gemeint.“). Anschließend beleuchtet und bewertet Isolde rückblickend ihr damaliges eigenes Verhalten den KollegInnen gegenüber und begründet damit, warum es sich hierbei nicht um Mobbing handeln kann. Sie habe den Leuten immer direkt gesagt, was ihr nicht passe. Selbstkritisch stellt sie fest, es könne sein, dass die sich manchmal durch ihre Wortwahl etwas angegriffen gefühlt haben. Das sei aber objektiv kein Mobbing, obwohl subjektiv vielleicht als Mobbing empfunden. Den Grund für ihre eigene problematische Sonderstellung („dass ich manchen dann en bisschen aufstoße“) sieht sie in der Unterschiedlichkeit zwischen sich selbst und ihren KollegInnen im Hinblick auf Kompetenz und Flexibilität begründet. Heute kann Isolde, anders als damals, nachvollziehen, dass sich die älteren Frauen durch die verstärkten Aktivitäten einer Jüngeren degradiert gefühlt haben könnten und, dass dies verstärkt zu Konflikten führen musste. In diesem Interviewabschnitt steht Isoldes Verhalten ihren KollegInnen gegenüber im Mittelpunkt. Sie wehrt sich immer noch gegen die Mobbingbeschuldigung. Aber sie beurteilt rückblickend ihr damaliges Verhalten auch kritisch. Isolde hat in der Vergangenheit ein Mobbingseminar besucht und weiß, wann ein Vorfall Mobbing ist und wann nicht. Das hat sie im Seminar gelernt. Der junge Kollege dagegen hat kein solches Seminar besucht. Auch hier finden wir die Gegenüberstellung von Isolde als der erfahrenen und wissenden Kollegin und dem unwissenden und unerfahrenen, jungen Mann. Hier bezieht sie sich aber nicht mit Vermittlungsabsichten auf ihn (nicht sie will ihn belehren oder bessern), sondern droht mit disziplinarischen Konsequenzen durch den Vorgesetzten als letzte mögliche pädagogische Maßnahme. Er ist für sie der eigentlich Schuldige, weil er Kollegen als Mobber verleumdet. Isolde verwendet hier zurückliegende Lernprozesse und im Seminar erworbenes Wissen, um eine Auseinandersetzung im betrieblichen Arbeitsalltag für sich zu entscheiden. Welche Mobbingdefinition verwendet Isolde dabei? Isolde bezeichnet Mobbing als Intrigen gegen Menschen, die anders sind wie z.B. Leistungsträger, die sich anpassen wollen. Isolde versteht unter Mobbing die verdeckte Äußerung von Kritik hinter dem Rücken der KollegInnen, was sie nicht getan habe. Im Gegenteil, sie habe ihre Kritik immer offen geäußert. Sie habe mit ihrem ruppigen Verhalten nur versucht, die KollegInnen dazu zu bringen, dass die auch die
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Veränderungserwartungen der Führung erfüllten. Damit sei ihr Verhalten kein Mobbing. Mit ihrer Mobbingdefinition müsste Isolde aber das Verhalten des jungen Kollegen, der, wie sie vorher erzählt hat, Intrigen gegen sie und ihre befreundeten Kollegin gesponnen hat, als Mobbing bezeichnen. Hier an dieser Stelle im Interview nimmt sie diese Einordnung nicht vor. Erst viel später äußert sie, der Kollege habe sie damals gemobbt. Isolde setzt sich an dieser Stelle lediglich mit der Einordnung ihres eigenen Verhaltens auseinander. Sie versucht möglicherweise zu begreifen, warum ihr damals die KollegInnen solch schlimme Sachen unterstellt haben. Dann ginge es hier um die Probleme, die auftreten können, wenn man als Leistungsträger bereit ist, sich anzupassen – während die Leistungsschwachen aufgehetzt werden. Isolde hat in ihrem Berufsleben bis dahin gelernt, dass man sich immer wieder neu an Veränderungen anpassen muss. Konflikte bekamen früher nur die, die nicht bereit oder fähig waren, sich anzupassen. Hier muss Isolde jetzt erleben, dass auch das Anpassen (an Unternehmensziele) zu Konflikten führen kann. Nach Auffassung des jungen Mannes bezeichnet Mobbing hingegen ungebührliches Verhalten den Schwachen gegenüber. Ferner kritisiert er indirekt an ihr eine zu starke, unkritische Anpassung an Unternehmensziele. Nach seiner Auffassung mobbt sie im Auftrag der Geschäftsleitung. Obwohl Isolde sich auf eine betriebspolitische Diskussion nicht einlassen will, geht es bei diesem Streit schon auch um das „richtige“ System und um die Frage: Welche Mittel sind erlaubt, um ein neues betriebliches System durchzusetzen bzw. zu boykottieren? Möglicherweise bot sich für Isolde, die ja keine Ausbildung hat, durch die Einführung der Gruppenarbeit, theoretisch eine Aufstiegschance. Betriebliche Veränderungen sind immer auch Chancen, sich zu beweisen und die eigenen Kompetenzen herauszustellen. Durch Engagement, Veränderungsbereitschaft und Leistung hätte sie möglicherweise eine innerbetriebliche Karriere machen können. Dass in der Praxis aber auch alten Hierarchien sehr wohl noch von Bedeutung sind, scheint Isolde noch heute zu verwundern. Nicht nur fachliches Wissen ist für einen innerbetrieblichen Aufstieg wichtig, sondern auch die sozialen Kompetenzen. Indem die KollegInnen sie ablehnten und beschuldigten, bescheinigten sie ihr das Fehlen der Soft Skills. Sie erklärt, dass sie heute die Dinge anders beurteile als damals. Damit weist sie auf Lernprozesse und den Zuwachs an Wissen in diesem Bereich hin. Isolde ist also eine Person, die aus konkreten Konflikterfahrungen lernt, indem sie sich auch im Nachhinein gedanklich damit beschäftigt. Sie musste aus diesem Konflikt lernen, dass man die Vergangenheit nicht einfach durch die offizielle Einführung eines Systems auslöscht und, dass die Feiertagsreden der Führung für die Praxis ihre Tücken haben. Wenn man sich selber als Lernwillige in einer Gruppe von Lernverweigerern bewegt, kann man Konfliktauslöser sein.
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Zum Ende dieses Erzählstrangs knüpft Isolde nochmals am Zeitpunkt nach dem misslungenen Klärungsgespräch an. Sie stellt die Absicht und das Ergebnis des Gesprächs einander gegenüber. Sie sagt, sie habe mit der Gruppe ein Konzept festlegen wollen, wie man, unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Fähigkeiten, harmonischer hätte zusammenarbeiten können. Doch durch die Dominanz des jungen Kollegen sei dies verhindert worden. Stattdessen sei es nur um ihre vermeintlichen Verfehlungen gegangen. Isolde erklärt weiter, sie habe anschließend dem jungen Kollegen prophezeit, er werde irgendwann auch noch von der Gruppe abgestraft werden. Die Nacht und den Tag danach beschreibt sie als äußerst schwierig, sie habe „nur noch geweint“. Anschließend beschäftigt sie sich mit der Frage, was warum „verkehrt gelaufen“ sei. Sie kommt zu der Erkenntnis, sie habe in diesem Konflikt nie eine Chance gehabt, da der Vater des jungen Manns ein freigestellter Betriebsrat sei. Abschließend fragt die Interviewerin, was bei der ganzen Geschichte denn herausgekommen sei. Isolde antwortet, sie habe sich freiwillig, „weg von der Linie“ „weggemeldet“. Sie sei dann an ihren jetzigen Arbeitsplatz gekommen. Isolde bringt hier ihre Erzählung zu einem vorläufigen Abschluss. Sie präsentiert aber ein halboffenes Ende. Für sich selbst hat sie die endgültigen Konsequenzen gezogen – sie verlässt die Gruppe. Doch im Hinblick auf die Gruppe und den jungen Mann bleiben die Dinge in der Schwebe. Den jungen Mann betreffend, verwundert es zunächst, dass Isolde auf ihn, der sie so beleidigt und angegriffen hat, nicht aggressiv reagiert. Sie präsentiert sich eher professionell distanziert. Im Sinne von ‘wer nicht hören will muss fühlen’, führt sie ihm die Konsequenzen seines Handelns vor Augen. Sie versucht dabei gar nicht mehr, ihn zu belehren. Das erinnert an Lehrer, die Schulabbrechern prophezeien, dass sie in der Arbeitslosigkeit landen, wenn sie so weitermachen. Damit zeigt sie, dass sie trotz seiner Machtdemonstration immer noch davon überzeugt ist, dass sein politisches Vorhaben scheitern muss. Isolde zieht das Thema dabei erneut von der betriebspolitischen auf die pädagogische Ebene zurück. Sie sieht in ihm den Lernverweigerer und zieht sich im Bewusstsein, dass sie hier als Vermittlerin gescheitert ist, zurück. Zum Abschluss demonstriert sie ihm aber nochmals ihre pädagogische Kompetenz. Sie kennt die KollegInnen besser als er und weiß deshalb, dass die ihn auch nicht auf Dauer unterstützen werden. Im weiteren Interview bietet sie weitere Lösungen für die noch ungelösten Teilkonflikte an.
Ein klärendes Gespräch mit dem Coach: Isolde erzählt von der Entwicklung des Konflikts direkt im Anschluss an das Streitgespräch. Als sie das nächste Mal zur Arbeit kommt, muss sie sich mit
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ihrem Coach auseinandersetzen. Aber Isolde sucht ihn nicht aus eigenem Antrieb auf, sondern eine Kollegin, die die Interviewte am vorangegangenen Abend besonders anfeindete, weil sie Isolde beschuldigt, schuld am Streit mit ihrem Ehemann zu sein, beschwert sich beim gemeinsamen Coach. Isolde berichtet: „Aber ich durfte mich dann am andern Tag urplötzlich bei meim Coach dafür verantworten. Einmal, weil ich dieses Gespräch angeleiert hab und dann zum andern. Wie gesagt, ich weiß bis heute nicht, was diese Frau Böses von mir gewollt hat. Also es war ganz bewusst, ich hab der Frau eigentlich nichts getan. Sie wollte mich bewusst schlecht machen. Sie wollte mich in nem ganz miesen Licht darstellen. […]. Natürlich hatt ich das Problem, dass mein Coach. Sie war jemand, die gesagt hat: „Nein, der Coach soll nicht mit dabei.“ Und ich hab gesagt: „Er gehört mit zu diesem Gespräch bei.“ Und mein Coach, wir hatten dann gleich dieses Gespräch, zu Beginn der Spätschicht. Er war dann bitter enttäuscht von mir. Allerdings war er von mir in sofern enttäuscht, weil er gesagt hat, also er hätte mit dazugehört, er hätte erwartet, dass ich ihn mit dazuhole. (.) Und die andere Problematik, ja. Die hat mir dann halt vorgeworfen, ich würd mich immer hervorheben und ich hätte ne große Klappe und ich würde andere Mitarbeiter drangsalieren. Gut da hat er dann gesagt, ich hätte halt ne sehr dominante Ader an mir. Und da hab ich gesagt: „Gut, das kann sein. Das mag sein. Das ist ja auch ganz gut, wenn man das auch mal hört.“ Ich hab dann halt auch versucht, dem ganzen die Schärfe zu nehmen, indem ich gesagt hab, zu meiner Kollegin: „Das kannst du mir sagen, aber du musst mich dafür nicht anschreien“ – weil sie hat permanent geschrieen während des Gesprächs – sag ich, „und dann kann ich das verbessern. Wenn mir das keiner sagt, dann kann ich auch nichts an mir ändern.“ Weil es ist ja so, wie wir grad heute Abend gelernt haben, die Sichtweise aus der andere einen sehen ist eine völlig andere als wie man selbst sich wahrnimmt.“ (6:31-8:10)
Bei dem Gespräch zwischen dem Coach, Isolde und ihrer Kollegin geht es um zwei Themen: die Beschwerde der Kollegin über Isoldes Verhalten ihr gegenüber und die Sache, dass der Coach vom Gruppentreffen ausgeschlossen worden war. Isolde erklärt, sie habe sich „urplötzlich“ bei ihrem Coach „verantworten“ müssen. Das „urplötzlich“ wirkt hier etwas deplaziert. Konnte sie wirklich erwarten, dass niemand ein Wort über den Vorfall verlieren würde? Vielleicht ist Isolde aber auch nur überrascht, dass alleine sie in die Kritik geraten ist, während die Kollegin, der junge Kollege und die anderen mit keinen weiteren Konsequenzen rechnen mussten. Isolde könnte sich hier beschweren wollen, dass, wenn es gerecht zugehen würde, sich der junge Mann auch hätte verantworten müssen – auch er ist nicht immer mit allen nur freundlich umgegangen. So hat er z.B. der befreundeten Kollegin angedroht, ihr das Leben zur Hölle zu machen. Isolde könnte auch sagen wollen, dass, wenn man schon den sozialen Umgang miteinander thematisiert, es auch ausgesprochen werden muss, dass es die anderen waren, die den Coach nicht dabei haben wollten. Wenn man ihr, Isolde, etwas vorwerfen kann, dann höchstens, dass sie sich nicht über die anderen hinweggesetzt hat. Isolde scheint sich hier ungerecht behandelt zu fühlen. Für sie sollen andere Regeln gelten als für die anderen. Sie wird hier bereits als die alleinige Schuldige hinge-
Eine in Dauerkonflikten steckende Mitarbeiterin und beschuldigte Mobberin
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stellt. Ganz in diesem Sinne begreift sie dieses Gespräch als eine Situation, in der nur sie sich „dafür verantworten“ müsse. Welche Bedeutung nimmt diese Kollegin im Gespräch mit dem Coach ein? Sie steht hier stellvertretend für die zehn anderen Frauen, die an der Auseinandersetzung zwischen den beiden Hauptstreitenden beteiligt waren. Das Problem, dass sie mit ihrem Coach jetzt haben könnte, ist, dass er den Konflikt mit der Kollegin nicht als Ganzes, objektiv und im Zusammenhang beurteilen wird, weil er sich selbst von Isolde hintergangen gefühlt haben könnte. Vielleicht unterstützt er jetzt auch die Gruppe um den jungen Mann. Vielleicht war Isolde mit dem Coach im Arbeitsalltag üblicherweise einer Meinung und die anderen lehnten ihn ab, weil auch er die älteren Frauen mit Veränderungszumutungen bedrängte. Für Isolde würde es dann in diesem Klärungsgespräch darum gehen, zu verhindern, dass die anderen zwischen sie und den Coach einen Keil treiben. Sie sagt, die Kollegin habe versucht, sie in einem ganz schlechten Licht erscheinen zu lassen. Wer ist dieser Coach? Welche Aufgaben und Kompetenzen hat er? Er scheint nicht Teil der Gruppe zu sein, er hat in irgendeiner Weise eine Vorgesetztenfunktion. Das Wort Coach verbindet man aber weniger mit einem klassischen Vorgesetzten, als mit einer Art Helfer und Vermittler. Zwischen wem könnte er vermitteln? Er könnte die Gruppe in ihren Selbstorganisationsprozessen unterstützen. Damit würde es zu seinen eigentlichen Aufgaben gehören, bei solchen Klärungsgesprächen dabei zu sein. Isolde erklärt dann auch, dass ihr Coach von ihr persönlich „bitter enttäuscht“ gewesen sei. Sie betont dabei besonders das Wort „mir“. Dahinter könnte die Aussage stehen: Von den anderen hab ich nichts anderes erwartet, aber von dir hätte ich es erwartet. Das würde auf ein engeres Verhältnis zwischen Coach und Isolde hinweisen. Sie erklärt anschließend noch genauer, warum er so enttäuscht von ihr war. Er habe gesagt, „er hätte mit dazugehört“, und er hätte erwartet, dass Isolde ihn „mit dazuhole“. Seine Kritik bezieht sich nicht darauf, dass Isolde die Sitzung einberufen hat oder dass sie in der Arbeits- oder Freizeit stattfand. „Er hätte mit dazugehört“ kann bedeuten, dass es seine offizielle Aufgabe ist, in Konflikten innerhalb der Arbeitsgruppe zu intervenieren. Es kann aber auch sein, dass er damit ausdrückt, dass er als Coach auch immer darauf angewiesen ist, von den Mitarbeitern informiert zu werden und, dass er es bedauert, dass Isolde hier ein sonst gutes Vertrauensverhältnis beschädigt hat. Isolde hat die Erklärung für ihr Verhalten bereits an den Anfang gestellt – auch in der Erzählung des ersten Teilkonflikts hat sie bereits darauf hingewiesen. Damit wirbt sie scheinbar um Verständnis – sie muss sich dieses Versäumnis zuschreiben und steht auch dazu. Es könnte sein, dass sie sich heute darüber ärgert, dass sie so naiv war. Das wichtigste Anliegen für Isolde ist hier also die Klärung zwischen ihr und ihrem Coach: Ist das Vertrauensverhältnis noch zu retten? Die
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Kollegin mit ihrer Beschwerde ist dabei eine zusätzliche Störung. Sie verlangt vom Coach ebenfalls Aufmerksamkeit für ihr Problem. Jetzt könnte sie eine Chance sehen, gegen Isolde, die sonst immer mit dem Coach einer Meinung ist, zu punkten. Isolde geht anschließend nochmals ausführlicher auf die Vorwürfe der Kollegin ein. Sie präsentiert sie, stellt ihnen die Meinung des Coachs gegenüber und formuliert die Lehren die sie selber daraus zieht. Die Kollegin gesteht Isolde nicht zu, dass diese sich in den Vordergrund drängt und eine führende Rolle innerhalb der Gruppe einnehmen will. Sie interpretiert Isoldes Bemühungen negativ als Drangsalieren. Der Coach sagt jetzt nicht, dass bei Gruppenarbeit jeder eine solche Aufgabe anstreben kann – damit würde er die Kollegin disziplinieren – oder dass Isolde gegen Gruppenarbeitsregeln verstoße – damit würde er Isolde disziplinieren. Indem er ihr Verhalten mit einer Charaktereigenschaft (Dominanz) in Verbindung bringt, bleibt er unbestimmt: Er könnte meinen, dass Isolde eine geborene Führungspersönlichkeit ist. Er könnte Isolde damit aber auch bescheinigen, dass sie eine unsoziale Person, ja vielleicht sogar eine Mobberin ist. Einerseits bestätigt er also inhaltlich die Ausführung der Kollegin (es gibt ein Verhalten, dass man negativ interpretieren kann), andererseits öffnet er den Deutungshorizont in eine neutralere Richtung. Die Reaktion des Coachs kann man als Loyalitätsbeweis Isolde gegenüber werten. Er war zwar von ihr enttäuscht. Das hat ihn aber nicht veranlasst, sie vor der Kollegin zu demütigen. Isolde reagiert auf diese Rückmeldung dann auch einsichtig und lernbereit. Sie gesteht ein, dass das schon so sein könne und sagt, dass es „auch ganz gut“ sei, wenn man das auch mal höre. Ihre Äußerung kennzeichnet sie als bewusste Strategie, um dem Gespräch etwas von seiner „Schärfe“ zu nehmen. Sie fordert die Kollegin auf, ihr zukünftig solche Sachen selbst zu sagen, denn nur dann könne sie, Isolde, sich auch „verbessern“/ sich „ändern“. Eingelagert in diese Ermutigung ist eine Maßreglung. Die Kollegin soll nicht so rumschreien. Isolde signalisiert hier einerseits, mit Adressierung an den Coach, Interesse an der Kollegin und eine grundsätzliche Veränderungs- und Lernbereitschaft. Andererseits tritt sie der Kollegin gegenüber als Belehrende auf: Beschwerden trägt man sachlich vor und schreit dabei nicht herum! Zum Abschluss stellt Isolde einen Zusammenhang mit dem derzeitigen Seminar her. Erst heute Abend habe sie gelernt, dass Selbstbild und Fremdbild immer differieren. Isolde hat das wenige Stunden vorher Gelernte zeitnah genutzt, um die Rückmeldung der Kollegin und des Coachs im Nachhinein nicht mehr als unumstößliche Wahrheit, sondern als persönlich gefärbtes Feedback zu betrachten. Hier demonstriert Isolde im Interview, wie sie neues Wissen nutzt, um vergangene Ereignisse auch noch viel später zu verarbeiten. Außerdem sig-
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nalisiert sie der Interviewerin und Erwachsenenpädagogin, dass sie im Seminar zugehört und gelernt hat.
Die ‚Führung’ diszipliniert die Arbeitsgruppe: Aus Isoldes Sicht ist der Konflikt innerhalb ihrer alten Arbeitsgruppe durch ihren Weggang nicht gelöst. Erst ein dreiviertel Jahr später kommt es zur endgültigen Befriedung. Isolde erzählt davon mit der Distanz einer Person, die in einem anderen Team arbeitet und alles nur beobachtet (vgl. 8:34-10:20). Sie berichtet, dass es erneut zu einer Gruppensitzung gekommen sei, weil die Zusammenarbeit weiterhin nicht funktioniert habe. Der Gruppe sei „von oben“ (8:45-46) massiv gedroht worden, einen Psychologen einzuschalten oder das Team aufzulösen, falls keine Einigung erzielt werde. Es kommt hier also zu einer Wiederholung der Situation, die Isolde zum Verlassen der Gruppe bewegt hatte. Doch dieses Mal treten die offiziellen Führungskräfte mit Veränderungserwartungen und mit der Androhung von Konsequenzen an die Gruppe heran. Die Ziele der Maßnahme decken sich grundsätzlich mit dem, was Isolde bei ihrem misslungen Interventionsversuch vorhatte. Die Führung hat hier allerdings ihre Veränderungserwartung gegenüber den Mitarbeitern relativiert und geht jetzt auch davon aus, dass einige Mitarbeiter sich nicht mehr ändern können. Es ist dem einzelnen Mitarbeiter freigestellt, ob er sich verändert und damit mehr Geld verdient oder ob er sich mit weniger Geld zufrieden geben will. Das Neue ist hier, dass Wissen und Nicht-Wissen öffentlich gemacht werden. Isolde hatte es mit ihrem Interventionsversuch nicht geschafft, Transparenz in die Gruppe zu bekommen. Isolde stellt schließlich die Auswirkungen dieses zweiten Interventionsversuchs dar. Es gebe wieder eine harmonische Gruppe, in der sich jeder nach seinen Möglichkeiten einbringe und auch noch ein „bisschen was über seine Grenze hinweg“ (9:14-15) leiste. Sowohl was das Gruppenklima angehe, als auch in Bezug auf die arbeitsbezogenen Gruppenleistung sei die Intervention erfolgreich gewesen. Durch den zweiten gelungenen Interventionsversuch zeigt sich, dass der Konflikt grundsätzlich lösbar war und, dass Isoldes Analyse und Zielsetzung richtig waren. Isolde ist bei ihrer Intervention nicht gescheitert, weil sie etwas falsch gemacht hat, sondern weil, obwohl die Selbstorganisation verordnet war, niemand aus der Gruppe den Konflikt hätte lösen können. Die Führung musste letztlich gegen die eigenen Grundsätze verstoßen und konnte nur durch Machteingriff eine Klärung herbeiführen. Isolde hat schließlich auch in dem Grundkonflikt (Anpassung oder Widerstand) Recht behalten.
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Die Lehre für den jungen Mann: Es bleibt die Frage offen, welche Auswirkungen diese Befriedung auf das Verhältnis zwischen dem jungen Mann und Isolde hatte. Isolde erzählt von einem Gespräch der beiden in der Kantine. Sie präsentiert einen Dialog, in dem der junge Kollege versucht, ihr ein Gespräch aufzuzwingen, sie aber nur ganz einsilbig antwortet: „Und dieser junge Kollege kam dann an und setzte sich mal zu mir in der Mittagspause an den Tisch und sagte: „Eigentlich sind wir doch ganzschön bekloppt.“ Sag ich: „Ach?“ „Wir sind doch acht Stunden hier, um unser Geld zu verdienen.“ Sag ich: „Joo.“ „Ja, da müssen wir uns ja nicht an die Hälse kriegen.“ Sag ich: „Ich weiß jetzt nicht, was duu mir damit sagen willst.“ „Ja, ich hab’s jetzt verstanden. Und ich hab vor zwei Wochen dagesessen vor der Gruppe und ich weiß jetzt wie man sich fühlt, wenn alle auf einen einschlagen.“ Sag ich: „So.“ Genauso wie ich damals in der Nacht dagesessen hab, genauso hat er dann da dagesessen. Dann ham alle erst mal gesagt, was sie von ihm halten. Und dann hab ich gesagt: „Ich hab dir gleich gesagt, es wird so kommen. „Ja aber jetzt ham wir uns alle miteinander arrangiert. Und ich versuch jetzt, an meinen Fehlern zu arbeiten. „Jo,“ sag ich aber die Heike hast du fast herzkrank gemacht.“ „Wie ich das wieder gut machen soll, weiß ich net.“ (9:19-30)
Isolde hat also auf ganzer Linie Recht behalten. Der junge Kollege, der ihr damals nicht glauben wollte, muss am eigenen Leib erfahren, dass die Gruppe Führungsfiguren opfert. Er bleibt danach in der Arbeitsgruppe und verspricht jetzt aus diesen Fehlern zu lernen. Damit offenbart er eigene Defizite und signalisiert Lernbereitschaft. Jetzt ist auch er bereit, sich anzupassen. Damit spricht er Isolde im Nachhinein die pädagogische Kompetenz zu. Er hätte sich schmerzhafte Erfahrungen ersparen können, wenn er bereits damals bereit gewesen wäre, von ihr zu lernen. Jetzt scheint die Beziehung zwischen Isolde und dem jungen Mann geklärt. Er ist für sie ein junger Kollege, der erst noch lernen muss wie Betrieb funktioniert. Isolde testet die neue Beziehungsdefinition gleich aus und präsentiert sich als Pädagogin. Sie führt ihm vor Augen, welch schlimme, nicht wieder gutzumachende Konsequenzen sein Verhalten für die Kollegin Heike hätte haben können. Indem er sich reumütig zeigt, bestätigt er das LehrerSchüler-Verhältnis.
Ein Resümee - Zielerreichung durch gelungenes Anpassungslernen: Zum Abschluss zieht Isolde ein Resümee über den gesamten großen Konflikt (vgl. 10:09-21). Nach ihrer Einschätzung habe der Konflikt für alle – „die Firma“ (10:09), „die Leute“ (10:11), den junge Mann und auch für sie selber ein
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„gutes Ende“ (10:09) genommen. Für Isolde birgt der Verlauf und Ausgang dieses Konfliktfalls eine positive, als auch eine problematische Erfahrung. Der Grundkonflikt hat sich gemäß ihrer Einschätzung entschieden: Die Führung setzt ihre Interessen immer durch. Für den einzelnen Mitarbeiter ergibt sich zwangsläufig daraus die Notwendigkeit, sich anzupassen. Isolde ist die Person, die das von Anfang an wusste. Isolde hat den Konflikt aber auch als eine Situation erlebt, in der sie persönlich als Intervenierende von der ganzen Gruppe abgelehnt wurde. Dadurch musste sie lernen, dass auch Intervenieren und Lehren zu Konflikten führen kann. Sie hat sich als Mitarbeiterin profiliert, ist aber als Intervenierende gescheitert.
1.1.2.2
Arbeitsalltag zwischen Führungsaufgaben und Fließbandarbeit
Ihren zentralen Konflikt grenzt Isolde von einem 10jährigen Dauerstreit aus der Vergangenheit ab. Ihre Arbeit als Springerin sei zwar interessant, aber auch konfliktträchtig gewesen, so dass sie sich nach zehn Jahren daraus zurückzogen habe. „Ich hab Jahre lang ne Tätigkeit inne gehabt im Betrieb als Springer, so für die Orga-Frauen. Ich bin normalerweise in der Produktion, also normalerweise diese Fließbandarbeit, eigentlich, ich nenn’s jetzt einfach mal so. Ich scheine aber offensichtlich nicht so auf den Kopf gefallen zu sein. Weil man hat dann halt für die Damen im Orga-Team, also Organisation, das heißt Personalplanung und Vorbereitung von Protokollen. Das ist schon immens viel, was da gemacht werden muss. Man steuert also nen ganzen Bereich. Man legt die Abläufe fest für die Linien und so. Und das hab ich gemacht. Ich hab in der Kommissionierung für Etiketten gearbeitet. Ich hab. Ich bin also sehr flexibel gewesen immer. Man konnte mich, ich weiß nicht an wie vielen Arbeitsstellen irgendwann einsetzen. Ich hab also mehrere Male in der Woche die Schicht auch getauscht. Da war die Frau S. immer gut, die hat das immer gemacht.“ (17:38-50)
Isoldes damalige Aufgabe war es also, sich ständig an neue Arbeitsbedingungen anzupassen. Es handelte sich dabei aber nicht nur um unterschiedliche Arbeitsroutinen, sondern um verschieden anspruchsvolle Tätigkeiten und um unterschiedliche soziale Welten innerhalb des Betriebs. Wenn sie im Organisationsbereich eingesetzt war, übernahm sie Führungsaufgaben, musste sich gegenüber den anderen Orga-Frauen im Büro behaupten und ging auf Distanz zu den KollegInnen in der Produktion. Wenn sie am Fließband eingesetzt war, wurde auch sie von den Orga-Frauen geführt und musste sich in ihrer Produktionsarbeitsgruppe einfügen. Isolde streicht heraus, dass die Arbeit im Orga-Büro anspruchsvoller war, als die in der Produktion. Das heißt, nicht alle KollegInnen an den Maschinen hatten die notwendigen Kompetenzen, um dort auszuhelfen. Isolde unterscheidet sich von ihren ArbeitkollegInnen in der Produktion also
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auch durch allgemeine, intellektuelle und arbeitsbezogene Fähigkeiten. Von den KollegInnen aus dem Orga-Bereich unterscheidet sie sich durch ein Weniger an Routine und Schnelligkeit. Auch bei diesem Konflikt streicht Isolde ihre grundsätzliche Lernfähigkeit und Anpassungsbereitschaft heraus. Die Anpassungsfähigkeit ist die grundlegende Anforderung an sie als Springerin. Sie gibt den Springerjob schließlich auf, weil sie die Dauerkonflikte mit den Orga-Frauen und den KollegInnen in der Produktion zu stark belasten: „Und da kannst du machen was du willst, du machst es immer verkehrt. […] Du findest keinen gescheiten Weg, wie du dann mit den Leuten umgehen sollst. […] Es war auch wieder en Arbeitsplatz mit vielen Konflikten.“ (19:52-20:04) Erst im Nachhinein wird ihr klar, dass ihr Chef sie, um sie als kompetente Springerin nicht zu verlieren, jahrelang ihre Festanstellung im Orga-Team verhindert hatte. Isolde muss hier feststellen, dass es auch ein Nachteil sein kann, wenn man zu flexibel und anpassungsbereit ist.
1.1.2.3
Konfliktvermeidung statt Konfliktbewältigung
Heute arbeitet sie in einem relativ kleinen Team. Dort gibt es, nach ihrer Aussage, keinen ernsthaften Konflikt. Ihre aktuelle Konfliktstrategie, mit der sie auch Erfolg hat, ist eher defensiv, und auf Prävention ausgelegt („Ich kann Konflikten aus dem Weg gehen, wenn ich das will. […] Es sind schon weniger Konflikte, weil ich ihnen aus dem Weg gehe.“ (20:45-46)). Isolde hat ihre alten Konfliktstrategien teilweise abgelegt und sich neue angeeignet. Sie versucht heute selbst zu entscheiden, wann sie in eine Konfliktaustragung einsteigt bzw. den Fehdehandschuh nicht aufnimmt. Als ihr Coach sie jüngst des Mobbings beschuldigte, entschied sie sich gegen eine Konfliktaustragung: „Ich hab jetzt erst wieder die Erfahrung gemacht, dass ich mich halt en bisschen dumm über einen Kollegen geäußert hab, der so en bisschen als Querulant bekannt ist. Und es ist manchmal wirklich besser, man behält seine Meinung für sich. Nee, ich musste halt mal wieder ne flapsige Bemerkung da drüber machen. Ja, die ist dann weiter getragen worden und dann stand wiederum mein Coach vor mir, und meinte, was das denn gewesen wäre. Und dann hatte ich halt schon gleich das nächste Problem am Halse. Ich wusste erst gar nicht, was er von mir wollte. Und dann hab ich. „Ja, ob ich die und die Äußerung gemacht hätte?“ Sag ich, „ja so in Etwa hab ich mich ausgedrückt.“ Damit sollte ich mich gefälligst zurückhalten, das wäre Mobbing. Das wäre halt ne Basis für Mobbing. […] Also er [der Feuerwehrkollege: Anmerkung M.N.] hat also permanent versucht, Urlaub zu bekommen und die Gruppe hat gesagt, „es geht nicht“. Und auch vom Orga-Team kam eigentlich, „nein, es geht nicht!“. Und dann hat er plötzlich eine Stunde vor Schichtbeginn hat er angerufen. Es gab auch en Gewitter an dem Abend, das ist richtig. Er kann nicht kommen, er hat nen Feuerwehreinsatz. Und da hab ich nur gesagt: „Na ja, so kann man es auch machen.“ Und dafür durfte ich mich in der darauf folgen-
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den Woche verantworten. […] Dieser, jene, welche junge Mann, über den ich halt diese dusselige Bemerkung gemacht habe, das ist der Nachbar von meinem Coach.“ (20:50-22:30)
Isolde versucht sich gezielt in ihrer Arbeitsgruppe zurückzunehmen, um weniger anzuecken und um Konflikte zu vermeiden. Aktuelle Schwierigkeiten zeigen ihr, dass ihr Lernprozess immer noch nicht abgeschlossen ist. Durch unüberlegte Äußerungen gerät sie erneut in die Kritik. Ihr derzeitiger Coach, der eine private Nähe zu ihrem Feuerwehrkollegen hat, fordert sie auf, weiter an ihrer Anpassungsfähigkeit zu arbeiten (zu lernen, wann sie den Mund halten muss). Sie präsentiert ihn als übereifrigen und strafenden Lehrer, der mit Androhungen von Sanktionen bereits auf flapsige Bemerkungen reagiert und der keine Ahnung von Mobbing hat. Ihm gegenüber versteckt sie allerdings ihr Wissen über Mobbing. Sie lässt sich von ihm beschuldigen, ohne dass sie sich wehrt.
1.1.2.4
Konflikte beim Einstieg ins Berufsleben
Isolde berichtet, dass die betrieblichen Konflikte bei ihr direkt mit dem Einstieg ins Arbeitsleben begonnen haben. Bereits in der Eingangssequenz geht sie auf die Schwierigkeiten beim primären betrieblichen Anpassungsprozess ein. Damals, vor Einführung der Gruppenarbeit, gab es die älteren Frauen, die sich um die Neuen kümmerten. Isoldes Anfangsprobleme gingen aber bereits über das normale Maß hinaus (vgl. 33:50-34:25). Isolde unterscheidet sich von den sonstigen Neueinsteigern in zweierlei Hinsicht: zum einen durch ihre Nähe zum Vorgesetzten – sie ist mit dem Sohn liiert – zum anderen dadurch, dass sie, was die Arbeit angeht, als etwas Besseres in Erscheinung tritt. Sie bekommt, obwohl sie ein Neuling ist, gleich eine Sonderaufgabe. Sie erlebt dadurch vom ersten Tag an die Ablehnung sowohl durch die älteren KollegInnen als auch durch die zweite junge Frau, die zeitgleich mit ihr in den Betrieb kommt. Warum erzählt Isolde ihre doch relativ normalen Eingewöhnungsschwierigkeiten (ohne konkrete Vorfälle) als Konfliktgeschichte? Für Isolde bedeutete der Eintritt in den Betrieb, dass sie auf unabsehbare Zeit den Traum von einer Berufsausbildung begräbt. Daraus resultiert die berufsbiographische Bedeutung dieses Ereignisses. Außerdem haben die damaligen Erfahrungen ihre Wichtigkeit auch über die Zeit der erschwerten Einarbeitung hinaus. Isolde fragt sich, warum ihr ganzes Berufsleben so konfliktbelastet ist und ob es an ihr liegt, dass vieles „verkehrt gelaufen“ (34:24) sei. Isolde markiert den Zeitpunkt ihres Eintritts in diesen Betrieb selber als möglichen Anfangspunkt einer schwierigen, alternativen beruflichen Entwicklung. Damals begann Isolde, sich bestimmte Verhaltensmuster aneignete (vgl. Eingangssequenz: „Du musst intrigieren!“), die ihr zwar das ‘Überleben’ sicherten, die aber zu Gewohnheiten wurden, die Konflikte
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auslösten. Isolde bemüht sich seit dem sich zu ändern: „Hallo, du willst doch gar nicht so eine Atzel sein. Du willst dich doch nicht. Du willst doch nicht genau so jemand sein, wie’s die eine oder andere Kollegin schon ist. So voller Boshaftigkeit.“ (31:43-44).
1.1.2.5
Zusammenfassung
Isolde lässt die Entwicklung ihrer gesamten Berufsidentität unter dem Fokus Konflikte erscheinen. Sie unterscheidet zwischen dem einen dominanten, zentralen Konflikt und mehreren, weniger spektakulären peripheren Fällen. Die peripheren Konflikte sind im Hinblick auf den Eskalationszustand, eher minderschwere Fälle, doch sind sie unter zeitlichen Gesichtpunkten bedeutsam. Die Vorfälle erstrecken sich über die gesamten 16 Jahre ihrer Berufstätigkeit. Diese Konflikte treten nicht nur in betrieblichen Umbruchsituationen auf – sondern sind auch normale Alltagsereignisse. Der zentrale Konflikt arbeitet mit der Unterscheidung von ‘vor der Einführung der Gruppenarbeit’ und ‘nach der Einführung der Gruppenarbeit’. Der Hauptauslöser dieses Konflikts kommt von der Führung, die mit weit reichenden Veränderungserwartungen an die Gesamtheit der Mitarbeiter herantrat, was dazu führte, dass sich die Arbeitsgruppe in Befürworter, Verweigerer und Schwache aufspaltete. Isolde übernahm in dieser Auseinandersetzung einen aktiven Part. Sie, die sich auf die Veränderungserwartungen der Führung eingelassen hatte, versuchte in ihrer Arbeitsgruppe zu intervenieren, um eine Anpassung der Einzelnen an die Gruppenarbeitsbedingungen zu erzwingen. Sie scheiterte dabei und zog sich anschließend in die Defensive zurück. – Die peripheren Konflikte werden durch den zentralen Konflikt in die Fälle vorher und in die Fälle nachher unterteilt. Diese Unterscheidung ist bedeutsam im Hinblick auf den Umgang mit Konflikten. Während Isolde früher unkontrolliert und ungewollt in Konflikte hineinstolperte, praktiziert sie heute eine Strategie der aktiven, wissenden Konfliktvermeidung. Vor Einführung der Gruppenarbeit (Berufsanfangsschwierigkeiten, Springerkonflikt) steht bei Isolde die Anpassung absolut im Vordergrund. Ihren ersten betrieblichen Konflikt kann Isolde auf diesem Weg lösen. Im zweiten muss sie erkennen, dass sie sich in einer unlösbaren Dilemmasituation befindet, die sie nur durch das Aufgeben einer ihrer beiden Rollen lösen kann. Hier kommt als zweite Strategie das Aus-dem-Feld-Gehen hinzu. Sie muss außerdem erkennen, dass auch eine zu große Anpassungsbereitschaft zu Konflikten führen kann. Für Isolde bedeutet der zentrale Konflikt die wichtigste Erfahrung im Bereich ‘Umgang mit Konflikten’. Sie beschäftigt sich nicht mehr nur ausschließlich mit ihrer
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eigenen Anpassung, sondern wirkt intervenierend auf die veränderungsunwilligen und unfähigen KollegInnen ein. Hier in ihrem zentralen Konflikt übernimmt sie also eine aktivere Rolle. Sie tut dies aber nicht, um die anderen in deren Entwicklung zu unterstützen, sondern weil Isolde durch die Nicht-Angepassten in ihrer eigenen Anpassung und möglichen (finanziellen) Weiterentwicklung behindert ist. Aus dem Scheitern zieht sie ihre Konsequenzen für die Zukunft – sie will nie wieder intervenieren. Als letzten Ausweg wählt sie wieder das Aus-demFeld-Gehen. Nach dieser zentralen Erfahrung bemüht sie sich intensiv ihre Konfliktumgangsformen von Konfliktaustragung auf Konfliktvermeidung und mehr Selbststeuerung in Konfliktsituationen umzustellen. Jetzt geht es ihr um die Festlegung der Kriterien, die sie nutzen kann, um bewusst im Einzelfall zwischen Rückzug und Konfliktaustragung zu wählen. Isolde betreibt aktuell vorbeugendes Konfliktmanagement, denn sie weiß auch nicht, was ihr in Zukunft von der Führung zugemutet werden wird (präventive Anpassung). Heute ist Isolde nicht mehr bedingungslos bereit sich anzupassen. Sie entzieht sich z.B. dem Coach, indem sie sich unauffällig verhält und ihr Wissen verbirgt. Wissende Anpassung erscheint hier als Balanceakt zwischen eigenen Fähigkeiten/ Wissen, offiziellen Anforderungen und der sozialen Realität. Geht Isolde auf den Umgang mit Konflikten ein, geht es immer wieder stark um die Themen Lernen und Wissen, aber auch Lehren und Nicht-Wissen kommen vor. Ihre ganze Berufstätigkeit ist ein Lernen in und durch Konflikte. Als Lehrende präsentiert Isolde sich lediglich im Zusammenhang mit dem Mobbingkonflikt. Sie versucht dem jungen Mann, der schreienden Kollegin und der Arbeitsgruppe das System der Gruppenarbeit näher zu bringen. Die Lern- und Lehrbemühungen innerhalb der Arbeitsgruppe und im speziellen die Vermittlungsabsichten Isoldes scheitern. Isolde verfügt über das richtige Wissen, kann es aber nicht vermitteln. Hier thematisiert sie die Grenzen für kollegiales, pädagogisches Handeln. Manche Konflikte sind nur durch massiven Machteinsatz durch das Management zu befrieden. – Als Lernende präsentiert sich Isolde bei jedem Konflikt. Einerseits führen Isoldes Lernaspirationen zu Konflikten oder verschärfen sie, andererseits ist Lernen ihre zentrale Strategie, mit Konflikten umzugehen. Sie reflektiert die Ereignisse und nutzt die Erfahrungen für zukünftige Vorfälle. So ist Isoldes veränderte Konfliktstrategie (vermeiden statt austragen) das Ergebnis eines solchen Lernprozesses. Lernen (und Wissen) stehen in Konflikten bei Isolde immer im Zusammenhang mit von außen herangetragenen Anpassungserwartungen. Dabei sind Selbststeuerung und Selbstkontrolle wichtige Kompetenzen, die sie sich, besonders in den letzten Jahren angeeignet hat und die sie noch weiter ausbauen will. Vor 16 Jahren begann sie mit einer unsicheren, unreflektierten und bedingungslosen Anpassung (‘Opfer’ unfreiwilliger Lernprozesse). Mittlerweile berücksich-
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tigt sie in ihrer wissenden Anpassung ihre eigenen Fähigkeiten, die offiziellen Anforderungen und die soziale Realität. Sie nutzt das Mittel der Selbstbeobachtung und holt sich von ausgesuchten Kollegen (z.B. dem früheren Coach) Feedback ein. Sie reagiert defensiv auf ihren jetzigen Coach und besucht Seminare, deren Inhalte soziale Kompetenzthemen sind. Das in Seminaren angeeignete Wissen nutzt sie in Ergänzung, aber auch als Abgrenzung zum betrieblichen Wissen, wie es z.B. vom Coach vermittelt wird. Ihre persönliche Entwicklung scheint in Richtung ‘in Konflikten lehren’ zu verlaufen. Dies ist vergleichbar mit einer traditionellen Meisterkarriere. Sie lernt aus der Arbeit heraus und an einem bestimmten Punkt verfügt sie über die Fähigkeiten als Meister (bzw. Coach) zu agieren. Sie ist jemand, der anderen etwas vermitteln kann, aber nicht in schulischen Kontexten (vgl. Harney/ Kade 1990). Daneben bleibt die Einschätzung, dass sie, nach den Erfahrungen mit dem Mobbingkonflikt, an ihrem jetzigen Arbeitsplatz diesen Wunsch eher nicht realisieren wird. Neben Lernen und Lehren ist die Wissens- bzw. Nicht-WissensDemonstration der dritte Modus des Umgangs mit Konflikten (Wissen und Nicht-Wissen als Auslöser, aber auch Lösungsmöglichkeiten für Konflikte). Wissensdemonstration taucht bei Isolde als Übergang zum Lehren (vgl. Mobbingkonflikt und Isoldes gewünschte, persönliche Entwicklungsrichtung), als ein Mittel der Selbstdarstellung gegenüber der Interviewerin, als Verteidigung gegen die Angriffe des jungen Mannes und immer wieder als Resultat von in Konflikten eingelagerten Lernprozessen auf. Im Springerkonflikt führt Isoldes Kompetenz- und Wissensdemonstration zu nicht erfüllbaren Anpassungszumutungen und damit zu Konflikten. – Durch Nicht-Wissensdemonstration markiert Isolde ihre Defizite und ihren weiteren Lernbedarf (Übergang zum Lernen), entzieht sie sich Auseinandersetzungen (vgl. Kommunikation mit ihrem jetzigen Coach) und kennzeichnet Leistungsprobleme als Lernherausforderungen (in Abgrenzung zu Verweigerung/ fehlendem Wollen). Besonders zu Beginn ihrer Berufstätigkeit löste Nicht-Wissen auch Konflikte aus, die durch Lernen später gelöst werden. Durch Nicht-Wissens-Demonstration kann man Konflikte also vermeiden aber auch provozieren.
1.1.3 Isoldes berufliche Stagnation in einer betrieblichen Atmosphäre von Erziehung Kontrolle und Konflikt 1.1.3.1
Betrieb als ausgeklügeltes System von Erziehung und Kontrolle
Isolde geht auf den Betrieb lediglich im Zusammenhang mit Konflikten ein. Betrieb bedeutet für sie immer Konflikt – zumindest aber Beziehungsstörungen
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als dessen Vorstufe. Sie beschreibt ihren Betrieb als ein komplexes soziales Gefüge, in dem jeder versucht jeden zu erziehen und zu kontrollieren. Dabei komme es regelmäßig zu Konflikten, weil es letztlich jedem ums Geld gehe. Das Unternehmen wolle die Gewinne maximieren, die Mitarbeiter ihr Gehalt. Die Gruppe muss regelmäßig leistungsbezogene Ziele mit dem Chef vereinbaren. Sie tut dies über ihren Gruppensprecher. Er ist das Sprachrohr der Gruppe. Der Chef ist die höchste Führungskraft, mit der normale Mitarbeiter wie Isolde in Kontakt kommen können. Der Chef vertritt die Interessen des Managements nach unten. In einem Kennzahlensystem wird die Arbeit geplant und kontrolliert. Doch nicht eine gleich bleibende, sondern eine ständig zunehmende Produktivität wird zwischen Führung/ Management und Teams vereinbart. Isoldes jetzige Gruppe ist grundsätzlich bereit, auch die zukünftigen Leistungserwartungen zu erfüllen. Im Mobbingkonflikt hatte sich eine kleine Gruppe ‘Unbeugsamer’ dagegen aufgelehnt und wurde eines besseren belehrt und umerzogen. Isolde erklärt: „Ich bin auch gegen das System, aber ich arbeite in diesem System. Es bleibt mir nichts anderes übrig. Da muss ich mir nen anderen Arbeitsplatz suchen, wenn ich mich damit nicht arrangieren kann. (.) Ich bin kein Vertreter von der Geschichte, aber ich muss mich damit arrangieren.“ (16:46-50) Der Coach ist als zweite Führungsperson der Selbstorganisation der Gruppe vorgeschaltet. Aber während der Chef sich um die halbjährliche Festlegung der gesamten Produktionsmenge kümmert, sind die sozialen Prozesse innerhalb der Gruppe das Betätigungsfeld des Coachs. Er beobachtet die Mitarbeiter, greift ein, wo Selbstorganisation noch nicht funktioniert und teilt das, was sie machen, unter Leistungsgesichtpunkten nach oben mit. Dafür gibt es ein festgelegtes offizielles System – die Zielvereinbarungsgespräche. Auch von dieser Bewertung hängt die Bezahlung ab. Aber der Coach richtet sich in seiner Beurteilung nicht stur nach einem Fragenkatalog. Er nutzt dieses System auch, um die Gruppenmitglieder direkt zu erziehen. Indem er sich auf den Einzelnen konzentriert, begleitet und beeinflusst er die Gruppe im Prozess des für eine funktionierende Gruppenarbeit notwendigen Umdenkens. Der Coach stellte auch bei Isolde Defizite fest und richtete einen Veränderungs-/ Lernappell an sie: „Ich gebe dir nur neununddreißig Punkte, den einen bewussten Punkt gebe ich dir nicht, weil, du musst en bisschen an deiner Art arbeiten, dass du net immer so schnell die Wand hochgehst und nicht immer so schnell so hitzig wirst. Du musst kooperativer mit deinen Mitarbeitern werden. Eigentlich hättest du den verdient, von deim Arbeitseinsatz her, aber aus dem Grund geb ich ihn dir nicht.“ (3:11-16) Selbstorganisation und Selbststeuerung innerhalb der Gruppen gab es bereits vor der Einführung der Gruppenarbeit. Damals waren es meist die älteren Frauen, die eine wichtige informelle Rolle einnahmen. Mit der Einführung der Gruppenarbeit (und der Abschaffung der Vorarbeiter) wurden die Selbstorgani-
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sationsanforderungen an die Gruppe erhöht. Durch die Zuschreibung von mehr Eigenverantwortung und die gleichzeitige Kopplung von Bezahlung an Leistung, wird jedem Mitarbeiter dadurch täglich vor Augen geführt, dass die Minderleister den Topleistern ‘direkt in die Tasche greifen’. Das führt zu mehr Beobachtung innerhalb der Gruppe und zu mehr gruppeninternen Veränderungsappellen, Kontrollen und Zurechtweisungen. Isolde erzählt im Interview immer wieder von einzelnen Betriebsratsmitgliedern, die sich in Konflikte der Mitarbeiter einmischten. Damit üben auch sie über ihre Präsenz in Konflikten soziale Kontrolle aus. Für Isolde ist der Betriebsrat darüber hinaus als erster Ansprechpartner im Bereich Bildung von Bedeutung. Sie erzählt: „Wenn ich auf Bildungsurlaub will und gehe zum Betriebsrat, das sehen die gerne.“ (23:17-18) Der Betriebsrat agiert hier als Bildungsmanager. Über Bildungsangebote pflegt der Betriebsrat, unabhängig von Konflikten, den Kontakt zur Belegschaft.
1.1.3.2
Berufsverständnis zwischen Leistung und Konflikt
Wenn Isolde über ihren Beruf redet, beschäftigt sie sich mit zwei Aspekten des Themas: Zum einen setzt sie sich damit auseinander, dass und warum sie keinen Beruf gelernt hat. Zum anderen geht sie auf ihr, an einem betriebsspezifischen Leistungsbegriff ausgerichtetes, alternatives Berufsverständnis ein. Dabei spielen Konflikte als Lernherausforderungen und ihr jährlicher Bildungsurlaub immer wieder eine große Rolle für ihr alternatives Berufsverständnis. Isolde berichtet, ihren Wunsch „Verlagskauffrau Bücher“ (32:48) zu werden, habe sie wegen ihres schlechten Zeugnisses nicht umsetzen können. Schließlich habe sie einen Ausbildungsplatz in einer Apotheke angeboten bekommen. Sie habe sich aber gegen diese Ausbildung entschieden, weil ihre Mutter ihr gesagt habe, sie müsse endlich Geld verdienen. Seit nunmehr 16 Jahren übt sie eine Tätigkeit aus, mit der sie unter ihren intellektuellen Möglichkeiten blieb und bleibt. Den Traum von einem richtigen Beruf hat sie bis heute nicht aufgegeben. Sie erzählt auf die Frage der Interviewerin nach ihren beruflichen Zielen für in fünf Jahren:„Ich würde fürchterlich gerne eine Ausbildung machen, eine Weiterbildung machen. Doch immer noch lernen, lernen, lernen. [...] Und vielleicht werde ich in 5 Jahren auch so weit sein, dass ich sagen kann: Du kannst was und du musst dich nicht ständig neu beweisen.“ (37:21-26) Ihre Berufsidentität ist nicht durch ein Zertifikat/ einen Gesellenbrief gesichert, sondern durch ihre ständige Bereitschaft, sich an einem konkreten Arbeitsplatz auf Lernen/ Veränderungen einzulassen. Sie muss sich ständig neu beweisen. Isolde präsentiert sich immer wieder als lernfähig und leistungsstark
Eine in Dauerkonflikten steckende Mitarbeiterin und beschuldigte Mobberin
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(„ich hab en sehr hohen Stellenwert von Leistung, weil ich mir dann immer wieder beweisen kann, ich bin gut.“ (11:23-24)). Doch trotz Kompetenz und Leistungsorientierung macht Isolde keine innerbetriebliche Karriere. Sie wird nicht Mitglied im Orga-Team, Coach oder Gruppensprecher. Vielleicht wäre dafür eine Berufsausbildung die Voraussetzung. So bleibt ihr zunächst lediglich die bedingungslose Lern- und Leistungsbereitschaft als Qualifizierungsnachweis. Dies wiederum führt sie immer wider in Konflikte. Indem sie in ihren jährlichen Bildungsurlauben etwas über Konflikte und den Umgang mit ihnen lernt, qualifiziert sie sich letztlich auch für ihre Tätigkeit im Betrieb. Isolde nutzt jedes Jahr ihre fünf Tage Bildungsurlaub. Dies sind die einzigen institutionellen Bildungsangebote, die sie in Anspruch nimmt. Sie erzählt von Seminaren zu den Themen Mobbing, Konflikte und Kommunikation/ Zusammenarbeit. Hier findet sie den Konkurrenzpädagogen zum betrieblichen Kontroll- und Erziehungssystem. In den Seminaren geht es um Aufklären und nicht um Anpassen. Sie erzählt: „En Weg zur Lösung von Problemen ist auch, Seminare zu besuchen, wo man eben lernt, wie Konflikte entstehen und warum sie entstehen. Wenn man so en bisschen dahinter gucken kann, das kann einem auch helfen. Man kann vielleicht nichts ändern an den Situationen, aber man versteht’s. Und wenn ich etwas verstehe, dann ist für mich auch schon wieder die halbe Miete gegessen. Deshalb mach ich ja auch das hier mit den Seminaren - besuch die. [I.: Was haben die dir schon gebracht?] Ich hab mich besser verstanden. Das ist schon mal ne ganz wichtige Erkenntnis gewesen. Also ich hab von den Seminaren viel für mich mitnehmen können. Hab auch Punkte gefunden, wo ich mich selber kritisieren musste – z.B. erst überlegen und dann handeln. Im Grunde genommen hatte mein Coach, der mir halt gesagt hat, „ich ziehe dir diese Punkte ab, weil du immer zu hitzig bist“, er hatte ja Recht.“ (20:27-38)
Isolde geht hier auf vier mögliche Konsequenzen aus Bildungsveranstaltungen ein. Grundlage ist immer die Aneignung von Wissen – manchmal dient dieses Wissen der Abgrenzung von KollegInnen, manchmal führt es zu mehr Verständnis und Einsicht, manchmal ist es auch handlungsleitend und manchmal beeinflusst es sogar die Persönlichkeitsentwicklung. Isolde analysiert unter Anwendung des in Seminaren erworbenen Wissens ihre konkrete betriebliche Praxis. Das Wissen dient ihr dabei als Erklärungshilfe („man versteht’s), als Instrument, um die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu ergründen (etwas „ändern an den Situationen“) und, um Unabänderliches besser hinnehmen zu können. Wenn sie sagt, eine solche Analyse sei schon „die halbe Miete“, kann sie meinen, dass durch ein systematisches und strategisches Vorgehen mehr Handlungsmöglichkeiten sichtbar werden. Vielleicht meint sie aber auch, dass sie akzeptieren kann, dass es Bereiche gibt in denen sie erfolglos ist, wenn es sich um grundsätzlich unlösbare Probleme handelt (vgl. den Mobbingkonflikt). Die Seminare würden
126
Direkt von Konflikten Betroffene
ihr dann helfen, ihr Scheitern zu erklären und extern zu attribuieren, um vielleicht in der Zukunft nicht mehr Unmögliches von sich selbst zu verlangen. Isolde nutzt das in Seminaren erworbene Wissen, um in konkreten betrieblichen Situationen ihr Verhalten zu kontrollieren und zu verändern. Für den betrieblichen Alltag entwickelte Isolde so ihre Strategie der aktiven Konfliktvermeidung. Die Bedeutung von Isoldes Seminarbesuchen geht noch weiter über den betrieblichen Bereich hinaus. Seminare sind für sie ein wichtiger Kontakt zur betrieblichen wie privaten Außenwelt. Sie knüpft hier quasi-private Kontakte mit der Seminarleitung und mit Teilnehmern aus unterschiedlichen Betrieben. Und sie lernte in einem solchen Seminar ihren jetzigen Lebenspartner kennen.
1.1.3.3
Zusammenfassung
Isolde beschreibt ihren Betrieb als ein durchdachtes System, in dem die Arbeitsteilung und die offiziellen Kommunikationswege klar festgelegt sind. In diesem System der Arbeitsorganisation haben kontrollierte Formen der Konfliktaustragung eine große Bedeutung. Ziel des betrieblichen Handelns ist der wirtschaftliche Erfolg. Letztlich setzt sich die Führung deshalb mit ihren Änderungserwartungen und der Forderung nach grenzenloser Leistungssteigerung immer wieder durch. Nach Isoldes Auffassung müssen Mitarbeiter dies akzeptieren, oder sich einen neuen Arbeitsplatz suchen. Isolde hat zwar immer noch keine zertifizierte Berufsausbildung. Doch durch ihre Veränderungsbereitschaft, ihre Flexibilität und ihre Konfliktfähigkeit hat sie eine alternative Qualifizierung durchlaufen. Ihre vielen überstandenen Konflikte zeugen für ihre heutige Professionalität.
1.1.4 Biographie und Lebenswelt als Deutungsgrundlagen Für Isolde ist das ganze Leben eine Aneinanderreihung von privaten und beruflichen Konflikten, die immer wieder mit Trennung enden. Manchmal gibt es auch mehrere Konfliktherde gleichzeitig. Über die Zeit nach und zwischen ihren Konflikten berichtet Isolde wenig. Auf Diskontinuitätserfahrungen und biographische Brüche (z.B. Zusammenbrüche, Neuanfänge, gravierende Änderungen in ihrem Leben) geht Isolde nicht ein. Man kann sie hinter ihrem kurz erwähnten Zusammenbruch und ihrer Therapie höchstens vermuten. Isolde stellt in ihrer Erzählung eine biographische Kontinuität von Konflikten zur Schau. Es gab sie immer wieder in allen Bereichen ihres Lebens (die Katastrophe als Normalsituation).
Eine in Dauerkonflikten steckende Mitarbeiterin und beschuldigte Mobberin
1.1.4.1
127
Biographische Kontinuität durch Konflikte
Isolde verfolgt für ihre Arbeitsplatzkonflikte eine stark biographisch orientierte Einbettung. Und sie behauptet einen Zusammenhang zwischen den Arbeitsplatzkonflikten und biographisch bedeutsamen Konflikten aus dem außerbetrieblichen Bereich. Manche Krisen aus der frühen Kindheit haben Isolde sehr stark beeinflusst; und das habe Einfluss auf ihren heutigen Umgang mit betrieblichen Krisen. Als Kind lebte Isolde mit ihren Eltern, zwei Brüdern und zwei Omas im eigenen Haus. Zu Konflikten im Elternhaus sei es damals wegen der Alkoholprobleme des Vaters gekommen. Aber auch das Verhältnis zur Mutter ist nicht ohne Konflikte. Isolde wirft ihr vor, dass sie ihr nichts zugetraut, sie nicht unterstützte und ihre berufliche Zukunft und ihre psychische Gesundheit bereits in der Kindheit bedroht habe. Schulische Leistungen und Defizite dienen als Mittel in der familiären Auseinandersetzung. Die Mutter habe sie wegen ihrer Rechenschwäche als Versagerin hingestellt. Noch heute leide sie deshalb unter Versagensangst und einer übersteigerten Leistungsorientierung. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr pflegt sie einen konfliktbeladenen, aber auch engen Kontakt zur Familie. Der Ablöseprozess erfolgt stufenweise und von vielen Konflikten flankiert. So erzählt sie z.B. von ihrem Vater, der lebensbedrohlich erkrankt war. Die Mutter habe ihm die Hilfe verweigert. Isolde habe schließlich gegen ihren Widerstand den Notarzt gerufen. Zu ganz massiven Schwierigkeiten in der Familie kommt es, als der Vater die stationäre Therapie abbricht, zur Familie zurückkehrt und wieder unkontrolliert zu trinken beginnt. Die Mutter wirft ihr vor, an dem Elend der Familie schuld zu sein, weil sie den Vater nicht habe sterben lassen. Rückblickend meint die Interviewte, ihr sei es nicht gelungen, den Vater wieder in die Familie zu integrieren – und der Mutter habe sie durch ihr Handeln sehr geschadet. Am Schluss habe sie dann alles verloren. Isolde zieht früh aus ihrem Elternhaus aus. Mutter und Vater sterben schließlich auf tragische Weise. Als Resultat ihrer Kindheit nimmt Isolde die idealisierte Vorstellung von einem guten, präsenten Vater und einer starken selbstbestimmten Mutter mit in ihr Erwachsenenleben. Mit ihren Verletzungen aus Kinder- und Jugendtagen lässt Isolde sich zunächst auf eine Ehe ein. Hier hat sie die Chance, in ihrer eigenen kleinen Welt alles besser als ihre Eltern zu machen. Da gibt es einen Mann, der sich ihr nicht entzieht und der ihr zuhört. Aber die Ehe scheiterte. Isolde erlebt auch in ihrer eigenen Ehe (wie beim Vater) Gewalt und enthemmtes Verhalten unter Alkoholeinfluss. Der nächste Mann, mit dem sie zusammenlebt, unterscheidet sich
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Direkt von Konflikten Betroffene
grundsätzlich von ihrem Vater und von ihrem Exmann. Isolde lebt mit ihm und seinen Eltern in einer Familie zusammen, so wie Isolde es sich immer gewünscht hat. Sie erreicht bescheidenen Wohlstand. Isolde erkennt ihren (verdeckten) Konflikt mit diesem Mann erst, als sie ein Konfliktseminar besucht. Im Nachhinein vermutet sie, dass sie die Schwierigkeiten nicht habe sehen wollen, weil das ganze Umfeld gestimmt habe. Der Mann sei „lieb und gut“ (30:35) gewesen, aber sie hätte sich doch zu stark unterordnen müssen. Isolde bricht aus dieser harmonischen Welt aus und wendet sich einem Mann zu, mit dem sie wieder genügend Schwierigkeiten zu bewältigen hat. Ihr neuer Partner ist noch verheiratet, hat sich wegen Isolde von seiner Ehefrau getrennt und wohnt hunderte von Kilometern entfernt. Isolde ist skeptisch, ob sie jetzt den Partner fürs Leben gefunden hat, denn „Ich mach mir auch ganz fürchterlich viele Gedanken, wenn mir mal wirklich was Gutes widerfährt. Da kann ich erst gar nicht mit leben.“ (25:10-12).
1.1.4.2
Lebenswelt zwischen Tradition und Aufbruch
Wenn Isolde ihre Arbeitsplatzkonflikte gesamtbiographisch einordnet, setzt sie eine konservativ geprägte soziale Umwelt voraus. Sichtbar wird diese spezifische Lebenswelt dort, wo das Zusammenleben von Männern und Frauen thematisiert wird und wenn sie sich selbst mit ihren Freundinnen vergleicht – bzw. erzählt, welche Vergleiche die Freundinnen anstellen. Isoldes Lebenswelt beschränkt sich zunächst auf eine enge, ländlich geprägte Region. Der große Chemiebetrieb ist der größte Arbeitgeber am Ort. Private Angelegenheiten vor den Kollegen und Nachbarn zu verbergen, ist relativ schwierig. Jeder kennt jeden. Als Isolde in den Betrieb kommt, wissen alle, dass sie mit dem Sohn des Abteilungsleiters liiert ist. Die Nachbarn und Kollegen wissen auch von Isoldes familiären Katastrophen. Sowohl die Vermischung von Privatem und Betrieblichen, als auch die direkte Einmischung der Nachbarn und Bekannten führen zur verstärkten Kontrolle und lösen gelegentlich selbst Irritationen und Konflikte aus. Eine Erweiterung erfährt diese enge Lebenswelt, durch so banale Dinge wie das Motorradfahren und die jährlichen Bildungsurlaube. Dadurch verlässt Isolde zumindest vorübergehend die gewohnte Enge. Seitdem sie ihren neuen Freund hat, verbringt sie viele Wochenenden bei ihm. Doch das ist nicht unproblematisch, denn die alten Freunde in ihrer Heimatgemeinde fühlen sich vernachlässigt. Ihre KollegInnen verdächtigen sie bereits, da sie häufiger wegen Rückenproblemen krankheitsbedingt fehlt, des Krankfeierns. Auf lange Sicht beabsichtigt Isolde ganz zu ihrem Freund zu ziehen, d.h. die Enge ihrer Lebenswelt zu verlassen.
Eine in Dauerkonflikten steckende Mitarbeiterin und beschuldigte Mobberin
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In Isoldes Welt gibt es einen wichtigen Freundes- und Bekanntenkreis. Er zerfällt in Männer und Frauen. Die Interviewte charakterisiert sie unterschiedlich. Die Männer haben große Bedeutung in Isoldes außerbetrieblichen, privaten Konflikten. Sie tauchen als Vater, eigene Lebenspartner oder Partner von Freundinnen auf. Männer dominieren in den Beziehungen und wenn sie dies nicht tun, wie Isoldes ehemaliger Freund, wird ihnen dies als Desinteresse ausgelegt. Isolde charakterisiert die Männer aus ihrem Umfeld als Personen, die (teils berechtigte) Forderungen an Frauen formulieren und deren Anpassung erwarten. Isolde erzählt auch von einem regen Austausch zwischen den Frauen. Sie und ihre Freundinnen sind füreinander Vertraute und Beraterinnen. Die Beziehung zu ihren Freundinnen stellt Isolde als ein wechselseitiges Geben und Nehmen dar. Ein immer wiederkehrendes Thema sind dabei die Männer und die dazugehörenden Konflikte. Isolde erfährt von Freundinnen und der Tante während ihrer Ehekrise die notwendige Unterstützung. Umgekehrt hilft Isolde z.B. der Freundin, die nach der Trennung von ihrem Partner zum ersten Mal in ihrem Leben allein wohnt. Sie erklärt, die Freundin hätte sich schließlich gerade deshalb weiterentwickelt, weil sie auf keinen Mann mehr Rücksicht nehmen musste. „Und sie hat neue Leute kennen gelernt, weil sie dann plötzlich Ausstellungen besuchen konnte, wo sie vorher nicht hingehen konnte. Und ja. Sie ist jemand, der dann auch sich nicht hängen lässt, denk ich mir mal.“ (17:26-29) Isolde gibt hier indirekt zu verstehen, dass Männer ihre Frauen an einer Weiterentwicklung/ am Lernen hindern – dass Frauen, die in festen Partnerschaften leben, auf Selbständigkeit, Freiheit und Weiterentwicklung verzichten. Nur gegenüber den Frauen (nicht gegenüber den Männern) nimmt Isolde auch die Rolle einer Beraterin/ einer Intervenierenden ein. Sie wird von den Freundinnen geschätzt, weil sie einerseits eine von ihnen ist, andererseits sich von den meisten anderen Frauen in ihrem sozialen Umfeld unterscheidet. Isolde mit ihrer Wochenendbeziehung lebt anders (eigenständiger und freier) als viele ihrer Freundinnen.
1.1.4.3
Zusammenfassung
Auch im außerbetrieblichen Bereich gibt es bei Isolde unendlich viele Konflikte – es gibt quasi keinen einzigen Bereich ohne Krisen und Katastrophen. Isolde präsentiert ihre Biographie als eine ständige Wiederholung früher Kindheitserfahrungen. Auch im außerbetrieblichen Bereich geht Isolde auf einen dramatischen Konfliktfall besonders ausführlich ein. Die Auswirkungen dieser zentralen Familientragödie beschreibt Isolde in zwei Richtungen. Für den privaten Bereich hat der zentrale Konflikt Bedeutung im Zusammenhang mit ihren späteren Part-
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nerschaftskonflikten. Im beruflichen Bereich sieht sie einen Zusammenhang mit ihren vielen Arbeitsplatzkonflikten. Isolde präsentiert ihre Lebenswelt als stabilisierendes Element in einer konfliktgesteuerten, teilweise gescheiterten Biographie. Ihr Erwachsenenleben präsentiert Isolde in einer doppelten Ausrichtung. Als ein sich ständig veränderndes Element beschreibt sie ihr Leben an der Seite von drei unterschiedlichen Männern und eine Zeit des Alleinlebens. Als beständiges und stabiles Element beschreibt Isolde ihren Freundes- und Bekanntenkreis. Isolde, die in ihren sonstigen Konflikten eher die Rolle der Konfliktbetroffenen einnimmt, agiert im Kreis ihrer Freundinnen auch als erfolgreiche Intervenierende, als Vermittlerin und Lehrerin. Weil sie anders ist und über besondere Erfahrungen verfügt, wird sie hier als Expertin geschätzt und gefordert.
1.1.5 Zusammenfassung der gesamten Interpretation Betriebliche Konflikte im Kontext von Beruf, Betrieb, Biographie und Lebenswelt: Isolde beurteilt ihre betrieblichen Konflikte im Lichte ihrer persönlichen, konfliktbeladenen, teilweise gescheiterten und antherapierten Biographie und ihrer eher traditionellen Lebenswelt. Konflikte haben immer mit ihr als Person zu tun. In ihrem direkten, biographierelevanten Lebensumfeld registriert Isolde überall nur Konflikte: in der Familie, in ihren Partnerschaften, am Arbeitsplatz und in ihrem Freundeskreis. Da gibt es einen zentralen, lange andauernden Familienkonflikt, den Isolde für die Fehlentwicklungen in ihrem ganzen späteren Leben verantwortlich macht. Die Auswirkungen dieses Dauerkonflikts belegt Isolde ausführlich mit Beispielen sowohl aus dem betrieblichen als auch dem außerbetrieblichen Bereich. Konflikte stellt Isolde als unvermeidbar dar. Deshalb steht für sie die Frage des Umgang mit ihnen, der Beherrschbarkeit und des Überlebens im Vordergrund. Dabei vermittelt sie den Eindruck von Kontinuität. Trotz Rückschlägen kommt es nie zum totalen Absturz. Im beruflichen Bereich behält sie trotz ihrer Beteiligung an mehreren Konflikten, trotz Mobbinganschuldigung und psychischer Angeschlagenheit ihren Arbeitsplatz. Im außerbetrieblichen Bereich führen die Konflikte und Katastrophen nicht dazu, dass sie aus ihrem sozialen Umfeld ausgeschlossen wird. Doch genießt sie auch im Privatleben nicht die Stabilität, Sicherheit und Freizügigkeit, die sie sich eigentlich wünscht. Nur, wenn sie mit ihren Freundinnen zusammen ist, erfährt sie Anerkennung als Intervenierende, als Expertin und als Beraterin (vgl. auch Abbildung 2).
Eine in Dauerkonflikten steckende Mitarbeiterin und beschuldigte Mobberin
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Isolde beschreibt für die drei Bereiche (Kindheit/ Familie, Betrieb und Privatleben einer Erwachsenen) jeweils die biographische Bedeutung der entsprechenden Konflikte. Jeder dieser Konfliktbereiche ist außerdem eingebunden in eine korrespondierende, spezifische Lebenswelt (kindliche Lebenswelt, betriebliche Lebenswelt, Lebenswelt einer erwachsenen Frau). – Der Kindheits-/ Familienkonflikt hat die Bedeutung, zu zeigen, mit welchen Hypotheken Isolde in ihr Erwachsenenleben startete und welche Ausstrahlung diese frühen Konflikte auf ihr gesamtes späteres Leben haben. Sie beschreibt ihr Heranwachsen unter extrem erschwerten, familiären Bedingungen. – In den Arbeitsplatzkonflikten (der zentrale Mobbingkonflikt und die peripheren Fälle) geht es Isolde immer wieder darum, sich als eigenständige, leistungsstarke und kompetente Mitarbeiterin zu behaupten. Sie ist nicht nur die Schwiegertochter des Chefs. Sie ist als Springerin nicht nur eine einfache Produktionsmitarbeiterin. Im Betrieb sieht Isolde bei ihrem Eintritt in Arbeitsleben zunächst eine Möglichkeit, sich von den Belastungen ihrer Kindheit zu befreien. Schließlich erlebt sie dort aber eine Fortsetzung ihrer, in der Kindheit begonnenen Konfliktbiographie. – Die außerbetrieblichen Konflikte (Partnerschaftskonflikte und Freundinnen-Konflikte) bedrohen immer auch Isoldes sozialen Status (als Tochter, als Partnerin, als Freundin) und ihren guten Ruf innerhalb der zweiten, neben dem Betrieb wichtigen, sozialen Umwelt. Isoldes private Konflikte als erwachsene Frau haben immer etwas mit Männern zu tun. Eingebettet ist diese Erwachsenenbiographie in eine Lebenswelt, in der Freundinnen (die selber auch Konflikte mit ihren Männern haben) eine große Rolle spielen. Isoldes Freundes- und Bekanntenkreis ist der stabile Faktor in ihrem sonst eher wechselvollen Leben.
Umgang mit Konflikten: Für Isolde ist im Interview der Umgang mit Konflikten zentral. Ihre wichtigste Strategie im Umgang mit (kontrollierbaren) Konflikten ist die Anpassung. Isolde lernte sie bereits während ihrer Kindheit und perfektionierte sie durch ihre vielfältigen Konflikterfahrungen immer weiter. Sie nutzt sie noch heute sowohl im Privatbereich als auch im Betrieb. Ihre wichtigste Strategie für den Umgang mit unkontrollierbar gewordenen Konflikten ist das Aus-dem-Feld-Gehen und die kognitive Nachbearbeitung. Für unlösbare Konflikte nutzt Isolde innerpsychische Entlastungsstrategien: Umschreiben der Geschichte, Verbessern der eigenen Belastbarkeit, Verharmlosung von negativen Folgen der Konflikte und das Unsichtbarmachen von biographischen Brüchen. Unter ihren zentralen Kindheits- und Familienkonflikten litt Isolde massiv. Hier präsentiert sie sich als hilfloses Opfer und unwissendes Kind, das sich dem
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Vater nur teilweise entziehen konnte und sich der Mutter unterordnen musste. Die Konfliktumgangsstrategien ihrer frühen Kindheit sind die unwissende, bedingungslose Anpassung. Als Heranwachsende begreift sie schrittweise, was in ihrer Familie passiert. Sie verändert ihre Strategie von defensiver Anpassung schließlich in Richtung Rebellieren und Intervenieren. In ihren betrieblichen Konflikten, vor Einführung der Gruppenarbeit, findet Isolde als Jugendliche und junge Frau immer einen Weg, sich irgendwie anzupassen. Sie entwickelt hier im Laufe der Jahre die Strategie der wissenden Anpassung. Im Mobbingkonflikt muss sie feststellen, dass eine Anpassung überhaupt nicht möglich ist. Als alternative Strategie versuchte sie vorübergehend das Intervenieren. Da die KollegInnen sie aber in dieser Rolle ablehnen, muss sie schließlich den Arbeitsplatz wechseln. Durch ihre Erfahrungen im Mobbingkonflikt hat Isolde nochmals ihre Anpassungsstrategie modifiziert. Heute praktiziert sie die vorbeugende Anpassung. Durch Konfliktvermeidung und inneren Rückzug reagiert sie auf die systembedingten Unsicherheiten.
Lernen und Lehren im Zusammenhang mit betrieblichen und außerbetrieblichen Konflikten: Geht Isolde auf den Umgang mit Konflikten ein, beschäftigt sie sich immer wieder mit den Themen Lernen und Lehren – entweder indem sie sich direkt auf Lernen und Lehren oder indirekt auf Wissen und Nicht-Wissen bezieht. Ihr ganzes Leben ist ein Lernen in und durch Konflikte. Als Lehrende präsentiert Isolde sich in den Konflikten, in denen sie interveniert: Hier gibt es den Mobbingkonflikt im Betrieb, den Konflikt mit dem alkoholkranken Vater, die Konflikte der Freundinnen. In diesen Fällen versucht sie, ihr Wissen weiterzugeben, um Personen zur Einsicht und zur Verhaltensänderung zu bewegen. Besonders viel erzählt sie von ihren Überzeugungsversuchen im Mobbingkonflikt. Dort bemüht sie sich, dem jungen Mann, der schreienden Kollegin sowie der Arbeitsgruppe das System der Gruppenarbeit näher zu bringen. Auch beim Konflikt um den Alkoholentzug des Vaters präsentiert Isolde sich als Lehrende – hier ihrer Mutter gegenüber. Sie belehrt die Mutter, dass die ‘Sauferei’ des Vaters eine Krankheit sei. Sie versucht die Mutter dazu zu bewegen, den Vater aktiv bei einer Therapie zu unterstützen. In beiden Fällen wird Isolde als Vermittlerin von Frauen, die älter sind als sie, abgelehnt. Isolde wird von ihren Konfliktgegnern vorgeworfen, sich unberechtigterweise eingemischt zu haben. Nach dem Mobbingkonflikt hat Isolde für sich entschieden, sich im betrieblichen Umfeld nicht mehr als Lehrerin anzubieten bzw. aufzudrängen. Das führt dazu, dass sie heute ihr Wissen verbirgt. Anders ergeht es ihr bei ihren Freundinnen. Die erwarten von ihr, dass sie
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sich einmischt und ihnen in Konflikten hilft. Die Freundinnen akzeptieren sie als Lehrerin, gerade weil sie anders ist und über spezielle Konflikterfahrung verfügt. Hier kann Isolde auch Geschichten von erfolgreichem Intervenieren und Belehren erzählen. Isoldes persönliche Wunschentwicklung geht in Richtung ‘Konflikte lehren’. Durch ihre regelmäßigen Seminarbesuche und durch ihre eigenen Erfahrungen mit unzähligen Konflikten verfügt sie über theoretisches Wissen über Konflikte, über praktische Konfliktlösekompetenz und über die notwendige Motivation, die Probleme anzugehen. Als Lernende präsentiert sich Isolde in jeder Lebensphase, in jedem sozialen Zusammenhang und bei jedem Konflikt. Lernen ist Isoldes zentrale Strategie, mit Konflikten umzugehen. Sie reflektiert die Ereignisse und nutzt die Erfahrungen für zukünftige Konflikte. Und lernen kann man auch, wenn sich sonst überhaupt kein Gestaltungsraum zeigt. Dadurch stellt sich ihr gesamtes Leben als ein einziger großer Lernprozess dar. Besonders gut kann man ihre lernbezogene Entwicklung an ihrer Strategie der Anpassung nachvollziehen. Lernen ist für Isolde die aktive Strategie gegen das Scheitern. Lernen im Betrieb durch strukturelle Führungsinstrumente und durch begleitende Menschen: Lernen durch betriebliche Konflikte steht bei Isolde immer im Zusammenhang mit von außen herangetragenen Anpassungserwartungen. Dabei haben zum einen offizielle Managementsysteme (Kennzahlen, Beurteilungssysteme), aber auch Menschen als Vermittler eine Bedeutung. In diesem System hat der Coach als Vermittler zwischen dem offiziellen Managementsystem und den Menschen, als Lehrer der Gruppe aber auch des Einzelnen eine herausragende Rolle. Doch auch eher informelle Strukturen beeinflussen Isoldes Lernprozess. So musste sie schmerzlich erfahren, welche inoffizielle Macht von einer Gruppe ausgehen kann. Betriebliches Lernen empfindet Isolde auch als Zumutung, gegen die sie sich aber wegen des ausgeklügelten Kontrollsystems nicht wehren kann. Lernen im Seminar durch eine möglich machende Gewerkschaft, die Vermittlung des Betriebsrats und betreuende Referenten vor Ort: Isolde besucht ausschließlich Seminare, deren Inhalte soziale Kompetenzthemen und Konflikte sind. So unterstützt das Lernen in den Seminaren Isolde manchmal in ihren betrieblichen, durch Konflikte angestoßenen Lernprozessen. Doch es gibt auch Tendenzen, sich den Lernforderungen im Betrieb zu widersetzen. – Auch für den privaten Lernbereich sind die Seminare von Bedeutung. So sieht sie durch das Gelernte ihre Partnerschaft plötzlich in einem anderen Licht. Die Seminare bedeuten für Isolde das Tor zur Welt. Isolde verlässt kurzzeitig ihre lebensweltliche Enge. Damit sind die Seminare Möglichmacher von Bildung, weit über die eigentlichen Seminarthemen hinaus.
134 Abbildung 2:
Direkt von Konflikten Betroffene
Zusammenfassung Fallportrait Isolde S. Isolde S. – Intervenieren als Konfliktquelle Konflikte und der Umgang damit
Konflikthafter Einstieg ins Arbeitsleben Isolde hat über Beziehungen eine Anstellung in der Firma bekommen. Sie wurde von den KollegInnen mit Distanz behandelt und ignoriert. Die Arbeitskonflikte als Springerin: Isolde war teils Vorgesetzte (wenn im Orga-Büro) teils Kollegin (wenn in der Produktion). Die Kolleginnen machten ihr das Leben schwer. Kleinere Fehler und fehlende Routine als Kritikpunkte. Ein Interventionsversuch wird zum Mobbingkonflikt Rivalität mit einem jüngeren Kollegen: Isolde will ihre Kolleginnen zu mehr Leistung motivieren/ drängen, der Kollege fordert Rücksichtnahme und Reduktion der Anforderungen ein ein Teamtreffen als Tribunal für Isolde: Mobbingvorwürfe, Isolde lässt sich versetzen. Später attackiert die Arbeitsgruppe auch den jungen Mann, Lösung der Konflikte und Leistungsprobleme schließlich durch Eingriff des Management Aktuelle Mobbingbeschuldigung durch den Coach wegen Isoldes unbedachte Äußerung über einen Kollegen, der nachdem er keinen Urlaub bekam, wegen eines Feuerwehreinsatzes nicht zur Arbeit kam
Lernen und Lehren
Isolde lernt nicht durch Ausbildungen, sondern durch das Leben/ die Konflikte Lernen im Betrieb durch strukturelle Führungsinstrumente und begleitende Menschen (die älteren Frauen, den Coach) Lernen im Privatbereich durch Männer, zu denen sie aufschauen kann Sie ist erfolgreich als ‘Lehrerin’ ihrer Freundinnen Sie scheitert als ‘Lehrerin’ bei älteren Frauen (Kolleginnen, die Mutter) und bei dem jungen Mann Träumt noch heute von Ausbildung/ Studium
Umgang mit Konflikten: wissende und vorbeugende Anpassung intervenieren/ sich einmischen/ Konflikte vom Zaun brechen (ohne sich vorher über das Wie Gedanken zu machen) - aus dem Feld gehen innerpsychische Entlastungsstrategien, Umschreiben der Geschichte/ kognitive Nachbearbeitung Realschulabschluss, keine Berufsausbildung Beruf und Betrieb seit 16 Jahren als ungelernte Arbeiterin in der Produktion eines großen pharmazeutischen Betriebs im Betrieb und Beruf: überall Konflikte Konfliktbeladene, teilweise gescheiterte und antherapierte Biographie außerberufs- und (Kindheits- und Familienkonflikte, Gewalt in Ehe und Familie, Verhältnis außerbetriebliche mit verheiratetem Mann) Themen Traditionelle, ländliche, einengende Lebenswelt im außerbetrieblichen Bereich: überall Konflikte
Eine von einem einzigen Konflikt betroffene Führungskraft
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1.2 Eine von einem einzigen Konflikt betroffene Führungskraft 1.2.1 Rolfs37 einmalige Konflikterfahrungen: Interpretation der Eingangssequenz Rolf R. (47) ist heute als technischer Berater in einem Softwareunternehmen angestellt. Bis zu seiner Kündigung vor einem Jahr arbeitete er sieben Jahre lang, zuletzt als Führungskraft, in einer Firma der Mess- und Regeltechnik. Der dort erlebte Dauerkonflikt veranlasste ihn zur Eigenkündigung, nachdem er einen alternativen Arbeitsplatz gefunden hatte. Rolf gehört (wie Isolde) in die Gruppe der Betroffenen. Sein Fall wird (im Gegensatz zu Isoldes Fall) als ‘weniger schwer’ eingestuft. Rolf pflegt bis heute einen engen Kontakt zu seinem früheren Arbeitskollegen Karl, einem Bekannten der Interviewerin, der auch den Kontakt zur Forscherin herstellte. Das Interview beginnt nach einem sehr kurzen Alltagsgespräch. In einer Gesprächspause fragt die Interviewerin Rolf, ob man jetzt mit dem Interview beginnen wolle. Er bejaht dies. Dann beginnt die Tonbandaufzeichnung: I.: Sooo. (...) Ja also, mich interessieren Ihre Erfahrungen, wie das so war, und was da überhaupt passiert ist, und (.) mich interessiert was Sie einfach erzählen wollen. R.R. : Emm, also soll ich jetzt loslegen? I.: Ja, einfach loslegen. (1:03 – 06)
Die anfänglichen Worte der Interviewerin setzen sich aus drei Teilen, die jeweils durch eine Pause getrennt sind, zusammen. Mit einem lang gezogenen „Sooo“ beginnt die Aufzeichnung des Interviews. Es folgt eine Pause. Danach richtet die Interviewerin die Eingangsfrage an Rolf. Sie formuliert ihr Interesse an seinen „Erfahrungen“. Dieses Wort betont sie besonders, ohne genauer zu sagen, welche Erfahrungen sie meint. Sie unterstreicht, dass es ihr dabei um konkrete Ereignisse aus der Vergangenheit gehe („wie das so war und was da überhaupt passiert ist“). Nach einer kleinen Pause schiebt sie nach „mich interessiert was Sie einfach erzählen wollen“.
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Auszug aus dem Interviewprotokoll: Das Interview wird in der Wohnung der Interviewerin geführt. Gleich nach seinem Eintreffen erklärt Rolf R.: „Karl sagt, ich sei gemobbt worden. Ich habe mich nie gemobbt gefühlt.“ In dem extrem kurzen, dem Interview vorgelagerten Alltagsgespräch erzählt die Interviewerin ein bisschen über ihr Studium und ihre Arbeit als Referentin. Rolf R. erzählt seinerseits, dass er jetzt in seinem neuen Job als technischer Berater in einem Software-Haus innerhalb von nur 10 Monaten mehrere für seine Einarbeitung vorgesehene Seminare besucht habe (Zeitmanagement, Train-the-Trainer, vertriebsunterstützende Seminare, Projektmanagement). In einer kurzen Gesprächspause fragt die Interviewerin schon bald, ob sie jetzt mit dem Interview beginnen wollen. Das Interview dauert lediglich 76 Minuten. Rolf R. verlässt danach zügig das Haus.
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Mit dem allein stehenden Wort „sooo“ markiert die Interviewerin zunächst die Übergangssituation. Vorher fand ein nicht aufgezeichnetes Alltagsgespräch statt – jetzt soll ein aufgezeichnetes Interviewgespräch folgen. Auf den ersten Blick scheint das „sooo“ hier als Abschluss des Alltagsgesprächs (So jetzt wollen wir dieses Thema abschließen!) und/ oder als Einstieg in das neue Thema (So jetzt wollen wir mit dem eigentlichen Interview beginnen!) zu fungieren. Warum aber wird dieser Übergang so stark betont? Man hätte sich ihn auch mehr fließend vorstellen können. Vielleicht folgt die Interviewerin, die zurzeit des Interviews noch wenig Interviewerfahrung hat, damit ihrem vorbereiteten Fahrplan. Ihr Ziel könnte sein, das Interview förmlich zu eröffnen und es auf diese Weise inhaltlich wie methodisch vom zuvor Gesprochenen abzugrenzen. Dann ginge es hier um einen rein formalen, etwas holprigen Wechsel von einer Smalltalk-Situation in die Interviewsituation. Während es im Alltagsgespräch keine klare Rollenverteilung gibt (jeder erzählt und fragt), bedeutet ins Interview einzusteigen, dass die Interviewerin zur Fragenden werden muss und Rolf zum Erzähler. Durch die ‘offizielle’ Eröffnung könnte die Interviewerin eine klare Zuschreibung der Rollen vornehmen wollen. Möglicherweise gibt es auch inhaltliche Gründe für diesen demonstrativen Wechsel. Für klassische Alltagsgespräche zwischen Sich-Unbekannten nutzt man üblicherweise eher unwichtige Themen wie Wetter, Staus bei der Anreise, Urlaub, Wochenende und ähnliches. Ziel eines solchen Gesprächs ist es, anfängliche Unsicherheiten abzubauen und sich etwas zu beschnuppern. In der hier vor dem eigentlichen Interview stattfinden Konversation wird laut Interviewprotokoll die jetzige Situation der Interviewerin (Forschungsprojekt und Seminartätigkeit), die aktuelle Berufs- und Lernsituation des Interviewten in der neuen Firma und die Beziehung Rolfs zu seinem ehemaligen Kollegen Karl thematisiert. Der Interviewte erklärt, dass Karl die Vorfälle als Mobbing bezeichne und, dass er selber diese Einschätzung nicht teile. Dies sind keine typischen Aufwärmthemen. Vielmehr hat man den Eindruck, sich bereits mitten im Interview zu befinden. Rolf befindet sich in seiner neuen Firma in der Einarbeitungsphase. Seine aktuellen Erfahrungen markiert er in diesem Vorgespräch als Veränderungsherausforderung und Lernerfahrung. Möglicherweise liegt für ihn die Bedeutung der damaligen Konflikterfahrungen in ihrer Wichtigkeit für seine aktuelle berufliche Entwicklung und Berufsbiographie. Oder umgekehrt: Er erhält heute vielleicht erst die Antworten auf damalige Fragen. Die Beziehung zwischen Karl und Rolf steht augenscheinlich im Zusammenhang mit den zurückliegenden Arbeitsplatzkonflikten. Karl sieht in seinem ehemaligen Kollegen ein Mobbingopfer. Rolf wehrt sich gegen diese Einordnung. Was bedeutet dies für das Verhältnis der beiden Männer? Ein Gemobbter ist Opfer eines Arbeitsplatzkonflikts – damit die unterlegene Konfliktpartei. Hier
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wird die Frage aufgeworfen, ob auch Karl ein ‘Opfer’ ist oder ob die beiden Männer eine Opfer-Helfer-Beziehung verbindet. Möglicherweise geht es aber auch um die Frage, wer in welchem Umfang zum Opfer von Arbeitsplatzkonflikten wurde bzw. wird. Vielleicht verbinden beide Männer ähnliche Konflikterfahrungen. Ihre ‘Freundschaft’ könnte dann im Modus der Konkurrenz um die geeignete Konfliktlösestrategie zu sehen sein. Es könnte aber auch um die Aushandlung eines Opfer-Helfer-Verhältnisses gehen. Obwohl noch unklar ist, wie sich das Verhältnis zwischen den beiden Männern konkret konstituiert, wird hier bereits sichtbar, dass es für Rolf bedeutsam ist. Nach diesen Überlegungen könnte das Interview für den Interviewten also auch der Ort sein, an dem das Verhältnis zwischen den beiden Männern, weil es im Zusammenhang mit Arbeitsplatzkonflikten steht, thematisiert werden kann. Möglicherweise wird Rolf im folgenden Interview versuchen, Karls Einschätzung der damaligen Arbeitsplatzkonflikte zu widerlegen oder zu bestätigen. Als Unsicherheitsfaktor müsste er dann berücksichtigen, dass er nicht wissen kann, über welche Informationen die Interviewerin durch den gemeinsamen Bekannten Karl bereits verfügt. Die zweite Beziehung, um die es vor dem Einschalten des Aufnahmegeräts geht, ist die zur Interviewerin. Sie ist Forscherin, Lernende 38und Lehrende39. Ihr gegenüber präsentiert sich der Interviewte zunächst als Lernender40 – nicht aber als Opfer vergangener oder gegenwärtiger Konflikte. Gemeinsamkeit entsteht zu Beginn des Interviews durch den gemeinsamen Bekannten Karl und durch die Lernendenrolle. Differenz wird durch einen entgegen gesetzten Bezug auf Seminare41 und durch den Bezug auf Arbeitsplatzkonflikte42. Indem Rolf der Interviewerin gegenüber äußert, er fühle sich nicht als Mobbingbetroffener, fordert er sie als Expertin zum Thema Mobbing heraus. Durch das Herausstreichen der Differenzen zwischen seiner eigenen Position und der des Kollegen Karl weist er der Interviewerin und Forscherin die Rolle des Schiedsrichters zu. Die Interviewerin könnte jetzt Rolf Recht geben und seine Einschätzung (kein Mobbingfall) übernehmen. Dann müsste sie auf das Interview verzichten oder erklären, sie interessiere sich für alle Arbeitsplatzkonflikte. Sie könnte aber auch fragen, wie er seine Einschätzung begründet. Dann käme es möglicherweise zu einer Fortsetzung des Aushandlungsprozesses. Sie könnte aber auch einfach auf die Erzählung bestehen, um sich als Forscherin selbst ein eigenes Bild von 38
Studentin die gerade ihre Diplomarbeit schreibt
ine Erwachsenenlehrerin/ Referentin/ Seminarleiterin 40 Rolf besucht viele Seminare im Zusammenhang mit seiner Einarbeitung in den neuen Job. 41 Die Interviewerin leitet Seminare. Rolf besucht Seminare. 42 Interviewerin Außensicht: beobachten und forschen – Interviewter Innensicht: persönliche Erfahrungen/ Betroffener sein 39
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den Vorfällen zu machen, um dann beurteilen zu können, ob es sich bei den Vorfällen um Mobbing handelt. Das wiederum könnte von Rolf missverstanden werden. Für ihn könnte der Eindruck entstehen, die Interviewerin würde Karls Einschätzung der Situation als Mobbingvorfall folgen, sich auf seine Seite schlagen und Karl möglicherweise auch als Mobbingexperten anerkennen. Hier zeigt sich, dass der gemeinsame Bekannte Karl auch einen Einfluss auf die Beziehung zwischen Interviewerin und Interviewten hat. Warum unterstützt Rolf ein Projekt, bei dem es um Mobbing geht, wenn er sich selbst nicht als Mobbingbetroffenen sieht?43 Eine mögliche Erklärung wäre, er erweist damit seinem ehemaligen Kollegen einen Gefallen und kommt ganz uneigennützig seiner Bitte nach. Es ist aber auch vorstellbar, dass Rolf aus dem Interview einen persönlichen Nutzen ziehen will. Das Interview könnte ein Anlass sein, sich wieder einmal mit Karl zu treffen. Vielleicht gab es in der letzten Zeit aus Rolfs Sicht zu wenige Treffen, weil man sich durch die auseinander liegenden Arbeitsplätze ja nicht mehr zwangsläufig sieht. Diese Annahme wird durch die Rahmenbedingungen des Interviews gestützt. Rolf hatte für das Interview einen Sonntagstermin favorisiert und sofort angeboten, bei der Interviewerin vorbeizukommen. Er hat mit seinem ehemaligen Kollegen, der nur wenige Kilometer von der Interviewerin entfernt wohnt, im Anschluss an das Interview einen Besuch verabredet. Außerdem scheint er es während des Interviews extrem eilig zu haben. Hier gibt es erste Hinweise auf eine ‘Männerfreundschaft’. In der sich an das „sooo“ anschließenden offiziellen Eingangsfrage spricht die Interviewerin (als Außenstehende mit Forschungsinteresse) Rolf als praktischen Experten an, der von vergangenen, konkreten, persönlichen Konflikterfahrungen berichten kann. Sowohl durch das Wort „Erfahrung“ als auch durch die Formulierung der Frage im Imperfekt kommt es zu einer inhaltlichen Verschiebung im Vergleich zu dem nicht aufgezeichneten Anfangsgespräch. Es interessiere, „was da überhaupt passiert ist“. Die Interviewerin sagt damit indirekt, dass sie sich für die Auswirkungen der damaligen Konflikte auf die gegenwärtige Arbeitssituation und Rolfs Interpretationen dieser Konflikte (die Themen aus dem Vorgespräch) jetzt weniger interessiert. Das untermauert die vorangegangenen Deutungen. Damit die Forscherin sich selbst ein Bild machen kann, damit sie entscheiden kann, ob es sich um einen Mobbingfall handelt, muss sie die eigentliche Geschichte hören. Um lediglich für Karl Position zu beziehen, wäre das nicht notwendig gewesen. Durch den gemeinsamen Bekannten Karl und durch das telefonische Vorgespräch ist klar, für welche Arbeitsplatzkonflikte sich die Interviewerin interessiert. Durch die Erzählaufforderung signalisiert die Interviewerin, dass sie bereit ist, sich seine Version der Geschichte anzuhören. 43
In der ersten Datenerhebung für die Pilotstudie wurden explizit Mobbingopfer angesprochen.
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Hier kommt es durch die Erzählaufforderung der Interviewerin außerdem endgültig zu einer klaren Rollenzuweisung. Indem der Interviewte zum Erzähler werden soll, wird die Interviewerin automatisch zur Zuhörerin („mich interessiert was Sie einfach erzählen wollen“). Damit folgt die Interviewerin dem geplanten Vorgehen zur Eröffnung eines offenen, thematisch fokussierten Interviews – sie gibt einen Erzählimpuls. Da das Interview aber eigentlich ja schon vorher (unbemerkt) begonnen hatte und wieder abgebremst wurde, hat dieser oberflächlich formale Vorgang der Gesprächsgenerierung möglicherweise eine korrigierende Wirkung. Was unterscheidet die Zuhörerin von der Fragenden? Mit Fragen kann man strukturieren und lenken. Mit dem offiziellen Beginn des Interviews hat die Interviewerin diese Lenkungsfunktion wahrgenommen. Zuhörerin sein bedeutet dagegen sich zurückzunehmen und dem Erzähler mehr Raum für die eigene Gestaltung zu lassen. Nachdem die Interviewerin Rolf also zunächst gebremst hat, weist sie ihm gleich anschließend, wieder Gestaltungsspielraum zu. Wie könnte der Interviewte auf diese widersprüchliche Doppelbotschaft reagieren? Sollten Thema sowie Rollenzuschreibung geklärt sein, müsste er mit der Erzählung über seine damaligen Arbeitsplatzkonflikte beginnen. Sollte es noch Unklarheiten und Widersprüche geben, müsste er das Thema hinterfragen oder diskutieren. Er könnte auch sagen, dass er über Vergangenes jetzt doch nicht mehr erzählen will, sondern über die Gegenwart. Sollte es Unstimmigkeiten oder Unsicherheiten im Hinblick auf die Rollen Interviewerin und Interviewter geben, müsste er den weiteren Ablauf des Interviews thematisieren. Sollte er es in erster Linie eilig haben, wird er ohne Nachfragen mit dem Erzählen beginnen. Rolf markiert die verfahrensbezogene Unsicherheit dieser Situation indem er fragt, ob er „jetzt loslegen“ solle. Die Interviewerin übernimmt seine Formulierung und bestätigt „Ja, einfach loslegen“. Mit dem Wort loslegen assoziiert man anfangen, anpacken, reden, etwas hinter sich bringen, selbst gestalten. Das könnte darauf hinweisen, dass Rolf sich hier vergewissern will, ob er jetzt die Führungsrolle über seine Geschichte übernehmen soll und darf. Die Interviewerin bestätigt ihm dies („ja“). Der Aushandlungsprozess ist abgeschlossen. Rolf nutzt anschließend seine Gestaltungsmöglichkeiten. Er beginnt mit einer 20minütigen, in sich geschlossenen Darstellung, die mit seiner Einstellung bei der Firma I. beginnt und mit seiner Kündigung endet. Zusammenfassend kann man festhalten, dass der eigentliche Interviewbeginn bereits vor dem Start der Aufnahme liegt. Durch den abrupten, formalen Anfang würgt die Interviewerin das bereits begonnene Interview ab, lenkt es um und fordert die klassische Rollenverteilung eines offenen Interviews ein. Im Mittelpunkt des Aushandlungsprozesses steht die Person Karl. Die Beziehung zu ihm wird von Rolf zum einen direkt angesprochen – zum anderen ist sie durch
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die Beziehung zwischen Karl und der Interviewerin auch in verdeckter Weise wirksam. Die Interviewerin als Forscherin und Karls Bekannte könnte zur Schiedsrichterin im ‘Streit’ um die nachträgliche Bewertung des damaligen Konflikts werden. Für Rolf haben seine vergangenen Konflikterfahrungen auch Bedeutung in der Gegenwart. Auch wenn die Interviewerin ihn hier ausbremst, bleibt abzuwarten, in welcher Weise er den Gegenwartsbezug im weiteren Interview vornimmt und welche Rolle Karl darin einnimmt.
Die Arbeitslosigkeit, der Beginn eines neuen Arbeitsverhältnisses und das Auftreten der ersten Konflikte: Nach der Aushandlung der Gesprächsebene beginnt Rolf mit dem ausführlichen Erzählen seiner Geschichte – von der Einstellung bis zur Kündigung – nur durch einige „Hmmm“ der Interviewerin unterstützt. Im Folgenden wird der erste Teil dieser Gesamterzählung interpretiert: „Es fing ja damit an, dass ich arbeitslos war. Dann 2 Monate, dann bei I. (Name der Firma) angefangen hab. (.) [I.: Hmm.] Da ins kalte Wasser ja gesprungen bin, weil im Prinzip gar keine Übergabe stattgefunden hat. Mein Vorgänger war, glaub‘ ich noch ein oder zwei Wochen da. Wobei der auch leicht chaotisch war. Also gut, hab‘ ich mir den Arbeitsbereich dort strukturiert, hatten dann gleich ein relativ großes Projekt. (..) Ja und das, ich weiß gar nicht mehr soo, (.) schon ne Zeit lang her, das war in der Zeit. Wann hab‘ ich denn dort angefangen? Februar 93. Ja da war der Herr Schultz, mit dem ich die Hauptkonflikte dort sozusagen hatte, schon da. Der hatte vor mir angefangen. Gut irgendwie kurz nach der Wende. (.)[I.: Hmm.] Kann ich jetzt gar nicht so sagen. Am Anfang gab‘s da diesbezüglich, glaube ich, so keine größeren Reibereien. Zu mindestens ist es mir so nicht aufgefallen, es hat mich nicht belastet, sag ich mal so. Na ja und so im Zuge der Zeit. Gut zwischen uns hat auch die Chemie nicht gestimmt. Es gibt ja so. Also ich persönlich hab da nie Probleme damit. Ich akzeptiere da auch. Ich kann auch mit jedem arbeiten. Hab dann kein besonderes Verhältnis zu jemandem, aber A schieß‘ ich ihn nicht an oder bedränge ihn irgendwie, aber muss einfach sachliche Basis. Guten Tag und auf Wiedersehen, sag‘ ich mal. Und das war halt so. Also mit dem Mann wär ich nie (lachen) tiefergehende, was heißt Freundschaft, sag ich mal so, überhaupt mal ein näheres Verhältnis wo man sagt, der ist mir sympathisch. Der war mir einfach egal. [I.: Ja.] Gut und später kam dann hinzu, dass der mal meinte, ich sei arrogant. Kann schon sein. Das sagt meine Frau manchmal auch, wenn ich irgendwie so. Ab ‘nem gewissen Zeitpunkt wirk‘ ich scheinbar überheblich, das kommt vielleicht erschwerend hinzu. Ich seh‘s jetzt nicht ganz so, aber gut. (lachen) Emm, (.) ja und irgendwann ging das dann los, ich hat en ganz guten Stand bei dem Geschäftsführer, dem Herrn Zet. Ich weiß nicht, dass wird der Karl ja auch schon erwähnt haben. (.) Und irgendwie aus heiterem Himmel kamen dann einmal Verbesserungsvorschläge, in der Art von dem Herrn Schultz, (.) von denen ich aber nichts wusste, wo dann drin stand: Ja wenn wir das so gemacht hätten, hätte mir da 16 000 Mark gespart und da 30 000 Mark. Und da muss ich auch noch sagen, da kommt noch als Negativum hinzu, dass der Herr Zet auch einen relativ seltsamen Charakter hat (..) der intrigiert oder der demontiert Leute scheinbar auch irgendwie relativ gern, denk ich mal. Weil das ist auch niemand der dann sagt: „Okay, Problem. Klingeln wir mal. Lassen wir denjenigen mal runter kommen. Soll er einfach mal was dazu sa-
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gen.“ Sondern man hat da erst mal am Anfang so gar nix mitbekommen. Gut, irgendwann hast du vielleicht schon mal so was gekriegt. So fing an sich diese Sache dann an zu eskalieren, sag ich mal und. (.) Ja dann wurde der Herr H., der mein direkter Vorgesetzter war, der das Büro geleitet hat, der Vorgänger vom S., der wurde dann ja auch oder ist gegangen, und dann war kurz der K. und dann kam der S. Ja und dann ging, wie gesagt, das ist so ein Auf und Ab gewesen. Es war mal ne Zeit lang Ruhe, und dann (.) kam halt immer irgendwas.“ (1:07-2:13)
Rolf beginnt seine Erzählung mit einer berufsbiographischen Einordnung seiner Beschäftigungszeit bei der Firma I. Er sei zuvor zwei Monate lang arbeitslos gewesen. Danach kommt er auf die Bedingungen für seine Einarbeitung in der neuen Firma zu sprechen. Da sei er „ins kalte Wasser gesprungen“, da keine geregelte und ausreichende Übergabe durch seinen Vorgänger stattgefunden habe. Der sei nur noch kurze Zeit („ein oder zwei Wochen“) da und außerdem „leicht chaotisch“ gewesen. Warum beginnt Rolf mit einer berufsbiographische Einordnung seiner Geschichte? Dadurch kennzeichnet er die Konflikterfahrungen bei der Firma I. als einen bestimmten Ausschnitt seiner beruflichen Welt. Es gab frühere berufliche Erfahrungen und es gibt den aktuellen Arbeitsplatz, von dem er vor dem eigentlichen Interview bereits berichtet hatte. Die Vorkommnisse und Konflikte werden in einen genauen zeitlichen Rahmen gestellt und der Firma I. zugeordnet. Vielleicht war die Firma I. der einzige Ort an dem Rolf je massivere Konflikte erlebt hatte. Möglicherweise hätte er sich, ohne den Druck der Arbeitslosigkeit, nie auf diese Stelle beworben. Eventuell entsprach der neue Job nicht seinen Neigungen und/ oder seinen Fähigkeiten. Dann wäre dies als Hinweis auf eine vorausschaubare, schwierige berufliche Anfangssituation zu deuten. Sollten seine bisherigen beruflichen Fertigkeiten nicht zu den geforderten Qualifikationen gepasst haben, wäre eine strukturierte Einarbeitung unverzichtbar. Der Interviewte präsentiert sich durch den Hinweis auf die nur zweimonatige Arbeitslosigkeit aber auch als berufserfahrenen, kompetenten Mitarbeiter, der schnell wieder einen neuen Job gefunden hatte. Dann könnte er in der neuen Firma viel Wissen aus seiner vorherigen Berufstätigkeit einbringen. Zunächst geht Rolf auf die Bedingungen der eigenen Einarbeitung ein. Er spricht dabei aber nicht von Einarbeitung und Lernen, sondern von „Übergabe“. Von seinem Vorgänger kann er dabei nicht profitieren. Er muss selbst aktiv werden. Im Interview bezieht er sich auf diese Anfangszeit mit einer großen zeitlichen Distanz und mit den Erfahrungen zum Thema Einarbeitung, die er in der neuen Firma erst kürzlich gesammelt hat. Rolf erzählt weiter, er habe sich zunächst seinen Arbeitsbereich „strukturiert“. Bald nach der Einstellung habe es ein „relativ großes Projekt“ gegeben. Wie muss man sich das praktisch vorstellen? Sicherlich hatte er sich zunächst eine allgemeine Übersicht verschafft und die Arbeitsaufgaben seiner Vorstellung
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nach geordnet und eingeordnet. Dabei konnte er sicherlich auch vorhandenes Wissen nutzen. Doch bedeutet Sich-Einarbeiten immer auch Neulernen und Umlernen. Wenn es, wie hier, scheinbar keine Unterstützung durch Kollegen etc. gab, war Lernen eine eher unsichtbare, selbst gesteuerte und selbstverantwortliche Angelegenheit. Rolf lernte seinen Arbeitsbereich und seine Aufgaben nicht durch (sichtbare und systematische) Unterweisung kennen, sondern dadurch, dass er sich das notwendige Wissen selbst aneignete, indem er alles gliederte, ordnete und gestaltete. Warum bezieht er sich selber nicht auf Lernen? Warum spricht er von Übergabe statt von Einarbeitung und (An-)Lernsituation? Möglicherweise wird hier eine eher historische Sicht auf Beruf und Betrieb sichtbar. Als Jugendlicher erlernt man einen Beruf, den man sein Leben lang dann ausübt. Betrieb ist dann kein Ort an dem ständiges, mitlaufendes Lernen als Bedingung des modernen Arbeitslebens stattfindet. Damit wird der Akt der Einstellung umso bedeutsamer. Wenn Mitarbeiter nicht durch Lernen in eine Aufgabe hineinwachsen, muss man bei der Auswahl darauf achten, dass man die richtigen, fertig ausgebildeten Mitarbeiter einstellt. Die Anfangszeit im Betrieb ist somit nicht als Lernzeit bedeutsam, sondern als Bewährungszeit. Man muss zeigen, dass man dazupasst, dass man die Erwartungen erfüllt. Die erste Härteprüfung für sein (neu erworbenes) Wissen und für seine Position im Betrieb war das große Projekt. Diese Bewährungsprobe muss er wohl bestanden haben, denn er bleibt im Unternehmen. Anschließend versucht Rolf eine zeitliche Einordnung. Nach kurzem Nachdenken (einer kleinen Pause) und der Anmerkung, dass das ja schon eine „Zeit lang her“ sei, erklärt er, er habe im „Februar 93“ dort angefangen zu arbeiten. Der Herr Schultz, mit dem er die „Hauptkonflikte dort sozusagen“ gehabt habe, sei schon da gewesen. Der hätte „kurz nach der Wende“ dort zu arbeiten begonnen. Rolf erklärt hier Erinnerungs-, Wissens- oder Verstehenslücken durch die zeitliche Distanz zum Ereignis – es ist eine „Zeit lang her“. Vielleicht erinnert er sich an manche Details nicht mehr richtig. Dann brauchte er die Zeit des Nachdenkens, um sich zu erinnern, ob die Person, mit der es später zu den Auseinandersetzungen kam, bereits dort arbeitete. Möglicherweise gab es anfangs zwischen Rolf und dem Werkstattleiter kaum Berührungspunkte und der Interviewte hatte ihn deshalb zunächst gar nicht richtig wahrgenommen. Aus der Konfliktforschung weiß man, dass spätere schwerwiegende, betriebliche Konflikte häufig ihren Ursprung in Irritationen in der Anfangszeit haben. Vielleicht gab es schon ganz zum Anfang Ereignisse, die erst im Rückblick für Rolfs Deutung der Konflikte wichtig wurden. Er benennt hier den Werkstattleiter als die Person, mit der er die „Hauptkonflikte“ gehabt habe. Wo es einen Hauptkonflikt gibt, muss es auch Nebenkonflikte geben. Eine ganz andere Lesart wäre: Für den heutigen
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Rolf liegen die damaligen Ereignisse so weit zurück, dass sie keine Bedeutung mehr für ihn haben. Rolf erzählt auf Wunsch der Interviewerin und seines ehemaligen Kollegen die alte Geschichte. Damit wäre diese demonstrative, zeitliche Einordnung eine Abgrenzung von der eigenen Vergangenheit. Vielleicht versteht er aus heutiger Sicht weder sein eigenes Verhalten, noch das der anderen Konfliktpersonen. Das wäre ein Hinweis darauf, dass es mittlerweile einen veränderten Rolf gibt, der aus den damaligen Konflikten möglicherweise gelernt hat. Anschließend beschreibt der Interviewte seinen anfänglichen Kontakt zum Werkstattleiter. Anfangs habe es „keine größeren Reibereien“ gegeben, zumindest sei ihm das „so nicht aufgefallen“. Nochmals verändert er seine ursprüngliche Aussage und erklärt, das habe ihn damals „nicht belastet“. Schließlich erklärt er, dass zwischen ihm und Herrn Schultz „auch die Chemie nicht gestimmt“ habe. Es folgt ein Einschub, in dem Rolf Position für eine faire, rein an Sachaspekten ausgerichtete Form der betrieblichen Zusammenarbeit bezieht. Er erklärt, er habe keine Probleme mit Leuten zusammenzuarbeiten, zu denen er „kein besonderes Verhältnis“ habe („Ich akzeptiere da auch. Ich kann auch mit jedem arbeiten“). Mit weniger sympathischen Personen verkehre er auf „sachlicher Basis“, sei freundlich aber zurückhaltend („Guten Tag und auf Wiedersehen.“). Er würde sie aber nicht angreifen oder beschädigen („schieß ich ihn nicht an oder bedränge ihn irgendwie“). Anschließend überträgt er diese allgemeine Regel auf sein Verhältnis zu Herrn Schultz. Er bezeichnet ihn nochmals als eine Person, zu der er niemals hätte eine „tiefergehende“ Beziehung oder gar „Freundschaft“ entwickeln können. Der sei ihm „einfach egal“ gewesen. Für Rolf scheint es einen elementaren Unterschied zwischen arbeitsbezogenen, sachlichen Konflikten und persönlichen Antipathien zu geben. Er hatte deshalb mit Herrn Schultz anfangs keinen Konflikt, weil es zunächst zu keiner fachlichen Auseinandersetzungen kam. Da er aber eine persönliche Abneigung gegen ihn empfand, grenzte er sich gegen ihn als Person ab. Dies scheint Rolfs übliche Art zu sein, möglichen persönlichen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Indem er beim Erzählen schrittweise eingesteht, dass es kleinere Reibereien schon gegeben haben könnte und, dass er beginnende Konflikte möglicherweise zu spät bemerkt oder sogar ignoriert hatte (weil sie ihn zu diesem Zeitpunkt nicht belastet hatten), zeigt er, dass er zumindest im Nachhinein auch einen eigenen Anteil an der späteren Konfliktentwicklung anerkennt. Diese Erkenntnis könnte er als persönliche Lernerfahrung nutzen. Er könnte aber auch argumentieren, dass es zur betrieblichen Professionalität gehöre, sich nicht von persönlichen, nicht-sachbezogenen Elementen leiten zu lassen. Im Einschub plädiert Rolf dann auch für eine Trennung zwischen der sachlichen, fachlichen Zusammenarbeit und den privaten, persönlichen Kontakten im Randbereich der Arbeit. Er führt seine eigene Person als Beweis dafür an, dass
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dies möglich ist. Dem Werkstattleiter unterstellt er damit, dass er über wichtige, berufsbezogene Fähigkeiten nicht verfüge – also defizitär sei. Der Interviewte scheint in diesem Punkt aber doch leicht verunsichert zu sein. Sowohl der Werkstattleiter als auch seine eigene Frau gaben ihm die Rückmeldung, er wirke „arrogant“ bzw. „überheblich“. Er gibt zu, dass eine solche Außenwirkung zu zusätzlichen Komplikationen führen könne. Aber seine grundlegende Einstellung können diese Feedbacks nicht beeinflussen („Ich seh‘ das nicht ganz so, aber gut.“). Rolf weiß also, wie er nach außen wirkt und sieht auch mögliche Nachteile. Aber weder seine Ehefrau noch der unsympathische Herr Schultz können hier eine Rolle als Lehrer/ Vermittler einnehmen, weil der Interviewte sein Verhalten nicht ändern will (oder kann). Vielleicht hätte gerade der länger in der Firma beschäftigte Herr Schultz dem Neuling Rolf wichtige Tipps geben können – vielleicht wäre er sogar bereit gewesen, ihn einzuarbeiten. Rolf will sein Verhalten, seine Außenwirkung nicht verändern, er kokettiert eher mit diesem Image. Möglicherweise ist eine, über Arroganz aufgebaute Distanzierung, seine Form des Umgangs mit bestimmten Konflikten. Er löst nicht die Konflikte, sondern hält die Konfliktgegner auf Distanz. Lernen und sich verändern würde hier möglicherweise seine funktionierenden Konfliktumgangsstrategien beschädigen. Im weiteren Verlauf des Interviews beschreibt Rolf das Sichtbarwerden von Konflikten („Ja und irgendwann ging das dann los.“). Er erzählt, er habe einen „ganz guten Stand bei dem Geschäftsführer“ gehabt. Er nennt den Namen des Geschäftsführers und fährt weiter fort, „ich weiß nicht, dass wird der Karl ja auch schon erwähnt haben“. „Aus heiterem Himmel“ und, ohne dass der Interviewte etwas davon wusste, seien von Herrn Schultz „Verbesserungsvorschläge“ aufgetaucht. Darin äußerte dieser, dass man durch ein anderes Vorgehen viel Geld hätte sparen können. In dieser Situation als zusätzlich problematisch, bezeichnet der Interviewte den „relativ seltsamen Charakter“ des Geschäftsführers. In einem weiteren Einschub vermutet Rolf, dass dieser Herr Zet „intrigiert“ und Leute „demontiert“. Es sei nicht die Art des Geschäftsführers bei auftauchenden Problemen eine Klärung voranzutreiben („Klingeln wir mal. Lassen wir denjenigen mal runter kommen. Soll er einfach mal was dazu sagen.“). In der Regel sei es so gewesen, dass man, wenn ein Problem bekannt war, erst einmal „nix mitbekommen“ habe. Erst später und nicht in allen Fällen sei der betreffenden Person die Sache zugetragen worden. Wie ist das mit den „Verbesserungsvorschlägen“ des Herrn Schultz zu verstehen? Ehrliche, ernst gemeinte Verbesserungsvorschläge können besonders für neue Mitarbeiter eine wichtige Hilfe darstellen. Damit wären sie ein legitimes, unverzichtbares Mittel im Rahmen der Einarbeitung. Der Interviewte sieht aber nicht die positive Seite einer solchen Maßnahme. Er befürchtet, dass dadurch der gute Ruf, den er beim Geschäftsführer mittlerweile hatte, beschädigt werden
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könnte. Rolf hatte zuvor gesagt, auch wenn man jemanden nicht leiden könne, müsse man ihn angemessen behandeln (ich „schieß ihn nicht an oder bedräng ihn irgendwie“). Er fühlt sich von dem Werkstattleiter unfair behandelt und „angeschossen“. Herr Schultz reagiert auf Rolfs Ignorieren also nicht mit Gegenignorieren. Er wendet sich, statt an den Kollegen, an den gemeinsamen Vorgesetzten, den Geschäftsführer. Möglicherweise ist dies die Konsequenz aus gescheiterten Belehrungsversuchen des Dienstälteren, die vom Neuling mit der Begründung „unsympathisch“ geblockt wurden. Für Rolf kam diese Kritik überraschend („aus heiterem Himmel“). Scheinbar war er der Meinung, alles laufe hervorragend. Sein Projekt war erfolgreich, der Geschäftsführer war von ihm überzeugt, möglicherweise stand eine Beförderung an. Hier findet die These, dass es Rolf bei seinem Eintritt in den Betrieb nicht um Einarbeitung und Lernen, sondern um Sich-Bewähren ging, eine weitere Untermauerung. Es ging ihm also bei seiner Darstellung der Anfangssituation nicht um eine Kritik an der fehlenden Einarbeitung, sondern um eine Kompetenzdemonstration. Rolf hält sich für so gut, dass er keine Einarbeitung nötig hat. Möglicherweise hat eine Einarbeitung gerade deshalb nicht stattgefunden, weil der Interviewte sich dagegen wehrte, weil er nicht Altes fortführen, sondern seine eigenen Ideen einbringen wollte. Aus dieser Perspektive präsentiert Rolf sich als Manager, der Ideen mit ins neue Unternehmen bringt, die er hier selbstverständlich auch verwirklichen will. Welche Bedeutung hat der Geschäftsführer Herr Zet? Rolf beschreibt ihn als jemanden, der Personal- und Betriebspolitik betreibt. Und er verurteilt dessen Entscheidungen. Welche konkreten Verhaltensweisen kann man hinter den negativen Formulierungen „intrigieren“ und „Leute demontieren“ vermuten? Es handelt sich möglicherweise um die klassischen Aufgaben von Personalverantwortlichen, die da wären: Mitarbeiter einstellen, schulen und versetzen - ihnen Aufgaben zuweisen und entziehen – und Mitarbeitern kündigen. Danach wäre Rolf, mit der Art und Weise wie der Geschäftsführer seine Aufgaben wahrnimmt, nicht einverstanden. Er unterstellt ihm hier möglicherweise, dass er die betriebspolitischen Instrumente willkürlich, nicht sachlich begründet und ungerecht eingesetzt. Auf seinen eigenen Fall bezogen kritisiert er konkret, dass er auf die Anschuldigungen durch Herrn Schultz nicht angemessen reagieren konnte, weil Herr Zet dies verhinderte. – Betrachtet man das aber unter dem Lernaspekt und unterstellt dem Geschäftsführer bewusstes, auf Personalentwicklung ausgerichtetes Handeln, könnte ein Grund für das Verhindern eines Konfliktgesprächs auch darin liegen, dass Herr Zet (als guter Lehrer) Rolf den neuen Mitarbeiter nicht demotivieren wollte. Der Interviewte beschreibt noch weitere Unsicherheiten. Sein direkter Vorgesetzter habe nicht ganz freiwillig das Unternehmen verlassen („der wurde dann
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auch oder ist gegangen“). Auch sein Nachfolger wurde später durch den jetzigen Büroleiter Herrn S. ersetzt. Der Interviewte beschreibt eine Zeit, in der sich ständig etwas veränderte. Es sei „ein Auf und Ab gewesen“. Zeiten ohne besondere Vorfälle hätten sich mit problematischen Zeitabschnitten abgewechselt. Der Geschäftsführer Herr Zet war also nicht der direkte Vorgesetzte von Rolf. Der Büroleiter Herr S. stand in der Hierarchie noch dazwischen. Damit wäre der Büroleiter für eine angemessene Einarbeitung und als Eskalations- und Klärungsinstanz bei fachlichen Differenzen verantwortlich gewesen. Durch die Erwähnung der häufigen Umbesetzung dieser Position entsteht der Eindruck, dass die Handlungsspielräume eines Büroleiters und seine tatsächliche Macht bei der Firma I. relativ gering waren. Wer als Vorgesetzter aber keine sichere Position hat, kann auch die Mitarbeiter nicht angemessen fördern und unterstützen. Zusammenfassend kann man sagen: Rolf steigt, nachdem die Interviewerin verhindert hatte, dass er mit seiner aktuellen beruflichen Situation beginnt, weit in der Vergangenheit, bei seiner Anfangszeit in der Firma I. ein. Seine Einarbeitung beschreibt er als einen selbstgesteuerten, rein organisatorischen Vorgang, der wenig mit Lernen zu tun hatte. Seinen Bereich ordnen bedeutet darin das Implementieren von eigenen Strategien und das Umsetzen von Ideen im neuen Unternehmen. Kein Kollege und kein Vorgesetzter unterstützen ihn dabei. Unklar ist, ob er es nicht will oder, ob niemand dazu bereit gewesen wäre. Was erfahren wir über das Thema Konflikte? Es gibt erste Hinweise, dass für Rolf zur Zeit des Interviews nur dieser eine Arbeitsplatzkonflikt wichtig ist. Er bettet die Erzählung berufsbiographisch ein – es gibt ein Vorher und ein Nachher. Über das Nachher (seinen neuen Arbeitsplatz als Ort des Lernens und nicht der Konflikte) hat er bereits vor dem eigentlichen Interview etwas erzählt. Es gab einen Hauptkonfliktgegner (Herrn Schultz). Aber auch mit dem Geschäftsführer Herrn Zet hatte der Interviewte so seine Schwierigkeiten. Ihn macht er dafür verantwortlich, dass arbeitsbezogene Sachkonflikte nicht gelöst. Er ist der inkompetente Intervenierende. Was erfahren wir über das Thema Umgang mit Konflikten? Beim Umgang mit Sachkonflikten geht es Rolf darum, die Frage zu klären, welche Konfliktseite alle fachlich wichtigen Aspekte eines Projektes berücksichtigt hat und welche nicht. Es zählen die besseren Argumente, das umfassendere Wissen und die individuelle Problemlösekompetenz. Probleme beim Umgang mit Sachkonflikten tauchen für ihn deshalb auf, weil es in der Firma I. keinen offenen Umgang mit unterschiedlichen Meinungen gibt. Kritisiert wird hinter dem Rücken der Leute, was eine Richtigstellung, also das Vorbringen der besseren Argumente unmöglich mache. Beziehungsstörungen dagegen sind für Rolf keine für den Arbeitsalltag relevanten Konflikte. Deshalb braucht man dafür im Arbeitsalltag auch keine Konfliktbearbeitungsstrategien. Auf persönliche Antipathien (eine mögliche Vorstufe für solche Konflikte) wird mit arbeitsbezogener
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Korrektheit und persönlicher Distanzierung reagiert. Lehren und Lernen tauchen als mögliche Umgangsweisen mit Themen des Arbeitsalltags oder mit Konflikten nicht auf, obwohl die Situation „Einarbeitung“ dafür prädestiniert wäre. Bei seinem jetzigen Arbeitgeber erlebt er hingegen einen solchen planvollen, institutionell gestalteten Einstieg. Lehren dagegen taucht in der Eingangssequenz überhaupt nicht auf.
1.2.2 Betriebliche Konflikte als wirtschaftliche Unvernunftshandlung und individuelle Wachstumschance Die Sichtung des gesamten Materials bestätigt die Vermutung aus der Eingangssequenz, dass Rolf seine Konflikterfahrungen in der Firma I. als etwas Einzigartiges bewertet („des sind schon Spezifika bei I.“ (18:39)). Er beschreibt seinen erlebten Konflikt als einen einmaligen, entarteten, unprofessionell bearbeiteten Arbeitsplatzkonflikt und grenzt ihn von unspektakulären und unvermeidbaren, arbeitsbezogenen Differenzen ab. Rolf präsentiert seinen betrieblichen Konflikt zum einen in seiner Bedeutung für ihn als Person. Hier geht er auf die Möglichkeiten und Grenzen der persönlichen Weiterentwicklung ein. Zum anderen thematisiert er die Vorkommnisse in ihrer Bedeutung für den Betrieb als Wirtschaftsunternehmen. Er war der ‘Rufer in der Wüste’, der sich gegen die ‘Betonköpfe’ nicht durchsetzen konnte und deshalb seine persönlichen Konsequenzen ziehen musste.
1.2.2.1
Konflikte als persönlichkeitsförderndes Überlebenstraining
Rolf beschreibt sich selbst schmunzelnd als harmoniebedürftig. Schon als Kind habe er Konflikte nicht aushalten und sich nicht wehren können. Im Konflikt mit dem Werkstattleiter und dem Geschäftsführer habe er sich deshalb „durchlavieren“ (21:02) müssen. So habe es, „zumindest für meine Persönlichkeit kaum einen vernünftigen Ausweg“ gegeben. „Nur kündigen.“ (19:26-27). Seine Konflikterfahrungen bei der Firma I. bezeichnet Rolf als „Extreme des Lebens“ (19:23). „Bist halt zufälligerweise in ne Machtkonstellation rein geraten in der Firma, in Verbindung mit jemandem der en extremen Charakter hat.“ (19:24-25). Er nimmt an, dass ihm Ähnliches in der Zukunft nicht mehr passieren werde. Als Begründung führt er an, dass man so extreme Persönlichkeiten wie Herrn Schultz und solche Vorgesetzte wie Herrn Zet üblicherweise in den Betrieben nicht vorfinde. Also nicht irgendwelches neu erworbene Wissen und Können werden ihn in Zukunft vor ähnlichen Erfahrungen schützen, sondern die Einma-
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ligkeit des erlebten Konflikts. Rolf geht davon aus, dass er nie beweisen muss, dass er heute besser mit schwierigen Mitarbeitern und Vorgesetzten umgehen kann als vorher. Erst durch den formalen Abschluss und einen nahtlosen Übergang in eine andere Beschäftigung konnte Rolf seine Erfahrungen aus dem Konflikt bewerten und positiv in seine Berufsbiographie integrieren. Erst aus der Sicherheit des neuen Jobs kann er den zurückliegenden Dauerkonflikt unter Lernaspekten betrachten. Den Nutzen, den er den damaligen Ereignissen aus seiner heutigen Situation zuschreibt, ist der positive Einfluss auf seine Persönlichkeit: „Von der Persönlichkeit her, wenn man so will, es ist makaber, aber ich denk, ich hab profitiert davon.“ (18:15-17)). Rolf sieht sich nicht als Lehrer, Konfliktlöser, Vermittler oder Intervenierender – weder im Hinblick auf Herrn Schultz, noch für seine Mitarbeiter. Er begründet dies damit, dass er „nicht geschult“ (12:24) sei und daran auch kein Interesse habe („Ich bin nicht Kindermädchen von anderen.“ (12:25)). Im Hinblick auf Herrn Schultz habe er irgendwann auch „resigniert“ (13:09). Den Konflikt mit ihm hätte man mit „Reden oder irgendwie“ (14:36) auch nicht befrieden können, da Herr Schultz unbelehrbar sei („würde ich fast ausschließen da auch nur ansatzweise dem Mann da zu verändern.“ (14:36-37)). Der Interviewte berichtet allerdings von einem Ereignis, hinter dem man zunächst durchaus einen misslungenen Belehrungsversuch vermuten könnte: „Wir hatten irgendwann mal so ne Sache gehabt, da hat er nachgerechnet, bei irgend so einem Auftrag, dass wir da fünfzigtausend Mark verloren hätten. Hab ich gesagt: „Herr Schultz, das was sie da geschrieben haben war sachlich richtig, aber dahingehend falsch, weil, wir hätten das so machen können, aber dann hätten wir das Risiko getragen und wir haben diese Sachen alles so vom Kunden bezahlt gekriegt. Also wir haben so keinen wirtschaftlichen Schaden erlitten. Wenn wir das so gemacht hätten, wie sie gesagt hätten, und dem Kunden trotzdem diese Menge Geld abgenommen hätten, dann hätten wir ihn beschissen, weil wir hätten dann weniger oder geliefert, wie wir ihm abgenommen haben für Geld.“ […] Wir haben das so angeboten – wir haben dann anderes eingesetzt, dann hätten wir dem Kunden auch weniger Geld annehmen dürfen. Sonst wär’s Betrug gewesen. Also dahingehend sachlich richtig, aber es ist kein Schaden entstanden.“ (nächste 4 Worte sehr leise) Kein Schaden entstanden, ja. Und solche Sachen tauchten dann trotzdem immer wieder auf, obwohl man’s ihm erklärt hat.“(7:49- 8:15)
Auf eine Kritik durch Herrn Schultz reagiert Rolf scheinbar pädagogisch. Er belehrt ihn, ohne dessen vorhandenes Wissen direkt abzuwerten (als falsch zu bezeichnen). Indem er mit der Unterscheidung ‘handwerklich richtig’ (ja - dünnere Rohre hätten hier ausgereicht) und ‘betriebswirtschaftlich richtig’ (ja - dickere Rohre bieten mehr Sicherheit, garantieren einen zufriedeneren Kunden, der bereit ist die Mehrkosten zu tragen) arbeitet, akzeptiert er Herrn Schultz als kompetenten Handwerker. Er belehrt ihn aber im gleichen Satz im Hinblick auf die planerischen und betriebswirtschaftlichen Aspekte des Projekts. Damit widerlegt er die Behauptung des wirtschaftlichen Schadens. Er sagt aber auch, dass
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Herr Schultz von planerischen und betriebswirtschaftlichen Dingen keine Ahnung hat. Rolf schließt auch noch eine moralische Belehrung an. Er erklärt ihm den Unterschied zwischen Betrug und erlaubte Geschäftspraktiken. Damit unterstellt er dem Werkstattmeister, kein Unrechtempfinden zu haben. Rolf nutzt pädagogische Mittel nicht damit Herr Schultz etwas lernen kann, sondern um ihn zurechtzuweisen.
1.2.2.2
Wirtschaftliche Fehlentwicklungen durch Veränderungsverweigerer – Konflikte zwischen Bewahrern und Erneuerern
Nach Rolfs Ausführungen werden die Konflikte zwischen ihm und dem Werkstattleiter nicht nur durch den Geschäftsführer beeinflusst. Die Konflikte verdichten sich auf Betriebsebene zu einer Grundsatzdiskussion zwischen Erneuerern und Bewahrern. Die Firma sei ein „Familienbetrieb“ (13:26) geblieben, in dem es „persönliche Abhängigkeiten“ (13:26) gebe. „Dass der Teil (der Mitarbeiter: Anmerkung M.N.) der anfing in der Firma, sag ich mal, wie sie gegründet, nicht wie sie gegründet wurde, sondern – es war ja vorher ein ganz kleiner Laden aber ich sag mal als sie von I. übernommen wurde vor – ich weiß nicht wann das war – so Mitte der Achtziger. Diese Leute, das war ne Familie, wie es immer so ist, harte Zeiten schweißen zusammen, die haben dann teilweise wo es dann auch Geldschwierigkeiten gab, die halten immer noch extrem zusammen. Und alle die was ändern wollen – das ist ja auch was, warum in dieser Firma so wenig geändert wird – da wehren sich die Alten alle dagegen. Und das sind Leute auch an relativ entscheidender Stelle. […] Aber sowie du was verändern wolltest, kam sofort: „das haben wir noch nie und das Geld und jetzt schmeißen wir das Geld raus“. Und das meine ich. Diese Klicke, und da gehört Zet dazu und noch en paar andere, die, das ist so en monolithischer Block ja. Und das ist glaube ich auch ne Spaltung innerhalb der Firma, muss man immer noch sagen. Da sind die Alten und die andern sind die Neuen. Obwohl das ja über zehn Jahre her ist, dass die Neueren dazukamen. Und das hat sich, ich denk mal, wird sich nicht mehr und hat sich nicht verändert, (leise) wird sich nicht mehr verändern.“ (13:30-48)
Rolf berichtet, dass die Entscheidungen in seinem früheren Betrieb, nicht aufgrund fachlich-sachlicher Argumente getroffen würden, sondern aufgrund persönlicher Abhängigkeiten, wobei die eigentlichen Entscheidungsträger die älteren Mitarbeiter mit langer Betriebszugehörigkeit seien. Die hätten aus der Vergangenheit gelernt, dass Zusammenhalten und Sparsamkeit Mittel sind, aus einer wirtschaftlichen, betrieblichen Schieflage herauszukommen. Deshalb wollen sie diese Grundwerte auch im aktuellen Betriebsalltag berücksichtigt sehen. Zu den ‘Alten’, die ein gemeinsames Schicksal verbindet, gehören nach Rolfs Aussage auch der Werkstattleiter und der Geschäftsführer.
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Direkt von Konflikten Betroffene
Über die Themen Geld und Kosten würde ein Grundkonflikt zwischen der Gruppe der Altgedienten und der der Neuen ausgetragen. Die alteingesessenen, erfahrenen Betriebszugehörigen wollen bewahren. Sie weigerten sich, Altes zu verlernen und Neues zu erlernen. Die ‘Neuen Wilden’ wollen verändern. Sie weigerten sich wiederum das Althergebrachte zu lernen und widersetzten sich damit der betrieblichen Sozialisation. Rolf, ein ‘Neuer’, bewertet das Wissen und die Einstellung der ‘Alten’ als überkommen und betriebswirtschaftlich unsinnig. Ein modernes Unternehmen müsse Geld ausgeben, um Geld zu sparen. Er sieht durch die Veränderungsverweigerung der ‘Alten’ die Existenz des Standorts bedroht. Rolfs Konflikte mit dem Werkstattleiter (und dem Geschäftsführer) sind somit auf einer abstrakteren Ebene Auseinandersetzungen zwischen Erneuerern und Bewahrern. Bei einer solchen konservativen Grundeinstellung der Entscheidungsträger spielt Lernen und Lehren ausschließlich die Rolle, das Anpassen der Neuen an eine beständige, unveränderliche Norm zu sichern. Wer nicht fähig oder bereit ist, sich die ideellen Firmenwerte anzueignen, muss entweder Dauerkonflikte aushalten – oder sich einen neuen Job suchen.
1.2.3 Bedeutungswandel des Betriebs innerhalb der Berufsbiographie Für Rolf ist der Betrieb, in dem er die Konflikterfahrungen machte, nicht der erste und einzige Arbeitsort. Er erzählt, dass er zuvor „in der Automobilindustrie gearbeitet“ (20:17-18) habe. Seit einem Jahr ist er bei einem Softwareunternehmen beschäftigt. Und er berichtet, er habe dort mittlerweile „en ganz guten Einstieg gefunden“ (12:35). Diese drei berufsbiographisch bedeutsamen Ausschnitte werden durch zwei Umbruchsituationen verbunden und/ oder getrennt. Rolf nahm nach zwei Monaten Arbeitslosigkeit eine Tätigkeit im Maschinenbau auf. Diese Entscheidung wurde unter dem Zwang der Arbeitslosigkeit getroffen und sein Tätigkeitsfeld veränderte sich durch diesen Wechsel tief greifend. Er erzählt, „das Bestreben wegzugehen“ (20:13) habe er eigentlich schon vom ersten Tag an gehabt. Er blieb dann doch sieben Jahre. Auch die zweite Umbruchsituation stand unter Zwängen. So bezeichnet er es als „Glücksfall“ (20:31), dass er schließlich, trotz schwieriger wirtschaftlicher Lage und dem eigenen fortschreitenden Alter, doch noch eine andere Anstellung gefunden habe. Anhand der drei berufsbiographischen Meilensteine lässt sich eine berufsbezogene Entwicklung ablesen, die sich an der Kategorie Alter orientiert. Offizielle Ausbildungen und Zusatzqualifikationen/ Erfahrungen spielen dabei keine Rolle. Rolf veränderte sich immer dann grundlegend, wenn er das Unternehmen wechselte. Solange er im gleichen Betrieb blieb, standen eher Kontinuität und Beständigkeit im Vordergrund.
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Als unter 40jähriger arbeitete Rolf in seinem Traumbereich. („Also Maschinen, die sich bewegen, denk ich heute immer noch, haben mich schon immer fasziniert. Da wäre ich auch wieder gerne zurückgegangen, aber es hat sich damals in der Zeit halt nicht ergeben.“ (20:20-23)) Es sind die Träume eines jungen Mannes, der sinnliche Erfahrungen mit (vielleicht) schnellen Autos liebt. Spaß an Maschinen, die sich bewegen, stand im Vordergrund. Die Beschreibung der anschließenden Umbruchsituation erinnert an ‘die Vertreibung aus dem Paradies’. Danach folgt die Berufsgeschichte eines Mannes von vierzig bis fünfzig. Diese Zeit steht allgemein für viel berufliche Erfahrung und höchste Leistungsfähigkeit. Bei Rolf steht hier der berufliche Aufstieg im Vordergrund. Eigentlich ist Rolf für diese Tätigkeit nicht passend ausgebildet (weder fachlich noch als Führungskraft). Er erzählt von dieser Zeit aber nicht im Hinblick auf Lernen oder Gestalten/ Managen, sondern im Kontext von betrieblichen Defiziten, Konflikten und persönlichen Belastungen. Warum gibt Rolf schließlich diesen Job auf? Er erklärt: „Aber wie gesagt, der Grund war halt einfach, wenn die ganze, das Umfeld gestimmt hätte, und die Situation nicht so gewesen wäre und man vor allem eine positive Entwicklung der Firma gesehen hätte, da wäre ich mit Sicherheit dageblieben, sage ich mal. Also letztendlich lief das. Und gut die wirtschaftliche Entwicklung hängt halt auch mit der, emm, mit den inneren Strukturen zusammen bzw., das hat man hier nicht, wie sich ne Firma weiterentwickelt, ne. Wenn sie gut ist, ist sie auch wirtschaftlicher viel erfolgreicher.“ (5:36-42)) Die ständigen Konflikte belasten Rolf zwar („Gesund ist es mit Sicherheit nicht.“ (5:26:29)), aber er gibt aus wirtschaftlichen Gründen auf – weil er keine Zukunft für den Betrieb sieht. Vom wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens hängt die finanzielle Sicherheit der Mitarbeiter ab. Rolf hat bereits einmal den Job verloren. Das soll ihm nicht noch einmal passieren. Er erklärt, das seien eine „Persönlichkeitsfrage“ (20:06) und eine Frage des Mutes und der persönlichen Leistungsgrenzen. Rolf kündigt erst, nachdem er einen alternativen Arbeitsplatz gefunden hat. Damit präsentiert er sich als belastbar – nicht aber als spontan und mutig. Auf die Frage der Interviewerin „Was würden sie machen, wenn sie so einem (Herrn Schultz: Anmerkung M.N.) noch mal begegnen würden?“ (12:37) antwortet Rolf, während er rhythmisch mit den Fingern auf den Tisch klopft: „Na ja, immer kündigen kann man ja schlecht. Zumindest in meinem Alter.“ (18:38-39). Um für die letzten 15 Jahre eine sichere Beschäftigung zu haben, muss er sich jetzt verändern und einen Job danach aussuchen, dass er ihn auch bis zur Rente ausüben kann. Um mehr private Lebensqualität und mehr Sicherheit zu haben, verzichtet er heute auf Geld und Karriere. Um sich im neuen, hoffentlich sichereren Job zu behaupten, muss er im Rahmen einer standardisierten Einarbeitung festgelegte Seminare besuchen. Obwohl er strategisch ausgerichtetes, plan-
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Direkt von Konflikten Betroffene
volles Verkaufen als Manipulation des Kunden empfindet und sich auch im neuen Job nicht verbiegen will, ist er heute bereit, im Kundengespräch auch mal „Umweg“(e) (17:04) zu gehen, um Geschäfte erfolgreich abschließen zu können. Während er sich im Zusammenhang mit Konflikten im alten Betrieb überhaupt nicht auf Lernen bezieht, stellt er die gesamte Betrachtung seines jetzigen Jobs unter den Lernaspekt. Er spricht von „Erkenntnis, die ich daraus hab“ (17:01). Er widersetzt sich Lernerwartungen („Aber ich hab‘ halt immer die Meinung gehabt und die vertret‘ ich auch immer noch, halbwegs.“ (17:01-02)). Er zweifelt und zeigt, wie schwer es ist, sich von alten Wahrheiten zu lösen („Das war so meine Grundeinstellung. […] Ja kann man so und so sehen. Vielleicht auch net die ganz richtige Einstellung. Ich weiß es nicht, also.“ (17:07-08)) Und er lässt sich auf Neues ein und nennt Lernen als Möglichkeit sich das Neue zu erschließen („Das ist so meine Erkenntnis aus der ganzen Sache, sag ich mal. Und des kann man mit Sicherheit lernen, da ne bessere Wortwahl zu finden. Nee, ich hab‘ dem früher nie viel beigemessen. (..) Ja“ (17:11-13). Rolf stellt auch den Zusammenhang mit den Konflikten bei seiner alten Firma her. Lehren und Lernen werden somit erst im Zusammenhang mit der neuen Anstellung für ihn zum Thema. Während er seinen alten Betrieb unter sachlich-wirtschaftlichen und zwischenmenschlich-machtorientierten Aspekten darstellte, präsentiert er seinen heutigen Arbeitsplatz unter einem doppeltem Lernaspekt. Zum einen lernt er, erfolgreichere Verkaufsgespräche zu führen, zum anderen bearbeitet er die Kommunikationsdilemmata seiner beruflichen Vergangenheit. „Hab ich aber zu lange zu gebraucht – siebenundvierzig Jahre bis ich zu der Erkenntnis gekommen bin. Kann schneller gehen, denke ich mal. (Lachen) […] Aber gut, ich hab auch jetzt meine Sprache. Da muss ich mich schon schwer, nicht schwer am Riemen reißen, aber. Ich glaub‘ so im Kundengespräch war ich schon immer anders, aber verinnerlicht man das schon mehr. Spricht dann schon etwas anders. Also wie gesagt, perfekt mit Sicherheit nicht. Aber da hab‘ ich mich schon angepasst. Wie gesagt, jetzt erst durch diese Schulungen, oder generell halt, mit dem Ganzen, dass man damit konfrontiert wird. Also früher, hab ich das A unterschätzt mit Sicherheit, und B mir auch da keine Mühe gegeben, des muss ich fairer Weise schon sagen.“ (17:33-44)
1.2.4 Private Beziehungen als Gegenwelt zum konfliktträchtigen Job Rolf bettet die Erzählung über seinen einzigen, in der Vergangenheit liegenden Arbeitsplatzkonflikt in einen lebensweltlichen Kontext ein. Seiner damaligen harmonischen Lebenswelt stellt er die heutige, noch harmonischere gegenüber, indem er Vorher-Nachher-Ansichten konstruiert. Als lebensweltliche Aspekte geht er auf Freizeit, Wohlbefinden/ Gesundheit, Partnerschaft und auf die Freundschaft zu Karl ein. Rolf beschreibt die Auswirkungen der hohen Arbeits-
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belastung und der Dauerkonflikte in der alten Firma auf sein Freizeitverhalten. Obwohl er eigentlich kein „Fernsehgucker“ (21:45) sei, hatte er sich damals in der Freizeit nur noch passiv verhalten. Sein Hobby, das Kochen, habe er erst jetzt wiederentdeckt: „Heute ist das Entspannung für mich auch wenn ich nen anstrengenden Tag hatte.“ (21:50 – 22:01). Eine ähnliche Beobachtung hat Rolf auch beim Urlaub gemacht. Heute brauche er „an sich keine Zeit um abzuschalten. Und das war halt früher schon so. Urlaub beginnt und – klar – man braucht schon körperliche Erholung, aber ich hab keine Altlasten, man hat.“ (22:21-23) Rolf denkt heute, dass er damals auch seinem Körper viel zugemutet habe. Diese Dauerbelastungen und Schlafstörungen bei Großprojekten hätten auch bleibende, gesundheitliche Schäden nach sich ziehen können („Also gesundheitszuträglich ist das mit Sicherheit nicht.“ (19:40)) Erst indem seine Frau ihn auf die Auswirkungen hinweist, werden sie auch Rolf klar. Erst heute gesteht er sich ein, dass die damaligen Konflikte in der privaten Partnerschaft einen weiten Raum einnahmen – und, dass ihm die ganzen Jahre gar nicht bewusst war, wie stark die betriebliche Situation Einfluss auf sein Privatleben nahm. Seit er den neuen Job hat, signalisiert ihm seine Ehefrau eine Normalisierung: „Meine Frau hat das erst letzte Woche oder irgendwann gesagt, dass ich mich da schon extrem verändert hab‘, also ruhiger geworden bin. Ja ruhiger geworden bin, mich auch nicht mehr so leicht aufrege, wenn sie was sagt.“ (22:09 – 11). Rolfs Ehefrau erscheint im Interview als ein wichtiger Teil seiner privaten Lebenswelt. Mit ihr diskutierte er auch seine betrieblichen Probleme. Er erklärt, es habe in seiner Ehe nie ernste Auseinandersetzungen gegeben. („Also Krach hatten wir in dem Sinn eigentlich nie größeren, großen.“ (22:11-12))
Karl und Rolf – eine Männerfreundschaft: Den damaligen Arbeitskollegen Karl erwähnt Rolf in der Eingangssequenz eher beiläufig. Dort wurde bereits vermutet, dass der Kontakt zu ihm für Rolf von besonderer Wichtigkeit ist. Damals war Rolf der Vorgesetzte, der sich mit Werkstattleiter und Geschäftsführer auseinandersetzen musste. Karl stand im Hintergrund. Aus der Zeit als Rolf noch in seiner alten Firma arbeitete, berichtet er: „Des muss man schon sagen Karl und ich. Wir haben. Oder ich hab schon en tolles Verhältnis. Also des war verdammt wichtig, denk ich mal. Ja, ja. Des war dann auch ein schwerer Einbruch, als Karl dann mal ne längere Zeit net da war. Da gab‘ s dann gar keinen. [I.: Was war in der Zeit anders?] (..) Des kann ich jetzt gar net mehr sagen. Da war ich wohl noch frustrierter. Mer stand schon noch alleiner da. Sonst hat der Karl des hautnah mitgekriegt und konnt‘ die Situation auch beurteilen. „Wie siehst du des, was meinst du da.“ Des war dann halt net so gegeben. Also, wenn man so ganz alleine ist, das war wesentlich unangenehmer. Unabhängig von abends en Bier trinken. Wir ham da schon Fälle, wo wir abends dann geredet haben. Wo wir
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Direkt von Konflikten Betroffene uns auch gut verstanden haben. Einerseits sind wir recht unterschiedlich, andererseits ham wir uns gut verstanden. Obwohl wir sehr unterschiedlich vom Ansatz her sind. Und Karl, bedingt durch seine Seminare, da doch einiges an Erfahrung eingebracht hat. Des war schon sehr positiv. [ I.: Was hat das bewirkt? Ham Sie schon mal was ausprobiert, was er so erzählt hat?] Njer, der Karl ist jetzt in ner anderen Situation, weil. Da ist mer mal zu was ernannt worden, aber nie so richtig schriftlich und deshalb. Karl hat jetzt, glaub ich, bedingt dadurch, dass er es schriftlich hat, erstmalig die Chance gehabt, den Schultz überhaupt zu deckeln, weil‘s jetzt erst mal offiziell war. Emm, wir ham über verschiedene Sachen psychologisch mal gesprochen. Aber angewandt, kann ich jetzt nicht sagen, dass ich das bewusst hab. Es war mehr, dass mer jemanden hatte mit dem mer sich mal unterhalten konnte.“ (15:26-47)
In der Vergangenheit waren die regelmäßigen Gespräche und abendlichen Kneipenbesuche Teil einer gemeinsamen außerbetrieblichen Lebenswelt. Man redete über die Arbeit, die Schwierigkeiten, die beteiligten Personen. Es ging aber nicht darum umsetzbare Lösungen zu finden, sondern sich den Frust von der Seele zu reden. Die Kneipe taucht hier als Zwischenraum zwischen Privatleben und Arbeitsplatz auf. Karl kennt sich, anders als Rolfs Ehefrau, auch in den fachbezogenen Themen aus. Er konnte die Situation auch beurteilen. Doch Rolf nutzte Karl (obwohl der Seminarerfahrung hat) nicht als Berater, Coach oder Lehrer. Man habe alles so durchgesprochen – doch einstellungsverändernd oder handlungsleitend seien diese Gespräche für ihn nicht gewesen. Statt eines asymmetrischen Lehrer-Schüler-Verhältnisses entwickelte sich zwischen den beiden Männern ein symmetrisches Verhältnis zweier ‘junger Wilder’, die sich gemeinsam gegen die ‘Alteingesessenen’ und im Besonderen gegen den Geschäftsführer und den Werkstattleiter abgrenzen. Heute ist es Karl, der als Vorgesetzter die Konflikte mit dem Werkstattleiter und dem Geschäftsführer austragen muss. Und es gibt immer noch Gespräche zwischen den ehemaligen Arbeitskollegen über die nach wie vor schwierige Situation. Auch Karl schafft es, trotz seiner aggressiveren Vorgehensweise nicht, den Werkstattmeister zu disziplinieren. Jetzt reden die beiden Männer über Karls Probleme. Rolf rät Karl, es ihm nachzumachen und sich auch einen anderen Arbeitsplatz zu suchen: „dem Karl hab ich das ja auch schon mal gesagt, mir ist das auch so gegangen - man hat die Kraft denke ich auch nur einmal. […] man muss ja auch mal sehen, dass man weiterkommt.“ (5:47 – 6:01) Karl hatte Rolfs Konflikte als Mobbingfall eingeordnet. Wenn Karl auch im Hinblick auf den Dauerkonflikt in Rolfs Fußstapfen getreten ist, müsste er eigentlich seinen Konflikt mit dem Werkstattleiter jetzt auch als Mobbing bezeichnen. Ob er das tut, kann nicht nachgeprüft werden. Festzuhalten bleibt, dass die beiden Männer auch das konflikthafte Verhältnis zum Werkstattleiter miteinander teilen. Die persönliche Distanzierung Rolfs von der Mobbingzuschreibung für seinen eigenen Konflikt könnte mit der für ihn wichtigen Vergleichbarkeit der beiden Fälle zusammenhängen. Entweder sind beide Beispiele Mobbing –
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oder man muss sowohl Rolfs als auch Karls Auseinandersetzungen mit dem Werkstattleiter als stark eskalierte Konflikte, oder nach Rolf, als „Extreme des Lebens“ bezeichnen. Welche Schwerpunkte setzt Rolf bei seiner subjektiven Mobbingdefinition? Er erzählt: „Also da hab ich mir erstmals Gedanken darüber gemacht wie man das nennen will, kam, als der Karl anrief und sagte: „Du bist doch gemobbt worden.“ Also ich persönlich seh‘ des net unter Mobbing. Mag ich jetzt falsch liegen. Also ich hak‘ das ab unter Extreme des Lebens. Bist halt zufälligerweise in ne Machtkonstellation rein geraten in der Firma, in Verbindung mit jemandem der en extremen Charakter hat, aus der es, zumindest für meine Persönlichkeit kaum einen vernünftigen Ausweg gab. Nur kündigen. So würd‘ ich des jetzt mal abstrakt sagen. (.) Also, ich weiß net. Unter Mobbing versteh ich, dass jemand jemanden aus der Abteilung raus ham will. Aber auf mein oder unsern Job, also den Job den meine Nachfolger machen, kann der net scharf gewesen sein. Also den könnt‘ er an sich net machen. Weiß net, aber vielleicht ist der Begriff auch anders definiert? Also heraus-ekeln, was ich unter Mobbing versteh, wollt der weder den Karl, noch den „S.“, noch mich, noch sonst jemand andern in der Firma. (19:2033)
Mobbing beinhaltet nach seiner Beschreibung die Absicht, jemanden herauszuekeln. Rolfs Eigenkündigung könnte man als Ergebnis eines Herausekelns interpretieren. Doch der Interviewte hat ja erklärt, er habe die Firma letztlich nicht wegen der Konflikte, sondern wegen der ausbleibenden, wirtschaftlichen Entwicklung im Unternehmen verlassen. Nach Rolfs Auffassung setzt Mobbing außerdem die Absicht voraus, jemanden aus Konkurrenzmotiven von seinem Arbeitsplatz vertreiben zu wollen. Doch Herr Schultz hätte aufgrund seiner Ausbildung Rolfs Arbeitsplatz nicht übernehmen können.
1.2.5 Zusammenfassung der gesamten Interpretation Rolf präsentiert im Interview seinen einen, vergangenen Konflikt als eine einmalige Erfahrung, aus der er eher wenig lernte, weil er davon ausgeht, nie mehr in einen solchen Konflikt verwickelt zu werden. Der Interviewte bettet seine Konflikterzählung berufsbiographisch ein und ordnet seinen einzigen Konflikt gezielt dem einen früheren Arbeitsplatz zu (vgl. auch Abbildung 3). Die Schwierigkeiten begannen, kurz nachdem er in dieser Firma angefangen hatte und dauerte bis er die Firma verließ. Durch Eigenkündigung hat Rolf, der sich als konfliktscheu und durchsetzungsschwach beschreibt, sich schließlich dem Konflikt mit eigener Kraft entzogen. Er ist zwar geflohen, aber erst nachdem er einen neuen Arbeitsplatz sicher hatte. Heute ist er in einer neuen Firma wieder Lernender. Rolf hat die Konflikte gegen das Lernen eingetauscht. Rolf nimmt im Interview außerdem eine außerbetriebliche, lebensweltliche Kontextualisierung seines einen Arbeitsplatzkonflikts vor. Im außerbetrieblichen Bereich gibt es bei ihm keine Konflik-
156 te. Dass sein einziger (betrieblicher) Konflikt doch minimale Auswirkungen auf seine private Lebenswelt hatte, stellt Rolf überrascht und erst mit der zeitlichen Distanz fest. Mit dem jetzigen Zugewinn an Lebensqualität begründet er, warum die Kündigung in seiner Situation (auch rückblickend) sinnvoll ist und warum sein jetzt eingeschlagener, beruflicher Weg der richtige ist.
Abbildung 3:
Zusammenfassung Fallportrait Rolf R.
Rolf R. – Lernen der „Preis“ für einen konfliktfreien neuen Arbeitsplatz Der eine Konflikt und der Umgang damit
Mobber unterstellt ihm immer wieder Geldverschwendung und schwärzt ihn beim Geschäftsführer und Firmeninhaber an Mobber ist der in der Hierarchie tiefer stehende Werkstattleiter
Lernen und Lehren
Konflikte als Lernund Lehrhindernis Belehrung als Mittel in der Konfliktaustragung behauptete Lernergebnisse als Mittel der Sinngebung (die Zeit war nicht verschwendet) Lernen der ‘Preis’ für einen konfliktfreien Arbeitsplatz
Umgang mit Konflikten: Eher defensive Konfliktstrategien: hat Hemmungen, sich zu wehren Lösung des Konflikts durch Eigenkündigung nachdem er alternative Stelle gefunden hat Konflikt als außergewöhnliche, einmalige Erfahrung/ wird nicht mehr passieren – deshalb kein Lernen für Konflikte notwendig Keine Fälle von Intervenieren trotz Vorgesetztenposition u. Gelegenheiten Beruf: Beruf und Betrieb lernt in Automobilindustrie – ihm wird gekündigt später Weiterbildung zum Rundfunk u. Fernsehtechniker macht im Betrieb für Mess- u. Regeltechnik Karriere – kündigt selbst nach 7 Jahren heute Einarbeitung als technischer Berater (Lernsituation)
außerberufs- und außerbetriebliche Themen
Betrieb: als Ort der/ des Selbstverwirklichung (Autos, als junger Mann) - Karriere und Konflikte (finanzielle Verantwortung, Mobbing) --- Lernens (heute) Bedeutung des Betriebs ist abhängig von der eigenen beruflichen Entwicklung Konfliktfreie Lebenswelt Freizeitgestaltung mit Ehefrau als Ausgleich Männerfreundschaft mit Karl Gesundheitsfördernder Lebensstil
2 In Konflikten Intervenierende
2.1 Eine in Konflikten intervenierende Mitarbeiterin und betriebliche Pädagogin 2.1.1 Cora44, eine in Konflikten kompetente Person: Interpretation der Eingangssequenz Cora G. (44) arbeitet als teilzeitbeschäftigte Chemotechnikerin in einem großen Chemiebetrieb. Sie ist verheiratet und hat einen 10jährigen Sohn. Ihr Ehemann arbeitet im gleichen Betrieb. Sie ist seit 1998 nicht-freigestelltes Betriebsratsmitglied in einem mittelgroßen BR-Gremium. Cora gesamtes Arbeitsleben steht im Zusammenhang mit diesem einen Arbeitsumfeld. Vor 25 Jahren lernte sie an diesem Standort ihren Beruf. Sie qualifizierte sich neben ihrer Arbeit unternehmensintern weiter zur Chemotechnikerin. Sie ist in ihrem Betrieb als Intervenierende anerkannt und berichtet im Interview von vielen Konflikten. Das Interview mit Cora beginnt nach einer halbstündigen Smalltalkphase: I.: „Fangen wir mit dem Interview an?“ C.G.: „Ja.“ I.: Also ich interessiere mich für deine Erfahrungen - so mit schwierigen Situationen mit Konflikten – emm und mich interessiert einfach was du so, was du einfach erlebt hast in dem Zusammenhang? Wenn du einfach mal so erzählst. C.G.: Ja, also ich hab’ ja jetzt schon ne Menge Berufserfahrung. Ich war jetzt 25 Jahre in der Firma. Das hat jetzt mehrfach gewechselt: von nach nach nach (Namen der Unternehmen zu denen ihr Betrieb gehörte: Anmerkung M.N.). Und da hab’ ich auch einige Labors durchlaufen, viel Kollegen halt kennen gelernt, war eigentlich immer mit vielen zusammen, hatte immer mal so den einen oder anderen Konflikt und (.). Mobbingfälle kann ich jetzt nicht so, hab ich einen halt so mitbekommen, nicht aktiv sondern nur als Hintergrundberater. Aber Konflikte gab es halt immer, wie gesagt. Und ich kann das auch immer schlecht mit ansehen. Ich bin dann keiner, der sich da raus hält, selbst wenn ich davon nicht betroffen bin. Ich versuche halt immer Gespräche zu führen mit Leuten, auch privater Natur. Das heißt, ich erzähl dann auch mal was von mir, was ich so mache auch am Wochenende, über 44
Auszug aus dem Interviewprotokoll: Die Interviewerin kennt Cora G. aus zwei Seminaren – einem Mobbing- und einem Konflikteseminar. Cora erzählte, dass der Betriebsrat in ihrem Betrieb gerade eine Mobbing-Arbeitsgruppe gebildet habe und, dass sie darin mitarbeite. Das Interview findet an Nachmittag eines normalen Arbeitstages bei Cora zu Hause statt. Nach einer Pause in der Unterhaltung stellt die Interviewerin die Eingangsfrage.
M. Niebuhr, Konflikte im Betrieb, DOI 10.1007/978-3-531-92696-4_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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In Konflikten Intervenierende meine Familie, was auch immer. Und hab dabei festgestellt, dass viele Leute sich dann auch öffnen. Wenn man von sich aus schon mal auf sie zugeht, sie dann auch das Angebot gerne annehmen. Also mir ist das nur ganz selten passiert, dass Leute da völlig abgeblockt haben. Das war aber meistens dann auch, wenn jemand nicht so auf meiner Wellenlänge war. Es gibt auch nur wenige Leute bei denen ich sage: „Mit denen komme ich nicht klar.“ Da lehne ich das auch ab, jeglichen Kontakt. Das passiert mir eigentlich selten, aber das gibt’s hin und wieder schon mal (schmunzeln). (1:02-1:25)
Das Interview mit Cora beginnt mit einer klaren Abgrenzung zum vorangegangenen Alltagsgespräch. Die Interviewerin fragt Cora, ob sie mit dem Interview beginnen wolle. Sie antwortet mit „Ja.“ (1:02-1:03). Damit ist die Aushandlung der Interviewsituation erledigt. Die Interviewerin formuliert die Erzählaufforderung und Cora beginnt zu reden. – Die Interviewerin erklärt also zunächst, für was sie sich überhaupt interessiert: für Coras „Erfahrungen“ und zwar für ihre Erfahrungen „mit schwierigen Situationen, mit Konflikten“. Die Formulierung ist an dieser Stelle sehr vage. Es wird nicht nur nach massiven Arbeitsplatzkonflikten gefragt, sondern alles, was an Irritationen/ Problemen/ Herausforderungen vorkommt, kann thematisiert werden. Auch ist nicht konkret nach Arbeitsplatzkonflikten gefragt – auch über Konflikte aus dem Privatbereich könnte Cora theoretisch berichten. Die Formulierung überlässt es ebenfalls der Interviewten, zu entscheiden, ob sie von Konflikten aus der Betroffenen- oder aus der Intervenierendenperspektive erzählt. Anschließend wiederholt die Interviewerin noch einmal, dass sie sich für Coras Erfahrungen interessiere, also für das, was Cora „einfach erlebt“ habe. Von was könnte dies die Abgrenzung sein? Eventuell unterscheidet die Interviewerin hier zwischen Coras eigenen Erfahrungen und dem, was andere erlebt haben, und was Cora lediglich gehört hat. Wenn man sich in ihrer Formulierung besonders auf das Wort „einfach“ konzentriert, kann auch die Botschaft dahinter stecken: Fange erst einmal mit einfachen Geschichten an! – quasi zum Warmlaufen. Oder es könnte auch bedeuten: Fange erst einmal an zu erzählen, dann sehen wir weiter. Indem die Interviewerin gleich zweimal auf die Wichtigkeit von Coras persönlichen Erfahrungen hinweist, streicht sie doppelt heraus, dass sie sie hier als die praktische Expertin für schwierige Situationen und Konflikte anspricht. Man könnte aber auch mutmaßen, dass sie mit der Verwendung des Wortes „einfach“ lediglich den Anforderungsdruck reduzieren will – im Sinne von: Das ist einfach, das wird dir keine Probleme bereiten. Das würde aber bedeuten, dass die Interviewerin sich nicht sicher ist, ob Cora wirklich die Expertin in Sachen Schwierigkeiten und Konflikte ist und/ oder, dass das Interview für Cora einfach sein wird. Diese Formulierung kann aber auch alternativ als Rollenzuweisung von Seiten der Interviewerin gedeutet werden. Vielleicht will sie der Interviewten damit zu verstehen geben, dass sie selbst sich ab jetzt zurücknimmt und, dass die Interviewte als Erzählende im Mittelpunkt stehen wird. Die
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Legitimation für diese Verschiebung in der Kommunikation – im Vergleich zum vorher stattgefundenen Alltagsgespräch – würde sich dann aus dem, durch den offiziellen Beginn des Interviews vollzogenen Themenwechsel und die Zuschreibung von Erfahrungen ableiten. Das Erzählen wäre für Cora dann deshalb einfach, weil sie über so umfangreiche Erfahrungen verfügt. Durch die Wiederholung des eigentlichen Erzählimpuls „Wenn du einfach mal so erzählst.“ bekräftigt die Interviewerin nochmals ihre vorangegangene Aufforderung. Sie erklärt nicht mehr, was Cora genau erzählen soll. Damit überlässt die Interviewerin diese Entscheidung letztlich der Interviewten. Dahinter kann die Botschaft gelesen werden: Es ist nicht so wichtig was du erzählst, sondern dass du es tust. Als Reaktion auf diesen Gesprächsimpuls könnte man jetzt erwarten, dass die Interviewte von konkreten Erfahrungen mit Konflikten erzählt oder, dass sie sagt, sie habe gar keine Erfahrungen mit Konflikten. Sie könnte auch nachfragen, was mit dieser schwammigen Formulierung konkret gemeint ist. So reagiert sie aber nicht. Stattdessen stellt sie die Frage in den Zusammenhang ihrer bisherigen Berufserfahrung und erklärt, dass sie über viel Berufserfahrung verfüge. Sie greift also „die Erfahrungen“ auf. Auf „schwierige Situationen“ oder „Konflikte“ geht sie nicht ein. Über die Gründe kann man Vermutungen anstellen. So ist es denkbar, dass für sie nicht ihre Erfahrungen mit Konflikten zentral sind, sondern ihre Berufserfahrungen. Eine andere Lesart wäre, dass sie im Rahmen ihrer umfangreichen Berufserfahrung, eine Menge Erfahrung mit Konflikten bzw. im Umgang mit Konflikten hat. Dahinter stünde dann die zentrale Aussage: Ich bin kompetent, was Konflikte angeht. Sie fährt fort: „Ich war jetzt 25 Jahre in der Firma.“ Welche Bedeutung hat es für sie jemand zu sein, der sehr lange in der gleichen Firma gearbeitet hat? Welche Bedeutung hat es umgekehrt, den Arbeitsplatz zu wechseln? Durch Konflikte kann es notwendig werden, dass jemand seinen Arbeitsplatz wechselt. Da dadurch Reaktionen erforderlich werden und Unannehmlichkeiten entstehen können, können die Konflikte selbst etwas Negatives sein. Aus einer solch negativen Sicht auf Konflikte, können sowohl die handelnden Personen als auch die betrieblichen Rahmenbedingungen als negativ, defizitär und problematisch betrachtet werden. Wenn Cora also trotz möglicher, negativ bewerteter Konflikte ihren Arbeitsplatz behalten hat, weist dies auf eine stabile Persönlichkeit hin, denn sie hat durchgehalten. Ihre Berufserfahrung wäre dann auch eine Lebenserfahrung und Persönlichkeitsstärke. Es ist aber auch eine alternative Deutung vorstellbar. Vielleicht ist das Besondere auch, dass sie in dieser speziellen Firma so lange gearbeitet hat. Was kann an ihrem Arbeitsplatz außergewöhnlich sein? Vielleicht ist diese Firma für sie mehr als nur ein Arbeitsplatz. Damit würde sie ankündigen, dass sie nicht nur über 25 Jahre Berufserfahrung, sondern über 25 Jahre ihres Lebens berichten wird. Ihre gesamte Erfahrung mit Berufstätigkeit
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und auch mit Arbeitsplatzkonflikten hängt möglicherweise mit dieser Firma zusammen. Nach dieser Deutung würde es Cora hier um das Anklingen-Lassen von Werten wie Kontinuität, Beständigkeit und Verlässlichkeit gehen. Sie berichtet weiter, dass sich die Firma selbst mehrfach geändert habe. Sie macht dies kenntlich, indem sie die vier Namen der Firma aufzählt. Diese Veränderungen hatten aber auch Konsequenzen für Cora. Sie ist zwar immer in dieser einen Firma geblieben, aber sie hat dort viele Kollegen „kennen gelernt“, weil sie „einige Labors durchlaufen“ hat. Sie berichtet, dass sie in der Zeit ihrer Berufstätigkeit immer mit vielen Menschen im Austausch und im Gespräch war und, dass sie dabei auch mit Konflikten in Berührung gekommen sei. Die Interviewte sagt nicht, ob sie Konflikte meint, in die sie selbst verstickt war oder solche, bei denen sie (mit) intervenierte. Sie grenzt sich lediglich von den Konflikten ab, mit denen sie nichts zu tun hat. Sollte es sich um ihre eigenen Konflikte handeln, markiert sie diese damit eher als Bagatellen, Querelen, normale Streitereien, denn sie hat trotz schwieriger Rahmenbedingungen ihren Arbeitsplatz eben nicht gewechselt. Andererseits würde diese Beständigkeit in tatsächlich schwerwiegenden Konflikten auch ein Beweis ihrer eigenen Konfliktkompetenz sein. Auch in Bezug auf Intervenieren wäre dies als weiterer Hinweis auf ihre eigene Beständigkeit, Erfahrungen und Kompetenz zu verstehen, die sie durch die und trotz der äußeren Veränderungen im Laufe ihrer langen Betriebszugehörigkeit erworben hat. Coras Ausführungen bleiben auffallend in der Schwebe. Die Doppeldeutung der Eingangsfrage setzt sich fort. Die Interviewte entscheidet sich nicht für eine Perspektive. Weder spricht sie von Konflikten an denen sie beteiligt ist, noch von Fällen in denen sie interveniert. Im Weiteren geht sie auf das Thema Mobbing ein. Mobbingfälle sind ihr nicht so vertraut, weil sie lediglich einen Fall aus der Distanz, als Beraterin im Hintergrund, miterlebt habe. Die Interviewte unterscheidet hier also zwischen Konflikten und Mobbingfällen. Für sie scheint es grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Phänomen zu geben. Ob sie glaubt, der Interviewerin keinen echten Mobbingfall präsentieren zu können (weil sie nur einen aus der Distanz erlebt hat) oder, ob sie damit den Kontrast zwischen zwei qualitativ sehr unterschiedlichen Phänomen markieren will (die unterschiedliche Interventionen erfordern), ist hier nicht zu klären. Sie beschreibt das Phänomen Mobbing außerdem, anders als die Konflikte, über Fälle d.h. über Einzelschicksale. Für sie scheint Mobbing in besonderem Maße etwas mit den davon betroffenen Individuen zu tun zu haben. Das macht vielleicht die besondere Dramatik aus. Die Interviewte nimmt außerdem die Unterscheidung zwischen dem Akteur im Vordergrund, der direkt eingreift und dem Hintergrundberater, der Rat gibt, vor. Sie erklärt, in einem konkreten Mobbingfall sei sie die Beraterin im Hintergrund gewesen. Hier gibt sie den vorher beschriebenen Schwebezustand auf. Sie erzählt
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als Person, die in die Konflikte anderer eingreift. Von konkreten Mobbingfällen kann sie auch deshalb weniger berichten, weil sie in diesem einen Fall nicht bei allen Gesprächen und Vermittlungen dabei war. Warum macht sie die Unterscheidung zwischen Hintergrundberater und Person im Vordergrund? Sollte ein anderes Betriebsratsmitglied offiziell mit der Intervention betraut gewesen sein, weil z.B. die betroffene Person jemand anderen angesprochen und um Unterstützung gebeten hatte, dann war Berater im Hintergrund die einzige Rolle, die sie unter den bestehenden Bedingungen einnehmen konnte. Sollte sie hingegen an ihrer eigenen Kompetenz gezweifelt haben, in Mobbingkonflikten angemessen zu intervenieren, ließe sich erklären, warum sie es für notwendig erachtet, jetzt ein Mobbingseminar zu besuchen. Diese Überlegungen unterstützen die These, dass für Cora zwischen Mobbing und Konflikten qualitative Unterschiede existieren und, dass sie denken könnte, über Mobbing muss man besonders gut Bescheid wissen, um eingreifen zu können. Für das Eingreifen in normale Konflikte reicht nach ihrer Vorstellung vielleicht die Alltagskompetenz aus, denn diese Unterscheidung (Akteur im Vordergrund und Hintergrundberater) macht sie im Zusammenhang mit Konflikten nicht. Da war sie vielleicht auch nie im Hintergrund. Dahinter könnte die eigenen Kompetenzeinschätzung stehen: Ich bin kompetent für normale Konflikte, nicht aber für Mobbingfälle. Wenn sie schließlich darauf hinweist, dass es „halt immer“ Konflikte gab, führt sie eine weitere Unterscheidung zwischen Konflikten und Mobbingfällen ein. Während es nach ihrer Erfahrung eher wenige Mobbingfälle gibt, sind Konflikte dagegen ein ganz alltägliches Ereignis. Sollte sie jemand sein, der gern und oft in Konflikte anderer eingreift, bieten ihr die vielen alltäglichen Konflikte dafür mehr Gelegenheit. Wenn Konflikte als etwas häufig Vorkommendes betrachtet werden, stellt sich die Frage nach der Abgrenzung zu den NichtKonflikten. Man kann vermuten, dass es für Cora eher fließende Übergänge zwischen Konflikten und Nicht-Konflikten gibt. Wahrscheinlich sind die Kriterien, die für die Einordnung in die eine oder die andere Kategorie herangezogen werden, eher großzügig gewählt. Wenn bereits Streitereien und Meinungsverschiedenheiten zu den Konflikten gerechnet werden, bietet sich für Intervenierende ein nie enden wollendes Beschäftigungsfeld. Im Weiteren präsentiert die Interviewte mögliche Verhaltensweisen in Konflikten und nimmt eine moralische Bewertung vor. Es gibt Personen, die können Konflikte mit ansehen ohne einzugreifen. Andere müssen sich in Konflikte, sobald sie sie wahrnehmen, persönlich einschalten. Sie erklärt, es gebe zudem Personen, die ihr konkretes Verhalten davon abhängig machten, ob sie selbst vom Konflikt betroffen sind oder nicht. Für ihre Person behauptet sie, es mache keinen Unterschied, ob sie Betroffene oder Nicht-Betroffene sei – sie schalte sich immer ein. Sie könne sich Konflikte nicht tatenlos ansehen. Wie kann man das
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interpretieren? Dass Cora sich Konflikte „immer schlecht mit ansehen“ kann, ist zunächst ein persönlicher Mangel, ein Defizit in ihrer Person. Es geht in Coras Ausführungen hier also nicht um die Konflikte selbst oder um andere Beteiligte in Konflikten. Es geht um die Person Cora G. Mit der nächsten Sequenz („Ich bin dann keiner, der sich da raus hält, selbst wenn ich davon nicht betroffen bin.“) kommt es zu einer Verschiebung. Zum einen setzt sie sich von den Personen ab, die sich raushalten. Und außerdem ist jetzt das Raushalten das Negative, das Unmoralische. Das Sich-Einmischen dagegen ist moralisch richtig. Damit wird ihr Verhalten zum Ausdruck ihrer positiven Seite. Sie scheint sich aufgefordert zu fühlen, Verantwortung zu übernehmen und in Konflikte einzugreifen. Wer sind aber die Personen, die sich raushalten, obwohl sie eingreifen müssten? Sie nutzt bei ihrer Formulierung „ich bin dann keiner, der sich da raus hält“ die männliche Form. Vielleicht sind es ja gerade die Männer (die männlichen Vorgesetzten, die männlichen Betriebsratskollegen, die männlichen Kollegen), die durch Konfliktscheue auffallen, und von denen sie sich damit abgrenzen will. Vielleicht sieht sie aber auch Konfliktfähigkeit als eine männliche Tugend an, die sie persönlich als Frau nutzt, um sich Autorität und Akzeptanz zu verschaffen. Dann ginge es hier nicht um die Abgrenzung zu den Männern, sondern um ein Sich-Anlehnen an männliche Muster. Da es in den betrieblichen Konfliktsituationen einerseits Konfliktparteien/ sich streitende Kollegen gibt und andererseits Leute, die sich raushalten, steht Cora, indem sie sich einmischt, zwischen den Parteien. Sie kommuniziert mit beiden Seiten. Konflikte ermöglichen es ihr, auf alle Einfluss zu nehmen. Zusammenfassend kann man sagen, dass Cora sich auf Konflikte aus einem generalisierten Bedürfnis, aus einem professionellen Selbstverständnis heraus bezieht. Sie deutet die Konflikte als Ereignisse, die erst einmal etwas über sie als Person aussagen. Entscheidend ist nicht, ob sie den Betroffenen helfen kann. Durch ihre Vermittlerrolle kann sie über die Beziehung zu den Konfliktbetroffenen hinaus agieren. Sie kann so auch Einfluss auf die Vorgesetzten nehmen. Diese subtile Machtausübung wird über die Moral legitimiert. Auf diesem Weg kann Cora zum moralischen ‘Chef’ werden. Anschließend beschreibt Cora, wie sie ihren sozialen Kontakt zu ihrem Umfeld gestaltet. Sie bemüht sich, mit den Leuten „immer Gespräche zu führen“. Sie ergreift also die Initiative, startet immer wieder Versuche und lässt sich auch nicht entmutigen, wenn es einmal nicht gelingt. Cora ist also besonders kommunikativ und hat ihr Ohr am Puls der Zeit, am Puls des Betriebes. In Bezug auf Konflikte bedeutet dies, dass sie wie ein Seismograph selbstverständlich die kleinsten Störungen frühzeitig registriert. Sie verfügt über viele Informationen, darunter auch über solche, die z.B. den Vorgesetzten gar nicht in dieser Form zugängig sind. Und weil sie soviel weiß, kann sie sich aus Schwierigkeiten und
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Konflikten auch nicht heraushalten. In den Gesprächen, die sie führt, erhält sie aber nicht nur Informationen; sie gibt auch Informationen und Wissen weiter. Dadurch werden auch die Anderen mit hineingezogen, sie führt somit die Parteien zusammen. Dadurch entwickeln schließlich alle eine gewisse Sensibilität. Im weiteren Interview beschreibt Cora ihre Kommunikationsstrategie genauer. Sie gibt in den Gesprächen im Betrieb auch private und familiäre Dinge preis. Nach ihrer Erfahrung führt dies bei vielen Leuten dazu, dass auch sie sich „öffnen“, also ihrerseits Dinge preisgeben. Außerdem geht sie auf die Leute zu und macht ihnen ein Gesprächsangebot. Ihre Erfahrung ist auch hier positiv. Die Angesprochenen nehmen das Angebot gerne an. Coras Strategie hat also das Ziel, Menschen zu öffnen. Gegenseitiges Teilhaben-Lassen am Leben des Anderen, an seinen alltäglichen beruflichen wie privaten Problemen und Kleinkonflikten, ist der Weg, um das zu erreichen. Diese Form der Kommunikation ist kein Aushorchen, denn auch Cora erzählt auch von sich selbst. Sie erwartet aber umgekehrt, dass auch die Anderen aus ihrem Leben erzählen. Damit ist es nicht verdächtig über Konflikte zu reden, sondern eben nicht über sie zu reden. Denn wenn man über den Alltag reden will, muss man auch über Konflikte reden. Cora beschreibt hier eine Kommunikationskultur, die aus einer Mischung aus zwanglosem, freiem Austausch auf informeller Ebene und aus Instrumentalität bzw. dem Einsatz einer gezielten Strategie besteht. Welche Bedeutung hat für Cora das Sich-Öffnen? Es ist eine Fähigkeit, über die sie bereits verfügt; Cora kann sich schon öffnen. Da sie die Anderen aber erst öffnen muss, beherrschen die diese Technik der Selbst-Öffnung scheinbar eher nicht. Aber Cora hat auch eine Technik der Fremd-Öffnung entwickelt. Daraus lässt sich schließen, dass sie es als ein Defizit ansieht, wenn sich Leute zu sehr verschließen. Bei dieser Fremdöffnung verhält Cora sich wie eine Pädagogin. Sie geht davon aus, dass sie weiß, was für andere gut ist (pädagogische Grundkonstruktion) – und sie beherrscht die Strategien zur Umsetzung. Sie weiß, wie man Leute dazu bringt, sich zu öffnen. Sie kann es nicht mit ansehen, wie Leute sich nicht von alleine öffnen und kann nicht warten, bis die Anderen auf sie zukommen. Ihre Gesprächsangebote an die Kollegen sind somit nicht unproblematisch, weil die Gespräche die Defizitannahme des Nicht-Redens zur Grundlage haben. Anschließend beschäftigt sich Cora im Interview mit den Grenzen ihrer eigenen Möglichkeiten. Sie berichtet, dass es nur selten passiere, dass Leute ihre Öffnungsversuche blockierten. Als Grund dafür gibt sie an, dass diese Leute meistens auch nicht „auf ihrer Wellenlänge“ seien. Sie erzählt weiter, dass es nur wenige Leute gibt, bei denen sie feststelle, dass sie mit denen nicht zurechtkomme. In diesen Fällen lehne sie dann „jeglichen Kontakt“ ab. – Cora ist also grundsätzlich erfolgreich mit ihrer Strategie; die meisten Leute öffnet sie damit. Das ist Ausdruck einer hohen Kompetenz. Doch es gibt auch Leute, die sie mit
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ihrer Vorgehensweise nicht erreicht, die sie nicht öffnen kann. Was sind das aber für Leute, die sie nicht an sich heranlassen, die nicht auf Coras Wellenlänge sind? Das sind Leute, die nicht die Fähigkeit haben, auf Coras Wellenlänge umzuschalten. Da Cora aber fast alle Wellenlängen abgedeckt – denn sie erreicht ja fast jeden, ist fast immer erfolgreich – sind es die Abblockenden, die defizitär und unflexibel sind. Die Grenzen von Coras Erreichbarkeit sind nicht durch ihre eigene Unfähigkeit bestimmt, sondern durch die Defizite der Anderen. Eine Person die abblockt ist aus Coras Sicht also nicht schlau, sondern eher subtil. Abblocken wird von ihr als Widerstand gegen sie als Person erlebt und nicht als Ausdruck von Rationalität oder von vernünftigem Denken und Handeln. Nachdem sie das Thema aus der Perspektive der Blockierer beleuchtet hat, wechselt Cora in ihre eigene Perspektive. Sie beantwortet die Frage, was der Umgang mit Blockierern für sie persönlich bedeutet. Wenn sie mit jemandem überhaupt nicht klar kommt, bricht sie den Kontakt/ die Kommunikation ab. Indem sie eingesteht, dass sie einige Leute mit ihrer Strategie nicht erreicht, registriert sie auch ihre eigenen Grenzen. Sie zeigt damit, dass sie nicht die Person ist, die immer nur zwanghaft versucht, die Anderen zu öffnen und die nur durch das Nicht-Gelingen gebremst werden kann. Einerseits erkennt Cora keine Grenzen an und versucht um jeden Preis zu erreichen, dass sich die Leute öffnen. Andererseits akzeptiert sie auch, dass es Menschen gibt, bei denen ihr das Öffnen nicht gelingt. Wenn jemand auf keine ihrer vielen Wellenlängen wechseln kann, beharrt sie nicht auf der Forderung ‘Öffne dich! ’. Cora lässt sich also von Gründen leiten. Sie macht sich Gedanken, bezieht sich selbstreflexiv auf Konflikte und nimmt ihre eigenen Grenzen wahr. Wie geht sie aber mit Leuten um, die blockieren, die nicht zu öffnen sind? In solchen Fällen scheint sie sich vollständig zurückzuziehen. Sie lehnt dann „jeglichen Kontakt“ ab. Es gibt keinen Übergang zwischen Öffnen und Totalisolation. Sie zieht hier eine extrem harte Grenze. Es gibt für Cora also zwei Gruppen von Menschen im Betrieb – die, mit denen sie klarkommt und die sich öffnen bzw. öffnen lassen – und diejenigen, mit denen sie nicht klarkommt und die sich nicht öffnen lassen. Diese harte, radikale Haltung den NichtÖffnungswilligen gegenüber wirkt wie eine Bestrafung, da „jeglicher Kontakt“ abgelehnt wird. Sie versucht das Gesagte anschließend wieder etwas zu entschärfen, indem sie darauf hinweist, dass so etwas extrem selten passiere. Das bedeutet aber auch, dass eben schon entsprechende Fälle existieren. Vielleicht sind es die wenigen Mobbingfälle, bei denen sie sich nicht ausreichend kompetent fühlt, auf die diese Beschreibung zutrifft. Die Formulierung „das passiert mir nur selten“ ist an diesem Punkt etwas merkwürdig. Damit will sie vielleicht andeuten, dass ihr als sozial kompetenter Person so etwas eigentlich nicht passieren dürfte. Auch das abschließende Schmunzeln ist nicht unmittelbar verständlich. Der
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Grund könnte Verlegenheit oder auch Vertrautheit sein. (Ich gebe das jetzt halt zu, aber du weißt ja …) Hinter dem Schmunzeln könnte auch die Aussage stehen: So harmlos wie ich es hier darstelle, ist das eigentlich gar nicht. Damit würde sie das klare Weltbild (Öffnen oder Totalisolation) wieder in Bewegung versetzen. Zusammenfassend kann man sagen, Cora hat zu Beginn des Interviews erst einmal über sich selbst geredet. Es gibt zwei zentrale Aussagen in der Eingangssequenz: (1.) Ich bin sehr kompetent, was den Umgang mit Konflikten/ was das Lösen von Konflikten angeht. In der Eingangssequenz zeigt sie sich als jemand, der allgegenwärtig ist, zuhört, frühzeitig eingreift, viele Konflikte kennt und über viel Erfahrung verfügt. (2.) Ich bin sehr selbstreflexiv! Sie zeigt sich im Interview auch als eine Person, die einen Blick für die Grenzen der Lösbarkeit hat. Es gibt wenige Leute mit denen sie nicht zurechtkommt. Sie ist sensibel in Bezug auf ihre eigene Person und im Hinblick auf andere.
2.1.2 Betriebliche Konflikte als Kompetenzdemonstration, akzeptierte Lernzumutung und Mittel zur Abgrenzung 2.1.2.1
Markante Konflikte als Kompetenzdemonstration
Cora erzählt zu Beginn des Interviews von zwei „markanten“ (4:44), betrieblichen Konfliktfällen. Zunächst beschreibt sie den leichteren Fall, der auch schon mehr als 20 Jahre zurückliegt. Sie als gerade ausgelernte Laborantin wirkt pädagogisch auf den Lehrling/ den Jugendlichen ein, über den sich besonders ihre Kollegen täglich ärgern. Anschließend (ab 3:26) geht es um den schwierigeren Fall, in dem sie als mittlerweile erfahrene Laborantin und Technikerin mit ihren pädagogischen Bemühungen weniger erfolgreich ist. Ihr Gegenüber ist hier ein Erwachsener, der sich gegen ihre Interventionsversuche wehrt.
Der frühe Fall: Der Konflikt mit dem Auszubildenden: Über den lange zurückliegenden Konflikt mit dem Auszubildenden berichtet sie: „Das ist aber schon ganz lange her. Da war ich selber grad mit der Ausbildung fertig und hatte vielleicht so ein Jahr gearbeitet. Und ich hab relativ selbständig schon gearbeitet dann. Und da kam ein neuer Auszubildender zu uns. Und der hatte. Das war ja bei (Namen der Firma) damals so, dass man immer so drei vier Monate im Betrieb dann war und der hatte halt auch diese Zeit bei uns zuzubringen. Der war auch kurz vor seinem Ausbildungsende und hat auch ne Stelle gesucht. Und wir ham damals auch noch Leute gebraucht (schmunzeln), oh Wunder. Und das war halt auch immer. Das war nicht so, dass man die Leute so einfach gefun-
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In Konflikten Intervenierende den hat, dass die jetzt Schlange standen. Man hat schon en bisschen suchen müssen. Und das war auch schon so ein bisschen. Der kam schon mit der Vorgabe, dass der da ne Stelle haben kann, wenn er seine Prüfung besteht. Und des war so, dass der schon seine Arbeit gemacht hat was man ihm so gesagt hat. Aber es kam relativ wenig Eigeninitiative. Und in jeder freien Minute hat der halt was anderes gemacht (schmunzeln). Hat irgendwelches Zeug kopiert oder er hat sich ja, mit irgendwelchen Kleinigkeiten beschäftigt. Der hat nicht mal gefragt: „Hast du noch was für mich zu tun? Kann ich was helfen?“ Und dadurch war der halt relativ unbeliebt bei meinen Kollegen. Das war halt auch so, dass über den gelästert wurde.“ (2:17-2:33)
Zunächst verortet sich Cora selbst in der noch zu erzählenden Geschichte. Mit „das ist schon ganz lange her“ zeigt sie, dass es ein langer Weg war von diesem Ausgangspunkt herkommend, hin in die Gegenwart. Sie stand damals gerade an Anfang ihrer Laborantentätigkeit. Sie war seit einem Jahr keine Auszubildende mehr. Sie war aber auch keine echte Berufsnovizin mehr, denn sie arbeitete bereits „relativ selbständig“. Damit kennzeichnet Cora dieser Vorfall als für sie als Person und ihre Berufsbiographie bedeutsam. Dann geht sie auf den jungen Mann ein, der zunächst als Auszubildender in die Abteilung kam. Er sollte später aber, nach bestandener Prüfung, fest angestellt werden. Doch sein Verhalten führte dazu, dass er die zukünftigen Kollegen verärgerte. Welches Verhalten wird als kritikwürdig erkannt? Cora kritisiert an ihm, dass er zwar seine Arbeit und das was „man“ ihm so sagte machte, dass er aber „relativ wenig Eigeninitiative“ zeigte und nicht eigenständig nach neuen Arbeitsaufgaben fragte. Als Auszubildender müsste der junge Mann eigentlich den Status eines Lernenden haben. Erst wenn er seine Prüfung bestanden hat, ist er offiziell ein Kollege wie die Anderen. Vielleicht muss er auch noch das Eine oder Andere lernen, um die Prüfung überhaupt zu bestehen. Cora kennzeichnet diese Situation in ihrem Labor während des Interviews aber nicht als ein LehrLernsetting – sondern als Arbeitssituation, in der man sich gegenseitig hilft. Wer früher fertig ist unterstützt den, der noch arbeitet. Es geht also um selbstbestimmtes und eigenständiges Arbeiten, wie sie es kurz vorher für sich selbst beschrieben hat. In der Kritik an dem jungen Mann geht es darum, dass er nicht den Erwartungen entspricht, die an einen ausgebildeten Kollegen gestellt werden. Diese Uneindeutigkeiten zwischen Lernen und Arbeiten und zwischen Auszubildenden und Kollegen führen hier verstärkt zur Irritation. Der Auszubildende verhält sich wie ein Lehrling, die Laboranten ärgern sich aber über den zukünftigen Kollegen, weil sie in ihm nicht mehr den Lernenden sehen. Cora berichtet weiter, die Kollegen hätten über den Auszubildenden gelästert und sich bei ihr über ihn beschwert. Nachdem sie sich anfangs daran beteiligte, habe sie ihn später beobachtet, um sich ein eigenes Urteil zu bilden. Sie sei schließlich, was sein Arbeitsverhalten angehe, zur gleichen Einschätzung wie ihre Kollegen gekommen. Darüber habe sie sich zunächst mit ihrem damaligen Freund unterhalten, der ihr Fragen zu diesem Auszubildenden stellte. Er wies
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schließlich auf dessen Jugend, die bevorstehende Prüfung und darauf hin, „dass es für junge Leute halt auch schlecht ist, wenn man die fallen lässt nur aufgrund irgendwelcher charakterlichen oder fachlichen Mängel.“ (2:01-03) Diese Unterhaltung habe bei ihr, so berichtet Cora weiter, zu erneutem Nachdenken geführt. Schließlich habe sie ein Gespräch mit ihrem Vorgesetzten gesucht und vorgeschlagen, den Auszubildenden in Zukunft zu betreuen. „Ja und ich hab dann gesagt, ich würde den einfach mal zu mir nehmen und das einfach mal probieren mit dem. Der hat bei mir natürlich genauso weitergemacht wie bei den Andern. Nur ich hab dann einfach mal nen geeigneten Moment abgewartet, das war kurz vor Feierabend, da waren die andern dann schon weg und hab ihn an die Seite genommen und hab ihm einfach mal so gesagt, was ich an ihm beobachte. Und ob er nicht selbst auch das Gefühl hat, dass ihn die Andern ablehnen, so aufgrund seines Unsinns was der da macht. Und das war ihm schon irgendwie bewusst. Aber der hat vielleicht einfach nicht den Mut gehabt, sich einfach zu ändern und aus dieser Rolle mal raus zu gehen. Na ja, das denke ich heute so. Damals war mir das nicht so klar. Und da hab ich dann zu ihm gesagt: „Wir versuchen das jetzt mal. Ich helfe dir dabei und du machst das jetzt hier mit mir zusammen. Und wenn es irgendwelche Probleme gibt, dann reden wir drüber, dann kannst du jederzeit mit mir drüber sprechen. Egal um was es geht: ob das jetzt private Probleme sind, aber hauptsächlich natürlich was die Arbeit betrifft.“ Ja und das ging dann so, dass der ein Mitarbeiter wurde, der mitarbeiten konnte. Er ist auch heute noch da. Der arbeitet auch heute noch bei (Namen der Firma) und macht nicht unbedingt den schlechtesten Job.“(3:16-32)
Cora bietet dem Vorgesetzten, der mittlerweile die Probleme mit dem Lehrling auch kannte, an, sich einzuschalten. Die Formulierung „das einfach mal probieren mit dem“ lässt vermuten, dass sie selber nicht so genau wusste, was sie jetzt machen will und auf was sie sich da einlässt. Durch Coras Eingreifen erhält er zunächst den Status des Lernenden zurück. Sie bietet sich aber nicht als berufliche Ausbilderin an, die Fachwissen vermittelt, sondern als Pädagogin, die ihn in die Gesetze des sozialen Miteinanders im Labor einführt. Dies alles ist Cora in der damaligen Situation nicht klar. Erst im Nachhinein interpretiert sie sein Verhalten. Eigentlich habe er das alles gewusst. Es sei ihm nur nicht möglich gewesen, alleine aus dieser Rolle herauszukommen. Cora interpretiert ihre Aufgabe also im Nachhinein als pädagogisch motivierte Unterstützung für einen jungen Mann, um aus seiner Lehrlingsidentität in eine erwachsene Berufsidentität überzuwechseln. Der Auszubildende scheint seine Lektion gelernt zu haben, denn er arbeitet 20 Jahre später immer noch in diesem Betrieb. Durch Coras Eingreifen konnte der Betrieb einen fähigen Mitarbeiter fertig ausbilden und langfristig im Betrieb halten. Und sie schließt diesen Fall mit den Überlegungen ab: „Und das war für mich dann auch so ein Erlebnis, das mich dazu gebracht hat, mich erstmal neutral zu verhalten, und immer erst mal zu schauen, was sagen die Leute eigentlich, an was liegt’s denn eigentlich. Halt Dinge zu hinterfragen. Weil ich hab halt auch ne Kollegin, wenn man bei der durchgefallen ist aus irgendeinem Grund, kommt man an die nie wieder ran. Dann
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In Konflikten Intervenierende ist man für immer abgeschrieben. Und ich find das halt schlecht. Man sollte den Leuten auch noch mal ne Chance geben. Zumal der ja jetzt auch nix gemacht hat der Auszubildende was jetzt wirklich gravierend war. Wenn man jetzt bestohlen wird oder sonst so was, da wär ich auch nicht mehr so geneigt, demjenigen zu helfen.“ (2:17-3:45)
Zum Ende ihrer Erzählungen berichtet Cora, welche Verhaltensregeln sie für sich aus dem Vorfall gezogen hat: sich „erstmal neutral […] verhalten“, sich ein eigenes Bild von der Angelegenheit machen, „Dinge […] hinterfragen“ und Menschen auch eine zweite Chance geben. Sie formuliert hier Grundlagen für professionelles, pädagogisches Intervenieren (z.B. den Glauben daran, dass Menschen sich ändern können). Sie beschreibt es als einen Lernvorgang, ohne allerdings lernbezogene Worte zu nutzen („ein Ergebnis, dass mich dazu gebracht hat“). Dies kann man als Unsichtbarmachen von Lernen interpretieren oder als eine bewusste Wortwahl, um das hier vorgestellte Erfahrungslernen von theoretischem, schul- und ausbildungszentrierten Lernen abzugrenzen. Cora hat zur Zeit des ersten Konflikts selbst erst seit einem Jahr ausgelernt. Man würde in ihr auch eher keine Ausbildungsverantwortliche vermuten. Da waren sicher Kollegen mit mehr Erfahrung. Dieser Konflikt ist für sie deshalb bedeutsam, weil sie sich erstmals (mit Erfolg) als betriebliche Pädagogin versuchen konnte. Sie verfügte schon damals über eine besondere Fähigkeit, über die z.B. ihre nachtragende Kollegin nicht verfügt. Dieser Konflikt war für Cora wahrscheinlich auch eine Lernherausforderung. Als solche stellt sie es im Interview aber nicht dar. Lediglich wenige Formulierungen im Sinne von „und da hab ich mir das noch mal überlegt“, „das denke ich heute“, und „das hat mich dazu gebracht“ können als versteckte Hinweise auf ihre eigenen Lernprozesse gedeutet werden. An einer späteren Stelle im Interview fasst sie nochmals die Bedingungen für ihren Erfolg zusammen: „Also was zum Beispiel ganz wichtig war, damals mit diesem Auszubildenden, war’s ja so, dass das Gespräch mit meinem damaligen Freund mich damals da auf die richtige Idee gebracht hat. Sie war ja auch wirklich fruchtbar also. Der Vorgesetzte ist drauf eingegangen und der Betroffene, das war natürlich optimal. Das hätte genauso auch sein können, dass der Auszubildende gesagt hätte: „Was willst du denn überhaupt von mir?“ Ja. Da hätte ich dann mehr Probleme schon wieder gehabt.“ (22:32-42).
Soll Vermittlung funktionieren, bedarf es der Professionalität (und der Lernbereitschaft) des Lehrers, der Lernmotivation des Lernenden und der geeigneten Rahmenbedingungen (Rückendeckung durch den Vorgesetzten). Der Betrieb erscheint hier als ein Ort, an dem pädagogische Professionalität aus den Anforderungen der Praxis entstehen kann.
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Der Internetmissbrauch: Gleich anschließend an den ersten Fall, erzählt Cora („soll ich einfach so weiterreden?“ (3:34)) einen zweiten. Sie steigt ein, indem sie diesen Vorfall vom ersten abgrenzt. Im Fall mit dem Lehrling war nach Coras Einschätzung nichts wirklich Gravierendes passiert. Aber auch gravierendes Fehlverhalten führt nicht automatisch bei ihr zur Komplettverweigerung. Sie erzählt, dann sei sie aber „nicht mehr so sehr geneigt demjenigen zu helfen“ (3:43). Danach geht sie sehr ausführlich auf diesen gravierenden Fall ein: „Ja, das ist jetzt gar noch nicht so lange her. Da hatte ich einen Kollegen, der hat Missbrauch mit dem Internet gemacht. Das war so, dass der auch halt unter den Passwörtern von anderen Leuten sich eingeloggt hat und das dann auf die zurückgefallen ist. Emm ja, wir haben das dann den Vorgesetzten auch gesagt, als wir das gemerkt haben. Aber die Vorgesetzten, die waren da aber auch ein bisschen überfordert. Das waren zwei damals (schmunzeln). Und dann ham wir versucht mit ihm zu reden. Und dann hat er gesagt, er bessert sich. Aber das hat irgendwie alles überhaupt nichts gebracht. Das war dann sogar so weit, dass der Betriebsrat halt mit geschaut hat. Man kann ja das überprüfen, wieweit sich jemand zu welchen Nummern einloggt auch beim Telefon. Und da ist der eben massiv aufgefallen. Abmahnung hat der aber, glaube ich, nicht bekommen. Aber es war kurz davor. Und dann haben wir halt auch noch festgestellt, dass der an Ergebnissen was gedreht hat. Und das war dann das Ende für ihn. Und da, muss ich sagen, war meine Einstellung etwas anders als bei diesem Auszubildenden. Hab zwar auch mit dem gesprochen, hab ihm auch angeboten mit mir zu reden, hab aber letztendlich als ich gemerkt hab, dass der immer auf Kosten anderer versucht sich durchzumogeln, da hab ich einfach auch. Da hab ich nix mehr da eingebracht, ja. Ich war zwar bei Gesprächen dann mit der Chefin immer noch dabei. Sie wollte halt gern, dass ich dabei bin und ihr auch was übersetze, weil die das halt in Englisch machen musste. Und da. Ich hab ihm aber auch klargemacht, was da alles dran hängt. Der hat auch noch zwei Chancen bekommen, die hat er aber immer nicht genutzt. Er wurde immer wieder rückfällig. Ihm ist nahe gelegt worden, selbst zu kündigen. Das hat er dann ja auch getan. Und dann war der innerhalb von zwei Stunden nicht mehr auf dem Gelände. (.) Mittlerweile hatte ich dann noch mal Kontakt mit ihm, weil der noch Sachen bei uns hatte. Die hab ich ihm dann zugeschickt und dann hat er mir erzählt, dass er wieder nen Job hat. Das hat mich natürlich gefreut für ihn. Auch in seinem Beruf, was auch net so einfach ist als Laborant. (.) Und da hab ich ihm aber auch da nochmals nahe gelegt, sich das jetzt als Chance, um sich noch mal neu zu orientieren das jetzt wirklich zu nutzen. Im Nachhinein war das aber so, dass ich mir gedacht habe, vielleicht war das ein Fehler. Man hätte ihm vielleicht noch mehr Hilfe psychologischer Art anbieten sollen. Weil ich hab jetzt das Gefühl, das das vielleicht bei dem ne Art Sucht bei ihm war. Das ist zwar nicht anerkannt als Krankheit wie vielleicht Alkohol und Drogensucht, aber ich hab, ich mach mir schon. Das ist jetzt nicht so, dass das mich so jetzt wirklich belastet, so dass ich nicht schlafen könnte. Aber ich denke manchmal halt, man hätte das noch anders hinbiegen können.“ (4:01- 35)
Sie berichtet, von einem früheren Kollegen, der „Missbrauch mit dem Internet“ betrieben habe. Der Begriff Missbrauch erscheint an dieser Stelle als sehr schwerwiegend, eher unpassend und irritierend. Auf diese Art und Weise bezeichnet man üblicherweise etwas, was sehr schlimm und moralisch verwerflich
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ist (Beispiel: Sexueller Missbrauch). Damit wird der Kollege, dem dieser Missbrauch vorgeworfen wird, als schlechter, unmoralischer Mensch etikettiert. Was könnte nun an der Nutzung des Internets problematisch sein? Eine private Nutzung während der Arbeitszeit könnte zum Problem werden, wenn die eigentliche Arbeit deshalb nicht mehr erledigt wird. In einem solchen Fall würde die Internetnutzung gegen die Betriebsrationalität verstoßen. Sie wäre aber nicht unmoralisch. Auch ist von der Arbeitsleistung im Interview zunächst überhaupt keine Rede. Gleich anschließend konkretisiert Cora, was sie unter Missbrauch des Internets versteht. Ein Kollege benutzt die Passwörter der Anderen, um beim Surfen seine eigene Identität zu verschleiern. Es geht hier also um eine bewusste und beabsichtigte Handlung durch die der Verdacht, Verbotenes getan zu haben, auf die Kollegen gelenkt wird. Welches Surf-Verhalten kann so problematisch sein? Hier denkt man an rechtradikale Propaganda, Mordaufrufe/ Terrorgruppen oder Pornographie. Es müsste sich also um radikale Tendenzen, die nach höchstrichterlicher Rechtssprechung den Arbeitgeber zu einer Kündigung berechtigen, handeln. Wenn der Internetsurfer die Kollegen einer solchen Gefahr aussetzt, handelt er unmoralisch, weil er deren Arbeitsplätze und damit deren finanzielle Existenz, zumindest aber deren guten Ruf im Betrieb, gefährdet. Vielleicht eint die Gruppe aber auch lediglich eine Moralisierung und Ablehnung der Pornographie. Nach der Beschreibung der Ausgangsposition, geht Cora auf die Bearbeitungsbemühungen dieses Anfangskonflikts ein. Die Gruppe findet zunächst keine Unterstützung durch die Vorgesetzten. Vielleicht war für sie das SurfVerhalten des Mitarbeiters so lange kein Problem, so lange seine Arbeitsleistung dadurch nicht beeinträchtigt wurde, oder solange es ausreichend Mitarbeiter für die anfallende Arbeit gab, oder die Mitarbeiter als Team mit dem Arbeitspensum insgesamt zurechtkamen. Cora interpretiert das Verhalten der Vorgesetzten eher in eine andere Richtung. Sie meint, die Vorgesetzten seien „auch ein bisschen überfordert“ gewesen. Damit markiert sie bei den Vorgesetzten ein Defizit. Nicht wohlüberlegte Entscheidungen und ein bestimmtes Führungsverständnis waren Grund für ihr Verhalten, sondern fehlende Kenntnisse, Wissen und Kompetenz. Cora misst der Tatsache, dass zwei Vorgesetzte, obwohl sie von den Vorfällen wussten, nichts unternahmen, aber keine große Bedeutung zu. Damit signalisiert sie: Die haben sich zwar auch nicht richtig verhalten, aber das eigentliche Problem war der Kollege, der den Missbrauch betrieben hat. Nachdem sich die Vorgesetzten nicht in den Konflikt hineinziehen ließen, versuchte es die Gruppe selber. Sie redeten mit dem Internet-Surfer. Es gibt scheinbar eine klare Ursachenanalyse und Zielbestimmung. Der surfende Kollege ist das Problem – er hat sich einer Verfehlung schuldig gemacht. Ziel der
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Intervention ist seine Besserung. Besserung ist hier im Sinn von Besserungsanstalt, ein besserer Mensch werden, sich moralisch bewähren gebraucht. Arbeitsrechtliche Sanktionen können die Kollegen selber nicht anwenden. Sie können nur an Teamgeist und Moral appellieren. Und sie können weiterhin versuchen, die Vorgesetzten davon zu überzeugen, dass der Kollege arbeitstechnisch untragbar ist. Darüber hinaus können sie den Kollegen aber auch mehr oder weniger konsequent aus ihrer Gemeinschaft ausschließen – ihn ignorieren, ihm die Unterstützung verwehren, ihn ‘gegen die Wand laufen lassen’. Cora beschreibt die fortschreitende Eskalation des Konflikts. Der Kollege besserte sich nicht. Durch das Einschalten des Betriebsrates wird der Druck auf ihn schließlich erhöht. Was ihm am Ende den Arbeitsplatz kostet, ist, dass ihm Leistungsdefizite im Bereich seiner Laborantentätigkeit unterstellt werden (er hat an „Ergebnissen was gedreht.“). Er hat betrogen; auch das ist unmoralisch. Die Auswirkungen hingegen haben nichts mit Moral zu tun, sondern mit Betriebsrationalität. Die Konsequenzen, die Verstöße gegen die Betriebsrationalität nach sich ziehen, unterscheiden sich von denjenigen, die auf moralische Verfehlungen folgen. Im ersten Fall wäre die verhaltensbedingte Kündigung (Grund: Arbeitsverweigerung, schlechte Leistungen) die Lösung. Um hingegen auf einen moralisch problematischen Menschen einzuwirken, stehen pädagogische Interventionen (verurteilen oder bessern) im Vordergrund. Während die anderen Kollegen den Internet-Surfer eher verurteilten, versuchte Cora ihn zu bessern. Sie erzählt hier nicht die Geschichte eines arbeitsbezogenen Fehlverhaltens, sondern die eines Menschen mit moralischen Defiziten, der mit pädagogischen Mittel gebessert werden soll. Wie beurteilt Cora den Fall nachdem der Kollege den Betrieb verlassen hat? Rückblickend stellt sie die Angemessenheit der gefundenen Lösung in Frage: „Vielleicht war es ja ein Fehler.“ Sie distanziert sich damit von ihrem eigenen Verhalten. Sie stellt sich positiv, als selbstkritisch und nachdenklich dar. Die Beurteilung des heraus gedrängten Kollegen erhält sie dagegen aufrecht. Sie wertet ihn sogar noch weiter ab. Jetzt ist er nicht mehr nur „nicht normal“, sondern er ist süchtig und krank. Als Ergebnis ihrer pädagogischen Reflexion ergeben sich jetzt aber andere Konsequenzen. Nicht mehr Ausgrenzung/ Kündigung stellt die passende Reaktion dar, sondern Zuweisung zur Suchtberatung. Cora erzählt hier eine Geschichte, die starke Hinweise auf einen Mobbingfall enthält. An welchen Hinweisen kann man diese Behauptung festmachen? Mobbing richtet sich hier gegen eine einzelne Person. Was steckt hinter „wir haben das den Vorgesetzten auch gesagt“ (3: 29), „wir [haben: Ergänzung M.N.] versucht mit ihm zu reden“ (3:31-32) und wir haben festgestellt, „dass der an Ergebnissen was gedreht hat“ (3:37-38)? Der beschuldigte Kollege stand alleine ohne Unterstützung da; alle anderen waren gegen ihn. Die Gruppe konnte zu-
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nächst, solange es lediglich um das Anschauen der Pornoseiten ging, die Vorgesetzten nicht auf ihre Seite ziehen. Doch als sie Kritik an seiner Arbeitsleistung anbringen konnten, war das „das Ende für ihn“ (3:38). Kollegen und Vorgesetzte sorgten schließlich dafür, dass er das Unternehmen verließ. Cora fasst diese Eigendynamik folgendermaßen zusammen: „Und das ist so, ich weiß net, dieser Gruppenzwang halt, wenn jemand heraus fällt und der Gruppe schadet, glaube ich, sind die immer geneigt den zu kicken. Und so war das dann halt auch.“ (9:13-16) Mobbing verläuft in Phasen, beginnt oft mit einem banalen Konflikt, der nicht gelöst wird und führt dann dazu, dass der Mobbingbetroffene mehr oder weniger freiwillig den Betrieb verlässt. Bei Mobbing ist es außerdem typischerweise nicht das Ziel, einen Sachkonflikt zu lösen. (Hier in diesem Fall: Wer nutzt das Internet für was?) Mobbingkonflikte sind personenbezogen. Cora erzählt den Vorfall auf der Ebene des pädagogischen Themas. Da ist jemand „massiv aufgefallen“ (4:10). Die Frage ist: Wie kann man die Person ändern/ bessern? Der Betrieb ist für Cora in erster Linie das soziale und nicht das ökonomisch/ zweckrationale System. Es geht ihr um soziale Kontakte, Zusammenarbeit und Kollegialität. Sie weist darauf hin, dass sie sehr wohl in der Lage ist, anders als in diesem Fall zu reagieren und, dass sie grundsätzlich bereit ist, sich auf Fehlverhalten pädagogisch zu beziehen. Auch im Fall des ‘problematischen’ Kollegen versucht sie zunächst zu intervenieren, sie versucht ihn zu bessern. Warum hat sie sich dann letztendlich doch zurückgezogen? Vielleicht wird hier die Grenze des pädagogisch Zumutbaren berührt. Wenn jemand sich in hohem Maße unmoralisch verhält, stellt er damit die Grundlagen des Zusammenlebens selbst in Frage und macht Pädagogik grundsätzlich unmöglich (vgl. Umgang mit Rechtsradikalen). Pädagogik zeigt sich hier als Gegenmodell zum Mobbing. Die Leute sollen eigentlich gebessert und nicht herausgedrängt werden. Pädagogik und Mobbing liegen aber auch nahe zusammen. Wenn pädagogische Intervention nicht mehr funktioniert, dann kann das Handeln der Intervenierenden ins Mobbing wechseln. Merkt Cora überhaupt, dass sie einen Fall erzählt, den die Interviewerin als Mobbingfall bewerten könnte? Ist dieses Interview eine geheime Beichte oder eine Rechtfertigung für ihr eigenes Handeln? Zunächst muss man feststellen, Cora präsentiert die Geschichte nicht als Mobbingfall. Ihr Handeln ist kollektiv legitimiert und die Gründe für die letztendliche Entfernung des Kollegen liegen in der Betriebsrationalität; er hat Ergebnisse gefälscht. Auf die spätere Frage der Interviewerin hin „Was würdest du denn heute sagen, nachdem was du über Ausgrenzung, über massive Konflikte weißt, wie sehr haben die (Kollegen: Ergänzung M.N.) ihn den ausgegrenzt zum Schluss?“ (7:44-45), nimmt Cora eine moralische Einordnung des Konflikts vor: „Richtiges Mobbing war’s net.“ (7:46). Da gab es scheinbar schon einzelne Verhaltensweisen von Seiten der
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Kollegen und der Vorgesetzten, die die Einordnung als Mobbingfall rechtfertigen würden. Cora erklärt auch, warum sie meint, dass es sich hier letztendlich um keinen Mobbingfall handelt: „Ja, das meine ich jetzt erst, (schmunzeln) weil ich jetzt erst die Schulung gemacht habe und weil. Wir hatten ja mal gesagt, Mobbing ist was, was immer wiederkehrt, wenn man das jemandem antut. Aber bei ihm hatte das ja auch einen Grund gehabt. Das Verhalten der Andern war ja nicht, weil was weiß ich, er einer bestimmten Religion angehörte oder so. Sondern es war, weil er wirklich Fehlverhalten erst mal gezeigt hatte, massives Fehlverhalten, was auch wirklich, wenn es mal zum Tragen gekommen wäre auf die ganze Abteilung sich nachteilig ausgewirkt hätte. (.) Ja, wenn jetzt falsche Analysen gemacht werden, und irgendwo dann. Es geht ja darum, dass man nen Wert liefert und mit dem Wert wird ja nachher noch was gemacht. Und da hängt soviel dran: toxikologische Untersuchungen, registierungsrelevante Dinge, auch einfach umweltpolitische Sachen. Was da alles reinspielt. Das ist einfach zu joker, das kann man doch einfach nicht tolerieren.“ (8:17-28)
Cora bezieht sich auf ihre Mobbingschulung. Dort hat sie gelernt, was Mobbing ist – nämlich ein wiederholtes, sozial problematisches Verhalten, das sich über einen längeren Zeitraum hinstreckt. Für die Praxis hilft ihr diese Definition aber wenig, denn, in der Arbeitsgruppe gab es eben diesen Konflikt mit dem Kollegen und der zeigte echtes Fehlverhalten. Unmoralisch wäre für Cora die Konfliktaustragung nur dann gewesen, wenn jemand aufgrund von Minderheitenmerkmalen (Religion, Introvertiertheit, Aussehen etc.), ohne aktive Handlungen seinerseits, benachteiligt worden wäre. Unmoralisch wäre auch gewesen, wenn Cora sich nicht eingeschaltet hätte. Cora übt hier verdeckte Kritik am Mobbingseminar. Dort lernt man Dinge, die für die Praxis ungeeignet sind. In der Theorie ist es ganz einfach, festzulegen, welches Verhalten Mobbing ist. Wenn aber ein Mobbingopfer die Arbeitsergebnisse auf Dauer gefährdet, gebietet es die Betriebslogik, sich von ihm zu trennen. In der Praxis gibt es Sachzwänge, die Mobbing als allerletzte Maßnahme legitimieren. Mobbing ist somit nicht nur ein Konflikttyp, sondern eine Form mit Konflikten umzugehen. Wenn pädagogische Maßnahmen versagen und Vorgesetzte ihrem Führungsanspruch nicht nachkommen, bleibt der Gruppe als Konfliklösestrategie nur die Möglichkeit, den Störenfried herauszudrängen. Und was macht die Erwachsenenbildung? Sie verurteilt die Gruppe, die sich nicht anders zu helfen weiß. Warum formuliert Cora diesen Vorwurf nicht so oder ähnlich? Getraut sie sich nicht die Kritik öffentlich auszudrücken? Vielleicht wäre auch das unmoralisch. Jeder tut es, aber keiner redet darüber. Den eigentlichen Erfolg ihrer Intervention sieht Cora dann auch im Hinblick auf die verbleibenden Kollegen und die generelle Arbeitsfähigkeit der Gruppe. „Ich hab, sag ich mal, für den Rest der Truppe erreicht, dass die wieder in Ruhe (schmunzeln) ihrer Arbeit nachgehen konnten. Und dieses Thema. Das hat ja zu ständiger Diskussion ge-
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In Konflikten Intervenierende führt. Bei einigen Kollegen, zwar bei wenigen aber es gab schon welche, bei denen hat das dazu geführt, dass die auch geguckt haben, was macht der. Die ham sich ja mehr auf den fixiert als auf ihr eigenes Zeug, ja. Ich hatte zum Beispiel noch einen sehr jungen Kollegen, der hat dann immer gesagt: „Was mache ich eigentlich hier? Ich soll hier mich dauernd wie so en Aff’ mich abrennen und machen und tun. Und der sitzt da und surft im Internet.“ Und wo bei uns sich die Arbeit so gestapelt hat. Was sag ich denn dem dann? Das ja. Da hab ich dann immer gesagt: „Nimm dir den net zum Beispiel!“ Ja, das ist halt schlecht so was. Aber das hat schon. In der Gruppe war ne gewisse Unruhe. Das war wie so ein Unsicherheitsherd.“ (6:27-38)
Hier liefert sie eine pädagogisch motivierte Begründung dafür, warum eine schlechte Lösung besser ist als gar keine. Cora als Betriebspädagogin darf nicht nur den zu bessernden Kollegen im Auge haben, sondern sie muss auch dafür sorgen, dass sich die Anderen, besonders die jungen Kollegen, das problematische Verhalten nicht aneignen. Damit die Anderen nichts Unangemessenes lernen, müssen die entfernt werden, die mit schlechtem Beispiel vorangehen. Im Rückblick ist Cora selbstkritisch, wenn sie sagt, sie bzw. die Vorgesetzten hätten sich früher einschalten müssen. Dies ist ein Fall, in dem sich eine Betriebsrätin am Herausmobben eines Kollegen beteiligte. Es handelt sich hier im Interview zunächst um den Versuch, einen Mobbingfall zu verbergen und auszutesten, ob sie ihn der Interviewerin, einer Mobbingexpertin, als Nicht-Mobbing ‘verkaufen’ kann. Im zweiten Teil der Erzählung und in Folge der Nachfragen der Interviewerin, schwenkt Cora zu einer anderen Strategie um. Sie begründet rational und bezogen auf die Betriebsrationalität, warum ein solches Verhalten (Mobbing) unausweichlich war. Sie begründet die Notwendigkeit von Mobbing als allerletzte Konfliktlösestrategie. Wenn über Mobbing oder Nicht-Mobbing diskutiert wird, geht es immer auch um Moral (vgl. Niebuhr 2002). Auch die Mobber finden rationale und moralische Gründe für ihr Handeln. Der Mobbingbetroffene muss für sie der Unmoralische sein, damit die Mobber sich nicht mit moralischen Skrupeln belasten müssen. Das Vorschieben von rationalen Gründen zur Legitimation von Mobbinghandlungen führt vielleicht häufiger dazu, dass Mobber ihr Verhalten nicht als Mobbing bezeichnen, weil sie es nicht als moralisch verwerflich betrachten. Am Ende dieser Erzählung stellt Cora die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden ersten Konflikten heraus und grenzt sie als „markante Fälle“ (4:44) von nicht markanten ab. Sie ordnet beide Konflikte berufsbiographisch ein. Der erste ist „schon ganz lange her“ (2:17-18), der zweite ist „gar noch nicht so lange her“ (4:01). Sie zeigt damit, dass Konflikte eine Bedeutung für ihre Berufsidentität haben. Cora schaltet sich jeweils als Intervenierende in die Konflikte ein und ist auch bei der endgültigen Lösung mit dabei. Die zentrale Aussage dieses Interviewabschnitts, im Hinblick auf Umgang mit Konflikten ist, dass auch das Intervenieren in Konflikten konfliktreich sein kann.
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2.1.2.2
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Weniger markante Konflikte als akzeptierte Lernzumutung
Cora erzählt, auf konkrete Nachfrage der Interviewerin hin, von zwei Konflikten, von denen sie persönlich betroffen war. Als schlimmsten persönlichen Konflikt fällt ihr etwas ein, was „eigentlich weniger ein Konflikt“ (20:21) sei. „Ich weiß gar nicht wie man so was nennen würde. Ich hatte mit dem jüngeren Kollegen, von dem ich vorhin auch gesprochen habe, emm, der hat mir sehr viel zeitweise aus seinem Privatleben erzählt. Und der hatte. In der Familie gab’s da zeitweise ziemliche Probleme. Und ich weiß es bis heute nicht, was ich gesagt oder gemacht habe. Aber der hat mal ein paar Wochen lang nicht mit mir gesprochen. Und ich hab ihn dann mehrfach gefragt: „Was ist denn? Was hab ich denn gemacht?“ Und der hat es mir nie erzählt. Wir haben es dann irgendwann so gelöst, dass. Er hat dann irgendwann gesagt, ich hätte irgendwas erzählt, was er nicht erwartet hätte, dass ich es weitersagen würde. Aber ich war mir wirklich nicht bewusst darüber. Vor allem weiß ich nicht, wer das war und wie das wieder zu ihm hingekommen ist. Ich weiß es wirklich nicht. Und er wollte mir aber auch nicht sagen, was das war. Und dann haben wir das aber dabei belassen und mittlerweile ist die Situation wieder in Ordnung.“ (20:05-34)
Der Inhalt dieses Konflikts ist ganz privat. Es gibt genau zwei beteiligte Personen und die Konfliktaustragung erfolgt über sich-abgrenzen, sich-entziehen und der Verweigerung einer tatsächlichen Klärung. Cora, die sonst von jedem Konflikt alles erfährt, gerät in eine Situation, in der sie nicht handeln kann, weil jemand anderes ihr die dafür nötigen Informationen nicht zur Verfügung stellt. Sie kann sich auch nicht verteidigen und weiß nicht, wer welche Informationen zu dem Kollegen zurückgespielt hat. Hier erfährt Cora, dass es Dinge gibt, die auch vor ihr verborgen bleiben und wo ihre Hauptstrategie (Gespräche führen, die Menschen ‘öffnen’) nicht funktioniert. Cora ordnet diesen Vorfall nicht als Konflikt ein, nennt aber auch keine alternative Bezeichnung. Sie kennzeichnet ihn damit im Unterschied zu den beiden markanten Fällen und den täglichen Kleinkonflikten. Die Situation belastete Cora psychisch stark. Während bei den markanten Fällen, die vielen Involvierten den sozialen Konflikt ständig thematisierten, wurde dieser Fall durch Schweigen und Aussitzen ‘gelöst’. Doch ist der Konflikt letztlich, obwohl Cora nichts unternehmen konnte, aus ihrer Sicht noch gut ausgegangen. Die Interviewerin fragt danach, welche Bedeutung dieser Konflikt denn für Cora habe, da sie ja auch später nicht erfahren habe, um was es ging. Sie antwortet: „Das hat mich dann wieder wachgerüttelt, immer genau zu überlegen, wenn man mit andern spricht. Weil das passiert ja schon, dass ein Kollege kommt und sagt, „Hör mal, die und die sagt immer. Hast du schon mal gemerkt.“ Und so. Was wir aus dem Mobbingseminar so als Anfänge für irgendwelche Ausgrenzungen haben. Das ist dann schon. Man redet dann schon auch mal drüber. Aber da bin ich, sag ich mal, auch wacher, dass mir dann so Sachen nicht rausrutschen. Sondern, dass ich dann, wenn einer kommt und sagt: „Der ist immer so ko-
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In Konflikten Intervenierende misch.“ Oder was weiß ich. „Montags hat die immer schlechte Laune.“ Dass ich dann schon sage: „Ja, das hat bestimmt auch irgendwelche Gründe und dann für Verständnis werbe für denjenigen, und nicht zu irgendwelchen Äußerungen mich hinreißen lasse.“ (21:03-13)
Cora nutzt diesen Konflikt und das damit verbundene Nicht-Wissen als Lernherausforderung. Sie hat gelernt, welche Auswirkungen scheinbar belanglose Äußerungen haben können. Ihre bestens bewährte Strategie für Konfliktinterventionen ist potentiell konflikterzeugend, wenn sie nicht mit viel Fingerspitzengefühl angewandt wird. Cora kann ihre Methode der Fremdöffnung noch weiter perfektionieren.
Ein Sachkonflikt als Mitarbeiterin und Betriebsrätin: Es gibt noch einen zweiten weniger markanten Konflikt, durch den Cora direkt ihr Verhalten geändert hat, den sie als direkte Lernerfahrung im Interview markiert. Dieser Konflikt ist anders, weil es dabei nicht um „psychische Dinge“ (21:16), sondern um „die Umgruppierung von ner Kollegin“ (21:17) ging, von der Cora in ihrer Funktion als Betriebsrätin frühzeitig erfuhr. Cora hatte den Unmut der Vorgesetzten auf sich gezogen, weil sie einer Kollegin von einer bevorstehenden Gehaltserhöhung erzählte, bevor der direkte Vorgesetzte dies tun konnte. Sie erfuhr dadurch, dass in der neuen Unternehmenskultur die Kommunikation anders funktioniert als in früheren Zeiten. Ihre Lernkonsequenz beschreibt sie kurz und knapp: „Da hab ich wieder ne Lehre draus gezogen. Hab ich mir dann gesagt: „Behältst du’s demnächst halt wirklich ganz für dich.“ (21:14-17) Diese Art des Lernens hat nichts mit tief greifendem Lernen zu tun, sondern es geht um ein eher oberflächliches Organisationslernen. Cora erzählt diesen Vorfall aus der Perspektive einer Mitarbeiterin, die sich von ihrem Chef zurechtweisen lassen muss. Sie ist aber Betriebsrätin und der Vorfall hat etwas mit ihrer Amtsausübung zu tun. Man hätte den Fall also auch ganz anders erzählen können. Aus ihrer Betriebsratsposition heraus hätte sie kritisieren müssen, dass sie als Betriebsratsmitglied von einem Vorgesetzten in der Ausübung ihres Ehrenamtes behindert worden ist. Es gehört nämlich zu den Aufgaben der Personalkommission zu überprüfen, ob die Bedingungen für Ein- und Umgruppierungen erfüllt sind. Deshalb hat sie mit der Kollegin reden müssen. Sie hätte auch kritisieren müssen, dass dieser Vorgesetzte sich an der falschen Stelle (bei ihrem disziplinarischen Vorgesetzten statt beim Betriebsratsgremium) über sie beschwert hat. Massive, stark eskalierte Konflikte, in denen Cora Opfer wurde oder Opfer hätte werden können, gibt es nicht. Die Konflikte, die sie aus der Betroffenenperspektive erzählt, erscheinen eher als unbedeutsame Kleinkonflikte. Ihre Be-
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rufsidentität in Bezug auf Umgang mit Konflikten ist die des professionellen Helfers, der seine eigenen Bedürfnisse und Konflikte in den Hintergrund stellt und der selber versucht, ohne Vermittler auszukommen. „Also ich bin net so, ich lös gern Konflikte für andere und mit anderen aber meine eigenen, die lös ich halt lieber allein. […] Ja weil ich die Verantwortung dafür alleine haben will. Also ich bin bereit für andere Verantwortung zu übernehmen, aber ich möchte net, dass andere welche für mich übernehmen.“ (22.07-21) Sich als Intervenierende in Konflikte einzubringen, hat etwas mit Coras berufsbezogenem Selbstbild zu tun. Indem sie diese Rolle einnimmt, unterscheidet sie sich von KollegInnen und Vorgesetzten. Sie verfügt über das richtige Wissen, die moralische Reife und die Methodenkompetenz, um anderen Schutz zu geben und sie zu Verhaltensänderungen zu veranlassen.
2.1.2.3
Konfliktpflege als Mittel der Abgrenzung und der Mobbingprävention
Alle aktuellen Konflikte, von denen Cora erzählt, haben mit ihrem derzeitigen direkten Vorgesetzten zu tun. Dieser kommt aus einer Arbeitsgruppe, wo es vor Jahren zu einem Mobbingfall kam (vgl. den Fall Christine K.). Obwohl Cora am Anfang des Interviews erklärt, sie habe nur einen einzigen Mobbingfall, und den aus der Distanz, miterlebt, hat Mobbing für sie eine durchaus große und aktuelle Bedeutung. Ihr jetziger Chef war damals in den Konflikt verwickelt – es wird erzählt, er habe indirekt durch zwei Mitarbeiterinnen gemobbt. Für Cora handelt es sich hierbei nicht um einen zurückliegenden und abgeschlossenen Vorfall, sondern um eine potentielle, fortwährende Bedrohung. Die Gruppe betreibt deshalb ihre eigene Mobbingprävention. Sie halten alle Distanz zum Vorgesetzten. Damit läuft keiner Gefahr, dass er zum Erfüllungsgehilfen seiner eventuellen zukünftigen Mobbingabsichten werden könnte. Beleg für das richtige Maß an Distanz sind die täglichen Kleinkonflikte mit ihm. Die Gruppe pflegt diese Lappalien, um nach innen fest geschlossen zu sein und so mehr Schutz vor Angriffen von außen zu haben. Cora hält die Kommunikation über die einzelnen Vorfälle aufrecht. Sie sorgt dafür, dass jeder im Labor weiß, was sich der Chef ‘wieder mal geleistet hat’. Damit sie Teil dieser Gruppe ist, muss auch sie Kleinkonflikte mit ihm austragen. Auf die Frage der Interviewerin, ob sie das mit ihrem Chef als Konflikt bezeichnen würde, antwortet sie: „Zeitweise ja. (.) Aber es gibt auch Dinge, die sind einfach nicht wichtig genug, um sich darüber zu kloppen. Es gibt auch Dinge, da kann ich sagen: Okay, ich mach das dann so wie er das will, auch wenn ich das albern finde.“ (28:01 - 03) Nicht der Vorgesetzte entscheidet, ob eine Meinungsverschiedenheit in einen Konflikt oder Streit mündet, sondern
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Cora. Wenn sie beschließt, dass eine Angelegenheit nicht wichtig genug ist, ordnet sie sich unter. Sie weiß, was richtig ist – er dagegen nicht. Und sie weiß, wann eine Auseinandersetzung sinnvoll, nützlich und notwendig ist. Ihrem Chef gegenüber ist ihre Absicht nicht pädagogisch. Ihn will sie nicht bessern oder verändern. Wenn sie ihn belehrt, demonstriert sie ihr Wissen und ihre Kompetenz, um sich von ihm abzugrenzen.
2.1.2.4
Zusammenfassung
Konflikte stellen für Cora Meilensteine in ihrer Berufsbiographie dar. Die beiden Fälle, die sie als die „markanten“ bezeichnet, rahmen ihre Berufsbiographie: der eine liegt am Anfang ihrer Berufstätigkeit, der andere repräsentiert die Gegenwart. Während der Konflikt mit dem Auszubildenden für die Interviewte im Hinblick auf ihr noch zu entwickelndes Berufsverständnis als betriebliche Pädagogin bedeutsam war, stellt der schwierigere und spätere Fall eine Bewährungsprobe für ihre mittlerweile erworbene, berufliche Professionalität dar. Dass sie den Internetsurfer nicht bessern konnte, lag nicht an ihrer Inkompetenz, sondern daran, dass er krank und süchtig war. Damit fällt er nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich eines Pädagogen, sondern in den eines Psychologen oder Arztes. Für Cora sind Konflikte identitätsstiftend (Möglichkeiten der Identitätsbildung). Sie geben ihr die Möglichkeit, sich durch Intervenieren von den anderen im Betrieb zu unterscheiden. Indem sie ihren Kollegen und Vorgesetzten, die Fähigkeiten für eine erfolgreiche Konfliktmoderation abspricht, wertet sie die ab und sich selber auf. Eigene Konflikte dagegen bedeuten für Cora eine Bedrohung ihrer Identität. Sie nimmt die gleiche Unterscheidung vor, wie sie in der Planung dieser Arbeit theoretisch angedacht war: In ihrer Rolle als Intervenierende stehen bei ihr die Konflikte der Anderen und das Intervenieren im Vordergrund. Ihre beiden markanten Fälle werden beide aus der Intervenierendenperspektive heraus erzählt. Die beiden anderen Fälle aus der Betroffenenperspektive werden in ihrer Bedeutung reduziert, indem Cora in Frage stellt, ob es sich überhaupt um einen Konflikt handelt bzw. indem sie ihn als reinen Sachkonflikt markiert. Es passt nicht zum Bild des betrieblichen Konflikthelfers, wenn der sich meist mit seinen eigenen Konflikten beschäftigt. Dahinter steht ein Betriebspädagogenverständnis, in dem es um Überlegenheit durch Wissen, Dominanz und Gesinnung geht. Die Konfliktbetroffenen werden dagegen als schutzbedürftig, unwissend und teilweise lernunfähig charakterisiert. Konflikte bedeuten für Cora aber auch eine Möglichkeit ihren Einflussbereich und ihren eigenen Handlungsspielraum zu erweitern. Mit ihren Vorgesetz-
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ten steht sie immer im Dialog. In Konfliktsituationen treten die Kollegen ihr mehr oder weniger freiwillig Kompetenzen ab und lassen sich auf ihren Schutz und ihre Beeinflussung ein. Sie übernimmt Vorgesetztenaufgaben, wenn es um Konfliktintervention und Prävention geht. Cora variiert die Nähe zu Kollegen und Vorgesetzten. Viele Kleinkonflikte dienen als Präventionsmaßnahme gegen einen großen Konflikt. Konflikte müssen nicht unbedingt etwas Zerstörendes und Negatives sein. Man kann sie nutzen, um den Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe dauerhaft zu sichern, potentielle Aussteiger einzubinden und sich gegen die bedrohliche Außenwelt (eine neue Unternehmenskultur, schwierige Vorgesetzte) abzugrenzen. Die Konflikte geben Cora letztendlich die Möglichkeit, zu einer, nur lose an ihre Tätigkeit als Chemotechnikerin gekoppelten, betrieblichen Karriere. Betrieb ist damit ein Möglichkeitsraum, um durch Konflikte eine alternative Karriere, jenseits der offiziellen Firmenhierarchie zu gestalten. Cora ist nicht hilflos Konflikten ausgeliefert, die unkontrolliert auf sie einstürzen. Ausgehend von der allgemeinen Stimmung in ihrer Abteilung entscheidet sie, wie sie auf Probleme, Aufreger, Gerüchte und Kleinkonflikte reagiert. Entweder entscheidet sie sich, sich einzuschalten oder sie ignoriert die Vorfälle, weil es sich z.B. nicht lohnt. Sie kann aber schlecht tatenlos zusehen, wenn es zu Unstimmigkeiten in ihrem Umfeld kommt. Cora interpretiert Konflikte grundsätzlich als eine Aufforderung zum Handeln45. Handeln bedeutet für Cora (freiwillig) zu intervenieren. Im typischen Konflikt geht es für sie immer um die Konflikte der Anderen. Sie schaltet sich als Vermittlerin in die Hierarchie ein – steht zwischen Betroffenem, einer unzufriedenen Gruppe und der Vorgesetztenebene. Es gibt immer einen Betroffenen, der Stein des Anstoßes ist. Auf den Betroffenen wirkt sie pädagogisch ein, damit der sein Verhalten verändert. Bleibt die Veränderung aus, nutzt Cora das Mittel der Bestrafung. Auch Bestrafungsmaßnahmen, die heute unter Mobbinghandlungen diskutiert werden, sind dabei als allerletztes Mittel akzeptiert. Damit werden Mobbinghandlungen als potentielle Konfliktlösestrategien ausgewiesen. Da man dies nicht offen sagen kann, werden diese Handlungen hinter Krankheitsvermutungen und betrieblicher Zweckrationalität versteckt. Wichtigstes Ziel jeder Konfliktmoderation im Betrieb ist es, die arbeitshemmende Frustration in der Gruppe zu beseitigen. Da werden auch persönliche Nachteile (beim Mobbingbetroffenen) in Kauf genommen. Cora handelt hier nicht als neutraler, unabhängiger Vermittler, sondern als Person mit Eigeninteressen. Ihre Funktion als Betriebsrätin spielt bei den fünf von ihr erzählten Konflikten für die Art des Umgangs keine Rolle – sie handelt immer als Mitarbeiterin einer bestimmten Arbeitsgruppe. Selbst im Fall ‘Um-
45
gl. Appellohr bei Schultz von Thun (1982
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gruppierung einer Kollegin’ zieht sie sich nicht auf ihre Rolle als Betriebsrätin zurück, sondern lässt sich von ihrem disziplinarischen Vorgesetzten maßregeln. Cora beschäftigt sich auch gedanklich und außerhalb ihres Arbeitsplatzes mit den Konflikten. Sie redet mit dem Ehemann, Freunden, Vertrauensleuten im Betrieb und Kollegen darüber. Sie reflektiert auch noch später die Gesamtsituation und ihre Handlungen und geht dabei auch kritisch mit sich selbst um. Sie stellt dabei immer wieder fest, dass der Umgang mit Konflikten (das Intervenieren) selbst nicht eindeutig und nur positiv ist; der Umgang mit Konflikten kann selber konfliktfördernd sein. Cora pflegt und provoziert aber auch Konflikte, um bei ihren KollegInnen ein bestimmtes Verhalten zu erreichen und andere Verhaltensweisen zu verhindern. Durch die Konfliktpflege schafft und festigt sie ihre Position in der aktuellen Arbeitsgruppe. Sie reagiert damit auf die latente Bedrohung durch ihren Vorgesetzten, der früher einmal Mobber war. Cora nutzt Konflikte positiv zur vorbeugenden Konfliktbearbeitung. Es gibt aber auch Konflikte, die Cora von außen aufgedrängt werden: der Privatkonflikt und die Umgruppierung der Kollegin. Hier versucht sie sich, so weit wie möglich, der Austragung zu entziehen. Indem sie sofort nachgibt und die Anlässe banalisiert, kommt es nicht zur Eskalation. Vermittler in ihren eigenen Konflikten hingegen lehnt sie ab. Wenn es um den Umgang mit Konflikten geht, steht für Cora die Selbstbestimmung und Aufrechterhaltung der eigenen Handlungsfähigkeit im Vordergrund. Sie hat Konflikte als etwas erlebt, was es im betrieblichen Alltag nun mal gibt. Also muss man sie als Teil des Arbeitsalltags akzeptieren. Die Kunst im Umgang mit Konflikten ist es, nicht zum Opfer zu werden. Um das zu erreichen, muss man sich gut überlegen, in welche Konflikte man sich einschaltet, wie man sich aus aufgedrückten Konflikten herauszieht und wie man ‘Supergau-Konflikte’ verhindert. Der Betrieb erscheint im Zusammenhang mit Konflikten auf den ersten Blick nicht als Lehr-Lern-Ort. Nicht ‘Lernen’, sondern ‘Arbeiten’ ist das Ziel. Selbst im Konflikt mit dem Auszubildenden geht es letztlich darum, wie aus dem Lernenden ein Arbeitender wird. Lernen ist aber ein notweniges, unverzichtbares Zwischenprodukt. Betriebliche Sozialisation und Organisationslernen sind notwendig, damit die Arbeitsfähigkeit erhalten bleibt bzw. hergestellt wird. Wenn Cora von „charakterlichen“ Defiziten (bei jungen KollegInnen) redet, meint sie Lerndefizite. Einmal erreichte Lernerfolge dagegen sind eher stabil. (Der ehemalige Lehrling leistet immer noch gute Arbeit, ob der Internetsurfer seine zweite Chance nutzte, ist ungewiss.) Organisationslernen in diesem Kontext bedeutet bei Cora letztlich Charakterbildung. Von welchem Verständnis von Lehren und Lernen geht Cora im Zusammenhang mit Konflikten denn aus? Zum einen formuliert sie ihre eigene, naive Konflikt-Lern-Theorie theoretisch, von konkreten Fällen losgelöst. Konfliktlernen ist bei Cora immer ein erfahrungsabhängiges
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Lernen. Nicht durch Reflexion und Theorie kommen die Lernergebnisse zustande, sondern durch direkten Erfolg bzw. Misserfolg beim Handeln und der nachgeordneten Reaktion eines (mächtigen) Lehrers. Durch Verstärkung (Lob) wird ein Verhalten beibehalten, durch Bestrafung wird es nicht mehr gezeigt. So kommt es durch Gewohnheitsbildung zu einer dauerhaften Verhaltensmodifikation. Dieses Lernverständnis ist stark an klassischen, einfachen, psychologischen Lerntheorien (vgl. Skinner 1974) orientierte. Schüler gelten als defizitär, deshalb müssen sie lernen. Dieses Lernverständnis beschäftigt sich nur mit der Vermittlungsseite. Wie muss der Reiz aussehen - und wann, wie oft und mit was verstärke ich gezeigte Reaktionen? Die Professionalität des Lehrers steht damit im Vordergrund, denn er muss die geeigneten Rahmenbedingungen schaffen. Alles was nicht Teil der gezielten Beeinflussung ist, gilt als Störvariable und muss damit eliminiert werden. So war im Internetkonflikt der surfende Kollege eine Störung für die Lernprozesse des noch ganz jungen Kollegen, der sich fragte, warum er so hart arbeiten müsse, wenn er täglich erlebt, dass man in dieser Abteilung auch mit wenig Arbeit durchkommt. Um die Lernerfolge dieses jungen Kollegen nicht zu gefährden, musste der Internetsurfer unwirksam gemacht werden. Auch die sich ständig verändernde Unternehmenskultur ist ein Störfaktor. Cora als Vermittlerin beeinflusst auch den Reiz. In ihrer aktuellen Laborsituation variiert sie die Eskalation des Dauerkonflikts mit ihrem Chef, indem sie entweder in die Auseinandersetzungen bewusst einsteigt oder die Austragung gezielt verweigert. Wann und wie geht Cora auf ihr eigenes Lernen und Lehren ein? Cora hat bei der Intervention im Konflikt mit dem Auszubildenden intuitiv gehandelt. Ihr Erfolg war damit nicht Beweis für vorangegangenes Lernen, sondern ein Hinweis auf eine Naturbegabung. Sie bezieht sich im Nachhinein darauf und sagt, dass sie bestimmte Mechanismen heute (aber nicht damals) verstanden habe. Dadurch kennzeichnet sie die an diesen Konflikt anschließende Arbeitszeit auch als Lernzeit. Im Arbeitsprozess, durch ihre lange Berufstätigkeit, hat sie Erfahrungen gemacht. Und sie kann sich heute Dinge erklären, die ihr früher unverständlich waren. Hier haben Lernprozesse stattgefunden, und Cora ist sich dessen auch bewusst. Cora spricht Lernen aber nicht offen an, sondern versteckt es hinter den Ergebnissen – dem heutigen Wissen, das sie von früherem NichtWissen bzw. falschem Wissen abgrenzt. Durch ihre Formulierungen und ihre Wortwahl verschleiert Cora Lernen. Im Zusammenhang mit dem wichtigen und richtungweisenden Gespräch mit ihrem damaligen Freund thematisiert sie ihre eigene Aneignungsleistung. Er hat ihr seine Sicht der Dinge dargestellt, doch sie hat entschieden, dass sie sich dieses Wissens bedient. Cora selber liefert sich also keinem übermächtigen Lehrer aus. Beim eigenen Lernen legt sie Wert auf eine
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selbstbestimmte Aneignung von Wissen. Sie wird nicht belehrt – sie lernt eigenlogisch. Im Zusammenhang mit dem Internetkonflikt und dem Mobbingseminar taucht eine verdeckte Lernverweigerung auf. Cora sagt nicht offen: Das, was ich im Seminar über Mobbing gelernt habe, ist für die Praxis (z.B. für den Internetkonflikt) untauglich. Doch sie weist im Interview wiederholt darauf hin, dass die aktuelle Mobbingtheorie keine Antwort daraus hat, wie mit den arbeitsbezogenen Fehlern eines vermeintlich Mobbingbetroffenen umzugehen ist. Indem sie so tut, als wären Diskriminierung und Mobbing dasselbe Phänomen, entzieht sie sich dieser Lernzumutung. Sie hält an ihrem Nicht-Wissen bzw. fehlerhaften Wissen bezüglich der Kriterien für Mobbing fest, um sich nicht im Nachhinein selbst als Mobber bezeichnen zu müssen. Meistens verdeckt Cora ihr eigenes Lernen, indem sie ihr Wissen in den Vordergrund stellt. Es gibt lediglich zwei Stellen im Interview, wo sie, wenn sie über konkrete Konfliktfälle spricht, ihr eigenes Lernen auch als Lernen herausstreicht: beim Vertraulichkeitskonflikt und beim Konflikt um die Umgruppierung der Kollegin. In beiden Fällen behauptet sie eine Kausalität von Konflikterfahrungen und Lernen. Durch die Kritik des Kollegen bzw. des Vorgesetzten fühlt sie sich (zu Ungerecht) ‘bestraft’ und nimmt sich vor, ihre Verhaltensweisen abzulegen. Nicht aber ihre Einstellung will sie verändert, sondern lediglich ganz bestimmte, klar umgrenzte Verhaltensweisen. Durch eine solche Lerndemonstration zeigt sie ihre grundsätzliche Bereitschaft, sich selbst zu verändern und an veränderte Bedingungen anzupassen46. Durch diese Unterwerfungsgeste erreicht sie außerdem eine schnelle Beendigung des Konflikts. Hier finden wir eine andere Form von Organisationslernen. Nicht eine stabile, beständige Charakterbildung soll durch Lernen erreicht werden, sondern eine flexible und oberflächliche Anpassung an eine Organisation, die sich morgen schon selbst wieder abgeschafft haben könnte. Neben dem Neulernen, bekommt hier das Verlernen eine herausragende Bedeutung47. Cora wehrt sich manchmal gegen das Verlernen. Cora versteckt nicht nur ihre Aneignungsleistungen, sondern auch ihre Vermittlungsbemühungen. Wenn sie in Konflikten interveniert, thematisiert sie regelmäßig ihr Vermittlungsanstrengungen. Sie sagte und zeigte dem Auszubildenden den Unterschied zwischen einem Lehrling und einem Laboranten. Sie belehrte den Internetsurfer nach seinem Ausscheiden aus dem Betrieb darüber, wie wichtig es ist, dass er sein altes Verhalten ablegt. Sie zeigt ihre derzeitigen Kollegen, wie sie den fachlichen Fallstricken ihres Vorgesetzten entkommen können. Wenn Cora Wissen und Fertigkeiten vermittelt, tut sie das immer mit 46 47
gl Umgang mit Defiziten (Kade 2007)
gl. „Die verlernende Organisation“ (Baecker 2003)
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einer Mischung aus Belehrung und Sozialarbeit (aneignungsorientierte Wissensvermittlung). Sie ist bereit, die besonderen Bedürfnisse ihres Gegenübers mit zu berücksichtigen. Der damalige Auszubildende war jung und unerfahren, der Internetsurfer zumindest psychisch auffällig, der jetzige Kollege nicht so wortgewandt. – Die asymmetrische, betriebliche Kommunikation erinnert an das klassische Schüler–Lehrer-Verhältnis oder an das Verhältnis zwischen Klienten und Sozialarbeiter. Die Anderen müssen sich in Abhängigkeit begeben, Verantwortung abgeben, sich an sie anlehnen, damit Cora ihnen helfen kann. Sie ist die Wissende und die, die Verantwortung tragende Betriebspädagogin, die die Unwissenden beschützt, aber ihnen auch sagt wo es langgeht. Belehrung ist ein Element in ihren Interventionsbemühungen. Doch wird das im Interview nicht offen kommuniziert. Cora ist sich sicher darüber klar, dass Unterstützung, so wie sie sie versteht, immer auch etwas mit Bevormundung zu tun hat. Wahrscheinlich würden sich ihre erwachsenen Kollegen gegen eine offene Belehrung wehren. Um mit ihren Vermittlungsabsichten erfolgreich zu sein, muss sie sie maskieren. Bei den Auszubildenden oder neuen, unerfahrenen Kollegen kann sie dagegen offener vorgehen. Welches Wissen vermittelt Cora? Es geht immer um eine Mischung aus erfahrungsgeneriertem Fachwissen und sozialer Kompetenz/ Unternehmenskultur. Sie führt dies aber nicht näher aus. Sie gibt praktisches Wissen, das sie aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung erworben hat, weiter. Cora steht mit ihrer Person für die Richtigkeit dieses Wissens. Sie stellt ihre berufsbezogene Identität und ihre Professionalität als betriebliche Pädagogin in den Vordergrund, wenn sie von Vermittlung in Konflikten redet. Aus ihrer Rolle heraus, thematisiert sie die Lernwiderstände der Lernenden (grundsätzliche Lernbereitschaft, charakterliche Schwächen usw.), die Bedeutung von geeigneten Rahmenbedingungen (z.B. kompetente Vorgesetzte), die Grenzen der Pädagogik (Krankheit, allertiefste Unmoral) und die eigene Professionalität und Reflexivität. Grundlage für Coras besondere Rolle in betrieblichen Konflikten ist weniger Lernen und Lehren, sondern eher Wissen als Ergebnis von unklaren, zurückliegenden Lernprozessen. Es gibt für Cora ein festes, beständiges Wissen darüber, wie Gruppen funktionieren und was die richtigen Werte im Arbeitsleben sind. Während Cora sich dieses Wissen zuspricht, erkennt sie es den KollegInnen teilweise ab. Damit macht sie sie zu ihren ‘Schülern’. Ein Pädagoge muss über vielseitiges und ausreichendes Wissen schon verfügen, um von den Anderen auch als solcher akzeptiert zu werden. Eigene Konflikte bergen die Gefahr, dass Nicht-Wissen sichtbar wird.
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In Konflikten Intervenierende
2.1.3 Betrieb als berufliches Wirkungs- und Entwicklungsfeld 2.1.3.1
Bedeutung des Betriebs für Biographie und Lebenswelt
Coras Arbeitssituation hat sich, obwohl sie seit 25 Jahren im gleichen Betrieb arbeitet, verändert. Wenn sie vom Betrieb berichtet, erzählt sie von Beständigkeit und Veränderung. Objektiv hat sich die betriebliche Veränderung in drei Schritten innerhalb von ca. 10 Jahren vollzogen. Aus wurde , aus wurde , aus wurde . Dabei korrespondieren die Unternehmensphasen jeweils mit (berufs-)biographischen Ereignissen. Cora kennt aus der Vergangenheit (den ersten Jahren ihrer Berufstätigkeit) einen Betrieb, der mittlerweile unwiederbringliche Vergangenheit ist. Die Zeiten des Großunternehmens stehen für sie für allgemeine Sicherheit, Verlässlichkeit und Anerkennung der Mitarbeiter. Cora erzählt, während der Ausbildung seinen sie „ne richtig dufte Truppe gewesen“ (35:15) gewesen. Ihre Integration in die Unternehmenskultur habe deshalb „nicht so lange gedauert“ (35:19) Ihr Vater und die Väter vieler Mitauszubildender arbeiten und arbeiteten in diesem Unternehmen. Die nächste Generation wird in die Gemeinschaft integriert. Das Unternehmen stellt sich der sozialen, gesellschaftlichen Verantwortung, weil es überhaupt ausbildet – und der Verantwortung gegenüber seinen Mitarbeitern, weil es deren Kindern eine berufliche Zukunft sichert. Die Ausbildung ist somit stark emotional besetzt als identitätsstiftendes Element48. Nach der Ausbildung lernte Cora schnell das Kommunikationssystem ihres neuen Arbeitsumfeldes kennen. Als junge Laborantin und stellvertretende Vertrauensfrau nimmt sie an Besprechungen mit dem langjährigen Abteilungsleiter teil. Dieses traditionell gewachsene Vermittlungssystem garantiert, dass auch die ‘einfachen’ Mitarbeiter das betrieblich Notwendige durch ihre Vertrauensleute erfahren. Parallele zu ihrer Laborantentätigkeit und ihrer Beschäftigung als Vertrauensfrau absolviert Cora berufsbegleitend eine Ausbildung zur Chemotechnikerin. Man habe das „noch bezahlt“ (33:34) und es sei „gern gesehen“ (33:34-35) gewesen. Coras Interesse an der Betriebsratsarbeit wurde geweckt, als der große Konzern aufgespaltet und Teile verkauft wurden. Viele Mitarbeiter fühlten sich verunsichert und „abgeschoben“ (12:30). Cora erklärt: „Und da musste ich halt relativ viel vermitteln.“ (12:30). Vielleicht gerade weil sie sich als Vertrauensfrau bereits für die Probleme der KollegInnen einsetzte, wurde sie schließlich gefragt, ob sie sich für den neu zu wählenden eigenen Betriebsrat aufstellen lassen würde. Durch Schwangerschaft und Erziehungsurlaub kommt es aller48
gl. Mentale Mitgliedschaft (Hartz 2004): Mentale Mitgliedschaft als eine über Aneignung verlaufende Grenzziehung zwischen Organisation und Person.
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dings dann zum vorübergehenden Ausstieg aus dem Betrieb. Der Wiedereinstieg ist für Cora mit wesentlichen Veränderungen verbunden. So muss sie als Teilzeitkraft lernen, wie sie Familie und Beruf miteinander verbindet. Es gibt Veränderungen in ihrer Arbeitsorganisation im Betrieb, bei der Kooperation mit den Kollegen und durch das Anpassen ihrer Arbeitsroutine an die der Vollzeitbeschäftigten. Zeitgleich mit ihrem beruflichen Wiedereinstieg im Betrieb bereitet sich der seit knapp vier Jahren existierende Betriebsrat auf die Neuwahl vor. Cora wird erneut gefragt, sagt zu und wird gewählt. In die Zeit der Firma fallen Coras größte berufsbezogene Erfolge. Sie bekommt anspruchsvolle Aufgaben übertragen und wird von ihrer Chefin gefördert. Die persönlichen Kontakte zu den damals vorwiegend aus dem europäischen Ausland stammenden Vorgesetzten, sind extrem gut. So erklärt Cora: „Das waren so die Highlights, was ich so an Chefs erlebt hab. […] Und die haben mich auch gefördert. Das hat halt immer alles gepasst, von Anfang an.“ (11:2123). Cora wurden anspruchsvolle, eher für Führungskräfte und promovierten Chemiker typische Aufgaben und Projekte übertragen. Sie war bei Bewerberrunden mit dabei und entschied mit, wer im Labor eingestellt werden soll. Die Karriere, die Cora in dieser Zeit machte, gründet sich nicht auf offizielle, neue Zertifikate, sondern sie resultiert aus der individuellen Förderung und ihrem aus der anspruchsvollen Arbeit erwachsenden guten Ruf. Auf die derzeitige Betriebssituation bei der Firma geht Cora eher im hinteren Teil des Interviews ein. Hier erzählt sie von vielen Kleinkonflikten, die durch die - Werdung entstanden seien. Als Ursachen für die Probleme identifiziert sie die fehlende Präsenz der Manager vor Ort49, die Zerschlagung alter Arbeitsgruppen, die totale Neuordnung aller Bereiche, den ständigen Wechsel auf der Führungskräfteebene und die fortwährende Bedrohung des Standorts. Dadurch sei die Beziehung zwischen Mitarbeitern und Führungskräften allgemein schwieriger geworden. Auch was ihr eigenes berufliches Weiterkommen angeht, ist Cora mit dem Tempo unzufrieden, in dem in der Firma Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden. Über ihre Karriere entscheiden heute aber Manager, die neu sind und mit denen Cora selbst bis jetzt wenig persönlichen Kontakt hat. Coras Projekte sind ausgelaufen. Bis jetzt wurden ihr keine neuen zugeteilt. Weil solche Projekte aber ein sichtbares Zeichen für fachliche Kompetenz und beruflichen Erfolg darstellen, wirkt Coras momentane Situation eher wie ein Karriereeinbruch. Zwischen ihr und ihrem direkten Vorgesetzten kommt auch zu Auseinandersetzungen über fachliche Themen. („Wenn es wirklich falsch ist, oder für mich überhaupt nicht vertretbar, dann lass ich mich nicht darauf ein. Da hab ich mich auch schon durchgesetzt.“ (26:43-45)). 49
Abwesenheit durch häufige Dienstreisen zum Stammsitz (vgl. Orginaltranskription 28:22-24)
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Hier fragt man sich, ob Cora sich gegen eine bewussten Schönfärbereien von Ergebnissen wehrt, oder ob sie Angst hat, Neues auszuprobieren und zu lernen. Wenn Cora im Interview über die Zusammenarbeit mit ihrem Vorgesetzten spricht, präsentiert sich oft als die bessere Vorgesetzte. Zu den drei KollegInnen in ihrem Labor pflegt Cora (im Gegensatz zu den -Zeiten) heute einen engen Kontakt. Alle KollegInnen sind neu in diesem Arbeitsbereich. Cora als ‘Altabteilungsmensch’ und Oberlaborantin ist der stabilisierende Faktor50. Sie kennt sich in der Arbeit und im Labor aus. Und sie ist dafür verantwortlich, neue Kollegen anzulernen. Zusammenfassend kann man sagen: Zu -Zeiten nutzt Cora den Betrieb für ihre grundlegende Orientierung im Arbeitsleben. Hier erzählt sie den Konflikt mit dem Auszubildenden. Zu -Zeiten kommt es zu einer Unterordnung der beruflichen Bedürfnisse unter die privaten – einen konkreten, markanten Konflikt aus dieser Zeit erwähnt sie nicht. Die -Zeiten stehen für ihre betriebliche Karriere. Trotz ihres größten Konflikts (mit dem Internetsurfer) ist sie in dieser Zeit beruflich besonders erfolgreich. Auf die aktuellen -Zeiten bezieht sie sich, indem sie sie immer wieder der Zeit davor gegenüberstellt. Hier thematisiert sie gestiegene Leistungsanforderungen und Risikozumutungen, eine veränderte Unternehmenskultur und Kleinkonflikte als Dauerzustand. Betrieb ist für Cora ein soziales System. Da gibt es die offizielle Hierarchie, die festlegt, wer welche Aufgaben und Kompetenzen hat (z.B. Vorgesetzter und Mitarbeiter). Manchmal bieten die offiziellen Bedingungen mehr, manchmal weniger Gestaltungsspielraum. Und es gibt ein informelles Subsystem, dessen Wirkungsmechanismus auf Kommunikation gründet (Vermittler, Oberlaboranten, Störer, unerfahrener Neuling). Wer man in diesem eher informellen System ist, wird nach außen nur auf den zweiten Blick erkennbar (durch z.B. Nähe zum Vorgesetzten, Schwierigkeit der übertragenen Aufgaben, Größe des Einflussbereichs). Betrieb ist somit eine mikropolitische Bühne (vgl. Neuberger 2002), auf der Rollen vergeben und entzogen werden – wo Leute versuchen, sich in einer bestimmten Art und Weise zu präsentieren und bestimmte Aspekte ihrer Person zu verbergen. Bereits ein ‘normaler’ Arbeitsalltag bietet genügend Möglichkeiten für Kleinkonflikte und Störungen und ist damit ein unerschöpfliches Feld für einen betrieblichen Vermittler und Pädagogen. Da dort Menschen mit unterschiedlichsten Charaktereigenschaften und Arbeitsweisen aufeinander treffen, ergeben sich
50
Die Technikerausbildung ist in diesem Zusammenhang, nach Coras Einschätzung, nicht so von Bedeutung. Durch die im Interview vorgenommene Abwertung ihrer offiziellen Zusatzausbildung, durch die sie sich von den KollegInnen unterscheidet, signalisiert Cora: „Ich bin zwar Oberlaborantin, aber doch eine von euch!“ Sie ist also sowohl Teil der Gruppe als auch ihr Sprachrohr nach außen.
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Schwierigkeiten zwangsläufig. Vermittler sorgen sowohl für Konfliktklärung und verhindern auch das Entstehen und die Eskalation von Konflikten. Der Betrieb ist für Cora auch im Hinblick auf ihre Gesamtbiographie bedeutsam. Da gibt es den Zeitabschnitt vor dem Eintritt in dieses Unternehmen und die 25 Jahre ihrer Betriebszugehörigkeit. Alle biographisch wichtigen Ereignisse ragen in den Betrieb hinein. Hier lernte sie ihren Mann kennen – er ist heute sowohl Lebenspartner als auch Kollege. Seit der Geburt ihres Sohnes arbeitet sie als Teilzeitkraft. Betrieb hat also für Cora nicht nur etwas mit ihrem Beruf (finanzielle Aspekte, Berufsidentität) zu tun, sondern mit ihrer gesamten Lebensführung und Erwachsenenbiographie.
2.1.3.2
Berufliche Orientierung zwischen Chemielaborantentätigkeit, innerbetrieblicher Vermittlerrolle und den Aufgaben einer Betriebsrätin
Coras Berufsidentität ist (heute) aus drei Komponenten zusammengesetzt. Da gibt es ihre arbeitsbezogene Labortätigkeit, die Vermittlertätigkeit zwischen den offiziellen Hierarchieebenen und die mit ihrer Wahl durch die KollegInnen legitimierte Rolle als Betriebsrätin. Konflikte sind im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Identität in doppelter Weise bedeutsam. Zum einen als Teil ihrer Vermittlertätigkeit (sie vermittelt in Konflikte und Nicht-Konflikte), zum anderen als Passungsproblem zwischen ihren einzelnen Rollen. So muss sie momentan entscheiden, ob sie ihre berufliche Karriere oder ihre Betriebsratstätigkeit mit mehr Engagement verfolgt. Coras berufliche Entwicklung stellt sich als eine berufsbezogene Steigerungsbiographie dar. Während es für den ersten Ausbildungsabschnitt Zeugnisse als Leistungsnachweis gibt51, wird die mitlaufende, betriebliche Qualifizierung durch die Übernahme anspruchsvoller Aufgaben und einen guten Ruf im Betrieb honoriert. Anschließend an eine berufliche Grundqualifizierung, erfolgt also eine betriebliche, erfahrungsbezogene Aufbauqualifizierung. Wenn Cora sich im Interview durch Kompetenzdemonstration als pädagogisch motivierte Vermittlerin präsentiert, spielen Wissen, Können und Beständigkeit eine wichtige Rolle. Während sich die allgemeine Firmensituation ständig ändert, ist sie als Altabteilungsmensch Garant für Kontinuität und unabänderliche, soziale Grundwerte. Sie als die Wissende bezieht sich mit Veränderungsabsichten pädagogisch auf die zu bessernden KollegInnen und Vorgesetzten. Ihre Rolle ist nicht ausschließlich an größere Konflikte gekoppelt, auch in den tägli51
Sie hat Zertifikate als Chemielaborantin und als Chemotechnikerin. Die letzte dieser Qualifizierungen liegt aber schon ca. 15 Jahre zurück.
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In Konflikten Intervenierende
chen Kleinkonflikten kümmert sie sich um die hierarchieübergreifende, betriebliche Kommunikation. Für Cora stellt die Betriebsratstätigkeit ein Symbol für ihre Geisteshaltung dar. Sie zeigt sich dadurch grundsätzlich als arbeitnehmerorientiert. Aber sie handelt in den erzählten Konflikten nicht als Betriebsrätin. Hier zeigt sie sich unwissend, was ihre Aufgaben und ihre Möglichkeiten angeht. Dieses Nichtwissen entbindet sie von der Notwendigkeit, ihrem Vorgesetzten gegenüber Position zu beziehen und den Internetkonflikt aus der Perspektive des Internetsurfers zu beurteilen. Kleinkonflikte (und auch größere Konflikte) boten Cora in der Vergangenheit (unabhängig von ihrem Betriebsratsamt) immer die Möglichkeit sich als Intervenierende und betriebliche Pädagogin zu inszenieren. Doch durch die fortschreitende Rationalisierung und die erhöhten Leistungsanforderungen („Drucksituation“ (35:32)) habe sich die Kultur des Umgangs miteinander verändert. Man pflege nur noch wenige private und „menschliche Kontakte an der Arbeit“ (35:34). Cora sieht in dieser Entwicklung eine Gefahr für mehr und schlimmere Konflikte. Deshalb ist ihr auch die Mitarbeit in der neu gegründeten Mobbingarbeitsgruppe des BR-Gremiums wichtig. Die Veränderungen durch die letzte Betriebsänderung betreffen alle Bereiche im Unternehmen. Sogar die Betriebsräte und im Besonderen die freigestellten, fahren regelmäßig zwischen den Standorten hin und her. Also auch Betriebsratsarbeit wird nicht mehr ausschließlich standortbezogen gestaltet, sondern im Gesamtbetriebsrat unternehmensweit betrieben. Die großen Probleme verdrängen da leicht die Kleinkonflikte vor Ort. Während die Freigestellten große Politik machen, beschäftigen sich einige NichtFreigestellte mit den sozialen Auswirkungen dieser Veränderungen. Durch diesen Wandel in den Arbeitsschwerpunkten innerhalb des Gremiums ergeben sich Chancen für andere Betriebsräte, neue Themen zu besetzen. Doch ist es der Gruppe um Cora bis jetzt nicht gelungen, sich sichtbar als Mobbinggruppe zu präsentieren. Als Grund dafür nennt Cora, dass momentan jeder eben viel im Beruf „um die Ohren“ (13:31) habe. Cora besetzt drei unterschiedliche Rollen. Sie ist Laborantin, betriebliche Pädagogin und Betriebsrätin. Es ist ihr nicht möglich, allen drei Rollen die gleiche Beachtung zuzugestehen. In den Zeiten vor der -Werdung hatte eindeutig die berufliche Orientierung die größte Priorität. Durch die letzte Betriebsänderung hat sich für Cora das Verhältnis zu ihren Vorgesetzten und Kollegen verändert. Während zu der Führungsebene mehr Distanz entstanden ist, kam es durch ihre neue Aufgabe als Oberlaborantin zu einer stärkeren Anbindung an die Kollegen. Die neue Unternehmenskultur und -politik stellt für sie einen starken Unsicherheitsfaktor dar. Die potentiellen, zukünftigen Karrierechancen und die geplante Intensivierung ihre Arbeit als Betriebsrätin sorgen im Ganzen aber
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weiterhin für eine ausgeglichene Bilanz. Es scheint, als würde sie in ihrem Job im Labor heute mit weniger Motivation arbeiten, denn sie erlaubt es sich, Weiterbildungsveranstaltungen zu besuchen und denkt über eine aktivere Betriebsratsarbeit nach.
2.1.4 Moralische Lebensgestaltung als Deutungsgrundlage für betriebliche Konflikte Im nächsten Schritt soll die Untersuchung vom außerbetrieblichen und außerberuflichen Umfeld her erfolgen, um zu erfahren, welche Bedeutung in diesem Bereich Konflikte haben und wie Cora sie zu den betrieblichen in Beziehung setzt.
2.1.4.1
Biographische Einordnung: Kontinuität und Brüche
Cora grenzt ‘Betrieb und Beruf’ als ‘die Zeit ihrer eigenen, vergangenen, gegenwärtigen und erhofften zukünftigen Betriebszugehörigkeit’ (von der Lehre bis zur Rente) einerseits von der Zeit davor (Schule und Elternhaus) und andererseits von der Zeit danach (Rente) ab. Neben dieser Strukturierung, die auf Unterschieden und biographischen Brüchen gründet, nutzt Cora im Interview für den gesamten Lebensabschnitt Berufstätigkeit (von der lange zurückliegenden Lehre bis zu einem in der Zukunft liegenden Renteneintritt) eine andere Strukturierung. Hier betont sie die Passung und die biographische Kontinuität. Die biographische Einordnung bewegt sich also im Spannungsfeld von zwei Diskontinuitätserfahrungen und einer dazwischen liegenden, langen Kontinuitätsphase. Cora geht wiederholt mit der Unterscheidung zwischen Schule und Betrieb auf die Entwicklung ihrer eigenen Konfliktfähigkeit ein (bei 11:29 ff., 17:08 ff., 25:07 ff., 35:06ff.). In ihrer rückblickenden Bewertung schneidet Schule dabei nicht sonderlich gut ab. Sie erzählt, in ihrer Schulzeit hätte es bei den Schülern nur zwei Konfliktstrategien gegeben, ‘draufhauen’ und ‘sich zurückziehen’. Sie persönlich sei während der Schulzeit allen Auseinandersetzungen aus dem Weg gegangen. Erst im Beruf habe sie gelernt, Konflikte auszutragen. Damit bedeutet für sie der Eintritt in den Beruf, bezogen auf die Entwicklung ihrer Konfliktfähigkeit, einen Umbruch. Cora hat zwar noch 15 bis 20 Jahre Berufsleben vor sich, trotzdem hat sie sich über die Zeit nach dem Arbeitsleben bereits Gedanken gemacht (vgl. 37:0921). Für sie stellt der in der Zukunft liegende Renteneintritt schon heute einen (gedanklichen) biographischen Umbruch dar, weil dann die eigenen Wünsche
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und Bedürfnisse mehr berücksichtigt werden können als heute. Sie möchte ihr Leben gern grundlegend verändern und eine lange Forschungsreise nach Amerika machen. In Hinblick auf Konflikte wäre dies ein Umbruch, weil sie sich vorstellt, dann nicht mehr in so viele Konflikte hineingezogen zu werden.
2.1.4.2
Moralische Einordnung: Kollektive Unmoral contra individuelle Moral
Cora erzählt im Interview von ihren eigenen problematischen Schulerfahrungen, der vertrauensvollen Beziehung zum Ehemann, der Erziehung des Sohnes, von Konflikten mit den Eltern, von privaten Treffen mit Kollegen und von gescheiterten Beziehungen ihrer Freunde. Sie führt alle ihre privaten und betrieblichen Erfahrungen nochmals auf einem höheren Abstraktionsniveau zusammen. Unter dem Fokus eines an der indianischen Kultur orientierten Gerechtigkeitsdogmas, ordnet sie ihre Erfahrungen unter moralischen und religiösen Gesichtspunkten neu ein. Dabei stellt sie sich selbst als eine moralische Person dar, während sie der Gesellschaft als Ganzes Unmoral attestiert.
Cora als Kämpferin gegen Windmühlenflügel - die eigene vergangene Moralentwicklung Für Cora ist ihre heutige Situation das Ergebnis eines langen, individuellen Entwicklungsprozesses. Ihre besondere Einstellung zu Konflikten, die für sie sowohl für den beruflichen wie den privaten Bereich bedeutsam ist, erwirbt sich Cora erst als Erwachsene. „Das hat auch relativ lange gedauert sag ich mal. Ich war anfangs, wie ich so aus der Schule kam so, da war ich so immer noch geneigt, mich der Meute so etwas anzuschließen. Und dann, wie gesagt, in so ne Kerbe rein zu hauen, die schon vorhanden war. Emm und irgendwann hab ich aber festgestellt, und das kam eigentlich so in den letzten zehn Jahren erst, dass ich dann gedacht hab: „Nee, erstmal nur gucken, wie ist das alles.“ Ne eigene Meinung bilden und die dann auch zu vertreten, was net immer so leicht ist. Ich hab auch heut noch manchmal Probleme und halt mich dann halt zurück. Aber ich schwenk dann net mehr um. Und da bin ich eigentlich ganz froh drum. [I.: Und warum meinst du, hat sich das verändert? Was war so der Grund, warum sich das verändert hat?] Ja das ist eigentlich schwierig, weil sich’s oft ja gar net lohnt so. Also ich sag mal jetzt so, materiell schon sowieso net und auch manchmal von der, ja, so von der seelischen Seite her lohnt sich’s auch net immer ja. Ich weiß es net, warum das so ist. Aber ich hab mir auch irgendwann gedacht: „Du musst irgendwie nen Weg finden, wie du bist. Ja. Und du kannst net einmal so und einmal so sein.“ Dann hab ich mich doch für die Seite entschieden, die eigentlich schwieriger ist. Aber mir macht das nix aus, sag ich mal, so immer gegen den Wind, Windmühlenflügel anzurennen. Ich will mich net verbiegen lassen von
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andern, und ich denk halt immer: „Wenn ne Sache gerecht ist, dann muss man auch dafür kämpfen.“ Aber wie gesagt, das war’n sehr langer Weg.“ (17:10-30)
Zunächst verfolgte Cora auch als Erwachsene (und damit auch im Betrieb) die alte, defensive Konfliktbewältigungsstrategie. Sie schließt sich, ohne eigene Einschätzung der Vorfälle, der Mehrheitsmeinung an und verschwindet damit in der Masse. Um Teil einer Gruppe zu bleiben, muss sie ‘ihr Fähnlein mit dem Wind drehen’ – also je nach Situation immer wieder ihre Meinung ändern und damit heute das eine und morgen vielleicht das Gegenteil davon als eigene Meinung ausgeben. Der Grund, warum Cora dieses Verhalten schließlich in Frage stellt, ist, dass sie sich mit diesem Verhalten nicht als Individuum finden kann. Sie weiß nicht, wer sie als Person ist. Ihr fehlt eine unverwechselbare Identität. Die findet sie schließlich, indem sie sich für die schwierige Seite entscheidet. Da wird sie schon deshalb als Person sichtbar, weil die Masse sich eher auf die einfache Seite schlägt. Zu Coras neuer Identität gehört es, dass sie in Opposition zur Mehrheitsmeinung tritt und für ihre Überzeugung eintritt. Dieser schwierige Weg führt dazu, dass für Cora immer mal wieder Probleme auftreten und sie (wie zu Schulzeiten) in die Defensive geht (sich zurückhält). Sie fällt manchmal auch in alte Muster zurück. Ihr persönlicher Wachstumsprozess ist noch nicht abgeschlossen – sie arbeitet weiterhin an ihrer eigenen Vervollkommnung. Cora hat auch gelernt, ihre eigenen Ansichten vor den Veränderungsanforderungen (Lernzumutungen) von außen zu schützen. Sie sieht sich heute als eine stabile Persönlichkeit, die sich nicht jedem Trend anpasst und die bereit ist, sich für Gerechtigkeit einzusetzen. Aber das kann sie nicht immer öffentlich sagen. So musste sie lernen, nicht ständig ihre Meinung zu ändern und trotzdem nicht immer gleich in Opposition zur Macht (im Betrieb) zu gehen. Anders als in der Schule, kann Cora im Erwachsenenleben schließlich ihren Platz finden. Die betrieblichen Konflikte, als Gegenerfahrung zu den schulischen, wirkten identitätsstiftend. Sie lernte, moralische Aspekte als Maßstab für ihr Handeln wertzuschätzen. Indem Cora dies lernte, wird sie selber zu einem besseren Menschen. Sie findet schließlich ihren Platz als Zuhörerin, Vermittlerin und (betriebliche) Pädagogin im sozialen Gefüge.
Eine moralische Lebensgestaltung Coras heutige moralische Lebensgestaltung wird sichtbar, wenn sie von der Erziehung ihres Sohnes, von ihrem Menschenbild, von ihrem alltäglichen, sparsamen Umgang mit Umweltressourcen und von ihrer Reaktion auf die „Pauschalurteile“ (18:32) von älteren Leuten berichtet. Cora ist es wichtig, dass ihre Kleinfamilie sich an moralischen Maßstäben orientiert. Damit distanziert sie sich von
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Leuten, denen nur die direkte, rücksichtslose Erfüllung ihrer eigenen Wünsche am Herzen liegt. Der Erziehung ihres Sohnes misst Cora viel Bedeutung zu. Ausgehend von den Fehlern ihrer eigenen Eltern überdenkt und steuert Cora ihr Erziehungsverhalten. Ziel ihrer Erziehungsanstrengungen ist die Vermittlung fester, beständiger Werte. (Kleine) Strafen sind für Cora dabei ein notwendiges Erziehungsmittel. Cora fühlt sich in weiten Bereichen ihrer außerbetrieblichen Lebenswelt als Vertrauensperson gewertschätzt. Wie im betrieblichen Bereich erzählen Cora auch im privaten Umfeld die Menschen ihre Ängste und Nöte. Es sind auch im privaten Bereich die Schwierigkeiten der Anderen – und Cora ist die Zuhörende, die Intervenierende. Sie als moralischer Mensch wird in alle möglichen Konflikte („hier ne Scheidung, da ne Trennung und in der Firma ist’s halt auch net immer so rosig.“ (26:09-10) hineingezogen, die in dieser unmoralischen Welt passieren. Wenn die Welt um Cora herum aber ohne Ausnahme konflikthaft, defizitär und unmoralisch ist, kann es dort auch niemanden geben, auf den sie sich selbst, in eigenen Konflikten und Krisen, stützen könnte. Somit bleibt die Selbsthilfe und die Unterstützung innerhalb ihrer Partnerschaft für sie die einzige persönliche Entlastung. Coras Ehemann ist ihr engster Vertrauter. Er merkt immer schnell, wenn Cora etwas belastet. Ihm gegenüber öffnet sie sich auch, während sie anderen gegenüber eher verschlossen bleibt. Anders als üblich, erscheint sie bei ihrem Mann nicht als die Vermittlerin, der immer eine Lösungsmöglichkeit einfällt und die alles im Griff hat. Im Kontakt mit ihren Eltern führen Coras moralische Ansprüche regelmäßig zum Streit. Sie reagiert auf die, unter Gerechtigkeitsaspekten problematischen „Pauschalurteile“ (18:32) ihrer Eltern mit Widerspruch. Doch bleibt sie mit ihren Vermittlungsbemühungen gegenüber ihren Eltern erfolglos. Die Lernverweigerung der Eltern markiert die Grenzen und Schwierigkeiten in Zusammenhang mit Coras Vermittlungsabsichten. Sowohl die Beziehungsdefinition Tochter – Eltern, als auch das fortgeschrittenen Alter der Eltern, nennt Cora als Vermittlungs- und Aneignungshindernisse. Wären es nicht ihre Eltern und/ oder wären die Eltern noch jünger, wäre sie in ihren Vermittlungsbemühungen erfolgreicher.
Macht vs. Moral: die Indianer als Beispiel für ein gerechtes aber nicht überlebensfähiges System Woher weiß Cora was moralisch und was unmoralisch ist? Für die Auseinandersetzung mit diesem Thema bezieht sie sich auf Bücher. Sie interessiert sich im Hinblick auf Glaubensfragen und weltanschauliche Dinge besonders für die nordamerikanischen Indianer:
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„Ich zieh mir da halt immer was raus auch. Also diese ganze Philosophie auch von denen, das liegt mir irgendwie nah. Also da kann ich was mit anfangen, mehr als mit katholischer Religion zum Beispiel. [I.: Warum kannst du mit der Philosophie was anfangen? Was ist da so?] Ach, weil das einfach. Das ist net so vorgegeben wie so bei der christlichen Religion. Das ist halt die, die ich am besten kenn, weil ich damit aufgewachsen bin. Das ist net so stur. Da hat man viel mehr Freiheiten. Man kann. Da wird einem viel mehr erlaubt. Ne andere Meinung zu haben, irgendwas zu denken. Oder auch die Vorstellungen, was vielleicht mal nach em Tod ist oder so, des ist da einfacher. Also mir fällt das leichter. Das kann ich nachvollziehen. „Ja ja, das könnte sein, das denk ich mir auch so.“ Das ist für mich genau das Richtige. […] Die lösen das (ihre Konflikte: Anmerkung: M.N.) eigentlich immer demokratisch. Da war selbst der Häuptling net der, der am Ende gesagt hat „und so machen wir’s!“. Es gab immer zumindest ne Mehrheit und Konsens für irgendwelche Entscheidungen. Das gefällt mir halt auch. Weil ich mag nix weniger, als wenn einer kommt und sagt: „Du musst aber jetzt, weil ich das so sehe!“. Und deshalb, vielleicht. Das spielt sicherlich auch ne große Rolle ja, dass es immer nur so, halt Abstimmungen gab. Was ich halt auch dabei immer gut finde. Die waren ja auch aufeinander angewiesen. Da hat jeder seine Rolle in der Gruppe gehabt und es sind auch zum Beispiel Leute, die behindert waren oder irgendwie anders waren, die wurden net ausgegrenzt. Das war für die normal, dass es sowas gibt. [I.: Aber die hatten ja auch irgendwie Probleme und Konflikte.] Natürlich und net zu knapp, wie man weiß. Die sind natürlich untergegangen mit ihrer Strategie. Das ist schon schlimm eigentlich. Aber das hält mich net davon ab, das trotzdem für richtig zu halten.“ (15:21-16:12)
Cora übt Kritik am christlichen Wertesystem, so wie sie es durch ihre Erziehung kennen gelernt hat. Ihre eigene religiöse Erziehung beschreibt sie damit als eine moralische Verhinderungspädagogik – etwas, was eine angemessene Entwicklung in der Kindheit unmöglich machte. Cora erlebte die katholische Religion als unverständlich, einengend, unflexibel und die individuellen Freiheiten beschneidend. So sucht sie sich eine Ersatzreligion. Dies unterstreicht die grundsätzliche Bedeutsamkeit einer religiösen Orientierung für Cora als Lebens- und Orientierungshilfe. Ihre Wahlreligion beschreibt sie als praxisnah, aneignungsorientiert (viele Freiheiten, sie kann auswählen) und den Menschen in seiner Würde achtend. Die Interviewte nutzt die Bücher über Indianer also nicht, um Expertin im Fachgebiet ‘die Indianer Nordamerikas’ zu werden; sie will nicht umfangreiches Wissen erwerben und das Thema mit Distanz erforschen und beurteilen. Ihr Ziel ist es, Antworten auf ihre Glaubensfragen zu finden. Sie integriert Teile der indianischen Kultur direkt in ihr sonst westlich geprägtes Wertesystem. In der Natur-Religion der Indianer findet Cora Antworten auf die für sie zentralen Fragen des richtigen Zusammenlebens von Menschen. Konflikte, wie wir sie kennen, können sich nicht entwickeln, wenn jeder jeden achtet und respektiert und wenn niemand Macht über den Anderen ausübt. Die Konflikte der Indianer beschreibt Cora dann auch als Konflikte mit der Außenwelt (mit anderen Gesellschaftssystemen) und nicht nach innen (innerhalb des Gesellschaftssystems). Damit werden Konflikte bedeutsam als Abgrenzung von Gesellschafts-
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systemen gegeneinander und im Wettstreit der Systeme. Die Art und Weise der Indianer mit Konflikten umzugehen, bewertet Cora als die urdemokratische und moralisch einwandfreie Strategie. Dass die Indianer damit untergingen, wertet sie nicht als Beleg gegen diese Umgangsweise, sondern als Beweis für den moralischen Zerfall unserer westlich orientierten Gesellschaftssysteme. Systeme, die auf Macht und Gewalt fußen, zerstören die demokratischen, auf Miteinander und Verständigung fußenden Systeme und entlarven sich damit selber als unmenschlich und unmoralisch. Cora weitet ihre anfängliche Religionskritik also zu einer globalen Kritik am gesamten, westlich orientierten Gesellschafts- und Wertesystem aus. Der Ursprung für unsere gesamten Konflikte liegt für Cora im kapitalistischen Grundverständnis (vgl. 16:15-26). Nicht das Miteinander steht in unserer modernen Gesellschaft im Vordergrund, sondern Individualisierung, Wettbewerb, Abgrenzung und die Risikoverlagerung auf den Einzelnen. Die unweigerliche Konsequenz sei, dass es viele Konflikte gebe, und dass Einzelne dadurch zugrunde gehen. Während Cora feststellt, dass die meisten Menschen dieses System unterstützen, distanziert sie sich von ihm. Sie tut dies zwar nicht auf der Handlungsebene (z.B. indem sie aussteigt und nach Amerika zu den Indianern auswandert), sondern zunächst auf der kognitiven und theoretischen Ebene. Auch wenn sie als Chemielaborantin in diesem System funktioniert, hat sie es durchschaut.
2.1.4.3
Zusammenfassung
In welchen inhaltlichen, außerbetrieblichen Kontext ordnet Cora die betrieblichen Konflikte ein? Cora spricht im Interview alle gesellschaftlich relevanten, außerbetrieblichen Bereiche an: eigene Familie, Elternhaus, Schule, Nachbarschaft, Freunde, Verein, Kirche und Gesellschaft. Aus diesen Bereichen erzählt sie zwar keine konkreten Konfliktgeschichten, doch behauptet sie für alle Bereiche eine grundsätzliche Konflikthaftigkeit. Alles was außerhalb von Coras Kernfamilie existiert, ist dabei problematisch, was die Art und Weise des Zusammenlebens und die Form der Konfliktaustragung angeht. Hier gibt es unnötige Konflikte (z.B. wenn Nachbarn Zäune errichten) und moralisch verwerfliche Konfliktaustragungen. Mit ihren Eltern gibt es wiederholt Konflikte, einige davon sind unlösbar. Der Betrieb, als ein Teilgebiet dieser Gesellschaft, unterscheidet sich beim Thema Konflikte nicht. Es sind im Prinzip die gleichen Ursachen (menschliche Schwächen und Verhaltensweisen) im Betrieb und in anderen gesellschaftlichen Systemen, die zu Konflikten führen und eine angemessene Bearbeitung verhindern. Die Kleinfamilie dagegen ist für Cora eher ein Ort der
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Harmonie und damit ein Gegenmodell zum Rest der Gesellschaft. Sie verbindet eine ähnliche Geisteshaltung, Lebenseinstellung und Gerechtigkeitsvorstellung. Lernen ist aus Coras Vermittlerperspektive das Aneignen unveränderlicher, moralischer Grundsätze und das Verlernen von materialistischen und egoistischen Ideen. Cora steht mit ihrer Person für eine moralisch einwandfreie, stabile und verlässliche Vermittlerin im Dschungel von betrieblichen und außerbetrieblichen Unsicherheiten und Unverbindlichkeiten.
2.1.5 Zusammenfassung der gesamten Interpretation Betriebliche Konflikte im Kontext von Beruf, Betrieb, Lebenswelt und Moral Cora hebt das Thema betriebliche Konflikte auf eine abstrakte, moralische Bewertungsebene. Überall registriert sie Konflikte – in Familie, Elternhaus, Schule, Nachbarschaft, Vereinen, Kirche, staatlichen bzw. lebensweltlichen Gemeinschaften und natürlich auch in den Betrieben/ an den Arbeitsplätzen. Auf allen Ebenen findet ein Kampf um die richtige Moral, die richtige Weltanschauung statt: Auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene ist dies der Kampf einer moralisch überlegenen gegen eine moralisch unterlegene Gesellschaftsidee. Weil die Unmoralischen ihre Interessen gewaltsam durchsetzen, wurden und werden die ‘Guten’ (z.B. die Indianer) vernichtet. Auf der betrieblichen Ebene ist dies der Kampf, den eine neue, stark an Flexibilität und Veränderungen orientierte Unternehmenskultur gegen eine unwiederbringlich vergangene, traditionelle Unternehmensphilosophie, die immer noch in den Köpfen und Herzen der langjährig beschäftigten Mitarbeiter vorhanden ist, kämpft. Früher gab es soziale Verantwortung, Beständigkeit, Sicherheit und klare Regeln für Kommunikation und Konfliktbewältigung. Heute herrsche dagegen Unsicherheit, Abwertung der Menschen, Angst und Misstrauen. Die Managementebene setze heute ihre Interessen gewaltsam auch gegen die Mitarbeiter durch. Auf der individuellen Ebene zeigt sich dieser moralische Kampf, wenn Cora (als moralisch legitimierte Pädagogin) versucht, auf ihre unmoralische Umwelt einzuwirken, um sie zu bessern. Konflikte sind für Cora ein Hinweis auf die menschliche Fehlbarkeit und die moralischen Defizite der Menschen. Betriebliche Konflikte erlebt Cora als Bedrohung und Chance von berufsbezogener Entwicklung, Biographie und Lebenswelt – als wichtiges, aber nicht ausschließliches Betätigungsfeld für sie als betriebliche Pädagogin – als Mittel der Selbstpositionierung im Beruf und im Betrieb – und als Möglichkeit zur Einflussnahme auf betriebliche Prozesse (vgl. auch Abbildung 4). Betriebliche Konflikte haben für Cora eine weit reichende Bedeutung, da es bei ihr keine klare Trennung zwischen Beruf und Betrieb und
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zwischen betrieblicher und privater Lebenswelt gibt. Käme es in einem Bereich zum ‘Supergau’, hätte dies direkte, massive Auswirkungen in alle anderen Lebensbereiche hinein. Beim Umgang mit den betrieblichen Konflikten steht für Cora die eigene Handlungsfähigkeit im Vordergrund. Hier versucht sie keine persönliche Schwäche zu zeigen. Sie will entscheiden, ob sie sich einmischt oder zurückhält. Konflikte, in denen Cora sich Anschuldigungen ausgesetzt fühlt, versucht sie, sich nicht aufzwingen zu lassen. Sie geht in die Defensive und steigt aus der Eskalation aus. Mischt Cora sich aber in einen Konflikt ein, tut sie dies ausschließlich als moralisch motivierte Vermittlerin. Dabei stellt sie immer wieder fest, dass auch Intervenieren zu Konflikten führen kann. Sie steht dann als Person für eine bestimmte Form des Umgangs mit Konflikten. Sie schaltet sich in die Hierarchie ein – steht zwischen Betroffenen, einer unzufriedenen Gruppe und der Vorgesetztenebene. Auf den Betroffenen wirkt sie pädagogisch ein, damit der sein unmoralisches Verhalten ablegt. Auch Bestrafungsmaßnahmen, die heute unter Mobbinghandlungen diskutiert werden, sind dabei als allerletztes Erziehungsmittel akzeptiert. Intervenieren in sozialen Konflikten bedeutet also den Versuch, einen unmoralischen Menschen zu bessern. Wie man Konflikte auch konstruktiv, ohne zu verletzen, fair austragen kann, erlebt Cora in ihrer Kleinfamilie. Umgang mit Konflikten ist für sie ein wichtiges Thema in der Kindererziehung und auch ein Barometer für das Funktionieren ihrer Paarbeziehung. Als Mittel der Konfliktbearbeitung nutzt sie in ihrer Kleinfamilie mit Erfolg Gespräche und einen auf gegenseitiger Achtung gründenden Umgangsstil. Die großen gesellschaftspolitischen Konflikte in dieser Welt nutzt Cora, um die, sie direkt berührenden Schwierigkeiten, mit denen sie sich in ihrem Alltag (Familie, Betrieb) auseinandersetzen muss, zu begreifen (als Deutungsgrundlage). Diese Betrachtungsweise hilft ihr z.B. die regelmäßig wiederkehrenden Streitereien mit ihren Eltern nicht zu nahe an sich heran zu lassen. (Alte Leute sind eben im ‘üblichen’ Denken verwurzelt.) Gegen die Ausrottung der Indianer oder die Ungerechtigkeiten im Schulsystem geht Cora nicht aktiv vor. Sie betätigt sich weder politisch, noch tritt sie durch direkte persönliche Unterstützung von Geschädigten in Erscheinung. Lernen und Lehren findet sowohl im Zusammenhang mit Konflikten als auch mit Nicht-Konflikten statt. Im betrieblichen Bereich geht es inhaltlich hauptsächlich um das Verinnerlichen einer (gerechten) Unternehmenskultur. Gelegentlich thematisiert sie aber auch arbeitsbezogenes Lernen von Arbeitsabläufen und Arbeitsroutinen. Den eigenen Erwerb ihrer eher berufsbezogenen Fähigkeiten thematisiert Cora im Zusammenhang mit biographisch bedeutsamen Ereignissen. Auch nach der Ausbildung, nach dem Erziehungsurlaub musste sie lernen. Auf zurückliegende, erfolgreiche Lernprozesse weist sie aber eher ne-
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benbei hin, indem sie ihr erworbenes Wissen herausstreicht. Konflikte tauchen im Zusammenhang mit berufsbezogenen Fragen eher nicht auf. Bei der Einarbeitung der neuen KollegInnen im Labor findet man eine Mischung aus verdeckter (unsichtbar gemachter) Belehrung und Sozialarbeit. Sie ist die Laborantin, die die Arbeitsabläufe im Labor kennt. Und sie ist bereit, die besonderen Bedürfnisse ihres Gegenübers bei der Vermittlung zu berücksichtigen. Durch ihr persönliches, starkes Engagement wird aber auch hier nicht nur Fachwissen vermittelt, sondern es wird auch eine moralische Unterstützungskultur im Labor etabliert. Die täglichen Kleinkonflikte mit dem Chef unterstützen die Kommunikation und die Lernprozesse im Labor. Ihre eigentliche Berufung sieht Cora in ihren Aufgaben als betriebliche Pädagogin in den Konflikten ihrer KollegInnen. Sie tritt mit Änderungsappellen an sie heran. In diese Rolle bringt sie sich als moralischer, reifer und lebenserfahrener Mensch, als Chemielaborantin mit 25 Jahren Berufserfahrung, als erfahrene Konfliktmoderatorin und als die Interessen der Belegschaft im Auge habende Betriebsrätin ein. Wissensdemonstration als Schutz gegen generalisierte Lernerwartungen: Wenn Cora von ihren eigenen Lernerfahrungen berichtet, tut sie dies im Rückblick fast immer, indem sie das erworbene Wissen herausstreicht, den Lernprozess aber unberücksichtigt lässt. Durch die permanenten, betrieblichen Veränderungen werden allerdings verstärkt Lernanforderungen auch an Cora gestellt. Und auch hier schwebt die Androhung einer Bestrafung über allem. Wer sich den Veränderungserwartungen offen widersetzt oder, wer sich nicht ändern kann, wird in letzter Konsequenz aus der ‘Community’ ausgeschlossen. Indem Cora immer wieder herausstreicht, dass sie bereits über überdurchschnittlich viel Wissen verfügt und dies auch erfolgreich z.B. in der Konfliktmoderation einsetzt, demonstriert sie grundsätzliche Lernbereitschaft und entzieht sich teilweise dieser Lernzumutung. Verinnerlichen einer Unternehmenskultur als Ergebnis von freiwilligen, emotional positiv besetzten Lernprozessen: Tiefes nachhaltiges Lernen fand bei Cora hauptsächlich zum Beginn ihrer Berufstätigkeit statt. Cora verbindet mit der ‘guten alten Zeit’ viele positive Erfahrungen. Cora ist nicht bereit dieses Wissen zu verlernen, weil andere es für überholt halten. Sie schützt es heute, indem sie es teilweise verbirgt. Oberflächliches Organisationslernen als Ergebnis einer erzwungenen, als bedrohlich empfundenen Anpassung: Auf die aktuellen Lernzumutungen des Managements reagiert Cora mit einem oberflächlichen, flüchtigen Lernen. Sollte ein anderes Management andere Werte vertreten, ist es einfach, auch darauf wieder mit Lernen zu reagieren. Das so erworbene Wissen ist ehr oberflächlich, aber handlungsleitend. Durch ein solches Lernen werden aber weniger die positiven Verhaltensweisen eingeübt. Als Konsequenz aus dem Lernvorgang ergibt
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sich Wissen darüber, was man in Zukunft unterlassen sollte. Will Cora sich im Betrieb behaupten, muss sie sich der neuen Unternehmensphilosophie anpassen. Sie tut dies lautstark und demonstrativ, aber auch halbherzig und oberflächlich.
Abbildung 4:
Zusammenfassung Fallportrait Cora G.
Cora G. – zwischen Belehrungsabsicht und Lernverweigerung Konflikte und der Umgang damit 2 markante Konflikte als Kompetenzdemonstration der intervenierenden, betrieblichen Pädagogin/ nicht als Betriebsrätin: Es sind immer die Konflikte der anderen Der frühe Fall: Der Konflikt mit dem Auszubildenden Der Internetmissbrauch durch den erwachsenen Laboranten Latente Konflikte und der Umgang mit ihnen als Hinweis auf die Qualität der Unternehmenskultur und als Dauerbeschäftigung für die betriebliche Pädagogin: Ihr privater Konflikt mit dem Kollegen Die Umgruppierung der Kollegin Dauerstreit mit ihrem jetzigen Vorgesetzten
Lernen und Lehren
Konfliktlernen als direktes Erfahrungslernen (mit Lob oder Tadel durch den Lehrer) – Cora als moralisch ‘Lehrerin’ ihrer KollegInnen und des Chefs; Mischung aus Belehrung und Sozialarbeit Lernverweigerung: Cora grenzt sich gegen im Mobbingseminar Vermitteltes ab Lerndemonstration als Unterwerfungsgeste, um den Konflikt zu beenden und als Schutz gegen generalisierte Lernerwartungen Verinnerlichen einer Unternehmenskultur als Ergebnis von freiwilligen, positiven, emotional besetzten Lernprozessen Oberflächliches Organisationslernen als Ergebnis einer erzwungenen, bedrohlichen Anpassung Unsichtbar gemachte Belehrung des Internetsurfers, der Kollegen, des Chefs
Umgang mit Konflikten initiiert Kleinkonflikte, schaltet sich (ungefragt) in Konflikte anderer ein, Unterstützung bei Besserung/ Bestrafung wenn Besserung ausbleibt (Mobbing als Mittel der Konfliktintervention) geht eigenen Konflikten eher aus dem Weg, verhindert sie indem sie die Aufmerksamkeit auf Fälle fürs Intervenieren legt Betrieb als eigenständige soziales System: Unternehmenskultur, ÄndeBeruf und Betrieb rungszumutungen, viele kleine und einige große Konflikte Betrieb als Ort der individuellen Entwicklung zwischen erfolgreicher Laborantentätigkeit, innerbetrieblicher Pädagogin und Betriebsrätin. Überall Konflikte (außer in der Kleinfamilie) außerberufs- und Schule, Familie, Kindererziehung, Fußballverein, Nachbarschaft, Zuaußerbetriebliche sammenleben der Völker Themen
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Hinter Konflikten und Harmonie versteckte Lernverweigerung: Cora kann sich nicht offen den Lernzumutungen widersetzen, damit wäre sie über kurz oder lang für den Betrieb untragbar. Sie entzieht sich auf zweierlei Weise den Veränderungserwartungen im Betrieb: Bezogen auf ihre Arbeit, wehrt sie sich gegen die Forderung ihres Chefs, risikoreichere Arbeitstechniken einzusetzen, indem sie mit ihm streitet. Sie verweigert sich und beharrt darauf, dass nur ihr Wissen das richtige ist und wertet ihn als fachlich inkompetent ab. Diese Lernverweigerung wird als kontroverse Fachdiskussion sichtbar. Sie wird dadurch verdeckt, dass Cora das Nicht-Wissen ihres Chefs in den Vordergrund stellt. Im Zusammenhang mit Coras Einordnung des Internetkonflikts als normalen Konflikt wird eine weitere Lernverweigerungsstrategie sichtbar. Cora präsentiert ein falsches Wissen (bewusst oder unbewusst), um sich dem Lernen zu entziehen. Diese Strategie ist so versteckt, dass nur eine intensive Analyse nach einem ersten diffuser Eindruck (Nach zwei (Mobbing)--Seminaren müsste sie doch wenigstens die Definition verstanden haben!) zur Aufhellung geführt hat. Wird Cora im Seminar mit unzumutbaren Theorien konfrontiert, blendet sie die einfach aus.
2.2 Ein unerfahrener Vorgesetzter - der über Beobachtung und Konflikte seinen Beruf als Führungskraft erlernt
2.2.1 Rico – Mobbing als Dilemma für Vorgesetzte: Interpretation der Eingangssequenz Rico K. (33) arbeitet seit elf Jahren in einem Unternehmen, das Reifen produziert. Seit fünf Jahren ist er, nach innerbetrieblichem Aufstieg, der disziplinarische Vorgesetzter von 38 Produktionsmitarbeitern. Er gehört zur Gruppe der Intervenierenden, weil er sich in einem Seminar zum Thema Mitarbeiterführung als Intervenierender in den Konflikten seiner Mitarbeiter präsentierte. Das Interview findet nach seiner 14tägigen dienstlichen U.S.A.- Reise, direkt nach Feierabend, in der Wohnung der Interviewerin statt. Es wird zügig mit dem Interview begonnen. Die Aushandlung der Gesprächsebene gestaltet sich dann doch als schwierig: I.: So jetzt läuft’s aber. R.K.: Ja. I.: Ja, Also, ich interessiere mich einfach für deine Erfahrungen mit schwierigen Situationen, mit Konflikten im Betrieb. Und was du da besonderes erlebt hast. (.) Und wenn du einfach so erzählst, was dir zu dem Thema einfällt. (.)
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In Konflikten Intervenierende R.K.: Zum Thema Mobbing jetzt direkt, ja? I.: Ja. Also. Konflikte im Betrieb – das ist das Thema. R.K.: Zwischen den einzelnen Mitarbeitern oder einfach jetzt? Da ist schon die erste Blockade jetzt. (Lachen) I.: Ja, das Thema meiner Arbeit ist ja so: Konflikte im Betrieb. R.K.: Ja. I.: Und was dir so zu dem Thema einfällt. (…) R.K.: Hmm. (.) Können wir mal stopp machen? I.: Wir müssen nicht stopp machen. Das Band ist ganz ganz lange. R.K.: Okay. I.: Also da ist genug Zeit auch zum Überlegen. R.K.: Weil ich jetzt nicht direkt weiß, wo ich anfangen soll. Wenn wenn. I.: Du kannst da erzählen, anfangen zu erzählen, wo du anfangen möchtest. R.K.: Von ner speziellen Situation, die ich selber mal erlebt habe oder? I.: Ja. Das entscheidest du, wie du anfängst. R.K.: Ja. (.) (1:03 – 23)
Durch die Worte „So jetzt läuft’s aber.“ nimmt die Interviewerin die Abgrenzung zwischen beginnendem Interview und vorangegangenem Alltagsgespräch vor. Der Interviewte stimmt mit seinem „Ja“ dem offiziellen Beginn zu. Anschließend umreißt die Interviewerin das Thema grob mit ihrer Eingangsfrage. Sie erklärt, dass sie sich für Ricos „Erfahrungen mit schwierigen Situationen, mit Konflikten im Betrieb“ interessiere. Die Bedingungen für die Auswahl des zu Erzählenden sind lediglich, dass es sich um ureigene Erfahrungen und um nichtalltägliche Geschichten handeln muss („was du da besonderes erlebt hast.“). Abschließend fordert sie ihn auf, „einfach“ mit dem Erzählen zu beginnen. Sie schließt mit der Aufforderung, zu erzählen was ihm einfalle. Die Interviewerin entscheidet, dass das Interview zu diesem Zeitpunkt beginnen soll. Sie macht dies deutlich, indem sie den Beginn der Aufnahme kommuniziert. Das bedeutet, dass alles was ab jetzt gesprochen wird, auf Band festgehalten wird. Mit ihrer anschließenden, sehr allgemein gehaltenen Umschreibung von konflikthaften Situationen im Arbeitszusammenhang räumt sie dem Interviewten zunächst viel Gestaltungsfreiheit ein. Er kann oder muss entscheiden, was er erzählt und wie er, wenn er über vielfältige Konflikterfahrungen verfügt, beginnt – ob er von kleineren innerbetrieblichen Irritationen, normalen alltäglichen Schwierigkeiten und Kleinkonflikten (z.B. die eines Vorgesetzten), von massiven Konflikten oder gar von dramatischen Mobbingvorfällen mit ihm als Konfliktbeteiligter, Beobachter oder Intervenierender erzählt. Er könnte also über alle nicht-privaten Konflikte berichten. Die Erzählaufforderung lässt dazu viel Raum. Das könnte Rico als Chance (die er nutzt) aber auch als Zumutung (gegen die er sich wehrt) begreifen. Mit „wenn du einfach so erzählst“ bekräftigt sie diese noch einmal.
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Welche Schwierigkeiten könnten sich für ihn aus dieser Erzählaufforderung ergeben? (1.) Sollte es für ihn keinen einzelnen, zentralen Konflikt, sondern mehrere gleichbedeutende geben, könnte sich für ihn ein Priorisierungsproblem ergeben: Mit was fange ich an? Was ist mir am wichtigsten? (2.) Durch die Engführung auf eigene Erfahrungen müsste er, sollte er betriebliche Konflikte lediglich aus sehr weiter Distanz kennen (z.B. weil es in seinem näheren Umfeld eher keine Konflikte gibt), erklären, dass er über dieses Thema nichts erzählen kann. Dann müsste man sich allerdings fragen, warum er sich in der Öffentlichkeit als in Konflikten Intervenierender präsentierte. Und (3.) könnte sich durch die Fokussierung auf besondere Ereignisse ein Beurteilungsproblem ergeben, denn was für ihn persönlich bedeutsam ist, kann für seine Mitarbeiter oder seinen Chef unwichtig sein. Auch weiß er nicht, welche Bewertungskriterien die Interviewerin für Bedeutsamkeit auswählt. Er könnte sich fragen, was für die Interviewerin besondere Ereignisse sind. Allerdings ist Rico mittlerweile ein erfahrener Vorgesetzter. Entscheidungen muss er regelmäßig auch in unsicheren Situationen treffen. Es ist also eher zu erwarten, dass er die offene Formulierung als Gestaltungsspielraum nutzt. Doch wie ist die abschließende Bemerkung „was dir zu dem Thema einfällt“ zu deuten und wie passt sie zur vorangegangenen Erzählaufforderung? Die Interviewerin macht ihre hohen Erwartungen an den Interviewten deutlich: Ihm soll etwas zum Thema einfallen. Damit signalisiert sie, dass das Interview aus ihrer Sicht, für ihn als Interviewten eine Gedächtnisleistung oder sogar ein situationsbezogener Schaffensprozess ist. Die Interviewerin macht damit das Gelingen des Interviews vom Interviewten abhängig und nicht etwa davon, dass sie die richtigen Fragen stellt. Was wäre aber, wenn Rico überhaupt nichts zum nebulös umschriebenen Thema einfallen würde – oder wenn er von den „falschen“ Ereignissen berichten würde? Dann wäre Rico möglicherweise als Interviewpartner ungeeignet, das Interview für die Forschungsarbeit nicht zu verwenden und er wäre die 100 Kilometer zur Interviewerin vergebens gefahren. Die Formulierung baut also einen gewissen Erwartungsdruck auf. Für welche Situationen ist ein solcher Erwartungsdruck kennzeichnend? Das sind am ehesten Prüfungssituationen. In Prüfungen wird konkretes Wissen abgefragt. Rico könnte sich aufgrund der Formulierung der Interviewerin fragen, über welches Wissen über Konflikte er verfügen müsste. Er könnte annehmen, dass ganz bestimmte, richtige, klare und knappe Antworten von ihm erwartet werden. Dieser letzte Halbsatz steht somit im Widerspruch zur vorherigen, offenen Erzählaufforderung. Jetzt interessiert eben nicht mehr alles, sondern nur noch das, was unter Wissensaspekten bedeutsam ist. Rico muss jetzt entscheiden, ob er die Interviewsituation als reine (eher eng gehaltene) Wissensabfrage oder als (freizügige, weite) Erzählsituation begreift.
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Bei der kommunikativen Aushandlung der Modalitäten für das Interview will man als Forscher einerseits eine Kommunikation auf Augenhöhe erreichen (damit der Interviewte frei erzählt), andererseits muss klar sein, dass der Interviewer die Führung des Gesprächs innehat. Das gilt es zu Beginn auszuhandeln. Bei dem hier eingesetzten Gesprächsimpuls könnte für Rico die Rollenfindung schwierig sein. Er wird sich bei seiner Rollensuche zwischen dem zu prüfenden ‘Schüler’ und dem erfahrenen Intervenierenden, der von seinen Konflikterfahrungen berichten kann, entscheiden müssen. Durch die polarisierende Formulierung erschwert die Interviewerin Ricos Positionierung im Interview. Vielleicht hat die Uneindeutigkeit bei ihm aber gar nicht zur Verunsicherung geführt. Dann hätte er die Doppeldeutigkeit analysiert und würde jetzt die Klarstellung einfordern. Das wäre dann ein Hinweis darauf, dass der Interviewte (als Vorgesetzter) sehr strukturiert und analytisch vorgeht – er erst mit dem Erzählen anfängt, wenn die Aufgabenstellung klar ist – und, dass er dabei nicht nur von sich selbst ausgeht, sondern auch andere Perspektiven mit einfließen lässt. Ein solches Verhalten wäre dann als Kompetenzdemonstration einzuordnen. Eine dritte Erklärung wäre, er weiß nicht wie er mit dem Erzählen beginnen soll, weil für ihn der Beginn des Interviews zu unvorbereitet kam. Vielleicht hat er erwartet, dass es zu Anfang eine Einweisung in die Tätigkeit des Interviewten gibt, sowie es in seinem Betrieb für jeden, der neu an einer Maschine arbeiten soll, eine Einweisung gibt. Das würde die Vermutung untermauern, dass das Interview für Rico eine Bedeutung als minimale Lernsituation haben kann. Er wäre dann bereit hier zu lernen, was es zum Thema ‘Interviewer sein’ zu lernen gibt. Nach einer Einweisung würde er nicht nur die richtigen (Praxis-) Geschichten erzählen, sondern sie auch richtig erzählen können. Das wäre dann eine Demonstration seiner grundsätzlichen Lernbereitschaft. Es wäre aber auch möglich, dass ihm, durch den auf Erzählen abzielenden Einstieg durch die Interviewerin, erst klar geworden ist, dass er von etwas ganz anderem ausgegangen war. Dann wäre für ihn das Erzählen selber das Problem. Vielleicht dachte er, die Interviewerin werde ihn schon durch gezielte Fragen durch das Gespräch hindurchleiten. Auf Rico wirkt die Einleitung der Interviewerin dann auch nicht als Erzählimpuls. Er scheint entweder von der Doppelbotschaft verwirrt zu sein, oder keine der im Raum stehenden Möglichkeiten zur Positionierung im Interview passt zu seinen eigenen Erwartungen. Sie veranlasst ihn zu einer Gegenfrage: „Zum Thema Mobbing jetzt direkt, ja?“ Damit versucht Rico an der thematischen Ausrichtung anzuknüpfen und fordert eine Konkretisierung der nebulösen Konfliktumschreibungen ein, indem er selbst das „Thema“ präziser fasst. Damit reagiert er auf der Metaebene auf die Uneindeutigkeit. Bevor er etwas falsch macht, fragt er lieber nach. Möglicherweise hat Rico einen konkreten Mobbingfall erlebt, den er hier erzählen könnte. Das bietet er an, zeigt aber durch die Andeutung einer
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nicht näher gekennzeichneten Alternative, dass er auch bereit ist, sich auf eine andere Vorgehensweise bzw. auf andere Themen einzulassen. Als inhaltliche Alternative zu einem so schlimmen Konflikt könnte er weniger spektakuläre im Auge haben. Rico scheint die Unterscheidung (direkte) Mobbingkonflikte und Konflikte, die kein Mobbing sind, vorzunehmen. Was meint aber die Konkretisierung von Mobbing als „direkt“? Gibt es direktes und indirektes Mobbing? Direkt mobbt jemand, wenn er eine Person persönlich attackiert. Als indirektes Mobbing wird allgemein das Wirken im Hintergrund (andere anstiften) beschrieben. Rico könnte aber auch die Unterscheidung zwischen direkt, persönlich erlebten (Mobbing-)Konflikten und nur aus der Distanz beobachteten Konflikten vornehmen. Er könnte aber auch wissen wollen, ob er direkt, ohne Umwege zum Thema Mobbing kommen soll. Rico könnte also von ganz unterschiedlichen Konflikten berichten. Auf jeden Fall zeigt er, dass er der Experte/ der erfahrene Intervenierende ist, für den die Interviewerin ihn wohl bis jetzt gehalten hat. Aber er hat auch Fragen. Das kennzeichnet ihn als einen hoch motivierten Wissbegierigen, der auch aus dieser Situationen persönlich profitieren will, indem er lernt. Rico verbalisiert dies auf der Inhaltsebene, indem er dort eine Konkretisierung einfordert, die er im Vorgespräch nicht für nötig gehalten hatte. Wenn die Interviewerin seine Frage jetzt einfach mit ja beantworten würde, wäre zu erwarten, dass Rico mit dem Erzählen beginnt. Würde sie hingegen nein sagen, könnte Rico eine nähere Erklärung für den weiteren Ablauf einfordern. Die Interviewerin sagt zwar zunächst „ja“, relativiert ihre Aussage aber anschließend wieder, indem sie auf Konflikte und nicht auf Mobbing fokussiert. Sie besteht weiterhin auf ihrer vagen Formulierung. Sie gibt ihm auf seine Frage, ob er direkt etwas zu Mobbing erzählen soll, damit eigentlich keine Antwort. Sie bekräftigt lediglich, dass es um das Thema „Konflikte im Betrieb“ gehe. Damit reagiert sie nicht auf sein Bedürfnis nach näherer Erklärung, sondern hält ihre uneindeutige Erzählerwartung an ihn unverändert aufrecht. Für die Interviewerin bedeutet die Fokussierung auf Konflikte eine Ausweitung des Themas: „Ja du kannst von allen betrieblichen Konflikten sprechen – auch von Mobbingkonflikten.“ Sollte Rico allerdings einen grundlegenden Unterschied zwischen allgemeinen Konflikten und Mobbing sehen, muss er diese Aussage als Einschränkung empfinden: „Ich soll also nicht von Mobbingfällen, sondern von Konflikten berichten.“ Das Verweigern einer Hilfestellung könnte er darüber hinaus als bewusstes Vorführen seines Nicht-Wissens, seines Nicht-Erinnerns interpretieren. Durch ihren erneuten Hinweis auf das „Thema“ – diesmal mit der Ausweitung „meiner Arbeit“ – hält sie auch die an Rico gerichtete schwierige Erwartungshaltung unverändert aufrecht. Vielleicht ist Rico aber nur unter bestimmten Bedingungen bereit, das Interview fortzuführen – z.B. wenn es sich auf die Beantwortung von ein paar konkreten Fragen beschränkt, wenn die Interviewerin
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ihm vorher den genauen Ablauf erklärt und/ oder wenn sie die Erwartungen an das Interview/ an den Interviewten reduziert. Rico ist immer noch zum Interview bereit. Jetzt will er wissen, ob er von Konflikten „zwischen den einzelnen Mitarbeitern“ berichten solle. Eine mögliche Alternative deutet er an, ohne sie näher zu beschreiben („oder einfach jetzt“). Rico beißt sich nicht an dem Wort Mobbing fest. Er ist bereit von Konflikten zwischen einzelnen Mitarbeitern zu berichten. Indem er konkrete Vorschläge macht, fordert er die Interviewerin als Gestalterin der Anfangssituation heraus. Sie soll sagen, was sie hören will. Sie ist sich hingegen nicht bewusst, welche Beziehungsdefinition hier im Raum steht, welche Probleme Rico am Erzählen hindern. Jetzt nimmt Rico einen Strategiewechsel vor. Er versucht nicht mehr auf der inhaltlichen Ebene (Konflikte oder Mobbing?) die Klärung zu erreichen, sondern kommuniziert direkt auf der Beziehungsebene. Er weist auf seine Verwirrtheit, auf seine „erste Blockade“ hin. Damit outet er sich als Nicht-Wissender, dem zumindest im Moment nichts einfällt. Er versucht aus der festgefahrenen Situation auszusteigen und fordert die Interviewerin ganz offen als Lehrende heraus. Sie könnte das Interview aus der kritischen Lage herausführen, wenn sie dem Interviewten nähere Informationen über das Interviewsetting geben würde. Doch da sie nicht weiß, warum das Interview nicht zum ‘Laufen’ kommt und außerdem verhindern will, dass aus dem Interview eine Seminarstunde wird, hält sie an ihrer Strategie fest, den Interviewten nicht weiter in seinem Findungsprozess zu unterstützen. Sie wiederholt nur ihre vorherige Aussage. Das Thema ihrer Arbeit sei Konflikte im Betrieb. Rico bestätigt, dass ihm das übergeordnete Thema klar ist („Ja“). Er erklärt damit, dass er verstanden hat, um was es inhaltlich geht. Nicht hier liegen die Unklarheiten. Und die Interviewerin wiederholt die, den Erzählimpuls irritierende Formulierung „was dir so zu dem Thema einfällt“. Unreflektiert hat sie die kritische Formulierung zum zweiten Mal gebraucht. Sie zementiert damit die Quasi-Prüfungssituation, in der er der unwissende Prüfling ist, dem sie keine Chance zum Lernen gibt. Nachvollziehbarerweise reagiert Rico jetzt mit dem Wunsch, die Aufnahme zu stoppen. Hier wird eine fortschreitende Verweigerung von Seiten des Interviewten sichtbar. Zunächst hat er nur von einer Denkblockade gesprochen. Jetzt fragt er, ob das Aufnahmegerät vorübergehend ausgeschaltet werden kann. Noch hat Rico aber nicht aufgegeben. Was ist der Unterschied, ob das Aufnahmegerät läuft oder nicht? Durch den Start der Aufzeichnung hat die Interviewerin den Beginn des eigentlichen Interviews gekennzeichnet. Im Interview erhält Rico keine Antworten auf seine grundsätzlichen Fragen. Vielleicht möchte der Interviewte am liebsten aus dem Interview aussteigen, weil es nicht so funktioniert, wie er es sich vorgestellt hat. Für Rico könnte die Situation ein Erleben von
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Inkompetenz, von Nicht-Wissen bedeuten, dem er sich entziehen will. Wahrscheinlicher ist aber, dass er hofft, dass ihm die Interviewerin bei gestoppter Aufnahme, die gewünschten Informationen und die Belehrung zukommen lässt, um dann das Interview fortzusetzen, erfolgreich zu beenden und es somit als eigene positive Erfahrung mitzunehmen. Dann hätte die Unterbrechung das Ziel den Erfolg des Interviews und des eigenen Lernens sicherzustellen. Auch für den Vorgesetzen Rico könnten das Abbrechen des Interviews eine Unfähigkeitsbestätigung und der Hinweis auf fehlende Flexibilität sein. Möglicherweise handelt es sich aber auch um einen weiteren, intensiveren Versuch, die Interviewerin zur Beantwortung seiner Fragen bei eingeschaltetem Aufnahmegerät zu bewegen. Wie reagiert die Interviewerin? Sie interpretiert seine Blockade als normale Anfangsreaktion, auf die sie technisch vorbereitet ist („Wir müssen nicht stopp machen. Das Band ist ganz ganz lange.“). Als Grund unterstellt sie ihm vorübergehendes Nicht-Wissen bzw. Nicht-Erinnern, denn sie erklärt ihm, er habe genügend Zeit zum Überlegen. Dahinter steht die Annahme, dass Rico nicht Hilfen und Antworten auf seine Fragen benötigt, um sich interviewen zu lassen, sondern Zeit zum Überlegen. Sie unterstellt ihm damit grundsätzliche Kompetenz, und sie schiebt die Rolle der Lehrenden von sich. Sie unterstellt damit außerdem, dass die Modalitäten des Interviews klar sind. – Dem widerspricht Rico, indem er sagt, nicht Nicht-Wissen sei das Problem, sondern Viel-Wissen, denn dadurch könne er nicht entscheiden, wo er mit dem Erzählen beginnen solle. Damit akzeptiert er zwar die Beschreibung der Interviewsituation als Wissensabfrage (er hat sich diesbezüglich der Interviewerin angepasst), fordert die Interviewerin aber nochmals auf, konkrete Interviewfragen zu stellen und damit ihre Rolle als Abfragende/ als Prüferin auch einzunehmen. Die Interviewerin kommt seinem Konkretisierungswunsch wieder nur bedingt nach. Sie hat festgelegt, dass er selbst entscheiden muss, wo er mit dem Erzählen anfängt. – Rico überprüft nochmals, ob diese Aussage ernst gemeint ist. Auch hier formuliert er wieder eine Alternativfrage ohne Alternative. Ob er „von ner speziellen Situation“ erzählen solle, die er „selber“ erlebt habe, will er wissen. Die Interviewerin ermuntert ihn zu diesem Vorgehen („Ja.“). Sie schiebt nach, er entscheide, wie er anfange. Damit hat er die Bestätigung: Es geht um eine Abfragesituation. Ein Teil des geforderten Wissens ist es, selbst zu wissen, welche Ereignisse wichtig sind und mit welchen Geschichten er anfängt. Er bestätigt dies mit einem „Ja“ und beginnt dann tatsächlich zu erzählen. Zusammenfassend kann man sagen, dass Interviewerin und Interviewter sich extrem schwer tun, die Rollen und die Modalitäten für das bevorstehende Interview auszuhandeln. Die Interviewerin, die den Interviewten eigentlich in der Rolle des aktiven Erzählers sehen möchte, hat ihn unbewusst durch zweideutige, diffuse Formulierungen in einen Konflikt gestürzt. Die tatsächliche Zuschrei-
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bung durch die Interviewerin schwankt zwischen kompetentem, erzählendem Experten und Prüfling. Der Interviewte selbst hatte sich im Interview aber eher in der Rolle des Wissenden gesehen, der noch etwas dazulernen will. Diese Interpretation wird durch eine spätere Äußerung im Interview noch gestützt. Dort erklärt er: „für alles Neue bin ich immer offen und versuch irgendwo immer Informationen für mich zu holen, die ich denke, für mich vorteilhaft zu sein. Von daher. Genauso wie jetzt heute. Hab ich auch noch nie erlebt, ist auch ne Erfahrung, die ich mitgenommen habe beziehungsweise mitnehme. Und von daher überall was geht mitnehmen. Und was man bekommen kann einfach mitnehmen.“ (32:02-07) Morgen kann er sagen, er habe auch schon einmal an einem Interview teilgenommen. Rico lässt sich auf ein Interview ein, das für ihn beides ist – eine Lernsituation und auch ein Belege dafür, wie viel er schon weiß.
Mobbing als Gruppenphänomen – Vorgesetzte als hilflose Beobachter: Rico ist immer noch nicht so weit, dass er ausführlich und frei erzählt. Er stellt zunächst kurz ein Konzentrat seiner Erfahrungen mit Arbeitsplatzkonflikten vor. Auf die konkreten dazugehörenden Konflikte wird er erst später detailliert eingehen. Somit wählt er einen eher theoretischen und allgemeinen, von konkreten Fällen abstrahierenden Einstieg ins Thema. Er präsentiert Erkenntnisse, Schlussfolgerungen und Ergebnisse seiner persönlichen Reflexion. Und er weist darin immer wieder auf seine eigenen Erfahrungen als Beweis für die Richtigkeit seiner Ausführungen hin. Er beschäftigt sich mit den Außenseitern/ Sündenböcken, den offiziellen und inoffiziellen Vorgesetzten und den Arbeitsteams: „Wo sehr viele. Wo meines Erachtens sehr viele Konflikte entstehen in der Firma selbst, sind, wenn mehrere Leute zusammenarbeiten und unter sich die Pausenreglung zum Beispiel klären müssen. Hab ich jetzt schon des öfteren erlebt, dass da durchaus zu Problemen bzw. auch zu Mobbingfällen kommen kann. Weil sich einfach Leute dadurch ein bisschen. Versuchen wollen, gegen die Gruppe oder mit der Gruppe, bestimmte Personen wo sie das Gefühl haben, dass das nicht passt, auszugrenzen. Ist jetzt mal so ne Erfahrung, die ich gemacht habe. Indem sie dann halt hergehen und versuchen andere Leute von der Gruppe oder auch von anderen Gruppen auf ihre Seite zu bekommen und gegen den Mitarbeiter vorgehen. Und dann halt dem entsprechend, mit Äußerungen oder mit Ausgrenzungen des jeweiligen. Oder versuchen, ihm das Leben dann ein bisschen schwer zu machen. Das ist eigentlich ein Thema, wo ich jetzt speziell schon erlebt habe und wo man dann, wenn man nicht aufpasst, das zu, meines Erachtens, schnell zu einem Mobbingfall werden kann. Ja und das ist emm (..). (Lachen)“ (1:23-36)
Rico hat sich jetzt entschieden, wo er mit dem Erzählen beginnt – er beginnt dort wo „sehr viele Konflikte“ in der Firma entstehen. Er hat festgestellt, dass die sozialen Aushandlungsprozesse unter gleichberechtigten Mitarbeitern, wenn sie ohne Vorgesetzten etwas entscheiden müssen, wie z.B. sich über die Pausenrege-
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lung verständigen, am konfliktträchtigsten sind. Rico betont, dass er diese Konflikte, die von Problemen bis Mobbing reichen, aus wiederholtem, eigenem Erleben kennt. Rico erklärt hier, dass, wenn man über betriebliche Konflikte reden möchte, man sich unbedingt mit der Art der Zusammenarbeit in den Arbeitsteams beschäftigen muss. Die meisten Konflikte kommen dabei, seiner Meinung nach, nicht von außerhalb der Gruppen (z.B. von den Vorgesetzten), sondern aus der Gruppe selbst. Auslöser für die Schwierigkeiten sind auch keine spektakulären Ereignisse, sondern Alltagsroutinen. Rico wirft damit den ‘normalen’ Produktionsmitarbeitern vor, dass sie nicht über ausreichend soziale Kompetenz und Reflexionsvermögen verfügen, um die alltäglichen, zwischenmenschlichen Kommunikationsroutinen störungsfrei zu organisieren. Es komme „des öfteren“ zu Problemen und gelegentlich auch zu Mobbing. Wo siedelt er sich selbst in dieser Szene an? Er scheint eher der Beobachter von außen zu sein. Zum einen ist auch für die Interviewerin klar, Rico redet hier als Vorgesetzter von fast 40 Mitarbeitern (denn er hat vor dem Interview mehrmals darauf hingewiesen) – zum anderen distanziert er sich von den Ereignissen auch dadurch, dass er sie rückblickend einordnet und beurteilt. Er spricht von „ich“ und „mir“ nur, wenn es um die rückwirkende Beurteilung geht. Andererseits würde man von einem Vorgesetzten aufgrund seiner offiziellen Aufgaben erwarten, dass er sich zumindest in Mobbingkonflikte einschaltet. Das heißt, sollte es in der Vergangenheit unter seinen Mitarbeitern einen Mobbingvorfall gegeben haben, warum sieht Rico sich darin lediglich als Beobachter? Möglicherweise hat er als Vorgesetzter erst in Nachhinein von dem Fall erfahren. Das würde darauf hinweisen, dass sich die Gruppe stark gegen den offiziellen Chef abschottet und ihn wenig in die interne Kommunikation hineinblicken lässt. Vorgesetzte hätten dann bei Gruppenkonflikten grundsätzlich eine schlechte Chance, sich einzuschalten. Damit wäre Ricos Problem der Abschottung nicht sein spezielles Schicksal, alle anderen Personen in seiner Position würden das mit ihm teilen. Seine anfängliche Formulierung „in der Firma selbst“ ließe sich in diese Richtung interpretieren. Es könnte aber auch sein, dass Rico zwar von dem Fall wusste, möglicherweise auch intervenieren wollte, aber bei seinen Versuchen gescheitert ist. Er könnte nachträglich zu der Überzeugung gelangt sein: In stark eskalierten Konflikten/ bei Mobbingfällen, sind Vorgesetzte allgemein oder ich im Besonderen machtlos. Was spricht dagegen, dass er hier seine eigene Zeit als Mitarbeiter anspricht? Er redet in der Gegenwartsform. Rico ist jetzt aber schon seit fünf Jahren in seiner jetzigen Führungsposition. Man kann also eher davon ausgehen, dass er hier von den Konflikten seiner Mitarbeiter (und allgemein von den Konflikten der Mitarbeiter in Produktionsteams) berichtet.
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Anschließend beschreibt Rico den Mechanismus, wie es zu Mobbing kommt. Er beginnt mit: „Weil sich einfach Leute dadurch ein bisschen.“ Wie könnte man diesen unvollendeten Satz beenden, um ihn zu verstehen? Rico spricht hier von einzelnen Leuten, die sich aus der Gruppe hervortun, die sich durch die aktuelle Arbeitssituation („dadurch“) zu bestimmten Verhaltensweisen motiviert fühlen. Diese „Leute“ würden, so erklärt Rico im Weiteren, versuchen, bestimmte Personen auszugrenzen. Ausgegrenzt würde, wer nach Einschätzung dieser dominanten Mitarbeiter, nicht passe. Es geht hier also nicht um objektive, nachvollziehbare Schwierigkeiten, die man besprechen und beheben könnte, sondern ausschließlich um eine rein subjektive Beurteilung durch einzelne, dominante Gruppenmitglieder. Ob diejenigen Personen nicht in die Gruppe passen, oder ob nur die Chemie zwischen dominanten Mitarbeitern und den abgelehnten Personen nicht stimmt, kann man zunächst anhand Ricos Äußerung nicht entscheiden. Der Gruppe misst Rico hier eine wichtige Rolle zu. Diese Handlungen gingen „gegen die Gruppe oder mit der Gruppe“. Wenn die Gruppe also die Meinung des Angreifers teilt, unterstützt sie die Ausgrenzung des Nicht-dazu-Passenden. Aber auch, wenn die Gruppe das (zunächst) anders sieht, führt das nicht dazu, dass der Angreifer den Nicht-dazu-Passenden in Ruhe lässt. Was sind das für Leute, die so starken Einfluss auf die Gruppe ausüben? Die offiziellen Vorgesetzten (Rico und seine Kollegen) sind damit wohl nicht gemeint. Sie gehören nach seinen Ausführungen nicht in die Gruppe; die Konflikte finden aber innerhalb der Teams statt. Entweder gibt es in den Teams noch ‘kleine’ Vorgesetzte, die zwar nicht über strukturelle Kompetenzen führen dürfen, die aber auf kommunikativer Ebene Führungsaufgaben übernommen haben. Dafür spricht, dass Rico sicherlich keine 40 Mitarbeiter direkt und alleine führen kann. Man kann wohl annehmen, dass es da noch sechs bis sieben Gruppensprecher/ Gruppenverantwortliche geben könnte. Dann würde Rico hier beschreiben, wie diese Führungspersonen, auf Kosten Einzelner ihren Einfluss auf das gesamte Team aufbauen, pflegen und überprüfen. Rico hätte aber vielleicht langfristig die Chance, auf die offiziellen Gruppensprecher so einzuwirken, dass die sich von Mobbing distanzieren. Auf den Einzelfall bezogen hätte er als Vorgesetzter in Zweifelsfall auch die Pflicht, gegen diese Mobber (vielleicht sogar arbeitsrechtlich) vorzugehen. Sollte es aber außer Rico keine weiteren offiziellen Führungskräfte geben, beschreibt Rico hier, wie sich neben ihm informelle Führungskräfte, quasi als Konkurrenz zu ihm, etablieren. Sie haben, anders als Rico, viel Nähe zu den Mitarbeitern, weil sie täglich mit ihnen zusammenarbeiten. Das zweite Szenarium wäre für Rico noch problematischer, weil er inoffizielle Führungskräfte selber nicht offiziell führen kann. Nur offizielle Gruppensprecher kann er zu Sitzungen einladen. Für Rico hat Mobbing auf jeden Fall etwas mit den dominanten Teammitgliedern zu tun. Er bezeichnet sie als Initiatoren der
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Konflikte und des Mobbings. Dadurch entlastet er die Gruppe von ihrer Verantwortung für unfaire Konflikte. Bei ihnen gibt es zwar regelmäßig Schwierigkeiten wegen Alltagsroutinen (z.B. den Pausenzeiten), doch das sind unspezifische Alltagskonflikte und kein Mobbing. Die Mobber sind also die offiziellen oder inoffiziellen Gruppensprecher. Auch diese Erkenntnis bekräftigt er, indem er auf eigene Erfahrungen hinweist. Was bedeutet das für Rico als Führungskraft? Will er gegen Mobbing vorgehen, muss er an die inoffiziellen oder offiziellen Gruppensprecher herantreten. Bliebe er untätig, würde er sich selbst als führungsschwach zeigen. Tägliche Kleinkonflikte hingegen sollen und werden üblicherweise in den Teams selber gelöst. Rico kann nicht bei 40 Mitarbeitern in jeden kleinen Konflikt eingreifen. Erst wenn es offizielle Beschwerden gibt, bei denen auch noch die Bezeichnung Mobbing fällt, wird das Eingreifen der offiziellen Führungskräfte ein Muss. Solange Rico einen Konflikt also nicht als Mobbing bezeichnet, kann er die Bearbeitung des Vorfalls den Teams und ihren teaminternen Führungspersonen überlassen. Damit ist für Rico Mobbing nicht eine Spezialisierung von Konflikt, sondern es besteht ein qualitativer Unterschied: Konflikte sind Teamsache, Mobbing dagegen ist Vorgesetztensache. Danach beschreibt Rico die zunehmende Eskalierung und Radikalisierung des Konflikts. Die Mobber würden versuchen, „andere Leute von der Gruppe oder auch von anderen Gruppen auf ihre Seite zu bekommen“. Dann geht die Ausgrenzung und das Leben-schwer-machen nicht mehr allein vom Mobber, sondern von der ganzen Gruppe aus. Doch verantwortlich bleibt nach Ricos Einschätzung der Mobber bzw. die Mobber. Er sagt das nicht explizit, er verwischt diese Aussage sogar, weil er auf Worte wie „gemeinsam“ („und gegen den Mitarbeiter [gemeinsam: Ergänzung M.N. ] vorgehen) oder „sie/ die Gruppe“ („Oder [sie: Ergänzung M.N. ] versuchen, ihm das Leben dann ein bisschen schwer zu machen) verzichtet. Auch die Abfolge des Erzählten unterstützt diese Hypothese. Zunächst hatte der Mobber die Gruppe hinter sich gebracht, danach wurde das Opfer noch stärker unter Druck gesetzt. Der Hinweis auf die Gruppe ergibt nur in diesem Kontext einen Sinn. Warum spricht der Interviewte bei den Mobbern aber in der Mehrzahl? Möglicherweise sind es wirklich mehr als eine Person für einen einzigen konkreten Fall. Doch so wie Rico sie als teaminterne Führungsfiguren beschreibt, kann man eher davon ausgehen, dass hier der Versuch unternommen wird, die Problematik der mobbenden Führungskraft zu verschleiern. Es ist aber auch vorstellbar, dass es mehr als einen solchen Mobbingfall gibt. Dann gab es möglicherweise zwar jeweils nur einen Mobber zurzeit, in der Gesamtschau sind es dann aber doch mehrere Mobber, weil es mehrere Fälle gibt. Möglicherweise verallgemeinert Rico aber auch hier wieder über die Grenzen seiner Abteilung hinaus.
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Er erzählt „von der Firma selbst“ und da gibt es neben ihm auch noch andere Führungskräfte. Scheinbar geht es ihnen genauso wie Rico. Welche Bedeutung hat die beschriebene Eskalation für den Vorgesetzten Rico? Während er als Vorgesetzter zu Beginn vielleicht noch die Möglichkeit hat, den Rädelsführer zu disziplinieren oder auch zu eliminieren, ist das nicht mehr möglich, wenn die Mobber die eigene und möglicherweise auch noch weitere Arbeitsgruppen auf ihre Seite gezogen haben. Würde Rico gegen diese einzelne Person vorgehen, hätte er schnell die ganze Gruppe gegen sich. Da er aber auf seine Mitarbeiter angewiesen ist, kann er es sich eher mit einem einzigen Mobbingbetroffene als mit einem Mobber und vielen Mitläufern verscherzen. Das ist wohl auch die Erklärung, warum er die Mobber beim Erzählen schont. Sie haben Macht, die sie auch gegen den offiziellen Vorgesetzten einsetzen können. Rico erklärt abschließend das er genau diese Eskalation „speziell“ selber erlebt habe. Er bezeichnet es als „Thema“ und nimmt damit Bezug auf die anfangs von der Interviewerin angekündigte Wissensabfrage. Er erklärt, wenn man nicht aufpasse, dann könne daraus „schnell ein Mobbingfall werden“. Er bewertet damit einen Konflikt, den er selber erlebt hat, subjektiv („meines Erachtens“) als Mobbingfall. Es war eben kein Kleinkonflikt mehr, den die Gruppe alleine lösen kann. Es ist ein Fall, in den er sich als Vorgesetzter einmischen musste. Mobbingkonflikte stellen somit nach Ricos Einschätzung eine besondere Herausforderung für Vorgesetzte dar. Seinerseits ist man als Vorgesetzter erst gefordert, wenn es ein Mobbingkonflikt ist, andererseits ist man in dieser Position, sobald der Mobber die Gruppe auf seine Seite gezogen hat, eher hilflos. Nach diesem sehr abstrakten Einstieg kommt das Interview erneut ins Stocken. Rico äußert: „Ja und das ist emm.“ Danach folgen eine längere Pause und ein verlegenes Lachen. Entweder ist die Interviewsituation für Rico immer noch nicht geklärt. Vielleicht will er sich jetzt aber auch nur noch einmal vergewissern, dass seine Form des Erzählens von der Interviewerin tatsächlich akzeptiert wird. Die Interviewerin gibt ihm diese Bestätigung. („Ja.“). Und sie signalisiert Interesse an der ganzen Geschichte indem sie fragt: „Was hast du konkret erlebt? (.) Was ist da passiert? (.)“ Erst jetzt sind die Anfangsschwierigkeiten endgültig überwunden und Rico erzählt die Geschichten, die er zunächst in Kurzfassung präsentierte, lange und ausführlich. Durch seine verallgemeinernde, distanzierte Darstellung nimmt Rico einen Doppelblick als Vorgesetzter vor, der eine verallgemeinerbare Dilemmasituation von Mitarbeitern in Vorgesetztenpositionen zeigen soll. Da gibt es die allgemeinen Erwartungen an offizielle Vorgesetzte (Helft den Opfern!) und da gibt es die Praxis, in der man Täter nicht erreicht bzw. sogar noch stärkt, wenn man sie angreift.
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2.2.2 Betriebliche Konflikte als notwendige Lernherausforderung für den jungen Vorgesetzten Rico erzählt im gesamten Interview von drei betrieblichen Konflikten. Er beginnt mit einem durch den freiwilligen Weggang des Opfers abgeschlossenen Mobbingkonflikt (1:37-5:24). In diesem Konflikt ist er der Vorgesetzte, der dem Opfer nicht helfen konnte. Aus dieser Fallbeschreibung leitet er mit der Bemerkung, die Gruppe suche sich immer neue Leute, die sie mobben könne, in einen weiteren Konflikt über. Dieser zweite Fall (5:26-7:28) hat zwei Konfliktherde und unterschiedliche Konfliktverläufe. Während sich der Konflikt zwischen dem türkischen Mitarbeiter und seiner Arbeitsgruppe nach Ricos Einschätzung in der Eskalationsphase befindet (aber noch kein Mobbing ist), geht dem seit ca. fünf Jahre immer wieder aufflackernde Konflikt zwischen ihm als jüngeren Vorgesetzten und dem älteren türkischen Mitarbeiter langsam die Schärfe und Emotionalität verloren. Um diesen Konflikt zu bewältigen und als Vorgesetzter angemessen zu reagieren, lernt der Interviewte soziale Kompetenz und Kommunikation. Bei dem dritten Konflikt (ab 7:30) handelt es sich um eine Ansammlung täglicher, betrieblicher Aushandlungssituationen, durch die der Vorgesetzte durch eine Kombination aus gezielter Kommunikation und dem Einsatz klassischer Führungsinstrumente (Mitarbeitergespräche, Beurteilungen, Ermahnungen, Instruktionen an seine Gruppensprecher) versucht, die Gruppe so zu kontrollieren, dass sie ihre Arbeit ordentlich erledigen und, dass größere Konflikte vermieden werden. Bei Rico haben alle Konflikte einen Bezug zu seiner Vorgesetztentätigkeit und betreffen damit die letzten 5 Jahre. In allen erzählten Konflikten geht es inhaltlich auch um Ricos Führungshandeln als Vorgesetzter. Aus der Zeit als Mitarbeiter ohne Führungsfunktion kann er sich (auch auf Nachfrage) an keinen Konflikt erinnern.
2.2.2.1
Mobbingereignis: der unlösbare Konflikt und die eingeschränkte Handlungsfähigkeit eines Vorgesetzten
Indem die Interviewerin Rico fragt „Was hast du konkret erlebt?“ (1:37) und nach kurzer Pause noch nachschiebt „Was ist da passiert?“ (1:37) gibt sie dem Interviewten zu verstehen, dass er „da“ beim eben Erzählten anknüpfen kann. Rico versteht die Frage als Hinweis darauf, dass er den Erwartungen der Interviewerin entspricht und, dass die Interviewerin seine angedeutete Geschichte tatsächlich hören möchte. Er erzählt daraufhin ausführlicher: „Konkret erlebt als solches, dass, wie gesagt, einer versucht hat mehrere auf seine Seite zu bekommen und es auch geschafft hat, Leute auf seine Seite zu bekommen und damit einen Ein-
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In Konflikten Intervenierende zelnen aus der Gruppe ausgrenzt, oder die Gruppe dann auf denjenigen hört und den anderen Mitarbeiter ausgrenzt und keiner mehr mit ihm redet oder keiner mehr mit ihm arbeiten möchte. Und, dass dann halt nicht nur in dieser Gruppe sondern auch in andere Gruppen übernimmt, weil er ein relativ gutes Bindeglied irgendwo ist und halt alle Leute auf ihn hören und der jeweilige Mitarbeiter dann zum Vorgesetzten kommt und sagt, er hat das und das Problem und alle mit einem Mal dagegen sprechen. „Das stimmt ja gar nicht, dass das so ist!“ So war es mindestens jetzt bei mir. Der Mitarbeiter ist dann zu mir gekommen und hat dann zu mir gesagt: „Hier, ich hab das und das Problem. Die grenzen mich aus, bzw. die reden hinter meinem Rücken.“ Und ich bin dann zu dem jeweiligen Mitarbeiter hin und der hat sich dann angegriffen gefühlt in seiner (.) hmm Situation oder in seiner Art Position, die er da vertreten hat und hat dann halt als Argument gebracht, ich könnte jeden anderen auch fragen, dass das nicht so sei. Ja und ist dann halt auch mir gegenüber so en bisschen auf Abstand gegangen und gesagt, na ja wenn ich irgendwo damit Probleme hätte, ich könnt ja jeden fragen. So war’s jetzt bei mir. Speziell. Und da ist es halt dann, den Weg wieder zurückzufinden. Wem ist jetzt mehr zu vertrauen, bzw. wen wo muss ich jetzt hin, oder was kann ich jetzt tun, um die Gruppe jetzt wieder einigermaßen zusammenzubringen, weil es ist ja im Prinzip wichtig, dass man zusammen arbeitet und nicht gegeneinander arbeitet. Und derjenige hat dann zum Schluss, der ist dann krank geworden, längere Zeit krank geworden, bzw. hat dann krank gemacht. Hat von irgendwann früher eine Krankheit vorgeschoben, die er mal angeblich hatte, wo er aber die ganze Zeit keine Probleme mehr mit hatte. Somit das aber anfangs als solches gar nicht aufgefallen ist. Und dann selbständig bzw. mehr oder weniger, gekündigt hat. Weil er mit der Situation einfach nicht mehr klargekommen ist. Aber als solches nicht, ich will jetzt mal sagen, nicht fähig genug war, den Leuten das jetzt zu sagen: „Okay ich hab jetzt gekündigt aus dem und dem Grund!“, sondern ganz einfach gesagt hat, er ist gekündigt worden, um dann anschließend auch noch seine Ruhe zu haben. (1:38-2:26)
Zunächst wiederholt Rico die bereits erzählten Ereignisse mit anderen Worten und anderer Gewichtung. Die Person des Mobbers bleibt zwar weiterhin vage. Man weiß nicht, ob er normaler Mitarbeiter oder gar ein Gruppensprecher ist. Aber man erfährt, dass er auf mehrere Teams großen Einfluss ausübt und, dass er seine Kollegen gegen den Mobbingbetroffenen aufhetzte. Rico wird schließlich noch konkreter und verortet sich persönlich in diesem zu erzählendem Konflikt. Während er anfangs noch allgemein von dem Vorgesetzten berichtet, an den sich der gemobbte Mitarbeiter wandte und um Hilfe bat, erklärt er später, der Mitarbeiter sei zu ihm persönlich gekommen. Rico wird erst in den Mobbingkonflikt hineingezogen, als sich der gemobbte Mitarbeiter bei ihm, dem Vorgesetzten, beschwert und als die anderen Mitarbeiter sich weigern, mit dem Mobbingopfer zusammenzuarbeiten. Seine Aufgabe als Vorgesetzter ist es nun, zu prüfen, ob die Beschwerden berechtigt sind und gegebenenfalls für Abhilfe zu sorgen. Rico sucht ein Gespräch mit dem vermeintlichen Mobber. Dabei ist er wenig erfolgreich. Er kann für den Beschwerdeführer keine Verbesserung bewirken und bringt sich selbst dadurch auch noch in eine schwierige Situation. Denn der beschuldigte Mitarbeiter fühlt sich in seiner Ehre angegriffen und in seiner Position bedroht. Der weiß alle seine Kollegen hinter sich. So reagiert er mit einem relativ offenen Gegenangriff auf den
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Vorgesetzten und zeigt dem die Grenzen seiner Führungskompetenz. Indem der zu Rico auf Distanz geht, entzieht er ihm auch die Unterstützung. Dadurch kann der Vorgesetzte auch in anderen Situationen diesen wichtigen kommunikativen Führer nicht mehr für seine Interessen nutzen. Er verliert dadurch an Einfluss über die Gruppe. Rico hat durch seinen Interventionsversuch in die Selbstorganisation der Gruppe eingegriffen, dafür straft ihn der Gruppenleader jetzt ab. Rico beschreibt dann auch, dass es sein größtes Problem ist, nach diesem misslungenen Interventionsversuch wieder zu einer tragfähigen Arbeitsbeziehung mit dem Team zurückzufinden. Die schwierige Aufgabe des Vorgesetzten ist es dabei, der Gruppe weiterhin einen Freiraum für interne ‘normale’ Konfliktaustragungen zuzugestehen. Andererseits muss er weiterhin darauf bestehen, sich in einen echten Mobbingfall einschalten. Doch Rico ist kein unparteiischer Moderator mehr. Plötzlich hatte er selbst einen Konflikt mit der Gruppe. In dieser Situation muss Rico sicherlich feststellen, dass er eigentlich nur falsch handeln kann. Entscheidet er sich dafür, die berechtigten Interessen des Mobbingbetroffenen im Notfall auch mit arbeitsrechtlichen Mittel durchzusetzen (Abmahnung, Versetzung des Mobbers, Kündigung), bringt er das ganze Team endgültig gegen sich auf. ‘Opfert’ er den Mobbingbetroffenen, verletzt er seine Pflichten als Vorgesetzter. Unternimmt er nichts, ist weiterhin keine volle Arbeitsfähigkeit des Teams gewährleistet. Zum Schluss wird der Mobbingbetroffene geopfert. Er kündigt selber, weil das Mobbing fortdauert. Rico erklärt, er als Vorgesetzter habe letztlich nichts ausrichten können, weil es sich um einen (echten) Mobbingfall gehandelt habe. Dabei hat Rico vorher einiges versucht, um dem Mobbingbetroffenen zu helfen. Aber alle Interventionsbemühungen scheiterten. Der Vorgesetzte versuchte erfolglos dem Gemobbten in Gruppengesprächen Gehör zu verschaffen. Rico ermutigte den Mobbingbetroffenen, statt den Anderen immer wieder vorzuwerfen, sie würden zu lange Pausen machen, die eigenen Pausen auszudehnen. Er versetzt den Mobbingbetroffenen, nachdem er merkte, dass der Konflikt vor Ort nicht zu lösen ist, in eine andere Arbeitsgruppe. Er „verkauft“ (4:22) ihm diese Versetzung dabei als Lernchance. „Okay, du hast die Möglichkeit jetzt, noch eine andere Maschine zu lernen.“ (4:27-28) Aber auch diese Versetzung scheitert. Die Konflikte setzen sich auch in der neuen Arbeitsgruppe fort. „Aber da hat es dann auch nicht lange gedauert, weil diese Gruppe wiederum, oder dieser eine, der Gruppensprecher der Gruppe, den anderen wieder angestiftet hat und dies dann wieder komplett in die andere Gruppe getragen hat und somit diese Gruppe dann auch wiederum speziell danach geguckt hat.“ (4:03-07) Hier erst lüftet Rico das Geheimnis. Der geheimnisvolle Mobber war tatsächlich ein Gruppensprecher, der seinen Einfluss nutzte und den Gruppensprecher der aufnehmenden Gruppe anstiftete, sodass sich der Konflikt am neuen Arbeitsplatz
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fortsetzte. Ein Gruppensprecher, der eigentlich die Aufgabe hat, für die Integration der Gruppenmitglieder zu sorgen, tritt hier als Mobber in Erscheinung. Rico erwähnt dies nur nebenbei, es rutscht ihm förmlich aus Versehen heraus.
2.2.2.2
Doppelkonflikt: Wie Konflikte sich gegenseitig ‘kontrollieren’
Das neue Mobbingopfer? - oder wie verhindere ich einen Mobbingfall? Rico erzählt den zweiten Konflikt zunächst als Fortsetzung für den ersten. Ziel ist es, zu zeigen, dass die Mitarbeiter ihr Verhalten durch die Erfahrung des vorangegangenen Mobbingkonflikts nicht verändert haben, also nichts dazu gelernt haben. Das alte Opfer ist weg, und die Gruppe sucht sich ein neues. „Nur hat er dann (.) oder derjenige, der Neue, den sich jetzt gefunden haben, der hat sich jetzt halt gesagt, „okay“. Er setzt sich immer mehr auf meine Seite. Er sagt mir alles, was da draußen so. Versuch dann so en bisschen bei mir, ich will nicht sagen zu schleimen. Aber das ist dann was, was den Mitarbeitern dann auch nicht gefällt. Ja, der hört irgendwas und gibt es dann gleich weiter. Aber wobei er dann auch relativ empfindlich ist. Er kann sich auch schlecht in die Gruppe integrieren und somit war jetzt neulich wieder. War jetzt neulich ein Gruppengespräch zwischen den Leuten und der Gruppensprecher war dann anschließend bei mir und hat dann gesagt, „ja das und das gefällt mir nicht, aber dem und dem kann man nichts sagen, weil er älter ist und er lässt sich nix sagen von mir, weil er weil ich ja jünger bin“. Und in dem Moment ist er grad ins Büro gekommen, als wir uns unterhalten haben. Und hat dann natürlich auch schon wieder rumgetönst: „Was das denn soll? Warum er nicht mit ihm redet, sondern gleich zu mir kommt? Und er sagte dann halt: „Mit dir kann man nicht reden.“ Irgendwie haben sie das Gespräch dann doch wieder gefunden. Ich wollte dann halt, ich wollte eigentlich das Gespräch mit beiden suchen, aber sie haben es dann schon untereinander gefunden. Im Moment ist es wieder recht ruhig. Aber die finden immer wieder einen. Es ist komisch.“ (5:2744)
Der neue Außenseiter der Gruppe ist ein älterer, türkischer Mitarbeiter. Auch er stehe bereits im Konflikt mit Gruppe und Gruppensprecher. Aber er suche, anders als das vorherige Opfer, die Nähe des Vorgesetzten, indem er ihm Informationen über die sonst für Vorgesetzte unsichtbaren Vorkommnisse in der Gruppe zukommen lasse. Das wiederum verstärke den Konflikt mit der Gruppe. Bei einem hier beschriebenen Streit zwischen dem türkischen Mitarbeiter und dem Gruppensprecher geht es um Kompetenzstreitigkeiten. Rico berichtet von einem Vorfall, wo der neue Außenseiter den jüngeren Gruppensprecher im Büro des Vorgesetzten verbal attackiert. Der Gruppensprecher wirft dem älteren Kollegen vor, ihn in seiner Position nicht zu akzeptieren. Der ältere Mitarbeiter dagegen ärgert sich, dass sich der Gruppensprecher beim Vorgesetzten über ihn beschwert. Hier gibt es einen Schlagabtausch zweier exponierter Gruppenmitglie-
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der – wobei der Gruppensprecher sich der Unterstützung des Teams sicher scheint – vor dem gemeinsamen Vorgesetzten. Rico mischt sich in den Konflikt zwischen Gruppe und dem älteren, türkischen Kollegen aber nicht ein. Er bezieht weder Position für den mittlerweile im Konflikt stark unter Druck stehenden Mitarbeiter, noch für die Gruppe bzw. den Gruppensprecher. Noch ist es ein Konflikt und kein Mobbingfall. Damit kann Rico die sozialen Aushandlungsprozesse noch der Gruppe überlassen. Der ältere, türkische Kollege nimmt wie der Gruppensprecher, durch seine Nähe zum gemeinsamen Vorgesetzten eine Zwischenstellung zwischen Gruppe und Vorgesetztem ein. Indem Rico den neuen Außenseiter als Informationsquelle über die Gruppengeschehnisse nutzt, nimmt er zusätzlich und indirekt Einfluss auf die Gruppe. Er schwächt bzw. kontrolliert damit auch den offiziellen Gruppensprecher. Möglicherweise kann der dadurch auch nicht so leicht zum Anstifter von Mobbing werden. Im zurückliegenden Mobbingkonflikt war es gerade das Problem, dass Rico, als er als Vorgesetzter hätte handeln müssen, keinen Einfluss mehr auf die Gruppe ausüben konnte. Durch den aktuellen persönlichen Kontakt zum angeschossenen Mitarbeiter erhält er heute immer wieder Informationen, die es ihm ermöglichen, den aktuellen Eskalationsstand des Konflikts besser einschätzen zu können. Zusätzlich belehrt er den in den Konflikten Unterlegenen vorsichtig und verdeckt, indem er ihn auf den zurückliegenden Mobbingfall hinweist und ihn auffordert, sein eigenes Verhalten im Team kritisch zu reflektieren.
Konflikte als Führungs- und als Messinstrument für erworbene Führungskompetenz: Der ältere, türkische Mitarbeiter, den die Kollegen als neues potentielles Mobbingopfer ausgesucht haben, ist kein Unschuldslamm. Rico beschreibt ihn als laut, unkontrolliert und extrem schwer zu führen. Nicht nur der Gruppensprecher leidet unter ihm, auch Rico hat in seiner Anfangszeit als Vorgesetzter schlaflose Nächte wegen einer Auseinandersetzung mit ihm verbracht. Auf die Frage nach seiner schlimmsten Erfahrung in der Vorgesetztenrolle beschreibt er einen Vorfall, wo dieser Mitarbeiter ihm „Schlägerei angeboten hat“ (16:33). „Und er ist halt hergegangen, es ist in der Nachtschicht gewesen, und ist ins Büro rein gekommen und hat sich ein Telefon geschnappt und hat erst mal telefoniert. Da er türkische Nationalität ist, und er türkisch gesprochen hat am Telefon. Und wie er dann aufgelegt hat, hab ich ihn dann nur gefragt, ob er jetzt nach Hause telefoniert hat. […] Und da hat er mir nur die Äußerung gegebene, das geht mich nen Scheißdreck an. […] Und da ist natürlich dann die Situation, dann ein bisschen eskaliert, weil ich. […] er hat dann zum Schluss mir Schläge angedroht - und das noch vor versammelter Mannschaft. Und da ist bei mir natürlich dann so ein bisschen der
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In Konflikten Intervenierende Faden gerissen. Also ich bin nicht irgendwie ausfallend geworden. Im Gegenteil, ich bin dann am nächsten Tag ins Personalbüro und habe diese Situation vorgetragen. Wollte ihm eine Abmahnung bzw. eine sofortige Kündigung aussprechen. […] Und wie gesagt, mein Chef und er kennen sich relativ gut durchs Fußball oder wie auch immer. Und somit hat mich dann mein Chef gebeten, da irgendwo noch ne Alternative zu suchen - mit ihm da gut oder versuchen zusammenzuarbeiten.“ (6:09-31)
Dieser Vorfall ereignete sich bereits vor ca. fünf Jahren. Rico war ganz neu in seinem Vorgesetztenjob. Eigentlich wäre dieser Vorfall sogar Grund für eine Kündigung gewesen. Doch direkt in der Situation wusste der unerfahrene Vorgesetzte nicht, wie er sich verhalten sollte. Und am Tag danach konnte er nicht mehr durchgreifend handeln, weil ihn sein eigener Vorgesetzter um Nachsicht bat. Die Mitarbeiter erleben ihren unbeherrschten, türkischen Kollegen durch die ausbleibenden Konsequenzen als mächtig. (Der kann sich alles herausnehmen.) Und sie erleben ihren jungen, neuen Vorgesetzten als schwach. (Der ist von seinem Chef zurückgepfiffen worden.) Für Rico war es ein Ereignis mit dem er sich noch heute beschäftigt: „Weil es relativ im Anfangsstadium von meiner Laufbahn war und weil ich noch nicht so richtig wusste wie ich eigentlich mit der Situation umgehen muss oder umgehen kann, was ich für Möglichkeiten habe und somit dann mich selbst ein bisschen, ich will nicht sagen eingeschüchtert gefühlt habe, doch es ist mir relativ nahe gegangen. Von daher, ich war vielleicht noch nicht bereit dieser Situation so entgegenzuschauen wie ich jetzt vielleicht hätte. Und von daher war es schon ein bisschen knackig. Ich hatte den Vorteil, dass ich Leute hatte, mit denen ich mich dann unterhalten konnte, die die Vorgesetztenfunktion schon länger ausüben. Von daher hat mich das ein bisschen runtergeholt. Aber doch nicht so wirklich. Ist immer so ein bisschen im Hinterkopf, dass diese Situation mal da war. Von daher, die vergisst man auch nicht so schnell.“ (16:39-49)
Das Ereignis hat bei Rico bis heute einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dadurch wurde ihm sein Lernbedarf schmerzlich vor Augen geführt. Hier taucht der Konflikt als eine Situation auf, in der Lern- und Wissensdefizite sichtbar werden. In der damaligen Situation haben ihn seine älteren und erfahrenen Vorgesetztenkollegen unterstützt. Sie hörten ihm zu, besänftigten ihn, verpassten ihm möglicherweise einen Schnellkurs in Arbeitsrecht für Vorgesetzte und gaben ihm Tipps, wie man mit unbeherrschten Mitarbeitern am besten umgeht. Auf die Frage, was er täte, wenn er den gleichen Konflikt heute noch mal erleben würde, erklärt er, er sei heute „überlegter“ (34:05) und „einfühlsamer“ (33:48), er würde nicht mehr so „schroff“ (34:04) in schwierige Situationen hineingehen und er würde sich (hoffentlich) nicht mehr so schnell aus der „Reserven locken“ (34:05) lassen. Heute verfügt Rico über hinreichende Kenntnisse. Die hat er sich in der Zwischenzeit angeeignet. Er hat mittlerweile Seminare besucht, um in solchen Situationen angemessener reagieren zu können. Auch
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seinen Mitarbeitern ist seine zunehmende Professionalisierung aufgefallen: „man merkt, dass du auf Lehrgang warst, du versuchst jetzt mit Situationen anders umzugehen, wo du vorher schon ein bisschen wackliger in Situationen warst“ (13:50-14:01), melden sie ihm zurück. Seinen Lernerfolg kann man außerdem gerade an der Beziehung zu diesem schwierigen Kollegen ablesen. Der Mitarbeiter hat sich nicht grundsätzlich verändert, er ist immer noch unberechenbar und aufbrausend, aber Rico kann sein eigenes Verhalten mittlerweile besser auf sein Gegenüber abstimmen und sich bei Bedarf auch besser durchsetzen. Der zweite Konflikt mit dem schwierigen Mitarbeiter war somit eine Bewährungsprobe für sein neu erworbenes Wissen und Können: „Und dann hat er irgendwann wieder nen Ausraster gehabt, weil irgendwie en Problem in der Familie war und er mitten in der Schicht dann hergekommen ist und ist vor mich getreten und hat gesagt, „so ich geh jetzt heim!“. Und da hab ich gesagt, „du gehst jetzt nicht heim! […] Und das war natürlich dann auch wieder ein Grund für ihn, ein bisschen ausfällig zu werden. Und das kriegen die Leute ja alles mit. Die merken auch, dass ich mich nicht unbedingt mit ihm, oder er sich nicht unbedingt mit mir versteht. […] Und (.) anschließend war es dann halt so, dass ich ihn halt auch mal wieder so ein bisschen in den Senkel gestellt hab und dann ist er zum Betriebsrat und hat sich über mich beschwert. […] Dann haben wir ein gemeinsames Gespräch geführt, was dann halt dazu geführt hat, dass er gesagt hat, okay er sieht das Ganze ein, er entschuldigt sich dafür. Und wie er dann von der Gruppe letztendlich auch ausgegrenzt wurde, weil er gemerkt hat, weil die Gruppe gemerkt hat, der passt irgendwie nicht da rein – er ist jemand, der immer relativ schnell Radau schlägt, wenn ihm irgendwas nicht passt - und da ist er von der Gruppe halt auch wieder.“ (6:35-7:02)
Schon um den Respekt bei den Mitarbeitern nicht zu verlieren, kann sich Rico solche Ausraster nicht bieten lassen. Der unberechenbare Mitarbeiter erscheint heute eher schwach. Zu seiner Unterstützung zieht er einen Betriebsrat hinzu und muss sich am Ende auch noch entschuldigen. Dieses unkontrollierte Verhalten sei auch ein Grund, warum ihn die Gruppe ausgrenze.
2.2.2.3
Kleinkonflikte als Führungsinstrument eines Vorgesetzten in der Produktion
Direkte Einflussmöglichkeiten des Vorgesetzten auf die Mitarbeiter Neben den üblichen Kleinkonflikten innerhalb der Arbeitsgruppen (Konflikte innerhalb der Selbstorganisation der Gruppe) gibt es auch Kleinkonflikte zwischen dem Vorgesetzten Rico und einzelnen Gruppenmitgliedern, in denen es immer wieder um eine Bedeutungsverschiebung von Selbstorganisation der Gruppe/ bzw. des Einzelnen in Relation zur Führung durch den Vorgesetzten geht. Für Rico muss gewährleistet sein, dass er im Notfall Einfluss auf die Grup-
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pe ausüben kann. Auch das hat er aus dem frühen Mobbingfall gelernt. Schwindet sein Einfluss, holt er ihn sich durch selbst inszenierte Kleinkonflikte wieder zurück. Diese Scharmützel sind ein eigenständiges Element von Ricos Mitarbeiterführung. Sein Vorgänger in der Vorgesetztenposition hatte die Gruppe sich weitgehend selbst überlassen. Die Gruppe musste sich erst einmal an diesen neuen Führungsstil gewöhnen. Das Hauptthema für die täglichen Kleinkonflikte sind die Pausen. Einzelne Mitarbeiter nutzen die freizügige Pausenregelung so aus, dass sie während einer Acht-Stunden-Schicht zwei bis drei Stunden Pause machen. Das kann kein Vorgesetzter akzeptieren. Andererseits ist die Arbeit als reine Überwachungstätigkeit eher eintönig, und die Abläufe funktionieren trotz der vielen Pausen. Da die Bezahlung von den abgeleisteten Stunden abhängig ist, würde ein höheres Engagement bei gleich bleibender Arbeitszeit auch nicht zu einem höheren Lohn führen. Wie wäre hier eine Durchsetzung der offiziellen Pausenreglung möglich? Wollte Rico mit seinen Mitteln die exakte Einhaltung der amtlichen Pausen einfordern, müsste er die Mitarbeiter lückenlos kontrollieren und bei Verstößen zusätzliche Konflikte mit ihnen ausfechten. So ist es aus seiner Sicht nachvollziehbar und logisch, dass er sich ein erreichbares, realistischeres Ziel setzt – die Begrenzung des Missbrauchs. Damit ändert er am Problem nichts, doch er erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass seinen eigenen Vorgesetzten das Missverhältnis nicht auffällt. Um den Missbrauch einzuschränken und für seine eigenen Vorgesetzten unsichtbar zu machen, nutzt er Konflikte als pädagogische Maßnahme und inszeniert Kleinkonflikte, damit die Mitarbeiter ihr Verhalten wenigstens geringfügig ändern und vielleicht auf lange Sicht doch noch lernen, was Teamarbeit bedeutet. Rico geht immer wieder durch den Betrieb und spricht die Mitarbeiter, die er ständig im Raucherraum antrifft, an. Er überträgt ihnen zusätzliche Arbeitsaufgaben, z.B. Reinigungsarbeiten, und streitet sich mit ihnen, wenn die sie (aus behaupteten Zeitgründen) nicht ausführen. Er fordert sie immer wieder auf, sich gegenseitig bei Störungen an den Maschinen zu unterstützen. Rico wirkt (auch über die Gruppensprecher) in pädagogischer Absicht auf seine Mitarbeiter ein. Er möchte, dass sie ihre Gewohnheiten langfristig verändern. Und er macht sich Gedanken über die Vermittlungsmethoden. Er lehnt es ab mit der „Brechstange“ (12:49) vorzugehen. Emotionale, große Konflikte und drakonische Strafen verhindern seiner Auffassung nach Veränderungen und Lernen. Er befürwortet wiederholtes Aufzeigen des Fehlverhaltens und sanften Druck. Sein Vermittlungsstil ist dabei weniger das Ergebnis institutionalisierter Lernprozesse, sondern das Resultat seiner eigenen, praktischen Lernerfahrungen als Mitarbeiter: „Weil ich dann selber auf Stur stellen würde. Wenn mir jetzt einer entgegen kommen würde und mir was von heute auf morgen ändern möchte, wo ich jetzt schon Jahre lang mache, dann ist das wohl eine Gewohnheit des Menschen
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zu sagen, dann block ich erstmal ab. Und da erreicht man ja letztendlich gar nichts.“ (12:24-28) Einen Teilerfolg rechnet er sich schon zu, denn wenn untätige Mitarbeiter ihn heute sehen, nehmen sie, anders als am Anfang, ihre Arbeit unaufgefordert wieder auf.
Einflussmöglichkeiten des Vorgesetzten auf die Mitarbeiter über die Gruppensprecher: Der Gruppensprecher ist in diesem Betrieb das Sprachrohr der Gruppe und des Vorgesetzten. Er gibt in beide Richtungen Informationen weiter, leitet die Gruppengespräche, ist aber nicht mit strukturellen Führungskompetenzen ausgestattet. Er ist ein normales Mitglied der Arbeitsgruppe. Seine Macht ergibt sich aus seiner Position dazwischen: Gegenüber den übrigen Mitarbeitern hat er den Vorteil, dass er regelmäßige Gespräche mit dem Vorgesetzten führt. Gegenüber dem Vorgesetzten hat er den Vorteil, dass er mehr Nähe zu den übrigen Gruppenmitgliedern hat. Gruppensprecher als „Sprachrohr“(26:05-06) der Gruppe filtern dadurch die Kommunikation zwischen Schichtführer und Team. Kleinere Probleme und Konflikte werden in der Gruppe unter Moderation des Gruppensprechers eigenverantwortlich bearbeitet. Wenn aber die Gruppe ihre Schwierigkeiten nicht eigenständig lösen kann (z.B. bei Mobbing) oder, wenn Gruppenmitglieder ihren Gruppensprecher als unfähig ablehnen oder sich von ihm gemobbt fühlen, beschweren sich Einzelne (z.B. Konfliktunterlegene und Mobbingopfer) beim vorgesetzten Schichtführer. Die Gruppensprecher nehmen bei Ricos, auf die Gruppe gerichteten Veränderungsbemühungen eine wichtige Rolle ein. Rico plant aktuell, mit ihnen ein Gespräch über den Missbrauch von Pausenzeiten zu führen (vgl. 7:31-50). Rico will sie in Bezug auf die unternehmenspolitische Situation sensibilisieren. Wenn das Management von den vielen Pausen erfährt, sind Arbeitsplätze bedroht. Rico wundert sich, dass die Mitarbeiter scheinbar keine Angst hätten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Ihnen versucht er es aber auch nicht (mehr) zu erklären, stattdessen initiiert er regelmäßige Kleinkonflikte. Aber er weist den Gruppensprechern hier zusätzliche Verantwortung für die Außendarstellung ihrer Teams zu. Von ihnen verlangt Rico mehr als von den übrigen Mitarbeitern. Die Gruppensprecher müssen die Zusammenhänge begreifen. Ob sie die Tragweite nach dem Gespräch tatsächlich erkennen können, kann Rico noch nicht einschätzen. Und wenn sie es selbst begreifen, können sie es den Kollegen vermitteln?
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In Konflikten Intervenierende
Zusammenfassung
Konflikte stehen für Rico in engem Zusammenhang mit seiner Rolle als Vorgesetzter. Er trennt seine Zeit als einfacher Mitarbeiter, in der es auch unter schwierigen Verhältnissen keine Konflikte gab, von der als Vorgesetzter. Rico unterscheidet ‘normale’ Konflikte von Mobbingkonflikten. Während ‘normale’ Konflikte in Teams eigenständig, für den Vorgesetzten oft unbemerkt gelöst werden, wirken Mobbingkonflikte über das Team hinaus. Üblicherweise merke der Vorgesetzte von den Ereignissen erst etwas, wenn es schon zur systematischen Ausgrenzung eines Opfers gekommen sei und wenn das Opfer sich schließlich offiziell beschwere. Mobbingkonflikte sind für Rico Gruppenkonflikte, in denen auch Gruppensprecher manchmal eine unrühmliche Rolle spielen – d.h. Mobber sind. Eine zweite Form von Konflikten sind für Rico Auseinandersetzungen, die ein junger, neuer Mitarbeiter in Vorgesetztenposition durchstehen muss, um am Ende als Chef auch von den älteren Kollegen anerkannt zu werden. Und drittens berichtet Rico von selbst initiierten Kleinkonflikten, die er bewusst als Führungsinstrument einsetzt. Wie geht Rico mit den Konflikten um? Sein Umgang mit Konflikten ist variantenreich. Auch Lernen und Lehren ist dabei von großer Bedeutung. Im damaligen echten Mobbingfall bemühte Rico sich zu intervenieren – er führte Gespräche mit dem Mobber, leitete Gruppengespräche, versetzte den Mobbingbetroffenen. Der Fall wurde dann auch gelöst, aber dadurch, dass der Betroffene freiwillig kündigte. Den Mobber, einen Gruppensprecher, greift Rico nur einmal halbherzig an, um dann sofort zurückzuweichen. Rico konnte durch seine erste Mobbingerfahrung nicht lernen wie man mit solchen Konflikten umgeht. Er sagt heute, solche Konflikte seien unlösbar. Der Misserfolg bei der Intervention hat ihm aber gezeigt, dass er in einem vergleichbaren Fall in Zukunft frühzeitig eingreifen muss, um eine ungezügelte Eskalation zu verhindern. Dafür muss er mehr Kontakt zum ‘Opfer’ haben, sich mehr in die Gruppenprozesse einmischen und die Gruppensprecher mehr in die Verantwortung nehmen. Lehren als Methode der Intervention kommt hier eher spärlich und vorsichtig vor. Der Mobber verbietet sich jede Belehrung. Das Team beschreibt Rico als unbelehrbar. Lediglich beim Mobbingopfer versucht Rico es mit vorsichtiger und versteckter Belehrung. Durch unspektakuläre Kleinkonflikte schaltet sich Rico in die Selbstorganisation der Gruppe und in die Führung durch die Gruppensprecher ein. Er nutzt sie, um Verhaltensänderungen bei den Mitarbeitern zu bewirken und um die Einflussnahme der Gruppensprecher auf die Teams zu steuern. Durch die Konflikte mit dem türkischen Mitarbeiter hat Ricos mittlerweile selber viel gelernt. Im ersten Konflikt reagiert er als Vorgesetzter noch unsicher und unprofessionell. Der Konflikt offenbart ihm seine Wissens- und Kompe-
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tenzdefizite. Das ist für ihn der Anlass für nachfolgendes, intensives Lernen. Sein Erfolg im zweiten Fall zeigt, wie viel er in der Zwischenzeit durch praktische Konflikte, aber auch durch Seminare, gelernt hat. Der zweite Konflikt ist somit die Bewährungsprobe für das neu erworbene Wissen und Können. Jetzt ist er der erfahrene Vorgesetzte.
2.2.3 Innerbetriebliche Karriere – vom Hilfsarbeiter zum Chef Rico bettet seine Erzählungen über betriebliche Konflikte in seine Berufsbiographie ein. Er hat nicht in seinem ursprünglich erlernten Beruf Karriere gemacht. Sondern er hat sich in der Reifenproduktion vom ungelernten Arbeiter zur Führungskraft hochgearbeitet. Konflikte und das Lernen aus Konflikten stehen ausschließlich im Zusammenhang mit seiner Vorgesetztenrolle. Wenn er von seiner Zeit als einfacher Mitarbeiter berichtet, streicht er immer wieder das harmonische, konfliktfreie Miteinander heraus.
2.2.3.1
Keine Konflikte in der Ausbildung – trotz cholerischem Meister
Rico beschreibt seine Berufsbiographie als einen Weg nach oben. Lediglich mit einem Realschulabschluss und einer Metzgerausbildung ausgerüstet, beginnt er seinen beruflichen Weg. Er erklärt, er habe mit seinem Ausbilder „en bisschen so Dispute gehabt“ (28: 18). Das habe ihn aber nicht daran gehindert, „die Lehre zu Ende zu machen“ (28:19). Trotz schwieriger Ausbildungssituation kommt es zu keinem offen ausgetragenen Konflikt zwischen Lehrling und Meister. Hätte Rico seinem Meister so richtig die Meinung gesagt, hätte er möglicherweise die Ausbildung dort nicht beenden können. Er ordnet sich als Lernender unter und schließt seine Ausbildung schließlich mit Erfolg ab. Nach erfolgreicher Ausbildung wechselt er den Arbeitsplatz, ohne das unangemessenes Verhalten des ehemaligen Ausbilders zu thematisieren. Er geht damit erneut den Konflikten aus dem Weg. Doch durch seine Ausbildung hat er bereits für seine spätere Rolle aus Vorgesetzter gelernt. Er erklärt: „Dass ich das mit Sicherheit, wenn ich einmal Leute habe, nicht so mache. Das habe ich dann daraus mitgenommen. Weil mein Chef hat auch immer rumgekrischen. Wenn ich heute irgendjemanden höre, der rumkreischt, muss ich immer erstmal schmunzeln, weil ich sag immer, „wer kreischt verliert“. (13:06-10) Auch später weist Rico cholerische Menschen eher ungern in ihre Grenzen. Er belehrt sie nicht und vermeidet dadurch Konflikte.
222 2.2.3.2
In Konflikten Intervenierende
Einführung der Gruppenarbeit als Karrierechance für den engagierten jungen Mann
Später wechselt Rico in die Industrie, um mehr Geld zu verdienen. Er fängt als Hilfsarbeiter wieder von ganz unten an. Hier kommt ihm zu Gute, dass im Rahmen der Einführung der Gruppenarbeit und einer größeren Einstellungswelle junge, lernbereite Mitarbeiter gesucht werden. Rico erklärt, er sei mit der Gruppenarbeit „groß geworden“ (24:47). Anders als viele seiner älteren Kollegen hatte er eben keine Berührungsängste, sondern nutzte die Einführung als Chance. Er lernte bereitwillig. Später übernahm er die Aufgaben des Gruppensprechers und des Teamkoordinators. Er wurde für diese Rollen nochmals speziell geschult, um auch die älteren, erfahrenen Kollegen zur Akzeptanz der Gruppenarbeit und somit zum Umdenken und Umlernen zu bewegen. Er ist in seiner Vermittlerrolle erfolgreich. Und er wirkt auch über die Grenzen der eigenen Arbeitsgruppe heraus. Er schult auch in anderen Bereichen, Abteilungen und Betrieben Mitarbeiter. Damit wird er im Betrieb bekannt.
2.2.3.3
Experte im Aufstellen und der Inbetriebnahme von Maschinen im In- und Ausland
Rico bietet sich immer wieder für die unterschiedlichsten Aufgaben an – er bewirbt sich auf Stellen, für die er eigentlich nicht ausreichend qualifiziert ist. Arbeitsleistung wird für ihn so zur Lernleistung. So entwickelt er sich schließlich zum Fachmann für die Inbetriebnahme von neuen Maschinen. Weil er erfolgreich ist, wird er auch in ausländischen Betrieben des Konzerns eingesetzt und angefordert. Weil er dafür Englischkenntnisse benötigt, besucht er in seiner knappen Freizeit auch noch Englischkurse. Rico erklärt, dass seine Karriere das Ergebnis harter Arbeit und einer positiven Einstellung zu Leistung, Veränderungen und Lernen sei. Sein außergewöhnliches Engagement sei die Voraussetzung gewesen, dass er den Verantwortlichen im Betrieb überhaupt aufgefallen sei. Das Schlüsselwort für seinen Erfolg ist Lernen bzw. seine offen zur Schau gestellte Lernbereitschaft. Rico nutzte jede Gelegenheit, um sich zunächst als Lernender zu inszenieren und um sich anschließend als Wissender den Kollegen im In- und Ausland als Lehrer anzubieten. Rico erklärt, er habe sich immer mit allen gut verstanden, weil er niemandem sein Wissen aufgedrängt hätte.
Ein unerfahrener Vorgesetzter
2.2.3.4
223
Vorgesetztenposition als eine besondere Herausforderung
Heute steht Rico als Vorgesetzter in der Hierarchie über seinen früheren Kollegen. Doch sein Führungsverständnis knüpft an die alten Erfahrungen an. Rico erklärt, er bilde sich nichts auf seine Vorgesetztenfunktion ein. Er sei nicht streng und es sei ihm wichtig, nicht zu vergessen, woher er komme. Doch er erwarte, dass seine Mitarbeiter ihm Respekt entgegenbrächten, denn letztlich trage er die Verantwortung für das Ganze. Rico sieht sich fachlich als der Koordinator der Arbeit und kommunikativ als Vermittler zwischen Mitarbeiter- und Unternehmensinteressen, aber auch als Moderator innerhalb des Teams. Mit seinen in der Vergangenheit erlernten und erfolgreichen Führungsstrategien, die gerade auf Harmonie und Konfliktfreiheit fußten, kommt er als ‘echter’ Vorgesetzter aber nicht in allen Situationen zum Ziel. Rico musste früh erfahren, dass ein Vorgesetzter nicht allen Konflikten aus dem Weg gehen kann. „Am Anfang [war das Vorgesetztensein: Anmerkung M.N.] recht schwer, weil ich mit ich mit relativ vielen Situationen konfrontiert worden bin, wo ich die ganze Zeit nix mit am Hut hatte. Wobei man muss sagen, dass das relativ gut strukturiert war bei uns, da ich ne ganze Zeit lang als zweite Person mitgelaufen bin. Und somit schon einige Dinge gesehen habe, aber mir immer gedacht habe: „Na gut, damit hab ich weniger mit am Hut. Das soll er mal machen.“ Dann halt relativ viel Arbeit. Ich hab meine Arbeit wohl getan, aber diese Arbeit, die was weiß ich, ob das irgendwelche Abmahnungen schreiben war oder Einstellungsgespräche oder Bewertungsgespräche und und und. Das waren alles nicht meine Arbeiten und das hab ich schön. Da hab ich mich auch nicht viel mit beschäftigt. Und wie ich dann in die Situation gekommen bin, dass ich dann die Vorgesetztenrolle übernommen habe, und da bin ich dann gleich am Anfang damit konfrontiert worden mit Kündigung, mit Abmahnung, also das Schlimmste was man sich so als Vorgesetzter oder in der Laufbahn so vorstellen kann. Und somit bin ich eigentlich relativ schnell ins kalte Wasser geschmissen worden, und hab dann halt versucht, den bestmöglichsten Weg zu finden, ja. Das hat mich am Anfang sehr viele Nerven gekostet, auch manchmal so ein bisschen ne schlaflose Nacht. (.) Es hat irgendwie dann funktioniert.“ (13:18-36)
Rico konnte teilweise auch in diese Vorgesetztenposition langsam hineinwachsen. Die Organisations- und Koordinationsaufgaben beherrschte er bereits bevor er in diese Funktion wechselte. Doch es gab auch Aufgaben, die er vorher nie geübt hatte. Solange er noch nicht der eigentliche, offizielle Chef war, kümmerte sich sein Vorgesetzter darum, wenn es um schwierige Themen und Konflikte ging. Erst mit der offiziellen Übernahme der Rolle hatte er auch die ganze Verantwortung und musste selbst in den Konflikten agieren und intervenieren, die sich aus der Vorgesetztenrolle ergaben. Für Rico ist der Job als offizieller Vorgesetzter eine Herausforderung ganz neuer Qualität. Den Umgang mit Maschinen konnte er durch Nachahmung erlernen („Ich habe früher relativ viel bei Leuten abgeguckt, obwohl ich eigentlich nicht wusste wie das funktioniert.“ (14:23-24)), für die Menschenführung reicht
224
In Konflikten Intervenierende
diese Methode nicht aus („Aber es hat nie richtig funktioniert, weil irgendwo immer ein Punkt war, wo man doch dann irgendwo in die Ecke getrieben worden ist von Leuten oder von Mitarbeitern.“ (14:25-27)). Mit seiner früheren Augenhöhen-Kommunikation ist er an Grenzen gestoßen. Für Rico war es in seiner Rolle als Vorgesetzter eine ganz neue Erfahrung, dass man nicht alle Konflikte vermeiden kann und, dass man manchmal seine Autorität als Chef offen kommunizieren muss. Den Umgang mit seiner speziellen Rolle, auch den Umgang mit Konflikten, konnte er nur mit Unterstützung von Schulungen erlernen („Aber im Großen und Ganzen nur durch Schulungen, Seminare, Lehrgänge.“ (14:4243)). Lernen aus den praktischen Konflikten war also nur möglich, weil das Lernen aus der Praxis durch theoretische Elemente in Seminaren und durch offizielle Lehrer unterstützt wurde. Rico hat für die Zukunft noch weitere berufliche Ziele. Er möchte auf der Karriereleiter noch eine Stufe nach oben und Produktionsleiter an einem ausländischen Standort werden. Er ist immer noch bereit zu lernen, sich zu verändern und sich auf neue Herausforderungen einzulassen.
2.2.4 Partnerschaft und Ehe als Unterstützung und/ oder als Hindernis beim beruflichen Aufstieg
Rico stellt seine Konflikterzählungen in einen beruflich-betrieblichen Kontext, in dem Konflikte nur im Zusammenhang mit seiner Vorgesetztenrolle auftauchen. Seine Gesamtbiographie präsentiert er wiederum als Ergänzung seiner Berufsbiographie. Auch im außerbetrieblichen Bereich ist dem Interviewten Harmonie grundsätzlich wichtig, um beruflich erfolgreich zu sein und zu bleiben. Er berichtet von einem einzigen Konflikt – der Scheidung von seiner früheren Ehefrau.
2.2.4.1
Ehe und Familie als Lernbarriere und Karrierebremse – der Ehekonflikt als ein Ringen um berufliche Lernchancen
Rico lernte seine Exfrau kurz nach der Ausbildung kennen. Die beiden jungen Menschen starteten in ein traditionell ausgerichtetes, gemeinsames Leben. Zunächst reisten sie viel und genossen das Leben. Es folgte Heirat, Kauf einer Eigentumswohnung und die Geburt eines Sohnes. Für die Verwirklichung dieser traditionellen Lebensplanung fing er beruflich nochmals ganz neu an, um seine Familie finanziell abzusichern, um sich Wohnung und Kind überhaupt leisten zu
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können. Er verzichtete auch auf eine zweite Ausbildung, die ihm an seinem jetzigen Arbeitsplatz einen schnelleren und sicheren Aufstieg ermöglicht hätte. Zunächst sei er mit der Unterordnung der beruflichen Ziele unter die familiären auch „eigentlich recht zufrieden“ (28:47) gewesen. Auf Dauer konnte Rico aber die klare Ausrichtung auf die Familie nicht durchhalten. Ihm reichte sein Leben, das nur aus Arbeiten, Schlafen und Familie bestand, nicht aus. Er vermisste Bereiche, in denen er sich ausprobieren, in denen er lernen und sich weiter entwickeln konnte. Er suchte sich mit der Begründung des Geld-Verdienens innerhalb seiner Berufstätigkeit schließlich neue Herausforderungen und Freiheiten (Lehrgänge, Englischkurs, Auslandaufenthalte) und reduzierte die Zeiten mit der Familie. Rico erklärt, seine Frau habe schließlich so nicht mehr leben wollen. Für Rico wurde die Situation erst zum Konflikt, als seine Frau sich nicht mehr nur beschwerte, sondern sein Verhalten überhaupt nicht mehr tolerierte. Schließlich musste auch Rico sich klar positionieren. Die Entscheidung fiel gegen die Familie und für die berufliche Weiterentwicklung. Rico erklärt, weil er sich beruflich stärker engagieren wollte als es seiner Ehefrau lieb war, scheiterte seine Ehe letztlich. Die anschließende Scheidung stellte für Rico einen Ressourcenkonflikt dar. In seiner Erzählung im Rahmen des Interviews fokussiert Rico nicht auf die zwischenmenschlichen Probleme. Er reduziert den gesamten Scheidungskonflikt auf die Auseinandersetzung ums Geld. Ihm ging es schlecht, weil er sich eine Scheidung finanziell überhaupt nicht leisten konnte. Da aber die Wohnung schließlich gut verkauft wurde und er neben seinem normalen Job auch noch in Nebenjobs Geld verdienen konnte, kam er ohne Schulden aus der Ehe heraus. Unterstützung in dieser Situation war dann auch kein Paartherapeut, sondern ein in finanziellen Dingen bewanderter Anwalt. Nach seiner Scheidung begann sein finaler Aufstieg in die Vorgesetztenposition.
2.2.4.2
Freiheit und Ungebundenheit als Voraussetzung für lebensbegleitendes, berufliches Lernen
Für Rico sind Konflikte im Privatleben auf Dauer nicht akzeptabel, weil er sich als einen Menschen ansieht, mit dem man sich eigentlich nicht streiten kann („Aber so richtig Konflikte als solches, in dieser Zeit, muss ich ehrlich sagen, hatte ich nicht. Der einzigste Konflikt war der mit meiner Frau, mit meiner Exfrau. Das war das Einzigstes.“ (29:32-35)) – und weil die privaten Konflikte ihn (zumindest vorübergehend) an seiner beruflichen Karriere hindern würden. Er kann sich nur weiterentwickeln, wenn er keine solchen Konflikte austragen muss. Heute weiß er, dass Beziehungen mit Frauen nur konfliktfrei funktionieren
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In Konflikten Intervenierende
können, wenn die Partnerin von Anfang an akzeptiert, dass sie Priorität zwei – nach dem Beruf – hat. Heute führt er ein ungebundenes Quasi-Single-Leben mit eher losen Kontakten und vielen privaten und beruflichen Freiräume. Rico hat zurzeit keine eigene Wohnung, sondern lebt bei seiner neuen Freundin. Er pflegt einen regelmäßigen Kontakt mit seinem Sohn, der bei der Mutter lebt. Er kann sich jetzt ganz auf seine Arbeit konzentrieren. Sollte ihn ein längerfristiges berufliches Angebot im Ausland ereilen, würde er es ohne Zögern annehmen. Mit einem beruflich bedingten Auslandsaufenthalt könnte er auch private Bedürfnisse befriedigen, denn er reist immer noch gerne. Zurzeit fehlt ihm für ausgiebige Urlaubsreisen allerdings das Geld.
2.2.5 Zusammenfassung der gesamten Interpretation Rico präsentiert im Interview seine, einer klaren Steigerungslogik folgende und durch fortwährendes betriebliches, am Arbeitsprozess orientiertes Lernen gestaltete Berufsbiographie. Konflikte tauchen darin als eine unvermeidbare Erfahrung auf, die eng mit seiner mittlerweile erreichten Vorgesetztenrolle zusammenhängt. Selbst seine private Lebenswelt ordnet Rico dem beruflichen Karrierestreben unter. Hier achtet er auf ein harmonisches Umfeld. Aus seiner ihn einengenden, konflikthaften und am Lernen hindernden Ehe hat er sich mittlerweile gelöst. Rico präsentiert eine alternative Berufskarriere, die er einzig durch im Arbeitskontext erworbenes Wissen und überdurchschnittliches Engagement zustande gebracht hat. Fachbezogenes Wissen hat Rico sich immer mit Erfolg und ohne Konflikte durch Nachahmung angeeignet. Dadurch ist er in sein heutiges Amt gelangt. Betriebliche Konflikte bieten Rico heute als Vorgesetzten die Gelegenheit zu intensivem, sozialen Lernen. Anders als bei der Aneignung von fachbezogenem Wissen benötigt er hier die Unterstützung durch institutionell arrangierte Lernangebote. Lernen durch Konflikte ist für Rico deshalb unverzichtbar, weil es sehr viele Konflikte – auch Mobbingfälle – innerhalb seiner Teams gibt. Um sich als Vorgesetzter zu behaupten, muss er in Mobbingkonflikten erfolgreich intervenieren und Mitarbeiter, die ihn als Chef in Frage stellen, in ihre Grenzen verweisen (vgl. auch Abbildung 5).
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Ein unerfahrener Vorgesetzter
Abbildung 5:
Zusammenfassung Fallportrait Rico K.
Rico K. – eine alternative Berufskarriere durch intensives, nicht institutionalisiertes Lernen und Lehren Konflikte und der Umgang damit
Lernen und Lehren
musste lernen, dass Möglichkeiten bei echtem Mobbing begrenzt sind. vorsichtige verdeckte Belehrung, um Gemobbten zu aktivieren Lernen als vorgeschobene Maßnahme im Konflikt, um Konfliktparteien zu trennen Konflikt um die Akzeptanz als Vorgesetzter: vorsichtige verdeckte Belehrung, Der frühe Konflikt: Türkischer Mitarbeiter stellt um den Mitarbeiter zu diplomatischerem mit Erfolg Autorität des jungen Vorgesetzten in Frage. Umgang mit Kollegen zu bewegen und Der spätere Konflikt mit dem gleichen Mitarbeiter: erneutes Mobbing zu verhindern Rico (als erfahrener Vorgesetzte) geht in die Auseinan Konflikte als Situationen in denen dersetzung und diszipliniert den Mitarbeiter. eigene Lerndefizite sichtbar werden spontanes Lernen in der Situation Tägliche Kleinkonflikte: durch ältere Vorgesetztenkollegen Rico nutzt Kleinkonflikte um Verhaltensenderun nachgeschaltetes geplantes Lernen, gen bei Mitarbeitern zu bewirken um Konfliktfähigkeiten auszubauen Mitarbeiter und auch Gruppensprecher machen (Seminare) sich keine Gedanken über Außenwirkung (zu viele späterer Konflikt als Beweis für Pausen) – deshalb Konflikte nötig. Lernerfolg Gibt Arbeit in gelerntem Beruf auf, weil zu wenig Geld. Beginnt als Beruf und Betrieb ungelernter Arbeiter und arbeitet sich hoch. Umfängliches Lernen – bevor er Vorgesetzter wurde keine Konflikte durch Gruppenarbeit gelernt und gelehrt Aufstellen von Maschinen: Lernt durch Beobachtung. Belehrt Mitarbeiter, wie sie Maschinen störungsfrei betreiben können. Führungskraft sein: Hat Fachliches als Schichtleiter gelernt, indem er als 2. Mann mitläuft. Mitarbeiterführung kann man so nicht lernen. Monatliches Schichtleitertreffen auch als Lehr-Lern-Setting (von Älteren lernen). Außerbetrieblich: Englischkurs/ Lernsituation als persönlicher Freiraum. Verzichtet wegen der Familie auf Ausbildung zum Industriemeister. Private Beziehungen müssen Priorität der Arbeit anerkennen: außerberufs- und Klassischer Familienalltag hat nicht funktioniert/ war nicht mit seiner außerbetriebliche beruflichen Tätigkeit vereinbar. Konsequenz Scheidung. Themen Heute: Lose Partnerschaft ohne Verpflichtungen. Reisen in fremde Länder als private Leidenschaft, die er zurzeit über Dienstreisen befriedigt. Mobbingkonflikte: Ein durch Weggang des Gemobbten gelösten Mobbingfall - Rico interveniert ohne Erfolg. Aktueller Konflikt in der Gruppe (noch kein Mobbingfall) - Gruppe sucht neue Opfer. Mitarbeiter schützt sich selbst durch Nähe zum Vorgesetzten.
3 Erste Muster: Konflikt-, Lehr- und Lerntypen der vier Eckfälle
Für das Aufspannen des Feldes arbeite ich mit Kontrasten und Eckfällen. Die gesamte Kontrastierung läuft somit erstens über Intervenierende und Betroffene – und zweitens über Konflikte ohne Ende und Konflikte als begrenztes Ereignis. So wurde schließlich mit je zwei Fällen für Intervenierende und Betroffene gearbeitet. Innerhalb jeder Gruppe gibt es je einen ‘schwachen’ und einen ‘starken’ Fall. Für die Intervenierenden wurden nach diesen Kriterien Cora G. (Konflikte ohne Ende) und Rico K. (eng eingegrenzte Konflikte) ausgesucht. In der Betroffenengruppe fiel die Wahl auf Isolde S. (Konflikte ohne Ende) und Rolf R. (ein einziger Konflikt). Nachdem ich in den vorherigen Kapiteln diese vier Eckfälle sequenzanalytisch interpretiert habe, geht es in den nachfolgenden um die Einbeziehung der restlichen Interviews. Ziel ist eine Neuordnung und Systematisierung aller Fälle unter Berücksichtigung unterschiedlicher Konflikt-, Lern- und Lehrtypen. Zunächst greife ich in einem ersten Schritt die vier Fallanalysen nochmals auf, präsentiere die wichtigsten Einzelergebnisse, beschreibe den dazugehörenden Forschungsweg, stelle Vergleiche zwischen den Fällen an und verdichte die vier Fälle im Hinblick auf erste Muster. Anschließend (im 4. Kapitel) ordne ich die restlichen 17 Interviews ein. Erst danach (im 5. Kapitel) erfolgt die eigentliche Typenbildung. Ich habe meine Analysen mit dem Fall der Intervenierenden Cora G. (44) begonnen. Zu diesem Zeitpunkt waren aus der neuen Interviewserie erst wenige Interviews geführt. Die Wahl erfolgte also eher intuitiv. Cora erzählt ausführlich von fünf betrieblichen Konflikten, die sich über die gesamte Zeit ihrer Berufstätigkeit als ausgebildete Laborantin hin erstrecken. Gerade selbst mit der Ausbildung fertig, wirkt Sie pädagogisch auf den Lehrling, den Jugendlichen, ein; ihre Intervention ist erfolgreich. Der Auszubildende verändert sein Verhalten, wird nach der Prüfung übernommen und arbeitet bis heute im Unternehmen. Bei einem Erwachsenen ist sie mit ihren pädagogischen Bemühungen weniger erfolgreich. Er wehrt sich gegen ihre Interventionsversuche. Es kommt zur Bestrafung, der Kollege verliert seinen Arbeitsplatz. Cora berichtet auch vom aktuellen Dauerkonflikt mit ihrem direkten Vorgesetzten, dem Laborleiter. Der hatte im Mobbingfall Christine K. eine unrühmliche Rolle gespielt. Sie kritisiert ihn massiv
M. Niebuhr, Konflikte im Betrieb, DOI 10.1007/978-3-531-92696-4_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Erste Muster: Konflikt-, Lehr- und Lerntypen der vier Eckfälle
und spricht ihm die Kompetenz ab, ein Labor zu leiten und Mitarbeiter zu führen. Außerdem erzählt sie die Geschichte von einem Kollegen, der ihr viele private Dinge anvertraut hatte und plötzlich nicht mehr mit ihr redete – und von einem Konflikt, der dadurch entstand, dass eine Kollegin von der Betriebsrätin Cora und nicht von ihrem Chef erfuhr, dass sie für eine Höhergruppierung vorgesehen war. Neben den betrieblichen Konflikten berichtet Cora auch über außerbetriebliche – angefangen von Familien-, Nachbarschafts- und Generationenkonflikten bis hin zu gesamtgesellschaftlichen Differenzen (Indianer gegen die ‘zivilisierte’ Welt). Als einzige nahezu konfliktfreie Zone präsentiert sie ihre Kleinfamilie. Bei Cora haben die Arbeitsplatzkonflikte eine sehr große Bedeutung. Sie ist eine Intervenierende, die sich mit unbegrenzten Arbeitplatzkonflikten beschäftigt. Obwohl Cora der von der Interviewerin gewählten Unterscheidung zwischen Konfliktbetroffenen und Intervenierenden folgt und sich selbst eindeutig als Intervenierende sieht, zeigt sich bei der Analyse eine Überschneidung beider Perspektiven. Der Fall Cora zeigt: Man kann von Konflikten, in denen man offiziell interveniert, auch selbst betroffen sein. Lernen und Lehren tauchen in diesem Interview in vielfältigen Varianten auf. Cora fühlt sich schon kompetent (Grundlage für Lehren) und will ihre Fähigkeiten noch weiter ausbauen (Motivation für weiteres eigenes Lernen). Sie behauptet aber auch offizielles Lernen, um sich inoffiziell gegen als unangemessen empfundene Lernerwartung zu verschließen. Nach der Grundannahme müssten für sie als Intervenierende aber das Intervenieren und das Lehren klar im Vordergrund stehen. Durch die Analyse wird aber auch viel Betroffensein und Lernen sichtbar. Bei der Interpretation dieses Interviews wurden die fallübergreifenden Strukturen von Bezügen und Einbettungen betrieblicher Konflikte herausgearbeitet. Es sind: (1.) die betrieblichen Konflikte und der individuelle Umgang mit ihnen, (2.) die beruflich/ betriebliche Einbettung dieser Konflikte und (3.) ihre außerbetriebliche Kontextualisierung. Der Fall Isolde S. (32) wurde als nächstes ausgewählt, weil Isolde zur Gruppe der Betroffenen zählt. Auch bei ihr handelt es sich um einen Fall, in dem nach erster Sichtung des Interviews klar war, dass es viele bedeutsame und massive Konflikte gibt. Isolde wurde als Mobberin beschuldigte. Sie hingegen fühlt sich selbst als Opfer der Konflikte. Isolde S. erzählt von größeren und kleineren betrieblichen Konflikten während ihrer gesamten Erwerbstätigkeit. Als ‘Schwiegertöchterchen des Chefs’ sei es bereits kurz nach der Einstellung zu Irritationen bei den Kolleginnen gekommen. Sie berichtet von einer Konflikthäufung nach Einführung der Gruppenarbeit. Da sei es auch zum Mobbingvorwurf gekommen. Auch an ihrem jetzigen Arbeitsplatz komme es gelegentlich zu Irritationen – so habe sie sich erst vor kurzem wieder gegen eine versteckte Mobbingzuschrei-
Erste Muster: Konflikt-, Lehr- und Lerntypen der vier Eckfälle
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bung wehren müssen. Isolde präsentiert ihre Konflikte als misslungene Interventionsversuche – sie habe immer nur helfen wollen. Ihr Verhalten in potentiellen Konfliktsituationen hat sie, in Folge eines langen Lernprozesses, geändert. Heute will sie andere nicht mehr belehren. Die Erzählung der privaten Lebensgeschichte nimmt bei Isolde viel Raum ein – sie präsentiert eine antherapierte Biographie. Sie erzählt von den Konflikten mit dem alkoholkranken Vater (der sich schließlich erhängte), der Mutter (die qualvoll nach einem Krebsleiden starb) und ihrem früheren Ehemann (den sie während einer Auseinandersetzung mit dem Küchenmesser bedrohte). Auch ihre heutige Beziehung zu einem verheirateten Mann ist nicht ohne Konflikte. Isolde kennt wie Cora nur einen einzigen Betrieb als Ort der beruflichen Betätigung. Wie bei Cora gibt es bei ihr, sowohl im Betrieb als auch außerhalb, viele Konflikte. Cora wurde für ein Verhalten, das man anhand der Textanalyse als Mobbing bewerten muss, in ihrer Arbeitsgruppe gelobt. Sie hat die Gruppe vor einem unhaltbaren Mitarbeiter befreit. Isolde hingegen wurde für ihre Angriffe auf ältere Kolleginnen gemaßregelt und als Mobberin bezeichnet. Bei Isolde tauchen, wie bei Cora, Lernen und Lehren in großem Umfang, im Zusammenhang mit und ohne Konflikte auf. Doch Isolde lernt aus einer subjektiven Defizitzuschreibung heraus, sie fühlt sich immer wieder unwissend und inkompetent. Lernen ist für sie der Weg in eine nicht näher greifbare, bessere und konfliktärmere Zukunft. Die behauptete klare Zuordnung von Betroffensein und Lernen zur Gruppe der Konfliktbetroffenen und von Intervenieren und Lehren zur Gruppe der Intervenierenden wird durch diesen beiden ersten Fallinterpretationen erschüttert. Die beiden Fälle zeigen, dass sowohl bei der Gruppe der Intervenierenden, als auch bei der der Betroffenen Intervenieren und Erleiden (als Handlungsweisen) vorkommen. Cora wie Isolde erzählen sowohl aus dem betrieblichen als auch aus dem außerbetrieblichen Bereich von vielen Konflikten. Aus diesen Konflikten heraus lernen und lehren sie. Nach den Analysen der Interviews von Cora und Isolde stellte sich erneut die Frage nach dem nächsten Fall, der zu einer der beiden ersten Fälle einen Kontrast bildet. Da bei der Konfliktbetroffenen Isolde Konflikte innerhalb (und außerhalb des Betriebs) einen besonders großen Rahmen einnehmen, muss die Wahl nach den Regeln der minimalen und maximalen Kontrastierung für die Betroffenengruppe auf ein Interview fallen, in dem Konflikte (auf den ersten Blick) eher minderschwer sind. Woran kann man aber einen solchen Fall erkennen? Es wurden davon ausgegangen, dass, wenn ein Interviewter von zahlenmäßig weniger Konflikten berichtet und diese auch weniger dramatisch präsentiert (indem er sie z.B. als Konflikte und nicht als Mobbing bezeichnet), man von einem weniger schweren Fall reden kann. Die Betroffenen, die lediglich von einem einzigen Konflikt berichten, sind Christine, Max, Beate, Rolf und Josef.
232
Erste Muster: Konflikt-, Lehr- und Lerntypen der vier Eckfälle
Rolf, Bärbel und Olga verwehren sich für ihre Fälle gegen die Bezeichnung Mobbing. Die Entscheidung ist schließlich auf Rolf gefallen, weil er als einziger Betroffener von lediglich einem Konflikt berichtet und sich außerdem gegen die Mobbingdefinition abgrenzt. Rolf R. (47) arbeitete bis vor einem Jahr – sieben Jahre lang - als Führungskraft in einem Betrieb aus dem Bereich Maschinenbau/ Mess- und Regeltechnik. Dort hatte er immer wieder massive Konflikte mit dem in der Firmenhierarchie tiefer stehenden Werkstattleiter. Rolfs früherer Kollege und heutige Nachfolger bezeichnet die Vorfälle als Mobbing. Rolf lehnt diese Zuschreibung ab – er spricht von „Extremen des Lebens“. – Für Rolf sind personenbezogene, betriebliche Konflikte heute eine zurückliegende, abgeschlossene und einmalige Erfahrung, die sich nur auf diesen einen Arbeitsplatz bezieht. Der Konflikt steht im Zusammenhang mit einer extremen Persönlichkeit (dem Werkstattleiter) und auch mit seiner eigenen exponierten Stellung in der betrieblichen Hierarchie. Ursprünglich kam Rolf aus der Automobilbranche, dort hatte er seinen Traumjob gefunden. Heute arbeitet er in einem Softwarehaus als technischer Berater. Weder in seinem Traumjob noch heute gab es Konflikte. Von seinem jetzigen Arbeitsplatz berichtet er als einen Lernort (Seminare, Einarbeitung). Der Interviewte behauptet, sich durch die zurückliegenden Konflikterfahrungen verändert zu haben, er spricht von Lernerfolgen. Doch die behaupteten Lernergebnisse werden durch die Interpretation nicht näher greifbar. Selbst in klassischen Lernsituationen (z.B. seiner Einarbeitung) taucht Lernen nicht auf. Als Führungskraft bezieht er sich nie auf die Verantwortung im Bereich Führung seiner Mitarbeiter. Selbst in Situationen, in denen seine Mitarbeiter lernen müssten, thematisiert er Lernen und Lehren nicht. - Der Interviewte beschreibt sich sowohl im privaten wie im betrieblichen Umfeld als Person, die eher Konflikte meidet. Eine außerbetriebliche Kontextualisierung vermittelt ein Bild von Harmonie. Er bezieht sich relativ ausführlich auf die Freundschaft zu seinem ehemaligen Kollegen und heutigen Nachfolger Karl. Unterschiede werden hier positiv bewertet (keine Konflikte). Seine Ehefrau beschreibt er einerseits als Beraterin im Hintergrund, andererseits behauptet er, dass er sie mit den Konflikten nicht belastet habe. Nach der Analyse des ‘schwachen’ Betroffenenfalls fehlte für die vollständige Kontrastierung noch ein Intervenierendenfall, in dem die Arbeitsplatzkonflikte ebenfalls keine so große Rolle spielen. In der Gruppe der Intervenierenden gibt es aber kein Beispiel, in dem es um einen einzigen Konflikt geht. Von begrenzten Konflikten, im Gegensatz zu unbegrenzten, berichten Nils, Elena, Anita, Jens, Carmen und Rico. Auf den ersten Blick beziehen sich Anita und Jens in ihren Interviews besonders auf das Thema Mobbing, weil sie persönlich in einen solchen Fall verwickelt waren. Von Mobbingfällen in ihrem weiteren Umfeld berichten dagegen alle mehr oder weniger. Nach der Grundannahme wären somit
Erste Muster: Konflikt-, Lehr- und Lerntypen der vier Eckfälle
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vier Interviews für die Kontrastierung gleich geeignet. Die Entscheidung fiel schließlich auf Rico, weil er von den drei gleich geeignet erscheinenden Fällen, auch im Hinblick auf andere Aspekte, den stärksten Kontrast zu den bereits analysierten Interviews bildet. Rico bekleidet wie Rolf eine Führungsposition in seinem Betrieb. Er stellt (anders als Rolf) die Konflikte explizit in den Zusammenhang mit seiner Vorgesetztenrolle. Genauso wie Rolf und im Gegensatz zu Cora und Isolde ist für ihn, für den außerbetrieblichen Bereich, Harmonie sehr wichtig. Rico K. (33) arbeitet als Schichtkoordinator und disziplinarischer Vorgesetzter von 38 Mitarbeitern in der Reifenproduktion. Im Interview erzählt er nur von Konflikten, die im Zusammenhang mit seiner Führungsrolle im Betrieb stehen. Er berichtet von zwei Konflikten innerhalb seiner Teams (einem abgeschlossenen Mobbingfall und einem aktuellen Konflikt), auf die er trotz Vorgesetztenstatus als Intervenierender wenig Einfluss hat und hatte. Inhaltlich geht es um die Schwierigkeiten bei der Selbstorganisation der Mitarbeiter in Pausenfragen. Aus der Betroffenenperspektive präsentiert er zwei Konflikte mit ein und derselben Person – einem älteren, türkischen Mitarbeiter. Beim ersten Vorfall, vor ca. 5 Jahren, konnte sich der neue, unerfahrene Vorgesetzte Rico nur schwer durchsetzen. Heute hat er seine Position gefestigt. Im letzten Konflikt war der ältere, türkische Kollege unterlegen und musste sich sogar entschuldigen. Rico präsentiert den zweiten Konflikt als Beleg für seine mittlerweile erworbene Professionalität als Vorgesetzter. Daneben erzählt er von Reibereien und Kleinkonflikten im täglichen Arbeitsalltag. Rico nutzt sie als Führungsinstrument. Für Rico hat die berufliche Tätigkeit heute allerhöchste Priorität – sogar das Privatleben muss sich nach den beruflichen Erfordernissen richten. Um den Schwierigkeiten des Vorgesetzten-Daseins besser begegnen zu können, besucht der Interviewte immer wieder Seminare. Wissensvermittlung ist für ihn ein wichtiges Werkzeug auf dem Weg nach oben – nicht die pädagogische Absicht steht dabei im Vordergrund. Er will bei seinen eigenen Vorgesetzten positiv auffallen, um Karriere zu machen. Rico meidet private Konflikte, weil sie seine berufliche Leistungsfähigkeit einschränken. Während seiner Ehekrise (die in eine Scheidung mündete) ließ er in seiner Arbeitsleistung nur kurzzeitig nach. Die Grundannahme der Arbeit war, dass die beide Gruppen, Intervenierende und Betroffene, sich im Hinblick auf ihre Deutung von betrieblichen Konflikten, den Umgang mit ihnen und der Bedeutung von Lernen und Lehren beim Umgang mit Konflikten unterscheiden. Doch die Fallbetrachtungen hat gezeigt, dass sich diese einfache Zuordnung von Lernen zu Betroffenen und Lehren zu Intervenierenden empirisch nicht bestätigen lässt. So lernt der Intervenierende Rico selber viel – belehrt aber vorsichtig und zurückhaltend. Zwischen den Fällen Cora (Intervenierende) und Isolde (Betroffene) gibt es unübersehbare Parallelen.
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Erste Muster: Konflikt-, Lehr- und Lerntypen der vier Eckfälle
Für beide haben Konflikte eine Bedeutung, die weit über den Betrieb hinausreicht. In beiden Fällen haben sowohl das Betroffenensein als auch das Intervenieren und das Lernen und das Lehren eine vergleichbar große Wichtigkeit. Beim Intervenieren kann man sehen, dass ein ähnliches Verhalten einmal als angemessen (Cora) und ein anderes Mal als Mobbing (Isolde) interpretiert werden kann. Einzig im Fall Rolf R. steht eindeutig das Betroffenensein im Vordergrund – doch darin spielt Lernen in Zusammenhang mit den Konflikten, anders als angenommen, kaum eine Rolle. Lernen findet bei ihm ja gerade in Abwesenheit von Konflikten statt. Wenn die ursprüngliche, theoretisch begründete Unterscheidung nicht trägt, muss sie durch eine alternative, empirisch begründete ersetzt werden. Dazu werden die Interviews der Betroffenen und Intervenierenden, im Anschluss an die Fallinterpretationen, gemeinsam betrachtet. Sie werden nach der Art und Weise wie in ihnen von Konflikten erzählt wird, zunächst grob charakterisiert und dann danach gruppiert, ob von Konflikten oder NichtKonflikten, im beruflich-betrieblichen Bereich und/ oder im außerbetrieblichen Umfeld, berichtet wird. Alle Interviewten verbindet, dass sie über betriebliche Konflikterfahrungen verfügen. Bei Isolde und Cora gibt es während der gesamten Berufstätigkeit immer wieder neue Konflikte. Beruf und Betrieb werden nicht ausschließlich, aber doch überwiegend, unter dem Aspekt Konflikte präsentiert. Für Rolf handelt es sich bei seiner Konflikterfahrung um ein einmaliges Ereignis. Für ihn haben Beruf und Betrieb große Bedeutung in Zusammenhang mit Spaß (sein Traumberuf in der Automobilindustrie) und mit Lernen (sein neuer Job). Nur ausnahmsweise gab es da einen einzigen Konflikt. Im Interview mit Rico stehen die Konflikte im Zusammenhang mit der Adaption und dem Gestalten seiner Führungsrolle im Betrieb – erst seitdem er Vorgesetzter ist, erlebt er, aus seiner Sicht, Konflikte. Betrieb und Beruf haben für ihn Bedeutung, weil sie ihm eine alternative, von Ausbildungen unabhängige Karriere ermöglichen. Da gehören auch Konflikte dazu – sie müssen nur kontrollierbar sein. Bei den außerbetrieblichen Themen tauchen bei Isolde und Cora ebenfalls viele Konfliktgeschichten auf. Rico dagegen ‘vergisst’ sogar während des Interviews zeitweise seinen einzigen außerbetrieblichen Konflikt (Ehekrise, Scheidung). Sonst ist das Privatleben für ihn eine konfliktfreie Zone. Auch Rolf präsentiert den außerbetrieblichen Bereich als harmonisch. Empirisch gestützt ergeben sich somit drei individuelle Orientierungen (vgl. auch Abbildung 6): Es gibt ein Interview, das sich um einen einzigen Arbeitsplatzkonflikt dreht (Rolf) und ein weiteres, in dem es um begrenzte Arbeitsplatzkonflikte geht (Rico). Und es gibt zwei Beispiele für unbegrenzte Konflikte im betrieblichen wie im außerbetrieblichen Bereich (die Betroffene Isolde und die
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Erste Muster: Konflikt-, Lehr- und Lerntypen der vier Eckfälle
Intervenierende Cora). Diese empirischen Muster laufen quer zur Unterscheidung Betroffene und Intervenierende.
Abbildung 6:
Cora G.
Isolde S. Rolf R. Rico K.
Erste empirische Muster aus den Fälle Cora G., Isolde S., Rolf R. und Rico K. Beruf und Betrieb
außerberufliche Themen
… als ständige Konfliktbereiche (nur Intensität variiert) … als ständige Konfliktbereiche
überall Konflikte (Eltern, Nachbarn, die Welt); Ausnahme die Kleinfamilie überall Konflikte; keine Ausnahme keine Konflikte
… als grundsätzlich konfliktfreie Bereiche. … als Bereich für Konflikte und NichtKonflikte (abhängig von eigener Rolle)
(eher) keine Konflikte; vorübergehende Ausnahme: der Ehekonflikt
Konfliktcharakteristik
Unbegrenzte Konflikte
ein einziger Arbeitsplatzkonflikt begrenzte Arbeitsplatzkonflikte
Unter dem Gesichtspunkt der Konflikttypen macht die Unterscheidung zwischen Intervenierenden und Betroffenen keinen Sinn. Deshalb ist im Weiteren eine übergreifende Typisierung notwendig. Die Unterscheidung läuft jetzt nicht mehr über Intervenierende vs. Betroffene – sondern über Interviews, die sich um einen einzigen Arbeitsplatzkonflikt drehen – Interviews, die begrenzte Arbeitplatzkonflikte zum Thema machen – und Interviews, in denen von unbegrenzten Konflikten erzählt wird. Die Unterscheidung zwischen Betroffenen und Intervenierenden bleibt aber weiterhin aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive relevant, denn die funktionelle Unterscheidung von Lehren (Intervenierende) und Lernen (Betroffene) ist (z.B. aufgrund ihrer Bedeutung für die betriebspädagogische Praxis) weiterhin bedeutsam. Neben der funktionalen Unterscheidung Intervenierende (Die Lehrenden) und Betroffene (Die Lernenden) gibt es aber auch eine Unterscheidung, die auf konkrete Konfliktumgangsstrategien (betroffen sein/ lernen und intervenieren/ lehren) fokussiert.
4 Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
4.1 Interviews, die sich um einen einzigen Arbeitsplatzkonflikt drehen Für die erste Gruppe ‘ein einziger Konflikt’ stehen neben Rolf auch die Interviewten Josef, Beate, Christine und Max. Es fällt zunächst auf, dass es in dieser Gruppe nur Betroffene gibt. Der einzige Interviewte, der überhaupt etwas über Intervenieren berichtet, ist Josef, der Lebensgefährte der Mobbingbetroffenen Anna. Es folgen die Fallportraits der übrigen Fälle zu Ein-einzigerArbeitsplatzkonflikt.
4.1.1 Christine K. – kein Interesse mehr am Lernen und Lehren Christine K. (50), eine Kollegin der Betriebsrätin Cora G., arbeitet seit ihrer Lehre vor ca. 30 Jahren als Chemielaborantin in ihrem Betrieb. Sie erzählt im Interview von einem einzigen Konflikt mit ihr als Betroffenen, der mittlerweile ca. 10 Jahre zurückliegt. Sie habe nach einer Umstrukturierung mehrere neue Kollegen gleichzeitig einarbeiten müssen. Nach ca. einem Jahr habe sich eine der neuen Kolleginnen beim gemeinsamen Vorgesetzten über sie beschwert und anschließend alle anderen Kollegen gegen sie aufgehetzt. Christine bezeichnet diese Kollegin als Mobberin. – Welche Situation führte hier zum Konflikt? Christine engagierte sich als ‘Lehrerin’ für die neuen KollegInnen. Nachdem die über genügend Wissen verfügten, um ihre Arbeit eigenständig erledigen zu können, befreiten sie sich durch einen Konflikt von der übermächtigen Lehrerin. Über ihren Umgang mit diesem Konflikt sagt die Interviewte, sie habe sich absolut machtlos gefühlt. Ein ganzes Jahr habe sie von den hinter ihrem Rücken geführten Gesprächen nichts gewusst. Es ist schließlich ein Kollege und Vertrauensmann, der Christine zu einer neuen Stelle verhilft und sie belehrt: Nicht jede neue Kollegin ist eine Freundin. Distanz ist wichtig, um Konflikte zu verhindern. Mit der Versetzung ist die Angelegenheit für Christine abgeschlossen. Bedeutsames Lernerfahrungen schreibt sie dem Konflikt nicht zu. Sie erklärt, sie sei ausschließlich zum Arbeiten im Betrieb.
M. Niebuhr, Konflikte im Betrieb, DOI 10.1007/978-3-531-92696-4_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
Während der letzten Jahre erfährt das Unternehmen eine Umstrukturierung nach der anderen. In Zukunft soll Christine in der gleichen Arbeitsgruppe arbeiten wie ihre damalige Konfliktgegnerin. Über die möglichen Gefahren und die Konsequenzen einer Verweigerung der Zusammenarbeit berät sie sich zurzeit mit Cora. Auch heute würde sie, käme es erneut zu einem Konflikt, auf Helfer wie Cora setzen. Für Christine ist der außerbetriebliche Bereich mit Familie und dem Hobby Fußball extrem wichtig. Auch hier gibt es normalerweise keine Konflikte. In der nachfolgenden Tabelle (Abbildung 7) ist das Fallportrait von Christine K. nochmals zusammengefasst. Abbildung 7:
Zusammenfassung Fallportrait Christine K. Christine K. –kein Interesse mehr an Lernen und Lehren
Der eine Konflikt und der Umgang damit
Lernen und Lehren
Christine als Mobbingopfer. Mobberin ist die neue Lehren als Konfliktauslöser Kollegin, die sie einarbeiten sollte. Kollegin lehnte sich Lernen als lange zurückliegendes gegen Christines Belehrungen auf. berufsbezogenes Ereignis Selbst eher defensiver Umgang mit Konflikten; Lernen als unvermeidbares Lösung von eigenen Konflikten durch Intervenieren mitlaufendes Alltagsereignis Dritter. Da man Konflikte nicht selbst lösen kann, ist Lernen als ungeeignetes Mittel, Konflikte positiv zu beeinflussen Lernen unnötig. Keine Fälle von Intervenieren Beruf: vor 30 Jahren Beruf gelernt; heute keine Zeit/ Lust zum Lernen; Beruf und Betrieb Alter als Argument für Nicht-Lernen; arbeitet immer im gleichen Betrieb Betrieb: Ort der Unsicherheit und der ständigen sozialen Anpassung (ständig wechselnde Chefs), Helfer wie Cora wichtig, um mit Unsicherheiten zurechtzukommen Konfliktfreie Lebenswelt, Themen sind: Familie und Fußball Außerberufliches/ kein Lernen oder Lehren (auch nicht im Fußballverein – dort organiAußerbetriebliches siert sie)
4.1.2 Max H. – ein außerbetrieblicher, charismatischer Lehrer Max H. (50) ist gelernter Kupferschmied und arbeitet seit 28 Jahren berufsfremd in einem Produktionsbetrieb in der Kunststoffindustrie. Er erzählt von einem einzigen Konflikt (mit ihm als Mobbingbetroffenen). Der habe vor ca. sechs Jahren angefangen und sei „bis heute hin noch nicht abgeschlossen“ (1:06-07). Vorher sei immer alles „relativ reibungslos“ (10:05) verlaufen. – Intervenieren in
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Interviews, die sich um einen einzigen Arbeitsplatzkonflikt drehen
den Konflikten anderer lehnt er aufgrund seiner eigenen zahlreichen Probleme ab. Seitdem er und 12 weitere Kollegen sich vor sechs Jahren offiziell über ihren neuen Chef beschwerten, sei es, so erzählt Max, immer wieder zu Angriffen durch den Vorgesetzten gekommen. Er beschreibt ein über die Jahre hinweg konstantes diskriminierendes und verletzendes Vorgesetztenverhalten. Als eine der am stärksten verletzenden Angriffe empfindet Max die vor kurzem vor Personalchef, Abteilungsleiter und Betriebsrat gemachten Aussage seines Vorgesetzten, dass Max „mit einer Arbeit, LKW abladen, geistig überfordert wäre“ (3:03-04). Damit spricht ihm der Vorgesetzte jetzt sogar die Fähigkeit für die niedersten Tätigkeiten im Betrieb ab. Mittlerweile ist Max, nach Auffassung der Ärzte, durch die Dauerkonflikte am Arbeitsplatz, an Depression erkrankt. Abbildung 8:
Zusammenfassung Fallportrait Max H.
Max H. – ein außerbetrieblicher, charismatischer Lehrer Der eine Konflikt und der Umgang damit
Mobbingbetroffener in Folge einer offiziellen Beschwerde Mobber ist der (neue) Chef Max pflegt aktiven, eher aggressiven Umgang mit Konflikten („ich habe nichts zu verlieren!“) weiteres Anheizen des Konflikts durch weitere Beschwerden bei der Personalabteilung Krankheit und ärztliches Attest führt zur weiteren Verschärfung Ausstieg und Rente sind schon geplant (antizipierte Konfliktlösung)
Lernen und Lehren Kein Lernen und Lehren durch Konflikte und im Beruf/ Betrieb Umfängliches Lehren im Freizeitbereich (keine Konflikte) Lehrkompetenz als naturgegebene Voraussetzung für die Lehrtätigkeit, die man nicht erlernen kann. Lernen als nicht zu verhindernde Begleiterscheinung des Lebens
Keine Fälle von Intervenieren, trotz nachfragen Beruf: Vor 30 Jahren Beruf gelernt. Max erfährt eine schleichende berufliche Abwertung. Beruf Er verpasste den Absprung aus diesem Betrieb (wurde nicht Erzieher) und Betrieb Er wartet heute nur noch auf die Rente. Betrieb: Feindselig; es gibt nur wenige Freunde und viele Feinde; alle haben Angst; jeder denkt nur an sich selbst Beschwerden/ Depression führen hier nicht zu Konflikten (Ehefrau, außerberufs- und Kur) außerbetriebliche Depression/ Kur als Lernchance (Ernährung) Themen Jugendtrainer im Fußball – er lehrt (keine Konflikte) Er lernt und unterrichtet Square-Dance (keine Konflikte)
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
Über seinen Umgang mit diesem Konflikt sagt der Interviewte, dass er ein Mobbingtagebuch führe und Vorsorge für eine Kündigung durch den Arbeitgeber getroffen habe. Der Dauerkonflikt wird nach Max’ Beschreibung von beiden Seiten gepflegt. Der Vorgesetzte hört nicht auf, den Mitarbeiter zu beleidigt, zu benachteiligen und anzugreifen. Max reagiert auf jeden Angriff mit einer offiziellen Beschwerde bei der Personalabteilung. Hierbei haben für Max Lehren und Lernen keine Bedeutung. Der außerbetriebliche Bereich bedeutet für Max eine Gegenwelt, in der es keine Konflikte gibt und in der Lehren von großer Bedeutung ist. Im Fußballverein konnte er bis vor kurzem eine Mädchenmannschaft durch sein pädagogisches Geschick zu sportlichem Erfolg führen. Heute findet Max beim Unterrichten im Line-Dancing soziale Kontakte und die Anerkennung von Erwachsenen, die ihm im Betrieb fehlt. Max lernt im außerbetrieblichen Bereich unbeabsichtigt und beiläufig durch alltägliche Entscheidungssituationen, durch einen Kuraufenthalt und durch die jährlichen Bildungsurlaube, die er besucht, um nicht an seinem Arbeitsplatz sein zu müssen. In der Abbildung 8 ist das Fallportrait von Max H. nochmals dargestellt.
4.1.3 Beate B. – ein Opfer elterlicher und betrieblicher Erziehung Beate B. (26), gelernte Hotelkauffrau, arbeitete drei Jahre lang als Verkaufsassistentin im Chemiebereich. Sie erzählt im Interview nur von einem Konflikt, der mit dem Umzug der Firma und den personellen Veränderungen (neue Kollegen, neuer Chef) vor zwei Jahren begonnen habe (vgl. auch Abbildung 9). Sie berichtet von einer ernsthaften Erkrankung (Essstörung, Depression und Burnout), die sie retrospektiv mit ihrer Arbeitsplatzsituation in Verbindung bringt. Heute, nach langer Krankheit, Therapie, 10wöchiger Kur und anschließender Eigenkündigung, charakterisiert sie die zurückliegenden Erfahrungen als Mobbing. Als Mobber bezeichnet sie den ca. 60jährigen Office-Manager des kleinen Stadtbüros, der vom Alter her ihr Vater sein könne. Er versuchte sie zu erziehen, indem er sie ständig kritisierte, anschrie und negativ beurteilte. Wie geht Beate mit dem Konflikt um? Sie nutzt extrem defensive Strategien. Sie redet sich lange ein, alles sein normal. Sie wehrt sich auch nicht gegen die unzulässige Nacherziehung durch den Vorgesetzten. Stattdessen sucht sie bei anderen ‘Autoritäten’ Zuflucht und Unterstützung. Ihr direkter Vorgesetzte und die Eltern verwehren ihr die. Der Vater wirft ihr vor, sie „simuliere“ (3:24). Erst als sie wegen Essstörung und Depression in Behandlung ist, geben die Ärzte dem Sachverhalt den Namen Mobbing. Durch die Mobbingzuschreibung erklären die Ärzte sie zum Opfer eines Arbeitsplatzkonflikts.
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Interviews, die sich um einen einzigen Arbeitsplatzkonflikt drehen
Abbildung 9:
Zusammenfassung Fallportrait Beate B. Beate B. – ein Opfer elterlicher und betrieblicher Erziehung
Der eine Konflikt und der Umgang damit
Lernen und Lehren
Kein Lernen und Lehren durch Mobbingbetroffene nachdem sie einen neuen Chef Konflikte und im Beruf/ Betrieb und neue Kollegen bekommen hat – und die Firma in Verlernen von Alltagskompetendie nahe Großstadt zieht zen durch Mobbing Mobber ist der Office-Manager (ca. 60jähriger Krankheit als Lernhindernis Chef). Der versucht, sie zu erziehen. Lernen/ Lernbereitschaft als eigener Sie nimmt Situation zunächst nicht als Konflikt Beitrag im Heilungsprozess (Mittel wahr – erst Ärzte sagen ihr „das ist Mobbing!“ gegen Hilflosigkeit) Defensiver Umgang mit Konflikten. Sie wehrt sich Diskrepanz zwischen Wissen nicht, sucht dann Unterstützung durch Dritte (Chef, (Ergebnis eines Erkenntnisprozesses) Eltern, Ärzte), wird krank und kündigt nach Therapie. und Handeln (Umsetzen des Gelernten) Sie will in Zukunft Konflikte schneller bemerken Zurückliegende Erziehung als und früher kündigen Lernhindernis Keine Intervenieren Beruf: Hat wenig Berufserfahrung. 4 Arbeitsstellen in 5 Jahren. Sie will Karriere machen. Sie versucht einem abstrakten, pathologischen LeistungsBeruf begriff (Einsatz bis zur Selbstaufgabe) zu entsprechen. Hindernis: eingeund Betrieb schränkte Belastbarkeit wegen Krankheit. Betrieb als finanzielle Absicherung. Wenig und schlechter Kontakt zu Kollegen. Keine (als solche gekennzeichneten) Konflikte, denn sie gelten als außerberufs- und ‘schlecht’, Therapie hat Bild von Familienidyll erschüttert außerbetriebliche Familienzentrierte Lebenswelt (verlangt Anpassung) Themen Medizinzentrierte Lebenswelt (verlangt Abgrenzung)
Beate hat aus ihrem Mobbingfall nicht gelernt, sich zukünftig (in Konflikten) zu wehren und durchzusetzen. Da sie heute aber weiß, dass es Mobbing gibt und, dass das krank machen kann, will sie einen zukünftigen Arbeitsplatz sofort aufgeben, wenn dort „nur irgendeine Art Abweichung in dem Geschehen ist, wie es mir nicht gefällt“ (11:26-27). Ihr Lernerfolg ist also, dass sie durch die Therapie ihre Sensibilität für das Wahrnehmen von Konflikten erhöht hat. Die erste Einbettung der Konfliktgeschichte in einen beruflich-betrieblichen Kontext ist eher gering ausgeprägt. Beate verfügt über wenige Jahre Berufserfahrung. Sie orientiert sich an einem diffusen, praxisfernen Leistungsbegriff. Sie bewundert Menschen, die sich bis zur Selbstaufgabe (bis zum Tod) für ihre Arbeit einsetzen. Die zweite Einbettung der Konfliktgeschichte in außerbetriebliche Themen ist sehr umfangreich. Da gibt es die Ärzte und Therapeuten, die Beate helfen. Und es gibt ihre Ursprungsfamilie, zu der sie eine sehr enge Bindung hat, von der sie sich aber unverstanden und allein gelassen fühlt. Nach den Familienidealen sind Konflikte etwas Schlechtes – und finden deshalb nicht statt.
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
4.1.4 Josef J. – Vorbild für den erfolgreichen Umgang mit Konflikten Josef J. (37), der Lebenspartner von Anna A., arbeitet seit acht Jahren als Lagerarbeiter in einem Kosmetikprodukte herstellenden Betrieb. Er erzählt von einem lange andauernden, betrieblichen Konflikt und einem intrigierenden Schichtleiter, unter dem viele Mitarbeiter leiden mussten (vgl. auch Abbildung 10). Nahezu einer ganzen Abteilung sei wegen Diebstahlsverdacht gekündigt worden. Auch Josef und Anna mussten zu unterschiedlichen Zeitpunkten und aus verschiedenen Gründen von einer Stunde zur anderen das Unternehmen verlassen. Josef erzählt nur von diesem einen Konflikt aus der Vergangenheit. Er tut dies in der Rolle des Mobbingbetroffenen, denn nur so hatte er damals an der damaligen, ersten Studie teilnehmen können. Doch er outet sich (während des Interviews) schnell auch als im Mobbingfall seiner Freundin intervenierend. Er besucht Jahre nach dem Ereignis ein Mobbingseminar, um ihr zu helfen und er begleitet sie (später) sogar zu ihrem Interview. Für ihn als Betroffenen stellt sich seine Konfliktgeschichte folgendermaßen dar: Der genannte Schichtleiter habe sich immer wieder bemüht, Josef zu schaden. Zunächst habe er versucht, seine Übernahme in eine Festanstellung zu verhindern. Als er damit keinen Erfolg hatte, habe er die Gerüchte gestreut, der Interviewte sei ein Spitzel der Geschäftsführung. Als der Schichtleiter ihn damit aber nicht vertreiben konnte, habe er dafür gesorgt, dass die beiden Anschuldigungen ‘Anstiftung zum Diebstahl eines Lippenstifts’ und ‘Zerstörung von Firmeneigentum’ zur Kündigung führten. Josefs Devise im Umgang mit Konflikten ist: „Auf jeden Fall zu kämpfen. Weil ich hab‘ durch meinen Fall gelernt, dass man sich nicht unterkriegen lassen soll. Es lohnt sich zu kämpfen.“ (8:04-05) Die Kündigung führt bei ihm nicht zum psychischen Absturz. Lernen und Lehren spielen beim Umgang mit eigenen Konflikten aber eher keine Rolle. Er kann und weiß schon alles – sogar im Kündigungsschutzprozess kommt er ohne anwaltliche Hilfe zurecht. Die zehn Monate der unfreiwilligen Arbeitsunterbrechung nutzt Josef für eine Berufsausbildung zum Schlosser, die er allerdings nach gewonnenem Prozess abbricht, weil er wieder „volles Geld verdienen“ (9:14) will. Auf seine Erfahrungen im Intervenieren geht er ein, nachdem die Interviewerin ihn nach seiner Beschäftigung mit dem Thema Mobbing befragt. Nicht im Zusammenhang mit seinem eigenen Konflikt, sondern mit dem seiner Freundin, hat er sich „ganz intensiv“ (8:40) mit dem Thema beschäftigt. Er habe versucht ihr zu helfen, habe aber den Verlust des Arbeitsplatzes nicht verhindern können. Josef unterstützt Anna nach der Kündigung hauptsächlich dadurch, dass er für sie da ist. Sie sei eine zeitlang selbstmordgefährdet gewesen und habe sich nur nichts angetan, „weil sie bei mir sich anlehnen konnte, sich Stärkung holen
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Interviews, die sich um einen einzigen Arbeitsplatzkonflikt drehen
konnte“ (9:41). Die (mentale) Stärke ist somit die wichtigste Qualifikation des Helfers. Josef hat durch seine Erfolge bei betrieblichen Auseinandersetzungen immer wieder gezeigt, dass er über diese Kompetenz verfügt – er hält viel aus – er ist durch Mobbing nicht krank geworden und hat sich immer wieder erfolgreich gewehrt. Seine Hauptaussage im Interview „es lohnt sich, zu kämpfen!“ (9:20) ist auch an Anna gerichtet. Er belehrt sie nicht offen, plump und aufdringlich. Durch sein eigenes Vorbild stellt er sich als Lernmodell zur Verfügung. Durch den gemeinsamen Ober-Mobber und die übereinstimmende Bezeichnung der beiden Ereignisse als Mobbing entsteht eine gemeinsame Geschichte.
Abbildung 10: Zusammenfassung Fallportrait Josef J. Josef J. – Vorbild für den erfolgreichen Umgang mit Konflikten Der eine Konflikt und der Umgang damit
Lernen und Lehren
Lernen und Lehren haben allgemein Eine große Mobbinggeschichte mit vielen wenig Bedeutung (auch nicht in typischen Einzelopfern (Josef, Anna, und weitere) Lernsituationen wie Ausbildung und Ober-Mobber und ‘Graue Eminenz’ für viele Mobbingseminar) Konflikte ist der Schichtleiter Er muss nicht mehr lernen, wie man Josef interveniert im gleichen Großkonflikt von mit Konflikten umgeht – er ist schon dem er auch betroffen ist. kompetent Kämpfen/ sich wehren und sich ablenken/ Ruhe Belehrung als Strategie in der Konbehalten als zentrale Strategien für den Umgang mit fliktaustragung mit dem Personalchef eigenen Konflikten Selbst als Vorbild dienen ist seine Unvollendetes Intervenieren im Fall seiner Strategie beim Intervenieren (verdecktes Freundin Anna (beobachten, informelle Gespräche Lehren, Möglichkeit für Lernen schaffen) mit Mobber, Anna Tipps geben, er konnte ‘Absturz ’ nicht verhindern) Beruf: ungelernt; bricht Ausbildung zum Schlosser ab Beruf Betrieb: Unsicherheiten führen verstärkt zu Konflikten; Personalabbau; viele verhaltensbedingte Kündigungen; ‘untere’ Vorgesetzte kompensieren und Betrieb fehlende offizielle Macht durch Intrigen Exkollegin wird zur Lebensgefährtin, keine Konflikte in seiner Partneraußerberufs- und schaft mit Anna. ‘Schäden’ aus Annas Mobbingfall als bleibende Belastung. außerbetriebliche Intervenieren als Privatangelegenheit (präsent sein, starke Schulter). Themen Eigene, positiv gewendete Mobbingerfahrungen als Qualifizierung für ihn als Helfer und Lebenspartner von Anna. Besuch des Mobbingseminar mit dem Ziel, Anna zu helfen
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
4.1.5 Zusammenfassende Beschreibung der Interviews Für diese erste Gruppe ist der Konflikt ein vorübergehendes, einmaliges Ereignis. Konflikte werden von den Vertretern dieser Gruppe als schlecht bewertet, weil sie handlungsunfähig und krank machen – und man schließlich auf fremde Hilfe angewiesen ist. Alle greifen auf die Unterstützung durch Dritte zurück: Christina lässt ihren Konflikt von einem Vertrauensmann lösen; Beate lässt sich von Eltern und Ärzten helfen; Max fordert immer wieder die Unterstützung von Personalabteilung und Betriebsrat ein; Rolf bespricht alles mit seinem Kollegen Karl. Sogar Josef holt sich zwischenzeitlich Unterstützung bei seiner Betriebsratsvorsitzenden. Der Umgang mit Konflikten ist eher defensiv, eine einmal genutzte Strategie wird, auch bei Misserfolg, weiter eingesetzt. Die Betroffenen werden, weil sie ihre Handlungsfähigkeit einbüßen, zu Opfern. Max, Beate, Rolf und Christine erzählen von zumindest vorübergehenden, gesundheitlichen Einschränkungen. Beate und Rolf geben freiwillig ihren Job auf – Christine und Max warten aktiv auf die Rente. Bei den Personen in dieser Gruppe handelt es sich nicht um Leute, die in Führungspositionen drängen. In ihrer beruflich-betrieblichen Entwicklung befinden sich alle außer Rolf in einer Stillstandsphase. Josef hat seine Ausbildung abgebrochen – für ihn hat die Arbeit ausschließlich die Funktion, seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Aber auch Rolf hat seine Karriereambitionen begraben; ihm soll der Beruf in Zukunft in erster Linie Spaß machen. Das Ziel einer erfolgreichen Konfliktintervention ist für die Vertreter dieses Konfliktmusters, sich wieder ausschließlich ihrer Arbeit widmen zu können. Sie wollen sich mit dem Thema Konflikte überhaupt nicht, weder theoretisch noch praktisch, beschäftigen. Sie wollen, dass es keine Konflikte gibt. In allen Fällen spielt Lernen und Lehren beim Umgang mit Konflikten eine untergeordnete Rolle. Wenn Konflikte eher nicht auftreten und wenn man für den Notfall Unterstützung hat, kann und muss man durch Konflikte auch nicht ungedingt lernen. Die Begründung für das Nicht-Nötig-Sein des Aneignens von Konfliktkompetenz ergibt sich also aus der Einmaligkeit der persönlichen Konflikterfahrung. In Abwesenheit von Konflikten dagegen kommt gelegentlich Lernen oder Lehren vor. Bei Josef haben Lernen und Lehren überhaupt keine Bedeutung. Bei Christine und Beate gibt es Lehr-/Lernerfahrungen aus der Vergangenheit ohne Bezug auf Konflikte. Bei Max und Rolf tauchen Lernen und Lehren indirekt, in zeitlicher bzw. räumlicher Distanz zu den Konflikten auf, um einen Ausgleich zur schwierigen Arbeitssituation zu schaffen.
Interviews bei denen es um begrenzte Arbeitplatzkonflikte geht
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4.2 Interviews bei denen es um begrenzte Arbeitplatzkonflikte geht Für das zweite Konfliktmuster stehen neben Rico (Intervenierender und Vorgesetzter) auch die Intervenierenden und Betriebsräte Jens, Carmen, Anita, Olga, Elena und Nils. Aus der Betroffenen-Gruppe gehören Dorit (Managerin als Teilzeitkraft) und die ehemalige Chefin einer Personalentwicklungsabteilung Bärbel zu dieser Gruppe. Für alle Vertreter dieses Musters stehen die erzählten betrieblichen Konflikte in direkten Zusammenhang mit ihrer (derzeitigen) beruflichen und betrieblichen Rolle. Von den neun Personen (aus der Intervenierenden- und der Betroffenengruppe) bekleiden sechs Personen das Amt eines Betriebsrates. Die anderen drei sind in Vorgesetztenpositionen und/ oder haben eine umfangreiche Berufsausbildung oder ein Studium aufzuweisen. Anschließend werden für die Interviews, die zum Konfliktmuster ‘begrenzte Arbeitsplatzkonflikte’ gehören, ebenfalls Fallportraits erstellt.
4.2.1 Dr. Dorit D. – Lernen als bedeutsames Moment ihrer Biographie Dr. Dorit D. (37) ist Ärztin und technische Betriebswirtin und seit 10 Jahren als Managerin in der Pharmaindustrie beschäftigt. Sie arbeitet seit der Geburt ihrer Söhne (5 und 4 Jahre alt) mit reduzierter Stundenzahl, größtenteils von Zuhause aus. Die Interviewte beschreibt sich als sehr gewissenhaft und leistungsorientiert. Durch das Kinderkriegen und die anschließende Teilzeit- und Telearbeit habe ihre Karriere einen Dämpfer bekommen. Freiwerdende Führungspositionen seien mit (teilweise weniger kompetenten) männlichen Kollegen besetzt worden. Die Männer (und eine Frau) hätten sich trotzdem von ihr bedroht gefühlt und sie deshalb gemobbt (vgl. auch Abbildung 11). Ihre Grundaussage ist, dass es in den männlich geprägten Managementetagen leistungsstarke Frauen mit Karriereambitionen allgemein schwer haben. Wollen sie auf Familie und Kinder nicht verzichten und fordern sie flexiblere Arbeitsmodelle ein, führe dies unweigerlich zu Konflikten. Sie unterscheidet ‘normale’ Konflikte, die Manager als Teil ihrer beruflichen Professionalität akzeptieren müssen und unfaire Mobbingkonflikte, in denen es darum gehe, potentielle Konkurrenten im Karrierewettlauf durch Intrigen, Lügen und falsche Beurteilungen auszubooten und ihren guten Ruf zu zerstören. Sie erzählt ausschließlich von ihren eigenen Konflikten als Betroffene. Die ersten Kleinkonflikte datiert sie heute auf die Zeit ihres Einstiegs in die Firma. Zu ersten Mobbingattacken sei es allerdings erst später gekommen, als sie vorzeitig aus dem Erziehungsurlaub zurückkam. Dorit erklärt, sie habe erst spät angefangen zu „kapieren“ (7:47), dass es sich hierbei um systematisches Mob-
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
bing handele. Sie interpretierte alle Schwierigkeiten zunächst als ihr eigenes Leistungsproblem. Schließlich habe sie die Ereignisse aufgeschrieben, geordnet und Zusammenhänge erkannt. Daraufhin entwickelt sie Strategien, um ihre Hauptprobleme zu lösen. Um wieder in die Mailverteiler zu gelangen, spricht sie gezielt Kollegen an und bittet sie, sie über Termine zu informieren („Raubkopien“ (8:05)). Indem sie wieder an den Sitzungen teilnimmt, erhält sie die Protokolle und damit auch die Information über Folgetermine. Ihre Kommunikation stellt sie auf Schriftlichkeit um. Und sie erhöht ihre Präsenz im Betrieb, indem sie ihre Termine besser plante. Auch wenn sie persönlich sachgrundlose Kommunikation eher als Zeitverschwendung betrachtet, zeigt sie sich ihrem nächst höherem Chef (dem Vorgesetzten ihres Chefs) häufiger. Ihre Strategie führt zum Erfolg. Sie schafft es, sich gegen den Mobber zu wehren und sie wird befördert. Wie kommt sie auf diese Strategien? Dorit verfügt über eine solide Grundausbildung und hat auch während ihrer Berufstätigkeit immer wieder institutionalisierte Formen der Weiterbildung genutzt (klassische Managerseminare, Rhetorikseminare, Studium technischer Betriebswirt). Bei Bedarf wählt sie Weiterbildungsangebote bewusst und gezielt aus, eignet sich Wissen an und nutzt es. Sie benutzt im Interview aber eher selten Worte, die unmittelbar auf Lernen hinweisen. Eher nebenbei erwähnt sie Studium, Promotion, Weiterbildungen und Seminare. Lernen ist für sie ein ganz selbstverständlicher Teil ihres Lebens, auf den man nicht besonders hinweisen muss. Derzeit befindet sich die Interviewte allerdings in einer angeordneten Lernsituation. Ein externer Coach soll ihr „das Kommunizieren beibringen.“ (9:49) weil sie, so behauptet ihr neuester Chef, „ne Mauer der Angst aufgebaut hätte“(9:46-47) und man mit ihr nicht reden könne. Diese Maßnahme empfindet Dorit als sachlich nicht gerechtfertigt, als Zumutung und als Mittel der Rufschädigung. Sie sei zur Nachschulung „verurteilt“ (10:10) worden. Ihre Chefs, die Männer, wollen sie durch einen weiteren Mann belehren, ja sogar erziehen lassen („meine Firma will, dass der Mann mich streamlined“ (11:23)). Sie wehrt sich gegen diese Belehrung, nicht indem sie die Treffen boykottiert, sondern indem sie das Coaching aussitzt. Dorit beschreibt ihren Betrieb als einen eher traditionellen Industriebetrieb in einer ländlichen Region, in dem Männer als Akademiker, Manager und Führungspersonen vorkommen und Frauen im Sekretariat arbeiten. Die wenigen Frauen im mittleren Management haben in der Regel keine Kinder. Der Betrieb setzt voraus, dass Mutterschaft mit (Teil-)Rückzug aus dem beruflichen Umfeld unweigerlich verknüpft ist. Entscheiden sich Frauen anders, kommt es zu Konflikten und Mobbing. Dorit arbeitete als erste Managerin im Betrieb von einem Heimarbeitsplatz aus, den sie sich zunächst auch erst einmal erstreiten muss.
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Interviews bei denen es um begrenzte Arbeitplatzkonflikte geht
Abbildung 11: Zusammenfassung Fallportrait Dr. Dorit D. Dr. Dorit D. – Lernen als bedeutsames Moment ihrer Biographie Konflikte und der Umgang damit Nur Konflikte aus der Betroffenenperspektive
Lernen und Lehren Kein Intervenieren – kein Lehren
Lernen durch Konflikte: zunächst kein Lernen in Konflikten – sie nimmt es nicht als Mobbing wahr danach (1.) Nutzung von Wissen (Ergebnis früherer Lernprozesse), um eigenen Fall zu analysieren u. Strategie zu entwickeln --- (2.) Ergänzung durch in Seminaren erworbenes Wissen (wählt aus) --- (3.) Expertenmeinung als BestäUmgang mit Konflikten: tigung Braucht Jahre bis sie systematisches Mobbing verordnetes Coaching: Sie wehrt erkennt (Tagebuch, Analyse). sich gegen Erziehungsabsichten ihrer Entwickelt passgenaue Strategie und hebelt Chefs/ der Männer. erfolgreich Mobbingstrategien aus. Belehren von Männern über Mob Stellt keine Öffentlichkeit über Mobbing her. bing und sexuelle Belästigung funktio Wird anfällig für Krankheiten, ist erschöpft. niert nicht weil sie Männer sind. Bewahrt sich aber die Leistungsfähigkeit im Job. Beruf: Lernen hat große Bedeutung: Medizinstudium, Promotion, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Managementseminare; Studium technischer Beruf Betriebswirt; Personalentwicklung im Unternehmen, Karriere- und Fortbilund Betrieb dungsknick durch das Kinderkriegen Sie verfügt über viel Wissen (Hinweis auf zurückliegendes Lernen). Ihre Chefs verfügen über weniger Wissen als sie/ haben Angst vor ihrem Wissen. Betrieb: Eher traditioneller Betrieb mit klassischen Rollen für Männer und Frauen, Industrie ist nicht wie Öffentlicher Dienst (Leistungsdruck, Vereinbarkeit Familie/ Beruf) Familie fordert zusätzlich und stabilisiert außerberufs- und Eltern/ Vater stolz auf seine Tochter und erwartet Leistung und eine außerbetriebliche ‘glatte’ Biographie Themen Dorf fordert Anpassung (wie Betrieb); berufstätige studierte Mütter sind dort verdächtig 3 abgeschlossene Konflikte: Grund ist Konkurrenz Kleinkonflikt beim Neueinstieg in den Job Neue Konflikte nach der Rückkehr in den Betrieb nach Geburt der Kinder und bei veränderten Arbeitsbedingungen Sexuelle Belästigung und Mobbing durch den neuen Chef
„Es war zu der Zeit als ich erstmals Telearbeiter war so, dass das ein Präzedenzfall war mehr oder weniger. Ich durfte da gar nicht drüber reden.“ (5:03-05). Dorit grenzt ihren Betrieb als Ort der beruflichen Betätigung von der Arbeit im Öffentlichen Dienst ab. Den Öffentlichen Dienst setzt sie gleich mit maximaler Sicherheit, geringerem Einkommen, festen Arbeitszeiten und festen Regeln für Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Damit grenzt sie sich auch gegen ihre Mutter ab, die es geschafft hatte, ihren Lehrerinnenberuf und die Erziehung von
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
drei Kindern zu vereinbaren („Meine Mutter hatte Anrecht auf die Halbtagstätigkeit.“ (18:20)). Weil es in der Industrie solche Leistungen aber nicht gebe, seien die Lebensumstände nicht vergleichbar. Im Bereich außerbetriebliche und außerberufliche Themen geht Dorit erstens auf den Zusammenhang ihrer Arbeitsplatzkonflikte mit ihrer Familiensituation ein – sie erklärt zweitens ihre starke Leistungsorientierung mit ihrer eigenen Erziehung im Elternhaus – und beschreibt drittens ihren konservativ geprägten Wohnort. In diesen Bereichen geht es aber nicht um Konflikte. Die Interviewte präsentiert die Erwartungen, die von ihrer eigenen Familie, von ihren Eltern (besonders von ihrem Vater) und von ihrem Wohnumfeld an sie herangetragen werden.
4.2.2 Bärbel K. – Konfliktkompetenz als arbeitsbezogenes Fachwissen Bärbel K. (47) arbeitete bis vor vier Jahren als Leiterin Personalentwicklung und –marketing in einem mittelgroßen EDV-Unternehmen. Sie wurde vor 14 Jahren dort eingestellt, um Personalentwicklungsmaßnahmen einzuführen und zu koordinieren. Die ersten Jahre sind erfolgreich, arbeitsintensiv und konfliktfrei. Unter ihren nächsten Chef kommt es ständig zu Konflikten. Sein Nachfolger beschneidet gleich zu Beginn Bärbels Kompetenzen und bestimmt einen mitgebrachten Vertrauten als deren direkten Vorgesetzten. Bärbel kündigt daraufhin. Sie erklärt, sie habe sich nicht unterordnen wollen und können. Nach eineinhalb Jahren Auszeit startet sie eine Selbständigkeit als Gesundheits- und Ayurvedaberaterin und als Coach. Als Coach bietet sie heute Unterstützung bei beruflicher Neuorientierung und Lebensplanung an. Bärbel erzählt hier von Anlaufschwierigkeiten – nicht aber von Konflikten. Sie musste die Selbständigkeit erst lernen. Sie erklärt, durch die berufliche Neuorientierung sei sie aus einer „Tretmühle“ (10:14) herausgekommen. „Da hat sich einfach eine neue Welt entwickelt.“ (10:15). Eine Konstante in ihrer abwechslungsreichen Biographie sind die unzähligen Aus- und Weiterbildungen. In den Jahren als Personalentwicklerin hat sie sich ständig weitergebildet. Auch nach ihrem Ausscheiden beginnt sie innerhalb kurzer Zeit mit einem ganzen Paket voller Fortbildungen. Bärbel erzählt nur von Konflikten, die mit ihrer Tätigkeit als Chefin der Personalentwicklung zu tun haben (vgl. auch Abbildung 12). Dabei handelt es sich einerseits um ‘normale’ Konflikte, die mit ihrer Rolle unweigerlich zusammenhängen (die täglichen Kleinkonflikte mit ihren eigenen Mitarbeitern, Beratung und Intervention bei Konflikten innerhalb des Betriebs als Serviceleistung der Personaler, Interessenskonflikte zwischen Betriebsrat und Personalern). An-
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Interviews bei denen es um begrenzte Arbeitplatzkonflikte geht
dererseits gibt es darüber hinausragende, persönliche Konflikte, die Bärbel mit ihren wechselnden Vorgesetzten austrägt.
Abbildung 12: Zusammenfassung Fallportrait Bärbel K. Bärbel K. – Konfliktkompetenz als arbeitsbezogenes Fachwissen Konflikte und der Umgang damit
Lernen und Lehren
Lernen: Lernen als ständig mitlaufendes Thema. Sie erwartet von anderen, dass die immer lernen, geht mit gutem Vorbild voraus. Lernen bedeutet für sie einerseits „Prüfungen“ und „kognitives Zeugs“ (17:52) aber auch Erfahrungslernen/ Persönlichkeitsentwicklung/ persönliches Wachstum Lehren: Sie ist Lernberaterin und Energieraubende Konflikte auf dem Karriereweg nach oben: Lernorganisatorin für die Mitar Konflikte mit dem alten, cholerischen Chef beiter mit und ohne Konflikte. Konflikte mit dem neuen machtbesessenen Chef: Sein Direkte Lehrtätigkeit eher Vertrauter wird ihr Vorgesetzter. Kompetenz-/ Freiheitsbeselten, Ausnahmen: Moderation schneidung, Infragestellen ihrer Leistungsfähigkeit. „Das bei Teamkonflikten. wäre Mobbing geworden!“ 3 Chefs (2 Umstrukturierungen) stehen für unterschiedliche Phasen der Beruf Firmenpolitik: Die Zeit des Aufbaus der Personalentwicklung: Keine Konflikte. Bärbel und Betrieb steigt zur Führungskraft auf. Personalentwicklung in der Bewährungsphase: Die Strukturen sind da. Top-Management fördert und verlangt es. Konflikte mit Vorgesetzten. Personalentwicklung auf dem ‘Abstellgleis’: Personalentwicklung wird zurückgebaut, ‘Menschlichkeit’ geht verloren, es zählen nur noch wirtschaftliche Aspekte. Bärbel macht dabei nicht mit. Sie kündigt und beobachtet die weitere Entwicklung aus der Distanz. Die Zeit davor: Ausbildung im Öffentlichen Dienst, Studium (Sprachen), Auslandaufenthalte, erste Erfahrungen mit Personalarbeit Die Zeit danach: keine Konflikte, 1 ½ Jahren Auszeit, dann selbständige Unternehmerin (Coaching/ Lebensplanung/ Körperarbeit/ Gesundheit). Früher (als Personalentwicklerin) – heute (nach der Rekonvaleszenz) außerberufs- und Früher: keine Freizeit --- heute: Work-Life-Balance außerbetriebliche Hat langjährigen Lebenspartner nach Kündigung geheiratet, Umzug Themen Früher: wenige Freunde --- heute viele soziale Kontakte Normale (Klein-)Konflikte für eine Mitarbeiterin in der Personalentwicklung: Eigene Konflikte als Führungskraft Unterstützung von Vorgesetzten: Sie coacht und berät (unerfahrene) Führungskräfte und organisiert Schulungen. Unterstützung von Mitarbeitern/ Teams in Konflikten: Intervenieren als Teil des Jobs/ Coaching von Einzelpersonen. Externe bei Bedarf mit hinzuziehen. Versetzung als Möglichkeit der Konfliktlösung. Systembedingte Kleinkonflikte und Interessenunterschiede zwischen Personalern und Betriebsrat.
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
Ihre betrieblichen Konflikte sind eingelagert in ein, sich veränderndes, betriebliches Umfeld. Zunächst beschreibt sie die Zeit des Aufbaus der Personalentwicklungsabteilung. In dieser Zeit gibt es keine Konflikte. Bärbel steigt zur geachteten Führungskraft auf, weil sie Lernen und Weiterqualifizierung zum Thema für alle in ihrem Betrieb macht. Danach, unter einer veränderten Personalpolitik und mit Bärbel als offizieller Vorgesetzten, müssen sich die Strukturen der Personalentwicklung bewähren und beweisen, dass sie zum wirtschaftlichen Erfolg beitragen. In dieser Zeit gibt es viele Konflikte mit ihrem direkten Vorgesetzten, einem Juristen. In ihrer letzten Phase in diesem Betrieb erfährt die Personalentwicklung einen Bedeutungsverlust (zu teuer, zu ineffektiv). Bärbel bekommt einen neuen Chef, die Konflikte werden noch massiver. Die Interviewte kündigt, weil sie von den vielen Auseinandersetzungen erschöpft ist, aber auch weil sie diesen neuen Weg nicht mitgehen will. Bärbels Erzählungen über die betrieblichen Konflikte sind in einen lebensweltlichen Kontext eingeordnet. Beständiges Element ihrer Lebenswelt ist ihr langjähriger Lebenspartner. Während ihrer Zeit als Personalentwicklerin hatte sie wenig Freizeit und wenige Kontakte außerhalb ihres Arbeitsplatzes. Heute verfolgt sie ein alternatives Lebenskonzept. Sie hat viele private Kontakte aufgebaut und sie hat ihre neue Berufstätigkeit (konfliktfrei) an ihr Privatleben angepasst.
4.2.3 Anita G. – zwischen Betriebsrat und Management Anita G. (35) ist Biotechnikerin in der chemischen Industrie und nicht freigestellte Betriebsrätin in einem mittelgroßen Gremium. In ihren jetzigen Betrieb kam sie vor 14 Jahren direkt nach ihrer Ausbildung zur Biologielaborantin. Anita entschied sich, gegen massiven Widerstand in ihrer damaligen Abteilung, für den Betriebsrat zu kandidieren, nachdem sie für die eigene und die umliegenden Abteilungen beim höchsten Manager einen angemessenen Pausenraum erstritten hatte, was zuvor anderen Kollegen nicht gelungen war. Das Streitgespräch mit dem sich wichtig fühlenden Betriebsführer war hitzig und zeigte ihr, welche schlechte Meinung der von den Mitarbeitern hatte. Im Betriebsrat arbeitet sie immer wieder bei Projekten mit (z.B. zu den Themen Mobbing und Jahresarbeitszeit). Anita erzählt, sie werde immer wieder in den Konflikten der Kolleginnen und Kollegen als Schlichter hinzugezogen (vgl. auch Abbildung 13). Dabei könne sie länger andauernde Konflikte eigentlich schlecht aushalten. Sie versuche ihnen aus dem Weg zu gehen. Wenn das nicht möglich sei, versuche sie schnell eine Klärung herbeizuführen. Vor einigen Jahren wurde sie von einem jungen Uniabsolventen, der Karriere machen wollte, als Mobberin beschuldigt. Er hatte
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Interviews bei denen es um begrenzte Arbeitplatzkonflikte geht
sich auf diese Weise gegen ihre Einarbeitungsversuche und ihre Dominanz gewehrt. Anita kann in diesem Betrieb selber keine wirkliche Karriere machen, weil sie nicht über die richtigen Zertifikate (ein Studium) verfügt und weil sie dem Betriebsrat nahe steht.
Abbildung 13: Zusammenfassung Fallportrait Anita G. Anita G. – zwischen Betriebsrat und Management Konflikte und der Umgang damit
Lernen und Lehren
Fachbezogene Kompetenz und Wissen stehen im Vordergrund: Ausbildung hochwertig, vielen Zusatzqualifizierungen und Berufserfahrung (= Qualifikation wie ein FH-Ingenieur – aber mit mehr Praxis). Lernen durch die Dauerkonflikt mit alter Chefin: Wie man Konflikte aushält und überlebt. Dass man in Konflikte hineingeKonflikte als Ergebnis einer Rolle als stabile Persönlichkeit zogen werden kann. Wie grau(Helpdesk) und leistungsstarke Mitarbeiterin mit Nähe zum sam Gruppen sein können. Dass Betriebsrat und zu den Managern Konflikte nur bedingt beherrschbar und rational lösbar sind. Umgang mit Konflikten: Sie kann Konflikte nicht gut und lange aushalten, deshalb Nicht akzeptierte Belehrung/ Bevormundung als Auslöser geht sie ihnen aus dem Weg oder sucht eine schnelle Lösung. eines Mobbingvorwurfs: Sie hat Sie ist in der Regel in der Intervenierendenrolle. den Neuen erfolglos über die Sie empfindet emotionales Handeln in Konflikten als Unterschiede zwischen Uni und Fehler. Industrie in punkto Arbeitssi Worst Case: das Vorhandensein von Konflikten nicht cherheit belehrt. merken Sie arbeitet in der chemischen Industrie, ist Biotechnikerin, Fachkraft für Molekularbiologie u. hat d. Ausbildereignung. Sie hat hohe LeistungsanBeruf forderungen an sich selbst. und Betrieb Sie ist nicht freigestellte Betriebsrätin (mittel-großes Gremium) und arbeitet dort in Projekten mit (Mobbing, Jahresarbeitszeit). Sie lehnt politische ‘Spielchen’ im BR ab. Anita macht immer wieder kurze Verweise zu (1.) ihren Eltern und (2.) außerberufs- und ihrem langjährigen Lebenspartner. Schlichterin bei ihren sich immer streiaußerbetriebliche tenden Eltern. Themen Konflikte (als Mitarbeiterin) als Kompetenzdemonstration: zu Beginn ihrer Berufstätigkeit alle Mitarbeiter haben Konflikte mit Chefin; dadurch Interesse am Thema Mobbing Sie erkämpft als Mitarbeiterin angemessene Pausenräume. Sie wird später von neuem Kollegen als Mobberin beschuldigt. Aktuell ersten Konflikte mit aktuellem Chef: sie sollte einen Akademiker vor die Nase gesetzt bekommen.
Anitas Konflikte stehen alle im Zusammenhang mit ihrer betrieblichen Rolle als leistungsstarke Mitarbeiterin (ohne Hochschulabschluss) mit einer Nähe zum
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
Betriebsrat. Sie präsentiert sich als eine Person, die den Leistungsgedanken und die soziale Orientierung widerspruchslos in sich vereinen kann. Entweder entstehen die Konflikte, weil junge Akademiker sich nichts von ihr sagen lassen wollen (der Mobbingfall), oder sie wird von ihren Chefs als Intervenierende in den Konflikten zwischen anderen Mitarbeitern eingesetzt. In der, im Interview äußerst knapp gehaltenen, außerbetrieblichen Kontextualisierung weist Anita darauf hin, dass es in der Vergangenheit noch einen anderen Bereich gab, in dem sie eine ähnliche Rolle einnahm. Ihre Eltern stritten sich ständig. Damals konnte sie üben, wie man sich in Konflikten als Intervenierende bzw. als Beobachterin verhält.
4.2.4 Jens F. – Einsatz für die Schwachen als Lebensaufgabe Jens F. (45) ist seit 6 Jahren als Betriebsrat freigestellt und seit zwei Jahren stellvertretender Betriebsratsvorsitzender in einem großen Chemiebetrieb. Er hatte in diesem Unternehmen vor mehr als 25 Jahren Chemielaborant, später Chemotechniker gelernt. Als Schlüsselerlebnis und als Erklärung für sein Betriebsratsengagement führt er eigene Erfahrungen mit sexueller Belästigung aus den Anfängen seiner Berufstätigkeit an. Als Betriebsrat leitete er schließlich den Ausschuss, der mit der Geschäftsleitung über eine verbindliche Vereinbarung zum Thema ‘Partnerschaftlicher Umgang am Arbeitsplatz’ verhandelte. Das war seine erste, selbständig geführte Verhandlung mit dem Arbeitgeber. Mittlerweile ist eine Vereinbarung abgeschlossen. Darin ist auch die Zusammenarbeit mit ausgebildeten Konflikthelfern, Moderatoren und Mediatoren geregelt. Dem Betriebsrat Jens bescherte diese erfolgreiche Verhandlung vielfältige Lernerfahrungen und weitere betriebliche Anerkennung. Der Schwerpunkt seiner Arbeit hat sich mittlerweile verlagert. Mit Mobbing und Arbeitsplatzkonflikten hat er heute als stellvertretender Vorsitzender wenig zu tun. Er hält aber noch gelegentlich Vorträge zum Thema Mobbing und leitet eher selten Seminare. Sein aktuelles Konfliktthema steht im Zusammenhang mit seiner Führungsrolle im Gremium. Nachdem das Gremium auf seine Veränderungserwartungen, die er gerne in einem gemeinschaftlichen Lernprozess im Rahmen einer Teamentwicklung bearbeiten möchte, mit Blockade reagiert, hat Jens sich für ein individuelles Coaching entschieden.
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Interviews bei denen es um begrenzte Arbeitplatzkonflikte geht
Abbildung 14: Zusammenfassung Fallportrait Jens F. Jens F. – Einsatz für die Schwachen als Lebensaufgabe Konflikte und der Umgang damit Konflikte als Mitarbeiter: Zu Beginn seiner Berufstätigkeit: Sexuelle Belästigung durch älteren Kollegen. Jens wehrt sich. Anschließend Mobbing. Jens lässt sich versetzen. Erlebnisse wichtig für spätere Entscheidung, Betriebsrat zu werden. Konflikte als Betriebsrat (BR): Früher: Persönliches Abarbeiten am Thema: 1. Betreuung eines Mobbingbetroffenen 2. Überzeugen des Gremiums von der Notwendigkeit einer verbindlichen Handlungsanweisung für die Konfliktbearbeitung. Heute: Fachleute greifen durch Coaching/ Teamentwicklung in Konflikte ein. BR hat Rahmenbedingungen geschaffen. Konflikte als Führungsperson im BR: Konflikt mit dem früherer Stellvertreter. Schwierigkeiten bei der Führung des eigenen Teams. Konflikt um gemeinschaftliches Lernen als Team. Ständige Kleinkonflikte mit der Personalabteilung
Lernen und Lehren Lernen in/ durch Konflikte(n): Besucht regelmäßig Seminare zu sozialen Kompetenzthemen (nicht nur im Krisenfall) Der persönliche Coach als Veränderungsmanager Verhandlung BV-Mobbing als Lernsituation/ Kompetenzbeweis Jens präsentiert oft Wissen hinter dem Lernprozesse stehen. Lehren in/ durch Konflikte(n): Hat anfangs mit Belehrung/ Ratschläge geben in Konflikten schlechte Erfahrung gemacht – tut es deshalb nicht mehr. Belehrung findet außerhalb von konkreten Konflikten in Seminaren und Vorträgen statt. Weil er etwas über Kommunikation/ Konflikte lernen wollte, wurde er Hospitant (später Lehrer) in den entsprechenden Seminaren
Umgang mit Konflikten: Früher als Nicht-BR: Angst den Job zu verlieren, Ohnmachtgefühle, Flucht, Konflikten aus dem Weg gehen. Heute als BR: Sich auch für die Anderen wehren (die Schwachen) Unterstützung/ Experten einkaufen. Machteinsatz. Er arbeitet seit mehr als 25 Jahren in der chemischen Industrie im gleichen Betrieb. Beruf Ausbildungen: Chemielaborant, Chemotechniker und Betrieb Er ist seit 6 Jahren freigestellter Betriebsrat, seit 2 Jahren stellvertretender BR-Vorsitzender (größeres Gremium). Auch im Privatbereich gab es Konflikte (Kindheit, Ehe). außerberufs- und Er grenzt private von betrieblichen Konflikten ab („das ist ganz was außerbetriebliche anderes“). Themen Private Netzwerke sind ihm wichtig; er präsentiert konfliktfreie Freizeit. Verreisen als Lebenstraum und Ausgleich zum BR-Amt.
Jens erzählt ausschließlich von Konflikten, die im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Betriebsrat stehen (vgl. auch Abbildung 14). Er erzählt von den Konflikten der Mitarbeiter, in die er als intervenierender Betriebsrat hinzugezogen wird, von Konflikten im eigenen Gremium und mit dem Arbeitgeber. Jens
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
stellt die Konflikte in einen betrieblichen Kontext, in dem es im Kern darum geht, der wirtschaftlichen Macht der Manager eine Macht der Mitarbeiter entgegenzusetzen. Betrieb ist für Jens ein Ort, an dem Politik gemacht wird. Als Ausgleich für seine konflikthafte Arbeitswelt ist ihm ein privates Umfeld wichtig, in dem er auf Distanz zum Betrieb gehen kann und in dem es nicht um Konflikte geht.
4.2.5 Nils G. – als Betriebsratsvorsitzender in einer unternehmenspolitisch schwierigen Zeit Nils G. (48) ist freigestellter Betriebsratsvorsitzender eines kleineren Gremiums in einem Dienstleistungsunternehmen. Er ist Diplom-Mathematiker und arbeitete vor seiner Freistellung in der Softwareentwicklung. Nils erzählt ausschließlich von Konflikten, die er in der Funktion Betriebsrat (BR) bzw. Führungspersonen des Gremiums erlebt hat (vgl. auch Abbildung 15). Er unterscheidet Konflikte „an denen ich selbst beteiligt bin - also sei es im Betriebsrat selbst oder mit dem Arbeitgeber oder mit Arbeitgebervertretern“ (1: 07-09) von Konflikten „wo ich als Betriebsrat hinzugezogen werde, um so en Konflikt lösen zu helfen“ (1:0910). Er geht auf drei Ebenen besonders intensiv auf die konfliktbelastete Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber ein: (1.) zwischen Konzernleitung/ Aufsichtsrats und den Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, (2.) zwischen Personalabteilung/ Geschäftsleitung und dem Betriebsratsgremium und (3.) zwischen dem Betriebsratsvorsitzenden und den einzelnen Führungskräften. Im Umgang mit Konflikten ist Nils eher ‘leise’, aber strategisch und ausdauernd. Grundlage seines (Konflikt-) Handeln sind seine 15 Jahre Erfahrung als Betriebsratsvorsitzender und sein weit reichendes Wissen über die Betriebsratsarbeit. Er spricht immer von „wir“ – nie von „ich“ – und meint damit entweder das gesamte Gremium oder die Führung des Gremiums (sich selbst und seine Stellvertreterin Elena). Lernen spielt bei ihm als individuelle, aber auch als kollektive Erfahrung eine große Rolle. Unter den Bedingungen ständiger Umstrukturierungen und Unsicherheiten führt die Meinungsvielfalt im Betriebsratsgremium zu internen Unstimmigkeiten und Konflikten. Eine klassische Arbeitstagung wird kurz entschlossen zur kollektiven Lernsituation umgestaltet. Da sich die Rahmenbedingungen für die Betriebsratsarbeit verändert haben, muss sich das Team von altem Wissen und Überzeugungen lösen (verlernen) und sich neue Positionen und Verhaltensweisen aneignen (lernen). Als Lehrer präsentiert Nils sich nie direkt. Wenn es um die betriebsverfassungsrechtliche Qualifizierung der Betriebsratsmitglieder geht, fühlt er sich aber als Weiterbildungsberater dafür mit
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Interviews bei denen es um begrenzte Arbeitplatzkonflikte geht
verantwortlich, dass alle BR-Mitglieder lückenlos die notwendigen Grundseminare und die passenden weiterführenden Seminaren besuchen.
Abbildung 15: Zusammenfassung Fallportrait Nils G. Nils G. – als Betriebsratsvorsitzender in einer schwierigen Zeit Konflikte und der Umgang damit
Lernen und Lehren
Konflikte zwischen Gremium und Arbeitgeber. Nils als Sprachrohr: Interessensgegensätze/ Konflikte mit Geschäftsleitung Die Macht der Vorgesetzten wird durch BR beschnitten: Mitarbeitern helfen, sich gegen unfaire Angriffe der Vorgesetzten zu wehren. Auch Verständnis für schwierige Vorgesetztenposition.
Lernen in/ durch Konflikte(n): Betriebsräteschulungen um zu lernen wie Konflikte mit Arbeitgeber auszutragen sind. Seminar für Vorsitzende: Ziel zu lernen, wie er dem Gremium Sicherheit gibt, wie er ‘schwierige’ neue Betriebsräte integrierten kann. Mediationsausbildung BR-Klausur: lernen, wie man Gegensätzlichkeiten positiv nutzt.
Konflikte innerhalb des Gremiums: Als Nils neu im BR und Vorsitzender ist: Kleinkonflikte mit den alten ‘erfahrenen’ Betriebsräten. Heute nach umfangreicher Umstrukturierung auf Konzernebene: Spannungen im Team durch immer neue Forderungen des Arbeitgebers (Uneinigkeit über die richtige Strategie). Schwierigkeiten bei der Integration eines neu gewählten, eher arbeitgeberorientierter BR-Mitglieds. Konflikte der Kollegen: BR als Moderator in der Clearingstelle und als jemand, der verdeckte Konflikte offen legt/ anspricht/ die unwissenden Betroffenen informiert.
Lehren in/ durch Konflikte(n): Umgang mit Konflikten: Probleme im Gremi ‘leise’, strategisch und ausdauernd. Positive Grundeinstellung. um entstehen auch, weil Glaubt immer an das Gute/ an den guten Willen der Anderen. einzelne Betriebsräte Wegen Konflikte mit Arbeitgeber gemeinsamer Workshop nicht ausreichend ge Konflikte im Gremium: werden in routinemäßigen Klausuren schult sind. thematisiert Vorsitzender als Konflikte entstehen, wenn Grundlagen in Frage gestellt werBildungsmanager des den/ Störung auf Beziehungsebene. Interessensgegensätze sind Gremiums. alleine noch keine Konflikte. Diplom-Mathematiker. Seit 15 Jahren im BR. Pläne für nach der Freistellung - zurück in den EDV-Bereich/ vielleicht als Führungskraft. Beruf Betrieb: ständige Umstrukturierungen. Veränderte Unternehmenskultur. und Betrieb Zunehmende Unsicherheiten für Mitarbeiter und Betriebsrat. Nutzen des im Job erworbenen Wissens im außerbetrieblichen Bereich: AußerberufliBR-Wissen ist dafür besser geeignet als das berufsbezogene EDV-Wissen. ches/ Außerbe Stadtteil-, Naturschutz und Nachbarschaftsarbeit als mögliche Betätitriebliches gungsfelder für einen zukünftigen, pensionierten ehemaligen Betriebsrat.
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
4.2.6 Elena S. – Kämpferin für Mitarbeiterinteressen und Gerechtigkeit Elena S. (54) ist die Kollegin von Nils und ebenfalls seit fünfzehn Jahren Betriebsrätin und seit zehn Jahren die freigestellte, stellvertretende Vorsitzende des Gremiums. Vor ihrer Freistellung arbeitete sie als Betriebswirtin im Trainingsbereich. Nils erzählt, sie sei im Gremium die Expertin für zwischenmenschliche Konflikte. Auch Elena erzählt ausschließlich von ihren Konflikten als Betriebsrätin (vgl. auch Abbildung 16). Durch ihren kurzen Hinweis, sie habe in ihrem früheren Leben, in dem sie Karriere gemacht habe, mit ihrem damaligen Vorgesetzten regelmäßig über die Einhaltung sozialer Standards gestritten, weist sie auf ihre an Gerechtigkeit orientierte, immer schon vorhandene Grundeinstellung hin. Heute gibt es extrem aggressiv geführte Auseinandersetzungen mit der Geschäftsleitung. Vor einem Jahr hatte die Geschäftsleitung erfolglos versucht, Elena wegen einer angeblichen eidesstattlichen Falschaussage aus dem Unternehmen zu werfen. Elena erzählt außerdem von kleineren und größeren Konflikten innerhalb des Betriebsrats. In der Zeit der gerichtlichen Auseinandersetzung gab es auch Konflikte innerhalb des Gremiums, weil einige BR-Mitglieder Elena die Unterstützung entziehen wollten. Wie Nils geht sie im Interview auf den einen arbeitgebernahen Betriebsratskollegen ein. Elena erzählt, dass die meisten KollegInnen mit ihren Konflikten, wenn sie den Betriebsrat hinzuziehen, zu ihr kämen. Sie führt das auf ihr Image im Betrieb zurück. Ihr werde, weil sie auch mal (auf Betriebsversammlungen) laut werde, am ehesten zugetraut, dass sie sich von Managern nicht einschüchtern lasse. Elenas Umgang mit Konflikten ist energiegeladen, variantenreich, strategisch und abhängig von den betrieblichen und rechtlichen Rahmenbedingungen. Als Moderatorin und Mediatorin ist sie erfolgreich. In ihrer Rolle als Kämpferin sind die Erfolge heute geringer als in der Vergangenheit. Für sie sind Konflikte (mit dem Arbeitgeber) ein legitimes Mittel, die rollenspezifischen Interessen als Betriebsrat durchzusetzen. Es geht ihr also nicht um Konfliktvermeidung, sondern um eine angemessene Streitkultur. Persönliche Angriffe mit unfairen Methoden (z.B. falsche Anschuldigungen) wertet sie dagegen als unmoralisch und als Tabubruch („Die nehmen in Kauf, dass ich hier in Knast gehe, bloß weil sie mich loswerden wollen oder dieses Gremium kaputtmachen wollen.“ (14:4547)). Sie beschreibt sich im Vergleich zu Nils als die Radikalere. ‘Aus der Rolle fallen’ und rumschreien kann in Verhandlungen und bei der Betriebsversammlung, im Sinne von ‘eine politisch mitreißende Reden halten’ gewollt sein.
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Interviews bei denen es um begrenzte Arbeitplatzkonflikte geht
Abbildung 16: Zusammenfassung Fallportrait Elena S. Elena S. –Kämpferin für Mitarbeiterinteressen und Gerechtigkeit Konflikte und der Umgang damit
Lernen und Lehren
Konflikte mit dem Arbeitgeber: Mit Geschäftsführung/ Personalabteilung gab und gibt es immer Konflikte: Seit einem Jahr – Konflikte haben sind verschärft. Beispiel: Arbeitgebers versucht Elena zu kündigen Die ‘Macht’ der Vorgesetzten wird durch den BR beschnitten. BR mischt sich bei Konflikten ein.
Lernen in/ durch Konflikte(n): Seminare: Mediation, Sucht Lernen durch eigene Lebenserfahrung, schlimme eigene Konflikt und misslungene Konfliktbearbeitungen. Lernen durch die Ausdauer und den Druck des Gremiums (viele Gespräche/ Anstöße/ Gedanken notwendig). Wissen als Ergebnis zurückliegender Lernprozesse: erfahrene BR vs. unerfahrener Geschäftsführer. Position im BR durch Wissen festigen.
Konflikte innerhalb des Gremiums: Früher: die anderen BR-Mitglieder beschwerten sich über Elenas Dominanz. Konflikte im Gremium während Elenas Kündigung Konflikte mit einem BR-Kollege („Bengel“ (12:27)), der den Arbeitgeber möglicherweise über BR-Interna informiert.
Umgang mit Konflikten: Laut und polternd Hat sehr viel Energie. Nutzt ihr Polten strategisch. Beherrscht auch die leisen Töne. Variantenreich Lehren in/ durch Konflikte(n): und strategisch. Ziel: Konflikte beherrschen, nicht abschaffen. Der Mobbingkonflikt: Gegenüber Geschäftsleitung: von Gesprächen (Ziel: sensiElena und externe Trainer bilisieren/ belehren) bis zu gerichtlichen Auseinandersetzungen haben das Team belehrt. Gegenüber Mitarbeitern, sozial kompetente Führungskräf Sie versucht (erfolglos) te: 4-Augen-Gespräche, , Ermahnen/ Belehren; auch Einsatz Geschäftsführer über Wichtigvon in Seminaren erworbenen Techniken (Moderation, Mediakeit nicht messbarer wirtschafttion, …) licher Faktoren zu belehren. Konflikte im Gremium: von sich zurücknehmen, über sich Sie belehrt Mitarbeiter, streiten, bis sich allein um das Problem kümmern. dass sie selbst aktiv werden Konflikte als eine legitime Möglichkeit, Interessen mit müssen. fairen Mitteln durchzusetzen – persönliche Angriffe der Geschäftsleitung gegen ein Mitglied im BR/ einen Rollenträgers als Tabubruch. Früher im Trainingsbereich arbeitende Betriebswirtin. Seit 10 Jahren freigestellte stellvertretende BR-Vorsitzende. Beruf Hatte an früherem Arbeitsplatz „Karriere gemacht“. Nach privatem und Betrieb Schicksalsschlag alles geändert: anderen Job in einem anderen Betrieb, Betriebsrätin geworden. Steht für einen aktiven, öffentlichen und politischen Betriebsrat: Infos aus dem Aufsichtsrat, Betriebsversammlungen, Einmischung bei den regelmäßigen Umstrukturierungen. Politik ist ihr wichtig: „Mehr Macht für Arbeitnehmer!“ Außerberufliches/ Will als Rentnerin einen Gnadenhof für Pferde (geschundene LebeweAußerbetriebliches sen) eröffnen.
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
Bei Elena tauchen beim Umgang mit Konflikten Lernen, Lehren und Wissen auf. Wissen wird als Hinweis auf zurückliegende Lernprozesse präsentiert, aber auch als Kompetenzdemonstration einer geschulten und erfahrenen Betriebsrätin und als Legitimation, sich anderen als Lehrer aufzudrängen. Ihren Lehranspruch in den Konfliktsituationen der Mitarbeiter, die zu ihr kommen, entschärft sie, indem sie auch sich selbst als ständig Lernende bezeichnet. Elena legt in ihren Erzählungen viel Wert auf die politische Dimension ihrer Betriebsratsarbeit. Sie wünscht sich ein politisches System, in dem Arbeitnehmer mehr Möglichkeiten haben, Einfluss auf wirtschaftliche Entscheidungen in den Unternehmen zu nehmen.
4.2.7 Carmen S. – Professionalisierung in der Betriebsratsarbeit durch Konflikte Carmen S. (40) ist Biotechnikerin und technische Betriebswirtin und seit sechs Jahren freigestellte Betriebsrätin in einem relativ großen Gremium, in dem unterschiedliche Fraktionen vertreten sind. Da gibt es eine große gewerkschaftlich orientierte Gruppierung und vier kleinere Gruppen. Die Fraktionen trennt eine teilweise langjährige Gegnerschaft. Auch Carmen kam ursprünglich über eine eigene Liste in den Betriebsrat, nachdem sie es mehrere Jahre nicht geschafft hatte, als gewerkschaftlich engagierte Mitarbeiterin von außen auf die Arbeit des Betriebsrats Einfluss zu nehmen. Mittlerweile hat sich ihre Liste wieder mit der Liste der Gewerkschaftler zusammengeschlossen. Bei Carmens Erzählungen geht es zum einen um die Art und Weise, wie im Betriebsratsgremium miteinander umgegangen wird. Konflikte tauchen hier als Möglichkeit der Selbstpositionierung und Distanzierung im Gremium auf. Im Bereich Intervenieren in Konflikten der Kolleginnen und Kollegen geht es für Carmen um ihre Professionalisierung als nicht hauptberuflicher Konfliktberater. Sie hat im Laufe der Jahre durch erfolgreiche und missglückte Interventionen ihren Job gelernt. Zu ihrer Einstellung zu Konflikten erklärt sie: „Aber Konflikte haben für mich eigentlich viele Nuancen. Das ist für mich nicht immer der schwerwiegende, lang schwelende Konflikt. Auf der andern Seite finde ich, dass das auch zum Leben dazugehört und, dass das nicht immer was Schlimmes ist.“ (10:42-45) Carmen grenzt die Konflikte in denen sie heute professionell interveniert, von den Konflikten ihrer Kindheit und Jugend ab. Damals war sie selbst betroffen und unerfahren. Heute geht sie eigenen Konflikten manchmal bewusst und gezielt aus dem Weg. Sie bietet Konfliktbetroffenen an, sie bei der Lösung ihrer Konflikte zu unterstützen. Carmen hat sehr viel aus ihren Konfliktinterventionen
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Interviews bei denen es um begrenzte Arbeitplatzkonflikte geht
als Betriebsrat gelernt. Belehrung setzt sie eher wenig und vorsichtig ein (vgl. auch Abbildung 17).
Abbildung 17: Zusammenfassung Fallportrait Carmen S. Carmen S. – Professionalisierung in der Betriebsratsarbeit durch Konflikte Konflikte und der Umgang damit
Lernen und Lehren
Konflikte als intervenierende Betriebsrätin: Früher/ am Anfang wenig Erfolg, weil falsche Strategie. Mittlerweile recht erfolgreich. Prinzipien: (1.) Immer mit allen Konfliktparteien reden. (2.) Konflikte aushalten/ sich nicht zu schnellen Entscheidungen drängen lassen. (3.) Nicht zu eng mit der Personalabteilung zusammenarbeiten. (4.) Bei Bedarf sich selbst Unterstützung bei BR-Kollegen suchen.
Lernen in/ durch Konflikte(n): Sie lernt durch die Bearbeitung konkreter Konflikte, durch Erfolge und Misserfolge. Carmens ‘Lehrer’ sind wenige, erfahrene und vertraute Betriebsräte.
Konflikte in dem ständig zerstrittenen BR-Gremium: Konflikte als Standartherausforderung für Betriebsräte und als individuelles Austarieren zwischen Anpassung und Auflehnung
Lehren in/ durch Konflikte(n): Als Angebot - Hilfe zur Selbsthilfe. Lehren im Erwachsenenbereich setzt Freiwilligkeit auf der Seite des Lernenden voraus.
Lernen/ Lehren außerhalb von Umgang mit Konflikten: Konflikten: Sie bemüht sich, Konflikte zu beherrschen und sich Ausbildung/ Seminare nicht von ihnen beherrschen zu lassen. Sie plant Art und Weise der Konfliktaustragung. Sie reagiert situativ (weder grundsätzlich aus dem Weg gehen noch immer austragen). Sie arbeitet seit der Ausbildung in der chemischen Industrie im gleichen Unternehmen. Beruf Ausbildungen: Biologielaborantin, Biotechnikerin, technische Beund Betrieb triebswirtin. Sie ist seit 6 Jahren freigestellte Betriebsrätin (größeres Gremium, mehrere Fraktionen). Ein Kindheitskonflikt mit ihrer „Hassfreundin“. außerberufs Ist wichtig für heutige Rolle, weil persönliche Distanzierung und Hinund außerbeweis auf dazwischen liegende Lernprozess („Heute ist man reifer/ erfahretriebliche Thener/ kein Kind mehr.“). men
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4.2.8 Olga G. – Insolvenzerfahrung als Betriebsrätin Olga G. (40) ist gelernte Reisebürokauffrau. Sie arbeitete bis vor zweieinhalb Jahren in einem Unternehmen in der Tourismusbranche und war Betriebsratsvorsitzende eines kleinen Gremiums. Durch die Insolvenz ihres Betriebes verloren die meisten Kolleginnen und Kollegen ihren Arbeitsplatz. Nach der Betriebsschließung machte Olga eine Fortbildung zur Qualitätsmanagerin und begann parallel ein Studium für Betriebswirtschaft, das sie nach kurzer Zeit abbrach. Schon seit einigen Jahren beschäftigt sie sich mit Astrologie.
Abbildung 18: Zusammenfassung Fallportrait Olga G. Olga G. – Insolvenzerfahrung als Betriebrätin Konflikte und der Umgang damit
Lernen und Lehren
BWL an der Uni: Lernen, um Erlebtes aufzuarbeiten. Durch Watzlawick die Mathematik verstehen. Aufgabe des Studiums als Versagen: „Ich habe auf das Diplom verzichtet, um mich so etwas Obskurem zu widmen wie der Astrologie.“ Nicht konform sein! Andere Formen des Lernens ausprobieren. „Schaltet bei Lernen das Radio ein!“ Umgang mit den Konflikten: Sie belehrte früher als Geht mit moralischen Anspruch an Konfliktbearbeitung Betriebsrätin durch Verunsi(Achtung vor dem Amt des BR, eigene Macht nicht misschern/ Verhalten spiegeln. brauchen) Belehrt heute durch ihr Zieht sich schließlich ganz zurück; steigt aus Arbeitswelt Vorbild. aus (Astrologie statt BWL) Realschulabschluss, Abitur (Funkkolleg), ein Semester BWL studiert. Berufe: Hilfskraft (Automobilindustrie), Bürogehilfin, Reisekauffrau, Beruf und Betrieb Qualitätsmanagerin. Heute selbständige astrologische Beraterin. Zweimal Betriebsrätin: erste Erfahrungen in einem etwas größeren Gremium, später BR-Vorsitzende eines neu gewählten kleinen Gremiums. Entscheidung für Astrologie ist die Entscheidung gegen abhängige außerberufs- und Beschäftigung (nie mehr einen Chef haben). außerbetriebliche Aussteigerin sein: Leben und Arbeiten als Einheit Themen Konflikte als erstmals gewählte Betriebsrätin: Olga versuchte hoch motiviert mitzuarbeiten. Es kommt zu Konflikten. Olga tritt aus dem Betriebsrat aus. Intervenieren als Betriebsratvorsitzende: Konflikte durch die Mitbestimmung des Betriebsrates: In der Unternehmenskrise. Betriebsrat erzwingt Interessenausgleich/ Sozialplan. Zunächst Zusammenarbeit/ Hoffnung den Betrieb retten zu können. Zum Schluss: harter Schlagabtausch/ persönliche Angriffe gegen Olga. Konflikte in der Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft (BQG): Olga moderiert Konfliktgespräch.
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Heute arbeitet sie als selbständige astrologische Beraterin. Ihre ersten Erfahrungen als Betriebsrätin sammelte Olga in einem größeren Betriebsratsgremium. Wegen persönlicher Konflikte mit anderen Gremiumsmitgliedern trat sie von diesem Amt zurück. Einige Jahre später, nach einer Ausgliederung, wurde Olga zur Betriebsratvorsitzenden im neuen Betrieb gewählt. Olga berichtet von ihren Konflikten als neu gewählte Betriebsrätin im alten Betrieb, als Betriebsratsvorsitzende im neuen Betrieb (der in die Insolvenz schlitterte) und als ehemalige BR-Vorsitzende in der darauf folgenden Auffanggesellschaft. Manchmal ist sie persönlich von Konflikten betroffen, manchmal interveniert sie. Lernen ist für Olga grundsätzlich wichtig. Sie favorisiert allerdings alternative Formen und Methoden. So sagt sie, dass sie durch Watzlawick die Mathematik verstanden habe, Körperwissen dem akademischen Wissen vorziehe und beim Lernen das Radio einschalte. Im Zusammenhang mit Konflikten lernt Olga dauernd. Beim Lehren hält sie sich eher zurück. In Abbildung 18 ist das Fallportrait von Olga G. nochmals zusammengefasst.
4.2.9 Zusammenfassende Beschreibung Für dieses zweite Konfliktmuster sind Konflikte etwas, was sich für die Interviewten zwangsläufig aus ihrer beruflichen und betrieblichen Rolle als Vorgesetzter, als in Teilzeit arbeitende Managerin, als Funktionsträger im Betriebsrat (Vorsitzender, Opposition) usw. ergibt. Interessensgegensätze und tägliche Kleinkonflikte gehören dabei zu den routinemäßigen, beherrschbaren Alltagsereignissen. Bei ihren ‘großen’ Konflikten geht es immer auch um das Sichbehaupten in ihrer beruflich/ betrieblichen Kompetenz und Rolle. Beim Umgang mit Konflikten gehen die Vertreter dieses Musters strategisch und aktiv vor. Die wichtigste und erfolgreichste Methode ist das Gespräch. Sie sind aber auch bereit, Konflikte durch Machteinsatz zu lösen. Sie nehmen immer wieder Einfluss auf die Konflikte von Mitarbeitern und Kollegen. In eigenen Konflikten verlassen sie sich am liebsten auf sich selbst; Vertraute werden wohlüberlegt und selten hinzugezogen. In ihrer Rolle haben die Vertreter dieses Konfliktmusters gelernt, dass man Konflikte nicht immer zeitnah und endgültig lösen kann. Konflikte sind für sie nicht immer nachteilig. So profiliert sich Jens durch sein Vorantreiben des Themas Mobbing als Führungsperson im Betriebsratsgremium. Bärbel hat durch die vielen halbprivaten Beratungsgespräche ein gut funktionierendes, betriebliches Netzwerk aufgebaut. Lernen und Wissen spielen für dieses Konfliktmuster eine große Rolle, weil Konflikte selbstverständlicher Teil ihres Arbeitsalltags sind, und weil sie durch das Kontrollieren und Beherrschen von Konflikten ihre Position im Betrieb si-
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
chern und erhalten. Lernen und Wissen tauchen in zwei Varianten in den Interviews auf: Erstens als direkt im Umgang mit Konflikten erworbenes Wissen: Besonders Rico und Carmen erzählen sehr ausführlich, was sie gelernt haben, welche Fehler ihnen am Anfang unterlaufen sind, und wie sie sich verändert und entwickelt haben. Beide sind ohne vorherige Ausbildung in ihren Job als freigestellte Betriebsrätin bzw. als Vorgesetzter hineingestolpert. Beide haben hauptsächlich durch Erfahrungen, Erfolge und Misserfolge gelernt, wie man mit den typischen Konflikten des neuen Amtes umgeht. Und zweitens als vorausgeschaltetes und mitlaufend erworbenes, berufsbezogenes Wissen: Besonders Anita, Dorit und Bärbel betonen ihre extrem gute Ausbildung. Für sie ist die Voraussetzung für den Umgang mit berufsbezogenen Konflikten, selbst fachlich kompetent zu sein. Die drei Frauen deuten Konflikte als Hinweise auf arbeits- und leistungsbezogene Defizite der Kollegen und Vorgesetzten, die mit unfairen Mitteln arbeiten. Auf Konflikte reagieren sie mit gesteigerter Leistungsorientierung. Sie lernen, um noch besser zu sein, um noch weniger Angriffsfläche für fachbezogene Kritik zu bieten. Bei Bärbel führte dies bis zur psychischen Erschöpfung. Grundsätzlich sind die sozialen Aspekte und Kontakte für Dorit ein unvermeidbares Übel, für Bärbel ein notwendiger Teil ihrer Professionalität als Bildungsmanagerin eines Unternehmens und für Anita ein strategischer Vorteil gegenüber akademischen Neuankömmlingen. Dorit akzeptiert schließlich, dass sie auch ihr Sozialverhalten ändern muss, um den Konflikt zu ihren Gunsten zu lösen. Sie ist schließlich doch bereit, Soziales zu lernen. Die Konzentration auf das reine Fachwissen scheint bei Anita am stärksten ausgeprägt. Sie behauptet, sie habe durch ihre Konflikte zu wenig hinzugelernt. Auch Lehren taucht im Zusammenhang mit Konflikten bei dieser Gruppe auf – aber eher vorsichtig, unter Freiwilligkeitsvorbehalt und versteckt. Bärbel und Nils verstehen sich als Bildungsmanager der Betriebsratskollegen bzw. der Mitarbeiter. Carmen und Rico setzen Belehrung vorsichtig ein – die Kollegen und Mitarbeiter entscheiden letztlich darüber, was sie sich wie aneignen. Rico zieht für seine Vermittlungsabsichten die Gruppensprecher, die durch die gemeinsame, tägliche Arbeit mehr Nähe zu den Mitarbeitern haben, hinzu. Jens lehnt die Rolle des direkten Lehrers im Betrieb im Zusammenhang mit Konflikten heute ab, aber er gibt außerhalb des Betriebes Seminare zum Thema Konflikte.
4.3 Interviews über unbegrenzte Konflikte Für das dritte Konfliktmuster stehen neben der Intervenierenden und Betriebsrätin Cora, auch die Intervenierenden Paul (Chemiker und neu gewählter Betriebs-
Interviews über unbegrenzte Konflikte
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rat) und Ilse (Führungskraft in der Produktion, neu gewähltes Betriebsratsmitglied). Aus der Betroffenen-Gruppe gehören neben Isolde, der beschuldigten Mobberin, auch die nicht freigestellte Betriebsratsvorsitzende Kassandra, die gerade ausgelernte Industriekauffrau Rita und Anna, die Lebensgefährtin von Josef zu diesem Muster. Von den sieben Personen (aus der Intervenierenden und der Betroffenengruppe) sind vier Betriebsräte. Ilse ist sowohl Betriebsrätin als auch die Vorgesetzte eines Männerteams. Diese Gruppe unterscheidet sich insbesondere von dem zweiten Konfliktmuster dadurch, dass die außerbetriebliche Kontextualisierung der betrieblichen Konflikte meist einen großen Raum einnimmt. Ein Teil der Interviewten erzählt von vielen konkreten, privaten, persönlichen Konflikten und Katastrophen (große biographische und lebensweltliche Erzählungen). Anna und Cora zeichnen eher nebulöse, allgemein negative Bilder von einer ungerechten, konfliktbelasteten und unmoralischen Lebens- und Arbeitswelt. Auch ihre arbeitsbezogenen Konflikte begleiten die Mitglieder dieser Gruppe schon sehr lange. Einige können sich während ihrer gesamten Berufstätigkeit an Konflikte erinnern. Im Folgenden werden auch für die Vertreter dieses letzten Konfliktmusters Fallportraits erstellt.
4.3.1 Kassandra W. – Konflikte mit Männern im privaten und betrieblichen Bereich Kassandra W. (46) ist gelernte Kinderpflegerin. Sie arbeitet zurzeit als angelernte Kraft im Büro eines pharmazeutischen Familienbetriebs. Nach einer mehrjährigen Nur-Familien-Phase begann sie hier, zunächst stunden- und aushilfsweise, in der Produktion zu arbeiten. Später wechselte sie im gleichen Betrieb in einen Bürojob. Dort arbeitet sie seit mittlerweile acht Jahren. Seit 12 Jahren ist sie Betriebsrätin und auch die Vorsitzende eines kleinen Gremiums. Kassandra berichtet von betrieblichen und privaten Konflikten (vgl. auch Abbildung 19). Ihr zentraler Konflikt ist ihr eigener Mobbingfall. Sie fühlt sich seit Jahren von ihrem Chef sexuell belästigt und gemobbt. In einem weiteren Konflikt mit ihrem direkten Chef geht es um die Betriebsratsarbeit. Er will den Umfang und den Zeitpunkt ihrer BR-Arbeit kontrollieren. Sie streiten sich immer wieder in der betrieblichen Öffentlichkeit. Kassandra berichtet auch von lange zurückliegenden Konflikten mit ihren Kolleginnen, als sie noch in der Produktion arbeitete. Beim Intervenieren als Betriebsrätin hält sie sich eher zurück, weil sie soziale Konflikte als grundsätzlich unlösbar einstuft. Auch aus dem privaten Bereich erzählt sie von vielen Konflikten. Die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz hatte
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
Auswirkungen bis in ihr Eheleben hinein. Aber auch über ihre weitere berufliche Entwicklung gibt es Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann.
Abbildung 19: Zusammenfassung Fallportrait Kassandra W. Kassandra W. –Konflikte mit Männern im privaten und betrieblichen Bereich Konflikte und der Umgang damit Mobbing und sexuelle Belästigung durch den direkten Vorgesetzten: Ursprungskonflikt liegt Jahre zurück. Er hat Auswirkungen im privaten Bereich. Seit einem Jahr - latent bedrohliche Situation. Weitere Konflikte mit dem direkten Chef, weil der sie in ihrer Betriebsratsarbeit kontrollieren will. Kassandra und die KollegInnen: Sie hält die Frauen in der Produktion für primitiv. KollegInnen erkennen nicht wirtschaftliche Notwendigkeiten. Kassandra maßregelt/ belehrt sie deshalb. Bei sozialen Konflikten der KollegInnen: Schadensbegrenzung/ keine Konfliktklärung durch voneinander unabhängigen Kontakt nach beiden Seiten. keine Konflikte im BR-Gremium
Lernen und Lehren Sie würde gerne mehr/ einen neuen Beruf lernen oder studieren. Sie ist aus der Produktion ausgeschieden, weil Konflikte ihre persönliche Weiterentwicklung verhinderten. Sie besucht als BR nur Wochenendseminare, um Konflikte mit dem Chef zu vermeiden. Sie hat durch Konflikt eher wenig gelernt. Sie versucht ihren Chef zu belehren. Sie belehrt die KollegInnen lautstark über die wirtschaftliche Erforderlichkeit von Mehrarbeit. Um Kündigungen zu verhindern, belehren sie die Mitarbeiter. Wenn die nicht lernen, erfolgt die Bestrafung/ Kündigung.
Umgang mit den Konflikten: Selbstzweifel. Spioniert ihrem Chef nach. Wird krank. Umgang ist aktiv bis aggressiv, nicht strategisch. Sie stellt Öffentlichkeit her, holt sich Unterstützung durch Gewerkschaft, Geschäftsführer, Freundin, Kollegin, Ehemann. Sie schlägt sich gegen die Mitarbeiter auf die Seite des Geschäftsführers. Als Mitarbeiterin ist sie immer selbst von Konflikten betroffen. Als BR-Vorsitzende interveniert sie selten. Ist gelernte Kinderpflegerin. Arbeitet seit 12 Jahren zunächst in der Produktion – später im Büro - in einem pharmazeutischen Familienbetrieb. Beruf Seit 12 Jahren BR-Vorsitzende (kleines Gremium). und Betrieb Immer wieder Partnerkonflikte um ihre berufliche Laufbahn. Z.B. außerberufs- und Ablehnung einer Umschulung zum Physiotherapeuten durch Ehemann („zu außerbetriebliche teuer“). Themen Angst vor finanzieller Abhängigkeit vom Ehemann (Arbeitsplatz = eigenes Geld). Ablehnung von körperlicher Nähe in Folge der sexuellen Belästigung
Kassandra hat eine idealisierte Vorstellung vom Lernen. Sie träumt von einer weiteren Berufsausbildung und von einem Studium. Tatsächliches Lernen im
Interviews über unbegrenzte Konflikte
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Betrieb und durch Konflikte taucht dagegen im Interview eher selten auf. Lehren nutzt Kassandra dagegen häufiger in ihren Auseinandersetzungen. Sie belehrt ihren Chef, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte. Und sie belehrt die Mitarbeiter über die richtige Einstellung zur Arbeit. Sie lehrt aber nicht, damit die Anderen etwas lernen können, sondern um sich selbst in Konflikten besser zu positionieren.
4.3.2 Rita N. – Konflikte auf dem Weg von der Auszubildenden zur akzeptierten Kollegin Rita N. (22) arbeitet als Industriekauffrau seit 16 Monaten, seit dem Ende ihrer Ausbildung, befristet im Einkauf eines großen Industriebetriebs. Rita stammt aus den neuen Bundesländern und ist 1996 mit ihren Eltern und ihrer Schwester in ein ländliches Gebiet nach Süddeutschland gezogen. Dort absolvierte sie in ihrer Heimatgemeinde eine Ausbildung zur Bäckereifachverkäuferin. Sie arbeitete nach der Ausbildung noch ein halbes Jahr in diesem Beruf und folgte dann ihrem Freund in eine große Stadt, um eine weitere Ausbildung zu beginnen. Ihr Freund ist mittlerweile aus beruflichen Gründen in eine andere Großstadt gezogen, wohin sie ihm auch wieder folgen will. Rita erzählt von mehreren Konflikten – an ihrem jetzigen Arbeitsplatz, aus ihrer letzten Ausbildungszeit und aus der Zeit ihrer Erstausbildung (vgl. auch Abbildung 20). Doch spricht sie im Interview nicht nur betriebliche, sondern auch private Konflikte an, z.B. die Schwierigkeiten, die ihre Familie mit ihrer kriminellen Schwester hat. Das Leben auf dem Land beschreibt sie als potentiell konflikthaft – da gebe es untreue Ehemänner und eifersüchtige, streitsüchtige und machthungrige Ehefrauen. Rita fühlt sich an ihrem jetzigen Arbeitsplatz als Mobbingopfer. Nachdem sie ihrem Chef von den Gerüchten erzählt hatte, sie habe ein Verhältnis mit ihm, kam es zum Konflikt mit den männlichen Kollegen. Der Konflikt schaukelte sich, zusätzlich genährt von weiteren Problemen (z.B. von ihrer noch nicht abgeschlossenen Einarbeitung), immer weiter auf. Mittlerweile tritt der Konflikt im Arbeitsalltag immer mehr in den Hintergrund. Berufsbezogenes Lernen spielt für Rita eine große Rolle. Es kommt zu Konflikten, weil man Rita das Lernen verwehrt. Lernen durch Konflikte kommt dagegen eher selten vor. Auch Lehren hat eher keine Bedeutung.
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
Abbildung 20: Zusammenfassung Fallportrait Rita N. Rita N. – Konflikte auf dem Weg von der Auszubildenden zur akzeptierten Kollegin Konflikte und der Umgang damit
Lernen und Lehren
Konflikte am aktuellen Arbeitsplatz: Rita wehrt sich gegen das Gerücht, sie habe ein Verhältnis mit dem Chef. Sie erzählt es ihm. Ein Kollege fühlt sich falsch dargestellt und übt Druck auf sie aus. Latenter Dauerkonflikt (aktueller Arbeitsplatz): Die alten, erfahrenen, männlichen Kollegen gegen zwei junge Frauen. Rita fühlt sich ausgenutzt. Konflikt in der Berufsschulklasse um die Englischarbeiten, die der Englischlehrer nach Aufforderung neu gestaltet hatte. Konflikt um die Verkürzung der Lehrzeit: Bei der 1. Berufsausbildung musste Rita den Ausbildungsbetrieb wechseln, um vorzeitig Prüfung machen zu können.
Sie ist ehrgeizig, hat immer viel gelernt, wollte immer die Beste sein. Kollegen haben sie nicht richtig eingearbeitet. Aber es gibt auch Streit mit Kollegen, weil sie nicht mehr Lehrling sein will. Ende des Lernens/ der Einarbeitung, nachdem sie ihren ‘Lehrer’ beim Chef anschwärzt. Betriebsrat rät Rita SozialeKompetenz-Seminare zu besuchen (wegen aktuellem Konflikt) Konflikt mit dem Chef um die eigene Karriere: keine Fortbildungen/ Messebesuche/ berufsbegeitendes Studium
Umgang mit Konflikten: Rita versuchte anfangs ihre männli Unerfahren, eher nicht strategisch. chen Kollegen zu belehren. Kein Erfolg. Wenn Auswirkung zu stark, sich zurücknehmen „So alte Männer kann man nie umbieund hoffen, dass „Gras drüber wächst“. gen“. Sie tritt Konflikte selber los. Sie droht mit dem Halbherzige Belehrung der verärBR. gerten Mitschüler/ Berufsschule: „Es Sie versucht über Konflikte, ihren Platz in der geht um Lernen nicht um Noten.“ Abteilung zu finden. --- Sie sucht sich Frau als Verbündete. Bäckereifachverkäuferin, Industriekauffrau. Seit 16 Monaten mit der Ausbildung fertig. Befristet angestellt. Beruf Sie will sich noch einmal beruflich verändern. und Betrieb Viele Konflikte. Nach der Wende als Kind aus neuen Bundesländern ins ländliche Südaußerberufs- und deutschland. außerbetriebliche Das Leben auf dem Land ist für sie gekennzeichnet durch untreue Themen Ehemänner/ selbstherrliche Lehrherren und eifersüchtige Ehefrauen (Beispiel Fastnacht „Da wird viel betrogen.“). Konflikte mit der Schwester: Sie lügt und stielt seit Jahren. Die Eltern haben Schwester rausgeschmissen. Rita und ihre Cousine ‘filterten’ die Aussagen der Schwester nach Wahrheit und Lüge. Unterstützung der überforderten Mutter.
Interviews über unbegrenzte Konflikte
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4.3.3 Anna A. – einmal Opfer immer Opfer Anna A. (33) ist gelernte Einzelhandelskauffrau. Sie ist heute in einem großen Supermarkt als Verkäuferin angestellt. Bis vor fünf Jahren arbeitete Anna im selben Betrieb wie ihr Lebenspartner Josef. Damals war sie von der angelernten Arbeiterin zur Maschinenführerin, Sicherheitsbeauftragten und zum Mitglied der Betriebsfeuerwehr aufgestiegen. Sie beschreibt ein Arbeitsumfeld, in dem es immer Konflikte und Schikane gab – auch ihr Freund wurde dort zum Opfer.
Abbildung 21: Zusammenfassung Fallportrait Anna A. Anna A. – einmal Opfer immer Opfer Konflikte und der Umgang damit
Lernen und Lehren
Anna ist immer die Konfliktbetroffene. Kleinere (mit dem großen zusammenhängende) Konflikte am alten Arbeitsplatz: Spindkontrollen, Massenentlassungen, Dauerkonflikt Schichtleiter und Schicht. Mobbing - sexuelle Belästigung – Entlassung: ein noch nicht verarbeiteter, krank machender Konflikt aus der Vergangenheit. Der damalige Kollege und jetzige Lebensgefährte Josef wurde vom gleichen Schichtleiter rausgemobbt. Konfliktträchtige aktuelle Situation in ihrem derzeitigem Job als Verkäuferin im Supermarkt: „hier entsteht Mobbing!“
Krankheit als Lernhindernis Mobbingberatung, Deutschkurse und weitere Lernarrangements als Infrastruktur, um gesund zu werden – nicht um zu lernen Sprache wieder finden, Kommunizieren lernen Ausbildung als nicht geschätztes Ergebnis aus dem Mobbingfall.
Umgang mit den Konflikten: Zunächst sich aktiv wehren. Kein strategisches Vorgehen Dann krank werden. Sich aus Betrieb herausdrängen lassen. Später Unterstützung durch Josef. Unter Leute gehen. Ausbildung zur Einzelhandelkauffrau/ neuer Job als Resozialisationsmaßnahme. Arbeitete bis vor 5 Jahren als angelernte Arbeiterin im selben Betrieb wie Josef J. Beruf Nach Kündigung und Krankheit absolviert sie erfolgreich eine Ausbilund Betrieb dung. Arbeitet heute als Einzelhandelskauffrau/ Verkäuferin in einem Supermarkt. Kontakt und Austausch mit anderen Opfern (Mobbingberatungsstelle) Außerberufliches/ Die allgemeine Schlechtigkeit der Welt/ der Menschen, Neid, MissAußerbetriebliches gunst, usw. sind an Konflikten schuld.
Anna fühlte sie sich von einem Schichtleiter und von fast allen KollegInnen in ihrer Schicht drangsaliert, gemobbt und am Ende auch noch sexuell belästigt. Nachdem sie sich über die sexuelle Belästigung beschwerte, musste sie wegen
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
des Vorwurfs der Verleumdung das Unternehmen verlassen. Den Prozess gegen den Belästiger verlor sie aus Mangel an Beweisen. Anna wurde durch diese Ereignisse ernsthaft krank. Mit Hilfe einer Mobbingberatungsstelle und mehrerer Volkshochschulkurse stabilisierte sie sich schließlich wieder. In der Zeit, in der Mobbing stattfand und auch danach, hinderte sie ihre Krankheit am Lernen. Für die Zeit der Stabilisierung nutzte sie zwar pädagogische Angebote, doch nicht um zu lernen, sondern um ihrem Leben wieder eine zeitliche, räumliche und soziale Struktur zu geben. Bei Anna spielt Lernen und Lehren im Zusammenhang mit ihren Konflikten keine Rolle (vgl. auch Abbildung 21). Doch nicht nur an ihrem damaligen Arbeitsplatz bestand nach ihrer Überzeugung für jeden die Gefahr, Mobbinopfer zu werden. Sie erlebt erneut die Anfänge von Mobbing – in einem anderen Betrieb, an ihrem aktuellen Arbeitsplatz. Aus Annas Sicht ist die Welt voll von Schlechtigkeit, deshalb müsse sie auch heute wieder Angst vor neuen Mobbingattacken haben. Ihre damaligen Mobbingerfahrungen und ihre heutigen Arbeitsplatzprobleme begreift sie als Zeichen für den moralischen Zerfall unserer Gesellschaft. Weil moralische Werte heute nicht mehr zählen, hat sie eine pessimistische Einschätzung für die grundsätzliche Lösbarkeit von Konflikten.
4.3.4 Dr. Paul S. –Identitätsfindung als Chemiker und als Betriebsrat Dr. Paul S. (39) ist Chemiker in einem großen Pharmakonzern. Obwohl er zur Gruppe der Intervenierenden zählt (er ist Betriebsrat und als solcher der Vorsitzende des Mobbingausschusses), berichtet er im Interview ausschließlich von eigenen Konflikten aus der Betroffenenperspektive. Paul erzählt von Konflikten während seiner Studienzeit und seiner gesamten Berufstätigkeit. Als eines seiner Probleme betrachtet er, dass er Autoritäten nicht anerkenne. Auch aktuell belasten ihn die Auseinandersetzungen mit seinem derzeitigen Vorgesetzten. Paul ist selber davon überzeugt, dass er ein guter, engagierter und leistungsstarker Mitarbeiter sei. Doch in der letzten Beurteilungsrunde bescheinigte ihm sein Chef, er habe lediglich 85 % seiner Ziele erreicht. Auch im BR-Gremium erlebt Paul Sticheleien und Konflikte. Paul legt viel Wert darauf, sich von den anderen Akademikern zu unterscheiden – z.B. dadurch, dass er im Betriebsrat ist. Von den meisten Betriebsräten unterscheidet er sich wiederum durch seinen Status als Akademiker. Lernen und Lehren spielen in seinen Erzählungen im Zusammenhang mit Konflikten allerdings keine so große Rolle. Paul erklärt, er sei behütet aufgewachsen, habe relativ spät und wenig Erfahrung mit Konflikten gemacht und sei deshalb auch heute eigentlich nicht konfliktfähig. Er berichtet dann aber doch von einigen Geschichten, in denen
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Interviews über unbegrenzte Konflikte
offene und verdeckte Konflikte, in der Vergangenheit und Gegenwart und auch im privaten Bereich, durchscheinen (Freundin, Schule, Zuhause, Uni). Paul geht mit privaten Schwierigkeiten dergestalt um, dass er sie im Interview in der Form von Nicht-Konflikten erzählt (vgl. auch Abbildung 22).
Abbildung 22: Zusammenfassung Fallportrait Dr. Paul S. Dr. Paul S. – Identitätsfindung als Chemiker und als Betriebsrat Konflikte und der Umgang damit
Lernen und Lehren
Ist immer Konfliktbetroffener – kein Intervenieren, obwohl er Betriebsrat ist. Sein Konfliktthema: Andere beschädigen seinen guten Ruf (als kompetenten Chemiker). Konflikte als Mitarbeiter: Eigene Konflikte mit dem Gruppenleiter, seinem disziplinarischen Vorgesetzten (schlechte Beurteilung). Konflikt mit dem Teilgruppenleiter. Konflikte mit dem damaligen Abteilungsleiter um ein Büro und über Arbeitsfragen. Konflikte im BR-Gremium: Schwierigkeiten in diesem sehr großen Gremium seine Rolle zu finden. Er wird als Leiter der Arbeitsgruppe ‘Führungsverhalten und sozialer Umgang’ von Gremium belächelt.
Keine Weiterbildung als Mitarbeiter. Paul besucht deshalb über seine BRTätigkeit die entsprechenden Managementseminare (Konflikte, Rhetorik, Kommunikation). Er lernt eher wenig aus seinen Konflikten. Paul versucht Chefs/ Kollegen zu belehren, er glaubt alles besser zu wissen.
Umgang mit den Konflikten: Er merkt nicht, dass er Konflikte lostritt. Er wehrt sich zunächst gar nicht, geht dann eher unstrukturiert vor. Er weicht den Konflikten aus, verlagert Interessen in andere Bereiche (sich weg bewerben, mehr BR-Arbeit machen, Gewerkschaftsarbeit machen). Paul ist promovierter Chemiker in einem Pharmaunternehmen. War früher dort auch als Werksstudent. Schrieb dort Doktorarbeit. Er versucht Beruf sich innerbetrieblich zu verändern. und Betrieb Ist im Betriebsrat Leiter der Arbeitsgruppe ‘Führungsverhalten und sozialer Umgang’. Erzählt von Kleinkonflikten und möglichen Vielleicht-Konflikten, die außerberufs- und von ihm aber nicht als Konflikte gekennzeichnet werden. außerbetriebliche War als Kind in der Schule Außenseiter. Schwierigkeiten auch in andeThemen ren Bereichen. Familie/ Partnerschaft – „wir müssen lernen zu streiten“ Konflikte bei Jugendfreizeiten. Schwierigkeiten/ Konflikte im LifeRollenspiel-Verein.
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
4.3.5 Ilse M. – Konfliktvorbeugung durch Teamlernen Ilse M. (44) arbeitet heute in einem Betrieb, der Lebensmittel produziert. Sie hatte dort vor 13 Jahren als ungelernte Kraft begonnen. Nach einer zweijährigen, berufsbegleitenden Ausbildung zur Anlagenfahrerin wurde sie in derselben Abteilung Vorgesetzte, in der sie vorher als einfache, ungelernte Mitarbeiterin eingesetzt war. Sie ist heute stolz, dass ihr Team gut funktioniert, dass die Mitarbeiter an den unterschiedlichen Arbeitsplätzen einsetzbar sind, dass Unstimmigkeiten zeitnah angesprochen und geklärt werden und, dass sich aus ihrem Team jemand für die Aufgabe des Teamkoordinators qualifizieren konnte. Ilse stammt aus den neuen Bundesländern. Sie arbeitete in der Vergangenheit als Bauzeichnerin, Putzfrau und Erzieherin. Nach der Wende wurde sie zur Betriebsratsvorsitzenden eines kleinen Gremiums gewählt. Ihre Ehe scheiterte, weil sie zu wenig Zeit für ihren Ehemann hatte und der sich schließlich eine Geliebte nahm. Ilse erlitt einen Zusammenbruch und zog schließlich nach Westdeutschland. Mittlerweile ist sie wieder verheiratet. Ilse wollte, nach ihren Erfahrungen als Betriebsrätin und ihrer privaten Katastrophe, nie mehr Betriebsratsarbeit machen. Doch ihre Kollegen in ihrer Gemüsehalle überredeten sie. So ist sie seit zweieinhalb Jahren nicht-freigestellte Betriebsrätin in einem etwas größeren Gremium. Ihre Aufgabe im Betriebsrat sieht sie darin, die Interessen der in der Produktion arbeitenden KollegInnen zu vertreten. Seit der letzten Klausur des Betriebsrates ist Ilse die ernannte Expertin des Betriebsrats für Mobbing und Konflikte. Ilse hat in ihrem privaten wie beruflichen Leben immer wieder Konflikte erlebt. Heute tritt sie bevorzugt als Intervenierende in den Konflikten ihrer Mitarbeiter auf. Sie versteht sich dabei als Vorgesetzte und nicht als Betriebsrätin. Sie hat viel aus ihren Konflikten als Mitarbeiterin, Vorgesetzte und Betriebsrätin gelernt. Und sie setzt Belehrung offen, direkt und präventiv ein, wenn sie in Konflikten interveniert (vgl. auch Abbildung 23).
Interviews über unbegrenzte Konflikte
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Abbildung 23: Zusammenfassung Fallportrait Ilse M. Ilse M. – Konfliktvorbeugung durch Teamlernen Konflikte und der Umgang damit
Lernen und Lehren
Eigenes Lernen ist ihr extrem wichtig (auch als Vorbereitung auf spätere Konflikte). Sie bereitet sich auf soziale Verantwortung als Vorgesetzte gezielt vor – liest Bücher, besucht Seminare. Sie lernt Lehren. Sie tritt offen als Lehrerin ihrer MitarKonflikte/ Streit mit dem eigenen Vorgesetzten beiter auf, um Kon Sie wendet sich im eigenen Konflikt mit dem Meister an die Persoflikte zu vermeiden. nalabteilung – der Meister muss sich bei ihr entschuldigen. Belehrung nicht direkt in KonfliktsituUmgang mit Konflikten: ationen – sondern mit Sie entscheidet, wann es offiziell werden soll. Dann zieht sie den zeitlicher VerzögeMeister mit hinzu. Üblicherweise löst sie Konflikte alleine. rung System der Konflikt-Prävention/ Konfliktvermeidung im eigenen Belehrung als Team: Teamregeln, regelmäßige Sitzungen. Alternative zur Be Sie nutzt offizielle Instanzen zur Konfliktbearbeitung (Beschwerde strafung (z.B. durch im Team, beim Meister, in der Personalabteilung) Abmahnung). Berufe: Bauzeichnerin, Erzieherin, geprüfte Anlagenfahrerin in der Lebensmittelproduktion; Vorgesetzte eines Männerteams. Beruf Direkt nach der Wende Betriebsrätin/ Vorsitzende eines ganz kleinen und Betrieb Gremiums. Seit 2 ½ Jahren nicht-freigestellte Betriebsrätin in einem etwas größeren Gremium. Viele Konflikte und Krisen. Außerberufliches/ Große biographische Erzählung (DDR, Kinder, Wende, Scheidung, Außerbetriebliches Umzug in den Westen, 2. Ehe, Krankheit, Omasein). Ilse als Intervenierende in den Konflikten ihrer Mitarbeiter: Der schwierigste Konflikt: Zwei Kollegen (ein deutscher und ein ausländischer) streiten sich lautstark. Ilse beruhigt den ausländischen Kollegen und beschäftigt ihn an ihrer eigenen Linie – weit weg vom deutschen Mitarbeiter (einem entmachteten früheren Vorarbeiter, der auch Ilse früher getriezt hatte). Sie sorgt für die Disziplinierung des ExVorarbeiters durch den Meister. Männermachtkampf führt zum Abstellen der Produktion: Ilse sichert die Produktion (Besetzen der Maschinen mit anderen Mitarbeitern) und betreut den einen aufgebrachten Kollegen. Sie zieht Vorgesetzte (den Meister) bei Konflikten der anderen nicht hinzu und ‘schützt’ damit ihre Mitarbeiter.
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Die Bedeutsamkeit von Konflikten in den restlichen Interviews
4.3.6 Zusammenfassende Beschreibung Für dieses dritte Konfliktmuster haben Konflikte Bedeutung für das gesamte Leben und Arbeiten der Interviewten. Während es Cora, Isolde und Ilse um die Konflikte der anderen geht, fokussieren Kassandra, Rita, Paul und Anna auf ihre eigenen Konflikte. Die Fokussierung der Interviewten auf Intervenieren und Betroffensein verläuft teilweise quer zur eingeführten Unterscheidung zwischen Intervenierenden und Betroffenen. Paul, der sich öffentlich als Intervenierender inszeniert, erzählt lediglich Konflikte von denen er selbst betroffen ist. Isolde wiederum, die der Gruppe der Betroffenen zugeordnet ist, erzählt im Interview viel von gescheitertem Intervenieren. Der Umgang mit Konflikten ist in der Gruppe ‘Unbegrenzte Konflikte’ eher aktiv, manchmal sogar aggressiv. Abgesehen von Ilse und Cora, zeigen die Interviewten eine Art und Weise der Konfliktbearbeitung, die man mit nichtstrategisch und teilweise sogar mit zwanghaft-undiplomatisch beschreiben kann. In Bezug auf Lernen lässt sich keine eindeutige Orientierung erkennen. Für Cora, Isolde und Ilse ist Lernen durch Konflikte von größter Wichtigkeit, bei den anderen Vertretern dieser Gruppe kommt Lernen nicht vor. Lehren ist in allen Interviews zu finden. Bei Cora taucht es indirekt und verdeckt auf. Ilse ist mit ihrer offenen Form der Belehrung erfolgreich. Bei Isolde, Kassandra und Paul kommt es gerade wegen ihrer Belehrungsversuche zu Konflikten.
5 Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen – Konstruktion und Beschreibung
Im Folgenden soll es nacheinander um die Bildung von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen gehen. Ich werde zunächst mein methodisches Vorgehen nochmals kurz skizzieren (vgl. Kelle und Kluge 1999, S. 81), um dann schrittweise die Typen zu erarbeiten. Zunächst müssen die relevanten Vergleichsdimensionen mit Hilfe von theoretischen Überlegungen und der anschließenden, empirischen Überprüfung gefunden werden. Hierbei geht es darum, jene Merkmale zu erarbeiten und zu definieren, mit deren Hilfe die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Personen/ Interviews angemessen erfasst und anhand derer die ermittelten Typen charakterisiert werden können. Die Fälle innerhalb eines Typs müssen sich maximal ähnlich sein. Die Interviews, die unterschiedlichen Gruppen zugeordnet sind, müssen sich maximal unterscheiden. Die 21 Interviews werden anschließend anhand der definierten Vergleichsdimensionen gruppiert und zugeordnet. Die ermittelten Gruppen werden bezüglich empirischer Regelmäßigkeiten untersucht. Anschließend geht es um die „Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge“ (Kelle und Kluge 1999, S. 81). Die untersuchten sozialen Phänomene sollen beschrieben und erklärt werden. Dafür werden die gefundenen Gruppen auf wenige Typen reduziert. Abschließend folgt die Charakterisierung der gebildeten Typen anhand ihrer Merkmalskombinationen sowie ihrer inhaltlichen Sinnzusammenhänge.
5.1 Konflikttypen Um Konflikte näher zu charakterisieren, wird üblicherweise von Konflikttypen, stilen, -arten und -strategien gesprochen. Die Begriffe werden häufig synonym genutzt. Dabei wird oft nur eine einzige Dimension für die Unterscheidung und Charakterisierung herangezogen. Als mögliches Unterscheidungskriterium werden dann die Anzahl der Beteiligten, der Streitgegenstand bzw. die Ursache des Konflikts und/ oder die Bewältigungsstrategien gewählt. So differenziert Mahl-
M. Niebuhr, Konflikte im Betrieb, DOI 10.1007/978-3-531-92696-4_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
mann (2000) nach der Anzahl der beteiligten Personen zwischen innerem Konflikt, zwischenmenschlichem Konflikt und sozialem Konflikt. Schwarz (2005) unterscheidet zwischen persönlichen Konflikten, Paarkonflikten, Dreieckskonflikten und Gruppenkonflikten. Stehen die Ursachen im Mittelpunkt, unterscheiden die Autoren z.B. zwischen innerseelischem Konflikt, Sachkonflikt, Beziehungskonflikt, Rollenkonflikt, Verteilungskonflikt, Zielkonflikt, Beurteilungsund Wahrnehmungskonflikt (Schwarz 2005) oder zwischen Beziehungskonflikt, Werteauffassung, Verteilungskonflikt, persönlichem Konflikt und Kommunikationskonflikt (Berkel 2008). Im Hinblick auf die zu erwartenden Schwierigkeiten bei der Konfliktbewältigung werden die Konfliktarten dabei teilweise auch in eine Rangfolge gebracht (vgl. Haeske 2003). Neben der Fokussierung auf die Konflikte selbst gibt es auch Klassifikationen, die die Persönlichkeitseigenschaften der Konfliktparteien und deren daraus resultierende, bevorzugte Konfliktbewältigungsstrategien als Ordnungsgröße heranziehen. Langguth (2003) behauptet für den betrieblichen Kontext die Konfliktaustragungstypen der Zaghafte, der Nachgiebige, der Kämpfer, der Teamplayer und der Kompromissbereite. Esser & Wolmerath (2008) beschreiben im Zusammenhang mit Mobbing vier betriebliche Konflikttypen – den Perfektionist, den Tyrann, den Intrigant und den groben Scherzbold. Sie entwickeln ihre Typen entlang der Dimensionen Aufgaben- vs. Personenorientierung und defensives vs. offensives Verhalten. Es gibt aber auch komplexere, mehrdimensionale Charakterisierungen. So müsse man Konflikte nach den Streitgegenständen, den Erscheinungsformen der Auseinandersetzung (latent, manifest bzw. offen) und den Eigenschaften der Konfliktparteien (Leistungsmotivation, Machtstreben, kognitive Strukturiertheit, Verantwortungsbereitschaft, usw.) unterscheiden, meint Glasl (2004). Um Konflikte zu begreifen, müsse man neben den Ursachen und den Besonderheiten der beteiligten Personen aber auch den bisherigen Verlauf und die Erscheinungsform/ Dynamik des Konflikts im Blick haben, so Regnet (2003). Man findet also eher keine empirisch begründeten, mehrdimensionalen Typen, sondern einfache Klassifikationen oder theoretisch fundierte Konstrukte über Einflussvariable, die bei der Analyse und der Bearbeitung der Konflikte hilfreich sein sollen. Allen diesen Charakterisierungen gemein ist, dass sie auf objektivierbare, beständige Merkmale im Konflikt bzw. den Konfliktparteien und/ oder dem Konfliktkontext fokussieren. Mit der Konflikttypologie im Rahmen meiner Studie hingegen interessieren mich die individuellen Wirklichkeitskonstruktionen. Es sollen die Zusammenhänge zwischen den erzählten Arbeitsplatzkonflikten und dem individuellen Umgang mit ihnen beschrieben und differenziert werden. Ausgangspunkt bilden die Kategorien Konfliktdeutung und Umgang mit Konflikten. Bei den betriebli-
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Konflikttypen
chen Konflikten sollen die Arbeitsplatzschwierigkeiten selbst und auch der Einfluss eventueller außerbetrieblicher Konflikte auf die betrieblichen berücksichtigt werden. Deshalb wird in einem ersten Schritt ein Zusammenhang zwischen Ausmaß der Arbeitsplatzkonflikte und Ausmaß der Umfeldkonflikte hergestellt. In einer zweiten Dimensionalisierung wird dann der Zusammenhang zwischen den, an den Umfeldkonflikten relationalisierten Arbeitsplatzkonflikten (Konfliktdeutungen) und den Konfliktumgangsstrategien (Umgangsstrategien) analysiert. Abbildung 24: Dimensionalisierung Ausmaß der Arbeitsplatzkonflikte und Ausmaß der Umfeldkonflikte Ausmaß der Arbeitsplatzkonflikte Ausmaß der Umfeldkonflikte keine Konflikte
einzelne Konflikte ausgeweitete Konflikte
ein einziger Konflikt
begrenzte Konflikte
Konflikt als einmalige Erfahrung (Rolf, Christine, Max, Beate, Josef)
Konflikt als begrenztes Phänomen (Dorit, Bärbel, Anita, Jens, Nils, Elena, Carmen, Rico, Olga)
unbegrenzte Konflikte
Konflikt als weit reichendes Phänomen (Kassandra, Rita, Anna, Paul, Ilse, Isolde, Cora)
Für die erste Dimensionalisierung (vgl. Abbildung 24) wird für die betrieblichen Konflikte zwischen ein einziger Konflikt, begrenzte Konflikte und unbegrenzte Konflikte unterschieden. Für die außerbetrieblichen zwischen keine Konflikte, einzelne Konflikte und ausgeweitete Konflikte. Wie die Kreuztabelle zeigt, gibt es theoretisch neun verschiedene Merkmalkombinationen. Im Datenmaterial sind aber nur fünf Kombinationen aufzufinden. Das liegt auch daran, dass die Interviewpartner gezielt mit dem Fokus auf betriebliche Konflikte ausgesucht wurden. Nach dem Zusammenfassen von zwei mal zwei Kombinationen bleiben drei Typen übrig: Konflikt als einmalige Erfahrung, Konflikt als begrenztes Phänomen und Konflikt als weit reichendes Phänomen. Für die zweite Dimensionalisierung werden die Umgangsstrategien hinzugenommen. Bei Umgang mit Konflikten wird zwischen defensiv, strategisch und aggressiv unterschieden. Als defensiv soll eine Konfliktumgangsstrategie gelten, wenn Betroffene dem Ganzen aus dem Weg gehen (kündigen/ sich versetzen lassen), nichts tun, krank werden, keinen Antrieb zeigen etwas zu ändern, andere
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
(z.B. Betriebsräte oder Vertrauensleute) für sich handeln lassen – und wenn dies die einzige angewandte Strategie darstellt. Intervenieren gilt dann als defensiv, wenn nichts getan wird, lediglich einige unverbindliche Tipps gegeben werden und wenn die Intervenierenden sich auf die Seite der Mächtigen schlagen. Als aktiv und strategisch wird der Umgang mit Konflikten bezeichnet, wenn Maßnahmen genutzt werden wie – Analysieren der Vorfälle/ Entwickeln von Strategien, geplantes Intervenieren, gezieltes Hinzuziehen bestimmter Verbündeter/ Experten, gezieltes Initiieren von Konflikten, Kontrolle von Emotionen, gezieltes überlegtes Aussitzen, Vorbeugung betreiben, Bewahrung der Leistungsfähigkeit, Berücksichtigung der eigenen Schwächen, den Betriebsrat gezielt und strategisch hinzuziehen, strategischer Gebrauch von Machtmitteln – und wenn diese Maßnahmen flexibel und zielgerichtet eingesetzt werden. Eine Konfliktumgangsstrategie, die unüberlegt und aggressiv ist, zeichnet sich aus durch – eine sofortige Lösung (unabhängig von der Qualität der Lösung) suchen, die eigene Macht unkontrolliert und undosiert nutzen, unüberlegtes/ spontanes Handeln, unkontrolliertes Herstellen von Öffentlichkeit, emotionale Überreaktionen und den Betriebsrat als Drohkulisse nutzen.
Abbildung 25: Dimensionalisierung Konfliktdeutung und Umgangsstrategien Konfliktdeutung Umgangsstrategien defensiv defensiv – strategisch - aggressiv strategisch strategisch –defensiv strategisch – aggressiv defensiv – aggressiv defensiv-aggressivstrategisch
Konflikt als einmalige Erfahrung
Konflikt als begrenztes Phänomen
Konflikt als weit reichendes Phänomen
Rolf, Christine, Beate Max, Josef Dorit, Nils, Anita, Carmen Rico, Jens, Olga, Bärbel Elena
Ilse Kassandra, Rita, Paul Anna, Isolde, Cora
Die Fälle werden nun den Umgangsstrategien und Konfliktdeutungen zugeordnet. Von den theoretisch 21 möglichen Kombinationen haben acht eine für die Untersuchung empirische Bedeutung (vgl. Abbildung 25). Sie werden schließ-
Konflikttypen
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lich zu drei Konflikttypen zusammengefasst (vgl. Abbildung 26). Die beiden Merkmalskombinationen ‘Konflikt als einmalige Erfahrung’ und ‘defensiv’ bzw. ‘defensiv-(strategisch)’ werden zu dem Konflikttypus Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis verdichtet. Zu dem Typus gehören neben Rolf auch die Interviewten Josef, Beate, Christine und Max. Es zeigen sich in dieser Gruppe mehrheitlich die rein defensiven Umgangsstrategien. Max und Rolf gehen ansatzweise auch strategisch vor. Max will bis zur Rente seinen Konflikt aussitzen. Deshalb muss er sich, neben seiner defensiven Grundhaltung, ab und zu gegen seinem Chef aktiv, unter Einbeziehung der Personalabteilung, zur Wehr setzen. Sollte seine Strategie scheitern, hat er finanziell und juristisch vorgesorgt. Josef ist zwar beim Intervenieren defensiv (er beobachtet, nähert sich dem Mobber und gibt Anna Verhaltenstipps), als Betroffener aber durchaus strategisch. Er bewahrt in der gerichtlichen Auseinandersetzung die Ruhe, vertritt allerdings seine Position konsequent und nutzt die Schwächen des Personalchefs. Bei den drei Merkmalskombinationen mit ‘Konflikt als begrenztes Phänomen’ ist die Hauptumgangsstrategie die aktiv-strategische. Sie kommt sowohl in Reinkultur als auch in Vermischung mit ‘defensiv’ und ‘aggressiv’ vor. Rico und Jens verhielten sich zu ihren Anfängen als Vorgesetzter bzw. Betriebsrat/ Mitarbeiter unsicher und defensiv in Konflikten. Heute handeln sie strategisch. Olga und Bärbel gingen als Personalentwicklungschefin bzw. als Betriebsrätin strategisch mit Konflikten um. Doch durch die neue Unternehmensführung, die sie herausdrängen wollte bzw. die Insolvenz der Firma, verlieren beide ihren Arbeitsplatz. Elenas Konfliktumgangsstrategien sind, wenn es um Intervenieren in Arbeitnehmerkonflikten geht, immer strategisch – geht es aber um die politischen Konflikte mit dem Arbeitgeber (Umstrukturierungen, Arbeitsplatzabbau) oder um Konflikte im Gremium, reagiert sie gelegentlich auch unüberlegt und aggressiv. Der ruhige und überlegte Betriebsratsvorsitzende Nils wirkt in solchen Situationen als strategisch ausgerichteter Gegenpol. Die drei Merkmalskombinationen (Konflikt als begrenztes Phänomen mit strategisch, strategisch-(defensiv) und strategisch-(aggressiv) werden zu dem Konflikttypus ‘Konflikte als Ergebnis einer Rolle’ verdichtet. Bei den drei Merkmalskombinationen mit ‘Konflikt als weit reichendes Phänomen’ gibt es als Hauptumgangsstrategie die Verbindung von ‘unüberlegt und aggressiv’ mit ‘defensiv’. Kassandra, Rita und Paul wechseln mehr oder weniger planlos zwischen aggressivem Grenzen-Setzten und defensivem Zurückweichen ab. Anna und Isolde hat dieses Entweder-Oder bereits in noch größere Konflikte gestürzt. Sie verhalten sich heute gezwungenermaßen meist defensiv und/ oder strategisch. Cora und Ilse scheinen in dieser Kategorie eher am Rande zu stehen – Ilse agiert als Intervenierende absolut strategisch, als Betroffene dagegen strategisch aggressiv. Bei Cora wird das aggressive Verhalten
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
sichtbar, wenn sie hilft, den Mobbingbetroffenen zur Kündigung zu drängen oder sich mit ihrem direkten Vorgesetzten streitet. Diese drei Merkmalskombinationen werden zum Konflikttyp Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung verdichtet. Anschließend sollen die drei Konflikttypen charakterisiert werden.
Abbildung 26: Konstruktion der drei Konflikttypen durch Konfliktdeutung und Umgangsstrategien Konfliktdeutung Umgangsstrategien defensiv defensiv – strategisch - aggressiv strategisch strategisch –defensiv strategisch – aggressiv defensiv – aggressiv defensiv-aggressivstrategisch
Konflikt als einmalige Erfahrung
Konflikt als begrenztes Phänomen
Konflikt als weit reichendes Phänomen
Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis Konflikte als Ergebnis einer Rolle Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung
5.1.1 Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis Für diesen ersten Konflikttypus ist der Konflikt ein vorübergehendes, einmaliges Ereignis. Konflikte werden von den Vertretern dieser Gruppe als schlecht bewertet, weil sie handlungsunfähig und krank machen – und man schließlich auf fremde Hilfe angewiesen ist. Alle greifen auf die Unterstützung durch Dritte zurück: Christine lässt ihren Konflikt von einem Vertrauensmann lösen; Beate lässt sich von Eltern und Ärzten helfen; Max fordert immer wieder die Unterstützung von Personalabteilung und Betriebsrat ein; Rolf bespricht alles mit seinem Kollegen Karl. Der Umgang mit Konflikten ist eher defensiv, eine einmal genutzte Strategie wird, auch bei Misserfolg, weiter eingesetzt. Die Betroffenen werden, weil sie ihre Handlungsfähigkeit einbüßen, zu Opfern. Max, Beate, Rolf und Christine erzählen von zumindest vorübergehenden, gesundheitlichen Einschränkungen. Beate und Rolf geben freiwillig ihren Job auf – Christine und Max warten aktiv auf die Rente.
Konflikttypen
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Bei den Personen in dieser Gruppe gibt es keinen Betriebsrat und nur einen Betroffenen, der im Interview auch auf Intervenieren eingeht (Josef). Es handelt sich nicht um Leute, die in Führungspositionen drängen. In ihrer beruflichbetrieblichen Entwicklung befinden sich alle außer Rolf in einer Stillstandsphase. Josef hat seine Ausbildung abgebrochen – für ihn hat die Arbeit ausschließlich die Funktion, seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Rolf hat seine Karriereambitionen begraben, ihm soll der Beruf in Zukunft in erster Linie Spaß machen. Das Ziel einer erfolgreichen Konfliktintervention ist es für die Vertreter dieses Konflikttyps, sich wieder ausschließlich ihrer Arbeit widmen zu können. Sie wollen sich mit dem Thema Konflikte überhaupt nicht, weder theoretisch noch praktisch, beschäftigen. Sie wollen, dass es keine Konflikte gibt (vgl. auch Abbildung 27).
5.1.2 Konflikte als Ergebnis einer Rolle Für den zweiten Konflikttypus sind Konflikte etwas, was sich zwangsläufig aus ihrer beruflich- betrieblichen Rolle als Vorgesetzter, als in Teilzeit arbeitende Managerin, als Funktionsträger im Betriebsrat usw. ergibt. Interessensgegensätze und tägliche Kleinkonflikte gehören dabei zu den routinemäßig, beherrschbaren Alltagsereignissen. Bei ihren ‘großen’ Konflikten geht es immer auch um das Sich-Behaupten in ihrer beruflich-betrieblichen Kompetenz, in ihrer betrieblichen Rolle. Beim Umgang mit Konflikten gehen die Vertreter dieses Typus strategisch und aktiv vor. Die wichtigste und erfolgreichste Methode ist das Gespräch. Sie nehmen immer wieder Einfluss auf die Konflikte von Mitarbeitern und Kollegen. Und sie sind auch bereit, Konflikte durch Machteinsatz zu lösen. In eigenen Konflikten verlassen sie sich am liebsten auf sich selbst – Vertraute werden wohlüberlegt und selten hinzugezogen. In ihren Rollen haben die Vertreter dieses Konflikttypus gelernt, dass man Konflikte nicht immer zeitnah lösen kann. Ihre Spezialität ist es, Konflikte soweit einzudämmen, dass sie und ihr Team arbeitsfähig bleiben. Sie haben auch nicht immer den Anspruch, einen Konflikt abschließend zu lösen (Stichwort: Leben in und mit Konflikten). Konflikte sind für sie nicht unbedingt nachteilig. So profiliert sich Jens durch sein Vorantreiben des Themas Mobbing als Führungsperson in seinem Betriebsratsgremium. Bärbel hat durch die vielen halbprivaten Beratungsgespräche ein gut funktionierendes Netzwerk aufgebaut (vgl. auch Abbildung 27).
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
Abbildung 27: Überblick über die drei Konflikttypen
Konfliktdeutung
Umgang mit Konflikten
Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis Konflikt als Einzelereignis wird als Bedrohung erlebt
eher defensiv lassen sich von offiziellen Intervenierenden helfen
Konflikte als Ergebnis einer Rolle
Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung
immer mehrere Konflikte mit unterschiedlichen Leuten hat immer mit der derzeitigen beruflichen Rolle zu tun wird als Herausforderung für Professionalität im Job erlebt aktiv und strategisch (Ziel Beherrschen der Konflikte) persönliche ‘Vertraute’ im Hintergrund
Konflikte während des ganzen Lebens – im beruflichen und privaten Bereich wird sowohl als Herausforderung als auch als Drohung erlebt
defensiv- aggressiv oder defensiv-aggressivstrategisch meist nicht strategisch/ eher zwanghaft
5.1.3 Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung Der Konflikttyp ‘Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung’ ist dadurch gekennzeichnet, dass bei Vertretern dieser Gruppe Konflikte während des ganzen Lebens, sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich in großem Umfang auftauchen und gleichzeitig als Chance und als Bedrohung erlebt werden. Die betrieblichen Konflikte werden entweder wie bei Ilse, Isolde, Kassandra, Paul und Rita von einer größeren biographischen, konfliktbasierten Erzählung gerahmt – oder wie bei Anna und Cora in den Kontext des generell konfliktträchtigen, westlichen Gesellschaftssystems gestellt. Während die Frauen in den Interviews offen und direkt von Konflikte erzählen (die Konflikte beim Namen nennen), erzählt Paul seine außerbetrieblichen Konfliktgeschichten häufig in der Form von Nicht-Konflikten. Doch diese Verschleierung von Konflikten nimmt er nur halbherzig vor. Sie bleiben trotzdem sichtbar. Der Umgang mit Konflikten ist sehr unterschiedlich und wechselhaft. Es lassen sich die unreife Entweder-Oder-Strategie (unüberlegt ‘draufhauen’ oder sich zurückziehen) von der reiferen Entweder-Oder-Strategie (überlegen wann und wie ‘draufhauen’, wann und wie sich zurückziehen) unterscheiden. Wie beim Typ ‘Konflikte als Ergebnis einer Rolle’ handelt es sich um eine überwiegend aktive Form der Kon-
Lerntypen
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fliktbearbeitung. Während die Vertreter der einen Gruppe massivere Formen der Konfliktbearbeitung aber planen, mögliche Konsequenzen und Alternativen bedenken, handelt die Personen des Typs ‘Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung’ eher spontan und unüberlegt, manchmal sogar zwanghaft (Ausnahmen sind Cora und Ilse) (vgl. auch Abbildung 27).
5.2 Lerntypen Die klassische Lehr-Lernforschung beschäftigte sich mit der Frage, was in offiziellen Veranstaltungen der Erwachsenenbildung im Bereich Lernen und Lehren passiert. In einer quantitativ angelegten Studie zur beruflichen Weiterbildung rekonstruierte Schrader (1994) fünf Lerntypen (Theoretiker, Anwendungsorientierte, Musterschüler, Gleichgültige, Unsichere) und überprüfte ihre Passung zu drei Veranstaltungstypen (abschlussbezogener Unterricht, der Typ Unterricht und Unterweisung, Verhaltenstraining). Heutiges Lernen (und Lehren) ist aber institutionell entgrenzt und allgegenwärtig. Die Formen des Lernens Erwachsener sind dementsprechend vielfältig und liegen im Spannungsfeld von „professionell-organisierter Gestaltung und individueller Selbststeuerung, von interaktiven und medialen Formen, von ausdifferenzierten und milieu- bzw. arbeitsintegrierten Formen, von auf Lernen spezifizierten und hybriden Mischformen.“ (Kade/ Seitter 2005a, S. 10). Göhlich (2007) nimmt eine inhaltliche Systematisierung diverser Lerndimensionen des Wissen-, Können-, Leben- und LernenLernens vor und verdichtet sie – nicht zu „Lerntypen sui generis“ (S. 16) – sondern zu Lernmomenten bzw. Lernfacetten, die in den meisten Lernprozessen in irgend einer Form vorkämen (Erinnerndes Lernen, Lernen ohne Weltbild, Mimisches Lernen, Leibliches Lernen, Ästhetisches Lernen, Informelles Lernen, Lebenslanges Lernen, Biographisches Lernen, Interkulturelles Lernen, Lernen als Lebenskunst, Überleben Lernen, Aus Erfahrung lernen, Aus Fehlern lernen, Umlernen und dazulernen, Organisationales Lernen). In meiner Studie geht es um den Betrieb als potentiellen Lernort. Lernen wird von den Interviewten in unterschiedlichem Maße direkt behauptet oder es wird im Rahmen der Analysen aus den Konflikterzählungen geschlossen. Manchmal taucht Lernen aber auch überhaupt nicht auf. Für meine Lerntypenbildung wähle ich als erste Kategorie die Häufigkeit des Lernens in Konflikten mit den Ausprägungen selten, begrenzt und dauernd. Als zweite Dimension wird eine Kategorie hinzugenommen, durch die die Einschätzung der eigenen berufsbezogenen Fähigkeiten – das berufliche Selbstverständnis - berücksichtigt wird. Dabei wird zwischen Kompetenz und Defizit unterschieden. Das berufliche Selbstverständnis wird mit ‘Kompetenz’ klassifiziert, wenn die Interviewten sich
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mit dem Selbstbewusstsein des Fachmanns (oder der Fachfrau) präsentierten („Ich bin fachlich kompetent und habe die fachliche Seite meines Jobs in der Vergangenheit gelernt. Diese beruflichen Fähigkeiten sind auch bei der Lösung beruflicher Konflikte eine wichtige Grundlage.“). Im Bereich ‘Defizit’ werden die Interviews eingeordnet, wenn die Interviewten ihre Erzählungen im Sinne von „sowohl meine berufliche Ausbildung, als auch meine Konfliktkompetenz sind defizitär“ präsentierten. Durch die Merkmalskombinationen ergeben sich, wie in der nachfolgenden Kreuztabelle zu sehen ist, die sechs empirisch relevanten, konfliktbezogenen Lerntypen (vgl. Abbildung 28): Pragmatisches NichtLernen, Seminar-Lernen, Habitualisiertes Lernen, Unerfüllte Lernerwartungen, Punktuelle Akzeptanz von Lernzumutungen und Genutzte Lernchancen. Allen Typen, mit Ausnahme dem Aufgezwungenen Lernen können Fälle zugeordnet werden.
Abbildung 28: Konstruktion der sechs konfliktbezogenen Lerntypen durch die Dimensionalisierung von Häufigkeit von Lernen in Konflikten und berufliches Selbstverständnis Häufigkeit von Lernen in Konflikten berufliches Selbstverständnis Kompetenz (als Ausgangspunkt von Lernen)
Defizit (als Ausgangspunkt von Lernen)
selten
begrenzt
dauernd
Pragmatisches Nicht-Lernen
Seminar-Lernen
Habitualisiertes Lernen
(Max, Christine, Rolf, Josef) Unerfüllte Lernerwartungen
(Kassandra, Paul, Rita, Beate, Anna)
(Nils, Anita, Dorit) Punktuelle Akzeptanz von Lernzumutung/ Aufgezwungenes Lernen -
(Ilse, Cora, Elena, Bärbel) Genutzte Lernchancen
(Rico, Jens, Carmen, Olga, Isolde)
5.2.1 Pragmatisches Nicht-Lernen Die Vertreter des Lerntypus ‘Pragmatisches Nicht-Lernen’ (Max, Christine, Rolf, Josef) fühlen sich beruflich kompetent. Im Zusammenhang mit Konflikten lernen sie wenig, weil sie es für unnötig erachten. Lernen ist lediglich ein un-
Lerntypen
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vermeidbares, nicht näher definiertes Nebenprodukt der konfliktbelasteten Arbeit. In ihren wenigen Konflikten vertrauen sie auf die Unterstützung durch Dritte. Auch typische Lernsettings werden nicht zum Lernen genutzt. Max und Josef haben Mobbingseminare besucht, doch nicht um zu lernen. Max erweiterte damit seinen Jahresurlaub um eine Woche. Für Josef war die Seminarteilnahme eine Geste der Solidarität für seine gemobbte Lebensgefährtin. Rolf täuscht im Rückblick auf seinen Konflikt Lernen vor, um den ganzen Erschwernissen nachträglich noch einen Sinn zu geben. Man findet bei diesem (Nicht-) Lerntyp explizite Lernverweigerung. Wenn Konflikte eher nicht auftreten, wenn man Unterstützung hat und, wenn man sich dem Konflikt für den Notfall auch (durch Kündigung oder Rente) entziehen kann, muss man durch dieses seltene Ereignis auch nicht ungedingt lernen. Die Begründung für das Nicht-Nötig-Sein des Aneignens von Konfliktkompetenz ergibt sich für Rolf aus der Einmaligkeit der persönlichen Konflikterfahrung und der Bereitschaft, sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen. Christine ist davon überzeugt, dass Konflikte grundsätzlich nicht durch Lernen lösbar sind. Max und Christine planen bereits ihre Rente. Lernen ist für sie nicht mehr notwendig. Für Josef war Lernen im Zusammenhang mit seinem Konflikt nie erforderlich, denn das Arbeitsgericht forderte seinen Arbeitgeber auf, ihn wieder einzustellen. Bei Max und Rolf findet Lernen aber abseits der Arbeitsplatzkonflikte statt. Max erlernt in der Kur ein neues Essverhalten und regelmäßig in der Freizeit Squaredance. Rolf hat seinen konfliktträchtigen Arbeitsplatz verlassen – heute erlernt er, in einem konfliktfreien Umfeld in einem anderen Betrieb, einen neuen Job.
5.2.2 Seminar-Lernen Für die Fälle, die dem Seminar-Lernen zugeordnet sind (Nils, Anita, Dorit), ist die auf den Beruf bezogene Kompetenz die Grundlage eines begrenzten Lernens durch Konflikte. Gut im Job sein, bedeutet für sie Konfliktprävention zu betreiben. Damit sind berufsbezogene, zum Teil lange zurückliegende Lernerfahrungen bedeutsam. Anita und Dorit blicken auf eine vielseitige aufwändige Ausbildung zurück. Dorit ist promovierte Medizinerin und technische Betriebswirtin. Anita ist Chemotechnikerin mit diversen Zusatzausbildungen (Fachkraft für Molekularbiologie, Ausbilderin für Biologielaboranten). Für den freigestellten Betriebsrat Nils (einem studierten Mathematiker) bedeutet eine gute Ausbildung für seine aktuelle berufliche Situation, dass er seinen Beruf als Arbeitnehmervertreter beherrscht. Er hat sich in der Vergangenheit mit Grundlagen- und Aufbauseminaren als hauptberuflicher, freigestellter Betriebsrat qualifiziert. Die Vertreter dieser Gruppe gehen davon aus, dass sie berufsbezogen grundsätzlich kompe-
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
tent sind, dass es aber auch Phasen der Inkompetenz geben kann. Deshalb ist für sie phasenweise Lernen zur Wiederherstellungen der vollen Kompetenz selbstverständlich. Um wieder ihre volle Kompetenz zu erreichen, besuchen die Interviewten bei Bedarf gezielt die entsprechenden Seminare. Anita besuchte ein Mobbingseminar, als es konkrete Konflikte in ihrer Abteilung gab. Dorit hatte Probleme mit den männlichen Kollegen, sie ging in ein Seminar ‘Kommunikation für Frauen’. Nils besuchte Seminare für Vorsitzende, nachdem er als Betriebsratsvorsitzender verstärkt Konflikte mit einem neuen Betriebsratskollegen hatte. Lernen in Seminaren hat somit eine zentrale Bedeutung, es wird zielgerichtet genutzt. Es wird auch nicht alles gelernt, sondern ausgewählt und verglichen. Dorit stellt dann auch fest, dass sie vieles, oft unter einem anderen Namen, in den Seminaren wieder erkennt. Sie überprüft damit ihr eigenes, früher Gelerntes und kann auch die Richtigkeit der vermittelten Inhalte besser abschätzen. Wirklich neu und hilfreich für ihre strategische Konfliktbearbeitung war es zu erfahren, dass Inhalte nur 10 % des Erfolges ausmache und, dass der Rest „Wirbeln“ (Kompetenzdemonstration und Präsenz) sei. Der Typ ‘Seminar-Lernen’ zeichnet sich auch durch eine kritische und distanzierte Haltung gegenüber konkreten Lernzumutungen von Seiten ihres Betriebes aus. Die Vertreter dieses Typs tun dies aber weniger offen als der Lerntyp ‘Habitalisiertes Lernen’. So lehnt Dorit den Coach als Lehrer ab und entzieht sich, für ihre Chefs unbemerkt, der Lernerwartung des Unternehmens, indem sie die Termine nur rein formal wahrnimmt. Anita steht Seminaren zu sozialen Kompetenzthemen generell kritisch gegenüber. Auch bei Nils ist Lernverweigerung ein Thema. Er erzählt, dass er sich vor 20 Jahren den Belehrungen der damaligen Alt-Betriebsräte widersetzte. Die seien selber nicht kompetent gewesen und hätten auch eine andere ideologische Ausrichtung gehabt. Die Vertreter dieser Gruppe lernen aus konkreten Konflikten und gezielt ausgewählten Seminaren. Nachdem das Visibilität-Zeigen auch in der Praxis funktioniert hat (Theorie und Praxis stimmen überein), hat Dorit es als gesichertes Wissen abgespeichert und richtet sich danach. Anita musste trotz Mobbingseminar erleben, dass sie die Anzeichen für einen massiven Konflikt (sie wird als Mobberin beschuldigt) später nicht erkennt. Erst durch das Zusammenspiel von theoretischem Lernen im Seminar und praktischem Lernen im Konflikt kommt es zu einer praxistauglichen Aneignungsleistung. Zusammenfassend kann man sagen, der Lerntyp ‘Seminar-Lernen’ ist charakterisiert durch eine gute und wichtige berufsbezogene Grundqualifizierung. Seminare werden gezielt bei Bedarf besucht, Wissen wird sich gezielt angeeignet. Gegen als unsinnig erachtete Lernzumutungen wird sich eher verdeckt zur Wehr gesetzt. In praktischen Fällen wird durch das Zusammenspiel von Theorie (Seminare) und Praxis (Konfliktfälle) tief greifend gelernt.
Lerntypen
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5.2.3 Habitualisiertes Lernen Für die Fälle, die dem Typ ‘Habitualisiertes Lernen’ zugeordnet sind (Cora, Ilse, Bärbel, Elena), ist die Basis ihres umfänglichen Lernens durch Konflikte ebenfalls eine gute berufliche Grundqualifizierung. Obwohl sie beruflich kompetent sind, lernen die Vertreter dieses Lerntypus ständig. Sie bereiten sich damit auf zukünftige Herausforderungen und Konflikte in ihren Betrieben, die ständig umstrukturiert werden, vor. Gerade weil sie extrem kompetent und lebenserfahren sind, wird von ihnen in Phasen der Veränderung Besonderes erwartet. Ziel ihres ununterbrochenen Lernens ist es, Defizite erst gar nicht entstehen zu lassen. Die Vertreter dieser Gruppe verfügen also über eine umfangreiche Berufsausbildung, eine betriebliche Position, in der die Möglichkeit zu gestalten existiert und viel Lebenserfahrung. Ihre berufsbezogenen Ausbildungen und offiziellen Qualifikationen streichen sie dabei weniger als der Typ ‘SeminarLernen’ heraus. Sie sind eben allgemein, nicht nur in Bezug auf ihre Ausbildung, kompetent. Eine gute Ausbildung allein reicht aus ihrer Sicht aber nicht aus, um in allen, auch zukünftigen, beruflichen Konfliktsituationen kompetent handeln zu können. Lebenserfahrung bedeutet bei ihnen auch vielfältige Konflikterfahrung – und das bedeutet für sie auch Lernerfahrung. Cora hat Abitur gemacht, ist Chemielaborantin und Chemotechnikerin. Als Oberlaborantin leitet sie, im Auftrag ihres akademischen Vorgesetzen, das Labor. Sie blickt auf über 25 Jahre Berufserfahrung zurück und hat unzählige Umstrukturierungen mit- und überlebt. Sie war zeitweise die Einzige, die mit den nur englisch sprechenden Vorgesetzten in Konfliktsituationen kommunizieren konnte. – Ilse kann mit einer bewegten Biographie aufwarten. Sie stammt aus der ehemaligen DDR, musste einige Male wieder von ganz vorne anfangen und hat mehrere Berufe gelernt. So ist sie unter anderem Erzieherin, war früher schon einmal Betriebsratsvorsitzende und hat sich vor einigen Jahren zur geprüften Anlagenführerin ausbilden lassen. Sie ist heute die Vorgesetzte von vorwiegend männlichen Produktionsmitarbeitern. Durch die, bei der Einführung der Gruppenarbeit entmachteten Vorarbeiter kommt es auch heute noch zu Konflikten. Auch Bärbel und Elena haben viele Ausbildungen absolviert und fühlen sich beruflich kompetent. Auch in ihren Betrieben ist es in der Vergangenheit immer wieder zu tief greifenden Veränderungen und zunehmenden Konflikten gekommen. Bärbel hatte viele Jahre als Chefin der Personalentwicklung reichhaltige Möglichkeiten zu intervenieren – Elena agiert und interveniert als stellvertretende Betriebsratsvorsitzende.
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Auch die Seminare fügen sich eher unauffällig ins Gefüge der Grundqualifikationen. Cora hat eher wenige besucht. Die Lebenserfahrung ist für sie wichtiger, denn einige Theorien, die man in Seminaren lernt, seien einfach praxisuntauglich. Bei Ilse stehen die Seminare im Zusammenhang mit ihrer betrieblichen Führungsaufgabe. Sie hat einige besucht, führt das im Interview aber nicht näher aus. Von Seminarteilnahmen als Betriebsräte erzählen beide Frauen nichts. Elena und Bärbel haben so viele Seminare besucht, dass sie sie überhaupt nicht mehr aufzählen könnten. Bärbel als Chefin der Personalentwicklungsabteilung besuchte die Veranstaltungen unter dem Aspekt ‘was kann ich den Mitarbeitern weiterempfehlen’. Zu ihrer Lebenserfahrung gehört es für diese Gruppe auch, dass sie Konflikte mit den Mächtigen in der Betriebshierarchie überstanden haben, deren Veränderungserwartungen sie sich offen widersetzten. Bei Elena versuchten die Geschäftsführer in einem gemeinsamen Workshop den Betriebsrat zu bekehren/ zu belehren. Elena widersetzte sich offen diesen Lernerwartungen. Das führte dazu, dass die Geschäftsleitung sie als Person angriff und versuchte, sie aus dem Betriebsrat und aus dem Unternehmen zu drängen (Bestrafung für Nicht-Lernen). Bärbel widersetzte sich den Lernerwartungen des Unternehmens in ihren täglichen Auseinandersetzungen mit ihrem Chef. Sie wollte nicht lernen/ akzeptieren, dass sich die Unternehmenskultur und damit ihre Aufgabe im Betrieb verändert hatte. Sie zieht schließlich selber die Konsequenzen. Bevor sie ihre Ideale verrät oder sich durch Mobbing zum Lernen zwingen lässt, kündigt sie lieber. Cora wechselt zwischen offener Lernverweigerung und strategischem, inszenierten Lernen ab, um eben nicht wie Bärbel die persönlichen Konsequenzen ziehen zu müssen. Ilse widersetzt sich den Erwartungen ihres Meisters, der für die alte Unternehmenskultur vor der Einführung der Gruppenarbeit steht. Sie hat in ihrer Ausbildung gelernt, Mitarbeiter in einer anderen Art zu führen und setzt sich dabei, mit Hilfe der Personalabteilung und mit einem leistungsstarken Team im Rücken, gegen ihn durch. Aus ihren Konflikten lernen die Vertreter dieser Gruppe auch das Lehren. Ilse hat neben ihrer Ausbildung zur Maschinenführerin Bücher gewälzt, um zu lernen wie sie ihr Team zu Lernen motivieren kann. Auch Cora hat schrittweise gelernt, wie sie durch verdeckte Belehrung der Kolleginnen und Kollegen verhindern kann, dass diese Konflikte mit dem Chef bekommen – ohne selber als besserwisserische, selbsternannte Lehrerin abgelehnt zu werden. Bärbel hat gelernt zu lehren, während sie das betriebliche Personalentwicklungssystem aufbaute. Für sie war wichtig zu begreifen, wann handelt sie selbst und wann arbeitet sie mit externen Trainern zusammen. Zusammenfassend kann man sagen, der Typ ‘Habitualisiertes Lernen’ ist charakterisiert durch eine gute und wichtige, berufsbezogene Grundqualifizie-
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rung. Genauso wichtig sind allerdings die vielfältigen Berufs-, Lebens- und Konflikterfahrungen. Gerade weil sie sich kompetent fühlen, lernen sie immer wieder neu. Die ständigen, organisatorischen Veränderungen im Unternehmen bieten ihnen immer neue Herausforderungen. Sie eignen sich dabei Wissen und Fähigkeiten für die Zukunft an – lernen aber auch, wie man Wissen weitergibt, und widersetzen sich relativ offen den Verlern-, Um- und Neulernerwartungen ihrer Organisationen.
5.2.4 Genutzte Lernchancen Für die Fälle, die dem Lerntyp ‘Genutzte Lernchancen’ zugeordnet sind (Rico, Carmen, Jens, Isolde, Olga), ist die Basis ihres umfänglichen Lernens durch Konflikte, dass sie eine Tätigkeit im Betrieb ausfüllen sollen, für die sie nicht ausreichend qualifiziert sind. Weil ihnen die Ausbildung fehlt, kommt es verstärkt zu Konflikten. Die nutzen sie zum einen, um schrittweise ihre Konfliktfähigkeit zu verbessern. Zum anderen erfahren sie durch die ständige Auseinandersetzung mit Konflikten eine alternative Berufsausbildung (vgl. Harney/ Kade 1990). Sie beheben also nicht nur ihre konfliktbezogenen Defizite, sondern qualifizieren sich in einem ganz neuen, beruflichen Feld. Für Jens gibt es zwei kritische Zeitpunkte. Vor sechs Jahren tauschte er seinem Chemielaborantenjob gegen die Freistellung als Betriebsrat. Damit kamen von einem zum anderen Tag verstärkt Mitarbeiter zu ihm, die sich von ihm Unterstützung in ihren Konflikten erhofften. Vor einem Jahr wechselte er nun in eine Führungsposition innerhalb des Betriebsrats. Als stellvertretender Vorsitzender eines nicht so kleinen Gremiums mit mehreren Freigestellten muss er die Arbeit des Gremiums organisieren und ist Vorgesetzter der Mitarbeiterinnen im Sekretariat des Betriebsrats. Beide Situationen sind und waren für ihn neu. Er lernte erst durch seine erste, selbst geleitete Verhandlung mit der Personalabteilung über eine Betriebsvereinbarung zum Thema Mobbing wie man als (freigestellter) Betriebsrat die Konflikte, die durch die Unvereinbarkeit der Arbeitgeberund Arbeitnehmerinteressen zwangsläufig entstehen, austrägt – und wie man überhaupt Verhandlungen führt. Zurzeit lernt er durch seine Konflikte als relativ unerfahrener, stellvertretender Vorsitzender wie man ein Gremium führt, wenn der Vorsitzende nicht da ist (was häufig der Fall ist) und wie man sich als Vorgesetzter vom Sekretariat richtig positioniert. Rico musste als junger Vorgesetzter (ohne Meisterbrief) lernen, wie man sich gegen die persönlichen Angriffe durch ältere, ausländische Mitarbeiter und frühere Kollegen wehrt, und wie man Mobbingbetroffenen hilft. Erst durch einen konkreten Konflikt merkte er, dass ihm als disziplinarischen Vorgesetzten noch ‘Handwerkszeug’ fehlt. Erst danach
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lernte er, wie man Abmahnungen vornimmt usw. Auch Carmen erklärt rückblickend, am Anfang ihrer Freistellung als Betriebsrat habe sie beim Intervenieren in Konflikten Fehler gemacht – mittlerweile aber gelernt wie man erfolgreich interveniere. Während Olgas Karriere als Betriebsrat durch die Insolvenz des Unternehmens jäh endete, haben es Carmen und Jens mittlerweile weit gebraucht. Sie waren zunächst einfache Mitarbeiter in Laborbereich. Durch ihr Engagement als Betriebsrat exponierten sie sich. Sie verhandelten mit Vorgesetzten, Personalabteilung und Geschäftsführern. Sie verschafften sich in ihren Gremien durch ihre Konfliktbereitschaft und -kompetenz Anerkennung. Sie qualifizierten sich, weil es für ihre Betriebsratsarbeit erforderlich war, zusätzlich in den Bereichen Arbeitsrecht, Personalwirtschaft, Englisch und Wirtschaft. Aus der Außenseiterin (Carmen) und dem Hinterbänkler (Jens) wurden so einflussreiche Arbeitnehmervertreter, die in wichtigen betrieblichen, betriebsübergreifenden und europäischen Gremien mitarbeiten. Ihr Arbeitsalltag entspricht heute dem eines Managers. Auch Rico, der Vorgesetzten ohne entsprechende fachspezifische Ausbildung, hat durch eigenes Engagement und Konfliktfähigkeit von der Einführung der Gruppenarbeit profitiert. Er hat Karriere gemacht, zeigt sich zunehmend kompetent in Konflikten und kann hoffen, irgendwann im Ausland eine Produktionsleitung zu übernehmen. Isolde ist zwar immer noch einfache Mitarbeiterin, doch durch ihre Erfahrungen an verschiedenen Arbeitsplätzen, die sie durch Versetzungen nach Konflikten gesammelt hat, verfügt sie heute über eine umfangreiche fachliche wie soziale Kompetenz. (Sie kennt das soziale Gefüge in der Produktion und im Organisationsbereich.) Diese möchte sie für die Zukunft nutzen – ob als Produktionsmitarbeiterin in einer anderen Firma, als Betriebsrat oder als zukünftige (betriebliche) ‘Lehrerin’, weiß sie noch nicht. Zur Unterstützung dieses erfahrungsbasierten Lernens durch Konflikte sind für den Lerntyp ‘Genutzte Lernchancen’ Seminare wichtig. Sie werden aber, anders als beim ‘Seminar-Lernen’ großzügig und wahllos besucht. Das Motto lautet: Man wird es schon irgendwann gebrauchen können. Außerdem haben bei diesem Lerntyp betriebliche Vertrauenspersonen als persönlich ausgewählte Lehrer eine große Bedeutung52. Für Rico sind das die erfahrenen Vorgesetztenkollegen, für Nils, Carmen und Olga bekannte und vertraute Betriebsräte bzw. Betriebsratsvorsitzende aus dem eigenen oder aus einem anderen Gremium. Für Isolde ist es ihr ehemaliger Coach, von dem sie heute keine ‘Bestrafung’ mehr befürchten muss, weil er offiziell für sie nicht mehr zuständig ist. Betrieb wird von allen überwiegend als Chance zum Lernen thematisiert. Isolde fokussiert dabei auf die Lernverweigerung ihrer Kolleginnen und Kollegen. Sie selbst sei 52
gl. den Typ ‘Pragmatisches Nichtlernen’: Intervenierende sind keine Lehre
Lerntypen
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bereit, sich auf das Neue einzulassen und zu lernen. Sie meint, es gäbe nur die Möglichkeit sich anzupassen und zu lernen, oder den Betrieb zu verlassen.
5.2.5 Unerfüllte Lernerwartungen Für die Fälle, die dem Lerntyp ‘Unerfüllte Lernerwartungen’ zugeordnet sind (Paul, Kassandra, Rita, Anna, Beate), ist die Grundlage ihres seltenen Lernens die Defizitdiagnose ihres aktuellen Arbeitsalltags. Sie machen Defizite in ihrer Ausbildung für ihre jetzige schwierige, betriebliche Situation verantwortlich. Die Vertreter dieser Gruppe würden gerne lernen, aber es wird in ihren Betrieben nicht zugelassen bzw. nicht gefördert. So bleiben sie auf Dauer defizitär. Kassandra würde schon längst nicht mehr in diesem Betrieb arbeiten, hätte sie sich gegen ihren Ehemann durchgesetzt und eine Umschulung absolviert. Rita hat gerade ihre zweite Ausbildung abgeschlossen und macht sich Gedanken über eine dritte. Anna hat Angst, erneut zum Mobbingopfer zu werden und würde am liebsten ihre Arbeit kündigen. Doch sie hat wegen der Spätschäden des Mobbings auch Angst vor Veränderungen. Paul kritisiert an seinem Chemiestudium, dass es rein fachlich ausgerichtet war und, dass er dort nichts im sozialen Bereich und für spätere Vorgesetztenaufgaben lernen konnte. Da habe er, wie viele Akademiker in seinem Betrieb, Defizite. Im Gegensatz zu denen sei er allerdings bereit, das jetzt zu lernen. Auch Paul möchte sich beruflich verändern. Er hat sich bereits betriebsintern auf eine andere Stelle (als Sicherheitsingenieur) beworben. Beate fühlt sich durch ihre rigide Erziehung (Respekt vor Autoritäten, „Chefs widerspricht man nicht!“) und ihre Erkrankung am Lernen gehindert. Wenn die Interviewten aus dieser Gruppe über ihre Lernmöglichkeiten durch Seminare reden, wird ein zweiter Mangel sichtbar. Man versucht sie auch in diesem Bereich daran zu hindern, sich fortzubilden. Paul überwindet dieses Hindernis, indem er in seiner Funktion als Betriebsrat, die für seinen Beruf bedeutsamen Manager- und Soziale-Kompetenz-Seminare besucht. Rita als nur befristet Beschäftigte hat laut ihrem Chef keinen Anspruch auf Fortbildungen aller Art; sie findet sich zähneknirschend damit ab. Kassandra traut sich nicht einmal, die für sie als Betriebsratsvorsitzende erforderlichen Schulungen beim Arbeitgeber einzufordern. Sie nutzt gelegentlich Wochenendveranstaltungen ihrer Gewerkschaft, um als Betriebsrätin (besonders von anderen Betriebsräten) zu lernen und um Begründungen zu finden, warum die Durchsetzung fundamentaler Arbeitnehmerinteressen in ihrem Betrieb nicht möglich ist. Wenn diese Gruppe von Seminaren spricht, geht es nicht um das Lernen selbst, sondern um die Überwindung institutioneller Lernhindernisse.
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
Lernen durch konkrete Konflikterfahrungen findet eher nebenbei, reduziert und unstrukturiert statt. Rita wird nicht konkret, wenn sie sagt, in sechs Jahren Berufstätigkeit habe sie schon auch gelernt, sich nicht mehr so stark ausnutzen zu lassen. Und Kassandra weiß, dass sie ihren mobbenden Chef kurzfristig zurückdrängen kann, wenn sie ihn anschreit. Das sind zufällig zustande gekommene, einzelne Lernergebnisse, die von den Interviewten nicht reflektiert und auch nicht besonders geschätzt werden. Auch eine diffuse Lernverweigerung gegenüber Ansprüchen aus der Unternehmenskultur ist teilweise zu finden. Rita will nicht akzeptieren, dass in ihrer Abteilung die Männer die Sachbearbeiter und die Frauen die Hilfskräfte sind. Paul eckt, sowohl im Betriebsrat als auch am Arbeitsplatz, durch das, seinem Status als Doktor der Chemie bzw. als Betriebsrat, unangemessene Verhalten an. Er weigert sich zu lernen, wie ein typischer Chemiker und/ oder wie ein typischer Betriebsrat zu agieren. Zusammenfassend kann man sagen, der Lerntyp ‘Unerfüllte Lernerwartungen’ ist durch seltenes, unstrukturiertes und beiläufiges Lernen in Konfliktsituationen gekennzeichnet. Berufliche Qualifikation und Seminare werden idealisiert, weil sie rar sind. Es kommt weniger auf das eigene Lernen an, als darauf, dass andere versuchen sie von Bildungsmöglichkeiten auszuschließen.
5.2.6 Punktuelle Akzeptanz von Lernzumutungen Beim Umgang mit Konflikten gibt es theoretisch auch die Möglichkeit, dass Lernen begrenzt vorkommt, während eine persönliche, berufs- und konfliktbezogenes Defizitannahme der Ausgangspunkt für Lernen darstellt. Zu dieser Gruppe würden Personen gehören, die trotz ihres Defizits aus Konflikten nur gerade soviel lernen, dass sie ihren Arbeitsplatz nicht verlieren. Sie würden den Lernzumutungen aus ihrer betrieblichen Umwelt nur minimal nachgeben. Unter den 21 geführten Interviews gibt es kein Beispiel für eine ‘Punktuelle Akzeptanz von Lernzumutungen’. Möglicherweise kann man in Zeiten, in denen lebenslanges Lernen überall propagiert wird, nicht sagen, dass man trotz Defiziten einfach nicht lernen will. Stattdessen würde man möglicherweise die Lernbehinderung mehr herausstreichen. Dann ergäbe sich aber der Typ ‘Unerfüllte Lernerwartungen’. Eventuell würde man auch behaupten, man lerne aus dem kleinsten Konflikt (Typ ‘Genutzte Lernchancen’). Oder aber man würde die Defizite oder die Konflikte generell in ihrer Bedeutung herabstufen (‘Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis’).
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Lerntypen
Lernverweigerung
Seminare
Erfahrungslernen in Konflikten
Berufsausbildung
Abbildung 29: Überblick über die sechs Lerntypen Pragmatisches NichtLernen
SeminarLernen
Habitualisiertes Lernen
Unerfüllte Lernerwartungen
Fühlt sich dauernd beruflich kompetent.
Fühlt sich vorwiegend beruflich kompetent (mit Phasen der Inkompetenz)
Fühlt sich dauernd beruflich kompetent.
Fühlt sich defizitär im Beruf und im Umgang mit Konflikten. Defizitäre Ausbildung wird beklagt – Wunsch nach Veränderung „Ich würde gerne lernen, aber man lässt mich nicht.“
„Ich brauche nichts zu lernen, ich weiß schon alles!“
… werden nicht besucht/ nicht besucht um zu lernen generelle Lernverweigerung bei Konflikten
Gute Berufsausbildung wird betont. „Ich weiß ziemlich viel, weiß aber auch, dass ich manchmal nichts weiß. Das sind Anlässe zum Lernen.“
Ausbildung wird hinter allgemeiner Kompetenzdemonstration versteckt „Ich bin kompetent und lerne gerade deswegen weiter.“ Kompetenzprofil.“
Punktuelle Akzeptanz von Lernzumutungen Fühlt sich defizitär im Beruf und im Umgang mit Konflikten.
„Eigentlich will ich nicht lernen, aber wenn der Druck von außen zu groß wird, tue ich es widerwillig und begrenzt.“
Genutzte Lernchancen
Fühlt sich defizitär im Beruf und im Umgang mit Konflikten. Wurde auf die Arbeitsaufgaben nicht durch vorgeschaltete Ausbildung vorbereitet. „Ich lerne nicht nur eine bessere Konfliktfähigkeit, sondern verbessere auch meine Berufskompetenz.“
… werden gezielt nach Notwendigkeit ausgewählt
… gehören zu den Grundqualifikationen
… sind schwer/ nicht erreichbar.
… viele Seminare – sie werden eher wahllos besucht
eher verdeckte gelegentliche Verweigerung.
offene Lernverweigerung führt zu Konflikten
punktuelle, halb offene Lernverweigerung
keine Lernverweigerung (alles wird als Lernchance genutzt)
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
Im Interview mit Isolde werden allerdings die Mechanismen dieses Lerntyps bei ihrer über die Jahre erlernten ‘Wissenden Anpassung’ im Betrieb ein wenig sichtbar. Vor 16 Jahren begann Isolde mit einer unsicheren und unreflektierten Anpassung. Durch ihre vielen Konflikte lernte sie im Laufe der Jahre sich strategisch defensiv zu verhalten. Sie lernte aus ihren Konflikten gerade soviel wie notwendig war, um nicht nochmals als Mobberin beschuldigt zu werden und ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Sie verweigerte sich dabei im Stillen den Lernzumutungen durch ihren aktuellen Coach. Sie weiß, hätte sie sich offen mit ihm gestritten, hätte das unliebsame Folgen haben können. – Isolde, die ungelernte Arbeiterin, lernt aber mittlerweile nicht nur durch die offiziellen, betrieblichen Lehrer, sondern auch durch inoffizielle (ihren ehemaligen Coach, ältere Kolleginnen) und durch externe Seminaren. Damit verlässt sie diesen begrenzten Horizont und lernt nicht mehr nur gezwungenermaßen und begrenzt, sondern freiwillig und dauernd. Sie präsentiert sich insgesamt als jemand, der aus heutiger Sicht aus jedem Konflikt lernt – aber anders als es das offizielle, betriebliche System vorsieht. Deshalb wird sie insgesamt dem Typ ‘Genutzte Lernchancen’ zugeordnet. Möglicherweise müsste jemand der dem Typ ‘Punktuelle Akzeptanz von Lernzumutungen’ zuzuordnen ist, an seinem Arbeitsplatz, anders als Isolde, nur wenige Konflikte haben und ausschließlich arbeitsbezogene, betriebliche Lernsituationen kennen. In der Abbildung 29 werden die sechs Lerntypen noch einmal stichpunktartig unter den Überschriften Berufsausbildung, Erfahrungslernen in Konflikten, Seminare und Lernverweigerung zusammengefasst.
5.3 Lehrtypen Wissensvermittlung ist die grundlegende Aufgabe pädagogischen Handelns. In der traditionellen Vorstellung von Lehren geht es meist um das Unterrichten. Das heißt, es findet eine Reduzierung auf die personale Vermittlungsform mit den möglichen Methoden Unterricht/ Unterweisung, Training, Beratung und Moderation (vgl. dazu Kade/ Egloff 2005) – und eine Orientierung an traditionellen Bildungseinrichtungen statt. Das entgrenzte Lehren stellt sich vielschichtiger und differenzierter dar (Hof 2003). Als Formen der Wissensvermittlungen kommen zur personalen die mediale und die strukturale Form in den Blick (Kade 1997a). Vermittlung und Aneignung sind dabei unabhängige, eigenständige, mal mehr, mal weniger stark aufeinander abgestimmte Tätigkeit. Lehren kann institutionell gesteuert, aber auch quasi-natürlich und mitlaufend stattfinden. Nach Kade/ Seitter (2007b) findet Lernen und Lehren in entgrenzten Lehr-LernArrangements im Erwachsenenbereich durch Informationsmitteilung, Vermittlung von Wissen, pädagogische Kommunikation und Selbstbeobachtung statt.
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Lehrtypen
Für diese Studie gilt: Lehren kann als Strategie beim Umgang mit Konflikten gar nicht, begrenzt oder dauernd genutzt werden. Die Interviewten können aufgrund ihres beruflichen Status und ihrer auf Konflikte bezogenen Kompetenz ein Mandat oder kein Mandat beim Umgang mit Konflikten haben. Wenn jemand als Vorgesetzter und/ oder Betriebsrat seine Konflikte aus dieser Perspektive heraus erzählt und sich auch für Konflikte anderer zuständig erklärt, wird er der Kategorie Mandat zugeordnet. Wenn jemand über keinen berufsbezogenen Status verfügt oder, wenn dieser für die erzählten Konflikte unrelevant ist (weil jemand z.B. seine Konflikte als Mitarbeiter und nicht als Betriebsrat (Anita, Cora, Paul) oder als Mitarbeiter und nicht als Vorgesetzter (Rolf) erzählt), wird er der Kategorie ‘kein Mandat’ zugeordnet. Durch diese Klassifizierung können Personen aus der Betroffenengruppe mit dem Status des Vorgesetzten oder Betriebsrats in die Gruppe ‘Mandat’ gehören, wenn sie sich entsprechend in ihren Konflikten im Interview präsentieren. Es ist aber auch möglich, dass jemand aus der Intervenierendengruppe, wenn er oder sie den Status im Zusammenhang mit Konflikten verneint, zu ‘kein Mandat’ zugeordnet wird.
Abbildung 30: Konstruktion der sechs konfliktbezogenen Lehrtypen durch die Dimensionalisierung Häufigkeit von Lehren flikten und Status in Bezug auf Konflikte Häufigkeit von Lehren in Konflikten
gar nicht
begrenzt
dauernd
Alternativen zum Lehren
Problembestimmtes Lehren
Generalisiertes Lehren
-
(Carmen, Rico, Nils, Olga)
Erwartungsfreies Nicht-Lehren
Zufälliges Lehren
Status in Bezug auf Konflikt Mandat
kein Mandat
(Beate, Dorit)
(Christine, Rolf, Anna, Max, Josef, Rita, Isolde, Anita, Paul)
(Elena, Jens, Kassandra, Ilse, Bärbel)
Selbsternannte Pädagogen (Cora)
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
Wie in der Kreuztabelle (Abbildung 30) zu sehen ist, gibt es theoretisch sechs Möglichkeiten – einem Lehrtyp (‘Alternativen zum Lehren’) konnten keine Fälle zugeordnet werden. Hat jemand ein status- und konfliktbezogenes Mandat, gehört er oder sie in die Gruppe ‘Problembestimmtes Lehren’ oder in die Gruppe ‘Generalisiertes Lehren’. Die Interviewten, die kein Mandat haben, gehören entweder, wenn sie in Konflikten gar nicht lehren, in die Gruppe ‘Erwartungsfreies Nicht-Lehren’ – wenn sie begrenzt lehren, in die Gruppe ‘Zufälliges Lehren’. Wenn sie dauernd lehren, gehören sie in die Gruppe ‘Selbsternannte Pädagogen’.
5.3.1 Problembestimmtes Lehren Für die vier Fälle, die dem ‘Problembestimmten Lehren’ zugeordnet sind (Rico, Carmen, Nils, Olga), gilt – sie haben ein berufs- und konfliktbezogenes Mandat und sie nutzen Lehren als Konfliktumgangsstrategie in begrenzten Maßen. Zu Ricos Aufgaben als Vorgesetzter von 38 Produktionsmitarbeitern gehört es, sich in Konflikte einzumischen. Nils, Carmen und Olga sind Betriebsräte bzw. Betriebsratsvorsitzende. Konflikte gehören zu ihrem Alltagsgeschäft. Alle vier erzählen von den, ihrem Status und ihrem Mandat entsprechenden Vorfällen. Belehrung als Strategie des Umgangs mit Konflikten nutzen sie ausschließlich, wenn sie in den Konflikten anderer intervenieren. Olga belehrt den aggressiven, verletzenden und dominanten Geschäftsführer, indem sie ihm sein eigenes Verhalten vorspielt und ihm damit einen Spiegel vorhält. Die richtigen Schlüsse muss er selber ziehen. Carmen entwickelt mit den Konfliktbetroffenen Lösungsszenarien, erklärt Zusammenhänge, berät sie und gibt ihnen auch Tipps. Das alles findet aber unter dem Freiwilligkeitsvorbehalt statt. Was die Konfliktbetroffenen sich aneignen und anwenden, können nur sie entscheiden. Rico belehrt den Mobbingbetroffenen verdeckt, indem er ihm erklärt, was sein Vorgänger, der auch Mobbingopfer wurde, falsch gemacht hatte. Und er belehrt alle Mitarbeiter dadurch, dass er die Gruppensprecher direkt belehrt und ihnen den Auftrag gibt, ihrerseits in ihren Teams als Lehrer aufzutreten. Auch Nils lehrt über Dritte. Er als Betriebsratsvorsitzender sorgt über die jährliche Seminarplanung dafür, dass Externe den anderen Betriebsräten in seinem Gremium vermitteln, wie es sich mit den kleinen und großen Konflikten in der Betriebsratsarbeit verhält. Und die regelmäßigen Workshops des gesamten Gremiums, in denen Teamkonflikte aufgearbeitet werden, werden von einem kompetenten Trainer und Lehrer moderiert. Hier finden wir ein Verständnis von Lehren, dass Vermitteln und Aneignen als nur lose zusammenhängende Phänomene begreift. Die Verantwortung für die
Lehrtypen
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Aneignung liegt beim Lernenden und nicht beim Lehrenden. Lehren wird im Sinne von Coaching, Lernberatung und Anstoßen von Lernen begriffen. Die Vertreter dieser Gruppe sehen sich selbst nicht als Lehrer oder Pädagogen. Sie sind als betriebliche Führungspersonen potentiell Intervenierende. Und sie nutzen beim Intervenieren in Konflikten gelegentlich Lehren als eine Strategie unter vielen. Aber sie wissen auch, dass man Erwachsene am Arbeitsplatz nicht wie Schüler behandeln kann, weil man damit Konflikte nicht befriedet, sondern umleitet (z.B. auf sich selbst ziehen) bzw. weiter aufheizt. Wenn sie also lehren, tun sie dies verdeckt und eher defensiv. Da sie sich nicht als Lehrer begreifen, haben sie auch nicht die Verantwortung für den Lernerfolg auf Seiten der Konfliktbetroffenen. Wenn die sich dem Lernen verweigern, kann das nicht an der fehlerhaften Vermittlung liegen, weil Lernen eine eigenständige Aneignungsleistung des Lernenden darstellt.
5.3.2 Zufälliges Lehren Für die zehn Fälle, die dem ‘Zufälligen Lehren’ zugeordnet sind (Christine, Rolf, Anna, Max, Josef, Rita, Isolde, Rolf, Anita, Paul), gilt – die Interviewten haben kein berufs- und konfliktbezogenes Mandat und sie nutzen Lehren als Konfliktumgangsstrategie in begrenzten Maßen. Zu ‘kein Mandat’ sind sie zugeordnet, weil Christine, Rolf, Anna, Max, Josef, Rita und Isolde einfache Mitarbeiter in ihren Betrieben sind. Sie haben sich als Konfliktbetroffene zu erkennen gegeben. Anita und Paul sind nicht freigestellte Betriebsräte, die weder im Betriebsrat noch in ihrem Beruf über einen besonderen Status verfügen. Sie beschäftigen sich, teils unbemerkt von der Betriebsöffentlichkeit, in ihren Gremien mit dem belächelten Thema Mobbing. Da sie sich in ihren Konflikten aber ausschließlich als Mitarbeiter und nicht als Betriebsräte präsentierten, gehören sie in Bezug auf Umgang mit Konflikten zur Gruppe ‘kein Mandat’. Dasselbe gilt für Rolf. Er war, während seines Konflikts zwar in einer Führungsposition, eigentlich hätte er auch den Status des Intervenierenden haben können. Aus Rolfs Sicht wäre es aber die Aufgabe des Geschäftsführers gewesen, in seinem Konflikt eine Lösung zu finden. Rolf sieht sich konfliktbezogen als Mitarbeiter und nicht als Führungskraft. Beim Zufälligen Lehren kommt Lehren begrenzt, zufällig und unter Nutzung ausschließlich direkter, konfliktprovozierender Strategien vor. Und das eigene Verhalten wird selbst nicht als belehrend wahrgenommen. So begreift Christine überhaupt nicht, dass die Kollegin, von der sie sich gemobbt fühlte, sich ihrerseits von Christine im Rahmen der Einarbeitung unangemessen belehrt gefühlt haben könnte. Isolde interpretiert die Lernverweigerung der älteren Frau-
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
en ausschließlich unter dem Aspekt des Nicht-Lernen-Könnens und NichtLernen-Wollens dieser Frauen – ihr kommt nicht einmal in den Sinn, dass möglicherweise die älteren Kolleginnen die Jüngere nicht als selbst ernannte Lehrerin akzeptieren wollten. Anita ist noch während des Interviews entsetzt, dass man sie des Mobbings beschuldigt hatte. Sie erklärt es damit, dass der neue Kollege sich in seinem Karrierestreben von ihr und ihrer Kompetenz bedroht gefühlt habe. Eine andere Interpretation wäre, dass sich der jungen Ingenieur lediglich gegen ihre ständigen Sicherheitsbelehrungen und die Degradierung zum Schüler oder Studenten gewehrt hatte. Bei Isolde, Christine und Anita findet man wechselseitige Schuldzuweisungen. Die Interviewten fühlen sich gemobbt und werden im selben Fall von ihren Kontrahenten des Mobbings beschuldigt. Hier sind ihre Belehrungen die Anlässe für Konflikte, die von den Interviewten selbst überhaupt nicht als solche wahrgenommen werden. Die Gegenwehr der Belehrten wird von den Interviewten dann als Mobbing interpretiert. Belehrung kann aber auch bereits bestehende Konflikte weiter in die Eskalation treiben. Rita, die gerade ausgelernte Bürokauffrau, hat im beginnenden Konflikt mit ihren Belehrungen bei den erfahrenen männlichen Kollegen keinen Erfolg. Die belächeln sie und provozieren sie weiter, bis sie sich schließlich an den Vorgesetzten wendet. Wenn die Männer sich von ihr nicht belehren lassen, dann hilft vielleicht die Belehrung bzw. die Bestrafung durch den gemeinsamen Vorgesetzten. Auch bei Anna führen ihre Belehrungsversuche zu Sicherheitsthemen zu einer weiteren Verschärfung des Konflikts mit ihren KollegInnen. Rita und Anna versuchen durch ihre Belehrungen die Konflikte zu beenden. Die ‘Lehrer’ inszenieren sich als die Überlegenen, die den anderen den Weg aus dem Konflikt zeigen wollen und sie scheitern damit. Die nachfolgende Eskalation ist somit die sichtbare Lernverweigerung der Belehrten. Belehrung wird auch direkt als ‘Waffe’ genutzt. Rolf belehrt den Werkstattleiter nicht, damit der etwas lernt, sondern um ihm seine eigenen Fehler vorzuhalten. Josef belehrt den Personalchef vor der Verhandlung in seinem Kündigungsschutzprozess, um sich dem gut ausgebildeten Personaler als überlegen zu zeigen. Auch Paul nutzt Belehrung, um sich als Person in besonderer Weise zu präsentieren. Er belehrt seine gesamte betriebliche Umgebung um zu demonstrieren, dass er keine Autoritäten anerkenne, dass er sich sowohl vom typischen Chemiker, als auch vom typischen Betriebsrat unterscheide. Zusammenfassend kann man sagen, der Zufällige Lehrer zeichnet sich dadurch aus, dass ihn Lernen und Lehren überhaupt nicht interessieren. Wenn die Vertreter dieser Gruppe lehren, nehmen sie es nicht als (unangemessene) Belehrung wahr. Und sie können die Gegenwehr der Belehrten nicht richtig deuten. Sie fehlinterpretieren die Lernverweigerung der Belehrten als unbegründete Angriffe gegen sich selbst. Bei diesem Lehrtyp geht es nicht um das Lehren im
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eigentlichen Sinn. Es werden Lehr-Lernsettings erzeugt, um einen Konflikt zum eigenen Vorteil zu beeinflussen. Indem sich die eine Konfliktpartei die Lehrerrolle anmaßt, degradiert sie die andere Konfliktpartei zu unmündigen Schüler. Wenn der sich diese Rollenzuschreibung nicht gefallen lässt, kommt es zur weiteren Eskalation des Konflikts.
5.3.3 Generalisiertes Lehren Für die fünf Fälle, die dem ‘Generalisierten Lehren’ zugeordnet sind (Elena, Jens, Kassandra, Ilse, Bärbel), gilt – die Interviewten haben ein berufs- und konfliktbezogenes Mandat und sie nutzen Lehren als bevorzugte Konfliktumgangsstrategie. Elena und Nils sind Betriebsräte, die von vielen Konflikten berichten, die sich aus ihrem Ehrenamt ergeben. Ilse, eine nicht freigestellte Betriebsrätin, erzählt ihre Konflikte aus der beruflichen Perspektive. Da sie die Vorgesetzte eines Männerteams in der Produktion ist, und von ihren Konfliktinterventionen im Team berichtet, gehört sie in die Kategorie ‘Mandat’ – allerdings nicht weil sie Betriebsrätin, sondern weil sie Vorgesetzte ist. Bärbel gehört zur Gruppe ‘Mandat’, obwohl sie Konfliktbetroffene ist. Ihre erzählten Konflikte sind die einer in Konflikten erfahrenen, intervenierenden Personalentwicklerin, die aus ihrem ‘letzten Konflikt’ schließlich selbst aussteigt, indem sie kündigt. Dadurch wird sie in der Betriebsöffentlichkeit (aber nicht in der Selbstbetrachtung) zum Opfer stilisiert. Kassandra, eine Betriebsrätin, erzählt fast ausschließlich von eigenen Konflikten – sie steht für diesen Lehrtyp eher am Rand. Beim ‘Generalisierten Lehren’ kommt Lehren sowohl als selbstbezogene als auch als sachbezogene Strategie vor. Es geht dabei sowohl um die eigenen Konflikte mit den Vorgesetzten, mit dem Arbeitgeber oder mit dem Betriebsratsgremium, als auch um Konflikte, in die man als Intervenierender hinzugezogen wird bzw. sich einschaltet. – Alle die diesem Typ zugeordnet werden, nutzen in ihren eigenen Konflikten auch offene Formen der Belehrung. Bärbel, Ilse und Kassandra beabsichtigen damit, sich gegen Vorgesetzte und Arbeitskollegen abzugrenzen und sich gegen ihre Angriffe zur Wehr zu setzen. Sie belehren ihre Konfliktgegner darüber, wie man im Betrieb üblicherweise miteinander umgeht. Bärbel wird von ihrem Vorgesetzten, einem cholerischen Juristen, manchmal angeschrieen und persönlich beleidigt. Mit einiger zeitlicher Distanz zum Vorfall belehrt sie ihn deswegen. Ilse erklärt ihrem ebenfalls cholerischen Meister, anschreien würde auf fehlendes Führungsverhalten hinweisen und lässt den schreienden Chef einfach stehen. Auch Kassandra versucht immer mal wieder ihrem, sie sexuell belästigenden Chef zu erklären, dass sein Verhalten unangemessen ist.
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
Jens und Elena nutzen offene Belehrung in persönlichen Konflikten mit einem anderen Ziel. Sie wollen ihr Gegenüber von einer bestimmten Konfliktlösung bzw. Richtung für die Konfliktlösung überzeugen. Elena belehrt die Geschäftsleitung und ihr Gremium. Als der Arbeitgeber ihr kündigen will, kann sie (mit Unterstützung durch den Anwalt) das Gremium davon überzeugen, dass der Arbeitgeber mit den Angriffen gegen die stellvertretende Vorsitzende beabsichtigt, das gesamte Gremium und die Institution Betriebsrat zu beschädigen. Zurzeit belehrt sie die Gremiumsmitglieder, dass eine Vorsitzende nicht die Aufgabe hat, die Konflikte des gesamten Gremiums alleine zu lösen. Sie ermutigt die KollegInnen, die Konflikte mit dem arbeitgeberfreundlichen Betriebsrat selbst auszutragen. Jens, der als neu gewählter, stellvertretender Vorsitzender eines größeren Gremiums seinen Job noch nicht beherrscht, kann sein Gremium (noch) nicht von der Notwendigkeit überzeugen, in Teamschulungen gemeinsam aus Konflikten zu lernen. Das Team lässt sich vom ihm, den Unwissenden und Unerfahrenen, in diesem Punkt nicht belehren. Sie wollen nicht umlernen. Jens allein soll lernen und sich ihnen anpassen. Beim Intervenieren in fremden Konflikten gehen die Vertreter dieses Lehrtyps sehr vielseitig vor. Von ihnen wird aufgrund ihres betrieblichen Status erwartet, dass sie über mehr Wissen und Konfliktlösekompetenz verfügen als ihre Kollegen. Deshalb akzeptieren die Mitarbeiter ein begrenztes Maß an direkter Belehrung. Gelegentlich scheitern sie aber auch mit ihren direkten Bemühungen. – Das Gremium in den Betriebsratssitzungen und die Mitarbeiter in der Betriebsversammlung werden von Elena offen und direkt belehren. Sie adressiert ihre Belehrungen aber immer an die gesamte Belegschaft bzw. an das gesamte Gremium – nie an einzelne Personen. Ilse nutzt Teamsitzungen, um vorbeugende Konfliktbearbeitung zu betreiben. Sie belehrt ihr Team, dass man Konflikte vermeidet, wenn alle über die gleiche Qualifikation an den Maschinen verfügen und, wenn eine Gruppe sich Regeln gibt. Bärbel coacht und belehrt als Chefin der Personalentwicklungsabteilung junge, unerfahrene Vorgesetzte. Bei der direkten Belehrung kann es aber auch zu Lernverweigerung oder zur Konfliktverlagerung kommen. Jens belehrte in seiner Anfangszeit als Betriebsrat die Hilfesuchenden und musste dann feststellen, dass sie ihn für Misserfolge verantwortlich machten. Kassandra findet häufig kein Gehör, wenn sie versucht durch Belehrung die Mitarbeiter von der Notwendigkeit von Mehrarbeit zu überzeugen oder, wenn sie einzelne Kollegen vor einer angedrohten Kündigung schützen will. Bei den Vertretern dieses Lehrtyps gibt es aber auch indirekte und verdeckte Belehrung. So macht Elena Lehren im konkreten Einzelkonfliktfall unsichtbar, indem sie sich selbst auch als Lernende deklariert und vom gemeinschaftlichen Lernen von Betroffenen und ihr als Intervenierenden spricht. Jens lehrt heute
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nicht mehr selber in den betrieblichen Konflikten. Durch eine Vereinbarung mit dem Arbeitgeber wurde diese Aufgabe auf externe, hauptberufliche Konfliktlöser übertragen. Er arbeitet allerdings in seiner Freizeit außerhalb des Betriebes als Seminarleiter in Mobbingseminaren und hält Vorträge. Die Mitarbeiter aus seinem Betrieb können diese Veranstaltungen besuchen, wenn sie das wollen. Auch Bärbel zieht für Konfliktinterventionen externe Lehrer, Moderatoren und Mediatoren hinzu. Ilse belehrt bei konkreten Konflikten mit zeitlicher Verzögerung. Zunächst trennt sie die Streithähne und betreut diejenigen, die zu emotionalen Überreaktionen neigen. Erst später geht es um die kognitive Bearbeitung der Vorfälle und darum, dass die Konfliktparteien aus dem Erlebten lernen. Lehren taucht bei diesem Lehrtyp als vielschichtige, politische Strategie für Leute auf, die viel mit Konflikten zu tun haben. Ihre eigenen Konflikte tragen sie häufig offen aus, aber sie begrenzen sie auch. Es darf zu keiner ungebremsten, unbeherrschbaren Eskalation kommen. Dabei nutzen sie Lehren um sich abzugrenzen und um Verbündete stärker an sich zu binden. Beim Intervenieren geht es bei ihnen sowohl darum, sich als kompetente Konfliktlöser und Lehrer zu inszenieren (deshalb offenes Belehren) als auch darum, anderen auch tatsächlich zu helfen. (Gute Ergebnisse gibt es oft nur, wenn man die Öffentlichkeit meidet.) Um Konflikte in dieser Form politisch zu nutzen, sind also auch beim Intervenieren sowohl offene als auch verdeckte Aktionen notwendig. Sie erfüllen durch diese Doppelstrategie ihre Aufgaben als Vorgesetzte und Betriebsräte und festigen ihre betriebliche Position. – Lehren ist bei diesem Lehrtyp im Sinn von lebenslangem, ständig mitlaufendem Lernen und Lehren stets präsent. Dabei wird Lehren von der Vermittlungsseite her gedacht. Lehren ist hier als Hinweis auf kompetente und moderne Konfliktbearbeiter zu verstehen, die bewusst und unbewusst Lehren als eine Strategie im Umgang mit Konflikten nutzen.
5.3.4 Selbsternannter Pädagoge Es gibt lediglich einen Fall (Cora) für die Kombination ‘kein Mandat’ und ‘dauerndes’ Lehren in Konflikten. Cora nutzt verdecktes, dauerndes Lehren als bevorzugte Konfliktumgangsstrategie. Sie ist zwar Betriebsrätin, doch ihren Einfluss in ihrer Abteilung und ihre Konflikte erzählt sie nicht als Arbeitnehmervertreterin sondern als Oberlaborantin, die zwar keine Weisungsbefugnis gegenüber ihren Kolleginnen hat, die aber aufgrund ihrer 25 Jahren Erfahrung in einem sich ständig verändernden Betrieb und ihrem generellen Interesse an den Konflikten in ihrer Umgebung, in die Rolle der Pädagogin schlüpfte. Cora ist es (bis heute) also gerade wichtig, kein offizielles Mandat im Zusammenhang mit Konflikten zu haben. Ihr ist es wichtig auf die Augenhöhe mit ihren Kollegen und
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
Kolleginnen hinzuweisen, obwohl sie auch ihre Leitungsfunktion im Labor oder ihre Betriebsratsfunktion hätte herausstreichen können. Sie macht die von ihr eingesetzten Belehrungen im Zusammenhang mit Konflikten weitgehend unsichtbar. Mit der neu gegründeten Mobbingberatungsgruppe des Betriebsrats könnte sich das ändern. Sobald die in die Betriebsöffentlichkeit tritt, hat Cora als Betriebsrätin ein offizielles Mandat zum Intervenieren auch in massiven Konflikten. Intervenieren in fremden Konflikten ist schon immer Coras Spezialgebiet. Sie nutzt ausschließlich verdecktes Lehren und bevorzugt Vieraugengespräche. Ziel ist es immer, Einzelpersonen, die durch unangemessenes Verhalten auffallen, wieder in die Arbeitsgemeinschaft hereinzuholen. Sie sagt und zeigt dem Auszubildenden den Unterschied zwischen einem Lehrling und einem Laboranten. Sie belehrte den Internetsurfer sogar noch nach dessen Ausscheiden aus dem Betrieb. Sie arbeitete ihre derzeitige Kollegen ins Fachgebiet ein und zeigt ihren dabei auch, wie sie Konflikte mit dem gemeinsamen Vorgesetzten meiden können. Cora steht mit ihrer Person, nicht mit ihrer Funktion, für den richtigen Umgang mit Konflikten. Wenn sie Wissen und Fertigkeiten vermittelt, tut sie das immer unter Berücksichtigung des Adressaten. Sie geht auf die besonderen Bedürfnisse ihres Gegenübers ein. Sie berücksichtigt, dass der damalige Auszubildende jung und unerfahren war und, dass ihr jetziger Kollege nicht so wortgewandt ist. Doch es gibt auch Grenzen der Erreichbarkeit. Wenn jemand krank ist, wie der Internetsurfer, kann man ihn nicht belehren – und damit kann sie als betriebliche Pädagogin ihm auch nicht helfen. Zur Professionalität gehört es auch, die Grenzen zu kennen. Warum taucht Lehren bei diesem Lehrtyp als allgegenwärtige, aber häufig unsichtbar gemachte Strategie beim Umgang mit den Konflikten anderer auf? Warum bleiben auch Status und Mandat des Lehrers im Dunkeln? Vielleicht ist das eine Besonderheit beim nicht institutionell legitimierten Belehren von Erwachsenen. Im Betrieb geht es vordergründig um Arbeiten und nicht um Lernen und Lehren. Der Wissensunterschied in der Arbeits- und Lernsituation darf außerdem nicht zur Abwertung des Nicht-Wissenden führen. Lernen im Arbeitsvollzug ist für Erwachsene vielleicht nur möglich, wenn sich der Erwachsene nicht bevormundet und belehrt fühlt. Würden Coras KollegInnen, eine auf Defizitzuschreibung und Überlegenheitsvorstellung gründende Beziehungsdefinition (klassische Lehrer-Schüler-Beziehung) erkennen, würden sie sich ihr vielleicht entziehen und ihre beabsichtigte Unterstützung als getarnte Bevormundung interpretieren. Vielleicht ist das der Weg, um einen besseren Zugang zu den erwachsenen, fachlich gut ausgebildeten Lernenden im Betrieb zu findet. Durch eine behaupte-
Lehrtypen
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te Gleichheit wird die Kluft zwischen tatsächlich Lernenden und verdeckt Lehrenden nochmals reduziert. Die Tätigkeit im Betrieb ist keine offizielle LehrLernsituation. Doch für die eigentlichen, offiziellen Führungskräfte wohl ungemerkt, kann sich durch diesen Lehrtyp ein über Konflikte gesteuertes, pädagogisches System innerhalb des Arbeitszusammenhangs mit einer inoffiziellen, informellen Führungsperson, dem Selbsternannten Pädagogen, etablieren.
5.3.5 Erwartungsfreies Nicht-Lehren Die Personen des Lehrtyps Nicht-Lehren (Dorit, Beate) verhalten sich im Zusammenhang mit Konflikten so, wie man es von ihnen erwartet. Als Konfliktbetroffene ohne Mandat lehren sie überhaupt nicht. Sie sind Opfer von Mobbingkonflikten und erwarten eigentlich, dass es im Arbeitsalltag überhaupt keine sozialen Konflikte gibt. In der Betriebsöffentlichkeit verstecken sie ihre Konflikte dann auch weitgehend. Beate zeigt sich gegenüber ihren KollegInnen, obwohl es ihr schlecht geht, fröhlich und positiv – bis sie schließlich krank zusammenbricht. Auch nach ihrer Kur stellt sie sich dem Konflikt nicht. Stattdessen kündigt sie, ohne auch nur noch einmal einen Fuß an ihren Arbeitsplatz zu setzen. Auch Dorit vermeidet die öffentliche Diskussion. Indem sie trotz Krankheit ihr hohes Leistungsniveau halten kann, kann sie den Konflikt für viele unbemerkt, erfolgreich aussitzen. Lehren spielt in dieser Gruppe überhaupt keine Rolle. Die Vertreter dieser Gruppe bekleiden keinen Status, der von ihnen erwartet, in den Konflikten anderer zu intervenieren. Auch in ihren eigenen Konflikten setzen sie (anders als die ‘Zufälligen Lehrer’) keine Lehrstrategien ein. Obwohl sie sich als Mobbingopfer fühlen, belehren sie ihre Kollegen und Vorgesetzte nicht über Mobbing. Am Arbeitsplatz darf es, ihrer Ansicht nach, ausschließlich um die Arbeit gehen. Konflikte dürften bei fehlerfreier Planung und Ausführung der Arbeit eigentlich überhaupt nicht auftreten.
5.3.6 Alternative zum Lehren Beim Umgang mit Konflikten für betriebliche Mandatsträger gibt es theoretisch auch die Möglichkeit, dass Lehren überhaupt keine Rolle spielt. Stattdessen könnten Vorgesetzte, Betriebsräte oder andere Vertrauenspersonen rein nichtpädagogische Strategien nutzen – wie z.B. jemanden versetzen, Gerichte und Einigungsstellen anrufen oder selber kündigen oder sich weg bewerben.
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
Abbildung 31: Überblick über die sechs Lehrtypen Zufälliges Lehren Haben kein Mandat zu intervenieren. Nutzen Lehren gegrenzt und nur in eigenen Konflikten. Belehren offen und unreflektiert.
Maßen sich Lehrerrolle an - als taktischer Schachzug in eigenen Konflikten. Kein Interesse daran, dass die Anderen dadurch etwas lernen. Die Lehrenden reflektieren nicht, dass sie lehren und fehlinterpretieren die Abwehr der Belehrten.
Problembestimmtes Lehren Haben ein Mandat zu intervenieren.
Generalisiertes Lehren
Nutzen Lehren gegrenzt und nur in fremden Konflikten. Nutzen verdeckte Lehrstrategien und lehren über Dritte. Lehren als bewährte Strategie beim Intervenieren in den Konflikten anderer.
Lehren ist die präferierte Interventionsform in eigenen und fremden Konflikten. Lehren als Betroffene anders als als Intervenierende
Lehren als politische Strategie für Leute, die viel mit Konflikten zu tun haben.
Selbsternannte Pädagogen Haben kein Mandat zu intervenieren. Lehren ist die präferierte Interventionsform in fremden Konflikten. Nutzen indirekte Strategien, lehren immer selbst. Informelle Führungspersönlichkeit durch verdecktes Lehren.
Ziel: Lernen bei den Anderen möglich zu machen.
Ziel: (1.) sich selbst zu inszenieren (2.) Lernen bei anderen möglich zu machen.
Ziel: quasi persönliche Beziehung zu KollegInnen aufzubauen.
Die Lehrenden lehren bewusst. Sie wissen, dass offenes aggressives Lehren selbst zu Konflikten führen kann.
Belehrung wird bewusst, vielfältig und strategisch eingesetzt.
Verdeckte Belehrung.
Haben ein Mandat zu intervenieren.
Die Belehrten merken nicht, dass sie belehrt werden.
Erwartungsfreies NichtLehren Weil sie kein Mandat haben, lehren sie überhaupt nicht in Konflikten.
Alternative zum Lehren Obwohl sie ein Mandat haben, lehren sie überhaupt nicht in Konflikten.
Belehren nicht.
Nutzen nichtpädagogische Strategien.
Kein Lehren
Kein Lehren
Zusammenhänge zwischen Konflikt-, Lehr- und Lerntypen
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Unter den zehn Interviews mit Personen, die konfliktbezogen über ein Mandat verfügen, gibt es kein Beispiel für eine nicht-lehrende Intervention. Ein Quäntchen Lehren taucht immer auf. Möglicherweise spiegeln sich hier die Effekte des lebenslangen Lernens und der Entgrenzung des Pädagogischen. Der Betrieb ist für berufs- und konfliktbezogene Mandatsträger zu einem Ort geworden, an dem zur Lösung von Konflikten selbstverständlich auch auf pädagogische Instrumente zurückgegriffen wird. Eine kompetente Führungskraft versucht es, bevor sie zu drastischen Mitteln greifen, zunächst mit dem ‘milderen’ Mittel der Belehrung. In Abbildung 31 sind die 6 Lehrtypen nochmals in einer Übersicht stichpunktartig einander gegenüber gestellt.
5.4 Zusammenhänge zwischen Konflikt-, Lehr- und Lerntypen Abschließend geht es um die Muster, d.h. um die Fragen – wie Konflikt-, Lernund Lehrtypen zusammen vorkommen, welche inhaltlichen Sinnzusammenhänge die unterschiedlichen Typisierungen verbinden. Zunächst sollen je zwei Typisierungen gemeinsam betrachtet werden. Es geht um den Zusammenhang zwischen Konflikten und Lernen (vgl. Abbildung 32), dann zwischen Konflikten und Lehren (Abbildung 33) und schließlich zwischen Lehren und Lernen (Abbildung 34). Abschließend kommen alle drei Typisierungen zusammen in den Blick. Die häufiger vorkommenden Kombinationen von Lern-, Lehr- und Konflikttypen werden auf einer noch abstrakteren Ebene charakterisiert.
5.4.1 Konflikte und Lernen Von den 15 theoretisch möglichen Kombinationen, kann die Untersuchung zu 8 tatsächlichen Kombinationen Aussagen machen (vgl. Abbildung 32). Der Zusammenhang zwischen Lernen und Konflikten kann aufgrund der empirischen Regelmäßigkeiten insgesamt als eng bezeichnet werden. Der Konflikttyp ‘Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis’ korrespondiert stark mit dem Lerntyp ‘Pragmatisches Nicht-Lernen’. Nur ein Interview aus diesem Konflikttypus wurde einem anderen Lerntypus (Unerfüllte Lernerwartungen) zugeordnet. Vom ‘Pragmatischen Nicht-Lernen’ ausgehende kann man sagen, dass ausschließlich Fälle von ‘Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis’ zu diesem Lerntypus zugeordnet sind. Was bedeutet das? – Personen, die wenig mit Konflikten zu tun haben (wollen) und die Konflikte als ein vorübergehendes, einmaliges Ereignis betrachten, ziehen aus den wenigen Konflikten, die sie erleben, eher keine Ler-
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
nerfahrungen. Sie verlassen sich für die Konfliktbearbeitung stattdessen auf die offiziellen Intervenierenden und verhalten sich sonst eher defensiv.
Abbildung 32: Zusammenhänge zwischen Konflikten und Lernen Lerntypen
Konflikttypen Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis Konflikte als Ergebnis einer Rolle Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung
Pragmatisches Nicht-Lernen Kompetenz/ selten
SeminarLernen
Habitualisiertes Lernen
Unerfüllte Lernerwartungen
Kompetenz/ begrenzt
Kompetenz/ dauernd
Defizit/ selten
Max, Christine, Rolf, Josef
Genutzte Lernchancen
Defizit/ dauernd Beate
Nils, Anita, Dorit
Elena, Bärbel
Ilse, Cora
Kassandra, Paul, Rita, Anna
Rico, Jens, Carmen, Olga Isolde
Beim Konflikttyp ‘Konflikt als Ergebnis einer Rolle’ gibt es auf der Seite der Lerntypen eine größere Streuung. Er korrespondiert sowohl mit ‘SeminarLernen’, mit ‘Habitualisiertem Lernen’, als auch mit ‘Genutzte Lernchancen’. Umgekehrt kann man feststellen, dass es lediglich beim ‘Seminar-Lernen’ eine Exklusivität für den Konflikttyp ‘Konflikt als Ergebnis einer Rolle’ gibt. Fälle aus anderen Konflikttypen konnten diesem Lerntyp nicht zugeordnet werden. Wie sind diese Beobachtungen zu deuten? – Wenn Konflikte sich ausschließlich im Kontext der beruflichen und betrieblichen Rolle zeigen, findet Lernen immer ‘begrenzt’ oder ‘dauernd’ (aber nie ‘selten’) statt. Personen, die aufgrund ihrer beruflichen Situation, mehr oder weniger regelmäßig beruflichen Konflikten ausgesetzt sind, sehen im Lernen somit eine wichtige Form des Umgangs mit Konflikten – sowohl, wenn sie sich in ihrem beruflichen Selbstverständnis als kompetent, als auch wenn sie sich als defizitär beschreiben. Was bedeutet es, dass der Lerntyp ‘Seminar-Lernen’ ausschließlich gemeinsam mit dem Konflikttyp ‘Konflikt als Ergebnis einer Rolle’ vorkommt? Die
Zusammenhänge zwischen Konflikt-, Lehr- und Lerntypen
305
Personen, die dieser Kombination zuzuordnen sind, fühlen sich grundsätzlich kompetent. Aber wenn sie in betrieblichen Konfliktsituationen Defizite bemerken, lernen sie, um diese schnell wieder zu beheben. Wenn Konflikte den Arbeitsprozess stören, müssen sie bearbeitet werden. Dadurch wird in begrenztem Umfang auch Lernen notwendig. Man wird allerdings nicht zwangsläufig zum ständigen Konfliktbearbeiter oder rutscht gar in einen anderen Beruf hinein. Aufwand und Nutzen, im Hinblick auf nötige Ressourcen für die Konfliktbearbeitung, stehen hier in einem ausgeglichenen Verhältnis. Dies weist auf eine unaufgeregte Einstellung zu Konflikten und auf einen professionellen Umgang mit ihnen hin. (Sie werden weder verdrängt/ übersehen, noch überbewertet.) Umgekehrt kann man sagen: Nur Leute, die Konflikte im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Rolle sehen können und, die bereits über ein kompetentes, berufsbezogenes Selbstbild verfügen, können es sich leisten, nicht unbegrenzt und dauernd aus ihnen lernen zu müssen. Bei der Kombination von ‘Konflikt als Ergebnis einer Rolle’ mit dem ‘Habitualisierten Lernen’ hat Lernen, trotz berufsbezogener Kompetenz, eine größere Bedeutung. Es wird genutzt, um für zukünftige Herausforderungen gewappnet zu sein und um dem Selbstbild als lebenslanger Lerner zu entsprechen. In der Kombination mit dem Lerntyp ‘Genutzte Lernchancen’ geht es hingegen darum, bestehende Defizite zu beheben. Hier wird umfänglich gelernt, um die Aufgaben, die sich aus einer neuen, beruflichen Herausforderung, für die die Ausbildung fehlt, erfüllen zu können. Auch beim Typ ‘Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung’ finden wir eine größere Streuung bei den korrespondierenden Lerntypen. Personen, die ihre Konflikte in einen weit reichenden, über den betrieblichen Alltag hinausreichenden Zusammenhang stellen, präsentieren sich in ihren Lernaktivitäten entweder als ‘Habitualisierte Lerner’ oder als Typ ‘Genutzte Lernchancen’. Beide Lerntypen gehen von dauerndem Lernen aus – Lernen hat somit eine große Bedeutung. In dem einen Fall werden die berufsbezogenen Fähigkeiten als positiv (Kompetenz), im anderen als kritisch (Defizit) gewertet. – Die meisten Fälle dieses Konflikttyps korrespondieren allerdings mit dem Lerntyp ‘Unerfüllte Lernerwartungen’ (berufliches Selbstverständnis Defizit/ seltenes Lernen). Diese Kombination verdient auch deshalb besondere Beachtung, weil neben der Häufung beim Konflikttyp ‘Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung’ in der ganzen Untersuchung lediglich ein weiterer Fall (Beate; Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis) hier einzuordnen ist. Es kommt also häufiger vor, dass Personen, die in allen Bereichen ihres Lebens Konflikte beschreiben und die sich beruflich als nicht kompetent einschätzen, diese Konflikte trotzdem nicht zum Lernen nutzen können.
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
Zusammenfassend kann man sagen, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen Konflikttypen und Lerntypen gibt. Erleben Mitarbeiter eher selten Arbeitsplatzkonflikte, nutzen sie diese einmalige Erfahrung nicht, um daraus etwas zu lernen. Erleben sie dagegen dauernd, im beruflichen wie im privaten Bereich Konflikte, ist es ebenfalls wahrscheinlich, dass sie überhaupt nichts daraus lernen (können). Kommt es beim Konflikttyp ‘Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung’ dann doch zu Lernerfahrungen, finden wir das genaue Gegenteil – dann wird dauernd gelernt. Die Wahrscheinlichkeit, gezielt aus Konflikten zu lernen, ist bei den Personen am größten, die die Konflikte im Zusammenhang mit ihrer beruflichen und betrieblichen Rolle sehen. Sie lernen immer – entweder (ökonomisch) begrenzt oder ständig. Sie festigen damit ihre Rolle in der Organisation (‘Seminar-Lernen’ und ‘Habitualisiertes Lernen’) oder steigen in der betrieblichen Hierarchie auf (‘Genutzte Lernchancen’).
5.4.2 Konflikte und Lehren Von den 15 theoretisch möglichen Kombinationen, kann die Untersuchung zu 9 tatsächlichen Kombinationen Aussagen machen (vgl. Abbildung 33). Der Zusammenhang zwischen Lehren und Konflikten kann, aufgrund der empirischen Regelmäßigkeiten und im Vergleich zum Zusammenhang Konflikte-Lernen, als weniger eng bezeichnet werden. Durch die Häufung beim ‘Zufälligen Lehren’ ist eine Differenzierung zwischen den Konflikttypen schwerer möglich. Der Konflikttyp ‘Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis’ korrespondiert stark mit dem Lehrtyp ‘Zufälliges Lehren’. Nur ein Interview aus dieser Konfliktgruppe wurde einem anderen Lerntypus (‘Erwartungsfreies NichtLehren’) zugeordnet. Vom ‘Zufälligen Lehren’ ausgehend, muss man allerdings sagen, dass es bei allen Konflikttypen Fälle gibt, die bei diesem Lehrtyp einzuordnen sind. Auch bei ‘Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung’ kommt ‘Zufälliges Lehren’ häufig vor. Durch den Lehrtyp ‘Zufälliges Lehren’ kann man den Konflikttyp ‘Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis’ also nicht von den anderen Konflikttypen unterscheiden. Welche Interpretationen sind trotzdem möglich? Personen, die wenig mit Konflikten zu tun haben (wollen) und die sich nicht als potentielle Intervenierende betrachten, nutzen meistens – in begrenztem Maße und unreflektiert – offene und direkte Formen des Lehrens. Sie initiieren und verschlimmern dadurch ihre Konflikte und haben wenig Interesse daran, dass die Belehrten tatsächlich etwas lernen. Beim Konflikttyp ‘Konflikte als Ergebnis einer Rolle’ kommen außer dem Typ ‘Selbsternannter Pädagoge’ alle Kombinationen vor. Das bedeutet, die Vertreter dieses Konflikttyps unterscheiden sich stark in der Ausprägung der Bedeu-
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Zusammenhänge zwischen Konflikt-, Lehr- und Lerntypen
tung von Lehraktivitäten voneinander – die streut von ‘gar nicht lehren’ bis ‘dauernd lehren’. Eine Häufung von zugeordneten Fällen findet man beim ‘Problembestimmten Lehren’ und beim ‘Generalisierten Lehren’. In beiden Lehrtypen haben die Personen ein Mandat, in Konflikten zu intervenieren. Und sie nutzen Lehren in begrenzten bzw. in unbegrenztem Umfang für die Konfliktbearbeitung. Vom ‘Problembestimmten Lehren’ ausgehend, kann man außerdem sagen, dass ausschließlich Fälle von ‘Konflikt als Ergebnis einer Rolle’ zu diesem Lehrtypus zugeordnet sind. Hier unterscheidet sich der Konflikttypus also deutlich von den anderen beiden.
Abbildung 33: Zusammenhänge zwischen Konflikten und Lehren Lehrtypen Konflikttypen
Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis Konflikte als Ergebnis einer Rolle Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung
Erwartungsfreies NichtLehren
Problembestimmtes Lehren
Zufälliges Lehren
Generalisiertes Lehren
Gar nicht/ kein Mandat
Gegrenzt/ Mandat
Begrenzt/ kein Mandat Christine, Rolf, Anna, Max, Josef
Dauernd/ Mandat
Anita
Elena, Jens, Bärbel Kassandra, Ilse
Beate
Dorit
Carmen, Rico, Nils, Olga
Rita, Isolde, Paul
Selbsternannte Pädagogen Dauernd/ kein Mandat
Cora
Was charakterisiert nun die Verbindung von ‘Problembestimmtem Lehren’ und ‘Konflikte als Ergebnis einer Rolle’? Indirekte und verdeckte Strategien des Lehrens werden häufig als bewährte Strategie beim Intervenieren in den Konflikten anderer eingesetzt. Nur bei dieser Kombination finden wir diese reflektierte und professionelle Form der Konfliktintervention und des gezielten Einsatzes von Lehren als Möglichkeit in der Intervention. Anders verhält es sich bei der Kombination dieses Konflikttyps mit dem Lehrtyp ‘Generalisiertes Lehren’. Personen, die ihre Arbeitsplatzkonflikte in einem klar umgrenzten, beruflichen und betrieblichen Zusammenhang sehen, nutzen hier häufig umfängliches Lehren als betriebspolitische Strategie. Dann findet Lehren sowohl bei der Bearbeitung der eigenen wie der fremden Konflikte
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
statt. Darin unterscheidet sich dieser Konflikttyp aber nicht von ‘Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung’ – auch da gibt es die Kombination mit dem ‘Generalisierten Lehren’. Beim Typus ‘Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung’ finden sich ebenfalls unterschiedliche korrespondierende Lehrtypen. Neben ‘Zufälligem Lehren’ wie beim Konflikttyp ‘Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis’ und ‘Generalisiertem Lehren’ wie bei ‘Konflikte als Ergebnis einer Rolle’ gibt es hier aber auch den ‘Selbsternannten Pädagogen’. Mit der Kombination ‘Selbsternannter Pädagoge’ und ‘Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung’ wird wieder eine deutliche Abgrenzung zu den anderen Verknüpfungen sichtbar. Nur wer in allen Bereichen seines Lebens Konflikterfahrungen hat, hat die Chance, sich über die Konflikte als informelle Führungspersonen und verdeckt agierender, betrieblicher Pädagoge zu etablieren. Oder noch zugespitzter formuliert: Will man selbsternannter, betrieblicher Pädagoge werden, muss man sowohl im privaten wie im betrieblichen Bereich viele Konflikte erleben. Zusammenfassend kann man sagen, dass der Zusammenhang zwischen Konflikt- und Lehrtypen eher locker ist. Interessant ist der Blick auf die Lehrtypen, wo sie nur mit einem einzigen Konflikttyp zusammen vorkommen. Nur beim Konflikttyp ‘Konflikte als Ergebnis einer Rolle’ findet man Personen, die Lehren zielgerichtet beim professionellen Intervenieren in fremden Konflikten einsetzen. Lediglich beim Konflikttyp ‘Konflikte im Modus der Welt- und Lebensgestaltung’ finden wir den ‘Selbsternannten Pädagogen’. Den Lehrtyp ‘Zufälliges Lehren’ findet man zwar bei allen drei Konflikttypen, aber für ‘Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis’ ist er besonders bezeichnend, weil Lehren bei diesem Konflikttyp immer entweder gar nicht oder eben begrenzt und ohne Mandat wie beim ‘Zufälligen Lehren’ stattfindet. Also auch, wenn man etwas über Lehren im Zusammenhang mit Konflikten sagen will, macht es Sinn, sich die individuellen Konfliktbeschreibung und –deutungen genauer anzuschauen. Um in Konflikten professionell zu intervenieren und dabei Lehren als Methode gewinnbringend einsetzen zu können, braucht es eine spezielle, individuelle Sicht auf Konflikte (‘Konflikte als Ergebnis einer Rolle’). Inoffizielle, betriebliche Pädagogen können sich nur im Spannungsfeld von ‘ausreichend’ betrieblichen Konflikterfahrungen und einer persönlichen Welt- und Lebenssicht auf Konflikte (‘Konflikte im Modus der Welt- und Lebensgestaltung’) entwickeln. Und wer Konflikten, wann immer möglich aus dem Weg geht und, wer nicht zu vermeidende Auseinandersetzungen an andere delegiert, verzichtet trotzdem nicht auf gelegentliche Belehrung – aber er merkt es nicht.
Zusammenhänge zwischen Konflikt-, Lehr- und Lerntypen
309
5.4.3 Lernen und Lehren Beim Zusammenhang zwischen Lernen und Lehren fällt zunächst auf, dass von den 25 möglichen Kombinationen lediglich zwölf durch die Untersuchung abgebildet werden. Für vier Kombinationen lassen sich je drei Fälle finden. Auf diese Kombinationen soll im Folgenden etwas genauer eingegangen werden (vgl. Abbildung 34). Zunächst soll den Kombinationen ‘Zufälliges Lehren’ (begrenztes Lehren, kein Mandat) und ‘Pragmatisches Nicht-Lernen’ und ‘Zufälliges Lehren’ und ‘Unerfüllte Lernerwartungen’ besondere Beachtung geschenkt werden. Der Typ ‘Pragmatisches Nicht-Lernen’ ist charakterisiert durch die Überzeugung, dass Lernen nicht notwendig ist, weil man sowieso schon alles weiß, sich also kompetent fühlt. Die Vertreter des Typs ‘Unerfüllte Lernerwartungen’ fühlen sich defizitär und am Lernen gehindert. Bei beiden Lerntypen wird also eher selten gelernt. Der korrespondierende Lehrtyp ‘Zufälliges Lehren’ verfügt über kein Mandat zum Intervenieren. Lehren wird als unreflektierte Strategie in eigenen Konflikten begrenzt eingesetzt, um den Konfliktgegner zum Schüler zu degradieren. Was sind das für Personen, die durch diese Kombinationen repräsentiert werden – die selten aus eigenen Konflikten lernen, die aber gelegentlich Lehren unreflektiert nutzen und damit Konflikte schüren? Hier handelt es sich um eine Gruppe von Leuten, die sich an der Diskussion um entgrenztes, lebenslanges Lernen eher nicht beteiligt. Diese Personen sehen in Konflikten keine Herausforderung zum Lernen bzw. sie schaffen es nicht, aus ihren Konflikten tatsächlich zu lernen. Störungen und Unsicherheiten an ihren Arbeitsplätzen ändert nichts daran. Doch sie sind nicht nur für Lernen unsensibel, sondern auch für Lehren. Sie merken überhaupt nicht, wenn sie lehren und, wenn sie Kollegen durch Lehrergehabe verärgern. Ihnen fehlt das Gespür, Lehr-Lernprozesse im Alltagshandeln zu erkennen und zu steuern. Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine Personengruppe, die sich Lernen und Lehren lediglich im institutionellen Kontext vorstellen kann. Max und Christine sind typische Vertreter für die Kombination ‘Zufälliges Lehren’ - ‘Pragmatische Nicht-Lernen’. Wenn sie arbeiten und/ oder am Arbeitsplatz Konflikte haben, wollen sie nicht mit LehrLernanforderungen belästigt werden. Sie wollen nicht nur aus Konflikten nichts mehr lernen. Sie haben ihre Berufstätigkeit bereits bis zur Rente geplant – und da kommen Lernen und Lehren nicht darin vor. Paul und Rita (Kombination ‘Zufälliges Lehren’ - ‘Unerfüllte Lernerwartungen’) würden gerne jenseits offizieller Lernsettings lernen, doch sie können es nicht. Aus dieser Frustration heraus belehren sie die, die sie am Lernen hindern.
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
Abbildung 34: Zusammenhänge zwischen Lernen und Lehren Lehrtypen Lerntypen
Erwartungsfreies NichtLehren
Problembestimmtes Lehren
Zufälliges Lehren
Generalisiertes Lehren
Selbsternannte Pädagogen
Gar nicht/ kein Mandat
Gegrenzt/ Mandat
Begrenzt/ kein Mandat
Dauernd/ Mandat
Dauernd/ kein Mandat
Pragmatisches Nicht-Lernen Kompetenz/ selten SeminarLernen
Max, Christine, Rolf, Josef
Dorit
Nils
Anita
Kompetenz/ begrenzt Habitualisiertes Lernen Kompetenz/ dauernd Unerfüllte Lernerwartungen Defizit/ selten Genutzte Lernchancen
Ilse, Elena, Bärbel
Beate
Carmen, Rico, Olga
Paul, Rita, Anna
Kassandra
Isolde
Jens
Cora
Defizit/ dauernd
Der Lehrtyp ‘Problembestimmtes Lehren’ korrespondiert mit dem Lerntyp ‘Genutzte Lernchancen’. Leute die, ausgehend von einer persönlichen berufsbezogenen Defizitzuschreibung, betriebliche Konflikte zu einer alternativen Berufsausbildung nutzen, tendieren auch dazu, verdeckte Formen des Lehrens als Strategie bei der Intervention in fremden Konflikten einzusetzen. Carmen ist dafür ein gutes Beispiel. Sie hat ihren Betriebsratsjob über die Bewältigung vieler Konflikte gelernt und ist damit zu einer bedeutenden Arbeitnehmervertreterin aufgestiegen. Genauso selbstverständlich und pragmatisch nutzt sie Lehren als Strategie, um andere in der Lösung ihrer Konflikte zu unterstützen. Erfolgreiches Interve-
Zusammenhänge zwischen Konflikt-, Lehr- und Lerntypen
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nieren und Lehren lässt wiederum einen Rückschluss darauf zu, wie gut sie ihr hauptberufliches Ehrenamt ausfüllt. Hier werden Lernen und Lehren als ‘neutrale’ Instrumente zur Zielerreichung eingesetzt. Nachdem die Vertreter dieser Gruppe positive Erfahrungen mit dem eigenen Lernen gemacht haben, ermutigen sie Kollegen in Konfliktsituationen das gleiche zu tun. Sie muten den Anderen aber weniger zu als sich selbst. Während sie selbst dauernd aus Konflikten lernen, lehren sie nur gelegentlich. Sie wissen auch, dass man Konflikte nicht ausschließlich durch darüber reden und Belehrung klären kann. Manchmal muss man handeln und eingreifen. Sie berücksichtigt, dass der Betrieb keine Schule ist. Der Lehrtyp ‘Generalisiertes Lehren’ korrespondiert mit dem Lerntyp ‘Habitualisiertes Lehren’. Personen, die, obwohl sie sich kompetent fühlen, immer weiter (aus Konflikten) lernen, tendieren auch dazu, Belehrung in fremden und eigenen Konflikten als politische Strategie einzusetzen. Bei den Vertretern dieser Gruppe geht es um ständiges Lernen und Lehren. Es wird als Antwort auf alle Fragen, Probleme und Konflikte idealisiert. Diese Personen sind leuchtende Beispiele unserer Wissensgesellschaft und des lebenslangen Lernens. So wie Elena: Sie schätzt sich in ihrem Job als Betriebsrat als äußerst kompetent ein, lernt aber ungebremst weiter. Das gleiche erwartet sie aber auch von ihrem Umfeld – auch von KollegInnen fordert sie Höchstleistung ab. Elena belehrt aber nicht plump, sondern bewusst, vielfältig und strategisch. Dadurch streicht sie ihre Professionalität heraus und zwingt andere manchmal auch zu unliebsamen Lernerfahrungen. Zusammenfassend kann man sagen, der Zusammenhang zwischen Lernen und Lehren im Kontext von Konflikten lässt sich auf drei Hauptrichtungen zuspitzen53. Da gibt es die Kombination aus Nicht-Lernen und seltenem unreflektierten Lehren. Leute, die selbst beim Bearbeiten von Konflikten Lernen nicht als Mittel einsetzen (können), haben auch kein Gespür für die Wirkung von Belehrung in Konflikten. Für diese Gruppe sind Lernen und Lehren im Zusammenhang mit der Bearbeitung von Konflikten unwichtig. Zweitens gibt es die Kombination aus dauerndem Lernen und begrenztem, vorsichtigen Belehren. Hier finden wir die Leute, die ein pragmatisches Bild von den Möglichkeiten von Lernen und Lehren in eigenen und fremden Konflikten haben. Lernen und Lehren sind für sie wichtige Mittel der Konfliktbearbeitung. Sie erwarten, dass, wenn jemand defizitär ist, er oder sie an Veränderungen arbeitet. Diese Kombination entspricht weitgehend dem, was in der Ratgeberliteratur zum Umgang mit Konflikten vorausgesetzt wird. Drittens gibt es die Kombination aus eigenem, dauerndem Lernen trotz Kompetenz und dauerndem, strategisch ausgerichteten 53 Neben diesen drei Hauptrichtungen gibt es aber auch eine Anzahl von Fällen, die sich hier nicht einordnen lassen.
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
Belehren. Hier finden eine Idealisierung und Überhöhung von Lernen und Lehren statt. Weil man selber erfolgreich lernt, kann man nicht akzeptieren, dass andere nicht lernen wollen oder nicht lernen können.
5.4.4 Konflikt-, Lern- und Lehrtypen In der Zusammenschau von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen setzt sich das fort, was sich bereits beim Zusammenhang von Lernen und Lehren abgezeichnet hat. Der Lehrtyp ‘Zufälliges Lehren’ korrespondiert nicht nur mit dem Lerntyp ‘Pragmatisches Nicht-Lernen’, sondern auch mit dem Konflikttyp ‘Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis’. Der Lehrtyp ‘Zufälliges Lehren’ kommt gehäuft mit dem Lerntyp ‘Unerfüllte Lernerwartungen’ und auch mit dem Konflikttyp ‘Konflikte als Modus der Welt- und Lebensgestaltung’ vor. Der Lehrtyp ‘Problembestimmtes Lehren’ korrespondiert mit dem Lerntyp ‘Genutzte Lernchancen’ und dem Konflikttyp ‘Konflikte als Ergebnis einer Rolle’. Und der Lehrtyp ‘Generalisiertes Lehren’ korrespondiert mit dem Lerntyp ‘Habitualisiertes Lehren’ und mit dem Konflikttyp ‘Konflikte als Ergebnis einer Rolle’ (vgl. Abbildung 35). Die individuellen Deutungen von Konflikten sind vielfältig. Aber es lassen sich auch komplexere Muster erkennen. Wenn man etwas über die Bedeutung von Lernen und Lehren im Zusammenhang mit Konflikten sagen will, macht es Sinn, sich die individuelle Konfliktdeutung der beteiligten Akteure anzuschauen. Deutet jemand seinen Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis, kann erwartet werden, dass Lernen und Lehren im Zusammenhang mit der Konfliktbearbeitung für ihn eher unbedeutsam sind. Auch eine ausgeweitete Konfliktsicht auf die Welt und das eigene Leben (‘Konflikt im Modus der Welt- und Lebensbetrachtung’), fallen häufig mit einer geringen Bedeutung von Lernen und Lehren zusammen. Für Personen, die ihre Konflikte als Ergebnis ihrer beruflichen und betrieblichen Rolle interpretieren, ist Lernen und Lehren im Kontext von Konflikten dagegen immer wichtig. Durch diese mehrdimensionale Typenbildung wird deutlich, dass betriebliche Konflikte nur unter bestimmten Bedingungen zu echten LehrLernarrangement werden können. Konflikte müssen begrenzt sein (als begrenzt empfunden werden) und die Akteure müssen sie als Teil ihrer beruflichbetrieblichen Rolle interpretieren können. Dann können die Konfliktparteien aus ihren Erfahrungen lernen und die Teammitglieder können sich gegenseitig beim Lernen unterstützen, auch indem Kollegen, Vorgesetzte und Betriebsräte als pädagogisch motivierte Vermittler herangezogen werden bzw. sich einschalten.
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Zusammenhänge zwischen Konflikt-, Lehr- und Lerntypen
Abbildung 35: Gesamtüberblick über den Zusammenhang zwischen Konflikt-, Lern- und Lehrtypen Konflikttypen
Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis
Konflikte als Ergebnis einer Rolle
Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung
Lehrtypen
Problembestimmtes Lehren Generalisiertes Lehren Erwartungsfreies Nicht-Lehren Zufälliges Lehren
Selbsternannte Pädagogen Problembestimmtes Lehren Generalisiertes Lehren Erwartungsfreies Nicht-Lehren Zufälliges Lehren Selbsternannte Pädagogen Problembestimmtes Lehren Generalisiertes Lehren Erwartungsfreies Nicht-Lehren Zufälliges Lehren Selbsternannte Pädagogen
Pragmatisches NichtLernen
SeminarLernen
Lerntypen HabituaUnerfüllte lisiertes LernerLernen wartungen
Genutzte Lernchancen
Beate Rolf, Josef, Max, Christine
Rico, Carmen, Olga Jens
Nils
Elena, Bärbel Dorit Anita
Ilse
Kassandra
Paul, Rita, Anna
Isolde
Cora
Durch in allen Bereichen immer wiederkehrende, als zu massiv und bedrohlich empfundene Konflikte, die die Konfliktparteien als Individuum und nicht als Rollenträger berühren, wird Lernen und Lehren erschwert bis verhindert. Wenige erfahrene Konfliktstrategen (wie Elena und Bärbel mit Coaching- und Mediati-
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
onsausbildung) können auch unter solch erschwerten Bedingungen die Konfliktsituationen als Lehr-Lernarrangement nutzen. Die meisten Konfliktbetroffenen wie Intervenierenden sind hier allerdings überfordert. Sie lernen nicht, weil sie sich persönlich massiv bedroht fühlen. Und sie belehren aggressiv, um sich als Person zu schützen. Doch nicht nur Überforderung durch ständige Konflikte kann Lernen und Lehren verhindern, sondern auch das Fehlen jeglicher Streitkultur. Das bedeutet, es gibt langjährige erfahrene Mitarbeiter, die in gewohnten, störungsarmen Zeiten gute Arbeit machen, aber in Krisenzeiten schnell von den Unsicherheiten, Reibereien und Abgrenzungs- und Verteilungskonflikten überfordert sind. Da sie keine Erfahrungen mit schwierigen Situationen haben und den Betrieb lediglich unter Arbeitsgesichtpunkten betrachten, fehlt ihnen unter solch erschwerter Bedingungen die Sensibilität für die Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen gemeinschaftlichen Lernens und gegenseitigen Unterstützen und Belehrens. Für offizielle, betriebliche Pädagogen und die Personalverantwortlichen ergibt sich daraus zunächst die Bestätigung, dass im betrieblichen Alltag aus Konflikten grundsätzlich gelernt werden kann. Bei einigen Mitarbeitern und Vorgesetzten muss aber, um das in die Praxis umzusetzen, zunächst das Bewusstsein wachsen, dass Konflikte manchmal unvermeidbar und manchmal auch gewollt sind – und, dass viele Konflikte durch individuelle und gemeinsame LehrLernanstrengungen behoben werden können und sollen. In die Verantwortung von Vorgesetzten, Personalern und betrieblichen Pädagogen fällt es dabei, sich um eine angemessene Lernumgebung zu kümmern. Nur wenn Konflikte auch tatsächlich beherrschbar sind, können Mitarbeiter und Teams sie auch bewältigen und daraus lernen. Nur wenn man Mitarbeiter mit den notwendigen Kompetenzen ausstattet und ihnen Handlungsfreiräumen zugesteht, kann sich eine Streitkultur in Form einer Lern-Lehrkultur etablieren. Es gibt, und auch das ist ein Ergebnis dieser Studie, trotz der weit reichenden Pädagogisierung der betrieblichen Lebensbereiche nach wie vor Ausschnitte, in denen Lernen und Lehren keine Bedeutung haben. Grundsätzlich auf Lernen und Lehren bezogen, muss man festhalten, Konflikte sind nicht per se gut oder schlecht für Lernprozesse. Sie können unter bestimmten Bedingungen Lernen und Lehren provozieren. Es kann aber auch unüberwindbaren Lernbarrieren geben.
Die Bedeutung von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen für Intervenierende und Betroffene
315
5.5 Die Bedeutung von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen für Intervenierende und Betroffene Ausgangspunkt dieser Arbeit war, dass sich für Intervenierende und Betroffene die Bedeutung von Lernen und Lehren in Konflikten unterscheidet. Es wurde angenommen, dass die Betroffenen durch ihre Konflikte lernen, während die Intervenierenden Lehren als Mittel in ihren Interventionsbemühungen nutzen. Diese Grundannahme wurde im Laufe des Forschungsprozesses durch den empirischen Befund zurückgedrängt, die Konflikttypen seien dafür ausschlaggebend, ob und wie im Zusammenhang mit Konflikten gelernt und gelehrt wird. Im letzten Schritt soll jetzt zur Ausgangshypothese zurückgeführt werden, indem gefragt wird: Welche Bedeutung haben die Befunde für die konfliktbezogenen, betrieblichen Gruppen Intervenierende und Betroffene? Wie stellt sich die Bedeutung von Konflikten, Lernen und Lehren in den beiden Gruppen dar? Wie unterscheiden sich Konfliktbetroffene und Intervenierende? (vgl. dazu auch Abbildung 36) Betrachtet man die Konflikttypen, lässt sich feststellen, dass es die individuellen Deutungen ‘Konflikte als Ergebnis einer Rolle’ und ‘Konflikte im Modus der Welt- und Lebensbetrachtung’ sowohl in der Betroffenen- wie in der Intervenierendengruppe gibt. Der dritte Konflikttypus konnte ausschließlich in der Betroffenengruppe gefunden werden. Bei den Intervenierenden gibt es niemanden, der nur von einem einzigen Konflikt erzählt. Es scheint auch unmittelbar logisch, dass Intervenierende über ein gewisses Maß an Konflikterfahrungen verfügen. Konfliktmoderator wird man nicht (allein) durch theoretische Ausbildungen, sondern durch mehr oder weniger gelungene eigene Interventionen. Lediglich bei Personen, die noch keine betriebliche Praxis haben und die, vielleicht in Anschluss an ein Studium gerade eine Mediationsausbildung abgeschlossen habe, wäre die Kombination ‘Konflikt als einmaliges, schicksalhaftes Ereignis’ und Intervenierender theoretisch denkbar. In der Praxis gilt: Zum Intervenierenden wird man dadurch, dass man auf reale Konflikterfahrungen verweisen kann. In den Betrieben werden Personen als Intervenierende hinzugezogen, die bereits positiv in Konflikten aufgefallen sind. Bezogen auf die Verteilung der Lerntypen innerhalb der Betroffenen bzw. der Intervenierendengruppe (vgl. die Abbildungen 28 und 36) lässt sich erkennen, dass allen Lerntypen sowohl Personen aus der Intervenierenden- als auch der Betroffenengruppe zugeordnet werden konnten. Lediglich in der Gruppe ‘Pragmatisches Nicht-Lernen’ befinden sich ausschließlich Betroffene. Diese Personen sind aber alle der Konfliktgruppe ‘Konflikt als einmaliges, schicksalhaftes Ereignis’ zugeordnet. Der Lerntyp ‘Pragmatisches Nicht-Lernen’ ist also stark an den Konflikttyp ‘Konflikt als einmaliges, schicksalhaftes Ereignis’ ge-
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
bunden. Da der Konflikttyp in der Intervenierendengruppe nicht vorkommt, verwundert es nicht, dass auch der korrespondierende Lerntyp fehlt.
Abbildung 36: Konflikt-, Lern- und Lehrtypen bei Betroffenen und Intervenierenden
Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis
Betroffene Name
Lernen
Lehren
Rolf
Pragmatisches Nicht-Lernen Pragmatisches Nicht-Lernen Pragmatisches Nicht-Lernen Unerfüllte Lernerwartungen Pragmatisches Nicht-Lernen Seminar-Lernen
Zufälliges Lehren Zufälliges Lehren Zufälliges Lehren Erwartungsfreies Nicht-Lehren
Habitualisiertes Lernen Genutzte Lernchancen
Generalisiertes Lehre Problembestimmtes Lehren
Chris tine Max Beate
Josef
K. als Modus der Welt- und Lebensbe-
Konflikte als Ergebnis einer Rolle
Dorit
Bärbel Olga
Zufälliges Lehren Erwartungsfreies Nicht-Lehren
Name
Nils
SeminarLernen
Elena Anita Jens
Habitualisiertes Lernen SeminarLernen Genutzte Lernchancen Genutzte Lernchancen
Car men
Kassandra Isolde Rita Anna
Intervenierende Lernen Lehren
Rico
Genutzte Lernchancen Unerfüllte Lernerwartungen Habitualisiertes Lernen Habitualisiertes Lernen
Unerfüllte Lernerwartungen
Generalisiertes Lehre
Paul
Genutzte Lernchancen Unerfüllte Lernerwartungen Unerfüllte Lernerwartungen
Zufälliges Lehren Zufälliges Lehren Zufälliges Lehren
Ilse Cora
Problembestimmtes Lehren Generalisiertes Lehre Zufälliges Lehren Generalisiertes Lehre Problembestimmtes Lehren Problembestimmtes Lehren Zufälliges Lehren Generalisiertes Lehre Selbsternannte Pädagogen
Die Bedeutung von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen für Intervenierende und Betroffene
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Vergleicht man, wie viel in beiden Gruppen grundsätzlich gelernt wird, kann man feststellen, dass in der Betroffenengruppe – entgegen der Grundannahme der Arbeit – am häufigsten ‘selten’ gelernt wird. ‘Begrenzt’ taucht nur einmal auf, ‘dauernd’ immerhin dreimal. Bei der Intervenierendengruppe zeigt sich ein ganz anderes Bild. Auch hier reicht die Spannweite von ‘selten’ bis ‘dauernd’ – allerdings mit einer klaren Dominanz von dauerndem Lernen in Konflikten. Auf die betriebliche Gruppe der Intervenierenden bezogen kann man sagen, um im Betrieb als Intervenierender anerkannt zu sein, muss man sich zum Lernen bekennen und auf Lernen einlassen. Mitarbeiter wollen wissende, kompetente Intervenierende. Zum Intervenierenden werden, stellt somit eine Form der betrieblichen Professionalisierung dar. Beim Vergleich der Lehrtypen, die in der Betroffenen- und in der Intervenierendengruppe zu finden sind (vgl. Abbildungen 36 und 30), fällt zunächst auf, dass sich die beiden Gruppen dann nicht unterscheiden, wenn man nur die Personen betrachtet, die ein Mandat zum Intervenieren in Konflikten haben. Der ‘Alternative zum Lehren’ konnte kein Interview zugeordnet werden, bei ‘Problembestimmtes Lehren’ und ‘Generalisiertes Lehren’ gibt es jeweils sowohl Vertreter aus der Intervenierenden- wie der Betroffenengruppe. Auch beim ‘Zufälligen Lehren’ (kein Mandat) finden sich beide Gruppen vertreten. Bei den beiden anderen Lehrtypen der Nicht-Mandat-Träger gibt es allerdings Unterschiede. Den ‘Selbsternannten Pädagogen’ findet man lediglich in der Intervenierendengruppe, den Lehrtypus ‘Erwartungsfreies Nicht-Lehren’ lediglich bei den Betroffenen. Bereits bei der Charakterisierung der Typen wurde gemutmaßt, dass in einer allseits entgrenzten Wissensgesellschaft, Intervenieren ohne jegliches Lehren nicht mehr möglich sein könnte. Hier kann man die Nähe zum Konflikttyp ‘Konflikt als einmaliges, schicksalhaftes Ereignis’ nicht heranziehen, weil Dorit dieser Gruppe nicht angehört. Bezogen auf das Lehren ist der Zusammenhang zu den Konflikttypen allerdings auch weniger eng. Betrachtet man statt der Konflikttypen, wie intensiv im Zusammenhang mit Konflikten gelehrt wird (gar nicht, begrenzt, dauernd), kann man feststellen, die Einschätzung reicht für die Betroffenengruppe von ‘gar nicht’ bis ‘dauernd’ – mit einer Häufung bei ‘begrenzt’. Für die Intervenierendengruppe gilt: Die Einschätzungen beschränken sich auf ‘begrenzt’ und ‘dauernd’, wobei beide ungefähr gleich häufig vorkommen. In Bezug auf den Zusammenhang zwischen Zugehörigkeit zur Intervenierenden- und Betroffenengruppe und dem Thema Lehren kann man somit auch einen Zusammenhang erkennen. In der Intervenierendengruppe hat Lehren eine größere Bedeutung als in der Betroffenengruppe. Den ‘Selbsternannten Pädagogen’, der dauernd lehrt, obwohl er oder sie kein Mandat hat, ist eindeutig ein ‘Intervenierendenphänomen’. Im Gegenzug können es sich nur überzeugte Be-
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Das erweiterte Spektrum von Konflikt-, Lern- und Lehrtypen
troffene leisten, mit ‘Erwartungsfreiem Nicht-Lehren’ im eigenen Konflikt zu agieren. Zusammenfassend kann man sagen, durch diese Schlussbetrachtung konnte nochmals gezeigt werden, dass die Grundannahme – bei Betroffenen würde verstärkt Lernen und bei Intervenierenden verstärkt Lehren auftauchen – so nicht haltbar ist. Entgegen der Grundannahme muss man feststellen, dass Intervenierende sowohl beim Lernen, als auch beim Lehren ‘die Nase vorn haben’. Es überrascht, wie wenige Personen, die sich als Betroffene von Arbeitplatzkonflikten begreifen, aus ihren eigenen Konflikten tatsächlich lernen (können). Die Ergebnisse zeigen auch die Bedeutung von Nicht-Lernen und Nicht-Lehren in der Gruppe der Konfliktbetroffenen. Der Konflikttypus ‘Konflikt als einmaliges, schicksalhaftes Ereignis’ und der korrespondierende Lerntypus ‘Pragmatisches Nicht-Lernen’ kommen nur bei der Betroffenengruppe vor – ebenso der Lehrtypus ‘Erwartungsfreiens Nicht-Lehren’. Der Lehrtyp ‘Selbsternannten Pädagogen’ kommt dagegen nicht vor. Was bedeuten nun diese Feststellungen? Es gehört auch heute nicht zum Selbstverständnis von Konfliktbetroffenen, die Konfliktklärungen selbst voranzutreiben und aus diesen Erfahrungen zu lernen. Für Intervenierende ist es dagegen durchaus üblich, Lehren als Mittel der Intervention einzusetzen. Da aber Konfliktmanagement immer die Gefahr des Scheiterns in sich trägt, müssen und können Intervenierende aus den umfänglichen, auch einmal misslungenen Interventionen auch selber lernen. Das festigt ihre Position und treibt ihre Professionalisierung voran.
Dritter Teil: Die Betriebsräte und ihre besonderen Konflikte
1 Orientierungen beim Umgang mit Konflikten
Im folgenden dritten Teil soll die Gruppe der Betriebsräte im Gesamtsample noch einmal speziell in den Fokus gerückt werden. Die betrieblichen Arbeitnehmervertreter stehen für eine lehr-lernbezogene Spezifizierung von Konflikterfahrungen durch eine Mitarbeitergruppe, die aufgrund ihres speziellen Tätigkeitsprofils in besonderer Weise mit Konflikten zu tun hat. Betriebsräte sind aufgrund ihres Ehrenamtes grundsätzlich sowohl Intervenierende als auch Konfliktbetroffene. Nach den Vorgaben des Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) muss der Betriebsrat (als Gremium) sich der Belange der Arbeitnehmer annehmen und Maßnahmen im Sinne der Arbeitnehmer beim Arbeitgeber beantragen und deren Anregungen aufgreifen. Er hat auch darüber zu wachen, dass die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Normen durchgeführt werden. Weil der Betriebsrat, auch ohne konkrete Beschwerde aus der Belegschaft, Konflikte mit dem Arbeitgeber initiieren und austragen muss, ist das Gremium (und im Besonderen der/ die Vorsitzende als Sprachrohr des Gremiums) immer Konfliktbetroffener. Und wenn Arbeitnehmer sich bei ihm (z.B. weil es Konflikte an ihrem Arbeitsplatz gibt) beschweren, hat das Gremium den Beschwerden nachzugehen. Daraus ergibt sich seine Stellung als potentiell Intervenierender. Betriebsräte werden in der Regel im betrieblichen Konfliktsystem auf der Intervenierendenseite eingeordnet (vgl. Nils, Elena, Jens, Cora, Carmen, Anita, Paul, Ilse). Es gibt aber auch Beispiele (vgl. Kassandra) für eine betriebliche Einordnung von Betriebsräten in die Gruppe der Betroffenen. Wenn die von mir befragten Betriebsräte von Konflikten erzählen, handelt es sich um Konflikte mit dem Arbeitgeber, um Konflikte im eigenen Gremium mit den Betriebsratskollegen, um Konflikte von KollegInnen und/ oder um eigene Konflikte. Keiner der Betriebsräte geht auf alle möglichen Konfliktkonstellationen in gleicher Weise ein. Vielmehr sind Muster zu erkennen, durch die die Betriebsräte in drei Gruppen auseinander fallen. Zusätzlich zur Einordnung ins betriebliche Konfliktsystem und zur Unterteilung in drei unterschiedliche Konflikttypen, kommt durch die getrennte Betrachtung der Betriebsräte ein weiterer wichtiger Aspekt – die grundlegende (berufliche) Orientierung in Bezug auf den Umgang mit Konflikten – hinzu. Man muss zusätzlich noch zwischen Gruppen unterscheiden, deren Umgang mit Konflikten durch eine politische Orientierung,
M. Niebuhr, Konflikte im Betrieb, DOI 10.1007/978-3-531-92696-4_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Orientierungen beim Umgang mit Konflikten
durch eine Orientierung an den Mitarbeitern oder eine Orientierung an sich Selbst geprägt ist.
1.1 Politische Orientierung In meiner Studie konnte ich eine Gruppe von Betriebsratsmitgliedern identifizieren, die sich durch eine politische Orientierung beim Umgang mit Konflikten auszeichnet. Für sie sind, gemäß dem Betriebsverfassungsgesetz, Konflikte mit dem Arbeitgeber ein selbstverständlicher Teil ihrer Arbeit als Betriebsrat. Elena, Nils, Jens und Olga sind Betriebsratsvorsitzende bzw. stellvertretende Vorsitzende und erzählen viel von solchen Konflikten. Sie erwarten auch vom Arbeitgeber, dass der sich mit ihnen um die beste Lösung streitet. Wenn aber, wie im Fall Elena der Arbeitgeber die Konflikte persönlich nimmt und versucht, einzelne lästige Betriebsräte durch persönliche Angriffe aus dem Betrieb zu drängen, begehen diese Arbeitgeber einen Tabubruch und zeigen, dass sie nicht bereit sind, sich an die gesetzlichen Regeln zu halten – sich also fair mit dem Betriebsrat zu streiten. Elena unterstellt der Geschäftsleitung, sie wolle den gesamten Betriebsrat beschädigen und das System der betrieblichen Mitbestimmung aushebeln. Bei der politischen Orientierung geht es um Macht. Jens erklärt, die Macht des Betriebsrats gegenüber dem Arbeitgeber sei gut und wichtig, um Verbesserungen für die Belegschaft zu erreichen. Ohnmacht dagegen sei oft schwer auszuhalten. Olga leidet noch heute darunter, dass sie als Betriebsrätin die ungesunde strategische Ausrichtung des Unternehmens, die schließlich zur Insolvenz führte zwar sehen, in ihrer Position aber nicht beeinflussen konnte. Da könnte man jetzt ja fordern: Wenn ihr Unternehmen lenken wollt, solltet ihr Manager und nicht Betriebsräte werden. Doch dieser Weg ist für solche Betriebsräte meist nicht vorstellbar, weil sie gegen ihre Überzeugung handeln müssten. Elena beschreibt es wie folgt: „Für mich hat Betriebsratsarbeit viel mit Gerechtigkeit zu tun. Innerhalb der Machtverhältnisse. Und man wirft mir immer vor, ich hätte so Machtgelüste. Das stimmt auch. Aber ganz anders als die das meinen. Ich möchte einfach, dass die Kolleginnen und Kollegen mehr Macht haben.[ I.: Was ist die Grundlage für deine Machtgelüste?] Dass ich finde, dass die Menschen, die nichts weiter haben als ihr Know-how, ihre Arbeit, die sie hier bieten. Die Arbeit ist ein ganz wichtiger Faktor und Zeitfaktor in deinem Leben. Und ich finde es ganz wichtig, dass man eine Arbeit hat, die einem Spaß macht, wo man sich engagieren kann, wo man auch Freiräume hat um sich ausleben zu können. Und diese Menschen sind alle älter als dreimal sieben, bestreiten in ihrem täglichen Leben x Konflikte, müssen x wichtige Entscheidungen treffen, erziehen Kinder - und sollen keinen Einfluss haben auf einen Großteil ihres Lebens nämlich des Arbeitslebens. Da sitzen da oben welche am grünen Tisch und bestimmen, was da unten. Die da unten tragen die Konsequenzen. Das finde ich einfach nicht richtig. Ich finde, dass diese Menschen, wir alle, mehr beteiligt werden müssen. Weil es auch uns persönlich, unser Leben
Politische Orientierung
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betrifft. Und das ist eigentlich so meine Triebfeder. Und deshalb möchte ich denen gerne etwas Macht beschneiden. Wenn ich das könnte, täte ich das. Da bin ich ganz ehrlich. Ich will kein Geschäftsführer sein. Dann wäre ich nicht Betriebsrätin geworden. Diese Machtgelüste kann man mir nicht nachsagen. Wenn ich Karriere hätte machen wollen, dann hätte ich das versucht. Aber ich bin bewusst Betriebsrätin geworden. Das hat für mich. Also kein persönliches Machtgelüste, aber. Ich möchte deren Macht da oben schon gerne beschneiden und uns allen mehr Macht geben, dass wir mehr mitreden können, Einfluss nehmen können. Nicht alles bestimmen das überhaupt nicht, weil die haben ja auch ein Know-how das wir nicht haben. Aber dass sehr wohl unsere Dinge da wesentlich stärker einfließen als sie es tun. Das ist so meine Wunschvorstellung. […] Dass die Denkstrukturen anders werden.“ (15:46-16:22)
Die Betriebsräte mit einer politischen Orientierung beim Umgang mit Konflikten berichten allesamt auch von Konflikten im eigenen Gremium. Jens, Elena und Olga nennen als Gründe für Gremiumskonflikte die Durchsetzung des eigenen Führungsanspruchs. Elena und Nils erzählen außerdem von ihren Schwierigkeiten bei der Integration von neuen Betriebsratsmitgliedern. Jens berichtet von Konflikten durch die Weigerung des Gremiums, sich auf Teamlernen einzulassen. Für die Betriebsräte in Führungsfunktionen (Elena, Nils, Jens, Olga) hängen die Konflikte mit ihrem Führungsanspruch und den konkreten Führungserfahrungen zusammen. Sie haben Macht, nutzen sie und wollen sie auch behalten. Die Konflikte ihrer KolleInnen betreffend beschreiben hauptsächlich Nils, Elena und Jens, (aber auch Olga) sehr ausführlich eine vorausschauende Konfliktbearbeitung. Nils geht besonders auf die strukturellen Instrumente der Konfliktaustragung durch Mitarbeiter- und Leistungsbeurteilungsgespräche ein. Bereits bei der Zustimmung des Betriebsrats zur Einführung solcher Gespräche scheint dem Betriebsrat klar gewesen zu sein, dass es hier verstärkt zu Meinungsverschiedenheiten zwischen beurteiltem Mitarbeiter und seinen Vorgesetzten kommen kann. So vereinbarten sie schriftlich für Streitfälle entsprechende Schichtungsinstanzen. Elena setzt sich für die Professionalisierung der betrieblichen Konfliktbearbeitung ein, indem sie sich für das Hinzuziehen von Mediatoren und Teamtrainern stark macht. Jens verhandelte mit dem Arbeitgeber erfolgreich eine Betriebsvereinbarung zum ‘Partnerschaftlichen Verhalten am Arbeitsplatz’. Hier sind ein mehrstufiges Konfliktlöseverfahren und das bedarfsabhängige Hinzuziehen eines externen Experten fest vereinbart. Konkrete Konflikte sollen also gelöst werden, indem diese strukturellen Instrumente eingesetzt werden. Olga scheitert bei ihren ersten Erfahrungen als Betriebsrätin daran, dass sie sich an den Regeln innerhalb des Gremiums – wer sich wie bei der Intervention einmischen darf – nicht hält. Die restlichen Betriebsratsmitglieder werfen ihr die Gefährdung des Gremiums vor. Für die Betriebsräte mit einer politischen Orientierung beim Umgang mit Konflikten ist das Intervenieren in Konflikten immer ein politisches Thema. Sie nutzen ihre Machtposition, um mit dem Arbeitgeber verbindliche Absprachen zu
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Orientierungen beim Umgang mit Konflikten
treffen, auf die die Mitarbeiter dann auch einen Rechtsanspruch haben. Sie erwarten aber auch, dass die Gremiumsmitglieder sich an Regeln halten. Sie haben auch bei den Konflikten der Kolleginnen und Kollegen nicht (nur) den Einzelfall vor Augen. Sie sehen ein immer komplexer werdendes, betriebliches System mit wechselnden Geschäftsführern und wechselnden Unternehmensideen. Sie versuchen in einer Zeit des Wandels, einforderbare Sicherheiten für die wichtiger werdende Konfliktbearbeitung zu schaffen. Diese Betriebsräte haben eine herausgehobene Stellung im betrieblichen Konfliktsystem, aber auch in ihren BR-Gremien. Sie bekleiden Vorsitzendenämter und sind oft von der eigentlichen Arbeit freigestellt, d.h. sie sind überhaupt nicht mehr in die betriebliche Hierarchie integriert, sie sind ‘Berufsbetriebsräte’. Alle Betriebsräte mit einer politischen Orientierung beim Umgang mit Konflikten sind hier dem Konflikttypus ‘Konflikte als Ergebnis einer Rolle’ zuzuordnen. Ihre politische Orientierung beim Umgang mit Konflikten ergibt sich also aus dem Verständnis einer (professionellen) betriebspolitischen Rolle.
1.2 Orientierung an anderen Mitarbeitern/ Kollegen Anders als die Gruppe vorher, berichten Carmen, Anita, Ilse und Cora immer von Einzelfällen, von konkreten Konflikten ihrer Kolleginnen und Kollegen, in denen sie intervenieren. Während die freigestellte Betriebsrätin Carmen die Konflikte aus ihrer Perspektive als Betriebsrätin erzählt, etikettieren sich die anderen drei Frauen in ihren Konflikterzählungen als Kolleginnen. Ilse als offizielle Chefin und Cora und Anita als informelle Führungskräfte könnten ihr Intervenieren in fremden Konflikten entweder aus ihrer betrieblichen oder alternativ aus ihrer betriebsrätlichen (Führungs-)Rolle ableiten. Sie nutzen hier eine Doppelstrategie. Sie zeigen durch ihre Mitgliedschaft im Betriebsrat, dass sie sich grundsätzlich für Arbeitnehmerinteressen stark machen. Sie greifen aber nicht auf die umfangreichen Mittel aus der Betriebsverfassung zurück. Indem sie sich aber nicht weit reichender politisch positionieren (also auch nicht wie die Gruppe vorher von Einzelfällen auf Systemprobleme schließen), sind sie auch für ihre Vorgesetzten als Konfliktmoderatoren interessant. So wird z.B. Anita von ihrem Chef aufgefordert, sich in einen Konflikt einzumischen. Auch Cora arbeitet bei dem Internetmissbrauchsfall eng mit ihrer Vorgesetzten zusammen. Aber auch die Mitarbeiter können sich für ihre Konflikte überlegen, ob sie diese Personen als Kolleginnen bzw. Chefin oder als Betriebsrätinnen ansprechen. In Abgrenzung zu den politisch orientierten Betriebsräten, die immer erst Betriebsrat und dann Mitarbeiter sind, finden wir hier Betriebsräte mit einer Orientierung an den Mitarbeitern/ Kollegen beim Umgang mit Konflikten. Sie bleiben trotz Ehrenamt in der
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betrieblichen Hierarchie integriert. Dafür verzichten sie auch auf den Einsatz von betriebsverfassungsrechtlichen Machtmitteln. Sie überlassen ihren Führungspersonen im Gremium den politischen Teil der Arbeit (deshalb haben sie auch keine Konflikte mit dem Arbeitgeber) und konzentrieren sich selber auf den sozialen. Ihr eigentlicher Job als nicht-freigestellter Betriebsrat ohne Führungsaufgabe im Gremium ist es, persönlich in die Konflikte anderer einzugreifen. Da Cora, Anita und Ilse mit dieser Rolle zufrieden sind und scheinbar auch von ihren Gremien dafür geschätzt werden, erleben sie ihre Gremien als überwiegend harmonisch (auch hier eher keine Konflikte). Nur Carmen ist nicht mehr in die betriebliche Hierarchie integriert. Durch die Freistellung (in einem großen Gremium) gehört sie mit den politisch orientierten Betriebsräten in ein gemeinsames Freigestellten-Team. Sie beklagt die politischen Intrigen und Konflikte in ihrem Gremium, obwohl sie ursprünglich selbst durch Politik ins Gremium kam54. Sie hat die professionelle Bearbeitung von Konflikten anderer für sich als Nische gefunden. Wenn sie sich einschaltet, geschieht dies immer klar als Betriebsrätin. Aber sie verzichtet darauf, Fälle als offizielle Beschwerden zu bearbeiten. Stattdessen führt sie informelle Gespräche und betreibt Pendeldiplomatie. Sie verbirgt damit ihre potentiellen Machtmittel als Betriebsrätin, erscheint mehr als Kollegin, denn als Arbeitnehmervertreterin. Die Stellung dieser Gruppe von Betriebsräten im betrieblichen Konfliktsystem ist dadurch gekennzeichnet, dass sie, trotzdem sie Betriebsräte sind, in die betriebliche Hierarchie eingegliedert bleiben. Sie handeln nicht als Betriebsräte sondern als besondere Mitarbeiter. Anita und Carmen sind dem Konflikttypus ‘Konflikte als Ergebnis einer Rolle’ zuzuordnen. Ilse und Cora gehören zu ‘Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung’. Die Orientierung an den Mitarbeitern und Kollegen fällt also sowohl mit einem stark berufsbezogenen, eingegrenzten Konfliktverständnis als auch mit einer sehr weit gefassten Konfliktperspektive zusammen.
1.3 Orientierung an sich Selbst Wenn Kassandra und Paul sich mit Konflikten beschäftigen, geht es ihnen immer die Verfolgung eigener Interessen. Sie zeichnen sich bei ihrem Umgang mit Konflikten durch ihre Orientierung an sich Selbst aus. Obwohl sie Betriebsräte sind – Kassandra ist ja sogar Betriebsratsvorsitzende – zeigen sie sich nicht als Intervenierende in den Konflikten von Kolleginnen und Kollegen.
54
gl. eigene Liste, Kampfkandidatur
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Orientierungen beim Umgang mit Konflikten
Bei ihnen stehen ihre eigenen Schwierigkeiten mit ihren direkten Vorgesetzten absolut im Vordergrund. Kassandra hält soziale Konflikte grundsätzlich für unlösbar. Man könne höchstens durch quasi-private Gespräche ‘Pflaster kleben’. Sie hat ein relativ gutes Verhältnis zum Geschäftsführer ihres Familienbetriebs. Wenn die Mitarbeiter mit dem Arbeitgeber im Streit liegen, weil sie sich gegen Mehrarbeit verweigern, schlägt Kassandra sich auf die Seite des Arbeitgebers und wirft den Kollegen Unflexibilität und fehlende Ernsthaftigkeit vor. Eigentlich muss man sagen, sie kommt weder ihren Aufgaben als Betriebsrätin, noch als Betriebsratsvorsitzende nach. Statt die Kollegen gegenüber dem Arbeitgeber zu vertreten, vertritt sie den Arbeitgeber gegenüber der Belegschaft. Auch Paul interessiert sich ausschließlich für seine eigenen Schwierigkeiten. Er hat während seiner gesamten Berufstätigkeit immer wieder Konflikte – mit dem früheren Abteilungsleiter, mit dem aktuellen Gruppenleiter, mit dem Teilgruppenleiter und mit den BR-Kollegen. Durch seinen Vorsitz und seine Aktivitäten im Mobbingausschuss will er sein Ansehen im Betriebsrat stärken und an seinen Chef ein Signal senden („Ich bin der Experte - nicht Sie!“). Seine direkten Kollegen ermutigt er, sich erneut beim Betriebsratsgremium (d.h. beim Vorsitzenden) über den gemeinsamen Chef zu beschweren, als er feststellt, dass das Interesse des Gremiums an den Konflikten in seiner Abteilung erlischt. Damit steht sein Vorgesetzter, mit dem er persönlich die Konflikte hat, wieder unter verstärkter Beobachtung. Diese beiden Betriebsräte mit einer ausschließlichen Orientierung an sich Selbst sind bezüglich ihrer Stellung im Konfliktsystem unterschiedlich zuzuordnen. Kassandra präsentiert sich mit ihren lautstark kommunizierten Vorwürfen des Mobbings und der sexuellen Belästigung öffentlich als Mobbingbetroffene und stellt auf der Ebene des Interviews auch das Betroffensein in den Vordergrund. Paul erscheint als Vorsitzender des Mobbingausschusses zunächst als Intervenierender, präsentiert aber im Interview ausschließlich sein Betroffensein. Beide sind dem Konflikttypus ‘Konflikte als Modus der Welt und Lebensbetrachtung’ zuzuordnen. Ihre Orientierung beim Umgang mit den eigenen Konflikten ergibt sich also aus der Überzeugung, dass es überall viele unlösbare Probleme und Konflikte gibt und sie deshalb, obwohl sie Betriebsräte sind, immer persönlich betroffen sind. Zusammenfassend kann man sagen: Da gibt es die politisch orientierten Betriebsräte, die als Einzige von den Konflikten zwischen Arbeitgeber und betrieblicher Interessensvertretung erzählen. Die Personen, die zu dieser Gruppe gehören, sind eher Führungspersonen in den BR-Gremien – also Vorsitzende bzw. stellvertretende Vorsitzende. Sie haben akzeptiert, dass Betriebsratsein bedeutet, im Dauerkonflikt zu stehen. Neben Konflikten mit der Geschäftsleitung, thematisieren sie auch Konflikte innerhalb des Gremiums, in denen es darum geht, neue
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Betriebsratsmitglieder zu integrieren, Führung zu übernehmen und den Kollegen im Gremium politisches Denken näher zu bringen. Wenn sie vom Intervenieren in Konflikten der Mitarbeiter berichten, haben sie immer das große Ganze im Blick. Ziel all ihrer Konfliktaustragungen ist es, die Konflikte zu pflegen und zu beherrschen. Da gibt es außerdem die an den Konflikten der Mitarbeiter/ Kollegen orientierten Betriebsräte, die den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf das Intervenieren in den Konflikten der Kolleginnen und Kollegen legen. Eigene Konflikte versuchen sie zu vermeiden bzw. unsichtbar zu machen. Diese Betriebsräte sind keine Galionsfiguren innerhalb ihrer BR-Gremien. Sie sind eher in die betriebliche Hierarchie ihres Arbeitsplatzes eingegliedert, also auch eher nicht freigestellt. Sie lösen Konflikte als wären sie überhaupt keine Betriebsräte. Sie stehen für die Institutionalisierung und Professionalisierung von Intervenieren. Ziel all ihrer Konfliktaustragungen ist es, die Konflikte zu beseitigen, sie endgültig zu lösen. Die letzte Gruppe, das sind die Betriebsräte, die eine Orientierung an sich Selbst haben. Bei ihnen tauchen Konflikte nur als eigene, sie persönlich bedrohende Ereignisse auf. Diese Gruppe denkt weder politisch noch an andere KollegInnen und Mitarbeiter. Sie nutzt ihr Betriebsratsamt, um ihre persönlichen Interessen zu vertreten, um sich ihren eigenen Konflikten/ den Konfliktgegnern/ ihren Chefs besser entziehen zu können. Ihr oberstes Ziel ist es, beruflich und persönlich eine sichere, konfliktfreie Position im Unternehmen zu finden. Sollten sie die gefunden haben, könnten sie ihr Ehrenamt auch aufgeben, weil sie es dann nicht mehr als Machtmittel in den eigenen Konflikten bräuchten.
2 Wie Betriebsräte aus ihren Konflikten lernen
2.1 Bildung durch Konflikte Die vier politisch orientierten Betriebsräte Olga, Jens, Nils und Elena haben besonders durch Konflikte mit dem Arbeitgeber und durch Teamkonflikte im Betriebsratgremium gelernt. Bereits als Olga zum ersten Mal in ein BRGremium gewählt wird, erlebt sie massive Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber. So lernt sie von einem erfahrenen Gremium, unterstützt durch die entsprechenden Seminare, dass es einen grundsätzlichen Interessenskonflikt zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat gibt. Hier wird ihre politische und gewerkschaftlich orientierte Ausrichtung als Betriebsrat grundgelegt. Doch sie macht Fehler. Sie schreibt einen strategisch ungünstigen, zu hart formulierten Brief an die Geschäftsleitung, kommt ihrer politisch ausgerichteten Vorsitzenden ins Gehege und verdrängt erfahrene Konfliktmoderatoren des Betriebsrates. Es folgen Auseinandersetzungen. Das Gremium diszipliniert Olga. Sie tritt schließlich zurück, weil sie in ihrer Amtausübung vom übrigen Gremium gehindert fühlt, weil sie ihre Rolle nicht finden kann und die Konflikte nicht mehr aushalten will. Sie erklärt im Interview, sie habe sich früher nie vorstellen können, dass es für Betriebsräte so viele Konflikte (mit dem Arbeitgeber, aber auch innerhalb des Gremiums) gebe. Nach der Ausgliederung des Firmenteils müssen Olga und ihre knapp hundert Kollegen ihren eigenen Betriebsrat wählen. Olga verfügt als einzige über BR-Erfahrung, und sie wird gebeten, sich um das Amt zu bewerben und sie wird auch sofort zur Vorsitzenden gewählt. Olga hat aus ihrer eigenen Zeit als einfaches BR-Mitglied gelernt, wie wichtig ein fairer Umgang der Gremiumsmitglieder untereinander ist. Sie möchte nicht, dass unter ihrer Führungsverantwortung jemandem so etwas wie ihr passiert. Auch für die Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber greift sie aus ihr früheres Wissen zurück. Hier knüpft sie unmittelbar an ihr altes Betriebsratsverständnis an. So tauscht sie sich z.B. mit ihrer früheren BR-Vorsitzenden noch lange über die politisch strategische Ausrichtung ihres neuen Gremiums aus. Als ihre Firma dann in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät, zwingt Olga mit ihrem Gremium (und mit Unterstützung der Gerichte) den Arbeitgeber an den Verhandlungstisch. Ihre gewerkschaftlich ausgerichtete, politische ÜberzeuM. Niebuhr, Konflikte im Betrieb, DOI 10.1007/978-3-531-92696-4_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Wie Betriebsräte aus ihren Konflikten lernen
gung gerät vorübergehend ins Wanken. Als dann die Insolvenz unmittelbar bevorsteht, scheinen Betriebsrat und Arbeitgeber plötzlich keine Konkurrenten mehr zu sein. Erst relativ spät muss Olga feststellen, dass die Harmonie von Seiten der Führungskräfte und des Insolvenzverwalters taktisches Kalkül ist, und, dass trotz existentieller Bedrohung, Einzelne ihre persönlichen Rachefeldzüge verfolgen. Olga muss in dieser Zeit zunächst lernen, dass es nicht um Politik geht, sondern um den Erhalt der Arbeitsplätze. Wenig später muss sie schon wieder schmerzhaft umlernen. Jetzt geht es doch um Politik – um Betriebspolitik, die ein schmutziges Geschäft sein kann. Sie verliert die Achtung vor den so genannten Leistungsträgern, die die Insolvenz nutzen, um sich der Schwachen und der Aufmüpfigen (z.B. der Betriebsräte) zu entledigen und sich ein neues, handverlesenes Team für die Zeit nach der Insolvenz zusammenstellen. Am Schluss dieses ständigen Lernens und Umlernens besinnt sie sich wieder auf ihr ursprüngliches Wissen. Der Betriebsrat ist für die Schwachen da und nicht damit der Betrieb (mit ein paar ‘Kriegsgewinnlern’) überleben kann, und sie erkämpft einen Sozialplan, der für die Gekündigten eine Weiterqualifizierung und ein Jahr finanzielle Sicherheit gewährleistet. Sie überlegt noch heute, ob sie etwas hätte anders machen sollen und können. Aber auch während einiger Semester Wirtschaftswissenschaften und durch die Beschäftigung mit Astrologie konnte sie bis jetzt keine Antwort finden. Olga ist durch ihre wechselvolle Betriebsratserfahrung zu einer erschütterten, politischen Person geworden, die beschlossen hat, sich in Zukunft dem „Drama des öffentlichen Amtes“ (8:29) zu entziehen. Ihr Lernprozess hat sie aus der Arbeitswelt hinausgeführt. Was sie gelernt hat, kann sie in einem ‘normalen’ Beruf und Betrieb nicht verwenden. Anders als Olga gelingt es Jens als junger, relativ unerfahrener Betriebsrat in einem großen Gremium die Konflikte der Mitarbeiter als Nische für seine Tätigkeit und als Lernmöglichkeit zu finden. Er entwickelt sich zum allgemein anerkannten, sozial engagierten Betriebsrat, der in den Konflikten der Mitarbeiter interveniert und die Mobbingbetroffenen berät. In dieser Zeit besucht er viele Seminare zu Sozialkompetenzthemen, Rhetorik, Mobbing und Konflikten. Er lernt durch Seminare und durch seine praktischen Erfolge und Misserfolge. Seine politische Ausrichtung beginnt, als er sich im Gremium für verbindliche Routinen der Konfliktbearbeitung bei Mitarbeiterkonflikten einsetzt. Das Gremium ist zwar von der politischen Dimension dieses Themas nicht überzeugt, lässt den engagierten Jung-Betriebsrat sich aber ‘austoben’. Er macht seine ersten Erfahrungen im Verhandeln mit dem Arbeitgeber. Diesen, sich über drei Jahre hinziehenden Verhandlungsprozess, beschreibt er rückblickend als Lernprozess. Der erfolgreiche Abschluss wird im BR-Gremium als Kompetenzbeweis gedeutet. Dies führt letztlich dazu, dass er zum stellvertretenden BR-Vorsitzenden gewählt wird.
Bildung durch Konflikte
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Durch die Übernahme des Stellvertreteramtes wird er in die gremiumsinternen Aushandlungsprozesse und Konflikte hineingezogen – vorher konnte er ihnen aus dem Weg gehen. Seinen Vorschlag, sich einen externen Unterstützer zu holen, um die unvermeidbaren Aushandlungsprozesse produktiv als kollektive Lernchancen zu nutzen, lehnt das Gremium ab. So engagiert er einen Coach, um sich persönlich im Bereich Führung zu qualifizieren. Seine jetzige Tätigkeit als freigestellter, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender hat nichts mehr mit der des früheren Chemotechnikers zu tun. Jens hat sich in einen politisch motivierten Managementjob hineinentwickelt. Aus dem verängstigten Laboranten, der nicht wusste wie er sich gegen die sexuelle Anmache eines älteren Kollegen wehren sollte, ist ein machtbewusster Netzwerker geworden. Vor vielen Jahren trat Nils mit einem (betrieb-)politischen Wahlprogramm zur Betriebsratwahl an und wurde sofort auch zum Vorsitzenden gewählt. Während Jens als neuer Betriebsrat auf das Wissen und die Unterstützung erfahrener Betriebsratskollegen setzen konnte, musste Nils sich von diesen abgrenzen. Das abgewählte Gremium hatten zu wenige Konflikte, grenzten sich zu wenig vom Arbeitgeber ab und vertraten zu halbherzig die Interessen der Arbeitnehmer. Nils hat in gewerkschaftlichen Seminaren gelernt, dass Konflikte mit dem Arbeitgeber der Alltag der BR-Arbeit sind – und wie Betriebsräte diese Konflikte, gestützt auf das Betriebsverfassungsgesetz, im Notfall auch mit Hilfe der Gerichte, austragen können und sollen. Um Wege jenseits der klassischen Konfrontation und der üblichen Machtkämpfe zu finden, absolviert Nils zurzeit eine Mediationsausbildung. Hier lernt er, wie man hinter scheinbar unvereinbaren Positionen die gemeinsamen Interessen auf dem Wege der Verhandlung zusammen herausarbeiten kann. Um zu lernen, wie man einen eher arbeitgeberorientierten Betriebsrat im Team integriert, hat Nils erst jüngst ein spezielles Seminar für Vorsitzende besucht. Lernen spielt für Nils aber nicht nur als individuelle, sondern auch als kollektive Erfahrung eine große Rolle. Sein Gremium lernt kollektiv in Workshops und Gremiumsschulungen. Auch bei Nils kann man sagen, dass seine jetzige Tätigkeit nichts mehr mit seinem früheren Beruf als Mathematiker zu tun hat. Durch dieses Ehrenamt hat er in Bereichen gelernt, denen er vorher eher aus dem Weg gegangen ist. „Gut einmal habe ich auf jeden Fall einige Barrieren überwunden, die, mit denen ich eigentlich immer schon so Probleme hatte. Zum Beispiel auch irgendwie zu reden vor einer größeren Runde oder so. Also ich habe da einige Sachen, einige Dinge lernen müssen, die ich sonst so nicht hätte lernen müssen. Die mir sonst. Wo es nicht notwendig gewesen wäre. Und die ich mir wahrscheinlich auch nicht angeeignet hätte. Also vor allem so im kommunikativen Bereich. Dinge auszuhandeln, mit Leuten zu reden. Also gut so Dinge zu analysieren, was so der Kern der Sache ist, das ist nicht so das Problem. Das habe ich auch in der Arbeit gemacht. Auch die unterschiedlichen Sichtweisen dann zu respektieren und das nicht nur alles rein logisch zu sehen. (.) Ich meine vielleicht auch ein besseres Verständnis wie so ein Unternehmen
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Wie Betriebsräte aus ihren Konflikten lernen wie da alles zusammenspielt. Wer da alles Interessen hat und. Das hätte ich ohne diese Rolle sicherlich auch nicht mitgekriegt. (.) Ich denke mal. Ganz kurz gesagt, glaube ich, dass ich mit dem was ich als Betriebsrat gelernt habe, für mein Leben mehr anfangen kann als mit dem, was ich in der reinen Arbeit gelernt habe.“ (13:28-42)
Als Tätigkeit nach seiner Zeit als aktiver, freigestellter Betriebsratsvorsitzender kann er sich nur wieder eine Führungsaufgabe vorstellen. Da er aber nicht ‘die Seiten wechseln’ möchte, hält er es für schwierig, im alten betrieblichen Umfeld ein geeigneter Job zu finden. Elena musste wie Nils nach der erstmaligen Wahl sofort als Führungsfigur in ihrem Gremium aktiv werden. Sie streitet immer wieder engagiert mit dem Arbeitgeber und hat, gerade in letzter Zeit, aus einigen klugen Schachzügen des neuen Personalchefs leidvoll lernen müssen. Sie präsentiert sich im Interview aber auch als sozial motivierte Betriebsrätin, die (anders als Jens) sich auch heute noch viel Zeit für Gespräche mit den Mitarbeitern und für Konfliktmoderationen nimmt. Hier verfügt sie über vielfältige Kompetenzen. Sie ist in vielen Spezialgebieten, wie Mediation, Rhetorik, Moderation usw. geschult. Anders als Nils beschreibt sie aber nicht, wann und wie sie sich dieses Wissen erworben hat. Sie deutet nur an, dass sie in der Vergangenheit beruflich Karriere gemacht habe und durch Beruf und persönliche Schicksalsschläge viel gelernt habe. Damit streicht sie ihre überlegene Position gegenüber unerfahrenen Geschäftsführern und Betriebsratskollegen heraus. Elena spielt sich stark in den Vordergrund und ist, trotzt Kritik und Konflikten im Gremium, auch nur bedingt fähig sich das abzutrainieren. „Weil ich nicht wusste, wie soll ich diese Gradwanderung hinkriegen, dass die zufrieden sind, ich zufrieden bin und wir trotzdem aber vorwärts gehen. Weil es ist auch ganz klar und eindeutig, dass ich die Lokomotive bin in diesem Betriebsrat.“ (12:02-05). Sie hat viele Konflikte, lernt auch viel daraus, aber nur das was sie selber für richtig hält. Elena kann sich für sich keinen anderen Job vorstellen als den der freigestellten Betriebsrätin. Für die Zeit nach ihrer Betriebsratstätigkeit möchte sie sich auf einem Gnadenhof für Pferde um „geschundene Kreaturen“ (17:48) kümmern. Zusammenfassend kann man sagen: Betriebsräte, die beim Umgang mit Konflikten politisch orientiert sind, lernen aus ihren Konflikten in der Regel viel und ‘dauernd’. Nur Nils lernt ‘begrenzt’ (vgl. die Lerntypen). Die wichtigsten Konflikte, aus denen sie lernen, sind die mit dem Arbeitgeber und die innerhalb des Gremiums. Diese Betriebsräte haben sich durch ihre Führungsfunktionen und teilweise durch ihre Freistellungen von ihrer früheren beruflichen Tätigkeiten entfernt. Sie haben durch ihre Konflikte als Betriebsräte nicht etwas zu ihrem ursprünglichen Beruf dazugelernt, sondern sie haben sich grundlegend verändert. So können sie sich auch nur noch schwer vorstellen, nach der Freistellung als Betriebsrat in ihre früheren Berufe zurückzukehren.
Dazulernen durch Konflikte
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Nohl (2006) beschreibt den Unterschied zwischen Lernen und Bildung, angelehnt an Marotzki (1990) wie folgt: „Lernen lässt sich demnach als Mehrung von Wissen und Erfahrung innerhalb einer gegebenen Lebensorientierung begreifen, während Bildung als die Subjektivierung durch Transformation solcher Lebensorientierungen definiert wird.“ (S. 20). Daran anschließend könnte man die These wagen: Hier hat Bildung (in Abgrenzung von reinem Lernen) stattgefunden. Diese Betriebsräte haben ihre gegebene berufsbezogene Lebensorientierung durch Lernen und Bildung grundsätzlich geändert.
2.2 Dazulernen durch Konflikte Die vier Betriebsräte Anita, Ilse, Cora und Carmen mit ihrer Orientierung an den Mitarbeitern/ Kollegen haben besonders durch Konfliktinterventionen in Mitarbeiterkonflikten gelernt. Obwohl sie Betriebsräte sind, ist ihr hauptsächlicher konfliktbezogener Lernort ihr Arbeitsplatz und nicht das Betriebsratsumfeld. Ihre Konfliktinterventionen machen sie als je einzelne Betriebsratmitglieder – ohne Einmischung des restlichen BR-Gremiums. Zu ihnen kommen auch Kollegen, die sonst mir dem politischen Gremium Betriebsrat wenig zu tun haben wollen. Sie präsentieren sich dadurch als besonders kompetente Mitarbeiter, weil sie nicht nur ihren Job besonders gut machen, sondern auch noch über überdurchschnittliche soziale Kompetenz verfügen. Anita berichtet über ihre Lernerfolge aus einem Konflikt, in dem sie des Mobbings beschuldigt wurde und aus einem früher datierten Dauerkonflikt mit einer schwierigen Vorgesetzten. Damals war sie noch keine Betriebsrätin. „Also so im Nachhinein habe ich in der Zeit viel gelernt über Konflikte. Wie man Konflikte überlebt. Wie man Konflikte aushält und auch erlebt. Und teilweise habe ich auch gelernt, wie man in Konflikte mit einbezogen wird, ohne dass man es will. Das war eigentlich das Schlimmste noch dabei. Dass sie es teilweise geschafft hat, eine ganze Gruppe auch trotz allem irgendwie auf ihre Seite noch zu ziehen und dann gegen irgendjemand anders dann zu schießen.“ (1:36-41)
Sie musste erfahren, dass man als Mobberin beschuldigt werden kann und nicht die Chance bekommt, sich zu wehren. Damals besuchte sie auch ein Mobbingseminar. Mittlerweile hat sie gelernt, keine eigenen Konflikte mehr zu haben. Heute ist sie meist die Intervenierende. Das Intervenieren hat Anita irgendwann in der Vergangenheit gelernt. Sie erklärt, sie strahle die Botschaft aus: „Hallo ich habe ein Helfersyndrom, bitte sprecht mich an!“ (11:13-14). Aus der Rolle als Intervenierende habe sie lernen müssen, dass Konflikte nur bedingt beherrschbar und rational lösbar sind. So hat sie manchmal den Eindruck, viel zu wenig ge-
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Wie Betriebsräte aus ihren Konflikten lernen
lernt zu haben, da sie immer wieder die gleichen Fehler mache. Anita unterstützt ihren direkten Chef heute bei der Bearbeitung von Teamkonflikten. Dabei präsentiert sie sich als die sachliche, kompetente Moderatorin, die den Umgang mit Konflikten weitgehend beherrscht. Auch Cora beschäftigt sich in der Regel mit Intervenieren und beherrschte es schon bevor sie sich zur Betriebsrätin wählen ließ. Auch sie präsentiert sich eher als kompetente, denn als lernende Konfliktintervenierende. Bei Meinungsverschiedenheiten mit ihrem direkten Vorgesetzten entscheidet sie sich manchmal gezielt gegen eine konflikthafte Aushandlung und für ein oberflächliches Organisationslernen. Sie behauptet fundamentale Lernerfolge, wo sie sich innerlich gegen echtes Lernen sperrt. Das Mobbingseminar hat sie nicht aus konkretem Anlass besucht, sondern weil sie nach Jahren einmal wieder Bildungsurlaub machen wollte und sie das Thema interessierte. Dort grenzt sie sich gegen die offizielle Mobbingdefinition ab. Sie will nicht lernen, dass das, was sie damals mit dem Internetsurfer praktizierten, unter Mobbing fallen kann. Auch Ilses Lernen für und durch Konflikte gehört in ihre VorBetriebsratszeit und steht im Zusammenhang mit ihrer Ausbildung zur Führungskraft in der Produktion. Während dieser Ausbildung las sie Bücher und besuchte Seminare zu den Themen Führung und Konflikte. Sie lernte dabei auch das Lehren, d.h. wie man das selbst Gelernte (auch in Konfliktsituationen) an die Mitarbeiter weitergeben kann. Ihre Konfliktkompetenz ist eine Voraussetzung für ihre Tätigkeit als Führungskraft. Als Frau unter Männern muss sie kompetent sein, um sich erfolgreich in ihrer Führungsrolle zu behaupten. Carmen ist ein Beleg dafür, dass nicht alle freigestellten Betriebsräte gleich politisch orientierte Betriebsräte sein müssen. Sie hat als hauptberufliche Betriebsrätin das Intervenieren perfektioniert. Und sie hat das erfolgreiche Intervenieren erst als Betriebsrätin gelernt. Am Anfang war sie nicht besonders erfolgreich. Sie nutzte die falsche Strategie und die falschen Methoden. Sie lernte mit der Zeit durch die Bearbeitung konkreter Konflikte – durch Ausprobieren, durch Erfolge und Misserfolge und durch das Reflektieren der Fälle. Ihre zufällige und bruchstückhafte Anhäufung von Erfahrungen ist ihr wichtig. Die vielen Seminare, die sie im Laufe der Jahre besucht hat, hält sie in diesem Zusammenhang für weniger wichtig. Sie meint, sie habe noch nie ein Mobbingseminar besucht. Mittlerweile ist sie recht erfolgreich. Sie hat gelernt, dass sie erfolgreicher intervenieren kann, wenn die Bearbeitung weniger offiziell von statten geht. Während sie deshalb heute die Personalabteilung eher spät mit einbezieht, pflegt sie mit dem ganzen Team, in dem es einen Konflikt gibt, eine rege Kommunikation. Sie versucht zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern zu vermitteln, ohne das gesamte Betriebsratsgremium als betriebliche Institution mit hinzuzuziehen.
Nicht-Lernen trotz Konflikte
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Sie ist, anders als Ilse, Cora und Anita nicht in die betriebliche Hierarchie integriert. Will sie, wie die anderen Betriebsrätinnen in sozialen Konflikten intervenieren, muss sie erst Zugang zum entsprechenden Team finden. Carmen legt Wert darauf, hinzuweisen, dass sie trotz vielfältiger Erfahrung in Konfliktintervention und ihrer Freistellung als Betriebsrat eine normale Mitarbeiterin mit Anbindung an die Kollegen geblieben ist. Für sie ist das Betriebsratsmandat ein Amt auf Zeit. Trotz Freistellung ist es ihr wichtig, weiterhin für ihren Ursprungsberuf kompetent zu bleiben. Zusammenfassend kann man feststellen: Auch Betriebsräte mit einer Orientierung an den Mitarbeitern/ Kollegen lernen aus ihren Konflikten in der Regel viel – d.h. ‘begrenzt’ oder ‘dauernd’ (vgl. die Lerntypen). Ihr Lernen aus eigenen Konflikten liegt meist in der Vergangenheit. Es hat zu Zeiten stattgefunden, als sie noch keine Betriebsräte waren. Ihnen ist das unbemerkte, etwas unstrukturierte Selbstlernen besonders wichtig. Als Betriebsräte verbergen oder bagatellisieren sie ihre eigenen Konflikte. Aktuell präsentieren sie sich eher als erfahrene, denn als lernende Konfliktexperten. Sie verbergen die eigene Betroffenheit von Konflikten als Bedingung für ihre Professionalität. Sie verhalten sich damit wie Lehrer – sie dürfen in der Ausübung ihres Berufes nicht unwissend sein. Und sie haben gelernt, dass Intervenieren vor Betroffensein schützen kann. Andererseits kann es auch positiv sein, schon einmal selbst einen Konflikt erlebt zu haben, um sich in andere hineinversetzen zu können, um mitreden zu können und um akzeptiert zu werden. Die wichtigsten Konflikte, aus denen diese Betriebsräte (heute) lernen, sind die, in denen sie als Intervenierende hinzugezogen werden bzw. sich einschalten. Aber auch dabei fühlen sich die meisten Interviewten schon relativ kompetent. Teilweise verschließen sie sich auch unangenehmen Lernerfahrungen und begründen, warum das im Seminar Gelernte auf ihren konkreten Fall nicht zutrifft. Für die Feinheiten in der Unterscheidung von Intervenieren und Mobbing ist Cora z.B. eher blind. Diese Betriebsräte haben durch ihre Konflikte ihre sozialen Kompetenzen erweitert. Sie haben anders als die erste Gruppe nicht umgelernt oder neu gelernt - sondern dazugelernt. Sie sind beim Lernen somit im Rahmen ihres bisherigen Berufes und ihrer grundsätzlichen persönlichen (bildungsbezogenen) Ausrichtung geblieben.
2.3 Nicht-Lernen trotz Konflikte Betriebsräte mit einer ausschließlichen Orientierung an sich Selbst fühlen sich beruflich defizitär und lernen aus ihren Konflikten eher selten (vgl. die Lerntypen). Sie idealisieren Lernen, doch in der Praxis können sie die großen und kleinen Konflikte nicht als Lernchancen nutzen.
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Wie Betriebsräte aus ihren Konflikten lernen
Für Kassandra ist Lernen etwas, was sie immer gewollt, aber nie ausreichend umgesetzt hat. Sie hätte gerne studiert, sie hätte gern unterschiedliche Berufe gelernt, und sie gibt anderen die Schuld daran, dass daraus nichts geworden ist. Ihre Erfahrungen mit der sexuellen Belästigung durch ihren Chef haben sie nicht zum Wechsel des Arbeitsplatzes und auch nicht zum Lernen veranlasst. Kassandra vermischt, ohne es zu merken, ihren Job und ihr Ehrenamt als Betriebsrat. Sie kann nicht differenzieren, ob sie sich mit ihrem Chef streitet, weil er versucht, sie als Betriebsrätin zu kontrollieren oder, weil er ihr wieder körperlich zu nahe kommt. Lediglich Kleinigkeiten hat sie aus diesem Konflikt gelernt – z.B., dass ihr Chef zurück weicht, wenn sie schreit oder wenn sie Öffentlichkeit herstellt. Als Intervenierende in den sozialen Konflikten der Mitarbeiter kann Kassandra nichts lernen, weil sie überhaupt keine ernsthaften Interventionsversuche unternimmt. Auch Paul idealisiert das Lernen. Er verfügt über eine akademische Ausbildung, doch er beklagt, dass es ihm an sozialer Kompetenz und Konfliktfähigkeit mangele. Er kann aus seinen Konflikten auch nicht mit Hilfe der Seminare lernen. Er sagt, er ecke immer wieder an, weil er Obrigkeiten und Autoritäten nicht anerkenne. Er ist nicht bereit und fähig aus seinen Erfahrungen zu lernen, weil er einerseits mit seinem Image als Quertreiber kokettiert und sich andererseits aber auch als Opfer sieht. Die Probleme, die er als Mitarbeiter nicht lösen kann, bearbeitet er mit Hilfe seines BR-Mandats. Als Mitarbeiter darf er an keinen Seminaren teilnehmen. Deshalb besucht Paul als Betriebsrat die entsprechenden Managementseminare. Zusammengefasst kann man sagen: Die Betriebsräte mit einer ausschließlichen Orientierung an sich Selbst haben durch ihre Konflikte weder umgelernt noch dazugelernt. Sie werden von ihren eigenen Chefs wegen Leistungsdefiziten immer wieder kritisiert – aber auch im beruflichen Bereich wird darauf nicht mit Lernen reagiert. Eigentlich verlieren sie durch das ständige Sich-verteidigenmüssen und Sich-nicht-verteidigen-können an sozialer Kompetenz und an sozialem Ansehen. Denn statt die Probleme zu bearbeiten, ziehen sie sich auf ihr Mandat zurück und/ oder beschweren sich beim nächst höheren Chef (Kassandra) oder beim Betriebsrat (Paul). Das Amt gibt ihnen die Möglichkeit Lerndefizite zu begründen und zu entschuldigen.
3 Wie Betriebsräte im Zusammenhang mit Konflikten lehren
3.1 Vermitteln von lebensbedeutsamen Wissen Die vier politisch orientierten Betriebsräte gehören zu den konfliktbezogenen Lehrtypen ‘Problembestimmtes Lehren’ (Nils und Olga), d.h. sie nutzen verdeckte Lehrstrategien und belehren indirekt, indem sie dafür sorgen, dass andere, direkt Lehrende hinzugezogen werden – oder zum Lehrtyp ‘Generalisiertes Lehren’ (Elena und Jens), d.h. sie nutzen Lehren als direkt Intervenierende eher indirekt, verdeckt und präventiv – als von Konflikt Betroffene hingegen eher offen und direkt. Politisch orientierte Betriebsräte haben akzeptiert, dass vom Arbeitgeber immer wieder, mit den wirtschaftlichen Notwendigkeiten begründete Veränderungsforderungen an die Belegschaft gerichtet werden. Sie sehen ihre Aufgabe darin, sich in diese betriebspolitischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozesse einzumischen. Teilweise versuchen sie dabei, den Arbeitgeber von der wirtschaftlich begründeten Sinnhaftigkeit von arbeitnehmerfreundlicheren, alternativen Strategien und Maßnahmen zu überzeugen – auch durch Belehrung. Veränderungen in der Unternehmensphilosophie und Unternehmenspolitik bedeuten aber auch, dass sich die Betriebsratsgremien immer wieder neu mit den teils gegensätzlichen Veränderungsforderungen des Arbeitgebers auseinandersetzen und sich als Gremium positionieren müssen. Das erfordert ein fortwährendes Lernen des Gremiums – auch da taucht verdecktes, aber teilweise auch offenes Belehren durch die Führungsfiguren der BR-Gremien auf. Olga ist die politisch orientierte Betriebsrätin, die Lehren am wenigsten als Führungs- bzw. als Verhandlungsinstrument einsetzt. Begründet auf ihre schlechten, ersten Erfahrungen als Betriebsrätin, praktiziert sie als Betriebsratsvorsitzende eine Führungskultur im Gremium, die auf Druck und Belehrung weitgehend verzichtet. In den ‘guten’ Zeiten hat sie damit auch Erfolg. Als die Insolvenz ins Haus steht, kommt es durch die nicht ausgetragenen Konflikte und das fehlende kollektive Wissen zu einer Zerreißprobe im Gremium. Erst hier versucht es Olga mit einer vorsichtigen Belehrung – allerdings ohne großen Erfolg. Sie hat ihr Gremium in ruhigen Zeiten nicht richtig auf den Ernstfall vorbereitet. Im Hinblick auf den Arbeitgeber war Olga während des wirtschaftli-
M. Niebuhr, Konflikte im Betrieb, DOI 10.1007/978-3-531-92696-4_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Wie Betriebsräte im Zusammenhang mit Konflikten lehren
chen Niedergangs ihres Betriebs davon überzeugt, dass sie, während sie gemeinsam einen Ausweg aus dem drohenden Bankrott suchten, sich auch in einem gemeinsamen Lernprozess befänden. Doch das letzte Wort hatte schließlich die Insolvenzverwaltung und die war an einem gemeinsamen Lernprozess nicht interessiert. Nils nutzt wie Olga ausschließlich verdeckte, indirekte Belehrung, doch er setzt dieses Mittel häufiger und gezielter ein als sie. Er erklärt, einige seiner Gremiumsmitglieder könnten die betriebliche und betriebspolitische Situation nicht richtig verstehen, weil sie nicht hinreichend (politisch) geschult seien. Das wiederum führe zu Meinungsverschiedenheiten und Konflikten im Gremium55. Er sieht es als Aufgabe des Betriebsratsvorsitzenden, dafür zu sorgen, dass alle BR-Mitglieder die nötige Grundqualifizierung erwerben und ihr neu erworbenes Wissen auch anwenden können. Er hofft, dass externe Trainer ihnen in Seminaren die richtige (politische) Orientierung nahe bringen. Für Nils sind auch die ein bis zweimal im Jahr stattfindenden, moderierten BR-Klausuren kollektive Lernsituationen. Er als Führungsperson sorgt dafür, dass eine Situation entsteht, in der kollektives Lernen – ohne direkten Lehrer bzw. mit einem externen Moderator – möglich wird. Für Nils ist – genauso wie für Olga – auch grundsätzlich ein gemeinsames Lernen mit dem Arbeitgeber möglich. Im letzten Jahr haben der Betriebsrat und die Arbeitnehmervertreter am Standort an zwei gemeinsamen, moderierten Workshops teilgenommen. Nils bewertet sie rückblickend als positiv, weil man gelernt hatte wieder miteinander zu reden. Beleg für den gemeinsamen Lernprozess sei eine für den Arbeitgeber und die Belegschaft bzw. den Betriebsrat vorteilhafte Vereinbarung zu Zeiterfassung/ Arbeitszeitgestaltung. Als Hindernis für eine funktionierende Zusammenarbeit und Konfliktlösungen durch gemeinsame Lernprozesse sieht er in der Abhängigkeit der Manager vor Ort von der Konzernzentrale. Für beim Umgang mit Konflikten politisch orientierten Betriebsräten ist Lehren in Richtung Gremium und Arbeitgeber also ein wichtiges Instrument, mit den politischen Anforderungen aus ihrem Amt umzugehen. Als Betriebsrat zum Lehrtyp ‘Problembestimmtes Lehren’ zu gehören, bedeutet dabei, sich für die Schaffung potentieller, kollektiver Lernsituationen einzusetzen. Für Jens steht die Lernverweigerung seines Gremiums im Mittelpunkt seiner Erzählung. Er versucht einen (regelmäßigen) kollektiven Lernprozess zu etablieren, um die BR-Arbeit als Ganzes zu professionalisieren. Doch das BRTeam akzeptiert die neue Führungsperson weder als Lehrer noch als Lernorganisator. Weil die Anderen nicht lernen wollen, können alte Konflikte nicht gelöst werden. Durch die Lernverweigerung des Gremiums kommt es zu weiteren Kon55
gl. das neue, schwer integrierbare, arbeitgeberorientierte Betriebsratsmitglied
Vermitteln von lebensbedeutsamen Wissen
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flikten. Mit Jens Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden wurde eine zu wenig politische und nicht lernbereite Person bereits entmachtet. Früher, als Jens noch Mitarbeiter direkt in ihren Konflikten persönlich unterstützte, musste er schlechte Erfahrungen mit direkter Belehrung und dem Geben von Ratschlägen machen. Seit Abschluss der Betriebsvereinbarung ‘Partnerschaftlicher Umgang am Arbeitsplatz’ übernimmt die Konfliktintervention schnell ein externer Moderator. Der politisch denkende Betriebsrat hat die Intervention und das Lehren in konkreten Mitarbeiterkonflikten delegiert. Er sieht es als seine Aufgabe an, für die notwendige Infrastruktur (z.B. allgemeine Regeln, Kostenübernahme) zu sorgen. Seinen Arbeitgeber hält Jens, anders als Olga und Nils, grundsätzlich für unbelehrbar. Er hat immer wieder negative Erfahrungen von Machtmissbrauch durch den Arbeitgeber und Ohnmachtserfahrungen der Mitarbeiter erlebt. Als junger Laborant war er über die damaligen „mafiösen Strukturen“ (9:35) beim Arbeitgeber – Saufen, Hurendienste und Bestechung – entsetzt. Auch heute sagt er, bei der Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat gehe es um Macht und nicht um Lernen. Elena ist die politische Betriebsrätin, bei der Lehren im Zusammenhang mit Konflikten die größte Bedeutung hat. Sie setzt es immer wieder, strategisch – mal verdeckt und auf Umwegen, aber auch häufig offen – ein. Wie Jens und im Gegensatz zu ihrem direkten Betriebsratskollegen Nils, sieht sie den Arbeitgeber als grundsätzlich unbelehrbar an. Er sei unmoralisch, uneinsichtig und verstoße gegen Gesetze. Mit einem solchen Arbeitgeber werden die Konflikte üblicherweise vor Gericht ausgetragen. Die gemeinsamen Workshops deutet Elena als unlautere Manöver des Arbeitgebers, um den Betriebsrat auszuspähen und um eine Strategie für dessen Zerstörung zu entwickeln. Wenn sie Personen der Geschäftsleitung öffentlichkeitswirksam (z.B. auf einer Betriebsversammlung) belehrt, ist ihr Adressat nicht der Geschäftsführer, sondern die Betriebsratskollegen und die Belegschaft. Sie nutzt hier offene Belehrung, um Mitarbeitern und Betriebsratskollegen die Unmoral der Geschäftleitung vorzuführen. Sie versucht sie mit ihrer politischen Botschaft zu erreichen. Anders als die anderen politisch orientierten Betriebsräte mischt Elena sich immer noch in die Konflikte der einzelnen Mitarbeiter ein. Elena erzählt von einigen Beispielen, in denen sie die Konfliktmoderation übernahm und externe Unterstützer hinzuzog. Hier wird immer auch die pädagogische Absicht sichtbar. Wenn sie selber interveniert, hat ein Lehren, das sie hinter behaupteten kollektiven Lernprozessen versteckt, eine große Bedeutung. Die anderen haben Konflikte und Elena lernt mit den Konfliktbetroffenen gemeinsam, damit die ihre Schwierigkeiten erfolgreich bearbeiten können. Sie fordert immer wieder alle Mitarbeiter auf, sich (betriebspolitisch) einzumischen und gemeinsam mit dem Betriebsrat Konflikte auszutragen, gemeinsam zu lernen und so Veränderungen zu erwirken. Auch im Gremium tritt
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Wie Betriebsräte im Zusammenhang mit Konflikten lehren
Elena den anderen Betriebsräten gegenüber belehrend auf. Sie zeigt ihrem Team, dass sie und Nils die erfahrenen Betriebsräte sind, von denen die anderen noch viel lernen können. Lediglich Nils akzeptiert sie als gleichwertig, die anderen Kollegen sind eher liebe, nette Schüler oder auch „Bengel“ (12:27) oder „Schnarchnasen“ (11:06). Sie ist die politisch motivierte Pädagogin, die fordert, fördert und kritisiert, wenn das Gremium nicht politisch denkt. Ihre BR-Kollegen hatten in früheren Klausurtagungen ihre Art und Weise der Belehrung immer wieder kritisiert. Elena veränderte ihr Verhalten nur minimal und vorübergehend. Sie sieht es als ihre wichtigste Führungsaufgabe an, zu problematisieren, zuzuspitzen und die anderen Betriebsräte (alle außer Nils) offen politisch zu belehren. Zusammenfassend kann man sagen, alle politisch orientierten Betriebsräte versuchen ihrem Gremium, mehr oder weniger intensiv, die Bedeutung von politisch motivierter Betriebsratsarbeit nahe zu bringen. Während Elena dies teilweise sehr direkt und offen belehrend tut, unternimmt Olga, relativ spät und unter dem Druck der Insolvenz, lediglich ganz schwache Versuche. Jens und Nils ziehen dafür externe Moderatoren und Lehrer hinzu. Während Elena und Jens den Arbeitgeber für grundsätzlich unbelehrbar halten, versucht Nils zwischen regional verantwortlichen Arbeitgebervertretern und dem eigentlichen Topmanagement zu differenzieren. Auf konkreter betrieblicher Ebene hält er auch den Arbeitgeber für lernfähig. Und so stellt sich für ihn der Workshop auch als eine gemeinsame Lernsituation dar, in der auch der Betriebsrat den Arbeitgeber verdeckt und indirekt belehren kann. Elenas Versuche, andere über die richtige (politische) Gesinnung zu belehren, gehen am weitesten. Sie versucht auch den Mitarbeitern beizubringen, dass sie sich am Arbeitsplatz einmischen, Meinungsunterschiede ausdiskutieren und sich gegenüber dem Arbeitgeber emanzipieren müssen. Sie wünscht sich die Demokratie am Arbeitsplatz nicht nur stellvertretend für alle durch den Betriebsrat praktiziert. Sie ermutigt alle Mitarbeiter sich aktiv einzumischen.
3.2 Vermitteln von berufsbezogenen sozialen Kompetenzen Betriebsräte mit einer konfliktbezogenen Orientierung an den Mitarbeitern/ Kollegen versuchen durch Belehrungen Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzte dazu zu bewegen, dass sie durch ihr Verhalten eine Konfliktklärung unterstützen oder zumindest nicht verhindern. Sie gehen von einer Arbeitswelt aus, in der viele Mitarbeiter und Führungskräfte nicht über ausreichend soziale Kompetenz verfügt, um das eigenständig zu regeln. Sie interpretieren die zunehmenden Konflikte als einen Beleg für die wachsende Gefährlichkeit und Risikohaftigkeit der modernen Arbeitswelt (z.B. erhöhte Gefahr für Arbeitsplatzverlust) und sehen
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darin eine Bestätigung für die Wichtigkeit ihres ehrenamtlichen Engagements. Diese vier Betriebsräte gehören auch zu vier unterschiedlichen konfliktbezogenen Lehrtypen: Carmen zu ‘Problembestimmtem Lehren’, Ilse zu ‘Generalisiertem Lehren’, Cora zu ‘Selbsternannter Pädagoge’ und Anita zu ‘Zufälligem Lehren’. Die Gruppe der Betriebsräte, die sich beim Umgang mit Konflikten an den Mitarbeitern/ Kollegen orientieren, sind also auf Lehren bezogen eine eher heterogene Gruppe. Sie lehren ‘begrenzt’ oder ‘dauernd’ und präsentieren sich im Hinblick auf ihr Intervenieren in Konflikten als ‘ohne Mandat’ oder als ‘mit Mandat’. Das bedeutet, bei dieser Orientierung kommen ganz unterschiedliche Formen der Belehrung von Mitarbeitern vor. So belehrt Anita eher offen und unreflektiert, Ilse präventiv, direkt und mal offen und mal verdeckt. Und Carmen und Cora belehren generell eher verdeckt. Bei Carmen spielt Belehrung beim professionellen Intervenieren in den Konflikten anderer eine wichtige Rolle. Sie belehrt die Mitarbeiter, die zu ihr kommen, darüber wie eine Konfliktbearbeitung rein formal aussehen muss, um überhaupt erfolgreich sein zu können. So erklärt sie ihnen, dass eine Intervenierende immer die Perspektiven aller Konfliktbeteiligte kennen müsse. Damit begründet sie, warum sie – mit Zustimmung des Beschwerdeführers –auch mit Vorgesetzten und KollegInnen Gespräche führen möchte. Und sie weist auf Beispiele hin, wo ein Nicht-Einbeziehen anderer Konfliktbeteiligte zu Misserfolgen führte. Carmen erklärt, dass sie aber nur sehr vorsichtig auf konfliktprovozierende Verhaltensweisen hinweise und Ratschläge gebe. Sie verbindet ihre Belehrung immer mit dem Hinweis, dass die Aneignung eine freiwillige, eigenständige Aufgabe des Konfliktbetroffenen ist. Sie akzeptiere auch, wenn jemand nur reden wolle (also seinen Konflikt überhaupt nicht lösen wolle und sich deshalb gegen ihre Belehrung versperre) oder, wenn er ihre Ratschläge nicht beherzigen möchte (den Konflikt zwar lösen wolle, sich aber gegen die Inhalte ihrer Belehrung versperre). Eine Grundvoraussetzung für das Lernen und Lehren bei Erwachsenen ist die Freiwilligkeit. Carmen hat nicht den Anspruch ihre Kollegen und Kolleginnen zu sozial kompetenteren Menschen zu erziehen. Ihre Vermittlungsangebote sind eine Dienstleistung, die sie freiwillig anbietet. Und die Konfliktbetroffenen können und müssen selbst entscheiden, was sie davon lernen wollen. Doch Carmen musste im Prozess ihrer eigenen Professionalisierung als intervenierende Betriebsrätin erst lernen, die zeitweise Zurückweisung als Lehrerin nicht als generellen Angriff auf sie als Betriebsrätin zu interpretieren. Für Ilse ist offenes und direktes Lehren das Grundprinzip ihrer Mitarbeiterführung. Sie ist Vorgesetze ohne disziplinarische Kompetenzen. Sie macht zwar für ihr Team und mit ihrem Team die Arbeits-, Urlaubs- und Qualifizierungsplanung, doch, wenn sich jemand verweigert, hat sie nur die Möglichkeit es dem Meister zu melden, der dann offizielle Personalgespräche mit der Personalabtei-
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Wie Betriebsräte im Zusammenhang mit Konflikten lehren
lung usw. einleitet. Ilse nutzt offene Formen des Lehrens in klassischen, betrieblichen Seminarsituationen (die regelmäßigen Teambesprechungen) als Mittel der vorbeugenden Konfliktbearbeitung. Dem Ausloten der individuellen Qualifizierungsmöglichkeiten und –grenzen widmet sie viel Zeit. Ilse versucht ihrem Team ihre eigenen Vorstellungen von perfekter Teamarbeit zu vermitteln – dazu gehören Strategien wie man Konflikte vermeidet, indem man Teamregeln vereinbart, die Teambesprechungen aktiv mit gestaltet, sich um die eigene Qualifizierung bemüht, Fehler Einzelner immer als Fehler des Teams begreift, sich gegenseitig unterstützt und vor Angriffen von außen schützt. Gibt es ernstere Konflikte, in die einzelne Teammitglieder verwickelt sind, setzt Ilse ein mehrstufiges Interventionsverfahren ein. Lehren kommt darin auch vor, aber erst nachdem sich die Gemüter beruhigt haben. Zunächst zieht sie ihren Mitarbeiter aus der Konfliktsituation heraus. Sie teilt Konfliktakteure über eine längere Zeit an unterschiedlichen Anlagen ein. Sie sorgt für die längerfristige, räumliche Trennung. Erst später erklärt sie ihnen den Hintergrund des Konfliktes und ihres Handelns. Während das eigentliche Team durch gemeinsames Lernen zusammenarbeitet und zusammenhält, gibt es aber auch Mitarbeiter, die sich dem Lernen grundsätzlich verweigern. Bei denen hat Ilse ihre Belehrungsversuche aufgegeben. Das sind zum Beispiel einige der ehemaligen Vorarbeiter, die durch die Einführung der Gruppenarbeit entmachtet wurden. Weil sie teilweise nichts in Teams integrierbar seien, könne hier die üblichen Formen der Konfliktbearbeitung nicht eingesetzt werden. Statt lernen und lehren, kommt es deshalb zur Bestrafung. In diesen Fällen sorgt Ilse dafür, dass es zu einem offiziellen Gespräch mit dem Meister (und damit manchmal auch zu einer Abmahnung) kommt. Cora ist nicht wie Ilse offiziell legitimiert, von Mitarbeitern direkt und offen Lernen durch Konflikte einzufordern. Wie bei Carmen, die als freigestellte Betriebsrätin auch nur auf Freiwilligkeit setzen kann, findet man auch bei Cora versteckte Formen der Belehrung als wichtige Elemente in ihren Konfliktinterventionen und als didaktischen Kunstgriff. Sie versteckt ihre Belehrungsabsicht hinter einer altruistischen Helferorientierung. Ihr Betriebsratsmandat macht sie dabei ähnlich unsichtbar wie Ilse. Auch Coras Bezugspunkt ist ihr Arbeitsplatz und nicht der Betriebsrat. Sie ist die informelle Führungskraft und Oberlaborantin mit viel Nähe zum Team, einer eher lockeren Bindung zum Betriebsrat und in sichtbarer Abgrenzung zum disziplinarischen Vorgesetzten. Cora präsentiert sich im Interview als die moralische Lehrerin ihrer Kollegen, Kolleginnen und des aktuellen Chefs. Doch sie ist sich darüber im Klaren, dass Unterstützung, so wie sie sie versteht, immer auch etwas mit Bevormundung zu tun hat. Deshalb muss sie ihre Vermittlungsanstrengungen unsichtbar machen. Im Fall des Internetsurfers war Cora mit ihren Belehrungen letztlich gescheitert. Darauf folgten die
Lehren als Mittel der Abgrenzung und der Verteidigung
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Mobbinghandlungen, die aber weder von ihr noch von ihre KollegInnen und Chefs so bezeichnet wurden. Anita ist heute eine intervenierende Mitarbeiterin mit Nähe zum Betriebsrat. Allein, die Nähe zum Betriebsrat macht jemanden in ihrer akademikerdominierten Abteilung schon zur schwierigen Person und kann zu einem Karriereknick führen. Man beschwert sich auch nicht beim Betriebsrat. Deshalb trifft Anita sich auch schon mal in ihrer Freizeit und außerhalb des Werksgeländes mit Kollegen, die sie wegen ihrer Konflikte sprechen möchten. Anita nutzt beim Intervenieren immer vorsichtiges, verdecktes Belehren, auch um den Konfliktparteien Einsicht in die Sichtweise der je anderen Konfliktperson zu verschaffen. Sie weist außerdem auf die innerbetriebliche wie externe Unterstützungsmöglichkeiten ihres Großbetriebes hin. Anita wurde, anders als Cora, in der Vergangenheit einmal aufgrund von direkten und offenen Belehrungsversuchen des Mobbings beschuldigt. Da sie die erfahrene Kollegin war, sah sie es als ihre Aufgabe an, den neuen Kollegen zu belehren. Ihr Problem war, dass sie den Konflikt nicht als solchen erkannte. Zusammenfassend kann man sagen, alle Betriebsräte, die beim Umgang mit Konflikten eine Orientierung an den Mitarbeitern/ Kollegen zeigen, benutzen begrenztes bzw. dauerndes Lehren als Mittel, um als Intervenierende Mitarbeiterkonflikte endgültig zu lösen. Sie wollen den Mitarbeitern in einer konkreten Situation helfen, haben aber eher nicht die Hoffnung, dass die Mitarbeiter davon so sozial kompetent werden, dass die beim nächsten Mal den Konflikt eigenständig lösen können. Sie positionieren sich zum Intervenieren nahe an den Mitarbeitern und machen ihr Betriebsratsamt eher unsichtbar. Lehren wird bei diesen Betriebsräten in der Regel in verdeckter Form genutzt. Nur bei Ilse finden wir einen erfolgreichen, ganz offenen Umgang mit Lernen und Lehren mit und ohne Konflikte. Durch die Einführung der Gruppenarbeit ist in ihrem Betrieb Lernen als die verordnete Führungs- und Personalentwicklungsstrategie propagiert worden. Nur beim Belehren der Gruppe von Betriebsräten, die sich beim Umgang mit Konflikten an den Mitarbeitern/ KollegInnen orientieren, findet man die Nähe zwischen Intervenieren/ Belehren und aktivem Mobbing.
3.3 Lehren als Mittel der Abgrenzung und der Verteidigung Kassandra, eine der beiden Betriebsräte, die beim Umgang mit Konflikten sich ausschließlich an sich Selbst orientieren, gehört zum Lehrtypus ‘Generalisiertes Lehren’ (lehrt dauernd mit Mandat). Paul, der zweite Vertreter dieser Orientierung ist dem ‘Zufälligen Lernen’ zuzuordnen (lehrt begrenzt ohne Mandat). Das bedeutet, Paul lehrt generell offen und unreflektiert. Kassandra nutzt, wenn es –
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wie fast immer – um ihre eigenen Konflikte geht, offene Formen der Belehrung. In den wenigen Fällen, wo sie sich mit Mitarbeiterproblemen beschäftigen muss, nutzt sie offene/ direkte und indirekte Formen der Belehrung. Betriebsräte mit einer konfliktbezogenen Orientierung an sich Selbst intervenieren (fast) nicht in den Konflikten anderer. Deshalb kann Lehren in diesem Zusammenhang auch keine große Rolle spielen. Sie nutzen Belehrung aber als bevorzugtes Mittel in ihren eigenen Konfliktaustragungen. Sie belehren ihre Konfliktgegner (oft ihre Vorgesetzten), um sich gegen sie zu wehren. Paul weiß alles besser und belehrt alle seine Chefs direkt und offen. Die verbieten sich die, aus ihrer Sicht unangemessene Belehrung. Auch Kassandra versucht immer wieder ohne Erfolg, ihrem direkten Vorgesetzten beizubringen, wie er sich ihr gegenüber angemessen verhalten soll. Kassandra belehrt aber nicht nur ihren direkten Vorgesetzten offen und direkt, sondern auch die Mitarbeiter. Sie übernimmt die Meinung des Geschäftsführers, mit dem sie als Betriebsrätin täglichen Kontakt pflegt, und gibt sie an die Mitarbeiter weiter. Der Geschäftsführer belehrt also indirekt über Kassandra seine Mitarbeiter (z.B. über die Notwendigkeit der Mehrarbeit oder über Konsequenzen bei Fehlverhalten). Während die Betriebsräte mit einer Orientierung an Mitarbeitern/ KollegInnen versuchen, ihr Betriebsratsmandat unsichtbar zu machen, betont es diese Gruppe besonders. Sie begründen mit dem Mandat, warum sie auch offen belehren darf. Belehrung hat hier die Funktion, sich zu verteidigen und Konflikte moralisch als Katastrophen oder Bagatellen zu bewerten.
3.4 Betriebsräte zwischen Bildung, Lernen und Nicht-Lernen Die Betriebsräte sind keine homogene Gruppe im betrieblichen Konfliktsystem, sie gehören zu unterschiedlichen Konflikttypen und haben – und das ist der Wissenszugewinn aus diesem Betriebsräte-Teil – diverse (berufliche) Orientierungen beim Umgang mit Konflikten, was wiederum Auswirkungen auf Lernen und Lehren in und durch Konflikte hat. Hier werden drei empirisch gehaltvolle Varianten einer sich im Kontext des lebenslangen Lernens neu herausgebildeten Ordnung von Lernen und Lehren sichtbar. Lebenslanges Lernen kann sich erstens als (politische) Bildung manifestieren. Entsprechend dem humboldtschen Bildungsbegriff geht es hier um die weitestgehende Aneignung von Welt durch den Menschen als individuelles Subjekt. Politisch orientierte Betriebsräte – in der Regel die Führungspersonen innerhalb des Gremiums – lernen aus den Konflikten mit dem Arbeitgeber und innerhalb des Gremiums Neues, das nicht an ihrem ursprünglichen Beruf anschließt, was für ihr ganzes Leben elementar ist. Sie bilden sich für einen alternativen Lebens-
Betriebsräte zwischen Bildung, Lernen und Nicht-Lernen
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und Arbeitsbereich weiter. Man findet hier also eine unmittelbare Verknüpfung von Aneignung und Leben. Ihre Bildung versuchen sie durch Belehrung an die anderen, unpolitischen Betriebsräte (und Mitarbeiter) weiterzugeben. Sie ermutigen KollegInnen und Mitarbeiter, sich auch zu bilden – also für das Leben und nicht nur für den Beruf zu lernen. Es muss zweitens davon ein einfaches, berufsbegleitendes Lernen und Lehren (mit Gefahr des Mobbings) unterschieden werden. Betriebsräte mit einer Orientierung an den Mitarbeitern und Kollegen wiederum – in der Regel ‘einfache’ aber auch freigestellte Betriebsräte ohne Führungsrolle – lernen oft unbemerkt aus den alltäglichen kleinen und großen Konflikten an ihren Arbeitsplätzen. Durch ihre überdurchschnittliche Konfliktkompetenz erfahren sie Anerkennung in ihren Abteilungen in ihrem angestammten Beruf. Wenn sie beim Intervenieren lehren, tun sie dies verdeckt und indirekt. Da sie ein an Betriebsrationalität und Nützlichkeit orientiertes Lehr-/Lernverständnis haben, reagieren sie auf Lernverweigerung auch mit Bestrafungen (Mobbing). Und es gibt als dritte Variante des lebenslangen Lernens das eigene NichtLernen kombiniert mit der Idealisierung von Lernen, unkontrolliertem Belehren, Lernverweigerung und Lernbarrieren. Die Betriebsräte mit einer ausschließlichen Orientierung an sich Selbst können aus Konflikten keine Lernerfahrungen gewinnen. Sie sind typische Opfer. Wenn sie sich in ihren eigenen Konflikten wehren und verteidigen, nutzen sie dabei direkte Formen der Belehrung und die Machtmittel aus der Betriebsverfassung. Die Ergebnisse aus der Untersuchung der Betriebsräte lassen sich in einem nächsten Schritt auf die Nicht-Betriebsräte übertragen. So ist Bärbels Umgang mit Konflikten durch eine politische Orientierung, Isoldes und Ricos durch eine Orientierung an den Mitarbeitern und Rolfs, Christines, Max’, Beates, Josefs, Dorits, Annas und Ritas durch eine Orientierung an sich Selbst geprägt. Die Fokussierung auf Betriebsräte wirkt hier methodisch als ‘Brille’. So konnte die, besonders bei den Nicht-Betriebsräten zahlenmäßig unterrepräsentierte Gruppe der Personen mit einer politischen Orientierung, überhaupt erst in den Blick kommen. Das bedeutsamste Ergebnis aus diesem Untersuchungsschritt ist wohl der gefundene Zusammenhang zwischen der grundlegenden, konfliktbezogenen Orientierung an sich Selbst und dem (Professionalisierungs-)Defizit dieser Gruppe. Neben ‘Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis’ hat sich die Kombination aus ‘Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung’ mit einer grundlegenden (beruflichen) Orientierung beim Umgang mit Konflikten an sich Selbst (vgl. Paul, Kassandra, Rita und Anna) als ganz elementares Hindernis für lebenslanges Lernen herausgestellt.
Vierter Teil: Mobbing eine gesteigerte Form von Konflikten
1 Mobbing als Institutionalisierung von Betroffenheit
Nach der ersten Spezifizierung, wo eine besondere betriebliche Gruppe im Mittelpunkt stand, bei der Konflikte im Alltag eine herausragende Rolle spielen, soll es im folgenden Kapitel um eine gesteigerte Form von Konflikten – die Mobbingkonflikte – gehen. Üblicherweise wählt man Mobbing als Bezeichnung für schwere, systematische Konflikte, bei denen eine einzelne Person besonderen Schaden nimmt, indem sie z.B. ernsthaft krank wird. Bereits in der Pilotstudie (Niebuhr 2002) konnte ich aber zeigen, dass Konfliktbetroffene den Begriff unabhängig von objektiven Mobbingdefinitionen gebrauchen. Mobbing ist eine, im Zusammenhang mit dem Konflikt sozial erzeugte Zuschreibung. Auch schwache Konflikte können als Mobbing bezeichnet werden. Dadurch werden sie zu herausgehobenen Ereignissen, weil es plötzlich Täter und ein Opfer gibt, weil dem vermeintlichen Täter rechtliche Sanktionen drohen, weil Vorgesetzte zum Eingreifen gedrängt werden und weil die Lösung der Konflikte durch diese Bewertung zu einer Frage der Moral wird. Andererseits bedeutet Mobbing als Zuschreibung aber auch, dass Interviewte für objektive, tatsächliche Mobbingfälle diese moralische Bewertung ablehnen können, indem sie Mobbingfälle als Konflikte einordnen. Im Mittelpunkt dieser Vertiefung sollen deshalb Erzählungen von stark eskalierten, massiven Konflikten stehen, die objektiv als Mobbing bezeichnet werden können, unabhängig davon, ob die Interviewten sie als Mobbing oder Konflikte einordnen. Durch die Fokussierung auf Mobbing als eine gesteigerte Form von Konflikten werden drei unterschiedliche, auch im Hinblick auf Lernen und Lehren bedeutsame Schwerpunkte bei der Ursachenzuschreibung sichtbar. Für einen Teil der über Mobbingfälle Berichtenden liegt die Ursache von Mobbing allein (oder hauptsächlich) in einem einzigen Mobber bzw. in mehreren Mobbern. Eine andere Gruppe sieht die Ursachen im betrieblichen System, in dem individuelle, soziale und wirtschaftliche Interessen einander entgegenstehen. Die dritte Grundausrichtung wiederum sieht die Ursachen ganz global in unserer modernen, auf Leistung und Individualisierung ausgerichteten Gesellschaft. Typische Beispiele für die personifizierte Ursachenzuschreibung in Mobbingfällen sind bei Christine, Max, Kassandra, Rico und Anna und Josef zu fin-
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den. Max und Kassandra fühlen sich von ihren Vorgesetzten gemobbt, Christine von zwei neuen Kolleginnen. Die Lebenspartner Anna und Josef erzählen vom gleichen Schichtleiter, der dafür sorgte, dass beide ihre Jobs verloren. Rico erzählt von einem Teamsprecher, der immer wieder Kollegen mobbt, ohne dass er es als Vorgesetzter verhindern kann. Alle diese Interviewten erklären in ihren Erzählungen, welche konkreten Personen schuld daran sind, dass es ihnen durch die Konflikte, die sie als Mobbing bezeichnen, schlecht ging. In all diesen Fällen fühlen sich die Interviewten ausschließlich als Opfer der Ereignisse, beschreiben diese ausschließlich aus ihrer persönlichen Perspektive und fühlen sich mit ihrem Handeln bzw. Nicht-Handeln moralisch im Recht. Für die Sichtweise anderer Konfliktparteien, z.B. der von ihnen beschuldigten Mobber und/ oder der (unbeteiligten) Kollegen, bleiben sie blind. Sie formulieren an den unmoralischen ‘Tätern’ Veränderungserwartungen. Doch glauben sie nicht wirklich daran, dass die Mobber sich ändern wollen und können. Deshalb erwarten sie von Vorgesetzten und von Betriebsräten, dass die eingreifen, sich dabei uneingeschränkt für die Opfer einsetzen und die Mobber bestrafen. Die Position der personifizierten Ursachenzuschreibung findet durch die derzeitige Mobbingdiskussion (und auch in der klassischen Mobbingforschung) immer wieder ihre Legitimation, denn auch da wird üblicherweise die Hilfe für die Opfer und die Maßnahmen gegen uneinsichtige Mobber, Teams und Vorgesetzte diskutiert. Zu der Gruppe, die die Ursachen für Mobbing im betrieblichen System sehen, gehören Cora, Carmen, Isolde und Anita. Bei diesen Interviewten finden sich Mobbingerfahrungen aus zwei unterschiedlichen Perspektiven – der des Intervenierenden (der immer der Gefahr ausgesetzt ist, dass sein Intervenieren in Mobbing kippt) und der des zu Unrecht als Mobber beschuldigten Mitarbeiters. Cora und Carmen berichten von Erfahrungen im Intervenieren und reden über Mobbingfälle genauso wie über ‘normale’ Konflikte. Sie meiden die Bezeichnung Mobbing. Diese pragmatische Grundhaltung blendet die moralische Diskussion um Mobbing (mit Opfern und Tätern) aus, bzw. kritisiert sie als in der Praxis ungeeignet. Sie gehen davon aus, dass es, weil Betriebe Orte des sozialen Umgangs darstellen, auch zu massiven Konflikten kommen kann. Sie folgt einer betrieblichen, arbeitsbezogenen Logik. Wenn sich jemand gegen die betriebliche Ordnung stellt (als Täter oder Opfer), muss er auch mit Konsequenzen/ Strafen rechnen. Sie treten deshalb mit Veränderungserwartungen an alle Beteiligten heran. Danach ist es unwesentlich, wer jetzt Täter und wer Opfer ist – wichtig ist, dass alle sich verantwortlich zeigen. Aus der Sicht des praktischen Intervenierens in Mobbingkonflikten zeigt es sich als Problem, Interventionsmethoden zu finden, die sowohl von Mobbern als auch von Mobbingbetroffenen akzeptiert werden. Denn wenn jemand in das betriebliche System nicht mehr integriert werden kann, muss er/ sie, nach ihrer Auffassung, an ein anderes – z.B. an das
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medizinische System, abgegeben werden (vgl. hierzu Cora und den Konflikt mit dem Internetsurfer) und/ oder den Betrieb verlassen. Bei Isolde und Anita kann man eine noch kritischere Grundhaltung gegenüber Mobbing finden. Sie wurden beide, für sie total überraschend und erschreckend, des Mobbings beschuldigt. Im Rückblick können sie sich das Entstehen und Eskalieren der Konflikte erklären. Als Ursachen machen sie typische betriebliche Aushandlungsprozesse, in denen es um Einarbeitung, Karriere machen, Anpassen an betriebliche Veränderungen und ganz allgemein den sozialen Umgang miteinander geht, aus. Beide wehrten sich aber aktiv gegen die, aus ihrer Sicht ungerechtfertigte Täterzuschreibung und bewarben sich betriebsintern an einen anderen Arbeitsplatz. Doch der schlechte Ruf („Das ist eine Mobberin!“) begleitete sie noch lange Zeit. Diese beiden Interviewten kritisieren die leichtfertige Verwendung des Mobbingbegriffs, die Überhöhung von ‘normalen’ Konflikten durch die Mobbingzuschreibung und die unkritische Übernahme der Opferdeutung durch Vorgesetzte und Betriebsräte56. Die betriebliche Ursachenzuschreibung findet in der öffentlichen Diskussion, die nur ganz allgemein auf Mobbing begünstigende, betriebliche Rahmenbedingungen hinweist (vgl. Zapf 1999) zurzeit kaum Berücksichtigung. Die Interviewten benennen mit ihrer Kritik einen blinden Fleck in der offiziellen Mobbingdiskussion und beanstanden die Einseitigkeit der aktuellen Debatte. Nach ihrer Logik gehören Konflikte zu den normalen Instrumenten jeder betrieblichen Sozialisation. Darüber hinaus weisen sie auf Situationen hin, in denen normale Konflikte für die Sozialisation nicht ausreichen. Dann werden zusätzliche erzieherische Mittel notwendig, um jemanden in die betrieblichen Abläufe hineinzusozialisieren. Das wiederum – so die Kritik – werde in der Öffentlichkeit fälschlicherweise oft als Mobbing bezeichnet. Zu der Gruppe, die die Ursachen für Mobbing im gesellschaftlichen System sehen, gehören Bärbel, Dorit, Elena und Jens. Die Personalentwicklerin Bärbel bezieht sich auf die gesellschaftlichen Folgen der Globalisierung. Dorit sieht die Ursachen in der strukturellen Benachteiligung von Frauen (mit keinen Kindern) in Managementfunktionen – besonders im ländlichen Raum. Elena und Jens argumentieren als politische Betriebsräte und sehen Mobbing als ein spezifisches gesellschaftliches Risiko für Arbeitnehmer. Die Betriebsräte und die Personalentwicklerin nutzen den Mobbingbegriff, um den ‘Worst Case’ eines Konfliktes zu beschreiben. Ziel der Mobbingzuschreibung ist es hier, die theoretisch mögliche Schwere von Konflikten, unabhängig von tatsächlichen Einzelfällen, herauszustreichen. Damit begründet die Personalentwicklerin für ihren Betrieb die Notwendigkeit der vorhandenen, von ihr initiierten aufwändigen und teuren 56
Bei Anita wurde von den Vorgesetzten, ohne dass die Beschuldigte auch nur eine Ahnung vom Konflikt hatte, bereits mit dem Betriebsrat über ihre Entlassung diskutiert.
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Präventions- und Interventionsmaßnahmen. Die Betriebsräte Jens und Elena wollen solche Maßnahmen für ihre Betriebe noch durchsetzen und erinnern mit ihrer Zuspitzung auf Mobbing die Manager an ihre Verantwortung gegenüber der Belegschaft. Diese Grundhaltung nehmen üblicherweise die Wortführer einer gesellschaftspolitisch motivierten Mobbingdiskussion ein. Die Hilfe für die Opfer von Mobbing steht auch hier im Vordergrund. Es geht dabei aber weniger um den konkreten Einzelfall, sondern um allgemein verbindliche Standards für Prävention und Intervention. Empirisch lassen sich also drei Grundorientierungen bei der Ursachenzuschreibung unterscheiden, von denen sich zwei in der aktuellen Mobbingdiskussion wieder finden lassen. Sie zeigen zwei Perspektiven auf Mobbing als Institutionalisierung von Betroffenheit. Die dritte Grundorientierung steht den beiden anderen eher kritisch gegenübersteht. Abhängig von der Grundorientierung bei der Ursachenzuschreibung wird der Mobbingbegriff mit entsprechender Zielsetzung genutzt oder abgelehnt.
2 Die Bedeutung von Lernen und Lehren bei Mobbingkonflikten
Die personifizierte Ursachenzuschreibung korrespondiert mit dem Nicht-Lernen der Opfer in Mobbingkonflikten. Weil die ‘Täter’ in den Augen dieser Gruppe die einzig Schuldigen sind, sehen die vermeintlichen Opfer für sich selbst überhaupt keine Veranlassung zum Lernen. Wenn sie überhaupt etwas lernen, dann, wie man sich mit der Behauptung von Mobbing im Betrieb Gehör verschaffen kann und wichtig wird. Weil die Mobbingopfer aber nicht lernen, zementieren sie ihre Opferrolle und bleiben auf Dauer auf die Hilfe durch Intervenierende angewiesen. Die soziale Konstruktion Mobbing kann also Unbelehrbarkeit erzeugen. Mobbing ist somit für die Opfer der ‘Freibrief’ zum Nicht-Lernen. Anna und Max verlernen sogar durch ihre über lange Zeit andauernde Hilflosigkeit einen Teil ihrer vorhandenen sozialen Fähigkeiten. Selbst Rico, der aus alltäglichen Konflikten viel lernt, kann aus seinen Mobbingerfahrungen eher kein Wissen und keine Kompetenzen schöpfen. Weil er immer noch nicht weiß, wie er in Mobbingfällen handeln soll, definiert er sie als grundsätzlich unlösbar57. Weil die ‘Täter’ in den Augen der ‘Opfer’ unbelehrbar sind, erwarten sie, dass die Mobber bestraft werden, indem sie eine Abmahnung bekommen und/ oder versetzt werden – oder sogar, dass ihnen gekündigt wird. Max erzählt, dass der Wunsch nach einer Bestrafung des Täters so weit ging, dass er und die anderen Gemobbten ernsthaft über die Möglichkeit diskutierten, einen Auftragskiller zu engagieren. Lehren als Maßnahme des Umgangs mit Mobbing hat hier keine Bedeutung. Wenn durch Personen mit einer personifizierten Ursachenzuschreibung bei Mobbing ausnahmsweise eine Belehrung stattfindet, sind sich diese Personen ihrer Vermittlungsbemühungen und/ oder der Wirkung ihrer Belehrungen weder in der Situation noch rückblickend zur Zeit des Interviews bewusst. So überlegt Christine zum Zeitpunkt des Interviews immer noch nicht, ob sich ihre jungen unerfahrenen Kolleginnen von ihrer Art der Einarbeitung vielleicht auch schikaniert gefühlt haben könnten und dies letztlich zum Konflikt führte. 57
Er unterscheidet zwischen den alltäglichen Kleinkonflikten, in denen er mit Hilfe institutionalisierter Führungsinstrumente Einfluss nehmen kann und muss – und den quasi unlösbaren Mobbingkonflikten, die man auch als Vorgesetzter eher nicht lösen könne.
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Die Bedeutung von Lernen und Lehren bei Mobbingkonflikten
Die Vertreter der Gruppe mit einer betrieblichen Ursachenzuschreibung bei Mobbing mussten aus ihren Erfahrungen als Intervenierende bzw. als beschuldigte Mobber lernen, wie komplex, dynamisch und explosiv und potentiell unbeherrschbar ein solcher Konflikt tatsächlich sein kann, wie unterschiedlich die Vorfälle wiedergegeben werden und wie schwierig bis unmöglich es manchmal sein kann, die Ereignisse objektiv nachzuzeichnen. Ihr Verständnis von Lernen ergibt sich aus der Überzeugung, dass Konflikte – auch Mobbingkonflikte – aufgrund der betrieblichen Gegebenheiten nicht ganz zu vermeiden sind. Alle müssten deshalb vorbeugend (z.B. in Seminaren und durch eine fundierte Grundausbildung) – aber auch durch ihre konkrete Konflikterfahrungen als Betroffene (Gemobbter oder wenn man als Mobber beschuldigt wird) und beim Intervenieren lernen. Auch Elemente von Erziehung können notwendig werden. Isolde und Anita fühlten sich zunächst als Opfer von Intrigen, haltlosen Beschuldigungen und Verleumdungen, doch sie konnte sich in keine moralisch legitimierte Opferrolle hineinfallen lassen, weil ihr betriebliches Umfeld ihnen – anders als den klassischen Mobbingopfern – feindselig entgegenstand. Sie musste kämpfen, sich kritisch mit Mobbing auseinandersetzen und dabei lernen, um ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren und ihr Ansehen zu schützen bzw. wieder herzustellen. Anita lässt sich schließlich sogar zur Betriebsrätin wählen und engagiert sich dort in der Mobbingarbeitsgruppe. Isolde besucht mehrere Mobbingseminare und belehrt danach ihren Kollegen über den Unterschied zwischen Mobbing und Konflikten. Beide lernen auch durch den Druck von außen. Möglicherweise ist es aus der Sicht des lebenslangen Lernens weniger folgenschwer, jemanden als Mobber, denn als Mobbingopfer zu bezeichnen. Die als ungerecht empfundene Anschuldigung sorgte nicht nur für Lernen, sondern führte bei dieser Gruppe zu einem kritischen Hinderfragen der Mobbingursachen und der betrieblichen Praxis beim Umgang mit Mobbing. Bei der betrieblichen Ursachenzuschreibung bei Mobbing spielt auch pädagogisch motiviertes Lehren eine sehr große Rolle. Carmen und Cora lehren begrenzt bzw. dauernd und eher vorsichtig und verdeckt. Sie meiden Formen der Belehrung, die die Konflikte verschärfen könnten. Die Personen mit dieser Grundhaltung bemühen sich, die Konflikte der KollegInnen zu entdramatisieren und sie auf eine lösbare Eskalationsstufe zurückzufahren. Lehren ist hier eine wichtige Form des Intervenierens in Konflikten anderer. Ziel ist es, alle Konfliktparteien (Mobber und Gemobbte) zum Lernen zu bewegen. Anita und Isolde wurden als Mobber beschuldigt, weil sie offen lehrten – weil sie scheinbar versuchten, ihre KollegInnen auch ein Stück zu erziehen. Anita ist die wissende erfahrene Mitarbeiterin im Labor, der der frisch von der Fachhochschule kommende Kollege in Fragen der Laborroutine und Arbeitssicherheit ‘nicht das Wasser reichen’ kann. Sie belehrt ihn (im Rahmen der Einarbeitung) direkt und of-
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fen, weil sie von einem geklärten Lehrer-Schüler-Verhältnis ausgeht. Doch die Belehrung und Erziehung wird von ihm als Mobbing interpretiert. Hätte Anita von den Widerständen gewusst, hätten sie ihr Lehrverhalten vielleicht angepasst. Isolde hingegen musste lernen, dass sie die offen kommunizierten Lernwiderstände ihrer KollegInnen ernst nehmen muss. Sie versuchte mit Druck und direkter offener Belehrung ihre KollegInnen zum Lernen oder alternativ zum Lohnverzicht zu zwingen. Die als unangemessen empfundene Belehrung bezeichneten die Kollegen (die älteren Frauen und der junge Mann) dann auch als Mobbing. Die Belehrten akzeptierten sie nicht in der Rolle des Konfliktintervenierenden, des Lehrers bzw. des Erziehers. Für Personen, die intervenieren, besteht augenscheinlich latent die Gefahr, dass sie mobben, wenn ein ‘Schüler’ sich auf Dauer uneinsichtig zeigt und sich weigert zu lernen – oder dass Belehrung und Erziehung als Mobbing interpretiert werden, wenn die Person des Vermittlers bzw. die Belehrung/ Erziehung abgelehnt wird. Vielleicht wurde Coras Verhalten nicht als Mobbing interpretiert, weil im Gegensatz zu Isolde und Anita, hier Erziehung und Belehrung unsichtbar gemacht wurden, indem Cora eher vorsichtig und als Betriebsrat mit Mandat ausgestattet intervenierte und lehrte. Für die Vertreter einer gesellschaftlichen Ursachenzuschreibung liegen ihre Erfahrungen mit Mobbing alle weiter in der Vergangenheit. Daraus und dafür haben sie selbstverständlich auch gelernt. Jens kennt Mobbing aus der Betroffenen- und der Intervenierendenperspektive. Bärbel und Elena kennen Mobbing lediglich von der Seite des Intervenierens. Dorit hat eigene Mobbingerfahrungen machen müssen. Dieser Gruppe geht es aktuell aber nicht (mehr) um persönliches Lernen aus dem Intervenieren oder Betroffensein. Sie bemühen sich in erster Linie Entscheidungsträger (und Geldgeber) für das Thema Mobbing zu sensibilisieren und von der Notwendigkeit spezieller Präventions- und Interventionsverfahren zu überzeugen. Sie lernen heute also nicht mehr direkt aus ihren Erfahrungen mit Mobbing, sondern aus ihren Gesprächen und Verhandlungen über Mobbing. Die Personalentwicklerin lernt, welche Interventionsmethoden es gibt (z.B. Mediation), wie man sie einsetzt und wie man kompetente externe Pädagogen ‘einkauft’. Die Betriebsräte lernen, wie man mit Hilfe des Betriebsverfassungsgesetzes seine Mitbestimmungsrechte diesbezüglich einfordern und durchsetzen kann. Dorit lernt wie sie sich an männlich geprägte Muster anpassen kann, wenn sie Konflikte vermeiden und Karriere machen will. Diese Interviewten haben gelernt, dass sie über das moralisch besetzte Thema Mobbing eine grundlegende Einflussmöglichkeit auf den Umgang mit Konflikten und die sozialen Aushandlungsprozessen allgemein erreichen können. Und sie haben gelernt, wie man Interessen im sozialen Bereich (unabhängig von der Mobbingdiskussion) artikuliert und durchsetzt. Es wird zwar immer noch über Mobbing geredet, doch es geht um mehr.
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Die Bedeutung von Lernen und Lehren bei Mobbingkonflikten
Bei Personen, die Mobbing als gesamtgesellschaftliches Phänomen begreifen, hat auch Lehren seine Wichtigkeit. Die Zuspitzung auf Mobbing und der wiederholte Hinweis auf konkrete Mobbingfälle und eine symbolische Belehrung der Manager wird hier genutzt, um aktiv auf die Ausrichtung der betrieblichen Präventions- und Interventionsmethoden Einfluss zu nehmen, weil die verantwortlichen Manager letztlich über die Maßnahmen entscheiden. Die frühere Personalentwicklerin Bärbel erlebte einen Abbau solcher etablierter Interventions- und Präventionsmaßnahmen. Durch einen Juristen als Chef kam es zu einer Verschiebung von den pädagogischen Maßnahmen zu den juristischen. Es geht ihnen beim Belehren also nicht darum, dass die Manager etwas lernen, sondern darum, öffentlichen Druck aufzubauen. Die Themen Lernen und Lehren haben bei dieser Gruppe also keine so zentrale Bedeutung. Es wird besonders die Notwendigkeit der institutionalisierten Steuerung von Konfliktprävention und intervention thematisiert. Neben Regeln für die Information der Mitarbeiter und innerhalb der Teams, Beschwerdeverfahren, Versetzungen und Abmahnungen, fordern sie im Kontext von Mobbingkonflikten auch die Institutionalisierung von betrieblichen Lehr-Lernprozessen (z.B. Zwangsschulungen für Mobber, Teams und Führungskräfte). Zusammenfassend kann man sagen: Das Anschließen an die aktuelle, moralisch geführte Mobbingdebatte – wie bei personifizierter und gesellschaftlicher Ursachenzuschreibung zu finden – führt zur Stärkung und zum Ausbau, organisatorischer und institutioneller Maßnahmen, bei denen Lernen und Lehren nicht im Zentrum stehen. Eine kritische Auseinandersetzung mit der konkreten betrieblichen Praxis des Umgangs mit Mobbing (betriebliche Ursachenzuschreibung) scheint hingegen nicht möglich, ohne sich intensiv auf Lernen, Lehren und Erziehen zu beziehen. Konflikte stehen hier für eine normale betriebliche Sozialisation. Was die klassische Mobbingdiskussion als Mobbing bezeichnet, sind aus Sicht der betrieblichen Ursachenzuschreibung unterstützende erzieherische Elemente im Rahmen dieser schwierigen Sozialisation. Eine einseitig geführte, auf Mobbing zugespitzte Diskussion über stark eskalierte Konflikte scheint auch hier den Möglichkeitsraum für Lernen und Lehren einzuschränken. Organisatorische, institutionalisierte Maßnahmen treten hier in Konkurrenz zum lebenslangen Lernen. Dies ist vielleicht eine Erklärung, warum es trotz 20jähriger Beschäftigung mit Mobbingprävention und -intervention in diesem Bereich so wenige Fortschritte gibt. Andererseits stellt sich die Frage, wie viel Erziehung Erwachsenen in der Moderne zugemutet werden soll und darf.
Fünfter Teil: Zusammenfassung und Ausblick Konflikte aus Sicht der unterschiedlichen Beteiligten
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Ich bin in der vorliegenden Studie der Frage nachgegangen, wie zwei unterschiedliche betriebliche Gruppen – die Betroffenen und die Intervenierenden – mit Arbeitsplatzkonflikten umgehen und welche Bedeutung darin Lernen und Lehren als mögliche Konfliktumgangsstrategien einnehmen. Ich habe diese Unterscheidung gewählt, weil sie der in den Betrieben und in der Ratgeberliteratur üblichen Differenzierung für Agieren in Konflikten folgt. Ich bin von der Grundannahme ausgegangen, dass beim Umgang mit betrieblichen Konflikten, Lernen und Lehren immer eine Rolle spielen und, dass Intervenierende Lehren und Betroffene Lernen als Mittel des Umgangs mit Konflikten einsetzen. Ziel der gesamten Forschungsarbeit war es, mehr über den Zusammenhang zwischen Konflikten und Lernen bzw. Lehren zu erfahren, um dies unter dem Aspekt Erwachsenenbildung und lebenslanges Lernen diskutieren zu können. Ich führte insgesamt mit 21 Intervenierenden und Betroffenen thematisch fokussierte Interviews. Sowohl in der Intervenierenden- als auch in der Betroffenengruppe waren Mitarbeiter, Vorgesetzte und Betriebsräte vertreten. Alle Interviewten wurden aufgefordert, über ihre Erfahrungen mit eigenen und fremden Konflikten zu erzählen. Ich möchte nun die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit noch einmal kurz zusammenfassen, um dann allgemeine Überlegungen über den Umgang mit Arbeitsplatzkonflikten anzuschließen und dabei auch zu fragen, wie zukünftig Konflikte mit größerer Sicherheit zu Lernchancen gemacht werden können, und wie Lehren dabei als Unterstützung der Lernenden (und nicht als Kampfmittel) eingesetzt werden kann. Im Forschungsverlauf wurde zunächst mit den Kontrasten Intervenierende vs. Betroffene und schwache vs. schwere Fälle gearbeitet. Bereits die Interpretationen der Gespräche mit Cora, Isolde, Rolf und Rico lenkten den Blick auf eine Vielfalt, die im Widerspruch zur üblichen, klassischen Unterscheidung zwischen Konfliktparteien und Eingreifenden steht. Die weiteren Analysen zeigten dann, dass weder die Intervenierenden noch die Konfliktbetroffenen eine homogene Gruppe bilden und, dass sich die Zuordnung von Lernen zur Betroffenengruppe und Lehren zur Intervenierendengruppe empirisch nicht bestätigen lässt. Deshalb wurden alle 21 Interviews nach der (berufs)biographischen und lebensweltlichen Einordnung durch die Interviewten selbst neu sortiert. Es wurden die Konflikttypen Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis, Konflikt als Ergebnis einer Rolle und Konflikt als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung ermittelt. Als Lerntypen ergaben sich durch die beiden Dimensionen Häufigkeit des Lernens in Konflikten (selten, begrenzt, dauernd) und berufsbezogene Selbsteinschätzung (Kompetenz, Defizit) die sechs Lerntypen Pragmatisches Nicht-Lernen, Seminar-Lernen, Habitualisiertes Lernen, Unerfüllte Lernerwartungen, Punktuelle Akzeptanz von Lernzumutungen und Genutzte Lernchancen. Die Kombination der beiden Dimensionen Häufigkeit des Lehrens in Konflikten (gar nicht, be-
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grenzt, dauernd) und berufs-/ betriebsbezogener Status in Bezug auf Intervenieren in Konflikten (Mandat, kein Mandat) führte zu den sechs Lehrtypen Generalisiertes Lehren, Problembestimmtes Lehren, Zufälliges Lehren, Selbsternannter Pädagoge, Erwartungsfreies Nicht-Lehren und Alternative zum Lehren. Die Hoffnung war nun, dass es einen klaren und engen Zusammenhang zwischen Konflikt-, Lehr- und Lerntypen gibt. Diese Hoffnung hatte sich an dieser Stelle nur teilweise erfüllt und so schien es erforderlich im weiteren Verlauf der Arbeit noch weitere Spezifizierungen bzw. Vertiefungen vorzunehmen. Zunächst aber zu den Ergebnissen aus der Typenbildung. Ich konnte einen klaren Zusammenhang zwischen Konflikt- und Lerntypen feststellen. Erleben Mitarbeiter selten Arbeitsplatzkonflikte, nutzen sie diese einmalige Erfahrung eher nicht, um daraus etwas zu lernen. Erleben sie dagegen dauernd, im beruflichen wie im privaten Bereich Konflikte, ist es ebenfalls wahrscheinlich, dass sie überhaupt nichts daraus lernen (können). Kommt es beim Konflikttyp ‘Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung’ dann doch zu Lernerfahrungen, finden wir das genaue Gegenteil – dann wird dauernd gelernt. Die Wahrscheinlichkeit, gezielt aus Konflikten zu lernen, ist bei den Personen am größten, die ihre Konflikte im Zusammenhang mit ihrer beruflichen und betrieblichen Rolle deuten. Der gefundene Zusammenhang zwischen Konflikt- und Lehrtypen war dagegen eher locker. Das bedeutet, dass man das Lehren in Konflikten nur sehr vorsichtig aufgrund der hier gefundenen individuellen Konfliktdeutung erklären kann und, dass sich eine Anzahl von Fällen hier nicht einordnen ließ. Mit aller Vorsicht wurde deshalb gesagt: Personen, die in Konflikten anderer lösungsorientiert intervenieren und dabei Lehren als Methode gewinnbringend einsetzen, verfügen häufiger über eine professionelle, berufsbezogene Sicht auf Konflikte – das heißt, sie interpretieren die Konflikte als Teil ihrer beruflichen Rolle. Carmen, Rico, Nils und Olga stehen für diese Kombination. Sie handeln aus ihren betrieblichen Rollen als Vorgesetzte bzw. Betriebsräte und lehren in den Konflikten anderer vorsichtig und verdeckt und in pädagogischer Absicht. Inoffizielle, betriebliche Pädagogen dagegen können sich nur im Spannungsfeld von ‘ausreichend’ betrieblichen Konflikterfahrungen und einer persönlichen Welt- und Lebenssicht auf Konflikte entwickeln. Der Fall Cora steht für die Kombination aus ‘Selbsternanntem Pädagogen’ und ‘Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung’. Ein dritter Befund zum Zusammenhang von Konflikten und Lehren lautet, dass der Lehrtyp ‘Zufälliges Lehren’ für ‘Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis’ besonders bezeichnend ist. Christine, Rolf, Anna, Max und Josef gehen allen Konflikten aus dem Weg. Sie intervenieren niemals, und sie lehren entweder gar nicht oder eben begrenzt und ohne Mandat. Wenn sie
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lehren, passiert dies eher zufällig und manchmal mit dem Effekt, dass sie dadurch Konflikte erst lostreten. Der Zusammenhang zwischen Lernen und Lehren im Kontext von Konflikten wurde schließlich auf drei Hauptrichtungen zugespitzt. Da wurde die Kombination aus Nicht-Lernen und seltenem unreflektierten Lehren gefunden. Das bedeutet, dass Leute, die selbst beim Bearbeiten von Konflikten Lernen nicht als Mittel einsetzen (können), auch häufig kein Gespür für die Wirkung von Belehrung in Konflikten haben. Für diese Gruppe, zu der Max, Christine, Rolf, Josef, aber auch Paul, Rita und Anna gehören, sind Lernen und Lehren im Zusammenhang mit der Bearbeitung von Konflikten unwichtig. Als weitere Kombination wurde dauerndes Lernen und begrenztes, vorsichtiges Belehren ausgemacht. Hier waren die Personen zu finden, die wie Carmen, Rico und Olga, ein pragmatisches Bild von den Möglichkeiten von Lernen und Lehren in eigenen und fremden Konflikten haben. Lernen und Lehren sind für sie wichtige Mittel der Konfliktbearbeitung. Sie erwarten, dass, wenn jemand defizitär ist, er oder sie an Veränderungen arbeitet. Diese Kombination entspricht weitgehend dem, was in der Ratgeberliteratur zum Umgang mit Konflikten vorausgesetzt wird. Als drittes wurde der Kombination aus eigenem, dauerndem Lernen trotz Kompetenz und dauerndem, strategisch ausgerichteten Belehren besondere Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. die Fälle Ilse, Elena und Bärbel). Hier finden eine Idealisierung und Überhöhung von Lernen und Lehren statt. Weil man selber erfolgreich lernt, kann man nicht akzeptieren, dass andere nicht lernen wollen oder nicht lernen können. Abschließend wurde noch der Zusammenhang zwischen Konflikten, Lernen und Lehren analysiert. Zusammenfassend sind folgende Ergebnisse festzuhalten: Deutet jemand seinen Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis, kann erwartet werden, dass Lernen und Lehren im Zusammenhang mit der Konfliktbearbeitung für ihn eher unbedeutsam sind. Auch eine ausgeweitete Konfliktsicht auf die Welt und das eigene Leben (Konflikt als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung), fallen häufig mit einer geringen Bedeutung von Lernen und Lehren zusammen. Für Personen, die ihre Konflikte als Ergebnis ihrer beruflichen und betrieblichen Rolle interpretieren, ist Lernen und Lehren im Kontext von Konflikten dagegen immer wichtig. Die Ergebnisse aus der Typenbildung wurden dann auf die Grundunterscheidung Konfliktbetroffene und Intervenierende zurückgeführt, um zu diskutieren, was die Ergebnisse für die beiden betrieblichen Gruppen bedeuten. Es bestätigte sich erneut, dass die Zuordnungen Lernen zu Betroffenen und Lehren zu Intervenierenden empirisch so nicht haltbar sind. Ganz im Gegenteil sind es gerade die Intervenierenden die besonders viel lernen und lehren. Aber auch hier konnte durch die Typenbildung der Zusammenhang zwischen Lernen, Lehren
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und Konflikten noch nicht hinreichend beschrieben werden. In der Gruppe der Konfliktbetroffenen gibt es hingegen viel Nicht-Lernen und Nicht-Lehren. Dadurch zeigte sich aber, dass die, der Arbeit zugrunde liegende Grundunterscheidung zwischen Betroffenen und Intervenierenden sehr wohl bedeutsam ist, aber anders als vor der Untersuchung angenommen. Um den Zusammenhang zwischen Konflikten, Lernen und Lehren noch besser beschreiben zu können, wurden anschließend zwei Spezifizierungen vorgenommen. Eine Gruppe, die im betrieblichen Verständnis als klassische Intervenierende angesehen wird, die aber auch selber üblicherweise viele Konflikte austragen muss, ist die der Betriebsräte. Es ging im nächsten Schritt also um eine lehr/lernbezogene Spezifizierung von Konflikterfahrungen. Deshalb wurden die 21 Interviews neu sortiert: in Betriebsräte und Nicht-Betriebsräte. Zusätzlich zur Einordnung ins betriebliche Konfliktsystem und zur Unterteilung in drei unterschiedliche Konflikttypen, kommt durch die Fokussierung auf Betriebsräte ein weiterer wichtiger Aspekt – die grundlegende (berufliche) Orientierung in Bezug auf den Umgang mit Konflikten – hinzu. Es konnten drei (berufliche) Orientierungen beim Umgang mit Konflikten, die wiederum Auswirkungen auf Lernen und Lehren in und durch Konflikte haben, herausgearbeitet werden. Diese Orientierungen sind auch bei den Nicht-Betriebsräten zu finden. Man muss, so das Ergebnis, zusätzlich noch zwischen Gruppen unterscheiden, deren Umgang mit Konflikten durch eine politische Orientierung, durch eine Orientierung an den Mitarbeitern oder eine Orientierung an sich Selbst geprägt ist. So wurden drei empirisch gehaltvolle Varianten einer sich im Kontext des lebenslangen Lernens neu herausgebildeten Ordnung von Lernen und Lehren sichtbar. Lebenslanges Lernen kann sich erstens bei einer politischen Orientierung als (politische) Bildung manifestieren. Entsprechend dem humboldtschen Bildungsbegriff geht es hier um die weitestgehende Aneignung von Welt durch den Menschen als individuelles Subjekt. Lernen weist hier über den eigentlichen Beruf hinaus. Man bildet sich für einen alternativen Lebens- und Arbeitsbereich weiter. Und man ermutigt andere, auch fürs Leben zu lernen. Es muss zweitens davon ein einfaches, berufsbegleitendes Lernen und Lehren (mit Gefahr des Mobbings) unterschieden werden. Bei einer (beruflichen) Orientierung an den Mitarbeitern und Kollegen wird (oft unbemerkt) aus den alltäglichen kleinen und großen Konflikten an den Arbeitsplätzen gelernt. Und es gibt eine dritte Variante des lebenslangen Lernens, bei der das eigene Nicht-Lernen mit der Idealisierung von Lernen, unkontrolliertem Belehren, Lernverweigerung und Lernbarrieren zusammenfällt. Die, die eine ausschließliche (berufliche) Orientierung an sich Selbst haben, können aus Konflikten keine Lernerfahrungen gewinnen und haben kein Gespür für die Bedeutung von Belehrung.
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Zum Schluss wurde eine lehr-lernbezogene Spezifizierung mit einer gesteigerten Form von Konflikten, den Mobbingkonflikten, vorgenommen. Ich konnte feststellen, dass es drei unterschiedliche Ursachendeutungen für Mobbingkonflikte gibt. Diese Unterscheidung ist deshalb für die Gesamtuntersuchung eine sinnvolle Vertiefung, weil es einen Zusammenhang zwischen Ursachenzuschreibungen und Bedeutung von Lernen und Lehren beim Umgang mit Mobbing gibt. Während Personen, die die Ursachen für Mobbingkonflikte bevorzugt in einem (unmoralischen) Mobber oder ganz allgemein in unserer Gesellschaft sehen, beim Umgang mit Mobbingkonflikten eher organisatorische Interventionsmaßnahmen favorisieren, sind für Personen, die die Ursachen in der spezifischen, betrieblichen Situation lokalisieren, umfangreiches Lernen und Lehren unverzichtbarer Teil des Umgangs mit (Mobbing-) Konflikten. Diese Untersuchung gliedert sich in die Reihe der erziehungswissenschaftlichen Studien ein, die auf die Möglichkeiten, aber auch auf die Ambivalenzen und Grenzen des lebenslangen Lernens hinweisen. Es konnte gezeigt werden, dass die individuelle Deutung von Konflikten einen großen Einfluss auf den Umgang mit diesen Ereignissen und damit auch auf den Einsatz von Strategien, die mit Lernen und Lehren verknüpft sind, hat. Die einfache Unterscheidung zwischen Konfliktbetroffenen und Intervenierenden reicht dabei nicht aus, um ihnen je eigene Muster von Lernen, Lehren und Konflikten zuordnen zu können. Es sind komplexe, mehrdimensionale Konflikttypologien notwendig, bei denen sowohl die biographisch-lebensweltliche, individuelle Einordnung der Ereignisse (als Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis, Konflikte als Ergebnis einer Rolle oder Konflikte als Modus der Welt- und Lebensbetrachtung), als auch die bevorzugte Fokussierung auf die (berufliche) Orientierung in Bezug auf den Umgang mit Konflikten (politische Orientierung, Orientierung an den Mitarbeitern, Orientierung an sich Selbst) – und bei stark eskalierten Mobbingkonflikten auch die Zuschreibung von Schuld bzw. von Gründen für die Ereignisse von Bedeutung sind. Somit konnte die hier vorgenommene anfängliche Analyse von Konflikt-, Lehr- und Lerntypen nur der erste Schritt sein. Die Ergebnisse konnten durch die Fokussierung auf Betriebsräte und stark eskalierte Mobbingfälle noch weiter differenziert werden. Wie ist das Ergebnis von einer inhomogenen, vielschichtigen, nicht in zwei Gruppen unterteilbaren Riege von betrieblichen Konfliktakteuren unter erziehungswissenschaftlichem Fokus einzuordnen? Hier zeigen sich die, durch das lebenslange Lernen und die Universalisierung des Pädagogischen brüchig gewordenen Rollen der klassischen Lernenden und Lehrenden in den Betrieben. Konflikte bieten heute jedem, unabhängig von offiziellen Zuständigkeiten und Rollen, die Möglichkeit zu intervenieren, zu lernen und zu lehren. Durch erfolgreiches Intervenieren präsentieren nicht nur Vorgesetzte und Betriebsräte, son-
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dern auch ‘einfache’ Mitarbeiter und Konfliktbetroffene ihr Wissen und Können im Bereich des Konfliktmanagements; sie zeigen sich als kompetent. Institutionalisierte Formen des Lernens sind dabei immer wichtig und können in ganz unterschiedlicher Form auftreten: Von den Einen werden sie gezielt nach Notwendigkeit ausgewählt, bei den nächsten gehören sie ganz selbstverständlich zu den für die Berufsausübung notwendigen Grundqualifikationen, bei einer dritten Gruppe werden viele Seminare eher wahllos besucht. Informelles Lernen zeigt sich immer unter Einbeziehung mehr oder weniger klassischer Bildungsangebote. Doch Lernen und Lehren sind empirisch betrachtet recht ungleichmäßig verteilt. Es gehört auch heute noch nicht zum Selbstverständnis von Konfliktbetroffenen, die Konfliktklärungen selbst voranzutreiben und aus diesen Erfahrungen zu lernen. Hier zeigte sich, dass die Universalisierung des Pädagogischen und das lebenslange Lernen nicht alle Menschen gleichermaßen erreicht haben. Konflikte können durch ungünstige Deutungen zu ‘Inseln’ des Nicht-Lernens werden. Eine starke Fokussierung auf die eigene Person und Perspektive im Konflikt (und die gleichzeitige Ausblendung seiner sozialen und politischen Dimensionen) und die Etikettierung eines Ereignisses als Mobbing konnten neben der Deutung eines Konfliktes als einmaliges schicksalhaftes Ereignis als bedeutsame Lernhindernisse für das lebenslange Lernen beschrieben werden. Für Konfliktbetroffene kann dabei in unserer Wissensgesellschaft, unter dem Primat des lebenslangen Lernens, das Nicht-Lernen selber wieder zum Problem werden und in neue Konflikte führen. Besonders problematisch kann dies bei Betriebsräten sein, da deren Professionalisierung stark über Konflikte verläuft und andere Konfliktbetroffene manchmal auf ihre Unterstützung angewiesen sind. Es zeigt sich noch ein weiteres Problem, das durch die Universalisierung des Pädagogischen und das lebenslange Lernen entsteht. Wie bei den politisch orientierten Betriebsräten sichtbar, kann das Lernen durch Konflikte aus dem Betrieb hinausführen. Letzte Konsequenz ist, weil man soviel gelernt hat, muss man sich einen neuen Arbeitsplatz suchen. Die Dazu-Lerner und die Nicht-Lerner stehen nicht vor dieser Herausforderung. Lebenslanges Lernen wird hier nicht als Möglichkeit zur Bearbeitung von Unsicherheit sichtbar – sondern als Unsicherheitsfaktor selbst (vgl. Kade/ Nittel/ Seitter 2007). Diese Untersuchung hat auch gezeigt, dass verschiedenartige betriebliche Rollen zu ganz unterschiedlichen Konflikten führen. So muss man, wenn man kein Betriebsratvorsitzender ist, auch keine Konflikte mit dem Arbeitgeber austragen. Es werden aber auch konfliktscheue Menschen z.B. durch die Beförderung zum Vorgesetzten in Konflikte hineingedrängt (vgl. Rolf R., Nils G.). Es besteht nicht die Möglichkeit, sich gegen den Konflikt zu entscheiden, sondern nur gegen die Rolle. Wer Konflikte nicht aushält, sie nicht produktiv nutzen kann (z.B. indem er auch lernt), kann auf Dauer kein Vorgesetzter und auch kein
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(politischer) Betriebsrat sein. Aber auch dem ‘einfachen’ Mitarbeiter werden heute immer wieder Konflikte zugemutet. Deshalb ist die Frage des Umgangs mit Konflikten bzw. des Lernens durch Konflikte für unsere moderne Arbeitswelt für alle zentral. Diese Studie soll als Appell an die Praxis verstanden werden, den Ausgang von Konflikten nicht weiter dem Zufall zu überlassen. Die Verantwortung für ein konstruktives Streiten kann nicht auf Selbsternannte Pädagogen, Führungskräfte und Betriebsräte allein abgewälzt werden. Der Umgang mit Mobbern und Mobbingbetroffenen in den Betrieben und vor den Gerichten zeigt, dass es allerorts an einer transparenten, funktionierenden Streitkultur fehlt. Es gibt hilfreiche, nötige Konflikte in den Betrieben. Für die muss es verlässliche, klare Regeln geben, die so lange gelten bis sie durch neue ersetzt werden. Und es gibt Störungen, die die Mitarbeiter an der Arbeit und am Lernen hindern und die lediglich zerstören. Gemeinsames Lernen und Sich-als-Arbeitsteam-entwickeln bedeutet auch, ein gemeinsames Verständnis davon zu erarbeiten, was (bezogen auf den konkreten Betrieb und den konkreten Arbeitsplatz) die hilfreichen und was die unnützen Konflikte überhaupt sind. Was vielerorts fehlt, ist eine ernsthafte, politisch und sozial ausgerichtete Diskussion über die Unternehmenskultur und den angemessenen Umgang mit betrieblichen Konflikten. Wenn in den Betrieben über die Rahmenbedingen und Regeln für faire Konfliktaustragungen diskutiert wird, muss es auch um die neuen Lehrer in Konflikten gehen. Die Konflikte in den Betrieben sind keine offiziellen Lernsituationen. Das bedeutet, Lehren wird nicht direkt als solches sichtbar und akzeptiert (außer man schaltet einen externen Moderator/ Mediator ein). Die potentiellen, betrieblichen Lehrer sind aber eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen persönlichen, politischen und sozialen Zielen. Professionalisierung des Intervenierens bedeutet immer auch, sich immer wieder bewusst mit seiner Rolle auseinanderzusetzen58. Insgesamt zeigt meine Arbeit, dass die Bearbeitung des Themas Konflikte unter einer erziehungswissenschaftlichen Fragestellung fruchtbar sein kann und viele Ergebnisse zutage fördert, die dem Selbstverständnis, dass Intervenierende lehren und Konfliktbetroffene aus ihren Konflikten lernen, widersprechen. Für die Praxis der Konfliktintervention könnten die Ergebnisse für die Konzeption von Konflikt- und Mobbingseminaren, für die Ausgestaltung von Betriebsvereinbarungen zum Umgang mit Konflikten in den Betrieben, für allgemeine Schulung von Vorgesetzten, Konfliktlotsen und Betriebsräten, aber auch für die Beratung und Begleitung von Konfliktparteien und Teams, Anregungen geben. 58
gl. Lüders/ Kade/ Hornstein (2004): Zunahme ihrer Aneignungskompetenz. – vgl. auch Kade/ Seitter (2005b): Universalisierung pädagogischer Rollensegmente und Generalisierung eines Lernerund eines Vermittlerhabitus
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Die Erziehungswissenschaft könnte die Ergebnisse nutzen, um sich weiterhin und noch intensiver mit der Vermittlungsseite des lebenslangen Lernens zu beschäftigen. Die Studie hat gezeigt, dass die ‘neuen’ Lehrer in Konflikten schwer zu fassen sind und ihre Interventionen manchmal durchaus als problematisch eingeschätzt werden müssen (vg. Mobbing als Interventionsmethode). Die Bedeutung der Lehrer für einen gelungenen Umgang mit (betrieblichen) Konflikten wird – möglicherweise aufgrund der starken Fokussierung auf mitlaufendes Selbstlernen – momentan unterschätzt. Hier könnten neue Studien ansetzen. Ein weiteres Ergebnis, das weitere Forschung notwendig macht, betrifft die vielen Nicht-Lerner im Zusammenhang mit Konflikten. Bei einigen, die dem Konflikttyp ‘Konflikt als einmaliges schicksalhaftes Ereignis’ zuzuordnen sind, zeigt sich der Konflikt selbst als entscheidendes Lernhindernis, während in Abwesenheit von Konflikten sehr wohl gelernt wird (vgl. Rolf und Max). Es wäre sicher hilfreich, noch mehr darüber zu erfahren, warum Konflikte manchmal (nicht) als Lernchance genutzt werden (können). Vielleicht gibt es neben der Entgrenzung des Pädagogischen auch einen gegenläufigen Trend, z.B. weil Individuen sich mehr oder weniger bewusst der Zumutung des lebenslangen Lernens widersetzen und/ oder entziehen. Ich habe mit meiner Arbeit versucht, ein empirisch gestütztes Bild vom Variantenreichtum des individuellen Umgangs mit betrieblichen Konflikten zu zeichnen. Es hat sich gezeigt, dass sich die übliche normative Zuspitzung und Polarisierung mit der Wirklichkeit überhaupt nicht deckt. Konflikte sind weder grundsätzlich hilfreich, noch immer zerstörerisch. Die Wahrheit liegt aber auch nicht einfach so dazwischen. Der individuelle Umgang mit Konflikten ist bunt und facettenreich. Und es gibt komplexe Muster, mit denen man den Zusammenhang zwischen Lernen, Lehren und Konflikten beschreiben kann – ganz im Sinne des Konzeptes des lebenslangen Lernens und der Bildung Erwachsener. Es würde den Akteuren in den betrieblichen Konflikten sicherlich helfen, wenn eine Entmoralisierung und Versachlichung der Diskussion um Konflikte und Mobbing stattfinden würde. Das bedeutet nicht, dass die Risiken von Konflikten verschwiegen oder ihre Chancen übersehen werden sollen; aber weder das Eine, noch das Andere darf zur Norm erhoben werden. Vielleicht können die Ergebnisse der hier vorgestellten Forschungsarbeit die aktuelle Diskussion ein wenig in diese Richtung beeinflussen.
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