Kirstin Bromberg Rekrutierung – Bindung – Zugehörigkeit
Kirstin Bromberg
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Kirstin Bromberg Rekrutierung – Bindung – Zugehörigkeit
Kirstin Bromberg
Rekrutierung – Bindung – Zugehörigkeit Eine biografieanalytische Studie zur sozialen Welt der Gewerkschaften
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Diss. Universität Siegen, 2007 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung.
. 1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich / Tilmann Ziegenhain VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16444-1
Danksagung
Diese Arbeit hätte nicht geschrieben werden können, wenn Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen mir nicht offen und bereitwillig von ihrer alltäglichen beruflichen Arbeit erzählt hätten. Für ihr Vertrauen und ihre Erlaubnis, die Informationen für diese Studie verwenden zu dürfen, danke ich ihnen sehr. In meiner Forschungsarbeit wurde ich von meinen Doktormüttern PD Dr. Imbke Behnken und Prof. Dr. Karin Schittenhelm von Anbeginn gefördert und unterstützt. Ich danke ihnen herzlich für die vielen Gespräche und Diskussionen zu meinem empirischen Datenmaterial sowie zu analytischen Texten, aus denen die hier vorgelegten theoretischen Erkenntnisse hervorgegangen sind. Zu Dank fühle ich mich vor allem meinen Doktormüttern gegenüber verpflichtet; ich möchte jedoch auch all denjenigen danken, die im Doktorandencolloquium von PD Dr. Imbke Behnken und Prof. Dr. Jürgen Zinnecker sowie in der Forschungswerkstatt von Prof. Dr. Karin Schittenhelm an der Universität Siegen engagiert und ausdauernd dazu beigetragen haben, die Primärmaterialien in ihren Inhalten und Strukturen mit mir zu erschließen. In diesem Zusammenhang danke ich zudem den Leitenden und Teilnehmenden des Forschungskolloquiums am Institut für Soziologie der Universität Magdeburg, die mir vor Ort die Möglichkeit gaben, Interviewtexte vorzustellen und sie gemeinsam analytisch zu erschließen. Meine Forschungsarbeit wurde zum einen durch die Hans-Böckler-Stiftung gefördert, und hier gilt mein besonderer Dank dem Referenten der Promotionsförderung Werner Fiedler. Zum anderen wurde sie im Rahmen des Förderprogramms zur „Erhöhung der Berufungsfähigkeit von Frauen an Fachhochschulen im Land Sachsen-Anhalt” finanziell gefördert und vom Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule Magdeburg-Stendal (FH) infrastrukturell unterstützt, wofür ich stellvertretend Prof. Dr. Jürgen Wolf danken möchte. Schließlich danke ich meinem Sohn Benjamin für seine Geduld und das ihm so häufig abverlangte Verständnis für meine mit der Forschungsarbeit verbundene häusliche Abwesenheit. Und nicht zuletzt einen herzlichen Dank all jenen, die hier nicht genannt werden konnten, die mich aber ebenfalls bei der Arbeit unterstützt haben. Magdeburg, am 27. September 2007
Kirstin Bromberg
Inhalt Inhalt
Abbildungsverzeichnis ...................................................................................... 11 Tabellenverzeichnis .......................................................................................... 11 Einleitung .......................................................................................................... 13
I.
Theoretische Rahmung: Gewerkschaften – Individualität – Kollektivität
1.
Begriffliche Bestimmungen ...................................................................... 23
2.
Forschungsgegenstand Gewerkschaften ................................................... 29
3.
Theoretische Konzepte zur Beziehung von Individuum und Gruppe und ihre Erklärungskraft für gewerkschaftliche Rekrutierungsprozesse ......... 3.1. Soziologische und sozialpsychologische Gruppenkonzepte ............. 3.2. Biografieanalytisches Konzept von Gisela Jakob zum freiwilligen sozialen Engagement ........................................................................ 3.3. Georg Elwerts Konzept zur Bildung von Wir-Gruppen .................... 3.4. Anthropologische Theorie von Anthony F. C. Wallace zur Teilhabe des Individuums an einer kulturell organisierten Gemeinschaft ........ 3.5. Das Konzept kollektiver Identität von William A. Gamson .............
37 39 41 42 44 46
II. Methodologische Rahmung und methodischer Prozess 1.
Das erziehungswissenschaftliche Erkenntnisinteresse der Untersuchung ............................................................................................ 57
2.
Die drei Phasen des Forschungsprozesses und ihre zirkuläre Verknüpfung in der Datenerhebung, -aufbereitung und -auswertung ....... 63 2.1. Phase I des Forschungsprozesses ...................................................... 63
8
Inhalt
2.1.1. Auswahl des Erhebungsinstrumentes .................................... 2.1.2. Zugang zum Feld .................................................................. 2.1.3. Datenaufbereitung ................................................................. 2.1.4. Das Datenauswertungsverfahren ........................................... 2.1.5. Konzept der sozialen Welt ..................................................... 2.1.6. Das Konzept der beruflichen Arbeit arc of work .................. 2.1.6.1. Einführung in das arc of work-Konzept ............................ 2.1.6.2. Beispiele für bisherige Anwendungen des arc of work-Konzeptes ...................................................... 2.1.6.3. Anwendungsbezug zur vorliegenden Studie ..................... 2.1.6.4. Sentimental Work als zentraler Aspekt beruflicher Tätigkeit ............................................................................ 2.2. Phase II des Forschungsprozesses ..................................................... 2.3. Phase III des Forschungsprozesses ...................................................
64 67 68 69 76 78 78 83 85 87 93 98
III. Empirisch-analytischer Teil 1.
2.
Gewerkschaften und ihre Arbeit im mitgliedernahen Bereich ................ 1.1. Was ist der mitgliedernahe Bereich bei Gewerkschaften? .............. 1.2. Wer sind die befragten Akteure? .................................................... 1.3. Soziale Rahmung der beruflichen Arbeit im mitgliedernahen Bereich ............................................................................................ 1.4. Adressaten der Arbeit und die Wege zu ihnen ................................ 1.5. Ausgewählte Aspekte beruflicher Tätigkeiten ................................ 1.6. Rekrutierungs- und Bindungsarbeit als zentrale Komponente beruflicher Arbeit im mitgliedernahen Bereich .............................. 1.7. Schwierigkeiten hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit im mitgliedernahen Bereich ............................................................ Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften ...................................................................................... 2.1. Berufsbiografie: Sabine Jung .......................................................... 2.1.1. Porträt Sabine Jung ............................................................. 2.1.2. Fallbeschreibung Sabine Jung ............................................. 2.1.3. Analytische Bilanz Sabine Jung .......................................... 2.2. Berufsbiografie: Jürgen Teschner ................................................... 2.2.1. Porträt Jürgen Teschner ...................................................... 2.2.2. Fallbeschreibung Jürgen Teschner ......................................
101 103 104 105 106 106 112 116
117 119 119 121 139 142 142 144
9
Inhalt
2.2.3. Analytische Bilanz Jürgen Teschner ................................... 161 3.
Komparative Analyse der Fälle Jung und Teschner ............................... 164
4.
Berufsbiografie: Regine Bauer ............................................................... 4.1. Porträt Regine Bauer ....................................................................... 4.2. Fallbeschreibung Regine Bauer ...................................................... 4.3. Analytische Bilanz Regine Bauer ...................................................
167 167 170 181
5.
Berufsbiografie: Ricarda Korn ................................................................ 5.1. Porträt Ricarda Korn ....................................................................... 5.2. Fallbeschreibung Ricarda Korn ...................................................... 5.3. Analytische Bilanz Ricarda Korn ...................................................
183 183 184 208
6.
Prüfung von Häufigkeit und Verteilung von Phänomenen ..................... 211 6.1. Komparative Analyse zur Rekrutierungspraxis als zentrale Dimension hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit .......................... 211 6.1.1. Komparation der Fälle Jung und Teschner zu gefühlsbezogenen beruflichen Aufgaben ............................ 213 6.1.2. Komparation der Fälle Bauer und Korn zu gefühlsbezogenen beruflichen Aufgaben ............................ 226 6.2. Komparative Analyse und Bilanz der berufsbiografischen und handlungspraktischen Dimension hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit aller Fälle ................................................................... 240 6.2.1. Merkmalskomplex 1 ........................................................... 240 6.2.2. Merkmalskomplex 2 ........................................................... 244 6.2.3. Merkmalskomplex 3 ............................................................248 6.2.4. Merkmalskomplex 4 ............................................................251
IV. Theoretischer Teil 1.
Fundstücke einer gegenstandsbezogenen Theorie zur sozialen Welt der Gewerkschaften ................................................................................ 257 1.1. Zur Bedeutung von Sozialisationsagenten für die Fortschreibung gewerkschaftskultureller Traditionen .............................................. 261 1.2. Organisationsagenten und Klassenkampfakteure in ihrer Bedeutung für utilitaristisch motivierte Mitgliedschaften ............... 265
10
Inhalt
1.3. Zur (re)vitalisierenden Bedeutung von Bewegungsakteuren für die gewerkschaftliche Sozialwelt .............................................. 268 2.
Das theoretische Erklärungsmodell zu Mitgliederrekrutierung und Bindungsprozessen in der sozialen Welt der Gewerkschaften ................ 271
3.
Schlussbetrachtungen .............................................................................. 286
Literaturverzeichnis ........................................................................................ 291 Index ............................................................................................................... 301
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Organigramm der Einzelgewerkschaft ver.di und Erläuterungen .............................................................................. 26 Abbildung 2 Schematische Darstellung zur kollektiven Identität nach Gamson (1992) ................................................................... 49 Abbildung 3 Rekrutierungszirkel im gewerkschaftlichen Binnenraum ......... 264 Abbildung 4 Modifiziertes Modell kollektiver Identität zum gewerkschaftlichen Wir ............................................................ 274 Abbildung 5 Theoretisches Erklärungsmodell zur sozialen Welt der Gewerkschaften ......................................................................... 286
Tabellenverzeichnis Abbildungs- und Tabellenverzeichnis In der Forschungsphase I erhobene Fälle .....................................75 Tabelle 1 Tabelle 2 In der Forschungsphase II erhobene Fälle ................................... 95 Tabelle 3 Aufstiegsverläufe der in den Forschungsphasen I und II erhobenen Fälle ........................................................................... 95 Tabelle 4 In der Forschungsphase I und II erhobene Fälle ......................... 96 Tabelle 5 Aufstiegsverläufe der in den Forschungsphasen I und II erhobenen Fälle ........................................................................... 96 Tabelle 6 Kernfälle der Untersuchung ........................................................ 97 Tabelle 7 Fallzuordnung Bindungstypen .................................................. 100 Tabelle 8 Merkmalskomplexe ................................................................... 254 Tabelle 9 Beziehung von Mermalskomplexen und Bindungstypen........... 272
Einleitung Einleitung
Diese Studie erfasst deutsche Gewerkschaften1, indem sie das soziale und kollektive Handeln ihrer hauptberuflichen Mitglieder untersucht – ein Handeln, wie es die Gewerkschaften organisationskulturell konstituiert und wie es umgekehrt von den Gewerkschaften beeinflusst wird. Kollektives Handeln umfasst aus der rekonstruktiv ermittelten Perspektive hauptberuflicher Akteure im mitgliedernahen Bereich von Gewerkschaften sowohl emotionale als auch moralische und kognitive Aspekte, die unter der biografieanalytischen Perspektive erfasst werden. Die Wahl dieses akteursbezogenen Ansatzes für die vorgelegte qualitative Studie resultiert aus einem empirischen Befund2, der auf starke regionale Differenzen im ehrenamtlichen Engagement bei Gewerkschaften verweist. Ursprünglich beabsichtigte die Arbeit zu klären, welche begünstigenden und hemmenden Faktoren für das Zustandekommen ehrenamtlichen Engagements bei Gewerkschaften rekonstruiert werden können. Im Forschungsprozess entwickelte sich daraus die Frage: Wie kommt es dazu, dass Menschen sich einer Gewerkschaft anschließen und inwieweit verändern sie dadurch sich selbst und zugleich die Gewerkschaft? Antwort auf diese Fragen gibt das in dieser Studie generierte theoretische Erklärungsmodell zur Rekrutierungs- und Bindungspraxis in der sozialen Welt der Gewerkschaften. Diese gegenstandsbezogene Theorie verdankt sich einerseits der methodologischen Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Fragehorizonts und wie wenig er mir bei der Erforschung der komplexen sozialen Wirklichkeit der Gewerkschaften von Nutzen sein würde. Andererseits verdankt sie sich der Erkenntnis, welch großes Potenzial in dem liegt, was hauptberufliche Gewerkschaftsmitglieder aus ihrem Berufsalltag von sich aus zu erzählen haben. Glaubt man dem medial vermittelten Bild, nach dem sich heutzutage ohnehin kaum noch jemand Vereinen, Verbänden und Parteien anschließt und nach 1
2
Gewerkschaften werden mit Miethe und Roth (2000: 7) als kollektive Akteure definiert. Ihr Entstehungskontext wird in den alten sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts verortet (Miethe 1999: 273). Dieser Befund stammt aus dem im Jahr 2003 vorgelegten Forschungsbericht „Neue Ehrenamtlichkeit in traditionellen Mitgliederverbänden. Praxisfelder und Handlungspotentiale innovativer Formen des ehrenamtlichen Engagements“ (Wolf/Bromberg/Ernst et al. 2003).
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Einleitung
dem ehrenamtliches Engagement in der individualisierten und globalisierten Welt zu einer hochvoraussetzungsvollen Tätigkeit geworden ist, so muss man annehmen, dass jenen Gewerkschaften, die in besonderer Weise als angeschlagen gelten, kein einziges Mitglied geblieben ist. Gegen dieses öffentlich vermittelte Bild spricht allein eine Statistik der Gewerkschaften im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), nach der sie über 6,6 Millionen Mitglieder verfügen (Zeuner et al. 2007: 8). Die vorliegende Arbeit sucht jedoch nicht medial und populärwissenschaftlich erzeugte Bilder zur Gewerkschaft zu widerlegen; vielmehr wird sie Antwort auf die Frage geben: Wie kommt es, dass sich dem Individualisierungs- und Pluralisierungswandel zum Trotz Menschen politisch, kulturell und sozial in Organisationen freiwillig engagieren, insbesondere in Gewerkschaften? Sie ist das Ergebnis eines auf konstruktivistischen3 Implikationen fußenden Forschungsprozesses, der darauf angelegt war, die deutschen Gewerkschaften in ihrer Gesamtgestalt zu erfassen. Die empirische Grundlage dieser biografieanalytischen Arbeit ist qualitativ erhobenes Datenmaterial zu beruflichen Aufstiegs- und Rekrutierungsprozessen bei Gewerkschaften. Ihr Kern besteht in der sozialwissenschaftlichen Rekonstruktion einzelner Untersuchungsfälle (Bohnsack 1999; Schütze 1999). Im Ergebnis wird ein gegenstandsbezogenes theoretisches Modell (Glaser & Strauss 1998) der Rekrutierungs- und Bindungspraxis in der gewerkschaftlichen Sozialwelt (Strauss 1991e: 233–270; Schütze 2002) vorgelegt. Die auf diese Weise generierten Befunde arbeiten charakteristische Züge gewerkschaftlicher Kultur heraus und erlauben insoweit, über die einbezogenen Einzelgewerkschaften4 und den Deutschen Gewerkschaftsbund hinaus, verallgemeinerbare Aussagen zu Prozessen und Mechanismen der Rekrutierung und Bindung bei Gewerkschaften. Als interdisziplinär versteht sich die vorgelegte Studie, weil sie theoretische Konzepte der Erziehungs- und verschiedener anderer Sozialwissenschaften einbezieht, um ihrem Forschungsgegenstand – den Gewerkschaften – und dessen komplexer sozialer Wirklichkeit gerecht zu werden. Der hier gewählte theoretische Ansatz der Biografieforschung bedient sich der in den Erziehungswissenschaften differenziert ausgearbeiteten Erhebungsund Auswertungsverfahren (Marotzki 2003: 22ff.), mit deren Hilfe in einem ersten Schritt untersucht wird, in welcher Beziehung die biografischen Erfahrun3
4
Unter ‚konstruktivistisch‘ verstehe ich mit Fuchs et al. (1988: 419), dass das erhobene und analysierte Datenmaterial nicht als von der Person des Forschers oder der Forscherin losgelöst betrachtet werden kann, sondern vielmehr die generierten Erkenntnisse durch seine/ihre Theorien und Forschungsinstrumente überhaupt konstruiert werden. In einem solchen Verständnis stellen Daten keine unabhängige Prüfinstanz von Theorien dar. Es handelt sich hierbei um die IG BAU, die IG Metall und ver.di.
Einleitung
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gen der Akteure zu deren beruflicher Handlungspraxis stehen (Strauss 1991be: 71–148, 233–270; Strauss et al. 1980). Auf dieser mikroanalytischen Ergebnisebene werden rekonstruktiv generierte Befunde zu typischen Merkmalskomplexen (Becker & Geer 1979: 158–183) der Dimensionen Biografie und berufliche Handlungspraxis vorgelegt. An ihnen erkennt man nicht nur die Vielfalt der Zusammensetzung hauptberuflicher Kräfte bei Gewerkschaften, sondern vor allem die Regelmäßigkeiten der Verbindung von biografischen Erfahrungen und beruflichem Handeln. Wie sich mithilfe qualitativer Datenanalyseverfahren der erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung und kontrastiver Vergleiche (Strauss & Corbin 1996) zeigt, besteht die zentrale Aufgabe hauptberuflicher Kräfte darin, Mitglieder für die Gewerkschaften zu rekrutieren und zu binden. Anhand der Falldarstellungen ist zu sehen, dass ihre Rekrutierungsstrategien auf für sie typischen und biografisch erfahrenen Bindungsmustern (Becker & Geer 1979: 158–183; Kelle & Kluge 1999: 75–101) basieren: Sozialisationserfahrungen, die die hauptberuflichen Gewerkschafter im Kontext von Zugehörigkeiten zu einer WirGruppe (Elwert 1989) gemacht haben. Die Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft erweist sich hier in der Regel als eine Zugehörigkeit neben anderen. Dieser empirische Befund führt zur Entdeckung der kollektiven Identität von Gewerkschaften und lässt organisationskulturelle Strategien erkennen, auf attestierte und selbstangestrebte Bedeutung Einfluss zu nehmen. Auf einer zweiten Ebene der Abstraktion werden zur Einschätzung und Erklärung der generierten Merkmalskomplexe zu gewerkschaftlichen Aufstiegsprozessen theoretische Konzepte anthropologischer, soziologischer und sozialpsychologischer Provenienz zum Verhältnis individueller und kollektiver Identität im Kontext kollektiver Handlungsrahmen herangezogen (Gamson 1992; Neidhardt 1983; Wallace 1973). Auf dieser Analyseebene wird nach den Elementen kollektiver Identität von Gewerkschaften gefragt, womit geklärt werden soll, ob kollektives Handeln eine homogene kollektive Identität voraussetzt. Mit Bezug auf die genannten theoretischen Konzepte wird das Verhältnis zwischen Individuum (Mitglied) und Gruppe (Gewerkschaft) erhellt. Insoweit trifft diese Untersuchung nicht nur Aussagen zu berufsbiografischen Aufstiegs- und Rekrutierungsprozessen (Heinz 1995), die in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften führen; zugleich leistet sie exemplarisch an den deutschen Gewerkschaften einen Beitrag zur Klärung der Entstehung von Zugehörigkeiten. Auf diese Weise schildern die Befunde dieser Arbeit zum einen die gewerkschaftstypische Praxis der Aktivierung politischen Bewusstseins und politischer Partizipation, zum anderen sichern sie den Wissenstransfer in andere Organisationen und Vereine, die Mitglieder rekrutieren müssen.
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Einleitung
Der zentrale Befund meiner Forschungsarbeit liegt in der Erkenntnis, dass Mitglieder auf vielen Wegen zu den Gewerkschaften kommen. Die in dieser Arbeit vorgestellten Personen5 haben in ihrer Organisation jeweils eine Position inne, die oberhalb eines einfachen Mitgliedes liegt (Mayntz 1963: 112–135) – was bereits auf noch im Einzelnen darzulegende Erkenntnisse zu beruflichen Aufstiegsprozessen bei Gewerkschaften verweist. Ich werde zeigen, dass der innerorganisatorische Aufstieg zwar der häufigste, nicht jedoch der einzige Weg zum Besetzen einer höheren Position in einer freiwilligen Organisation darstellt. Beide Formen der Stellenbesetzung – innerorganisatorischer Aufstieg und Rekrutierung von außen – bergen für die Stelleninhaber und Stelleninhaberinnen Schwierigkeiten, die bei der Rekonstruktion und Analyse ihrer berufsbiografischen Erzählungen, Beschreibungen und Argumentationen deutlich werden (Schütze 1983, 1984a). Sie sind Ausdruck organisationskultureller Aushandlungsprozesse (Liebig 2001), aus denen individuell konstruierte Zugehörigkeiten zum gewerkschaftlichen Wir resultieren. In der beruflichen Arbeit der Akteure im mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaften bilden sich ihre biografischen Zugehörigkeitserfahrungen ab. Diese Charakteristiken der beruflichen Handlungspraxis können auf eigene Rekrutierungserfahrungen in der Gewerkschaft zurückgehen, sie können jedoch auch sozialisationsbezogenen Erfahrungen in anderen kollektiven Handlungsrahmen (Miethe & Roth 2000) entspringen. Dass hiermit der Orientierungsrahmen (Bohnsack 1999) erfasst ist für ihre gesamte hauptberufliche Arbeit, insbesondere jedoch für die ihnen zugeteilte und von ihnen angenommene Rekrutierungs- und Bindungsarbeit (Hughes 1984a, b, c), mag aus biografietheoretischer Perspektive nicht sonderlich überraschen. Diese Einsicht ist jedoch insofern von besonderem Interesse, als hiermit der analytische Schlüssel zur Entdeckung eines gewerkschaftlichen Rekrutierungszirkels bezeichnet ist. Dieser Rekrutierungszirkel ist, wie die Rekonstruktion der fallbezogenen Daten zeigt, in erster Linie personengebunden und folgt dem Prinzip der Adäquanz. Ich möchte dies kurz und in einer bewusst einfach gehaltenen Sprache, der ausführlichen Ergebnisdarstellung vorgreifend, erklären: Potenzielle Mitglieder haben es, bevor sie erwägen einem Verband wie der Gewerkschaft beizutreten, nicht mit einem abstrakten Organisationsapparat zu tun. In den meisten Fällen treten sie über eine Person in Kontakt zur Gewerkschaft, die entweder dort angestelltes oder einfaches Mitglied ist. Diese die Gewerkschaft verkörpernde Person beeinflusst nun das Bild, das sich ein potenzielles Mitglied bislang von der Gewerkschaft gemacht hat und sich künftig von ihr machen wird. Der soziale Kon-
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Die Personen sind pseudonymisiert, um sie vor Identifikation zu schützen.
Einleitung
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takt zu einer die Gewerkschaft repräsentierenden6 Person beeinflusst somit die Vorstellung, die das potenzielle Mitglied sich von der Gewerkschaft macht.7 Ferner gelten als einflussnehmende Faktoren das, was andere im sozialen Umfeld von der Gewerkschaft halten und das, was in Rundfunk und Fernsehen über die Gewerkschaften zu hören ist und was diese über sich selbst kundtun. Prinzipiell ist davon auszugehen, dass die eine Vorstellung beeinflussenden Faktoren nicht voll erfassbar sind (Wallace 1973; Gamson 1992). Es handelt sich hierbei um das dynamische Aufeinandertreffen von kulturellen Einflüssen und individuellen Bedeutungskonstruktionen (Wallace 1973; Gamson 1992), in deren Aushandlungsergebnis sich zeigen wird, ob Gewerkschaften und individuelle Lebens- und Erfahrungswelt anschlussfähig sind (resp. werden) oder nicht. Mindestens muss sich das Individuum als lernfähig genug erweisen, um sich innerhalb der gewerkschaftlichen Organisationskultur (Wallace 1973: 318f.) angemessen, also adäquat, zu verhalten. Hierzu sind nicht zwingend biografische Passungsverhältnisse (Jakob 1993) oder gar ein bewusstes, nach utilitaristischer Befriedigung drängendes Motiv nötig (Olson 1968), gleichwohl kann eine Mitgliedschaft auf eine solche Erfahrung oder ein eindeutiges und bewusstes Motiv zurückgehen. Diese Arbeit zeigt auf der Grundlage ihrer Befunde die Vielfalt der Faktoren, aus denen Mitgliedschaften und Zugehörigkeiten zur Gewerkschaft resultieren können.8 Ich zeige in dieser Arbeit, dass es sich bei dieser Vielfalt keineswegs um unsystematische und somit zufällige empirische Befunde handelt, sondern dass sie im Verein mit den utilitaristisch motivierten oder aus biografischen Passungsverhältnissen resultierenden Mitgliedschaften eine Gesamtgestalt bilden, die als Ausdruck kultureller Organisiertheit (Wallace 1992) von Gewerkschaften zu verstehen ist. Mit den verschiedenen Zugängen zur sozialen Welt der Gewerkschaften ist jeweils der Anfang einer möglicherweise langen Zugehörigkeit zur Gewerkschaft erfasst. Und wenn die zum Mitglied gewordene Person noch jung an Jahren ist, dann wird sie vielleicht, wie einige der in diese Untersuchung einbezogenen Akteure9, die Erfahrung machen, dass sie sich durch die Kontakte in der Jugendauszubildendengruppe nicht nur Wissen zur Arbeit aneignen kann, sondern auch 6
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9
Repräsentanz der Organisation verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht als formale Repräsentation durch ein Amt, sondern als Verkörperung der und Bezug zur Organisation. Dies setzt freilich voraus, dass die Person überhaupt eine Vorstellung von der Gewerkschaft hat. Falls aber nicht, ist das nicht erheblich, da der Prozess individueller Bedeutungszuschreibung zur Gewerkschaft durch den personifizierten Zugang seinen Anfang nimmt. Ich fokussiere im Folgenden einen Ausschnitt meiner Befunde, der gewerkschaftliche Rekrutierungsprozesse von Heranwachsenden analysiert. Personen, die ich für ein Interview gewinnen konnte, bezeichne ich, kontextabhängig, in dieser Arbeit synonym als ‚Befragte‘, als ‚Informanten‘ oder auch als ‚Interviewte‘.
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Einleitung
neue Einsichten ins Leben bekommt: Sie bemerkt, dass sie sich mithilfe der Gewerkschaft weiterentwickeln kann. Sie erweitert nicht nur ihre Vorstellung von der Gewerkschaft, sondern zugleich auch deren Kultur (Wallace 1973). Sie bekommt zudem eine positive Meinung von der Gewerkschaft, die auch ihr Handeln prägen wird, selbst wenn ihr manches nicht gefällt. Es gehört dann, so kann empirisch begründet behauptet werden, selbstverständlich dazu, die kulturellen Anliegen der Gewerkschaft durch eigene Aktivitäten zu unterstützen. Ein Mitglied leistet freiwillig Dienst in und an der Gemeinschaft – und auch ein wenig an sich selbst, immerhin macht es ihm Spaß. Wenn es dann immer häufiger passiert, dass die freiwillig aktive Person gebeten wird, ein weiteres Anliegen zu unterstützen, wenn sie bekannt dafür wird, nicht Nein zu sagen und wenn sie sich so eine Weile engagiert, ohne die Lust daran zu verlieren, dann tritt eines Tages vermutlich – wie vielfach bei den hier vorgestellten Personen – ein hauptberuflicher Gewerkschafter an sie heran und fragt, ob sie nicht Lust habe, bei der Gewerkschaft zu arbeiten. Sobald diese Frage bejaht wird, schließt sich der gewerkschaftliche Kreislauf der Rekrutierung und Bindung – dessen Facetten in der sozialen Wirklichkeit (Filstead 1979) so vielseitig sind, dass eine wissenschaftliche Arbeit zwar ausreichend Platz bietet, um ihn in seiner Gesamtgestalt zu erfassen, nicht jedoch um jedes Detail abzubilden. In einem ersten Schritt geht es darum, begriffliche Klarheit zu den Termini ‚Gewerkschaft’ und ‚Mitglied’ herzustellen, um die Kon- und Denotationen, die Gewerkschaften implizieren können, zu erfassen (I.1). In Abschnitt I.2 rekapituliere ich den Forschungsstand zu den deutschen Gewerkschaften, um im Anschluss theoretische Annahmen der Soziologie und Anthropologie zur Zugehörigkeit des Individuums zu Wir-Gruppen auf ihre Brauchbarkeit für meine gewerkschaftsbezogene Studie zu prüfen (I.3). Hierbei erweisen sich diejenigen Konzepte als besonders fruchtbar, die kollektive Akteure als sich verändernde Akteure begreifen (Miethe & Roth 2000). Mitglieder einer Organisation werden aus dieser Perspektive als aktive Akteure begriffen, die aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen, Haltungen und Meinungen die kollektive Identität der Organisation beeinflussen, indem sie nicht nur an der Organisationskultur partizipieren, sondern sie auch aktiv beeinflussen. Sowohl die (berufs)biografischen Einzelfallanalysen als auch ihre kontrastierenden Vergleiche werden erst auf der Basis des methodologischen und methodischen Rahmens verstehbar, der der Arbeit zugrunde liegt; ausführlich dargelegt wird dieser – im Anschluss an das erziehungswissenschaftliche Erkenntnisinteresse der Studie – in Kapitel II. Den methodologischen Rahmen bildet die erziehungswissenschaftliche Biografieforschung, die, selbst in der qualitativen Bildungs- und Sozialforschung beheimatet, vielfältige Instrumentarien und Heu-
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ristiken in sich vereint und zugleich Bezüge zur amerikanischen Soziologie10 herstellt. Entlang dem dreigliedrig dargestellten Forschungsprozess wird die Relevanz deutlich, die insbesondere die Konzepte des Symbolischen Interaktionismus, der sozialen Welt und der beruflichen Arbeit arc of work von Anselm Strauss für die Arbeit haben (II.2.1.5 und II.2.1.6). In besonderer Weise erkenntnisgenerierend erwiesen sich die von Strauss (1975) untersuchten Zusammenhänge und Dimensionen von sozialen Beziehungen und Aktivitäten zwischen Berufstätigen und den von ihrer Arbeit Betroffenen, die an die Forschungsarbeiten von Hughes (1984a, b, c) anschließen. Bei der Analyse der beruflichen Handlungspraxis, in welche die sozialen Interaktionsbeziehungen der Gewerkschafter eingebettet sind, bediene ich mich des von Anselm Strauss erarbeiteten Arbeitskonzeptes. Strauss’ empiriebasiertes theoretisches Konzept zur beruflichen Arbeit arc of work11 erscheint nicht nur flexibel in seiner Anwendung, es eignet sich auch zur Analyse von Phänomenen und Prozessen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene beruflicher Arbeit: Es bietet Möglichkeiten zur Analyse von beruflichen Anforderungen auf inhaltlicher und sozialer Ebene und allgemeine Kategorien zur Rekonstruktion und Analyse von umfassenden Arbeitszusammenhängen und Entwicklungsprozessen in der Arbeitswelt. Daneben werden Studien einbezogen, die in dieser Tradition stehen und sich mit beruflichen Lebensläufen und Sozialisationsprozessen sowie mit der biografischen Identifizierung mit dem Beruf befassen (stellvertr. Hermanns 1982). Fragen nach den biografischen Voraussetzungen beruflicher Arbeit sind für eine Analyse in qualitativ-sozialwissenschaftlicher Forschungstradition indes genauso wichtig wie Fragen nach den Folgen der Berufswahl für die befragten Akteure. Die ausgewählten methodischen Instrumente zur Datenerhebung, -aufbereitung und -auswertung – Schlüssel zum Nachvollzug der Darstellungen von vier zentralen Fällen – stelle ich in Abschnitt II.2 vor. Der empirisch-analytische Teil dieser Arbeit (Kapitel III) präsentiert, nach einer Einführung in die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit im mitgliedernahen Bereich (III.1), vier verschiedene berufsbiografische Verläufe, die in der Darstellung von fallübergreifenden Erfahrungskomplexen in sich strukturiert sind (III.2, III.4, III.5). In diesem Kapitel mache ich die Leserin/den Leser mit vier gewerkschaftlichen Akteuren bekannt, denen ich Pseudonyme Sabine Jung, Jürgen Teschner, Regine Bauer und Ricarda Korn gegeben habe. Ich zeige sowohl ihre berufsbiografischen Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede. Die auf diese 10
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Vgl. zur Tradition der Chicago Sociology: Strauss (1991a) sowie den jüngeren Beitrag von Chapoulie (2004). Vgl. hierzu Abschnitt II.2.1.6.
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Einleitung
Weise abgebildete Forschungsphase dient dem Nachvollzug der Auswahl und Definition von Problemen und Konzepten, die ich eingangs mit Bezug auf die Vielfalt der berufsbiografischen Verläufe und die hieraus resultierende differente berufliche Handlungspraxis angesprochen habe. Die Vergleiche der individuellen Rekrutierungspraxis als zentrale Dimension hauptberuflicher Gewerkschaftspraxis (III.3 und III.6) sowie die Kontrastierung der berufsbiografischen und handlungspraktischen Dimension aller zehn in die Untersuchung einbezogenen Fälle (III.6.2) dienen der Prüfung der Häufigkeiten und Verteilungen dieser beiden Dimensionen. Dieser Forschungsschritt zielt auf das Erkennen von regelmäßigen Verbindungen in der gewerkschaftlichen Rekrutierungs- und Bindungspraxis ab, die schließlich durch vier differente Merkmalskomplexe (Becker & Geer 1979) abgebildet werden. Das vierte und letzte Kapitel der Arbeit klärt, auf welche Fragen meine empirisch-analytischen Erkenntnisse Antworten geben, und erfasst die Ergebnisse dieses durch Theoretisierung geprägten Erkenntnisprozesses. Der theoretische Teil der Arbeit präsentiert somit gewerkschaftskulturelle Charakteristiken, die im theoretischen Konzept zu sozialen Welten ihre geeignete Rahmung finden. Die soziale Welt der Gewerkschaften kennzeichnet, dass in ihr typische personengebundene Rekrutierungs- und Bindungsmuster verankert sind, die gegenwärtig auf der Grundlage des Prinzips der Adäquanz die Existenz der Organisation sichern. Diese Einsicht basiert auf dem Einbezug verschiedener erklärungstheoretischer Ansätze zur Beziehung zwischen Individuum und Gruppe. Die von mir generierte gewerkschaftsbezogene Bindungstypologie platziere ich in den Kontext anthropologischer und sozialwissenschaftlicher Erklärungsmodelle zu kollektiven Handlungen und kollektiver Identität, Modelle, die die Teilhabe eines Individuums (hauptberuflicher Akteur) an einer kulturell organisierten Gesellschaft (Gewerkschaft) explizieren. Auf dieser Basis entwickle ich sodann eine gegenstandsbezogene Theorie zur Mitgliederrekrutierung in der sozialen Welt der Gewerkschaften. Dieses theoretische Modell zum Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe kontrastiert mit Theorien, die die zentrale Voraussetzung kultureller Partizipation im kollektiven Teilen von (bewussten) Interessen und Motivationen sehen. Ich vertrete dagegen die These, dass es sich bei gewerkschaftlichen Zugehörigkeiten um Passungsverhältnisse12 (Adäquanz) handelt, die von den hauptberuflichen Akteuren hergestellt werden. Die eine Seite der Adäquanz bildet das biografisch relevante Wissen und die hieraus resultierenden Deutungen der Akteure, auf der anderen Seite stehen die organisationskulturell definierten Merkmale der Gewerkschaft. Beide Seiten bilden sich in einem interaktiv vollzogenen Aushandlungsprozess, in dessen Ergebnis sich Personen der Gewerkschaft zuge12
Vgl. zur Definition von biografischen Passungsverhältnissen Reim 1997: 175–213.
Einleitung
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hörig oder ihr fremd fühlen. Charakteristisch für gewerkschaftliche Mitgliederwerbung sind personenbezogene Rekrutierungs- und Bindungsstrategien, die im Kontext gruppenbezogener Sozialisationsprozesse zu einer zirkulären Erneuerung der gewerkschaftlichen Sozialwelt führen. In diesem letzten Forschungsschritt geht es also um die Erklärung, weshalb Personen mit unterschiedlichen Motivationen an einer freiwilligen Mitgliederorganisation, wie es die Gewerkschaft ist, partizipieren, die aus der CommonSense-Perspektive ein einheitliches Sprachrohr zur Vertretung von Arbeitnehmerinteressen darstellt. Die Arbeit trägt dazu bei, Gewerkschaften in ihrer komplexen Bedeutung und sozialen Wirklichkeit erfassen und verstehen zu können, bleibt hier jedoch nicht stehen: Sie erweist sich zugleich als Grundlage für neue, die gewerkschaftliche Sozialwelt betreffende sozialwissenschaftliche Fragen. Dies gilt nicht zuletzt für die Erziehungswissenschaft. Die vorliegende Studie erweitert, um mit Kraul und Marotzki (2002) zu sprechen, aufgrund ihres biografieanalytischen Ansatzes den „Kernbestand erziehungswissenschaftlichen Wissens“ (ebd.: 11), und zwar insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung von dyadischen und gruppenbezogenen Formen13 von Bildungs- und Sozialisationsprozessen Heranwachsender am Beispiel der deutschen Gewerkschaften. Bei der Annäherung an den Forschungsgegenstand gilt es zuallererst Kenntnis zu erlangen von den begrifflichen Vorstellungen, die die Wissenschaft von ihm hat. Die nun zur Beantwortung anstehenden Fragen lauten demnach: Welche wissenschaftstheoretischen Zugänge existieren zu Gewerkschaften und welches definitorische Verständnis verbindet sich mit ihnen?
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Der Gruppenbegriff der Soziologie ist Fuchs et al. (1988: 291) zufolge kein einheitlich gebrauchter Terminus. Er werde als Bezeichnung für eine Mehrzahl von Individuen gebraucht und umfasse sowohl dyadische als auch gesamtgesellschaftliche Formen. Auf der Basis eines in dieser definitorischen Breite angelegten Verständnisses des Gruppentheorems können demnach auch Gewerkschaften als organisierte Gruppe(n) untersucht werden.
I. Theoretische Rahmung: Gewerkschaften – Individualität – Kollektivität
1. Begriffliche Bestimmungen Gewerkschaften werden nach Franzpötter (1997) unter den breiten Begriff der Organisationen gefasst und zählen für Müller-Jentsch (2003: 29) als utilitaristisch-normative Organisation. Letzterer lehnt sich an Etzioni (1971) an, der seinerseits drei grundlegende Organisationstypen unterscheidet (Müller-Jentsch 2003: 29): Gewerkschaften sind zwar keine Zwangsorganisation, aber eine utilitaristische und normative Organisation (ebd.: 29). Die begriffliche Achse Etzionis rekurriere hierbei auf den Kontrollmodus, mit dem die jeweilige Organisation Macht und Kontrolle über das Verhalten ihrer Mitglieder ausübe. Im Fall der Gewerkschaften sei dies die renumerative und normative power (ebd.: 29). Sie gehörten jedoch gleichermaßen zu den Verbänden, genauer zu den Interessenverbänden (ebd.: 145f.). Ihnen wird im Rahmen der von Müller-Jentsch vorgelegten Typologie ein Sonderstatus unter den Verbänden zuerkannt, der sich „auf ihre lange und wirkungsmächtige Geschichte, ihre Sonderstellung in der Rechtsund Verfassungsordnung westlicher Demokratien sowie auf den sich eigens mit ihnen befassenden Sonderzweig der Verbändeforschung“ (ebd.: 146) gründe. Gukenbiehl (1992: 95ff.), um ein letztes Beispiel aufzugreifen, führt Gewerkschaften sowohl unter dem Begriff der Organisation als auch unter dem der Institution auf. Es handelt sich hiernach bei Gewerkschaften um eine nicht eindeutig zu erfassende Organisationsform, die utilitaristische und normative Züge miteinander verbindet. Sie zählt zugleich zu den Interessenverbänden und nimmt unter diesen einen Sonderstatus ein. Ich bevorzuge in dieser Arbeit den stärker beschreibenden Begriff der „intermediären Organisation“ (Streeck 1987: 472) für Gewerkschaften. Streeck weist darauf hin, dass der Begriff intermediäre Organisation dem nationalstaatlichen Gesellschaftsbild entstamme, dass solche Organisationen „materielle Interessenlagen repräsentieren und die in der ‚civil society‘ entstehenden partikularistischen Interessendefinitionen in das politische System einleiteten“ (ebd.: 472). Hintergrund für die Charakterisierung von Verbänden als intermedi-
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I. Theoretische Rahmung: Gewerkschaften – Individualität – Kollektivität
äre Organisationen ist es, dass sie sowohl Mitglieder hätten, wie auch selbst Mitglieder seien (ebd.: 472).14 Vor dem Hintergrund, dass die Gewerkschafts- und die Arbeiterbewegung zu den Alten Sozialen Bewegungen (Miethe 1999: 273) zählen, sowie auf der Grundlage meiner rekonstruktiv generierten Befunde vertrete ich in dieser Arbeit im Gegensatz zu den etablierten begrifflichen Bestimmungen zu Gewerkschaften die These, dass es sich bei Gewerkschaften nicht nur um intermediäre Organisationen, sondern darüber hinaus um intermediär agierende Bewegungsorganisationen (Miethe & Roth 2000) handelt. Was muss nun Grundsätzliches zum Terminus Mitglied einer Organisation gesagt werden? Er kommt im Zusammenhang der Organisationssoziologie nur in Verbindung mit dem Begriff Rolle vor, und beide fügen sich zum Begriff Mitgliedsrolle zusammen (Fuchs et al. 1988: 508). Die Autoren Fuchs et al. definieren eine Mitgliedsrolle als „Komplex von Erwartungen und Normen, die sich auf das Mitglied einer Organisation richten. Die Mitgliedsrolle gibt die Kriterien der Zugehörigkeit zu einer Organisation an, enthält die in der Organisation an alle Mitglieder gestellten Erwartungen, definiert die Bedingungen des Zugangs zu anderen Rollen in der Organisation und unterscheidet den organisationsbezogenen (‚dienstlichen’) vom nichtorganisations14
Aufgrund dieses „doppelten Funktionserfordernisses“ sehe man Gewerkschaften besonderen Anforderungen ausgesetzt (ebd.: 472). Aus dieser Tatsache ergebe sich eine spezifische Anforderungsdynamik, nämlich die der Sozialintegration nach innen und die der Systemintegration nach außen, wobei beide Kräfte in Widerspruch miteinander treten können (ebd.: 473). In diesem Kontext wird auch von einem organisatorischen Dilemma gesprochen, da die Effektivierung der formalen Organisation der Gewerkschaften und die Interessenvertretung ihrer Mitglieder nicht gleichsinnig optimiert werden könnten (Wiesenthal nach Wolf et al. 1994: 73). Infolge der erfolgreichen Umsetzung und Etablierung der Einflusslogik im Verein mit dem sich verstärkenden Trend zur Individualisierung stehen mit den Gewerkschaften ebenso Kirche und Parteien vor der Herausforderung, das gelockerte Bindungsverhältnis zu ihren Mitgliedern durch geeignete Maßnahmen wieder verbindlicher zu gestalten. Dies führte – neben anderen Ansätzen – zu der Forderung nach einem außerbetrieblichen Organisationszentrum der Gewerkschaften– einem mitgliedernahen gewerkschaftlichen Beteiligungsangebot außerhalb des Betriebes –, nämlich im Wohnbereich (Wolf et al. 1994: 74ff.). Die Installierung eines sogenannten Zweiten Standbeins sollte – die bis dahin betriebsorientierte Gewerkschaftsarbeit fruchtbar ergänzend – vor allem die Intensität der Mitgliederbeteiligung und somit das ehrenamtliche Engagement steigern, um auf diesem Weg langfristig und nunmehr zwei-standbeinig die Gewerkschaft an der Basis erfolgreich zu stützen. Durch dieses lebensweltlich orientierte Beteiligungsangebot in lokalen Bezügen sollten und sollen einerseits die stetig wachsende Gruppe von Mitgliedern, die nicht mehr über den Betrieb erreicht werden kann, und andererseits einfache Mitglieder, aber auch Nicht-Mitglieder dieses lokalen Umfeldes beteiligungsaktivierend angesprochen und (re-)integriert werden. Die Förderung und Installierung außerbetrieblicher Gewerkschaftsarbeit wird in einschlägigen Publikationen als ein Schritt – neben anderen – gewerkschaftlicher Modernisierung, im Sinne einer organisationspolitischen Konsequenz auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen, bezeichnet (stellvertr. Hielscher 1995: 4).
1. Begriffliche Bestimmungen
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bezogenen (‚privaten’) Verhaltensbereich. Die Anerkennung ist mehr oder minder Mitgliedschaftsbedingung“ (1988: 508).
Es handelt sich hierbei um eine Definition, die aus der Perspektive der Organisation geschrieben ist und bei der eine Rolle, die sich das Mitglied selbst zuschreibt, nicht mitgedacht wird. Zugleich, und das ist sehr wesentlich, handelt es sich um bewusst gedachte und verlangbare Erwartungen und Verhaltensnormen. Ich gehe darauf an späterer Stelle ein. Was ist nun weiter über die verschiedenen Arten von Mitgliedern zu sagen? Mitglieder sind zunächst alle die, die einer Organisation angehören, und insofern gehört das beitragszahlende Mitglied15 ebenso dazu wie der mit Entgelt versehene Verbandsleiter. Dass dies auch für Gewerkschaften gilt, kann man am Organigramm jeder Einzelgewerkschaft feststellen. Stellvertretend sei nachfolgend das der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) abgebildet, obgleich die Organigramme der IG Metall, der IG BAU oder des DGB – die ebenfalls in der Untersuchung berücksichtigt wurden – genauso gut hätte verwendet werden können. Die Abbildung 1 und ihre nachstehenden Erläuterungen verdeutlichen den formal-demokratischen Aufbau der Organisation Gewerkschaft sowie ihre Aufgabenverteilung. Am Organigramm kann man den empirischen Ansatz der vorliegenden Untersuchung erkennen, der auf Bezirksebene und damit auf der zweitniedrigsten Stufe der Organisation ansetzt. Die örtliche Ebene, hier als unterste abgebildet, umfasst die ehrenamtlichen Ortsvereine, die ebenfalls für eine Reihe von Aufgaben zuständig sind. Die Mitgliederwerbung gehört unter anderen zu jenen Aufgaben, für welche die ehrenamtlichen Ortsvereine zuständig sind. Es wird zu zeigen sein, in welchem Verhältnis die offiziellen Verlautbarungen zur (von mir erhobenen) empirischen Wirklichkeit stehen (vgl. Kapitel III der Arbeit). Aus den Erläuterungen der Einzelgewerkschaft ver.di beispielsweise geht hervor, dass es die Aufgabe der „hauptamtlichen Bezirksgeschäftsführer“ sei, die ehrenamtlich geleistete Arbeit vor Ort unterstützen. Dies wirft die Frage auf, in welcher Weise das Mandat (Hughes 1984a, b, c) zu dieser Aufgabe von den hauptberuflichen Akteuren verstanden und ausgeführt wird. Diese Frage werde ich auf der Grundlage der Einzelfalluntersuchungen auf empirisch-analytischem Wege klären.
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Das beitragszahlende Mitglied wird im Folgenden als einfaches Mitglied bezeichnet.
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I. Theoretische Rahmung: Gewerkschaften – Individualität – Kollektivität
Die Ebenen: Auf der unteren Ebene können sich Ortsvereine bilden. Der Ortsverein vertritt vor Ort die Interessen der Mitglieder und wählt Delegierte für den Bezirk. Der Bezirksvorstand ist zum Beispiel zuständig für die Mitgliederwerbung im Bezirk, die Unterstützung der Betriebs- und Personalräte, Beratung und Rechtsschutz, die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und die Pflege der Mitgliederdaten. Zugleich unterstützt der Bezirk die ehrenamtliche Arbeit, die beispielsweise in den Fachbereichen geleistet wird. Die Bezirke greifen dabei auf hauptamtliche Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer und deren Personal zurück. Dann folgen die Landesbezirke mit dem Landesbezirksvorstand, der
Abbildung 1:
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Landesbezirksleitung und den Landesbezirkskonferenzen, die auf dieser Ebene die Interessen der Mitgliedschaft vertreten. Schließlich die Bundesebene. Der Bundeskongress ist das höchste Organ von ver.di. Hier nehmen zu gleichen Teilen ehrenamtliche Vertreterinnen und Vertreter der Ebenen und der Fachbereiche teil. Damit sind Einheit und Vielfalt von ver.di garantiert. Zwischen den Bundeskongressen ist der Gewerkschaftsrat das Organ. Der Bundesvorstand führt die Geschäfte von ver.di. Die Fachbereiche sind auf allen Ebenen vertreten, sofern eine ausreichende Anzahl von Mitgliedern vor Ort vorhanden ist.
Fachbereichskonferenzen und -vorstände setzen sich für die Interessen der Mitglieder aus dem Fachbereich ein. Die Gruppen: Frauen und Gruppen erhalten eigene Strukturen und Arbeitsmöglichkeiten. Zu ihnen gehören:
Jugend Seniorinnen und Senioren Arbeiterinnen und Arbeiter Beamtinnen und Beamte Meisterinnen und Meister, Technikerinnen und Techniker, Ingenieurinnen und Ingenieure (MIT)
Freie Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und sonstige nicht betriebsgebundene Mitglieder
Erwerbslose
Organigramm der Einzelgewerkschaft ver.di und Erläuterungen16
Quelle des Organigramms: „ver.di – Mehr bewegen“ Herausgeber: Gründungsorganisation ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft e. V., 10117 Berlin, Jägerstraße 6.
1. Begriffliche Bestimmungen
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An dieser Stelle ist zunächst festzuhalten, dass sowohl ehrenamtlich17 als auch hauptberuflich agierende Personen der Gewerkschaft zu ihren Mitgliedern gehören. Ferner gilt die Frage zu klären, inwieweit die Organisation ihre Mitglieder für die verschiedenen Ebenen getrennt rekrutiert und, falls dies zutrifft, welche Kriterien zur Selektion ihrer Mitglieder die Gewerkschaft vorhält. Für ihre Beantwortung ist zunächst Grundsätzliches zu den verschiedenen möglichen Mitgliedschaften in der Organisation darzulegen (vgl. hierzu I.3). Bei Überlegungen zu den sozialen Beziehungen der Organisationsmitglieder kann ich an die Befunde der Autoren von Alemann und Schmid (1998: 65) anknüpfen. Sie unterscheiden im Hinblick auf Gewerkschaften drei empirisch generierte Rollen, die ein Mitglied innehaben kann: die Rolle als Kunde, als Klient und als Interessent. Diesen haben sie drei Rollen von Funktionsträgern (in dieser Arbeit als ‚hauptberuflich tätige Akteure’ bezeichnet) zugeordnet: dem Kunden den Dienstleister, dem Klienten den advokatorischen Interessenvertreter und dem Interessenten den politischen Akteur (ebd.: 65). Jede der drei Mitgliedsrollen verbinde sich nun mit einer speziellen Strategieoption. Der Kunde sei auf den längerfristigen und multilateralen Korporatismus ausgerichtet, der Klient sei an bilateraler Kooperation orientiert, und der politische Interessent verkörpere die Grundoption von Konflikt bzw. Wettbewerb (ebd.: 64). Erkenntnisfördernd an diesen „organisations-, gewerkschafts- und verbändetheoretischen Grundannahmen“ (ebd.: 58) der Autoren ist die von ihnen als komplementär angenommene Beziehung von Mitglied und hauptberuflicher Kraft bei Gewerkschaften. Und zudem ihr Hinweis, dass es nicht länger zulässig sei, „‚... mit der Spekulation über die Existenz eines einheitlichen Mitgliederinteresses‘ zu arbeiten“ (Armingeon 1988: 50 nach von Alemann & Schmid 1998: 64). Diese These wird daher im theoretischen Teil der Arbeit zur Diskussion der hier generierten Befunde wieder aufgegriffen. Die Deutung eines im Zusammenhang mit Mitgliederverbänden stehenden einheitlich-gemeinsamen und bewussten Mitgliederinteresses utilitaristischer18 Prägung etablierter Definitionen zu Gewerkschaften tritt durch die diesbezüglich vorgenommene Abgrenzung der Autoren deutlich zuta17
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‚Ehrenamtlich‘ geht auf den Begriff ‚Ehrenamt‘ zurück, der nach Rauschenbach (1999: 3) vorzugsweise mit Bezug auf bundesdeutsche Wohlfahrts- und Jugendverbände gebraucht wird, und findet in dieser Arbeit mit dem Begriff der ‚Freiwilligkeit‘ synonyme Verwendung. Hierunter verstehe ich in Anlehnung an Wallace (1973: 285–322) die Anschlussfähigkeit eines Individuums an eine organisierte Kultur. Ich gehe somit entgegen üblichen Definitionen nicht davon aus, dass die organisierte und unentgeltliche Mitarbeit einzelner Personen aus ihrer „Identifikation mit den Werten und Zielen der entsprechenden Organisation“ (Rauschenbach 1999: 3) resultiert. Die Argumente für meinen ‚abweichenden‘ theoretischen Zugang zur Beziehung zwischen Individuum und Gruppe, die sich aus meinen empirischen Befunden ableiten, werden einführend in Abschnitt I.3 und abschließend in Kapitel IV der Arbeit dargelegt. ‚Utilitaristisch’ leitet sich vom lateinischen Begriff utilitas her, was Nutzen bzw. Vorteil bedeutet.
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I. Theoretische Rahmung: Gewerkschaften – Individualität – Kollektivität
ge. Zur Verdeutlichung der gegensätzlichen Auffassungen zur Zugehörigkeit von Individuen zu Gruppen füge ich ein Zitat von Mayntz (1963: 127) ein: „auch das Gewerkschaftsmitglied mag das, was man von ihm erwartet, gegen die Vorteile abwägen, die die Gewerkschaft ihm erkämpft, und dann vielleicht zu dem Schluß kommen, die Beitragszahlung allein genüge als Preis dafür, auch noch aktiv mitzuarbeiten sei dagegen ‚zuviel verlangt’“.
Wenngleich die Autorin hiermit eine Überzeugung19 vorträgt, welcher derjenigen dieser Untersuchung entgegensteht, weist sie auf etwas Wichtiges im Hinblick auf die Mitgliedschaftsrollen hin: Mitglieder sind in der Lage, sowohl aktiv zu partizipieren als auch passiv zu konsumieren. Sie können aus organisationsbezogener Perspektive verschiedene Bedeutungen erlangen: beispielsweise als Beitragszahler20, woraus sich für die Rekrutierung die Betonung ihrer quantitativen Dimension ergeben würde, als aktive Hilfskräfte – sprich als personale Ressource für freiwilliges Engagement –, aber auch als Reservoir für Führungsnachwuchs21 (ebd.: 117). Mitglieder von Organisationen treten diesen entweder freiwillig bei oder sie werden, wie beispielsweise beim Militär oder im Gefängnis, zum Eintritt gezwungen. Zweifellos werden Personen, die Mitglied bei der Gewerkschaft werden, nicht zu einem Eintritt gezwungen werden, dass die Mitgliedschaft also freiwillig zustande kommt. Nun stellt sich darüber hinaus die Frage, ob der Impuls, Mitglied zu werden, von der Person oder von der Organisation ausgeht. Nach allem, was bekannt ist, müssen Organisationen wie Gewerkschaften, Kirchen und Parteien um Mitglieder werben, selten kommen diese von allein. Damit ist zugleich offensichtlich, dass es sich um Organisationen handelt, die selbst, und zwar aktiv rekrutieren müssen, was bei Gefängnissen, um beim obigen Beispiel zu bleiben, nicht nötig ist. Der Gewerkschaft stehen also weder so viele einfache Mitglieder zur Verfügung, dass sie die Frage der Rekrutierung zugunsten einer Passivität entscheiden könnte, noch sind Mitglieder in so ausreichender Menge vorhanden, dass sie besondere auswählen könnten. Folg19
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Mayntz geht davon aus, dass Organisationen transparent halten, was sie von ihren Mitgliedern erwarten, und dass Mitglieder verstehen, dies gegeneinander abwägen. Aus dem Akt des Abwägens resultiere dann der Entschluss, Mitglied zu werden oder nicht (ebd.). Auf die besondere Bedeutung der Mitgliederbeiträge für die Gewerkschaft hat jüngst von Alemann (2007: 247) hingewiesen. Sie rühre daher, dass Gewerkschaften weitgehend unabhängig von staatlichen oder quasi-staatlichen Zuwendungen arbeiten, wohingegen andere Verbände wie Kirchen und Parteien beträchtliche Zuwendungen erhielten. Mayntz (1963: 117) weist darauf hin, dass insbesondere demokratisch aufgebaute freiwillige Organisationen wie die Gewerkschaften für ihre Mitglieder nur einen Eingang bereitstellen würden, der beim Rang eines einfachen Mitgliedes liege. Zudem würden sie ihre Mitgliedergruppen nicht scharf unterscheiden und offiziell keine Ausbildungsvoraussetzungen für höhere Ränge der Organisation festlegen.
2. Forschungsgegenstand Gewerkschaften
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lich ist darüber zu sprechen, wie gezielt eine Organisation einfache Mitglieder rekrutiert und welche Mittel sie hierbei einsetzt. Zunächst wende ich mich der Frage: Welche Anreize muss eine Organisation prinzipiell schaffen, um eine Person als Mitglied zu gewinnen? zu, um anschließend die Frage klären zu können, wie die Rekrutierungswünsche realisiert werden können. Es geht folglich um die Frage, wer oder was eigentlich benötigt wird, um Präferenzen bei der Rekrutierung realisieren zu können. Was eine Organisation als attraktiven Anreiz für ein potenzielles Mitglied einschätzt, wird wesentlich davon abhängen, was sie diesem an Motiven unterstellt, in die Organisation einzutreten. Zugleich werden die bewusst zu setzenden Anreize in einem Bedingungsrahmen platziert werden müssen, der durch die Organisationsziele bestimmt ist. Welche Ziele hat nun aber die Gewerkschaft selbst, welche werden ihr vielleicht auch attestiert und welche Möglichkeiten hat sie, darauf zu reagieren? Diese Fragen sollen auf der Basis des Forschungsstandes zu den Gewerkschaften beantwortet werden, der im Folgenden referiert wird. 2. Forschungsgegenstand Gewerkschaften22 Gewerkschaften werden in erster Linie aus gegenwärtiger, seltener aus historischer sozialwissenschaftlicher, Perspektive und zumeist in Aufsätzen und Essays thematisiert. Wenn man darin das aktuelle Selbst- und Fremdverständnis der deutschen Gewerkschaften zu erfassen sucht, stößt man schnell auf die erosive und gleichermaßen emotionale Kraft, die auf die Gewerkschaften, teilweise durch sie selbst provoziert, einwirkt. Die in den Beiträgen dargelegten Gedanken zur Gewerkschaft23, zu ihrer derzeitigen gesellschaftlichen Stellung und zu ihrem Einfluss sind betitelt mit „Wozu noch Gewerkschaften“ (Dettling 2005), nahezu gleichlautend „Wozu noch Gewerkschaften?“ (Negt 2004), „Zwischen Mitgliedererosion und Ansehensverlust“ (Biebeler & Lesch 2007) oder auch „Stehen die Gewerkschaften am Abgrund?“ (von Alemann 2007), um nur vier fachwissenschaftliche Publikationen zu nennen. Einige Aspekte der allseits konstatierten 22
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Publikationen zu und von Gewerkschaften sind in so zahlreicher Menge erschienen, dass es nicht möglich ist, diese in Gänze zu überblicken. Ich beziehe daher eine für die verfolgte Fragestellung sinnvolle Auswahl ein. Diese Artikel und Aufsätze in Zeitschriften befassen sich überwiegend mit konkreten Problemen der Arbeitswelt, beispielsweise mit dem Arbeitskampf der Lokführer-Gewerkschaften, aber auch Themen wie Personal- und Betriebsratwahlen, Betriebsverfassungen, kollektives Arbeitsrecht und Tarifsysteme tauchen auf. Monografien, die die Gewerkschaften explizit betreffen, stellen eine Ausnahme dar. Namentlich trifft dies auf die in diesem Jahr von Zeuner veröffentlichte Arbeit zum Verhältnis von Gewerkschaften und Rechtsextremismus sowie auf die von Glaesner durchgeführte Untersuchung weiblicher Führungsstile am Beispiel der Gewerkschaften (2007) zu.
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I. Theoretische Rahmung: Gewerkschaften – Individualität – Kollektivität
Einbuße gewerkschaftlichen Renommees führt Prott (2005: 276) beispielsweise auf das wechselseitig nicht unbelastete Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Massenmedien zurück.24 Die Titel der Aufsätze, wissenschaftliche wie populärwissenschaftliche, rekurrieren in erster Linie auf die Gewerkschaft als Mitgliederverband mit schwindender Mitgliederbasis. Dass Mitgliederrückgang sowie Schwierigkeiten bei der Rekrutierung neuer Mitglieder Erfahrungen sind, welche die Gewerkschaften mit anderen Verbänden wie den Kirchen und den Parteien teilen, ist unumstritten und führt zu der ihnen attestierten Sinn- und Orientierungskrise (stellvertr. Prott 2002: 12f.; Dettling 2005: 18). Erklärungsansätze für die Krise der Gewerkschaften und ihre schwindende Bindungskraft als Mitgliederverband werden an ihre historische Betrachtung (von Alemann 2007: 246) geknüpft, an den Diskurs zum Wandel des Sozialstaates25 (stellvertr. Wolf 2002b), mit dem sich wiederum ein Wandel des Ehrenamtes verbindet (stellvertr. ebd.), aber auch an den Verlust ihres Ansehens und die Veränderungen individueller Einstellungen zur Gewerkschaft (Biebeler & Lesch 2007). Streecks Aufsatz aus dem Jahr 1987 nennt weitere Ansätze, die die nachlassende Bindungsfähigkeit von intermediären Akteuren zu erklären bemüht sind: „Die Bindungen an organisierte Institutionen scheinen, in Parsons‘ Terminologie, mehr und mehr instrumentellen Charakter anzunehmen (Parsons 1968), ‚narrower in scope‘ (Etzioni 1961) zu werden und ihre affektiv-expressive Dimension einzubüßen; sozial-psychologisch ließe sich über eine ‚affektive Verarmung‘ von Mitgliedschaftsverhältnissen und ein Verschwinden ihrer moralisch-verpflichtenden, informell-obligatorischen Komponente spekulieren.“ (ebd.: 475).
Dieser Blick auf Streecks komplexe Überlegungen gibt Hinweise auf die Möglichkeiten, aber auch Notwendigkeiten interdisziplinärer Perspektiven, mit deren Hilfe das Verhältnis von Ich und Wir untersucht werden könnte (resp. müsste). Zur Frage der disziplinären Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand wird meinerseits in Kap. II eingehend Stellung bezogen. Eines sei bereits an dieser Stelle festgehalten: In dieser Arbeit geht es darum, die organisationsbezogene 24
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Zur Frage der Bedeutung medialer Einflüsse auf die individuelle politische Meinungsbildung empfehle ich die empirische Studie von Gamson (1992), auf die ich, bezugnehmend auf seinen theoretischen Zugang zu kollektiver Identität, in Abschnitt I.3.5 noch zu sprechen komme. Den Handlungsdruck der Gewerkschaften aus den gehäuft zu verzeichnenden ‚institutionellen Mitgliedschaften‘ verstärkend, kommt das geringer werdende Potenzial an Erwerbsarbeit sowie der demografische Wandel – das Altern unserer Gesellschaft – hinzu. Diese Prozesse führten nicht nur zu einer Vielzahl von Gewerkschaftsaustritten, sondern darüber hinaus zu einer stetig wachsenden Gruppe von Mitgliedern, die nicht mehr über betriebliche Strukturen erreicht werden können. Die Gewerkschaftsforschung diskutiert insofern bereits seit den 1980er Jahren die Konsequenzen, die sich aus dem geringer werdenden Angebot an Erwerbsarbeit sowie der gewachsenen Bedeutung außerberuflicher Lebensbereiche ergeben.
2. Forschungsgegenstand Gewerkschaften
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Bindungsfähigkeit und ihre komplementäre Gestalt, die individuelle Zugehörigkeit, am Beispiel der Gewerkschaften zu erklären. Hierzu müssen verschiedene disziplinäre Perspektiven bemüht werden. Neben ihrer Funktion als intermediäre Akteure werden Gewerkschaften sowohl in ihrer Bedeutung als wertorientierte Gemeinschaft26 als auch als Organisationen, „die strategische Interessen zu vertreten haben und ... stets schlagkräftig bleiben [müssen, K.B.]“ (Hoffmann et al. 1990: 175) erörtert. Ein weiterer Bedeutungsaspekt, den sich Gewerkschaften sowohl selbst attestieren als auch der ihnen fremdzugeschrieben wird, liege in ihrer ‚Dienstleistungsmentalität‘ (Streeck 1987: 474). Für diese These sprechen nicht nur die inzwischen recht differenzierten kostenlosen Serviceangebote der Gewerkschaften für ihre Mitglieder, die über Tarifpolitik, Streikgeld, Rechtsschutz sowie Bildung und Information hinausgehen. Sie können auch Lohnsteuerberatungen und günstige Versicherungsangebote wie die Dentalvorsorge umfassen. Der Aspekt der Dienstleistung wird im Fall einer deutschen Einzelgewerkschaft ganz und gar zum Etikett im Namen: „Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft“ wird zum Kürzel ver.di; aber auch andere Einzelgewerkschaften gründen sogenannte Servicegesellschaften. Ich werde anhand der mir zur Verfügung stehenden Daten zeigen, wie sich die Dimension der Gewerkschaften als Dienstleister in der empirischen Erfahrungswelt ihrer hauptberuflichen Kräfte widerspiegelt (Kapitel III dieser Arbeit). Fasst man das Gesagte zusammen, so eröffnen sich insbesondere aus der begrifflichen Bestimmung von Gewerkschaften als intermediäre Akteure interessante und interdisziplinäre Forschungsperspektiven für eine gewerkschaftsbezogene Untersuchung. Die bislang vorgelegten Publikationen zu Gewerkschaften zielen entweder auf ihre Mikroebene und somit auf die Analyse von individuellen Orientierungen und Erwartungen ab (Wolf et al. 2003, bezogen auf freiwillige Akteure; Prott 2002, bezogen auf hauptberufliche Kräfte) oder sie sind mesoperspektivisch auf die Analyse von Organisationsstrukturen bezogen (von Alemann & Schmid 1998), oder sie erweisen sich aus makroanalytischer Perspektive hinsichtlich institutioneller Konfigurationen als interessanter Forschungsgegenstand (Streeck 1987, ohne expliziten Bezug auf Gewerkschaften). Sie sind somit zwar ein viel beforschter Untersuchungsgegenstand, an welchem diskursive Betrachtungen zur Zivilgesellschaft (Wolf 1994, 2002a, b) und exemplarisch Fragen der „Vermittlung von Strukturen und Beteiligungsformen der ‚Arbeitsgesellschaft‘ und der ‚Bürgergesellschaft‘“ (Wolf 2002a) erörtert werden. Allerdings prägt bisherige Arbeiten, dass sie die Gewerkschaften stets unter einer Fragestellung erörtern, die jeweils einen ihrer Teilaspekte in seiner Bedeutung 26
Die Gewerkschaft rekurriert hierbei, so betonen Zeuner et al. (2007: 8), auf die Werte Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Solidarität und Demokratie.
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I. Theoretische Rahmung: Gewerkschaften – Individualität – Kollektivität
erfasst, jedoch nicht zu einem grundlegenden Verständnis ihrer komplexen Gesamtgestalt beiträgt. An diesem Defizit setzt nun diese Arbeit an und erfasst die analytischen Ebenen (Mikro-, Meso- und Makroebene) in einer der sozialen Wirklichkeit entsprechenden Gesamtperspektive. Hierfür ist es nicht nur nötig, sondern auch disziplinbezogen sinnvoll, Schwerpunkte auf den gewerkschaftlichen Binnenraum zu legen. Demnach fokussiere ich in meiner Studie zwar die mikro- und mesoanalytische Ebene, verliere dabei jedoch die Makroperspektive auf Gewerkschaften nicht aus dem Blick. Im Zentrum stehen die Biografien und die alltägliche Arbeit von hauptberuflich bei Gewerkschaften tätigen Personen; damit verfolge ich einen akteursbezogenen Untersuchungsansatz. Dies geschieht aus der Überzeugung, dass die Untersuchung von Lebensgeschichten von hauptberuflichen Mitgliedern der Bewegungsorganisation, fokussiert auf ihre berufliche Entwicklung, zum Verständnis der Entwicklung dieser Organisation beitragen kann (Miethe & Roth 2000: 16). Hierin drückt sich ferner die Haltung aus, dass eine biografische Perspektive die Prozesse erfassen kann, „… durch die die kollektive Identität von … Bewegungsorganisationen von ihren Mitgliedern beeinflusst wird und umgekehrt“ (ebd.: 17). Zugleich wird hierbei berücksichtigt, dass die Mitglieder sowohl der Bewegungsorganisation Gewerkschaft als auch anderen Wir-Gruppen angehörten bzw. parallel angehören, sodass wechselseitige Einflüsse von Individuen auf Gruppen und umgekehrt erforscht werden können. Dass eine solche Perspektive für gewerkschaftsbezogene Untersuchungen eine Ausnahme darstellt, wird mit den nachstehenden Ausführungen deutlich. Die fachwissenschaftlichen Publikationen auf akteursbezogene Studien zu Gewerkschaften untersuchend, stellte ich fest, dass eine solche sehr selten eingenommen wird. Sowohl mit Blick auf das Berufsbild als auch auf die soziale Rolle hauptberuflich beschäftigter Gewerkschaftsfunktionäre handelt es sich, wie Prott (2002) betont, um einen gering erforschten Berufsstand. Protts eigene Forschungsarbeiten stellen insofern eine Ausnahme unter den organisationssoziologischen Arbeiten dar, als er sich in erster Linie mit Gewerkschaften aus berufssoziologischer Perspektive befasst. Zum Forschungsgegenstand Gewerkschaftssekretäre konstatiert er, dass diese „als die Organisation tragende und bewegende Akteure allenfalls in Fußnoten vorkommen“ (ebd.: 17). Er attestiert der gewerkschaftssoziologischen Diskussion Abstinenz gegenüber den handlungspraktischen Vollzügen von Gewerkschaftssekretären und leistete diesbezüglich bereits grundlegende Forschungsarbeiten, welche ich zur Analyse und Einschätzung meiner empirischen Ergebnisse heranziehe. Bei der Analyse der berufsbiografischen Verläufe hauptberuflicher Gewerkschaftsakteure beziehe ich mich zugleich auf die Forschungsarbeiten von Heinz (1995), der Prozesse der beruflichen Sozialisation untersucht hat. Er erläutert in
2. Forschungsgegenstand Gewerkschaften
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seiner Konzeption beruflicher Sozialisationsprozesse sowohl die Wechselbeziehung zwischen Arbeit, außerbetrieblichem Lebenszusammenhang und Persönlichkeit als auch die Verschränkung zwischen Berufsarbeit und Lebensverlauf in einem begrifflichen Zusammenhang. Hiermit grenzt er sein Konzept zur beruflichen Sozialisation gegen primär arbeitsplatz- und betriebsorientierte Analysen beruflicher Qualifizierung und Arbeitstätigkeit ab. Er unterscheidet zwischen der Sozialisation für den Beruf und der Sozialisation durch den Beruf. Handlungsund Erlebnisweisen außerhalb von Arbeit und Beruf, wie der private Lebensstil und die Kultur- und Konsumgewohnheiten, stehen nach Heinz mit der Berufsarbeit in Beziehung. Demnach zeigen die Sozialisationsprozesse für und durch die Berufsarbeit ein enges Wechselverhältnis zwischen Arbeitshandeln und außerbetrieblichen Zusammenhängen, das in der Berufsbiografie zur Geltung komme. Heinz‘ Modell thematisiert sozusagen den biografischen Unterbau der individuellen Arbeitstätigkeit, der aus dem dynamischen Wechselverhältnis zwischen Handlungskompetenzen und Identität besteht und auf die Wahrnehmung von Arbeitsanforderungen sowie von Mitgliedschaftsentwürfen und damit auf das Arbeitshandeln zurückwirkt. Vor diesem Hintergrund können Anschlüsse zu meiner Untersuchung hergestellt werden, die auf empirischem Weg die Bedeutung des berufsbiografischen Verlaufs für das hauptamtliche berufliche Handeln der Gewerkschafter generiert. Einen für diese Studie interessanten Befund publiziert Kotthoff (1994), der darauf verweist, dass die Struktur der Interessenvertretung und ihr Wandel in einem engen Zusammenhang mit der Beziehung zwischen den Führungspersonen bzw. Protagonisten und dem Kollektiv stehen. Er befasst sich insoweit, quasi zufällig, mit den sozialen Beziehungen von Betriebsräten und Arbeitnehmern und verweist darauf, dass, obwohl seine Studie erhebungsmethodisch keineswegs auf personale Relevanzen in der betrieblichen Mitbestimmung ausgerichtet gewesen sei, die Bedeutung von Personen entdeckt worden sei. Dies stellt er der Offenheit der von ihm verwandten Forschungsstrategie der qualitativen Sozialforschung positiv in Rechnung. Die Parallelität zwischen Kotthoffs und der hier vorgelegten Studie besteht in der Entdeckung von personenbezogenen Relevanzen, die aus der Qualität der sozialen Beziehungen resultieren. Seine Erkenntnis wird als sensibilisierender Impuls für die verfolgte Untersuchung dankbar aufgenommen – nicht zuletzt deshalb, weil sich, aus dem hier vorliegenden disziplinären Bezug der Erziehungswissenschaft, Gewerkschaften insbesondere unter dem Aspekt ihrer Bedeutung als Sozialisationsinstanz, vorzugsweise für Jugendliche, als interessanter Forschungsgegenstand erweisen. Diesem Erkenntnisinteresse folgend, wird auf eine von der Einzelgewerkschaft IG Metall beim Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen in Auftrag gegebene Jugendstudie (Bibouche & Held 2002) zurückgegriffen. Das Forschungsteam
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I. Theoretische Rahmung: Gewerkschaften – Individualität – Kollektivität
untersuchte die gewerkschaftlich praktizierte Jugendarbeit bei der IG Metall sowohl mit quantitativen als auch mit qualitativen Methoden und legte Ergebnisse vor, die an aktuelle Befunde zur Partizipation von Jugendlichen anschließen (Picot 2006: 177–223). Hierzu gehört der ihnen attestierte „Wille zur Integration“ (ebd.: 233). So schreiben die Autoren, dass Jugendliche nicht ausgegrenzt werden wollen und dass sie mit anderen gemeinsam ihre Lebensmöglichkeiten zu erweitern suchten. Diese Integrations- und Identifikationsbereitschaft fördere ihr Interesse an gewerkschaftlicher Partizipation. Bibouche und Held konstatieren einen die Atomisierung und Individualisierung bewältigenden Versuch, der sich in der Suche der Jugendlichen nach sozialer Zugehörigkeit ausdrückt.27 Hierdurch versprächen sie sich zum einen intensivierte Solidarität und zum anderen „mehr Gewicht zur Durchsetzung ihrer Interessen in der Gesellschaft“ (ebd.: 235). Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass es auf regionaler Ebene wichtig wäre, „Strukturen zu schaffen, die Jugendlichen eine vertraute Atmosphäre bieten“ (ebd.: 235). Zu ähnlichen Ergebnissen kam das Forschungsteam um Wolf (2003). Jugendliche hätten, entgegen der ihnen im Diskurs zum Wandel des Ehrenamtes unterstellten utilitaristischen Haltung zum freiwilligen Engagement, insbesondere den gesellschaftlichen Nutzen ihres Engagements im Blick, mit dem sich möglichst eine nachhaltige Wirkung verbinden soll (Wolf et al. 2003: 135). Sie favorisierten zwar keine Gremienarbeit bei Gewerkschaften, erachteten jedoch klare und feste Strukturen für freiwillige Aktivitäten durchaus für sinnvoll. Wichtig sei für Jugendliche in erster Linie die Anerkennung ihrer freiwilligen Arbeit durch die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, dass man ihnen zutraue, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Die Befunde von Wolf et al. verweisen zudem darauf, dass Jugendliche sich nicht ausreichend informiert fühlen, welche Optionen zu freiwilligem Engagement ihnen Gewerkschaften offerieren. Sie weisen zudem auf die hohe Bedeutung von gewerkschaftlichen Angeboten hin, die insbesondere für Jugendliche eine Kombination von Selbstverwirklichungs- und Selbstentfaltungsmöglichkeiten mit kollektiven Orientierungen ermöglichen (ebd.: 166). Im Rahmen von intensiven Fallstudien sei herausgearbeitet worden, dass unter den gewerkschaftlichen Angeboten, die auf eine Partizipation von Jugendlichen abzielten, diejenigen am erfolgreichsten sind, die über die kombinierte Vermittlung von Wissen und der Möglichkeit zu persönlichen Begegnungen mit anderen Jugendlichen die Initiierung gewerkschaftlichen Bewusstseins zu fördern suchen. ‚Erfolgreich‘ beziehe sich hierbei auf den integrativen Einbezug einzelner Jugendlicher in gewerkschaftliche Jugendgruppen, der zur Initiierung freiwilliger Aktivitäten führt und dementspre27
Vgl. im Kapitel I.3.3 die in die gleiche Richtung gehenden Überlegungen Elwerts zu den Sinnquellen von Zugehörigkeiten.
2. Forschungsgegenstand Gewerkschaften
35
chend sowohl aus der organisationsbezogenen als auch aus der mitgliederbezogenen Perspektive zufriedenstellend sei (ebd.: 167). Wenn man das vorab Gesagte zusammenfasst, werden Gewerkschaften zum einen sowohl unter verschiedenen disziplinären Perspektiven als auch mit verschiedenen Reichweiten (mikro- bis makroanalytisch), zum anderen aber auch hinsichtlich der sich selbst zugeschriebenen oder fremdattestierten Bedeutungen fachwissenschaftlich diskutiert. Hierbei liegt der Fokus auf ihrer Bedeutung als Interessenverband von Arbeitnehmern, aber auch als traditionsreicher Kontext, der politisches und soziales Engagement hervorbringt (Wolf 2002b). Defizite müssen im Hinblick auf die Untersuchung von Gewerkschaften als organisatorische Gesamtgestalt mit ihren binnen- und umweltbezogenen Beziehungen konstatiert werden. Ferner mangelt es an Arbeiten, die die Gewerkschaften in ihrer sozialisationstheoretischen Bedeutung im Kontext von Zugehörigkeiten zu erforschen suchen. Die vorab referierten Befunde zum Forschungsstand der Gewerkschaften legen zudem nahe, die Bedeutung und Rolle der Gewerkschaften in Deutschland weniger denn je als geklärt zu betrachten.28 Ihre uneindeutige Rolle zeigt sich meines Erachtens auch an der von den Gewerkschaften nach außen propagierten Einheitlichkeit, die sich anschickt, sich hartnäckig der empirischen Wirklichkeit zu entziehen. Diese Aussage antizipiert einerseits die noch darzulegenden empirischen Erkenntnisse zur Vielseitigkeit berufsbiografischer Verläufe und beruflicher Handlungspraxis bei Gewerkschaften, für deren Darstellung die Bezugnahme auf einen klassischen, gewöhnlichen Verlauf gewerkschaftlicher Aufstiegsprozesse eine zentrale Bedeutung einnimmt. Sie korrespondiert andererseits mit aktuell vorgelegten empirischen Befunden zum uneinheitlichen Wertehorizont gewerkschaftlicher Mitgliedschaft. So kommen Zeuner et al. (2007) in ihrer Studie zu rechtsextremistischen Einstellungen von Gewerkschaftsmitgliedern zum Ergebnis, diese seien ebenso „anfällig für Rechtsextremismus wie die Gesamtbevölkerung“ (ebd.: 8).29 Von den 6,6 Millionen Gewerkschaftsmitgliedern, so heißt es dort weiter, hätten weniger als zehn Prozent „ein einigermaßen in sich geschlossenes gewerkschaftliches Überzeugungssystem“ (ebd.: 8). Unter diesen zehn Prozent befänden sich allerdings mehrheitlich „Funktionsträger“30. 28
29
30
Vgl. hierzu die Ausführungen von Alemanns, der die Anfänge der Debatte zur Rolle von Gewerkschaften in Deutschland bereits ins 19. Jahrhundert rückdatiert (2007: 246). Unter http://buecher.hagalil.com/sonstiges/gewerkschaften.htm.20.09.2007 findet sich eine aktuelle Rezension dieser Publikation. Aus der Tatsache, dass die Autoren nicht begrifflich erläutern, was sie unter „Funktionsträgern“ verstehen, kann geschlossen werden, dass sie mit dem gewerkschaftlichen Kontext so vertraut sind, dass sie vergessen, den Begriff zu explizieren. Es handelt sich bei „Funktionsträgern“ um Mitglieder, die sich aktiv ehrenamtlich bei der Gewerkschaft engagieren. Manchmal werden aber auch hauptberuflich tätige Gewerkschafter so bezeichnet (Zech 1995), was in diesem Fall jedoch unwahrscheinlich ist.
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I. Theoretische Rahmung: Gewerkschaften – Individualität – Kollektivität
Obgleich die Autoren offen lassen, was für sie ein „geschlossenes gewerkschaftliches Überzeugungssystem“ impliziert, erweist sich die Erkenntnis, dass Gewerkschaften Mitglieder vereinen, deren Orientierungen auf uneinheitlichen Werten und Überzeugungen beruhen, für diese Untersuchung als relevant. Sie stellt im Verein mit Protts (2005) Verweisen darauf, die Gewerkschaften verkündeten ihrer inneren Vielfalt zum Trotz nach außen eine „trügerische Einheitlichkeit“ (ebd.: 277), eine für meine Forschungsaktivitäten zentrale Spur dar. Ich hatte eingangs geplant, auf der Basis des Forschungsstandes zu den Gewerkschaften Auskunft über ihre Organisationsziele geben zu können, da ich hierin einen zentralen Zugang zum Verständnis organisationsseitig gesetzter Anreize für potenzielle Mitglieder vermutet hatte. Um diesbezüglich zu einer Antwort zu kommen, konfrontiere ich die vorstehend referierten, sich selbst und von fremder Seite zugeschriebenen Bedeutungen nunmehr mit dem bereits bekannten Selbstzeugnis der Einzelgewerkschaft ver.di31. Folgendes ist hierbei festzustellen: An erster Stelle des Leistungsspektrums steht, dass die Gewerkschaft „die wirtschaftlichen und ökologischen, die sozialen, beruflichen und kulturellen Interessen“ (ver.di-Broschüre: 12) ihrer Mitglieder vertritt. Hiermit liegt wohl die breiteste Varianz prinzipiell möglicher Mitgliederinteressen im gewerkschaftlichen Visier. Zur vieldeutigen Semantik, die Gewerkschaften gegenwärtig implizieren, tritt also, wie exemplarisch an der ver.di zu sehen ist, ein Interessenvertretungsanspruch hinzu, der sämtliche Dimensionen der Lebenswelt gewerkschaftlicher Mitglieder abzudecken sucht. Somit ist deutlich geworden, dass im Hinblick auf die Gewerkschaften mitnichten von einem Organisationsziel gesprochen werden kann, sondern dass es sich nachgerade um das Gegenteil handelt. Welche Konsequenzen hat nun ein solcher auf Vieldeutigkeit angelegter Interessenvertretungsanspruch für die gewerkschaftlichen Wünsche zur Rekrutierung von Mitgliedern? Bevor dieser Frage auf empirischem Weg nachgegangen werden kann, ist es nötig, zu wissen, wie Zugehörigkeiten zu Organisationen theoretisch erklärt werden können. Dazu werden theoretische Konzepte zur Bindung eines Individuums an einen kollektiven Interessenverband bzw. solche zur Interaktion in sozialen Gruppen herangezogen, die die Beziehung von Individuum (Mitglied) und Gruppe (Organisation: Gewerkschaft) erklären. Dies stellt die Voraussetzung dafür dar, die gewerkschaftlich gewählten und daher für sie charakteristischen Rekrutierungsstrategien und Selektionsmechanismen, so wie sie sich durch die empirischen Daten rekonstruieren lassen, einschätzen zu können. Es handelt sich mithin um eine Fragestellung, von der behauptet wird, dass sich schon mehrere Generationen von Forschern, Poeten, Philosophen und Sozialwissenschaft31
Siehe Fußnote 16.
3. Theoretische Konzepte zur Beziehung von Individuum und Gruppe
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lern auf die Suche nach Antworten begeben, sie jedoch mit unterschiedlichen Ergebnissen beendet haben (Wallace 1973: 285). Die vorliegende Studie leistet insoweit einen Beitrag dazu, das Verhältnis von Individuum und Kultur am Beispiel der deutschen Gewerkschaften zu erhellen. Hierzu ist es notwendig, bereits vorhandene theoretische Zugänge zur Beziehung von Ich und Wir auf ihre erkenntnisgenerierende Kraft für diese Arbeit zu untersuchen, was nachstehend geleistet wird. 3. Theoretische Konzepte zur Beziehung von Individuum und Gruppe und ihre Erklärungskraft für gewerkschaftliche Rekrutierungsprozesse 3. Theoretische Konzepte zur Beziehung von Individuum und Gruppe Wenn man der Frage nachgeht, in welcher Beziehung das Ich zum Wir steht, ist es sowohl das Naheliegendste als auch das Erkenntnisreichste, sich mit den theoretischen Zugängen und Überlegungen zu kollektiven Identitäten32 zu befassen. Ich greife hierbei auf die umfangreiche und anspruchsvolle Diskussion von Haunss (2004) zurück, der sich mit dieser Thematik im Kontext der Bewegungsforschung beschäftigt hat.33 Seine, aber auch andere Untersuchungen zu sozialen Bewegungen und ihren Akteuren bieten für die theoretische Erklärung gewerkschaftsbezogener Rekrutierungs- und Mobilisierungsstrategien vielversprechende Ansätze. Mit Verweis auf Haunss‘ (2004: 55ff.) Arbeit ist es nicht nötig, den bereits von ihm geleisteten Überblick theoretischer Konzepte zur Erforschung kollektiver Identitäten in dieser Studie zu wiederholen. Daher fallen meine zusammenschauenden Erläuterungen, die die diesbezüglichen Konzepte in ihren unterschiedlichen Reichweiten zu erfassen suchen, eher knapp aus. Ich favorisiere stattdessen eine eingehende Darstellung derjenigen Konzepte, die tatsächliche Relevanz für diese Arbeit entfalten, weil sie in ihren erklärenden Theorien zu Rekrutierungen und Bindungen von einzelnen Personen an Gruppen, der Erhellung dieses Verhältnisses bei Gewerkschaften dienen. Ein Versuch der Zuordnung zeigt, dass es sich hierbei erstens um Konzepte zur kollektiven Identität mit mikroanalytischen Bezügen handelt, die der Sozialpsychologie (Forgas 1995) und den Erziehungswissenschaften (Jakob 1993) 32
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‚Kollektiv‘ bezeichnet nach Fuchs et al. (1988: 393) eine „Mehrzahl von Personen, die ... ein gemeinsames Werte- und Normensystem besitzen und daher ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt haben, aber – im Unterschied zu den Mitgliedern einer Gruppe – nicht miteinander in Interaktion stehen“. Um die Komplexität des Diskurses zu kollektiver Identität zu verdeutlichen, weist Haunss (2004) darauf hin, dass es „... eine umfangreiche und scharfsinnige Studie Niethammers (2000) über die historischen Quellen und Verwendungsnachweise des Begriffs ‚kollektive Identität’ [gebe, K.B.], in der die Diskussionen der Bewegungsforschung noch nicht einmal als Literaturhinweis auftauchen“ (ebd.: 57).
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I. Theoretische Rahmung: Gewerkschaften – Individualität – Kollektivität
entstammen. Zweitens finden sich mesoanalytische Ansätze aus der Soziologie (Neidhardt 1983; Tyrell 1983a) und der Sozialpsychologie (Gamson 1992) und drittens makroanalytische Theorien aus der (sozialpsychologisch beeinflussten) Anthropologie (Wallace 1973) sowie aus der Soziologie (Elwert 1989). Die sozialwissenschaftliche Verbändeforschung (Wolf 2002a, b; von Alemann & Schmid 1998), die Gewerkschaften in erster Linie als Quelle sozialen Kapitals (Bourdieu 1993) beforscht und sich damit dem Ressourcen-MobilisierungsAnsatz (Freeman 1973/ McCarthy & Zald 1977 nach Miethe & Roth 2000: 12) zuordnen, beschränkt sich in der Regel darauf, den Funktionswandel des Ehrenamtes vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels zu beschreiben. Zwar handelt es sich hierbei um fundierte Konzepte zu intermediären Akteuren und ihren Aktionsrahmen und Handlungsbedingungen, theoretische Annahmen über das Verhältnis von Ich und Wir bleiben jedoch implizit oder werden bei genauerem Blick als rational-choice-basiert (Olson 1968) identifiziert. Haunss (2004) zufolge ist diese Handlungstheorie zur Untersuchung kollektiver Identitäten in den 1990er Jahren von identitätsorientierten Ansätzen zunehmend verdrängt worden (ebd.: 55). Vorteil der identitätsbasierten Theorien sei es, dass sie kollektiv handelnde Akteure nicht nur als rational entscheidende Individuen betrachten, die sich in einem bereits definierten Feld der Auseinandersetzung bewegen, sondern emotionale Aspekte bei Zugehörigkeiten ebenso mitdenken wie strukturelle Beschränkungen (ebd.: 56). Eine solche Forschungsperspektive impliziert, dass die Menschen sich selbst als kollektive Akteure konstruieren und dass sie über ihre Handlungen selbst in die Definition des politischen Handlungsfeldes eingreifen. Die biografietheoretische Perspektive und das interaktionistische Verständnis dieser Studie schließt somit unmittelbar an die Implikationen dieser identitätsorientierten Ansätze zur Erforschung der Beziehung von Ich und Wir an. Haunss setzt sich auf grundlegende Weise mit Konstruktionsmechanismen kollektiver Identitäten am Beispiel der Autonomen- und Schwulenbewegung auseinander und konstatiert die theoretische Unschärfe des Terminus’ kollektive Identität selbst. Über diese begrifflichen Unklarheiten hinaus sei zudem ungeklärt, auf welcher Ebene eine Analyse dieser Phänomene anzusetzen sei. Während makroanalytische Studien sich zumeist auf Konstruktionsprozesse kollektiver Großidentitäten bezögen und das Ziel verfolgten, deren Genese und Dauerhaftigkeit verstehen zu wollen, fokussierten mikroanalytische Untersuchungen das Individuum (ebd.: 58). Sie fragten nach Mechanismen, die notwendig sind, damit sich Individuen Gruppen anschließen und sich mit diesen identifizieren. Je nach disziplinärer Perspektive sei kollektive Identität dann das Ergebnis sozialer Prozesse (Symbolischer Interaktionismus) oder von Rollenzuweisungen (Sozialpsychologie). Haunss, der sich aus politikwissenschaftlicher Perspektive dem
3. Theoretische Konzepte zur Beziehung von Individuum und Gruppe
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Phänomen kollektive Identität zuwendet, kritisiert, dass es bei mikroanalytischen Studien nicht mehr um Konstruktionsprozesse kollektiver Identität, sondern vielmehr um Veränderungsprozesse individueller Identität geht (ebd.: 59). Das Problem besteht aus seiner Sicht darin, dass aus dem Phänomen kollektive Identität ein Problem individueller Anpassung wird, was dazu führt, dass die kollektive Anpassung nicht mehr systematisch von der individuellen unterscheidbar sei (ebd.: 58). Nachstehend soll anhand von mikro-, meso- und makroanalytisch ausgerichteten theoretischen Konzepten untersucht werden, ob, das, was von Haunss als Problem bezeichnet wird, tatsächlich eines darstellt oder ob es sich nicht vielmehr um einen Ausdruck gesellschaftlicher Wirklichkeit handelt, der analytischen Zugängen möglicherweise nur begrenzt offen steht. 3.1. Soziologische und sozialpsychologische Gruppenkonzepte Ich habe bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass eine Organisation stets aus ihren Mitgliedern besteht und dass diese soziale Beziehungen zueinander unterhalten. Wenngleich jedes Mitglied derselben Organisation angehört, unterhält es doch nicht zu jedem anderen Mitglied gleichermaßen soziale Kontakte. Es kann davon ausgegangen werden, dass mit wachsender Größe und Komplexität der Organisation ihre Mitglieder lediglich mit einem Teil der Mitgliedschaft in sozialen Beziehungen stehen und dass sich die „Unmittelbarkeit der Beziehungen“ (Tyrell 1983a: 78) aller Wahrscheinlichkeit nach auf die lokalen Segmente einer Organisation, zu der ein Mitglied gehört, begrenzen. Demnach besteht jede Organisation aus vielen (mehr oder weniger) kleinen Segmenten. Zur Untersuchung solcher „face-to-face-Gruppen“ (ebd.: 78) bietet es sich an, die Erkenntnisse der Gruppensoziologie, aber auch der Sozialpsychologie zu berücksichtigen. Gruppen sind ein aus der Perspektive soziologischer Theorien zu sozialen Systemen vielbesprochener soziologischer Grundbegriff (stellvertr. Neidhardt 1983; Claessens 1977; Lapasade 1972). Bei Tyrell (1983a) findet sich beispielsweise die auf Neidhardt (1979, 1983) zurückgehende Definition der sozialen Gruppe: „‚Gruppe ist ein soziales System, dessen Sinnzusammenhang durch unmittelbare und diffuse Mitgliederbeziehungen sowie durch relative Dauerhaftigkeit bestimmt ist‘“ (Neidhardt nach Tyrell 1983a: 77). Mein Ansatz , gruppensoziologische Konzepte in die Untersuchung einzubeziehen, wird durch Tyrells (1983a) Überlegungen zu sozialen Gruppen gestützt, demzufolge es ohne Weiteres möglich ist, den Gruppenbegriff auch auf Dyaden, beispielsweise auf Paare, aber auch auf „‚Personenverbände‘ und Kollektive größeren Zuschnitts“ (ebd.: 84) zu übertragen. Die sei indes nur insofern möglich, als man auf Zu-
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I. Theoretische Rahmung: Gewerkschaften – Individualität – Kollektivität
sammengehörigkeit als den Kern des Gruppenbegriffs setze. Auch größere Kollektive würden auf Zusammengehörigkeit abstellen und verstünden sich als Gemeinschaft, wobei sie zumeist „prototypisch an der Familien- und Verwandtschaftssolidarität orientiert“ (ebd.: 84) seien. Die hier zum Tragen kommenden quantitativen Implikationen des Gruppenbegriffs bereiten weniger im Hinblick auf ihr Minimum als vielmehr auf ihr Maximum Schwierigkeiten, da es sich bei Gruppen, so impliziert das hier vorliegende Verständnis, um eine interaktiv zu praktizierende Zusammengehörigkeit handelt. Dies führe dazu, dass beispielsweise Parteien, religiöse Gemeinden, aber auch Betriebe „die Größenbeschränkungen des Interaktionellen ‚manipulieren‘ müssen“ (ebd.: 84). Die genannten kollektiven Einheiten, so Tyrell weiter, bedürfen „der interaktionsartig inszenierten kollektiven Zusammenkünfte und Darstellungen (im Kult, im Herrschaftszeremoniell, in der weihnachtlichen Betriebsversammlung, im Parteitag, im gigantomanischen Aufmarsch) schon zur ‚Selbstvergewisserung‘, aber auch zur Motivationsbeschaffung und -mobilisierung“ (ebd.: 84).
Gewerkschaften werden im Kontext sozialer Systeme zwar nicht dem Begriff der sozialen Gruppe, sondern dem der Organisation34 zugeordnet, gleichwohl können sie Merkmale von Gruppen aufweisen. Schließlich sei es, so räumt Neidhardt (1983: 15) ein, kaum exakt zu entscheiden, wann man von einer Gruppe spreche, und so schlägt Neidhardt vor, die Empirie als Gradfrage heranzuziehen. In der Sozialpsychologie hingegen werden Formen sozialer Beeinflussung wie Konformität und Gehorsam, aber auch soziale Ansteckung, soziale Hemmung und soziale Erleichterung am Beispiel von Interaktionen in Gruppen seit langer Zeit untersucht (vgl. hierzu die Übersicht bei Forgas 1995: 244ff.). In den Perspektiven beider Disziplinen erweisen sich Gruppen als Kontexte, in denen Individuen ihre komplexesten und intensivsten sozialen Erfahrungen machen (ebd.: 263; Neidhardt 1983: 14). Hierin liegt letztlich der Grund, vergleichend ihre erkenntnisfördernden Aspekte für diese Untersuchung zu beleuchten. Als zentrales Sinnmoment von Gruppen gilt die Verpersönlichung sozialer Beziehungen durch Unmittelbarkeit, Diffusität und Dauerhaftigkeit (Neidhardt 1983: 17). Hier realisieren sich soziale Beziehungen35, sodass sich in einer Gruppe Grundprozesse abspielen, die mit individuellen Wahrnehmungs-, Ge34
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Zu weiteren definitorischen Aktivitäten die Gewerkschaften betreffend kann Lapasade (1979) herangezogen werden, der Gewerkschaften beispielsweise unter den Begriff der offiziellen Institution fasst, aber auch Claessens (1977: 59–85), der sie als Gruppenverband behandelt. Tyrell verweist in diesem Zusammenhang auf Webers (1964: 19f.) Definition von sozialen Beziehungen, „... dem es auf ein Minimum an sinnhaftem ‚Aufeinanderbezogensein‘ und wechselseitiger Orientierung aneinander im ‚Zusammenhandeln‘ mehrerer Akteure ankommt“ (Tyrell 1983a: 75).
3. Theoretische Konzepte zur Beziehung von Individuum und Gruppe
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fühls- und Bedürfnisbefriedigungselementen in Verbindung stehen, die zur inneren Handlungsführung der beteiligten Personen gehören (ebd.: 14). Wir-Prozesse als gruppenspezifische Sozialisations- und Bindungsprozesse fielen insofern nicht nur in den Bereich soziologischer Theorien, sondern auch in den der Sozial- und Entwicklungspsychologie. Neidhardt (1983) zufolge liegt der Ausgangspunkt für die besonderen Sozialisationsleistungen von Gruppen in der gruppenspezifischen „Personalisierung der Handlungszurechnung“ (ebd.: 1979 nach 1983: 17). Das Lernen in Gruppen umfasse auch und im Besonderen die Entwicklung von Gefühlen; Gefühle seien ganz und gar das primäre Steuerungsmedium von Gruppenprozessen, und man könne positiven Gefühlen die Funktion von „Gruppenkitt“ (ebd.: 17) attestieren. Es handle sich hierbei stets um solche Gruppen, die auf unmittelbarem, persönlichem Kontakt gründen (Forgas 1995: 263). Sie werden als Gemeinschaften und „face-to-face-Gruppen“ (ebd.: 263) identifiziert, die „durch Zusammenhalt, Konformität und Kontrolle ...“ (ebd.: 263) gekennzeichnet seien. Sozialpsychologen griffen auch noch gegenwärtig auf den sogenannten Zwanzig-Aussagen-Test zurück, der schon zu den Lieblingsinstrumenten der Symbolischen Interaktionisten gezählt habe (ebd.: 271). Der Test findet hier Erwähnung wegen der Befunde, die er generiert hat: So antworteten Personen, nach ihrer individuellen sozialen Identität befragt, häufig unter Bezug auf ihre verschiedenen Gruppenmitgliedschaften. Die Relevanz von Gruppenzugehörigkeiten für die individuelle Sozialisation scheint insofern zu den interdisziplinär unhinterfragten Annahmen zu gehören. In diesem Zusammenhang ist auch die von König (1983) getroffene Aussage zu sehen, wonach nicht Gemeinsamkeit, sondern „Interdependenz“ das eigentliche „Urphänomen“ von Gruppen ist. Ich gehe nun dazu über, weitere theoretische Konzepte auf ihr Verständnis zur Beziehung von Individuum und Gruppe zu prüfen und frage entsprechend danach, wie sie Zugehörigkeiten zu kleineren und größeren Gruppen erklären. 3.2. Biografieanalytisches Konzept von Gisela Jakob zum freiwilligen sozialen Engagement Zu den mikroanalytischen Arbeiten zählt die 1993 von Jakob vorgelegte biografietheoretische Arbeit, deren zentraler Befund zur biografischen Passung zwischen Organisationszielen und -inhalten mit biografisch motivierten Anschlüssen des Individuums einen lohnenswerten Einbezug darstellen. Für Jakob stellt die Entscheidung, sich sozial zu engagieren, vor dem Hintergrund ihrer biografieanalytischen Arbeit in jedem Fall eine biografisch motivierte dar. Die Entscheidung, ob eine Person sich aktiv engagieren und welche Ressourcen sie hierfür zur Verfügung stellen will, wird von ihr selbst aktiv getroffen. Jakob (1993)
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betrachtet ehrenamtliches Engagement im Kontext eines vom Individuum selbstgesteuerten Annährungsprozesses, dem eine Suche nach sinnhaften Handlungsmöglichkeiten vorausgehe (ebd.: 282). Aus empirischen Daten, aus der Befragung erwachsener Freiwilliger, generiert sie zwei Tendenzen von Mitgliedschaftsaktivitäten: den Dienst an der Gemeinschaft, der eine Fremdhilfe sei, und den Dienst am Selbst, der als Selbsthilfe gedeutet werden könne (ebd.: 282). Diese idealtypische Tendenz für das Ehrenamt Erwachsener kontrastiert beispielsweise mit Ergebnissen zum freiwilligen Engagement Jugendlicher, für das eine Kombination von Diensten am Selbst und an Fremden als charakteristisch herausgearbeitet wurde (Wolf et al. 2003). Es wird zu prüfen sein, welches Licht Jakobs Befunde auf die im Rahmen dieser Untersuchung vorgelegten Ergebnisse werfen (vgl. dazu Kapitel IV dieser Arbeit). Ich möchte den beschriebenen mikroanalytischen Ansatz zur Erklärung freiwilligen Engagements, welches in gruppenbezogenen Kontexten stattfindet und daher eine kollektive Identität voraussetzt, anschließend zunächst mit zwei weiteren makrotheoretischen Konzepten (Elwert 1989 und Wallace 1973) und schließlich mit mesoanalytischen Ansätzen zu sozialen Gruppen (Neidhardt 1983) und deren Annahmen konfrontieren. 3.3. Georg Elwerts Konzept zur Bildung von Wir-Gruppen Ich beziehe mich zuerst auf die makroanalytischen Überlegungen Elwerts (1989), der Zugehörigkeiten des Individuums zu einer Gruppe im Diskurs zu Ethnizität und Nationalismus platziert. Elwert begreift Gemeinschaft als positiven Gegenhorizont zur „Expansion der Käuflichkeit“ (ebd.: 45ff.). Er attestiert, ebenso wie Jakob (1993), dem Individuum eine Suche, und zwar die nach der Gemeinschaft, die in seinen Augen aus der Ausdehnung der Käuflichkeit resultiert (Elwert 1989: 36). Die Motive, sich einer Gemeinschaft anzuschließen, entstammten stets der gleichen Quelle, gleich, ob es sich dabei um ethnische, nationalistische, nativistische, religiöse oder klassenbezogene Gruppen handele. Diese Quelle, die er in der bereits angesprochenen Käuflichkeit von Sozialprestige erkennt, führe zu einer Verunsicherung des Individuums, da Beziehungen wie Freundschaft und Eheversprechen in seinem unmittelbaren persönlichen Umfeld zunehmend den Marktmechanismen ausgesetzt seien. Mit der wachsenden Instabilität vormals moralisch stabilisierter Beziehungen nehme auch die Instabilität der individuellen Identität selbst zu. Insofern könne die Suche nach Gemein-
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schaft als individueller Bewältigungsversuch, der eigenen Destabilisierung zu entkommen, verstanden werden.36 Wir-Gruppen-Bildungen werden von Elwert aus moralökonomischer Perspektive diskutiert: Die Moralökonomie sei ein Vertrauen37 schöpfender Bereich, da „schon im Aufbau der Wir-Gruppen durch soziale Bewegungen ... neue Strukturen des Vertrauens“ (ebd.: 37) entstünden. Während Geld als legitimes Austauschmittel der Warenökonomie gelte, verspricht die Gemeinschaft soziale Beziehungen, bei welchen Geld als Austauschmittel ausgeschlossen ist (ebd.: 37). In Gemeinschaften wirke das Prinzip generalisierter Reziprozität, was impliziert, „für einen anderen etwas zu leisten oder ihm etwas zu geben, auch wenn man diesen anderen nicht kennt, nur deswegen, weil man zur gleichen Gemeinschaft ... gehört“ (ebd.: 47). Das Prinzip der generalisierten Reziprozität mache im Nicht-Marktbereich die dominante Austauschform aus. Dieses Prinzip kopple sich nicht nur an Face-To-Face-Gruppen, sondern gilt gleichermaßen für größere Gemeinschaften, deren Mitglieder einander nicht zwingend kennen müssen. Die Tatsache allerdings, dass sich soziale Gruppen eine Identität zuschreiben, hält Elwert über ihre empirische Evidenz hinaus für merkwürdig, da „von individuellen Modellen etwas übertragen wird auf kollektive ‚Akteure‘“ (ebd.: 30). Die hiermit provozierte Frage nach dem Wechselverhältnis von individueller und kollektiver Identität umreißt den Kern dessen, dem ich mit meiner Untersuchung am Beispiel der Gewerkschaften auf die Spur kommen will. Es bleibt also festzuhalten: Die utilitaristisch motivierte Erklärung der Verbändeforschung, die sich in der Frage niederschlägt „Was bekomme ich, was muss ich geben und was bin ich bereit zu geben?“, und die biografietheoretische Annahme einer Suche nach sinnhaften Handlungsmöglichkeiten (die zu einer aktuellen Passung von organisationsbezogenen Anreizen und biografisch anvisierten Zielen führen) kann mit einer dritten, soziologisch-anthropologischen, theoretischen Annahme konfrontiert werden. Hier löst die Schwäche des Individuums die Suche nach einer Gemeinschaft aus, mit der es seine Instabilität zu bewältigen sucht. Weitere erkenntnisgenerierende Impulse gehen von Wallace (1973) und seinen ebenfalls makrotheoretischen Überlegungen aus. Wallace geht der Beantwortung der Frage nach „Was [muß, K.B.] Menschen psychologisch gesehen gemeinsam zu eigen sein damit sie in kulturell organisierten sozialen Gruppen zusammenleben können?“ (ebd.: 285).
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Auf die wachsende Bedeutung von Sekundärgruppen-Beziehungen durch den Zusammenbruch und das Verschwinden von Primärgruppen-Beziehungen hat auch die Sozialpsychologie hingewiesen (stellvertr. Forgas 1995: 263). Vgl. hierzu die umfangreiche sozialpsychologische Arbeit Lauckens mit dem Titel „Zwischenmenschliches Vertrauen“ aus dem Jahr 2001.
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3.4. Anthropologische Theorie von Anthony F. C. Wallace zur Teilhabe des Individuums an einer kulturell organisierten Gemeinschaft38 Ausgangspunkt der vielfach untersuchten Beziehung zwischen Individuum und Gruppe ist, so hält Wallace fest, stets die gesicherte Tatsache gewesen, dass Menschen überall ihre Bedürfnisse in sozialen Gruppen befriedigen; auf dieser Grundlage versucht man, Rückschlüsse auf die „Art dieser Bedürfnisse zu ziehen und auf die Art der Motive, die diesen Bedürfnissen eine kognitive Form geben“ (ebd.: 285). Wallace spricht sich explizit gegen den weitverbreiteten gedanklichen Kurzschluss aus, der in der Überzeugung bestehe, dass die Motive die gleichen sein müssten, sofern die Bedürfnisse und der kulturelle Hintergrund gleich seien. An die Stelle vermeintlich gleicher Motive, sich einer kulturell organisierten Gruppe39 anzuschließen, tritt bei ihm der Hinweis auf die „motivationale Einsamkeit“ des Individuums (ebd: 286). Der Fakt, dass alle Menschen im Grundsatz dieselben Gefühle erleben, spiegele lediglich die Zugehörigkeit des Menschen zur Gattung der Säugetiere wider, zeuge jedoch nicht davon, dass sie ein gemeinsames Feld von Interessen und Motiven teilen müssen. Vielmehr empfiehlt Wallace der Forschung, an dem Paradox anzusetzen, dass „Kulturen existieren und Gesellschaften überleben trotz der Verschiedenheit der Interessen und Motivationen ihrer Mitglieder, trotz der Unmöglichkeit vollständigen zwischenmenschlichen Verstehens und Kommunizierens und des unvermeidlichen Restes von Einsamkeit, der in jedem Menschen“ (ebd.: 287) lebe. Ausgangspunkt seiner Forschung ist daher, sich der Annahme zu entledigen, „motivationale Einheit sei für soziale Koordination notwendig“ (ebd.: 287). Seine Forschungsaktivitäten sind folglich darauf bezogen, die rationalen Funktionen zu bestimmen, die es Personen differenter Motivation ermöglichten, jene kognitiven Aufgaben zu leisten, die für die Aufrechterhaltung und Ausdehnung einer Kultur unabdingbar seien. Lediglich unter dieser Voraussetzung, so betont Wallace, sei es möglich, „die Art und Weise, in der Individuen ihre eigenen Motivationen organisieren und ihre Wahrnehmung von der Motivation anderer und ihre Wahrnehmung anderer von ihrer Person, und zwar in einer Weise, die Sinn und Bedeutung ihrer individuellen Erfahrung vergrößert und zugleich den Organisationsgrad der sozialen Gruppe erheblich steigert“ (ebd.: 278), zu erforschen.
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Die Theorie von Wallace ist weitaus komplexer und in ihren erkenntnisgenerierenden Facetten vielseitiger, als mir hier darzustellen möglich ist. Ich verweise daher ausdrücklich auf seinen Aufsatz im zweiten Band zu „Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit“, der 1973 von der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen herausgegeben wurde. Kulturell organisiert sind nach Wallace Gruppen dann, „...wenn sie sich ausreichend nahe beieinander befinden und ausreichend lernfähig sind, so dass ihre ‚individuellen Weltmodelle‘ entweder identische oder wenigstens äquivalente Bedeutungen für Standardstimuli enthalten“ (ebd.: 288).
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Wallace legt damit ein für diese Untersuchung relevantes theoretisches Konzept vor, in der die kognitiven Prozesse der Individuen mit der kulturellen Organisation von Gruppen verbunden werden, die er selbst als „anthropologische Analyse der Beziehungen von Kultur und Wissen“ (ebd.: 287) bezeichnet hat. Sie kann als höchste Form der Abstraktion zur Bestimmung des Verhältnisses von angestelltem Mitglied und Gewerkschaft identifiziert werden und bietet insoweit den breitesten Rahmen für gegenstandsbezogene Erkenntnisse zur sozialen Welt der Gewerkschaft. Wallace leitet auf eindrucksvolle Weise her: Die Teilhabe eines Individuums an einer Kultur hängt nicht davon ab, dass es mit anderen Mitgliedern einer sozialen Gruppe Interessen und Motiven teilt, sondern davon, dass einer Teilhabe an einer kulturell organisierten Gruppe nichts im Wege steht, sobald diese Individuen dieser bestimmten Kultur fähig sind. Hierunter versteht er, dass sie bereits in der Lage sind, in einer kulturell erwarteten und zulässigen Weise auf eine kulturell vorhandene Definition einer Situation zu reagieren bzw. dass sie sich mindestens als einer solchen Lernleistung fähig erweisen müssen (ebd.: 319). Wallace‘ Theorie betont demzufolge die Bedeutung der Lernfähigkeit eines Individuums in gleichem Maße wie seine Fähigkeit, eine semantische Organisation, die er auch als „individuelles Weltbild“ oder „maze-way“40 (ebd.: 295) bezeichnet, zu besitzen. Sie müsse komplex genug sein, um die Erfüllung jener kognitiven Aufgaben zu erlauben, die die Kultur stellt (ebd.: 318f.). Sein Begriff von Kultur impliziert hierbei für die Mitglieder einer kulturell organisierten sozialen Gruppe das „Prinzip der Äquivalenz individueller Weltmodelle“ (ebd.: 299). Kultur definiert er demgemäß als eine Anzahl von äquivalenten oder identischen gelernten Bedeutungen41, mit deren Hilfe die Mitglieder einer Gesellschaft tatsächlich Reize definierten (ebd.: 288). Insoweit begreift er Kultur als „Rückschlüsse aus der Beobachtung von Reiz-Reaktionsketten“ (ebd.: 288). Kulturell organisiert sei eine Gemeinschaft dann, wenn sie in ihrer Organisation vom Beziehungsmuster der Stimulusbedeutungen völlig davon abhängt, welche die Mitglieder der Gemeinschaft gelernt haben (ebd.: 289). Dies stelle die Grundlage dafür dar, dass jede Person an einer Gemeinschaft teilhaben kann, die einen ausreichend großes Set von Bedeutungen gelernt hat oder zu lernen fähig ist, sodass 40
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Es handelt sich hierbei um einen englischen Terminus aus der Sozialpsychologie, der die Vorstellung eines „... einzelnen im kulturellen System von diesem System“ (Fuchs et al. 1988: 488) bezeichnet. Wallace entlehnt Begriffe wie ‚Identität’ und ‚Äquivalenz’ der formalen Logik. Zum Begriff der Bedeutung schreibt er, dass sie „... etwas kulturell Relatives“ (ebd.: 300) sei und dass er deshalb die Begriffe „Bedeutung, Bedeutungsabstufungen und das Ausmaß von Organisation“ (ebd.: 287) durch formalisierte Schemata definiere, „... die jeweils auf einer logisch-mathematischen Entwicklung der Komponentenanalyse basieren und auf der mathematischen Informationstheorie“ (ebd.: 287).
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ihre Teilnahme am Leben dieser Gemeinschaft für die Person selbst und für die anderen Mitglieder befriedigend ist. Für die Mitglieder einer kulturell organisierten Gruppe existierten also zu jeder Situation (Stimuli oder Reize) eine adäquate oder gar identische Bedeutung und eine kulturell adäquate oder identische Reaktion auf sie. Die kulturelle Adäquatheit könne jedoch im Vergleich zur Fülle der individuell erlebten Bedeutungen und individuell ausgedrückten Reaktionen sehr einfach sein. Insoweit gelte auch, dass das „Bedeutungsfeld und die Reaktion eines normalen Mitgliedes einer Gemeinschaft Untertypen der kulturell definierten Bedeutungsfelder und des kulturell definierten Reaktionsfeldes“ (ebd.: 292) darstellen. Das bedeutet für Wallace auch, dass die Fähigkeit zu lernen die Befähigung zur Kultur impliziert. Insoweit seien die Bemühungen, von Individuen Ausmaß und Organisation von Bedeutung kognitiv zu maximieren, Ausdruck ihrer Lernfähigkeit. Vor diesem Hintergrund ließe sich „die Tendenz von Verhaltenssystemen wie Kultur und Persönlichkeit, sich in Richtung auf zunehmende Organisation zu entwickeln, als nicht problematisch“ (ebd.: 319) begreifen. Wenn man mit Wallace davon ausgeht, dass sich diese Tendenz im individuellen Verhalten entfaltet, dann müsste sie sich durch Beobachtung des Verhaltens, aber auch auf der Grundlage kommunizierter sozialer Handlungen, wie sie durch Interviews erhoben werden, identifizieren lassen. Dieser Versuch wird, den theoretischen Annahmen Wallace‘ probeweise folgend, für die hier zur Verfügung stehenden empirischen Daten unternommen.42 Wie ich oben bereits mit Bezug auf Haunss (2004) erklärt habe, erweist sich der Terminus kollektive Identität als theoretisch unscharf. Im Anschluss wird daher, auf die theoretischen Überlegungen des Sozialpsychologen Gamson (1992) zurückgreifend, eine begriffliche Bestimmung gegeben, die der Erforschung des hier avisierten Untersuchungsgegenstandes dienlich ist. 3.5. Das Konzept kollektiver Identität von William A. Gamson Gamson (1992) widmet sich in seiner Studie der Frage, ob politisches Bewusstsein zwingend politischen Handlungen entspringen müsse und ob Bewusstsein Intellektualität voraussetze (ebd.: 110). Er untersuchte Gruppenkonversationen einfacher Arbeiter und Arbeiterinnen (focus groups) zu vier von ihm vorgegebenen politischen Themen. Gamson vertritt die These, dass 42
Die Theorie von Wallace erwies sich entgegen der durch die Darstellung implizierten vorab angelegten Theorie als zentrales Fundstück im fortgeschrittenen Forschungsprozess, welches meine (noch vorzustellende) empirisch-analytisch generierte Bindungstypologie zu erklären in der Lage war. Ich hatte hiermit die passenden Fragen zu meinen empirischen Antworten gefunden.
3. Theoretische Konzepte zur Beziehung von Individuum und Gruppe
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„Collective action frames are not merely aggregations of individual attitudes and perceptions but also the outcome of negotiating shared meaning. ... conversations are a collective product“ (ebd.: 111).
Politische Meinungen oder politisches Bewusstsein entstehe auf dem Wege kollektiver Aushandlungsprozesse. Das bedeutet Gamson zufolge, dass kollektive Identität stets in Verbindung mit kollektiven Handlungsrahmen43 zu denken ist. Kollektive Handlungsrahmen seien dabei schwer als Ansammlung einzelner Meinungen und Vorstellungen zu verstehen, sondern als ein Produkt der Aushandlung zu begreifen. Gamson zieht den Schluss, dass Personen mit politischem Bewusstsein nicht zwingend selbst aktiv in politische Handlungen verwickelt sein müssen. Bewusstsein kann sich, wie Gamson anhand seiner empirischen Befunde zeigt, auch fernab politischer Aktionen, beispielsweise durch Gespräche zu politischen Themen, herausbilden (ebd.: 111). Das für meine Studie entscheidende Ergebnis der Forschungen Gamsons besteht in der begrifflichen Bestimmung kollektiver Identität. Ich möchte daher seine Definition kollektiver Identität der ausführlichen Diskussion seiner Studie voranstellen. Die Konstruktion und Zusammensetzung kollektiver Identitäten erfolgt, so betont Gamson, durch gemeinsame Handlungen in einem kollektiven Rahmen (ebd.: 110). Er belegt diese These am Beispiel von Arbeitern, die in der gleichen Fabrik arbeiten: Über ihre alltägliche berufliche Praxis entstehe zu- und füreinander eine gewisse Kultur der Solidarität, was jedoch nicht bedeutet, dass sie ein Arbeiterklassen-Bewusstsein entwickeln (ebd.: 84). Gamsons Verdienst ist es, empirisch zu zeigen, dass politische Meinungsbildung an kollektive Aushandlungen gebunden ist, jedoch nicht zwingend auf politische Aktivitäten in kollektiven Handlungsrahmen zurückgehen. Ferner, und hierin liegt die entscheidende Bedeutung seiner Befunde, setzt sich die Bedeutungskonstruktion kollektiver Identität aus drei Komponenten zusammen, die ineinander eingebettet sein können, es jedoch nicht zwingend sein müssen (ebd. 84f.). Das erste Element kollektiver Identität weise einen Organisationsbezug auf. Gamson führt hierfür zwei Beispiele an, die zwar im Kontext von sozialen Bewegungen stehen, sich jedoch als organisationsbezogene Karrieren als „the union maid or the party loyalist“ (ebd.: 84) darstellen. Das zweite von ihm definierte Element kollektiver Identität kennzeichnet sich durch einen sozialen Bewegungsbezug. Diese Identitätskomponente stehe 43
Kollektive Handlungsrahmen, „collective action frames“ (1992: 6), versteht Gamson als übergeordneten abstrakten Begriff für soziale Rahmungen, in welchen Personen ähnliche oder gleiche Dinge tun. Hierunter fallen deshalb auch Kontexte, in denen Unterhaltungen oder Diskussionen zwischen einer Reihe von Personen zum gleichen Thema stattfinden.
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I. Theoretische Rahmung: Gewerkschaften – Individualität – Kollektivität
somit im umfassenderen Kontext einer sozialen Bewegung.44 Gamson veranschaulicht seine Überlegungen an folgendem Beispiel: „The identity of peace activists ... rarely rests on one organization; people support different efforts at different moments while subordinating all organizations to their broader movement identity“ (ebd. 84).
Schließlich sei es gut möglich, aber nicht zwingend, dass die Dimension einer bewegungsbezogenen kollektiven Identität in einen umfassenderen Rahmen eingebettet ist, nämlich in eine dritte Identitätskomponente, die durch ihren Bezug auf Solidargemeinschaften charakterisiert werden kann. Hier komme ich auf das Obengesagte zurück: dass zwar die Identität auf die Arbeiterklasse als Solidargemeinschaft gerichtet sein kann, es jedoch nicht zwingend muss. Das Gefühl der Solidarität eines Arbeiters könne sich ebenso gut nur auf die direkten Kollegen in der Firma, mit denen er sich in der gleichen Lage befindet, beziehen. Das Verhältnis dieser drei Sub-Dimensionen kollektiver Identitäten, die zugleich jeweils die Bedeutung von Supra-Dimensionen einnehmen könnten, sei für kollektive Handlungsrahmen schwer zu bestimmen, ihre Konsistenz müsse von Fall zu Fall erforscht werden. Abbildung 2 zeigt das Ergebnis, für Gamsons Konzept kollektiver Identität eine geeignete Möglichkeit der Visualisierung zu finden. Sie veranschaulicht Gamsons theoretisches Konzept der kollektiven Identität, die der Involviertheit in kollektive Handlungsrahmen entspringt. Ich habe mich in dieser Abbildung darauf beschränkt, darzustellen, wie die drei Komponenten ineinandergebettet sind, wenngleich dies empirisch nicht zwingend so sein muss. Ich favorisiere diese Konzipierung kollektiver Identität vor dem Hintergrund meiner (noch im Einzelnen darzustellenden) Daten. Ich werde nun, wie angekündigt, ausführlicher auf Gamsons empirische Studie, die sein Interesse an sozialen Bewegungen45 einerseits und an Medien andererseits verbindet, eingehen. Er äußert sich zu dem von ihm – im Gegensatz zu Studien, die auf Survey-Daten fußen – gewählten empirischen Ansatz folgendermaßen: „One might imagine that with thousands of studies of people’s voting preferences and attitudes on every conceivable issue, we would thoroughly understand how people think and talk about politics“ (ebd.: xi).
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Hier ist gemeint, dass eine soziale Bewegung umfassender ist als eine Organisation, die einer sozialen Bewegung entspringt. Zur begrifflichen Verwendung vgl. ferner die Ausführungen zu sozialen Bewegungen im theoretischen Teil dieser Arbeit (Kapitel IV). Auch soziale Bewegungen untersucht Gamson als „collective action frames“ (1992: 6).
3. Theoretische Konzepte zur Beziehung von Individuum und Gruppe
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Tatsächlich, so fährt er fort, wissen wir bereits eine Menge über das Endprodukt, den Kern der Meinungen, die Menschen kundtäten. Wie sie aber zu ihnen gelangen, was sie ihnen bedeuten und wie sie ihre Schlüsse ziehen, danach fahndeten wir noch (ebd.: xi). Dieses Mysterium zu entwirren beginne damit, dass wir erkennen müssten, dass Bewusstheit aus dem Wechselspiel zwischen Kultur und Kognition entstehe (ebd.: xi). Gamson stellt sich, ebenso wie Wallace (1973), eine sogenannte ‚Wie‘-Frage: Wie kommt es, dass so viele Menschen aktiv in sozialen Bewegungen werden, wenn sie doch im Allgemeinen für diesbezüglich uninteressiert und schlecht informiert gelten? Um Antworten hierauf zu finden, führt er, wie ich bereits dargelegt habe, zahlreiche Gruppendiskussionen, sogenannte focus groups, mit arbeitenden Menschen durch. Es handelt sich hierbei um eine breite und heterogene Gruppe von Arbeitern ohne höhere Bildung mit durchschnittlichem Interesse an politischen Angelegenheiten, die von Gamson gebeten wurden, sich zu vier verschiedenen und kontroversen Themen zu unterhalten (ebd.: 10). Die Themen selbst lauteten „affirmative Handlungen“, „Atomkraft“, „Konflikt zwischen Arabern und Israelis“ und „Turbulenzen in der amerikanischen Industrie“. Zugleich untersuchte er die Darstellung und Behandlung dieser Themen in verschiedenen Medien.
Abbildung 2:
Schematische Darstellung zur kollektiven Identität nach Gamson (1992)
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Gamson bezieht Medien von politischen Kolumnen bis zu politischen Cartoons, aber auch Nachrichtenprogramme ein, um herauszufinden, inwieweit die Gruppen den gegenwärtigen Mediendiskurs nachahmen. Er findet heraus, dass der Meinungsbildungsprozess komplizierter ist, als er üblicherweise dargestellt wird, und dass Menschen die Informationen der Medien vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen und derjenigen Menschen, die ihnen persönlich bekannt sind, reflektieren. Gamson zeigt anhand der Ergebnisse seiner Studie, dass die Menschen sehr gut in der Lage sind, sich nicht vom medialen Diskurs leiten zu lassen, und zudem fähig sind, argumentativ zu den diskutierten Themen Stellung zu beziehen.46 Seine Erkenntnis, dass, obgleich die meisten Menschen nicht vorhätten, sich aktiv in die Politik einzubringen, in ihren Köpfen grundsätzlich der Boden für politisches Handeln existiere, erweist sich für eine Studie, die sich mit Rekrutierungen im Kontext organisationsbezogenen politischen Engagements befasst, als höchst interessant. Dies umso mehr, als Gamson behauptet, dass dieses latent vorhandene politische Bewusstsein über eine angemessene Stimulierung aktiviert werden kann. Hierin sieht er die Voraussetzung und Begründung zur kontinuierlichen Belebung Neuer sozialer Bewegungen. Die Massenmedien seien ein System, das aktive Agenten mit spezifischen Intentionen unablässig in einen Prozess der Bedeutungsanreicherung einspannt. Anstatt sie als Set von Stimulationen zu betrachten, auf welches Individuen reagieren, sollte man sie als eine Seite eines komplexen symbolischen Kampfes ansehen, über den Deutungen sich verbreiten. Dieses kulturelle System treffe auf der anderen Seite auf denkende Individuen. Politisches Bewusstsein entwickle sich aus der Verflechtung dieser beiden Seiten. Gamson geht damit Problemen nach, die mit der Mobilisierung von Menschen zu kollektiven Handlungen in Verbindung stehen. Sein zentrales Interesse gilt der Erhellung der Art und Weise, wie das menschliche Verständnis der Themen, also die individuelle Deutung eines Themas, kollektive Handlungen befördern oder hemmen kann. Er gelangt zu der für meine Untersuchung wichtigen Erkenntnis, dass der Prozess der Bedeutungskonstruktion umfassender sei als die Rahmungen kollektiver Handlungen (ebd.: xiii). Im Zuge der von Gamson angeregten politischen Diskussionen sei eine Vielfalt kollektiver Identitäten von den Arbeitern und Arbeiterinnen ins Spiel gebracht worden. Kollektive Identitäten versteht Gamson als individuell konstruierte Zugehörigkeiten, die aus dem Involviertsein in kollektive Handlungsrahmen resultiert. Voll entwickelte kollektive Handlungsrahmen sind diejenigen, die die drei ele-
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Vgl. hierzu die These Protts (2005: 276), dass das schwindende Ansehen der Gewerkschaften bei den (potenziellen) Mitgliedern zum Teil auf das wechselseitig belastete Verhältnis der Gewerkschaften zu den Medien zurückzuführen sei.
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mentaren Bezüge zu Organisationen, sozialen Bewegungen und Solidargemeinschaften aufweisen. „The ease with which fully developed and integrated collective action frames are constructed depends on the extent to which people already share the elements of these frames“ (Gamson 1992: 111).
Die vorgestellten Befunde Gamsons zu den Voraussetzungen und Bedingungen kollektiver Identität werden, wie ich zeigen werde, zentrale Bedeutung für die rekonstruktiv herausgearbeiteten Befunde meiner Untersuchung erlangen. Wenn man nun die vorab dargelegten theoretischen Annahmen zur Beziehung von Individuum und Gruppe bilanziert, so stehen auf der einen Seite Ansätze, die die Tatsache, dass sich eine Person einer Gruppe anschließt, utilitaristisch erklären (Mayntz 1963; Wolf 2002a, b; von Alemann 1998), woraus folgerichtig Überlegungen resultieren, möglichst vielfältige Anreize für die anvisierten Personen (Mitglieder) bereitzuhalten. So schreibt Mayntz (1963) beispielsweise, dass gewisse Anreize von einer Organisation, denen die Mitglieder nicht in ausreichender Zahl zulaufen, gesetzt werden müssen, um sie zu werben. „Diese Anreize können finanzieller Natur sein, sie können in persönlichen Vorteilen, Lebenssicherung, Schutz oder Interessenvertretung bestehen oder auch in der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse nach Prestige, Einfluss, Bestätigung oder sozialem Kontakt. Ein Anreiz ist es schließlich auch, durch den Dienst an einer ‚guten Sache’ eine Pflicht zu erfüllen oder die Hochachtung der Umwelt zu gewinnen“ (ebd.: 113).
Mitunter stößt man jedoch auch auf weitaus konkretere Empfehlungen, die zum Eindämmen des Mitgliederschwundes beitragen sollen. So folgern Biebeler und Lesch (2007) aus den von ihnen herangezogenen ALLBUS-Daten, dass die Mitgliedschaftsentscheidung von der Betriebsgröße abhänge und die individuelle Beitrittsbereitschaft durch zunehmend wirtschaftsliberale Einstellungen der Arbeitnehmer, aber auch durch den Ansehensverlust der Gewerkschaften ungünstig beeinflusst werde (ebd.: 149). Hieraus leiten sich für die Autoren klare organisationsbezogene Strategien zur Stabilisierung der Mitgliederentwicklung ab: Diese sollten bei der „KostenNutzen-Abwägung“ (ebd.: 151), aber auch bei der Verbesserung des gewerkschaftlichen Images ansetzen. Mayntz (1963) zufolge ist eine gezieltere Rekrutierung dann möglich, wenn eine Vorrichtung für die Aufnahme und Eingliederung der Mitglieder vorgehalten wird. Wenn sich eine Organisation darüber im Klaren sei, welche Personen sie zu rekrutieren wünscht, könne sie entscheiden, ob es geografische Bereiche gibt, in denen diese anzutreffen seien. Dies betreffe
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I. Theoretische Rahmung: Gewerkschaften – Individualität – Kollektivität
die Frage des Einzugsbereiches von Mitgliedern, die entscheidend auf die Organisationsstruktur zurückgeht. Bei einem großen Einzugsbereich stelle sich die Frage, wie man die Präsenz und Sichtbarkeit der Organisation gewährleisten kann, deren Lösung sich wiederum auf die anzuvisierenden Mittel und Wege der Kommunikation und Kontaktaufnahme auswirkt (ebd.: 114). Wenn sich die Attraktivität einer Organisation nicht von allein herumspreche, könne sie auch besondere Kontaktpersonen einsetzen, sogenannte Werber. Diese Entscheidung fördere die personenbezogene, persönliche Rekrutierung einer Organisation. Je größer der Einzugsbereich der Mitglieder, desto größer müsse die Anzahl der Werber sein, andernfalls ist sicher mit Überlastungen zu rechnen bzw. können desto weniger potenzielle Adressaten überhaupt erreicht werden. Mit den Überlegungen zu den qualitativen Kriterien für die Rekrutierung verbindet sich auch die Frage, für welche Dauer Mitglieder geworben werden sollen.47 Mayntz (1963) betont, eine ungezielte Rekrutierung führe dazu, dass viele Mitglieder von Anfang an inaktiv sind und dies auch bleiben und dass oft qualifizierte Anwärter für höhere Ämter fehlen (ebd.: 118). Im Vergleich zu Mayntz rät Jakob (1993: 285), die sowohl selbstbezogene als auch fremdbezogene Typen von ehrenamtlich aktiven Mitgliedern identifizieren konnte, den Verbänden Folgendes: Sie sollten ihren Mitgliedern zugestehen, dass sie mit ihrem Engagement auch eigene biografische Zielsetzungen verfolgen können. Jakob zeigt damit die ihrem biografieanalytischen Ansatz implizit erhalten gebliebene utilitaristische Haltung zur Frage der Entstehung individuellen Engagements. Aus ihrer Perspektive müssen die Rahmenbedingungen für ein soziales Engagement in einer Weise gestaltet werden, dass sie den aktiven Mitgliedern die Realisierung eigener biografischer Themen ermöglichen. Demgemäß sollten auch Möglichkeiten zur Selbstentfaltung und zur Selbsthilfe für die Mitglieder bereitgehalten werden, was bereits in die innerverbandliche Organisation des Engagements einbezogen werden solle. Dies kann allerdings meines Erachtens nur realisiert werden, wenn die freiwillig aktiven Personen um ihre biografischen Themen wissen. Zugleich liefe es für Verbände darauf hinaus, dass sie ein Passungsverhältnis zwischen individuellen Sinnorientierungen und biografischen Planungen ihrer (potenziellen) Mitglieder und den verbandsbezogenen Anforderungen herzustellen bemüht sein müssten. Dies setzt nun nicht nur eine diesbezügliche Bewusstheit der (potenziellen) Mitglieder voraus, sondern zudem die Kenntnisnahme biografischer Vorhaben durch die Organisation. Ich 47
Mayntz (1963: 115) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass in früheren Zeiten Hafenarbeiter für Tagesbeschäftigungen personenbezogen geworben wurden, und zwar von Vorarbeitern, die sich an den immer gleichen Stellen aufhielten, wo sich dann interessierte Arbeitskräfte einfanden. An diesen „Ecken“ wurde durch Blicke und Nicken entschieden, wer tageweise zur Organisation gehört und wer nicht.
3. Theoretische Konzepte zur Beziehung von Individuum und Gruppe
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vertrete vor dem Hintergrund meiner rekonstruktiv ermittelten Befunde jedoch die These, dass biografische Sinnquellen und Orientierungen individuell stets nur begrenzt reflexiv zugänglich sind, und stehe insoweit den verbandsorientierten Handlungsempfehlungen Jakobs skeptisch gegenüber. Für Elwert (1989) hingegen stellt sich die Frage, gezielt organisationsbezogene Anreize zur Gewinnung von Mitgliedern einzusetzen, erst gar nicht, da für ihn Wir-Gruppen-Zugehörigkeiten aus der Suche des Individuums nach Stabilitätsgewinn resultieren. Die Wissenschaftsdisziplinen übergreifend konstatierte Individualisierungstendenz im Verein mit der sinkenden Relevanz von Primärgruppen-Beziehungen dürfte insoweit zu einer quasinatürlichen Verstärkung von gesuchten Zugehörigkeiten führen. Wie jedoch aus dieser zur gesellschaftlichen Wirklichkeit gewordenen Tatsache Vorteile für eine Organisation wie die Gewerkschaft es ist gezogen werden können, das liegt nicht unmittelbar auf der Hand. Hierzu werden auf der Grundlage der dargestellten empirischen Analyse Überlegungen in Kapitel IV dieser Arbeit angestellt. Den Aussagen von Wallace folgend, ergeben sich – vorausgesetzt, es handelt sich um lernfähige Individuen – wenigstens keinerlei Zugangsbarrieren im Hinblick auf gewerkschaftliche Mitgliedschaften. Gewerkschaften sind seiner Theorie zufolge stets in dem Maße kulturell organisiert, wie es die gelernten Be-Deutungen ihrer Mitglieder ermöglichen. Ich möchte schließlich den für meine Arbeit relevanten und gemeinsamen Kern der von mir referierten theoretischen Annahmen zum Verhältnis von Ich und Wir (Elwert 1989; Gamson 1992; Neidhardt 1983; Wallace 1973) festhalten: Gruppenzugehörigkeiten sind aus soziologischer und sozialpsychologischer Perspektive interessante Phänomene. Zentrale Bedeutung für Zugehörigkeiten zu sogenannten Face-to-Face-Gruppen erlangen die hier ablaufenden sozialen Interaktionen. So gesehen verbindet nicht primär eine Ähnlichkeit oder Gemeinsamkeit die Individuen einer Gruppe, sondern die „Interaktion, die immer und notwendigerweise außer einer begrenzten Sphäre des Einverständnisses zahllose Differenzen enthalten muß“ (König 1983: 51). Gruppenhandeln, das sich mindestens auf die aktiven Mitglieder einer Organisation beziehen lässt, sei demnach nicht primär auf Gemeinsamkeit oder Ähnlichkeit der Interessen gegründet, sondern auf eine gegenseitige Abhängigkeit und entsprechende Interaktionen (ebd.: 51). Der Vorzug der theoretischen Konzepte von Elwert (1989), Gamson (1992) und Wallace (1973) für meine Untersuchung liegt nun in ihrer Integrationskraft gruppensoziologischer und sozialpsychologischer Annahmen zu sozialen Gruppen, deren Existenz sie auf die Relevanz gruppenbezogener Interaktionen zurückführen.
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I. Theoretische Rahmung: Gewerkschaften – Individualität – Kollektivität
Gamsons interaktionistisches Verständnis zeichnet dafür verantwortlich, dass er die Beziehung zwischen Ich und Wir als Ergebnis eines Bedeutungsaushandlungsprozesses definiert. Kollektive Identitäten sind Gamson zufolge an kollektive Handlungsrahmen, also ebenfalls an Kontexte gemeinsamer Aktivitäten gebunden, die eine Vielzahl von impliziten Möglichkeiten politischer Bewusstseinsbildung und Mobilisierung bereithalten. Bewusstsein ruft kollektives Handeln jedoch nicht hervor, wie Gamson zufolge zumeist angenommen wird (ebd.: 110), sondern resultiert umgekehrt aus dem Involviertsein in kollektive Handlungsrahmen: „If people already share a sense of moral indignation and injustice, think of themselves as a we in opposition to some they, and have shared models of people like themselves acting to change conditions, the raw materials are in place. If one or more of these factors is absent, the process will take longer and is more likely to be aborted at some point“ (ebd.: 111).
Gamson vertritt damit die These, dass nicht identische und geteilte Motive und Interessen zwischen den Personen, die ein „we“ bilden, vorhanden sein müssen, sondern lediglich eine partielle Ähnlichkeit zwischen ihnen, um Gemeinsamkeiten aushandeln zu können. Allerdings sei dies einfacher und schneller möglich, je mehr Ähnlichkeiten zwischen den Vorstellungen und Haltungen der Personen vorliegen. Die Möglichkeiten politischer Mobilisierung ergeben sich nun für Gamson daraus, dass jedes Individuum latent über politisches Bewusstsein verfügt, unabhängig davon, ob es in aktive politische Handlungen verwickelt ist. Ich verstehe dies als mittelbare und von den Personen konstruierte Involviertheiten in politische oder soziale Ereignisse, aus denen diesbezügliche Bewusstheiten resultieren, und schlage hiermit den Bogen zu Elwerts Verständnis von Zugehörigkeiten. Diese resultieren, wie dargelegt, zuallererst aus dem Wunsch des Individuums nach Zugehörigkeit und sind insoweit als Bewältigungsversuch innerer In-Stabilität zu deuten. Die entscheidende Gemeinsamkeit mit Gamsons Konzept liegt nun darin, dass auch vorgestellte, also konstruierte Bezüge in eine Wir-Zugehörigkeit münden können. Elwert (1983) belegt dies mit der Existenz von Zugehörigkeiten zu Nationen, Ethnien bzw. zu Klassen, die für ihn notwendig konstruiert sein müssen, da sie gerade nicht auf unmittelbaren Interaktionen beruhen. Auch für Wallace (1973) resultieren Zugehörigkeiten nicht zwingend aus interpersonellen Bezügen und Prozessen, sondern sind in erster Linie als Ausdruck individueller Lernfähigkeit und kultureller Organisation zu verstehen. Zugehörigkeiten sind damit nicht an gemeinsame Interessen und Motive und ebenso wenig an unmittelbare soziale Interaktionen gebunden, sondern unter der Perspektive der Kulturfähigkeit von Individuen zu betrachten.
3. Theoretische Konzepte zur Beziehung von Individuum und Gruppe
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Die Diskussion der theoretischen Konzepte zum Verhältnis von Ich und Wir zeigt deren Relevanz für meine Untersuchung, die die Beziehung zwischen dem Mitglied auf der einen Seite und der Gewerkschaft auf der anderen Seite erhellen will. Ihre zentrale Bedeutung resultiert auch daraus, dass sie in ihrem Ansatz der Behauptung einer bei Interessenverbänden vorliegenden und für sie nötigen einheitlichen Motiv- und Interessenlage widersprechen. Auf dieser grundlagentheoretischen Basis ist es nun nicht nur möglich, die daraus folgenden Konsequenzen für die methodologische und methodische Anlage dieser Untersuchung im folgenden Kapitel (II) darzulegen, sondern zudem, die in Kapitel III vorgestellten empirischen Befunde dieser Untersuchung in angemessener Weise zu analysieren (Kapitel IV).
II. Methodologische Rahmung und methodischer Prozess
1. Das erziehungswissenschaftliche Erkenntnisinteresse der Untersuchung Gewerkschaften, so konnte über die Auseinandersetzung mit den auf sie bezogenen begrifflichen Bestimmungen herausgearbeitet werden, können und müssen als gruppenbezogener Handlungsrahmen untersucht werden. Soziale Beziehungen und Interaktionsprozesse zwischen pädagogisch tätigen Personen und jungen Menschen stellen für die Pädagogik von jeher einen interessanten und relevanten Untersuchungszusammenhang dar. Soziale Gruppen sind Kontexte der primären und sekundären Sozialisation insbesondere für Jugendliche, aber auch für Erwachsene (Joas 2003: 127ff.). Dies gilt umso mehr, wenn sie zur Klientel sozialpädagogischer Aktivitäten gehören. Soziale Gruppen stellen von daher ein grundlagentheoretisch relevantes Feld der Pädagogik dar. Eine im beschriebenen Sinne interessante Untersuchung stammt aus dem Jahr 2003 und wurde von Bimschas und Schröder vorgelegt. Die Autoren untersuchen die sozialen Beziehungen von professionellen, hauptberuflichen Mitarbeitern und ehrenamtlichen Jugendlichen im Kontext offener Jugendarbeit in Verbandsstrukturen. Sie greifen hierbei die von Nohl in den 1930er Jahren vorgelegte Theorie zu den Beziehungen zwischen Heranwachsenden und Pädagogen auf, die dieser mit der Bezeichnung „pädagogischer Bezug“ (Nohl 1970: 130) eingeführt hat und auf die in fachwissenschaftlichen Publikationen rekurriert wird. Die Autoren betonen die Abstinenz pädagogischer Theoriebildung zu interpersonalen jugendpädagogischen Vermittlungsprozessen, die alltägliche Beziehungsverläufe zwischen pädagogisch Tätigen und Jugendlichen in den Blick nehmen würden (Bimschas & Schröder 2003: 9).48 Sie greifen in ihrer Feldforschungsstudie auf psychoanalytische Objektbeziehungstheorien sowie auf die Adoleszenzforschung zurück, um die Frage, „ob und wie ein Mensch bereit ist, von einem anderen Menschen zu lernen und sich mit ihm auch über Schwierigkeiten hinwegzusetzen“ (ebd.: 9), wissenschaftlich zu beleuchten. Sie untersuchen die sozialen Beziehungen zwischen jungen Freiwilligen und pädagogisch 48
Vgl. zur kontrovers diskutierten Frage empirischen Forschungswissens für die Allgemeine Pädagogik Marotzki 2002: 49ff.
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II. Methodologische Rahmung und methodischer Prozess
Tätigen in Verbändestrukturen. Unter Vorgriff auf die im Einzelnen noch darzulegenden Befunde kann gesagt werden, dass die Arbeit hauptberuflicher Kräfte bei Gewerkschaften soziale Lernprozesse und politische Bildungsprozesse bei jugendlichen und erwachsenen Mitgliedern provoziert. Insoweit verkörpern die sozialen Beziehungen und die in ihrem Rahmen von den hauptberuflichen Akteuren geleisteten gefühlsbezogenen Aufgaben die zentralen Komponenten hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit. Die Parallele zwischen der Untersuchung von Bimschas und Schröder und der von mir vorgelegten Studie zeigt sich erst auf der Ergebnisebene. Während die Untersuchung von Bimschas und Schröder zum pädagogischen Prozess zwischen hauptberuflichen Kräften und freiwillig Engagierten gezielt auf die empirische und theoretische Erfassung von Beziehungen und die diesbezüglich geleistete Arbeit fokussieren kann, verfolge ich eine stärker grundlagentheoretisch orientierte Absicht: Es geht mir in erster Linie darum, die Gewerkschaften in ihren charakteristischen Zügen zu erfassen und die sie kennzeichnenden sozialen Beziehungen, die sich nur zum Teil auf Heranwachsende beziehen, analytisch dazustellen, da es bislang keine Forschungsarbeit gibt, die die Gewerkschaften in ihrer sozialweltlichen Gesamtgestalt erfasst. Vor diesem Hintergrund kann erwartet werden, dass mit den hier vorgelegten Erkenntnissen die Grundlage für eine gezielte Untersuchung der sozialen Beziehungen bei Gewerkschaften geschaffen werden kann. Schittenhelm (2004) weist darauf hin, dass die Auswahl angemessener und gültiger Erhebungs- und Auswertungsverfahren, insbesondere für die Forschungspraxis im Kontext der qualitativen Sozialforschung, eine nicht so leicht zu bewältigende Aufgabe darstellt (ebd.: 41). Diesbezügliche Entscheidungen seien stets in Abhängigkeit vom Gegenstandsbereich, von den Erkenntnisinteressen, aber auch von den forschungspraktischen Rahmenbedingungen und den zur Verfügung stehenden Ressourcen zu treffen. Bei der Konzipierung einer Untersuchung, die darauf abzielt, die Wege und Bedingungen, unter denen sich ein Individuum einer Gruppe, einer kollektiven Einheit anschließt, analytisch zu erfassen, ist vor dem oben skizzierten Hintergrund sowohl in theoretischer wie auch in forschungspraktischer Hinsicht einiges zu beachten. So gehe ich beispielsweise davon aus, dass es nicht ausreicht, die hauptberuflichen Mitglieder nach ihren vormaligen Motiven, Gewerkschaftsmitglied zu werden, zu befragen. Hiermit nehme ich die Hinweise zur eingeschränkten Bewusstheit der eigenen Interessen und Orientierungen auf (Wallace 1973; Scheffer 2005). Die Implikation dessen, „was Menschen antreibt, ihrem Verhalten Energie, Ausdauer und Richtung verleiht“ (Scheffer 2005: XIII), beruht, so wird vom Autor vermutet, auf dem nichtsprachlichen Format ihrer Abspeicherung sowie auf ihrer komplexen Struktur. Auf das implizite Wissen, welches den Befragten reflexiv nicht
1. Das erziehungswissenschaftliche Erkenntnisinteresse der Untersuchung
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ohne Weiteres zugänglich ist, jedoch von den Forschenden expliziert werden kann, stellt auch Bohnsack ab, wenn er konstatiert, „dass die Akteure selbst nicht wissen, was sie da alles wissen“ (Bohnsack et al. 2001: 11f.). Folgt man den Ausführungen Scheffers (2005), so erfährt man, dass sich verschiedene Disziplinen mit dem Thema Motivation befassen. Ihre individuumsbezogene Dimension werde in erster Linie von der Pädagogik, der Psychologie und der Betriebswirtschaft untersucht, während die kollektive Motivation von Gruppen zum Forschungsinteresse der Volkswirtschaft und der Anthropologie gehöre (ebd.: 1). Für eine Studie, die sowohl die organisatorische Bindungsfähigkeit (kollektive Dimension) als auch ihre komplementäre Gestalt, die individuelle Zugehörigkeit, am Beispiel der Gewerkschaften zu erklären sucht, bedeutet dies zum einen, sich hierzu verschiedener wissenschaftlicher Perspektiven bedienen zu müssen (vgl. zu den Vorteilen und Herausforderungen interdisziplinär erforschter Untersuchungsgegenstände Behnken & Zinnecker 2001). Sie verlangt zum anderen danach, ein methodisches Erhebungsverfahren zu wählen, das sowohl die komplexe soziale Wirklichkeit von Gewerkschaften (Horke 1977: 13) als auch die mehr oder weniger unbewussten Motive kollektiver Zugehörigkeiten zu erfassen vermag. Die Auswahl eines diese Aspekte berücksichtigenden Erhebungsverfahrens wird, wie ich bereits dargelegt habe, dadurch erschwert, dass die Soziologie, zu deren Forschungsbereich Organisationen wie Gewerkschaften traditionell gehören, dem Forschungsgegenstand Gewerkschaften kein angemessenes begriffliches Instrumentarium zur Verfügung stellt (ebd.: 13). Da jedoch diese Studie einen akteursbezogenen Ansatz aufweist, kann bei ihrer methodologischen und methodischen Konzeption auf die erziehungswissenschaftliche Biografieforschung zurückgegriffen werden. Vor dem Hintergrund, „dass sich die Selbst- und Fremddeutungen der heutigen Menschen stärker als in früheren Epochen auf den gesamten Lebenslauf und die individuelle Biographie rückbeziehen“ (Behnken & Zinnecker 2001: 16),
scheint es sinnvoll und zugleich notwendig, sich hierbei einer biografischen Perspektive zu bedienen. Die Biografie hat Marotzki (2002) zufolge „einen relativ gesicherten Ort im Themenspektrum Allgemeiner Pädagogik, mehr noch, sie ist eine Grundkategorie erziehungswissenschaftlichen Denkens, die sich dadurch auszeichnet, dass sie erstens theoretisch gut ausgearbeitet ist, dass zweitens eine methodologisch und methodisch ausdifferenzierte Programmatik zugrunde liegt und dass drittens eine Fülle empirischer Studien vorliegt, die die analytische Triftigkeit und den empirischen Explanationsgehalt dieser Leitkategorie überzeugend gezeigt hat“ (ebd.: 53).
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II. Methodologische Rahmung und methodischer Prozess
Gegenstand der Biografieforschung, wie sie in Anlehnung an Marotzki (2003: 23) hier verstanden wird, ist die soziale Wirklichkeit, die Menschen in Auseinandersetzung mit sich selbst, mit anderen und der Welt für sich herstellen. Empirische Analysen in der Biografieforschung richten sich insofern am „Primat des Individuellen“ aus (ebd.: 23). Ich habe bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen: Im Rahmen dieser Untersuchung werden Biografien zwar auf der Mikroebene sozialer Realität erhoben, diese sollen jedoch in ihrem Verhältnis zur kollektiven Dimension der Gruppe (Gewerkschaft), also in Verbindung mit einem „höheren Aggregationsniveau von Sozialität“ (ebd.: 23) studiert werden. Dies geschieht auf der Basis ihrer „symbolischen Manifestationen“ (ebd.: 23), die zum Zweck der Forschung durch Interviews erhoben wurden. Diese Arbeit verfolgt demnach beide für die Biografieforschung benannten Zielsetzungen: zum einen die anthropologisch motivierte Frage nach dem Verhältnis von Individuum (Ich) und Gruppe (Wir) und zum anderen individuell verlaufende biografische Prozesse, die mit einem beruflichen Aufstieg oder einer Rekrutierung in die hauptberufliche Arbeit bei Gewerkschaften verbunden sind. Der Untersuchungsgegenstand Gewerkschaft erfordert überdies eine Positionierung, auf welche Weise er in dieser Arbeit klassifiziert wird. Ich verstehe Gewerkschaften in Anlehnung an Miethe und Roth (2000) als Bewegungsorganisation, die sich durch eine für sie typische Kultur, durch die Freiwilligkeit ihres Zugangs für Mitglieder sowie durch ihre politisch-moralische Prägung (von Alemann 2007) auszeichnet. Aufgrund ihrer komplexen sozialen Wirklichkeit und ihrer Rolle als intermediärer Akteur (Streeck 1987) bieten Gewerkschaften Individuen verschiedene Optionen zur gesellschaftlichen Partizipation. Sie können somit als eine wichtige Quelle zur Hervorbringung „sozialen Kapitals“ (Bourdieu 1993 nach Wolf 2002: 445) verstanden werden. Um die sozialen und beruflichen Prozesse innerhalb der Gewerkschaften angemessen untersuchen zu können, bediene ich mich einerseits des von Schütze (1984, 1999) entwickelten biografietheoretischen Erhebungs- und Auswertungsverfahrens, welches ich in Abschnitt II.2.1.4 vorstelle. Ich beziehe mich dabei andererseits auf theoretische Bezugskonzepte, die dem Symbolischen Interaktionismus49 entstammen. Es handelt sich hierbei um das Konzept der sozialen Welt (Kapitel II.2.1.5) sowie um das Konzept zur beruflichen Arbeit arc of work (Kapitel II.2.1.6), das auf Strauss zurückgeht und von Schütze systematisiert und weiter49
Der Symbolische Interaktionismus ist eine aus der amerikanischen Soziologie kommende theoretische und methodische Richtung. Die Begründung meines Bezuges zur Forschungstradition des Symbolischen Interaktionismus liegt in deren Theorieansätzen zur Erforschung von Organisationen, die sich auf drei Dimensionen beziehen: die Kernelemente berufliche Karriere, Berufsidentifizierung und soziale Welt des Berufs, die gleichermaßen für meine Untersuchung interessant sind (Schütze 1987: 537).
1. Das erziehungswissenschaftliche Erkenntnisinteresse der Untersuchung
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entwickelt wurde (Strauss 1991; Strauss et al. 1980; Schütze 1984). Die Erörterung des Konzeptes (II.2.1.6.1) wird ergänzt durch Beispiele für bisherige Anwendungen (II.2.1.6.2), durch die Darstellung des mit dieser Untersuchung vollzogenen Anwendungsbezuges (II.2.1.6.3) sowie durch Ausführungen in Abschnitt II.2.1.6.4 zu einer ihrer Komponenten, dem Sentimental Work (gefühlsbezogene Arbeit). Die Analyse beruflicher Arbeit, ihrer sozialen Rahmungen und der sie konstituierenden sozialen Beziehungen bei Gewerkschaften wird sodann zur Klärung professioneller Strategien des Umgangs von hauptberuflichen mit ehrenamtlichen Akteuren bei Gewerkschaften und ihrem Verhältnis zu vorberuflichen biografischen Erfahrungen beitragen. Die hier vorgelegte Untersuchung stellt sich damit in den Kontext einer qualitativ orientierten sozialwissenschaftlichen Forschungstradition (Marotzki 2002: 53). Obwohl es sich hierbei um einen Sammelbegriff für unterschiedliche theoretische, methodologische und methodische Ansätze handelt, existieren methodische Prinzipien, die generell auf die qualitative Forschung zutreffen (vgl. zum integrativen qualitativen Forschungshandeln Maschke & Schittenhelm 2005). Beispielsweise stellen interpretative bzw. rekonstruktive Verfahren die methodische Kontrolle, entgegen den hypothesenprüfenden Verfahren, nicht durch Vorstrukturierung und Standardisierung der Kommunikationsverläufe sicher, sondern durch die Prinzipien der Offenheit und der Kommunikation (Hoffmann-Riem 1980: 343; Bohnsack 1999: 20ff.). Bezogen auf die von mir durchgeführten Interviews heißt das, den Befragten möglichst viel Raum zur Selbststrukturierung der Kommunikation zu geben, „damit sie die Möglichkeit haben, zu dokumentieren, ob sie die Fragestellung überhaupt interessiert, ob sie in ihrer Lebenswelt, ... ihrem Relevanzsystem – einen Platz hat und wenn ja, unter welchem Aspekt sie für sie Bedeutung gewinnt.“ (Bohnsack 1999: 21).
Methodische Kontrolle meint demnach Kontrolle über die Unterschiede der Sprache von Forschenden und Erforschten. Zum Prinzip der Offenheit schreibt Hoffmann-Riem (1980), dass hierbei „die theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstandes zurückgestellt wird, bis sich die Strukturierung des Forschungsgegenstandes durch die Forschungssubjekte herausgebildet hat“ (ebd.: 343).
Um jedoch in die Einzeläußerungen hineinprojizierte Bedeutungen im Interpretationsprozess zu vermeiden, müssen die Daten stets kontextualisiert ausgewertet werden. Das heißt: Sowohl die Einzeläußerung ist im Gesamtkontext einer län-
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II. Methodologische Rahmung und methodischer Prozess
geren Erzählung innerhalb des Einzelinterviews zu betrachten als auch der speziellen Handlungskontext der Untersuchungssubjekte zu berücksichtigen. Im nachstehend weiter zu explizierenden, vorab jedoch bereits über die Forschungsperspektiven und -fragen skizzierten methodologischen und methodischen Rahmen ist es Anliegen dieser Untersuchung, herauszufinden, wie freiwillig Engagierte und hauptberuflich tätige Personen zur Gewerkschaft gelangen, welche biografischen Erfahrungen hierfür von Bedeutung sind, welche Regelmäßigkeiten gewerkschaftliche Rekrutierungs- und Bindungsprozesse aufweisen und wie man dies anthropologisch im Rahmen der Beziehung zwischen dem Ich und dem Wir (Gamson 1992; Wallace 1973) erklären kann. Ich lege Ergebnisse vor, für deren Generierungsprozess es wichtig war, interdisziplinäre Perspektiven und Erkenntnisse zur Gewerkschaft einzubeziehen. Da es mir in dieser Arbeit nicht darum geht, zu untersuchen, in welcher Rolle sich die deutschen Gewerkschaften im Zuge transformatorischer Prozesse des Staates befinden, und da auch nicht ihre aus dem Strukturwandel der Arbeit resultierende gewandelte Bedeutung (Dettling 2005) geklärt werden soll, greife ich Erkenntnisse der Wissenschaftsdisziplinen Politik und Psychologie nur auf, insoweit dies zum Verständnis der gewerkschaftlichen Binnenbeziehungen zwischen Individuum und Gruppe vernünftig und notwendig erscheint. Gleichwohl stellen die Ergebnisse meiner Studie eine Basis dar, auf der die Bedeutung der Gewerkschaft in einer globalisierten Arbeits- und Lebenswelt neu eingeschätzt werden kann, was jedoch zu den in diesem Rahmen nicht leistbaren Aspekten gehört. Aus der in dieser Arbeit vertretenen These, dass die deutschen Gewerkschaften als Wir-Gruppe (Elwert 1989) zu verstehen und als kollektive Handlungsrahmen (Gamson 1992) unter biografietheoretischer Perspektive zu untersuchen sind, resultieren folgende Vorteile: Gewerkschaften können auf der skizzierten methodologischen und methodischen Basis sowohl in ihrer Gesamtgestalt als auch in ihren mikro-, meso- und makroanalytischen Dimensionen erfasst werden. Ich verspreche mir vom interdisziplinären Ansatz, der sich durch eine Verknüpfung biografieanalytischer Konzepte mit symbolisch-interaktiven Ansätzen beruflicher Arbeit und sozialpsychologisch und anthropologisch orientierten Theorien zu Zugehörigkeiten ausweist, eine stärkere erkenntnisgenerierende Kraft zu erzeugen, als sie bislang in einschlägigen Untersuchungen erzielt wurde. In den folgenden Kapiteln geht es mir um die Darstellung des Forschungsprozesses, bei dem es sich Becker und Geer (1979) zufolge stets um den Weg vom „Klang der Wahrheit“ zur vollen Beweiskraft der Schlussfolgerungen (ebd.: 161f.) handelt. Dies gelte sowohl für den Forscher/die Forscherin als auch für den Leser/die Leserin. Die Darstellung von Forschungsergebnissen ist daher immer auch eine Frage der Glaubwürdigkeit der durchgeführten Analysen, auf
2. Die drei Phasen des Forschungsprozesses und ihre zirkuläre Verknüpfung
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die der Forscher, die Forscherin mit der Darstellung günstig oder ungünstig Einfluss nehmen kann. Meine Bemühungen richten sich demzufolge darauf, die Fundierung meiner Analysen in den tatsächlichen Daten nachzuweisen. Zu diesem Zweck werde ich im anschließenden Teil der Arbeit den von mir durchlaufenen Forschungsprozess, der sich in drei Phasen gliedern lässt, ausführlich erörtern. 2. Die drei Phasen des Forschungsprozesses und ihre zirkuläre Verknüpfung in der Datenerhebung, -aufbereitung und –auswertung 2. Die drei Phasen des Forschungsprozesses und ihre zirkuläre Verknüpfung 2.1. Phase I des Forschungsprozesses Um sicherzustellen, dass die mit dieser Untersuchung vorgelegten Ergebnisse glaubwürdig sind, ziele ich in erster Linie auf Gewährleistung der Transparenz des Forschungsprozesses ab. Kennzeichen dieses Forschungsprozesses war, den ursprünglichen Untersuchungsplan ständig zu modifizieren, was sowohl den Arbeitstitel als auch die Untersuchungsfragen und die Datenerhebung und auswertungsmethoden einschließt. Dies ist einerseits auf den Untersuchungsgegenstand zurückzuführen und zeigt andererseits an, dass bereits die Datenerhebung mit analytischen Tätigkeiten verbunden ist oder, wie Becker und Geer (1979: 162) formulieren: „Die ‚Ahnungen‘ und ‚Einsichten‘ des Beobachters sind in Wirklichkeit verkürzte und unformalisierte Akte von Analyse“. Ich gewährleiste dies durch den hier gewählten „Forschungstypus, der nicht der Methodologie vorgefertigter Hypothesen folgt“ (Strauss et al. 1980: 631), dessen Bildung und Integration von Konzepten in den Daten begründet liegt und dessen Vorgehen in einem komplexen Wechselspiel von induktiven und deduktiven Schlussfolgerungen besteht. Bei der Erhebung der Primärmaterialien orientiere ich mich an dem von Glaser und Strauss (1979; 1998) im Rahmen der grounded theory vorgeschlagenen theoretical sampling (Strauss & Corbin 1990, 1996) und an dem hiermit verbundenen minimalen bzw. maximalen Vergleich der Fälle. Nach dieser Erhebungsmethode, die sich zugleich mit einer frühzeitigen Datenauswertungsstrategie verbindet, werden je nach spezifischem Datentyp ausgewählte Orte ausgesucht oder auch besondere Aufmerksamkeit auf ausgewählte Daten liefernde Ereignisse gerichtet (Strauss et al. 1980: 631). Entscheidend für diese Forschungsstrategie ist, dass die „Orte oder Ereignisse auf der Basis der im Entstehen befindlichen Theorie (‚emergent theory‘) ausgewählt werden“ (Strauss et al. 1980: 631), eine Theorie, die sich bereits vom Beginn des Forschungsprozesses an entwickelt und kontinuierlich über den gesamten Verlauf modifizieren wird.
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II. Methodologische Rahmung und methodischer Prozess
Die Daten, die zu der von mir generierten Bindungstypologie für die soziale Welt der Gewerkschaften geführt haben, sind demnach mit dem Vorankommen der Forschungsarbeit zunehmend planvoll gesammelt und auf die sorgfältige theoretische Samplebildung bezogen worden. Ausgehend von einem empirischen Befund50, der darauf hinwies, dass es starke regionale Differenzen im Bereich des ehrenamtlichen Engagements bei Gewerkschaften gibt, stellte ich die hauptberuflich handelnde Person im mitgliedernahen Bereich von Gewerkschaften ins Zentrum der Untersuchung. Anfänglich erbat ich im Gespräch mit den hauptberuflich Beschäftigten Informationen zu Einflussfaktoren, die das Zustandekommen ehrenamtlichen Engagements bei Gewerkschaften potenziell begünstigten oder hemmten. Hintergrund war meine Vorstellung, dass beispielsweise das Alter der Akteure, deren Geschlecht oder auch regionale Besonderheiten hierfür bedeutsam sein könnten. Diese gezielte Suchbewegung veränderte sich bereits nach den ersten durchgeführten Interviews zugunsten einer so weit wie möglich offenen biografischen und somit explorativen Forschungsstrategie. Diese methodologische Erkenntnis ist vor allem zwei Einsichten geschuldet: Ich begriff zum einen die Begrenztheit meines eigenen Fragehorizonts und wie wenig er mir bei der Erforschung der komplexen sozialen Wirklichkeit der Gewerkschaften von Nutzen sein würde. Und ich erkannte zum anderen, wie spannend es sein kann, sich mit dem auseinanderzusetzen, was mir die hauptberuflichen Mitglieder der Gewerkschaft aus ihrem Berufsalltag erzählen. Aus dem vorab Gesagten ergab sich auch die Notwendigkeit, die Eignung und Gültigkeit des ursprünglich ausgewählten Erhebungsinstrumentes zu überprüfen. Die in diesem Zusammenhang angestellten Überlegungen lege ich im nächsten Abschnitt dar. 2.1.1. Auswahl des Erhebungsinstrumentes Vor den ersten forschungspraktischen Erfahrungen favorisierte ich das auf Meuser und Nagel (1991) zurückgehende Experteninterview und rekurrierte hierbei auf ihre begriffliche Explikation des Experten. Die Autoren betonen in einem ersten Schritt, dass es sich bei einem Experteninterview um ein Verfahren handle, „dessen Erhebungs- und Auswertungsstrategien eine gesonderte Betrachtung“ (ebd.: 442) erfordere, dass sich diese jedoch in einschlägigen Publikationen nicht finden ließe. In ihrem vielzitierten Beitrag weisen sie darauf hin, dass bei den Experteninterviews „nicht die Gesamtperson den Gegenstand der Analyse darstellt“ (Dexter nach Meuser & Nagel 1994: 442), sondern dass es vielmehr um 50
Dieser Befund stammt aus dem bereits in der Einführung der Arbeit vorgestellten Forschungsprojekt „Neue Ehrenamtlichkeit in traditionellen Mitgliederverbänden“.
2. Die drei Phasen des Forschungsprozesses und ihre zirkuläre Verknüpfung
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einen organisatorischen bzw. institutionellen Zusammenhang gehe, welcher mit dem Lebenszusammenhang der hierin agierenden Personen nicht identisch ist und in welchem diese Person lediglich einen Faktor darstellt (ebd.: 442). Auf dieser spezifischen begrifflichen Bestimmung beruht folgerichtig die Definition der Autoren darüber, wer oder was ein Experte ist und über welches Wissen dieser dementsprechend verfügen soll: Grundsätzlich handle es sich um Personen, die selbst Teil des Handlungsfeldes sind, welches den Forschungsgegenstand ausmache. Gleichzeitig grenzen die Autoren ihre Definition deutlich gegenüber einem Expertenbegriff ab, der auf eine dem Kontext nicht zugehörige Person abstellt. Folglich ist ein außenstehender und gutachterlich Stellungnehmender explizit nicht in die Definition des Experten bei Meuser und Nagel einbezogen. Expertenschaft sei prinzipiell ein „relationaler Status“, welcher in Abhängigkeit vom jeweiligen Forschungsinteresse stehe. Die Autoren fassen den Expertenstatus als einen, der vom Forscher verliehen und auf eine spezifische Fragestellung begrenzt wird. Experten werden dann folgerichtig als Funktionsträger und Repräsentantinnen eines organisatorischen Kontextes befragt, wobei die Zuständigkeiten, Aufgaben und Tätigkeiten der Experten und die hiermit verbundenen Erfahrungen sowie das spezifische Wissen Gegenstand der Interviews mit Experten sind. Die einschlägige Literatur zum Thema Experteninterview (vgl. hierzu stellvertretend Bogner et al. 2002 und Hitzler et al. 1994) in den Blick nehmend, konstatiert der Orientierungsuchende, dass sich im Hinblick auf den jeweils zugrunde gelegten Begriff des Experten neben Meuser und Nagel weitere Zugänge und Anschlüsse zum begrifflichen Verständnis eines Experten identifizieren lassen. Die vorgenommenen wissenssoziologischen Begriffsbestimmungen sind beeinflusst von der jeweiligen Forschungstradition, an die Anschluss genommen wurde (Ackermann 1999: 24ff.). In Anbindung an die Phänomenologie in der Tradition von Schütz (1932) setzen sich seine Nachfolger mit dem Verhältnis von Experten zu Betroffenen bzw. mit dem zwischen Professionellen und Laien auseinander (Hitzler et al. 1994). Honer (1994) weist schließlich darauf hin, dass „eine wissenssoziologisch interessierte Sonderstellung der Expertin“ (Sprondel 1979 nach Honer 1994: 633) nicht in erster Linie gegenüber dem Betroffenen, wohl aber gegenüber dem Laien und dem Menschen auf der Straße (Schütz 1972 nach Honer 1994: 633) plausibel sei. Diesen begrifflichen Verständnissen auf der Spur, erschien mir die differenzierte Betrachtung meiner Befragten sowohl als Experten, die zwar nicht Gutachter für das untersuchte Feld, wohl aber Repräsentanten und Funktionsträger der Organisation sind, als auch als Betroffene ratsam und notwendig. Betroffen sind sie insofern, als es um ihre individuelle (berufs)biografische Entwicklung, aber
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II. Methodologische Rahmung und methodischer Prozess
auch, weil es um sie selbst entweder als ehemalig oder noch gegenwärtig freiwillige Akteure geht.51 In der vorliegenden Untersuchung waren insbesondere die von den Experten gesammelten Erfahrungen im Umgang mit freiwillig bei der Gewerkschaft aktiven Akteuren (aktuelle berufliche Handlungspraxis), aber auch ihre eigenen (berufs)biografischen Erfahrungen von Interesse, weshalb ich die Form offener Interviews mit erzählgenerierendem Stimulus wählte. Im Rahmen des von mir eingesetzten Erhebungsverfahrens wird zwischen zwei Formen der explorativen Befragung unterschieden, welche sich je nach Erkenntnisinteresse entweder auf Prinzipien des Experteninterviews oder auf die Prinzipien des biografischen Interviews bzw. auf beide beziehen (Honer 1994: 631). Vor dem referierten Hintergrund fiel meine Wahl auf eine Kombination dieser beiden Interviewtechniken. Insofern zielte ich sowohl auf die Hervorlockung (berufs)biografischer Erzählungen als auch auf die Rekonstruktion sachlichen Expertenwissens zur beruflichen Handlungspraxis bei Gewerkschaften ab (ebd.: 634). Die von mir erhobenen Experteninterviews enthalten daher einerseits Daten zu individuellen (Berufs-)Biografien, die aus der Perspektive der Betroffenen rekonstruiert werden, und andererseits spezifische Wissensbestände zum gewerkschaftsberuflichen Alltag. Sie unterscheiden sich insofern von der Konzeption zum Experteninterview von Meuser und Nagel (1991: 441). Bei der Erhebung der Interviews stützte ich mich folglich nicht auf einen Interview-Leitfaden, sondern zielte auf die Exploration zu den genannten thematischen Komplexen (Berufsbiografie und berufliche Handlungspraxis) sowie darüber hinaus auf Beispieldarstellungen zu ehrenamtlichem Engagement ab. Nach dem Erschöpfen des Erzählpotenzials, welches durch die narrative Eingangsfrage zum berufsbiografischen Verlauf angeregt wurde, konzentrierte ich mich zunächst auf die Fragen, die sich auf das durch die Befragten Dargestellte bezogen, um anschließend, sofern nicht selbstläufig eingebracht, gezielt Beispiele aus der beruflichen Praxis zu erbitten. Ich befragte demnach hauptberufliche Mitglieder von Gewerkschaften sowohl als Experten im Sinne von Funktionsträgern oder Repräsentanten in ihrem institutionellen Kontext als auch als Betroffene ihrer eigenen (Berufs-)Biografie. Die Frage, wer als Experte gilt, wird somit durch die Forschungsfrage beantwortet. Die durchgeführten Interviews zielten inhaltlich vorwiegend auf die Rekonstruktion der berufsbiografischen Verläufe der hauptberuflichen Akteure sowie auf die Rekonstruktion der Wissensbestände und Erfahrungen zum beruflichen Alltag bei Gewerkschaften – insbesondere im Hinblick auf das ehrenamtliche Engagement im Zuständigkeitsbereich der Interviewten. Die Interviews erheben 51
Hiermit ist zugleich der Aufstiegsprozess vom einfachen Mitglied zum hauptberuflich angestellten Mitglied der Gewerkschaft erfasst.
2. Die drei Phasen des Forschungsprozesses und ihre zirkuläre Verknüpfung
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demnach in erster Linie eine subjektive, aus der Einbindung in die Organisationsstrukturen resultierende Sichtweise von hauptberuflichen Akteuren für den gewählten Untersuchungsgegenstand. Neben diesem exklusiven und detaillierten Wissen der Gesprächspartnerinnen, Gesprächspartner in ihrer Rolle als Repräsentantinnen/Repräsentanten einer Organisation erhielten auch subjektive Relevanzen zur Berufsbiografie der Interviewpartner Raum.52 Diese methodische Offenheit ergibt sich aus dem inhaltlichen Interesse an der biografischen Einbettung hauptberuflicher Arbeit bei Gewerkschaften und ihrer Bedeutung für die Bindungs- und Rekrutierungspraxis bei Gewerkschaften. Hieraus wird deutlich, dass es sich im vorliegenden Forschungskontext um die Kombination unterschiedlicher konzeptioneller Perspektiven handelt – der Sinnperspektive und die der Strukturperspektive (Fischer-Rosenthal 1991: 254f.). Jede dieser Perspektiven lässt den Forschungsgegenstand in einem anderen Licht erscheinen und erschließt damit spezifische Ergebnisse. Eine solche Kombination von Forschungsperspektiven wird auch als Perspektiven-Triangulation (Flick et al. 1991: 153) bezeichnet.53 Nachdem ich die von mir getroffene Wahl der Erhebungsmethode begründet habe, gebe ich nachfolgend darüber Auskunft, wie ich bei der Herstellung der Kontakte zu meinen Interviewpartnerinnen und partnern vorgegangen bin. 2.1.2. Zugang zum Feld Zur Herstellung der Kontakte zu meinen Informanten sind zwei wichtige Aspekte vorzutragen: Zum einen konnte ich auf bereits bestehende Kontakte sowohl zu den im Sample berücksichtigten Einzelgewerkschaften als auch zum Deutschen Gewerkschaftsbund zurückgreifen, die aus vorangegangenen Beforschungen im Kontext des Forschungsprojektes „Neue Ehrenamtlichkeit in traditionellen Mitgliederverbänden“ resultierten. Folglich war weder mir das Feld noch ich dem Feld völlig fremd. Zum anderen begünstigte mein Status als Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung die Bereitschaft der angefragten Personen, sich für ein Interview Zeit zu nehmen.
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Meuser und Nagel geben ausschließlich dem ExpertInnen-Wissen als Erfahrungs- und damit Betriebswissen bzw. dem Kontextwissen Bedeutung und Raum. Andere als diese Daten werden nicht nur nicht in die Auswertung einbezogen, sondern als misslungene Variante des Experteninterviews behandelt. Da eben dieses Wissen aber nicht von den subjektiven Orientierungen und Erfahrungen der Interviewten zu trennen ist, bezog sich meine Untersuchung auf beides, wobei ich in der Auswertung auf eine Trennung der beiden Bedeutungsebenen achtete. Triangulation wird in diesem Kontext also nicht als Möglichkeit verstanden, eine Methode mit der anderen zu validieren (Flick et al. 1991: 427).
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II. Methodologische Rahmung und methodischer Prozess
So fuhr ich stets an den Arbeitsort der Akteure und befragte dort weibliche und männliche hauptberufliche Kräfte der Gewerkschaften, in der Regel in ihren Büroräumen.54 In zwei Fällen konnte ich die Interviewdaten durch Beobachtungsdaten ergänzen, indem ich die Gewerkschaftssekretäre bei ihrer alltäglichen beruflichen Arbeit begleitete.55 Die Informanten und Informantinnen, die mir Einblick in ihre berufsbiografische Entwicklung und in ihre alltägliche berufliche Arbeit gestatteten, schilderten die für sie wichtigen und für den Kontext ihrer beruflichen Tätigkeit bedeutsamen Erfahrungen und ermöglichten somit überhaupt die Erforschung gewerkschaftlicher Arbeitsprozesse und deren Bedingungen. Zehn Interviews waren im engeren Sinne für den Auswertungsprozess relevant, deren Aufbereitung ich nachfolgend schildere. 2.1.3. Datenaufbereitung Von den hier berücksichtigten Interviews umfasst das kürzeste eine Dauer von 80 Minuten und das längste 110 Minuten. Ich erstellte nach dem Abhören der Tonbänder für die in die Untersuchung einbezogenen zehn Fälle umfangreiche thematische Verlaufsprotokolle56 und transkribierte die Tonbandaufnahmen vollständig und wortgetreu. Die Aufbereitung der Daten durch ein entsprechendes Transkriptionssystem muss mit dem Erkenntnisinteresse, welches dieser Untersuchung zugrunde liegt und vorab ausführlich dargelegt wurde, harmonieren. Ich entschloss mich aufgrund meines expliziten Interesses an (berufs)biografischen Sozialisationsprozessen zu einer Transkription, die mit einem mittleren Feinheitsgrad bei der Datenaufbereitung vorgeht. Vor dem Hintergrund, dass es sich weitestgehend um selbstläufige Passagen handelt, verzichtete ich dort auf eine Partiturschreibweise bei der Transkription, wo tatsächlich nur die oder der Befragte spricht.57 Diese Transkript-Passagen integrieren die Hörersignale der Interviewerin und visualisieren auf diese Weise die Selbstläufigkeit des Interviews. Das Transkriptionssystem als solches ist den Forschungsarbeiten Ralf Bohnsacks (1999) entlehnt, 54
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57
Eine Ausnahme stellt das Interview mit Regine Bauer dar, die ich nicht an ihrem Arbeitsort, sondern auf ihren Wunsch hin in einer Gastwirtschaft traf, wo wir uns in einem separaten Raum unterhalten konnten. Es handelt sich hierbei um die Befragten Peter Krause und Jürgen Teschner. Das Datenmaterial wird hierbei in Ober- und Unterthemen gegliedert und durch eine Inhaltsangabe der thematischen Passage ergänzt. Darüber hinaus werden besonders auffällige Aussagen und Bemerkungen, die im Hinblick auf die Fragestellungen relevant sind, teilweise oder vollständig transkribiert in die thematische Verlaufsübersicht aufgenommen (Bohnsack 1999: 150). Das betrifft insbesondere die Eingangserzählungen.
2. Die drei Phasen des Forschungsprozesses und ihre zirkuläre Verknüpfung
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wird jedoch um der Lesbarkeit willen von einigen Transkriptzeichen befreit, die den Lesenden von steten Entschlüsselungen entlasten sollen. Transkriptionszeichen (Bohnsack 1999): [ Beginn einer Überlappung bzw. direkter Anschluss beim Sprecherwechsel ] Ende einer Überlappung (2) Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert betont gesprochen ja ja laut gesprochen vielleiAbbruch eines Wortes //hm// Hörsignal der Interviewerin (doch) Unsicherheit bei der Transkription, schwer verständlich ((stöhnt)) parasprachliche Äußerung ((lachend gesprochen von* bis *)) Das auf diese Weise aufbereitete Datenmaterial befand sich nunmehr in einer vertextlichten Form, an der qualitative Auswertungsverfahren ansetzen können. Ich bediente mich hierbei der auf Schütze (1984a, 1999) zurückgehenden Narrationsanalyse, deren Kennzeichen ich im Folgenden schildere. 2.1.4. Das Datenauswertungsverfahren Ich unterzog das aufbereitete Datenmaterial einem sequenzanalytischen Interpretationsverfahren, welches von Schütze (1983, 1984a, 1999) als sozialwissenschaftliches Analyseverfahren mit entdeckendem Charakter entwickelt wurde. Es umfasst die fünf aufeinander aufbauenden Arbeitsschritte der formalen Textanalyse58, der strukturellen Beschreibung59, der analytischen Abstraktion sowie der 58
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Bei der formalen Textanalyse geht es um die Rekonstruktion der Erzählsegmente und die Identifikation der Textsorten Erzählung, Beschreibung und Argumentation. Dies bildet die Grundlage für den nächsten Arbeitsschritt, die strukturelle Beschreibung, bei welcher der Inhalt eines Interviews gemeinsam mit seiner formalen Struktur betrachtet wird. In der strukturellen Beschreibung zu einem Interview werden die formalen Auffälligkeiten festgehalten, und der Text wird in größere Darstellungseinheiten, Suprasegmente genannt, zerlegt. Hilfreich hierfür ist das Wissen um die Ordnung und den Aufbau von Erzählungen, wie es die Präambel, die Coda, die Vorcoda, aber auch Hintergrundkonstruktionen darstellen. Diese Auswertungsschritte führen zu Stichwörtern, auch Kodierungen genannt, die die Grundlage für die analytische Abstraktion bilden, wobei die biografische Gesamtformung des Einzelfalles Bestandteil derselben ist (vgl. zu den erzähltheoretischen Grundlagen Schützes Aufsatz aus dem Jahr 1984: Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens). Ausführlich zum Arbeitsschritt der strukturellen Beschreibung Detka 2005: 351–364.
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II. Methodologische Rahmung und methodischer Prozess
biografischen Gesamtformung des Einzelfalls und der Konstruktion eines theoretischen Erklärungsmodells.60 Während die vier zuerst genannten Arbeitsschritte überwiegend einzelfallanalytisch orientiert sind und der Entdeckung fallbezogener Merkmale dienen, die durch Kodierungen festgehalten werden, setzen nach dem Erfassen der Gesamtgestalt eines Falles kontrastive Vergleiche zu anderen Fällen ein. Im Zuge dieser vergleichenden Analysen, bei der minimal und maximal kontrastierende Fälle herangezogen werden, verdeutlichen sich sukzessive „die Konturen des zu untersuchenden Themas“ (ebd.: 342). Eine solche forschungsmethodische Operation ist Reichertz (2003) zufolge als Abduktion zu bezeichnen, da sie „solche Merkmalskombinationen [generiert], für die sich im bereits existierenden wissenschaftlichen Wissensvorratlager keine entsprechende Erklärung oder Regel findet“ (ebd.: 12).61 In der vorliegenden Untersuchung wurden auf diese Weise analytische Kategorien erarbeitet, die auf einer ersten Ergebnisebene zu einer gewerkschaftsbezogenen Bindungstypologie und auf einer zweiten analytischen Ebene zur Konstruktion eines theoretischen Modells zu Rekrutierungs- und Bindungsprozessen in der sozialen Welt der Gewerkschaften führten. Ich möchte diesen knappen Überblick zur Abfolge des Auswertungsverfahrens durch einige wichtige Aspekte zur Analyse des Erzähltextes selbst ergänzen. Textanalyse Voraussetzung für eine solche Datenanalyse ist Schütze zufolge die kontinuierliche Darstellung sozialer Prozesse in den Datentexten (1983: 285). Hiermit stellt er auf die möglichst offen erhobenen Daten ab, die als vollständiges Transkript vorliegen sollten. Die Analyse der Daten geht zunächst einmal von ihrem formalen textuellen Erscheinungsbild aus und nimmt eine vollständige Beschreibung formaler Auffälligkeiten vor (ebd.: 286). „Der erste Analyseschritt – die formale Textanalyse besteht mithin darin, zunächst einmal alle nicht-narrativen Textpassagen zu eliminieren und sodann den ‚bereinigten’ Erzähltext auf seine formalen Abschnitte hin zu segmentieren“ (ebd.: 286).
Diese einzelnen Segmente lassen sich an den in den Erzähltexten auffindbaren narrativen Rahmenschaltelementen identifizieren. Sie zeigen an, dass eine Darstellungseinheit abgeschlossen ist und nunmehr die nächste folgt (ebd.: 286). 60
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Die Analyseschritte der Analytischen Abstraktion und der Biografischen Gesamtformung werden zusammengeführt und in der Darstellung als Fallbeschreibung, die in erster Linie auf die Dimension der Berufsbiografie abzielt, präsentiert. Eine ausführliche Darstellung zur Abduktion, dessen begriffliche Fassung zuallererst auf Peirce zurückgeht, findet sich bei Reichertz 2003: 11ff.
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Schütze unterscheidet hierbei drei grundsätzliche Schemata der Sachverhaltsdarstellung: • • •
das Erzählen, das Beschreiben und das Argumentieren (1983: 285).
Sodann erfolgt im zweiten Analyseschritt die Durchführung einer strukturell inhaltlichen Beschreibung der Darstellungsstücke, welche „formal durch Rahmenschaltelemente voneinander abgegrenzt sind“ (ebd.: 286). Nicht jede der identifizierten Darstellungseinheiten entfaltet innerhalb des Textes die gleiche Relevanz für die nachfolgende Analyse, vielmehr werden Abstufungen vorgenommen. In einem dritten Schritt der Analyse wird das durch die strukturelle Analyse erhaltene Ergebnis, Darstellungseinheiten unterschiedlicher Relevanz, in der sogenannten analytischen Abstraktion „von den Details der einzelnen dargestellten Lebensabschnitte gelöst, die abstrahierten Strukturpassagen zu den einzelnen Lebensabschnitten werden systematisch miteinander in Beziehung gesetzt, und auf dieser Grundlage wird die biographische Gesamtformung, d. h. die lebensgeschichtliche Abfolge der erfahrungsdominanten Prozeßstrukturen in den einzelnen Lebensabschnitten bis hin zur gegenwärtig dominanten Prozeßstruktur herausgearbeitet“ (ebd.: 286).
So kann im vierten Schritt der Auswertung, der Wissensanalyse, eine Interpretation erfolgen, die darauf abzielt, die in den vorherigen Analysephasen aus den Interviews herausgefilterten eigentheoretischen, argumentativen Aussagen der interviewten Person hinsichtlich ihrer eigenen Lebensgeschichte und Identität in Bezug „auf ihre Orientierungs-, Verarbeitungs-, Deutungs-, Selbstdefinitions-, Legitimations-, Ausblendungs- und Verdrängungsfunktion“ (ebd.: 287) hin zu beleuchten. In einem nächsten Schritt werden, von der Einzelfallanalyse gelöst, kontrastive Vergleiche unterschiedlicher Interviewtexte in der Strategie des minimalen Vergleichs vorgenommen. Diese komparative Strategie wird unabhängig davon, ob es sich um ein konkretes oder ein generalistisches Analyseinteresse handelt, ausgeführt. Hierbei sind diejenigen Interviewtexte auszuwählen, die hinsichtlich des interessierenden Phänomens gegenüber dem Ursprungstext Ähnlichkeiten aufweisen (ebd.: 287). Sodann schließt sich die Strategie des maximalen Vergleichs an, bei welchem Interviewtexte mit maximaler Verschiedenheit zum Ausgangstext und gleichzeitigem Vorhandensein von Vergleichspunkten miteinander verglichen werden (ebd.: 287). Die aus dieser Auswertungsstrategie gewonnenen theoretischen Kategorien werden in einem sechsten Auswertungs-
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II. Methodologische Rahmung und methodischer Prozess
schritt, der Konstruktion eines theoretischen Modells, systematisch aufeinander bezogen (ebd.: 288). Idealtypisches Ergebnis des beschriebenen Auswertungsverfahrens sind Prozessmodelle zu spezifischen Arten von Lebensabläufen, zu grundlegenden Phasen der Lebensabläufe oder auch zu ihren Konstitutionsbedingungen (ebd.: 288). Bei den Arbeitsschritten, die auf kontrastive Vergleiche der Fälle abzielen, rekurriert Schütze auf die Prinzipien der grounded theory (Glaser & Strauss 1979, 1998). Während Glaser und Strauss jedoch in der Regel ihre Daten durch teilnehmende Beobachtungen generiert haben und diese mithilfe der beschriebenen Forschungsstrategie sukzessive zu gegenstandsbezogenen theoretischen Modellen entwickelt haben, bezieht Schütze sie auf Daten, die durch Interviews erhoben werden. Was bedeuten die Implikationen dieses methodischen Auswertungsverfahrens nun für meine Primärmaterialien? Eine nach Schützes Empfehlungen durchgeführte formale Analyse meiner Interviewtexte macht deutlich, dass es sich bei diesen jeweils um eine verknappte berufsbiografische Anfangserzählung handelt, die von einem meist ausführlichen Nachfrageteil zu den beruflichen Tätigkeiten gefolgt wird. Es handelt sich bei dem von mir gewählten Erzählstimulus um narrative Fragen, die auf die Erhebung zweier Dimensionen abstellen. Der einleitende autobiografische Stimulus ist nur verdeckt ausgearbeitet und zielt auf eine Narration zur jeweiligen Berufsbiografie: „Wie bist du zum hauptamtlichen Gewerkschafter geworden?“. Der zweite Teil der Eingangsfrage zu den Erfahrungen zielt stärker auf das Explorieren von Expertenwissen über entsprechende Beschreibungen der alltäglichen beruflichen Arbeit. Vor dem Hintergrund, dass die Informanten wissen, dass sie als Experten angesprochen werden, kann deren durchgängig verkürzte Darstellungsform ihrer Berufsbiografie, die nur die unmittelbar für die derzeitige Tätigkeit relevanten Aspekte der Lebensgeschichte einbezieht, als folgerichtig eingeschätzt werden. Die Informanten konzentrieren sich dementsprechend auf das Zustandekommen ihrer Laufbahn in der Gewerkschaft und auf hiermit verbundene typische Tätigkeiten.62 Formal zeigt sich das fallübergreifend auch darin, dass die Rahmenschaltelemente, also die Übergänge zwischen den Erzählsegmenten, im Telegrammstil abgefasst sind und dass häufig dass Subjekt Ich ausgelassen wird. Die auf diesem Wege aufbereiteten Interviewtexte stellen die Basis der sozialwissenschaftlichen Auswertung dar. Während es anfänglich darum ging, den Geist der empirisch erhobenen Texte zu verstehen, zielte ich im weiteren For62
Die dargestellten beruflichen Tätigkeiten werden auf der Folie des arc of work von Anselm Strauss, welches ich in Abschnitt II.2.1.6 darstelle, systematisch untersucht. Hierbei benutze ich Strauss‘ Begrifflichkeiten, soweit sie dazu dienen, die beruflichen Tätigkeiten meiner Informanten zu systematisieren, entwickle jedoch, wenn nötig, auch neue Kategorien.
2. Die drei Phasen des Forschungsprozesses und ihre zirkuläre Verknüpfung
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schungsprozess immer stärker darauf, deren Grammatik zu erschließen und im Rahmen von Einzelfalldarstellungen zu beschreiben. Das inhaltliche und formale Erschließen der Daten setzte bei der Rekonstruktion meiner eigenen Forschungsaktivitäten an und führte, bevor ich Erkenntnisse zu gewerkschaftlicher Rekrutierungspraxis erlangte, zur Einsicht in die Bedeutung meines methodischen Vorgehens für die interaktive Gesprächssituation mit den befragten Akteuren der Gewerkschaften. Im Ergebnis bin ich durch die auf diese Weise generierten Daten nicht nur in der Lage, etwas über die Rekrutierungs- und Aufstiegsverläufe in der hauptberuflichen Gewerkschaftsarbeit zu sagen, sondern darüber hinaus zur sozialen, strukturellen und inhaltlichen Komplexität gewerkschaftlicher Arbeitsprozesse, aus der heraus Zugehörigkeiten und politische Partizipation überhaupt verstehbar werden. Das Ausmaß der Relevanz biografischer Erfahrungen für die berufliche Handlungspraxis der befragten Akteure bei Gewerkschaften hat mich dennoch überrascht. Im Zuge der ersten Datenauswertungen fiel auf, dass die Befragten ihre eigene Berufsbiografie stets im Kontext einer Besonderheit thematisieren. Ich entwickelte daraus die Hypothese, dass die jeweiligen (berufs)biografischen Erfahrungen für die berufliche Handlungspraxis der Akteure eine spezifische Relevanz entfalten, wusste jedoch nichts über den genauen Zusammenhang zu sagen. Dies entspricht den von Becker und Geer (1979) konstatierten typischen Ergebnissen dieser Datenanalysephase, dass nämlich ein bestimmtes Phänomen existiert, ein gewisses Ereignis einmal oder mehrmals auftritt oder dass zwei Phänomene bei einer Gelegenheit als miteinander verbunden beobachtet werden, wobei diese Ergebnisse nichts über die Häufigkeit oder Verteilung des beobachteten Phänomens aussagen (ebd.: 163). Ich konnte jedoch zu diesem Zeitpunkt meine These über den Zusammenhang zwischen der Biografie im Allgemeinen und dem berufsbiografischen Verlauf im Besonderen und der beruflichen Handlungspraxis bei Gewerkschaften noch nicht in den Kontext einer einzigen Theorie platzieren, die das aus den ersten Datenanalysen generierte empirische Phänomen hätte erklären können. Verwirrend fand ich diese empirische Aussage auch deshalb, weil sie zwei Bedeutungen zugleich impliziert: Zum einen assoziieren die hauptberuflichen Akteure mit der Gewerkschaft eine für sie typische Aufstiegs- und Rekrutierungspraxis mit charakteristischem, gewöhnlichem Verlauf, zum anderen konstatieren die Befragten mehrheitlich, dass sie hiervon abweichen. Mein Erstaunen löste dies auch deshalb aus, weil nicht etwa jeder Fall das gleiche Merkmal einer Besonderheit aufwies, sondern es sich jedes Mal um ein anderes abweichendes Merkmal handelte.63 63
Die Tatsache, dass die von mir Befragten sich stets im Licht der Besonderheit darstellten, ließ zwar weitere Deutungen zu, die indes durch den in Gruppen durchgeführten Interpretationsprozess ausgeschlossen werden konnten.
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Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es zu Beginn des Forschungsprozesses darum ging, „Ausschau nach Problemen und Konzepten [zu halten], die das weitestgehende Verständnis der untersuchten Organisation zu ergeben versprechen“ (ebd.: 163).
In dieser ersten Phase entdeckte ich, dass ich lediglich mit meinen eigenen Fragen nicht in der Lage sein würde, zur Erhellung der Bedeutung hauptamtlichen Handelns für das Verhältnis von Individuum und Gruppe beizutragen. Es erschien erkenntnisgenerierender, mittels Befragung das Verhältnis hauptberuflicher zu ehrenamtlichen Akteuren zu beleuchten und unspezifischer die ganz alltägliche Handlungsroutine der Informanten und deren berufsbiografische Entwicklung zu erfassen. Dieses Interesse ergab sich in der frühen Erhebungsphase anhand der ersten empirischen Auswertungen, die unterschiedliche Prozesse des Aufstiegs in die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit erkennen ließen und die jeweils als Besonderheit vor einem für die Gewerkschaften typischen Aufstiegsverlauf dargestellt wurden. Dies machte sich zugleich in einem veränderten Arbeitstitel bemerkbar, der vormals lautete: „Organisationen und ehrenamtliches Engagement. Eine qualitative Untersuchung zum Einfluss von Orientierungsmustern hauptamtlich Beschäftigter auf die Bindung ehrenamtlich Engagierter am Beispiel von Gewerkschaften unter geschlechtsspezifischer Perspektive“. Bei dem anvisierten Untersuchungsgegenstand gewerkschaftspolitische Partizipation, der im Kern von Anbeginn feststand, geht es, so wurde mir immer deutlicher, um die Frage der Bindung von ehrenamtlichen Akteuren an die Gewerkschaft. Entlang dem Datenerhebungs- und Auswertungsprozess veränderten sich daher die einzelnen Untersuchungsfragen und mit ihnen, wie bereits gezeigt, der meiner Untersuchung zugeteilte Arbeitstitel. Die ursprünglich engen Untersuchungsfragen wie „Welchen Einfluss üben hauptamtlich Akteure auf der örtlichen Ebene auf das Zustandekommen von ehrenamtlichem Engagement bei Gewerkschaften aus?“ und „Welche Orientierungs- und Handlungsmuster liegen der alltäglichen beruflichen Arbeit zugrunde?“ veränderten sich hin zu offeneren, elementaren Fragen wie beispielsweise „Wie kommt eine Bindung ehrenamtlicher Akteure an eine Organisation wie Gewerkschaften zustande?“ oder „Wie erleben hauptberufliche Akteure ihre alltägliche berufliche Arbeit und wie sprechen sie über diese?“ und „Was ist für die Informanten selbst relevant im Hinblick auf ehrenamtliche gewerkschaftliche Arbeit?“. Zur zentralen Frage entwickelte sich: „Wie wird man überhaupt hauptberuflicher Akteur im mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaften?“, bei der es um die individuellen (berufs)biografischen Verläufe der hauptberuflichen Mitglieder der Gewerkschaften und um ihre biografischen Erfahrungen ging. Die beschriebenen Erkenntnisse führten zu der Entscheidung, mich methodisch bei der
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Schwerpunktsetzung meiner Forschungsaktivitäten von den in den Interviews auftauchenden Relevanzen der Befragten leiten zu lassen. Hierauf rekurriert auch Hoffmann-Riem (1980: 346), wenn sie in der Strukturierung des Forschungsgegenstandes durch die Forschungssubjekte ein Kennzeichen qualitativer Sozialforschung erkennt. Die nachstehende Tabelle 1 listet die ersten pseudonymisierten Untersuchungsfälle auf; sie gibt Aufschluss über den jeweiligen Tätigkeitsschwerpunkt, darüber, ob der Befragte bei einer Einzelgewerkschaft oder beim DGB angestellt ist, und über sein Lebensalter. Hiermit sind zugleich die anfänglichen Fallauswahlkriterien benannt, die sich stärker an sozialstrukturellen Merkmalen orientierten, da die interessierenden Phänomene der Untersuchung noch nicht ausgelotet waren. Tabelle 1: In der Forschungsphase I erhobene Fälle
Ich entschied vor diesem Hintergrund, mich forschungsstrategisch und heuristisch auf die theoretischen Konzepte zur sozialen Welt (Schütze 2002; Strauss 1991: 233–270; Wiener 1991) und zum arc of work (Schütze 1984b; Strauss 1991e; Strauss et al. 1980) zu beziehen, wie ich sie in den nachfolgenden Gliederungsabschnitten II.2.1.5 und II.2.1.6 ausführlich vorstelle, um Genaueres über die sozialen und beruflichen Aufstiegsprozesse bei Gewerkschaften herauszufinden. Da es sich bei beiden Heuristiken um Konzepte handelt, die die Interaktionen der beforschten Akteure fokussieren, verlagerte ich den ursprünglichen Untersuchungsfokus von den hauptberuflichen Akteuren auf ihre Interaktionen mit
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den (potenziellen) Mitgliedern bei Gewerkschaften. Das spezifizierte Untersuchungsinteresse meiner Studie lag somit fortan auf der Erkundung der sozialen Beziehungen zwischen diesen beiden Akteursgruppen. Auch wenn sich dies als zentral für die vorgelegten Ergebnisse zur Rekrutierungs- und Bindungspraxis bei Gewerkschaften erweisen sollte, zeigte sich später, dass auch beide Konzepte im Verein die Komplexität der sozialen Prozesse bei Gewerkschaften nicht zu erfassen vermögen. 2.1.5. Konzept der sozialen Welt64 Wenn man daran interessiert ist, die soziale Dimension von Arbeitsprozessen in Bewegungsorganisationen, wie sie Gewerkschaften darstellen, zu untersuchen, dann rücken auch (berufs)biografische Voraussetzungen der beruflichen Tätigkeit und ihre sozialen Rahmenbedingungen in das Brennglas forschender Blicke. Ich beziehe mich bei der Untersuchung zu sozialen Prozessen im mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaften auf die Theorie der sozialen Welt (Schütze 2002; Strauss 1991e; Wiener 1991). Es handelt sich hierbei um ein mesotheoretisches Konzept, dessen Begrifflichkeit aus dem Kontext des Symbolischen Interaktionismus bzw. der Chicago Sociology (Strauss 1991a: 3–48) stammt. Dieses interaktionistische Konzept65 dient seit den 1950er Jahren insbesondere zur Erforschung der Einsozialisierung in das Sinnsystem von Berufen sowie zur Untersuchung der jeweiligen Arbeitsabläufe im Beruf und eignet sich damit in besonderer Weise für meine Untersuchung. Es bietet die Möglichkeit, die in Rede stehenden Arbeitsprozesse in der vorab skizzierten komplexen Gestalt zu erfassen und damit die Arbeitssituation der befragten Personen zu erhellen (Schütze 2002: 63). Es eignet sich daher meiner Auffassung nach insbesondere dazu, auf der Basis der hier qualitativ erhobenen Interviewdaten eine gegenstandsbezogene Theorie zur sozialen Welt der Gewerkschaften mit dem Fokus auf die besondere soziale Bindungs- und Rekrutierungskraft dieser Bewegungsorganisation zu generieren. Schütze (2002) zufolge verbinden sich soziale Welten mit spezialisierten Wissensbeständen, richten sich an zentralen Problembeständen des jeweiligen thematischen Interaktionsfeldes aus und entwickeln definierbare Kernaktivitäten (ebd.: 60ff.). Kennzeichnend für soziale Welten sei, dass sich die ihr zugehörigen Akteure zur Teilnahme an diesen Kernaktivitäten und zur Verfolgung ihrer Ziele moralisch verpflichtet fühlen. Auf der Basis eines gemeinsamen Kultur- und Wir-Bewusstseins werde von diesen ein kommunikatives Binnennetzwerk ent64 65
Vgl. im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, Wiener 1991. Vgl. ebenfalls ausführlich zur Tradition des Konzeptes Schütze 2002: 62ff.
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wickelt. Kerngedanke dieser Theorie ist also die fokussierte Orientierung von Akteuren auf die zielgerichtete Bearbeitung eines zentralen Problems über typische und kontextangemessene Aktivitäten innerhalb eines komplexen Systems von Beziehungen, Interaktionen und Kommunikation. Welcher Akteur zu einer sozialen Welt gehört und welcher nicht, ist zwar nicht fest geregelt, allerdings muss er die hier geltenden grundlegenden Orientierungen einnehmen sowie entsprechende soziale Aktivitäten aufweisen.66 Charakteristisch für soziale Welten sei, dass sie stark im Hinblick auf Größe, Typen, Anzahl und Bandbreite ihrer zentralen Aktivitäten, die organisatorische Komplexität, die technologischen Kompetenzen (Umgang mit Technik), die ideologische Elaboration sowie ihre geografische Streuung variieren. Im Unterschied zu sozialen Welten verfügen Organisationen wie Gewerkschaften über eine fest geregelte Mitgliedschaft. Zugleich stellen sie eine eigene soziale Welt dar, sind jedoch auch Teile von sozialen Welten und operieren in ihnen. Das Konzept der sozialen Welten verbindet sich mit der Vorstellung, dass verschiedene soziale Welten über Auseinandersetzungs- und Verhandlungsräume miteinander verflochten sind. Diese Verhandlungsräume, die Strauss begrifflich als „Arenen“ fasst, gelten als Kontexte zentraler beruflicher Tätigkeiten sozialer Bewegungen, in denen die Repräsentanten verschiedener sozialer Subwelten um die adäquate Bearbeitung eines Problems, zum Beispiel um die Rechte von Arbeitnehmern, (symbolisch) kämpfen. Erstmalig wurde das Konzept Arena in der Analyse psychiatrischer Ideologien und Institutionen von Anselm Strauss entworfen und wird seither als soziologisches Konzept in Forschungskontexten des Symbolischen Interaktionismus verwandt. Zentraler Gedanke dieses Konzeptes ist, dass Arenen aus sozialen Welten, „einem Set von gemeinsamen Handlungen oder Ideen, das durch ein Kommunikationsnetzwerk verbunden ist“ (Kling & Gerson 1978 nach Wiener 1991: 176), bestehen. Der Arena-Begriff wird bei der Datenanalyse auf diejenigen beruflichen Aktivitäten bezogen, bei denen arbeitspolitische Themen öffentlich im Kontext gewerkschaftlicher Großveranstaltungen verhandelt werden. Es handelt sich bei diesen um öffentliche Auseinandersetzungen, um einen „Kampf der Positionen“ zwischen verschiedenen sozialen Welten zu einem zentralen Problem.67 Die theoretischen Modelle soziale Welten und Arenen verlangen vom jeweiligen Forscher, dass mikrosoziologische Themen wie das Verhalten und die Orientie-
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Sie entsprechen insofern den Bedingungen einer spezifischen Kultur, wie sie von Wallace (1973) definitorisch vorgelegt wurden (vgl. hierzu Abschnitt I.3.4 dieser Arbeit). Vgl. hierzu Gamsons Ansatz zur Verbreitung von Bedeutungen und Bedeutungskonstruktionsprozessen in Abschnitt I.3.5 dieser Arbeit.
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rungen einzelner Akteure nicht von den strukturellen Bedingungen, in denen die Handlungen stattfinden, getrennt gesehen werden dürfen. Diesen Prinzipien und Gedanken folgend, geht es mir im ersten Schritt der Untersuchung um die Erforschung berufsbiografischer Verläufe in die hauptberufliche Arbeit bei Gewerkschaften sowie um das Erfassen zentraler sozialer Beziehungen und ihren sozialen Rahmenbedingungen, in welche die berufliche Arbeit eingebettet ist. Die im empirischen Material dokumentierten berufspraktischen Handlungen und diesen zugrunde liegende zentrale Orientierungen werden stets auf ihre Funktion für den Kontext der sozialen Welt der Gewerkschaft befragt. Die Fragen lauten demnach: „Welchen Sinn erfüllt diese oder jene handlungsleitende Orientierung, und wie ist dieses oder jenes berufliche Handeln vor dem Hintergrund der Theorie der sozialen Welt der Gewerkschaft einzuschätzen?“ Im Kontext der Theorie sozialer Welten stehen ebenfalls Strauss‘ Untersuchungen zum Verhältnis von Arbeit und Arbeitsteilung, in deren Ergebnis er das Konzept der beruflichen Arbeit arc of work (1991b, c, d: 71–156) entwickelte. Die Bedeutung von Strauss’ Forschungsstrategie für meine Untersuchungsfragen liegt vor allem in der Tatsache, dass sie sich nicht nur zur Erforschung von Mikroprozessen in der Arbeits- und Berufswelt eignet, sondern auch durch die Verknüpfung einer mikro-, meso- und makroanalytischen Perspektive auszeichnet. Im Folgenden stelle ich die Relevanz dieses Konzeptes für meine Untersuchung heraus und lege zugleich dessen Anwendung in dieser Arbeit dar, indem ich es in seinen Grundzügen vorstelle. 2.1.6. Das Konzept der beruflichen Arbeit arc of work 2.1.6.1. Einführung in das arc of work-Konzept Anselm Strauss entwickelte sein Arbeitskonzept im Kontext von intensiven Feldstudien zur medizinischen Arbeit in Krankenhäusern.68 Das Modell geht davon aus, dass jede umfassende Arbeit, jedes Projekt, durch einen übergreifenden, weitgespannten arc of work (Arbeitsbogen) definiert ist, der die einzelnen Tätigkeiten und Aufgaben umfasst. Dabei sind sowohl intendierte Handlungen als auch sich zufällig ergebende und unerwartete Zwischenfälle eingebunden. Bei umfassenden, komplexen Projekten oder Veränderungsprozessen kann der arc of work daher stets erst rückblickend rekonstruiert werden, da er nicht in allen Details antizipiert werden kann. Die Metapher eines arc (Bogen) suggeriert 68
Hierunter befindet sich eine Untersuchung zum Einfluss medizinischer Technologie auf die Arbeit in Krankenhäusern (Strauss et al. 1980: 630), auf deren besondere Relevanz ich in Abschnitt II.2.1.6.4 eingehe.
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zwar einen Beginn und ein Ende der Gesamtgestalt, das Modell geht aber gerade nicht von einem festgelegten Verlauf an Arbeitsschritten und Tätigkeiten aus. Der arc als geschlossene Form zeigt vielmehr an, dass mit diesem eine rückblickende Strukturierung und somit eine Vereinfachung des gesamten Prozessverlaufs und -geschehens mit dem Ziel des Verstehens möglich wird. Strauss widmet sowohl übergeordneten Formen von Arbeit der line of work als auch den Tätigkeiten entlang dem arc of work besondere Aufmerksamkeit, wie das nachstehende Zitat belegt: „In emphasing the primacy of work for conceptualization of division of labor issus, our focus has been on projects and their associated arcs of work. ... Sufficient here to suggest that division of labor specialists would need to develop adequate theory and analytic means for studying both lines and arcs of work, if one accepts the distinction between them“ (1991b: 91).
Was versteht Strauss nun unter Projektarbeit? Strauss interessiert sich neben der Entwicklung von Projekten insbesondere für Erleidensprozesse. Auf der Basis langjähriger Feldforschungen, zumeist in Krankenhäusern, erkennt er Abschnitte eines Arbeitsprozesses und segmentiert diesen analytisch. Ein Segment, das sich prozesshaft auf das Erreichen eines bestimmten Zieles ausrichtet, definiert er als project. Im Kontrast hierzu stehen größere Einheiten oder Segmente des Arbeitsprozesses wie „lines of work, departments, divisions, the total organization“ (1991c.: 116). Er findet heraus, dass mit einem Projekt eine gewisse Anzahl von Aufgaben verbunden ist, die über eine bestimmte Zeit getan werden müssen und nach spezifischen Kriterien auf verschiedene handelnde Personen oder auch auf Gruppen von Personen verteilt werden. Ein Projekt ist in einen Aktionsverlauf eingebunden und bringt eine Arbeitsteilung hervor. Strauss’ Konzeption zielt weniger auf die handelnden Personen als vielmehr auf die Handlungen selbst ab. Zur prinzipiellen Unterscheidung von action und actor schreibt er: „The distinction between tasks and actors who carry them out needs to be taken with the utmost analytic seriousness, because they do represent different issues“ (1991b: 78).
Die Gesamtheit der Aufgaben, tasks, die zu einem Projekt gehören, hat Strauss the arc of work genannt und die hierin eingeschlossenen Arbeitsformen „work types“.69 Seine Studien zielen darauf, herauszufinden, wie Organisationen das für sie charakteristische Niveau von Artikulation erreichen und wie es von deren 69
Strauss greift mit dem arc of work auf Gersons (1983) Untersuchungen größerer Produktionslinien zurück. Gerson versteht seinerseits die line of work als Aufeinanderfolge von Arbeitsaktivitäten in einer organisierten Produktionslinie.
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Mitgliedern aufrechterhalten wird (1991c.: 117).70 Strauss antwortet auf die von ihm aufgeworfene Frage, was ein Handelnder (actor) ist, wie folgt: „An actor can be a unit of any size: a person, team, department, subdivision, division, organization, coalition of organizations. Actor can vary in a number of attributes: for instance, experience, skill, knowledge, training, occupation, or other social world from which they come“ (1991b: 78).
Handelnde, die sich stets in ihren Kompetenzen und Sozialwelt-Herkünften unterscheiden, sind in Strauss’ Verständnis demnach nicht nur eine einzelne Personen, sondern können auch Gruppen von Personen, Abteilungen in ihrer Gesamtheit oder in Teilen sein. In seinen Feldstudien richtet er sein Augenmerk auch auf Unvorhersehbares und Nichtplanbares bei beruflichen Tätigkeiten und darauf, wie dies von den Handelnden zur Sprache gebracht wird. Er findet heraus, dass zwar einige der im Zusammenhang mit einem Projekt stehenden Tätigkeiten geplant und vorhergesehen werden können, es aber unweigerlich unvorhergesehene Aufgaben gibt, deren ad-hoc-Ausführung wiederum Einfluss auf die geplanten Einheiten von Aufgaben sowie auf die allumfassende Aufgabenorganisation nimmt. Er weist darauf hin, dass jedes Projekt im Hinblick auf seine Bedeutung für die Spezifika der Projektartikulation auf einer zweidimensionalen Matrix eingeordnet werden kann. Dies ist erstens das „routine-to-nonroutine continuum“ und zweitens das „simple-to-complex continuum“ (1991c: 116). Die Existenz von Kontingenzen im Arbeitsprozess führt dazu, dass der arc of work so lange nicht in seinen Details verstanden werden kann, außer in sehr standardisierten Kleinstprojekten, bis die Handelnden ihn vollzogen haben und er sich ihrer retrospektiven Erschließung öffnet. „At least some of the arc is planned for, designed, forseen; but almost inevitable there are unexpected contingencies that alter the tasks, the clusters of tasks, known in all its details – except in very standard, contingency minimal projects – until and if the actors look back and review the entire course they have traversed“ (1991b: 75f.).
Dass sich Strauss der soziologischen Klärung von beruflicher Arbeitsteilung, die er zuallererst als Resultat von Aushandlungsprozessen betrachtet, aus interaktionistischer Perspektive nähert, vermittelt sich in evidenter Weise (ebd.: 71). Strauss erkennt jedoch nicht nur die Sequenzialität und Simultaneität beruflicher Tätigkeiten, die auf ein konkretes Ziel (bspw. auf die Heilung eines Kran70
Auch hierin liegt eine Parallele zum Ansatz von Wallace, der sich dafür interessiert, wie Individuen die kulturell erforderlichen kognitiven Prozesse leisten, die zum Fortbestehen einer Gruppe, Organisation notwendig sind (vgl. hierzu Abschnitt I.3.4 dieser Arbeit).
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ken oder auf die professionelle Begleitung eines Patienten bis zu seinem Tod) hin angeordnet werden müssen, sondern darüber hinaus allgemeingültige Komponenten jeder projektbezogenen Arbeit, wie die Arbeitsformen „coordination“ und „organizing“ (ebd.: 73), die für das Verhältnis von Aufgaben zu Aufgaben bzw. für die Beziehung der Personen zu den Aufgaben verantwortlich zeichnen. Strauss’ Forschungsfragen zielen zudem nicht nur auf die Erhellung der Phasen und die Zusammensetzung von Arbeitsprozessen einschließlich der hierin eingeschlossenen Aufgaben und ihrer Verteilung, sondern ebenso auf die Frage von beruflichen Verantwortlichkeiten. In diesem Zusammenhang betont er in Anlehnung an Hughes (1984), es sei allgemein akzeptierte Tatsache, dass Berufstätige nicht nur verantwortlich für Aufgaben sind, sondern auch ein Recht zu deren Ausübung und Darstellung haben. Hieraus ergebe sich ein weiteres Recht, nämlich die Artikulation der jeweiligen Tätigkeiten, die jedoch durch das Ausmaß der Verantwortlichkeit des oder der Handelnden bedingt sei (1991b: 80f.). In jede Arbeitsteilung sei demnach ein System der Verantwortlichkeit, „accountability“, eingebaut, welches direkt mit dem Vollziehen der Arbeitsformen, „types of work“, und deren impliziten Aufgaben verbunden ist. Hieraus ergebe sich für den Forschenden notwendig die Klärung der Fragen, wer eigentlich die Hauptverantwortlichkeit für das Definieren des Gesamtprojektes hat und wie eine gegebene handelnde Einheit das Recht und die Kraft erlangt, dass diese Definition akzeptiert und umgesetzt wird (ebd.: 82). Des Weiteren hält Strauss Forschende dazu an, bei ihren Studien auf die Interaktionsstile, „interactional styles“, der Agierenden und auf hiermit in Verbindung stehende Arbeitsmuster, „work patterns“, zu achten (ebd.: 85). Unter „interactional styles“ versteht er die Gesamtgestalt von Interaktionen, so wie sie sich im Kontakt der Agierenden mit anderen Akteuren in verschiedenen Kontexten zeigen. Allerdings können auch Variationen der Basis-Interaktionsmuster durch die Interaktionen mit unterschiedlichen Kollegen in verschiedenen Untersuchungsprojekten entstehen.71 Strauss generiert beispielsweise zwei maximal kontrastierende Formen von Arbeitsmustern, „types of work patterns“, zwischen denen sich eine Vielzahl von Mischformen befindet – nämlich das „closely colaborative“ und das „harshly conflictful work pattern“ (ebd.: 85). Jedoch entdecken die Forschenden um Strauss nicht nur im jeweiligen Interaktions- und Kontextbezug einen Bedingungsfaktor für die Arbeitsmuster, der verschiedene Varianten der grundlegenden Interaktionsmuster provozieren kann, auch die Phasen des Arbeitsprozesses selbst können solche Facetten hervorbringen (ebd.: 86). Es zeigt sich, dass Strauss’ Studien stets eine Sozialwelt-Perspektive implizieren und sich nicht, wie man aus den bislang dargestellten Rahmenbedingun71
Vgl. hierzu die Darstellung zu Facetten der Umgangsstile hauptberuflicher Akteure und ihre sozialweltliche Bedeutung in Kapitel IV der Arbeit.
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gen und Komponenten schließen könnte, in der Analyse mikrosituativer Bedingungen erschöpfen. Strauss konstatiert, dass die ihn interessierende Organisation der Arbeitsteilung über mikroperspektivische Impulse hinaus auch auf größere organisationsbezogene und nichtorganisationsbezogene Bedingungen reagiert. „Accomplishments of arcs of work or potions of them involves intersections of representatives from different social worlds or subworlds (Strauss, 1977). For instance, the workers may variously represent the communities of nursing, medicine, bioengineers, machine industry, and given medical specialities. Each of those representatives is trained or experienced in salient activities characteristic of his or her respective occupational worlds, and brings that training and experience into the arc of work“ (Strauss 1991b: 87).
Es handelt sich hierbei stets um auf Berufswelten bezogene und für sie charakteristische Tätigkeiten, aus denen typische Orientierungen resultieren. Ob der Arbeitsprozess nun reibungslos oder konflikthaft verläuft, hängt Strauss zufolge nicht nur von den konfliktreichen oder den harmonischen Beziehungen der Persönlichkeiten ab, sondern zuallererst und überwiegend von den divergenten lines of work, die charakteristisch für solche unterschiedlichen Soziale-Welt-Mischungen seien (ebd.: 87). Je größer jedoch die Diskrepanz zwischen den Sozialweltperspektiven und den Aktivitäten ist, umso mehr sind explizite Aushandlungen zwischen den Handelnden nötig, um gemeinsame oder kollektive Aufgaben mit Erfolg durchzuführen. Sofern die Handelnden schon früher zusammengearbeitet haben und insofern an die Zusammenarbeit gewöhnt sind, ist die Aushandlungsarbeit bereits getan und erst bei Unvorhergesehenem erneut nötig, andernfalls liege sie noch vor ihnen (ebd.: 87). Es ist nunmehr deutlich geworden, dass das Strauss‘sche Arbeitskonzept sich zur Erforschung von Arbeitsprozessen, deren komplexen sozialen Abläufen sowie zur Untersuchung der hierin involvierten Akteure und deren soziale Beziehungen eignet und dass es diese zudem stets in ihren mikro-, meso-, und makrosituativen Bezügen betrachtet. Es eröffnet die Möglichkeit zu einer vertieften Analyse von Arbeit in ihren jeweiligen Kontexten, und zwar in Verbindung zur Arbeitsteilung, indem es insbesondere darauf angelegt ist, die Art, wie berufliche Tätigkeiten und Aufgaben zur Sprache gebracht werden, zu erforschen. Diese Artikulationsarbeit, „articulation work“, mit ihren verschiedenen Facetten wird als ein Element des Artikulationsprozesses, „articulation process“, aufgefasst, der wiederum als grundlegender Organisationsprozess das Hervorbringen von Projekten prägt (1991c: 115). Dieses etwas zur Sprache bringen passiert keineswegs automatisch, sondern muss durch die verantwortlich erklärte und sich zugleich verantwortlich fühlende handelnde Person geleistet werden. Schließlich ist es dank dieses Konzeptes zur
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beruflichen Arbeit möglich, die inhaltliche Zusammensetzung und den sequenziellen bzw. simultanen Ablauf der Aufgaben, die Aufgabenverteilungen, aber auch die Fehler, die in der beruflichen Praxis sichtbar werden, zu analysieren. Das Dargelegte zusammenfassend, kann festgehalten werden: Strauss gewinnt aus seinen umfassenden empirischen Studien die Erkenntnis, dass es eine Art „allgemeine Grammatik für Handlungsabläufe ... [gibt, K.B.], die konstitutiv für jede Handlung ist“, und die Schütze (1984b: 17, 19) als „universale Elemente“ beruflicher Handlungen bezeichnet. Strauss differenziert im Kontext seiner Krankenhausstudien zentrale Tätigkeitsbereiche aus, die über eine je nach Arbeitskontext spezifische Abfolge miteinander verbunden sind und so den Gesamtarbeitsbogen arc of work ergeben. Neben dem zentralen Begriff arc of work steht der des line of work etwas im Abseits des Strauss‘schen Werkes: Das Konzept zur beruflichen Arbeit verfolgt die analytische Trennung einzelner beruflicher Tätigkeiten, die auf ein bestimmtes Ziel hin, also projektbezogen, zu leisten sind, und es erfasst allgemeine, sich wiederholende Aufgaben, a line of work, die mit einer Vielzahl von Projekten einhergehen kann. Um die Aufgaben entlang dem Projekt zu verteilen, ist es nötig, die Arbeit überhaupt erst einmal zur Sprache zu bringen. Die sogenannte „articulation work“ bezeichnet eine Metaform, „supra type“, der Arbeit, die eine über das einzelne Projekt hinausgehende Arbeitsform darstellt (Strauss 1991b: 72). Strauss’ empiriebasiertes theoretisches Konzept von Arbeit erscheint nicht nur flexibel in seiner Anwendung, es eignet sich gleichermaßen zur Analyse von Phänomenen und Prozessen der Mikro-, Meso- und Makrobezüge beruflicher Arbeit. Es hält Möglichkeiten zur Analyse von beruflichen Anforderungen auf inhaltlicher und sozialer Ebene bereit und stellt allgemeine Kategorien zur Rekonstruktion und Analyse von umfassenden Arbeitszusammenhängen oder Entwicklungsprozessen in der Arbeitswelt zur Verfügung. Nach der grundlegenden Vorstellung der durch das arc of work-Konzept von Strauss eröffneten Möglichkeiten zur Analyse von Arbeitsprozessen geht es nun darum, in welcher Weise und in welchen Forschungskontexten Bezüge in jüngster Zeit zu dieser Theorie hergestellt wurden und wie vor diesem Hintergrund mein eigener Versuch, mit dem Strauss’schen Konzept zu arbeiten, einzuschätzen ist. 2.1.6.2. Beispiele für bisherige Anwendungen des arc of work-Konzeptes Ich stelle im Folgenden zwei in der jüngeren Vergangenheit publizierte Dissertationsschriften aus dem Kontext der qualitativen Bildungs- und Sozialforschung vor, in die Strauss‘ Konzept des arc of work Eingang gefunden hat. Es handelt sich hierbei um voraussetzungsvolle Studien, die den Wissenstransfer zum Ar-
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beitskonzept von Strauss geringhalten und stattdessen die Anwendungsdimension des Konzeptes favorisieren. Gemeint ist die im Jahr 1999 als Dissertation eingereichte Studie von Karin Bräu zum selbstständigen Lernen in der gymnasialen Oberstufe, die als Beitrag zur aktuellen Diskussion um Schulentwicklung und Schulprogramm verstanden werden möchte. Bräu benutzt Strauss‘ Konzept zur Analyse von Gruppentätigkeiten bei einer Projektarbeit in der gymnasialen Oberstufe. Bräus qualitative Fallstudie zum gymnasialen Oberstufenunterricht verfolgt das Anliegen, die Komplexität der Praxis dieser Lernform zu erfassen und zu verstehen, indem sie die Projektarbeit auf Prozessabläufe untersucht. Hierdurch sollten die besonderen Anforderungen identifiziert werden, die selbstständiges Lernen in der gymnasialen Oberstufe sowohl an die in vier Gruppen aufgeteilten Lernenden stellt als auch an die Lehrenden. Die Ergebnisse der von Bräu beobachteten Arbeitsprozesse fließen zunächst in eine Darstellung der Gruppenaktivitäten der Schülerinnen ein, die von einer Analyse der Tätigkeiten der Lehrerin gefolgt wird. Bräu diskutiert abschließend Konsequenzen, die sich aus der Analyse der Projektpraxis ergeben im Hinblick auf Anforderungen, die sich mit einer solchen Unterrichtsform verbinden. Hierbei fokussiert sie auf die von der Lehrerin im Kontext dieser Lernform zu leistende Betreuungsarbeit. Um zu diesen Einsichten zu gelangen, bedient sich Bräu bei ihrer komparativen Analyse folgender Vergleichskriterien der vier Gruppen: • der „Einrichtungstätigkeiten“, • der „Inhaltlichen Arbeit“, • der „Sozialen Dimension“, wie zum Beispiel der Bildung und Zusammensetzung der Gruppen, • der Arbeitsteilung • sowie schließlich der „Reflexionsprozesse“ (Bräu 2002: 146-221). Bräu legte diese Vergleichskriterien sowohl auf die Gruppentätigkeiten als auch auf die analytisch abgeleiteten Anforderungen für gymnasiale Lernformen an (ebd.: 146–221). Sie führt anhand von Stichworten knapp in das Strauss‘sche Konzept ein und bezieht sich in seiner Anwendung vor allem auf den von Schütze (1984b) vorgenommenen Ordnungsversuch der bei Strauss aufzufindenden Komponenten zur Analyse von Arbeitsprozessen. Hierbei fokussiert sie auf die mikroanalytische Dimension und bezieht die sozialen Beziehungen auf der Ebene der Schülerinnen sowie zwischen Lehrer, Lehrerin und Schülerinnen ein. Im Zuge ihrer abschließenden Analyse zu den Konsequenzen ihrer Feldforschungsergebnisse erweitert sie diesen mikroperspektivischen Ansatz um die mesoanaly-
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tische Dimension, indem sie Vorschläge zur Schulentwicklung und zu Schulprogrammen für die gymnasiale Oberstufe entwickelt. Während Bräu die Daten ihrer qualitativen Studie analog zu Strauss‘ Feldforschungsansatz durch teilnehmende Beobachtung gewinnt, erhebt Evelin Ackermann (2005) zur Erforschung der Beratung im Kontext pränataler Diagnostik biografisch-narrative Interviews. Es handelt sich bei Ackermann um erfragte Informationen zur biografischen und handlungspraktischen Dimension psychosozialer Beratung, die nicht der eigenen Beobachtung entspringen. Auf der Grundlage dieser Interviewdaten rekonstruiert sie die berufliche Praxis der Beraterinnen und die für diese Bedeutung entfaltenden Bedingungsfaktoren. Den Feldforschungsdaten von Strauss am „ähnlichsten“ sind daher die von Ackermann erhobenen typischen Fallbeispiele aus der jeweiligen Berufspraxis der befragten Beraterinnen. Sie widmet sich in ihrer qualitativen Studie, die im Schnittfeld von Professionssoziologie und Beratungsforschung zu verorten ist, einem Forschungskontext, der ebenso zu Strauss’ Untersuchungsinteressen zählte. Gemeint ist die professionelle Bewältigung von Prozessen des Erleidens, hier im Kontext unerwünschter Kinderlosigkeit. Ackermann bezieht sich insoweit auf die Ebene des arc of work bei Strauss, als sie die psychosoziale Fallarbeit als „project“ definiert. Zur Analyse der Beratungsarbeit zieht sie Schützes unveröffentlichtes Manuskript (1984b) heran, in welchem er Strauss‘ auf eine Vielzahl von Texten „verteilte“ theoretische Überlegungen zum arc of work analytisch ordnet und zu übergeordneten Komponenten72 zusammenführt. Diese für die Beratung im Kontext pränataler Diagnostik zentralen Tätigkeiten betrachtet sie in ihren Rahmenbedingungen und begibt sich daher über die mikroanalytische Ebene hinaus auf die mesostrukturelle Dimension der Beratungsarbeit. 2.1.6.3. Anwendungsbezug zur vorliegenden Studie Ebenso wie die beiden vorgestellten Studien ziehe ich bei meiner Forschungsarbeit das arc of work-Konzept als Analyseinstrument zu beruflichen Tätigkeiten heran, und zwar bezogen auf die Berufspraxis von hauptberuflich bei der Gewerkschaft Beschäftigten. Diese Analyse zur beruflichen Praxis generiert ihre Daten ebenso wenig wie die von Ackermann aus einer Feldbeobachtung, sondern aus erhobenen Interviews. Bei der sozialwissenschaftlichen Analyse der Interviewdaten kommt es mir insbesondere auf das Verhältnis von individueller Handlungspraxis der hauptberuflichen Akteure zur sozialen Welt der Gewerk72
Es handelt sich hierbei um die analytischen Dimensionen der Projektarbeit, die Schütze in Einrichtungs-, Inhalts-, Sozial- und Evaluationskomponenten zu einem forschungspraktischen und analytischen Instrument zusammenführt (1984b: 15–24).
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schaft an. Es geht mithin um die Klärung der Beziehung von individuell und hauptberuflich ausgeführten Handlungen in einem kollektiven gewerkschaftlichen Handlungsrahmen. Der besondere Vorzug des Strauss’schen Konzeptes liegt nach meinem Verständnis vor allem in der Möglichkeit der systematischen analytischen Verbindung von mikro- und mesogebundenen Elementen des Arbeitsprozesses, die ich für die vorliegende Arbeit nutzen möchte. Demzufolge betrachte ich die hauptberuflichen Akteure als Repräsentanten einer speziellen sozialen Welt oder Subwelt und lege Wert auf die sie auszeichnenden charakteristischen Kompetenzen und ihnen zugrunde liegenden Erfahrungen. Hierbei kann es sich auch um berufliche Erfahrungen handeln, die in einer bestimmten Weise die berufliche Handlungspraxis der Akteure prägen. Zugleich analysiere ich die individuelle Handlungspraxis im Kontext der sie hervorbringenden grundlegenden Sozialbeziehungen der Bewegungsorganisation Gewerkschaft. Berücksichtigung finden zudem Daten zu strukturellen Wirkungen auf die Arbeitsteilung. Am Beispiel der Zentralisierung von Gewerkschaftsstrukturen kann der Einfluss intraorganisationeller Änderungen auf die Arbeit und die Arbeitsteilung, insbesondere auch für die Rekrutierungspraxis der Akteure, innerhalb der Gewerkschaft geklärt werden. Soweit es das empirische Datenmaterial zulässt, werden darüber hinaus ebenso außerorganisationelle Impulse für die berufliche Arbeit in den Blick genommen. Dies allerdings nur insoweit, als sie sich für die individuelle Handlungspraxis als relevant erweisen. Bei meiner Analyse zur Qualität der sozialen Beziehungen bei Gewerkschaften gehe ich mit Schütze (1984b) davon aus, dass eine kontinuierliche berufsethische Orientierung durch die Ausrichtung an den jeweils kennzeichnenden und grundgelegten Arbeits- und Behandlungsprozeduren und daraus abgeleitete Werte- und Verhaltensstandards innerhalb der Professionsgemeinschaft von den Berufsmitgliedern vermittels einer besonderen Etikette des Sprechens über die beruflichen Verrichtungen fortlaufend symbolisiert werden muss. Die Beziehungen zwischen den hauptberuflichen Akteuren und den ihnen zugeordneten Aufgaben werden nicht automatisch artikuliert, sondern die Akteure müssen dies tun – und zwar oftmals auf komplexe Art und Weise, was in Anlehnung an Strauss mit dem Begriff „articulation work“ gefasst wird. Ich analysiere dementsprechend das Interviewmaterial auf die von den handelnden Akteuren selbst gewählten Begrifflichkeiten zu inhaltlichen Dimensionen ihrer beruflichen Tätigkeit einerseits sowie auf die von ihnen bei der Berufsarbeit unterhaltenen sozialen Beziehungen andererseits. Hierbei zutage tretende Reflexionen zur eigenen beruflichen Praxis werden ebenso wie von den Informanten dargestellte Fehler in die Analyse der Arbeitsprozesse eingehen.
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Ich erhoffe mir von dem soeben skizzierten Einsatz des Strauss’schen Arbeitskonzeptes eine vertiefte Erhellung der gewerkschaftskulturellen Interaktionsbeziehungen sowie eine empirisch fundierte Analyse zur alltäglichen Handlungspraxis hauptberuflicher Akteure bei Gewerkschaften und der sie prägenden Einflussgrößen. Die erwartbaren Erkenntnisse sollen ermöglichen, nicht nur die grundlegenden Züge der gewerkschaftlichen Sozialwelt zu beschreiben, sondern darüber hinaus zentrale berufliche Tätigkeiten gewerkschaftlicher Arbeit im mitgliedernahen Bereich präzise zu erfassen sowie mögliche Stile oder Muster in der beruflichen Praxis zu entdecken. Somit tritt in meiner Untersuchung neben die mikroanalytische auch die mesoanalytische Dimension der Bewegungsorganisation, die in einem letzten Abstraktionsschritt makroperspektivisch eingeschätzt wird. Im folgenden Abschnitt befasse ich mich mit einem ausgewählten, jedoch in sich komplexen Aspekt beruflicher Arbeit, der von Strauss als Sentimental Work bezeichnet wurde (1991d: 121–148). Der von Schütze (1984b: 16) übertragene Begriff hierfür ist die „Sozialkomponente“, die er wiederum in drei analytische Bestandteile gliedert.73 Ich betrachte das Sentimental Work als analytisch sensibilisierendes Instrument zur Rekonstruktion beruflicher Arbeit bei Gewerkschaften, was ich nachstehend erörtere. 2.1.6.4. Sentimental Work74 als zentraler Aspekt beruflicher Tätigkeit Strauss bezeichnet in seinem theoretischen Konzept neben anderen den speziellen Arbeitstypus des Sentimental Work, welches in einem Aufsatz, der 1980 in der Kölner Zeitschrift für Soziologie erschien, mit „Gefühlsarbeit“ (Strauss et al. 1980: 629ff.) ins Deutsche übertragen wurde (vgl. im Folgenden Strauss et al. 1991d: 121ff. und Strauss et al. 1980: 629–651). Weshalb ist ausgerechnet dieser Arbeitstypus im Kontext von Gewerkschaftsarbeit wichtig und erfährt hier daher eine ausführliche Darstellung? Zur Begründung muss zunächst einmal der von mir gewählte akteursbezogene Ansatz angeführt werden. Ich erforsche die (Berufs-)Biografie und die berufliche Handlungspraxis von Akteuren, die im sogenannten mitgliedernahen Bereich der 73
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Es handelt sich hierbei erstens um die Interaktionsarbeit, zweitens um die Gefühlsarbeit und drittens um die biographische Arbeit (Schütze 1984b: 16). Bei der Übersetzung des Begriffes Sentimental Work in „Gefühlsarbeit“ können Irritationen auftreten, da der Terminus ‚Gefühlsarbeit’ bei Schütze als Bestandteil der Sozialkomponente definiert ist. Ich vertrete hingegen die Meinung, dass das Sentimental Work, als eine übergeordnete Komponente berufsbezogener Tätigkeiten verstanden werden muss. Dementsprechend halte ich den von Schütze gewählten Unterbegriff, dessen Implikationen mir nicht deutlich werden, für missverständlich.
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II. Methodologische Rahmung und methodischer Prozess
Gewerkschaften tätig sind. Das bedeutet, dass jeder und jede Befragte soziale Kontakte zu Mitgliedern der Gewerkschaft unterhält. Bedeutsam für eine berufliche Arbeit mit „Klientenbezug“ ist die von Strauss und seinen Mitarbeitern vorgenommene Unterscheidung zwischen unbelebten und belebten Objekten, auf welche sich berufliche Arbeit beziehen kann. Im Gegensatz zur Arbeit mit Menschen könne die Komplexität der Arbeit mit unbelebten Objekten nicht durch die Antwort des bearbeiteten Objektes vermehrt werden (Strauss et al. 1980: 629). In diesem Zusammenhang steht auch Schützes (1984b: 9f.) Unterscheidung zwischen industrieller und professioneller Berufsarbeit. Er definiert hierbei stets diejenige berufliche Arbeit als professionelle berufliche Tätigkeit, die sich auf Menschen bezieht. Die diesem Verständnis beruflicher Arbeit zugrunde liegende Definition von Gefühlsarbeit ist eine „Arbeit, die speziell unter der Berücksichtigung der Antworten der bearbeiteten Person oder Personen geleistet wird und die im Dienst des Hauptarbeitsverlaufs erfolgt“ (Strauss et al. 1980: 629).
Die nächste Frage, die sich stellt, ist: Handelt es sich bei der von den gewerkschaftlichen Akteuren geleisteten Arbeit um die soeben definierte? Nach allem, was bislang bekannt ist, kann die berufliche Arbeit von hauptberuflich tätigen Akteuren der Gewerkschaft als vielfältig und komplex charakterisiert werden, da sie aus einem Bündel von Tätigkeiten besteht. Die Arbeit enthält sowohl eine sachliche Dimension – wie die tarifpolitische Arbeit, die Verwaltungsund Konzeptionsarbeit – als auch eine personale Dimension durch die Betreuung, Beratung und Bildung von Mitgliedern und die kollektiv zu leistende Interessenvertretung, zum Beispiel durch das Organisieren von Massenprotesten. Im Vergleich zu den Ergebnissen von Strauss und seinen Mitarbeiterinnen im Kontext der medizinischen Versorgung erkrankter Patienten in Krankenhäusern, in denen die Arbeitenden die medizinische Arbeit als die „wirkliche Arbeit“ ansehen (ebd.: 630), betrachten die in diese Untersuchung einbezogenen gewerkschaftlichen Akteure diejenige Arbeit als die „eigentliche, wirkliche Arbeit“, die sich auf die Mitglieder der Gewerkschaft bezieht. Obgleich dieses Ergebnis sich im Zuge der Rekonstruktion der Einzelfälle herausschälte, deren Nachvollzug erst durch die Lektüre der nachfolgenden Kapitel möglich wird, soll es bereits an dieser Stelle zur Begründung für den Bezug zum Sentimental Work angeführt werden, auch wenn hiermit der Darstellung der empirischen Analyse vorgegriffen wird: Dieser empirische Befund stellt einen wichtigen Hinweis auf das Verhältnis zwischen dem Sentimental Work und den anderen Arbeitsformen bei der Gewerkschaft dar, welches anhand der Einzelfallanalysen einer Klärung zugeführt wird; an dieser Stelle soll jedoch ein Verweis darauf genügen.
2. Die drei Phasen des Forschungsprozesses und ihre zirkuläre Verknüpfung
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Als zentraler Komplex der Arbeit mit und an den Adressaten der Gewerkschaftsarbeit hat sich die Rekrutierungs- und Bindungsarbeit erwiesen. Da es sich hierbei um eine vom Anstellungsträger, der Gewerkschaft, gewünschte und geforderte berufliche Aktivität handelt, kann sie mit Hughes (1984) als Mandat bezeichnet werden. Die Ausübung des Mandates provoziert zwingend soziale Kontakte zu den Adressaten der Gewerkschaftspolitik, deren Reaktionen wiederum das Agieren des hauptberuflichen Akteurs beeinflussen. Demzufolge kann die obenstehende Definition zum Sentimental Work für die Rekrutierungs- und Bindungsarbeit bei Gewerkschaften als zutreffend erachtet werden. Nach der Klärung der grundsätzlichen Relevanz der Gefühlsarbeit für die Analyse von Arbeitsprozessen im mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaft wird nachfolgend auf der Grundlage von Strauss‘ Arbeiten in ihre verschiedenen Dimensionen und Bezüge zu anderen Arbeitsformen eingeführt, um somit eine Grundlage für die empirische Analyse der Einzelfälle und deren anschließende Komparation zu schaffen. Strauss empfiehlt, die verschiedenen Formen des Sentimental Work analytisch zu unterscheiden, und bezeichnet selbst insgesamt sieben, die er genauer untersucht hat. Hiervon ist das „interactional work and moral rules“ (1) für die vorliegende Untersuchung im engeren Sinne relevant; es handelt sich um die elementarste Form interaktionsbezogener Arbeit. Sie ist stets von Regeln des gewöhnlichen Umgangs und daher moralisch geprägt. Ferner ist es das „trust work“ (2), eine Vertrauensarbeit, die beispielsweise notwendig ist, um die medizinische Versorgung zu gewährleisten. Das Begründen und Erhalten von Vertrauen als eine herausragende Gefühlsaufgabe erlangt insbesondere im Kontext der Bindung von aktiven Mitgliedern an Gewerkschaften eine zentrale Bedeutung.75 Weniger übertragbar ist das „composure work“ (3), mit dem die Arbeit angesprochen wird, die im medizinischen Kontext darauf abzielt, die mentale Fassung der Patienten und ihrer Angehörigen oder die eigene auch dann aufrechtzuerhalten, wenn der Krankheitsverlauf eine ungünstige Entwicklung nimmt oder gar zum Tode des Patienten oder der Patientin führt. Bedeutung erlangen könnten demgegenüber das „biographical work“ (4) und das „identity work“ (5), deren Übergänge sich als fließend darstellen. Als ein Beispiel für biografische Arbeit führt Strauss die gewöhnliche und jedermann bekannte amnesistische und diagnostische Befragung zu Beginn der medizinischen Behandlung an. Diese könne als Form der biografischen Arbeit mit oder ohne Augenmerk für deren gefühlsbezogenen Aspekte getan werden. Sie ist auf die Erhebung der Symptome der Krankheit gerichtet, auf Informationen zu frü75
Ich werde dies anhand der Einzelfalldarstellung, insbesondere jedoch in der komparativen Analyse zur Handlungspraxis illustrieren.
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II. Methodologische Rahmung und methodischer Prozess
heren und ererbten Krankheiten und damit auf die medizinische und soziale Geschichte der jeweiligen Patientin, des jeweiligen Patienten. Es geht zudem darum, Verbindungen zwischen den Lebensgewohnheiten und den Symptomen der Krankheit herauszufinden. Neben der Tatsache, dass die Art der Befragung sich nach dem Zustand und der Krankheit der Patienten richtet, könne das Personal diese Befragung als ein Abfragen von Fakten hinter sich bringen oder aber als ein Gespräch, das neben den Informationen zur Krankengeschichte zudem die Art und Weise zu leben, soziale Beziehungen zu nahen Verwandten und Freunden des Patienten zutage fördert. Um die Therapie für chronisch erkrankte Patienten planen zu können, sei es ferner wichtig, den Überlebenswillen einschätzen zu können, wozu eine sensible Gesprächsführung, ausreichend Zeit und Ruhe beim Personal nötig ist. Identitätsarbeit beispielsweise könne jedoch vom Personal auch an sich selbst verrichtet werden, indem es sich die emotionale Teilnahme am Krankheitsverlauf eines Patienten nicht anmerken lässt, folglich Fassung bewahrt, oder indem es sich mit persönlichen Problemen ihrer Patienten auseinandersetzt (Strauss et al. 1980: 640). Diejenigen Formen von Gefühlsarbeit, die als „awareness context work“ (6) und „rectification work“ (7) (ebd.: 124) bezeichnet werden, erlangen wiederum keine Bedeutung für den hier verfolgten Untersuchungszusammenhang. Für beachtenswert halte ich indes, dass die Erkenntnisse von Strauss und seinen Mitarbeitern im Gegensatz zu den hier erhobenen auf Feldbeobachtungsdaten und nicht auf Interviewdaten beruhen. Somit handelt es sich um eine unmittelbar im relevanten Untersuchungsbereich durchgeführte Datenerhebung, mit der sich die Möglichkeit zu einer prozessualen Perspektive auf berufliche Arbeitskontexte eröffnet.76 Zudem handelt es sich im Unterschied zu meinem Untersuchungsfeld bei den Erhebungen von Strauss und seinen Mitarbeitern um professionelle Arbeit mit erkrankten Menschen, der Klientel medizinischer Versorgung im Krankenhaus, deren Krankheitsverlauf ungewiss ist, sodass die geplante und tatsächlich notwendige Arbeit am erkrankten Patienten stets in Veränderung begriffen ist. Zwar lassen sich auch in den Abläufen der Gewerkschaftsarbeit im mitgliedernahen Bereich Kontingenzen ausmachen, dennoch gilt es, bei der Anwendung dieses Analyseinstrumentes sorgfältig darauf zu achten, in welchen Bereichen es vergleichbare Aspekte zur beruflichen Arbeit der hauptberuflichen Gewerkschafter gibt und wo eine Erweiterung und Ausdifferenzierung des arc of work-Konzeptes nötig ist.
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Zu den personellen, zeitlichen und technischen Ressourcen des Forschungsprojektes, welches der Publikation von 1980 zugrunde liegt, ist hervorzuheben, dass es sich hierbei um vier Feldforscher handelte, die über einen Zeitraum von zwei Jahren zahlreiche Stationen in sechs Krankenhäusern in Kalifornien beobachtet haben (Strauss et al. 1980: 630).
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Mit den vorstehenden Ausführungen ging es mir darum, die zentrale Perspektive von Strauss auf Arbeitsprozesse deutlich werden zu lassen, die ihre Aufmerksamkeit auf Interaktionsprozesse legt, aufgrund derer sich Arbeitsprozesse grundsätzlich entwickeln. Ebenso wie es sich bei dem „articulation work“ um eine übergeordnete Arbeitsform handelt, die die organisatorische Dimension des Arbeitsprozesses darstellt, handelt es sich bei der Gefühlsarbeit um einen prozessbegleitend auftretenden Arbeitstypus, der seinen „Ursprung in der elementaren Tatsache [hat], daß jede Arbeit mit oder an menschlichen Wesen deren Antworten auf diese instrumentelle Arbeit in Rechnung stellen sollte“ (Strauss et al. 1980: 629). Somit sei leicht zu sehen, „daß jede ‚Servicearbeit‘, die Agenten und deren Klienten umfaßt, die Möglichkeit und geradezu Wahrscheinlichkeit von Gefühlsarbeit beinhaltet“ (ebd.: 629). Noch grundsätzlicher zur Bedeutung dieses Arbeitstypus‘ liest man bei den Autoren Folgendes: „Sentimental Work ... is present as an ingredient in any kind of work where the object being worked on is alive, sentient, and reacting – present either because it is deemed necessary to get the work done efficiently or because of humanistic consideration“ (Strauss et al. 1991: 121).
Bedeutsam an diesem Arbeitstypus sei zudem, dass er sich nicht nur an die Klientel richte, sondern auch in Teilen vom Arbeitenden an sich selbst oder anderen, mit ihm Arbeitenden verrichtet werden könne. Es wird darauf hingewiesen, dass bei dem Wort sentimental mitnichten auf den im deutschen Sprachgebrauch existenten Sinn von „rührselig“ oder „sentimental“ abgestellt wird, sondern dass es sich um eine Anlehnung an den Begriff sentiments handle, der sich auf Emotionen und Leidenschaften beziehe. Hierbei räumen die Autoren ein, dass der von ihnen gewählte Ausdruck durchaus eine altmodische Formulierung ist (Strauss et al. 1980: 650). Strauss und seine Mitarbeiterinnen fragen in ihren Untersuchungen nach den verschiedenen Arten der Gefühlsarbeit, unter welchen Bedingungen sie auftauchen, wie und von wem Gefühlsaufgaben erledigt werden, in welcher Verbindung solche Gefühlsaufgaben zu Nichtgefühlsaufgaben stehen sowie welche Konsequenzen sich aus der vollzogenen bzw. nicht oder nicht erfolgreich vollzogenen Gefühlsarbeit ergeben. Diese Fragen erlangen für die Übertragung des Konzeptes auf die Analyse zur beruflichen Arbeit von Akteuren bei der Gewerkschaft zentrale Bedeutung, wie sich an den Einzelfallanalysen, insbesondere jedoch an den komparativen Analysen im nächsten Kapitel dieser Arbeit (III) zeigen wird.
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II. Methodologische Rahmung und methodischer Prozess
Ich kann bei der Übertragung des Konzeptes auf ältere Anwendungen zur Gefühlsarbeit zurückgreifen, in welchen herausgefunden wurde, dass das Sentimental Work entweder ideologisch fundiert77 ist oder einer Handlungsorientierung entspringt, die auf das Erreichen eines speziellen Zieles hin angelegt ist. Ein solcher sogenannter „Situationstypus“ sei in einer Untersuchung von Barney Glaser (1976) zum Interaktionsprozess zwischen dem zukünftigen Eigentümer eines Hauses und den dieses Haus bauenden kommerziellen Bauhandwerkern zutage getreten. Während ein großer Teil der Arbeit technischer Natur sei und in enger Beziehung zur Konstruktion des Hauses selbst stehe, betreffe ein anderer, minder großer Teil gefühlsbezogene Arbeit. Zwischen beiden Akteursgruppen bestehe ein maximal kontrastierendes Verhältnis, das sich auf ihr persönliches Engagement beim Bau des Hauses bezieht. So bezögen sich die Gefühlsaufgaben des künftigen Hauseigentümers darauf, die Handwerker zu maximalen Leistungen beim Hausbau zu motivieren – während die Handwerker sich darauf konzentrieren, zu verhindern, dass der Hauseigentümer außer Fassung gerät, wenn sie weit unterhalb dieser anvisierten Leistungen blieben. Gefühlsbezogene Arbeit sei es auch, ihn zügig aus diesem Zustand wieder herauszuholen (Strauss et al. 1980: 649). Eine besondere Empfehlung der Forscherinnen um Strauss gilt der Übertragung des konzeptionellen Gedankens zum Sentimental Work auf den Forschungskontext beruflicher Sozialisation, bei der es nicht nur um das Erlernen von Technik und Technologie geht, sondern auch um „die Aufnahme von ‚Normen‘, ‚Standards‘, Lebensstilen und Strategien im Umgang mit Klienten“ (ebd.: 650). Bei diesen Umgangsstrategien handle es sich um verschiedenartige Formen von Gefühlsarbeit, die im Kontext von Sozialisationsprozessen vermittelt werden. Der Argumentation der Autorinnen folgend, scheint es bezogen auf das Generieren von Erkenntnissen vielversprechend, die berufliche Arbeit insbesondere auf ihren Anteil an Gefühlsarbeit zu untersuchen, die bei der Sozialisierung in die verschiedenen Berufe hinein beginne. Mit der knappen Betrachtung der von Strauss erörterten Subtypes of Sentimental Work wird nicht nur deren Relevanz für diese Untersuchung geklärt, sondern auch die Sensibilität der Forscherin für die gefühlsbezogenen Aspekte der Gewerkschaftsarbeit im mitgliedernahen Bereich erhöht. Am Beispiel meiner Studie wird gezeigt, ob die Vermutung von Strauss, dass es neben den von ihm untersuchten Formen des Sentimental Work weitere geben kann, zutrifft und entsprechend im Kontext gewerkschaftlicher Arbeits77
Die Autoren beziehen sich auf eine Studie von Jackall aus dem Jahr 1978, der herausgefunden hat, dass es bei Banken eine auf Kunden bezogene Philosophie der Höflichkeit und Hilfsbereitschaft gibt, die deren Mitarbeiter gehalten sind selbst bei Beleidigungen aufrechtzuerhalten (Strauss et al.1980: 649).
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prozesse bislang unbekannte analytische Aspekte von gefühlsbezogener Arbeit ausgemacht werden können. Nachdem nunmehr das Erkenntnisinteresse und die Forschungsfragen durch erste Datenerhebungen und -auswertungen geschärft und die zu ihrer Verfolgung notwendigen forschungsmethodischen Heuristiken festgelegt wurden, werden im Anschluss die Bedingungen und Voraussetzungen von berufsbiografischen Prozessen in die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit im Verein mit der hieraus entspringenden beruflichen Handlungspraxis systematischer verfolgt. 2.2. Phase II des Forschungsprozesses Der erhobene und nunmehr stärker fokussierte empirische Zusammenhang von Biografie und beruflicher Handlungspraxis, der sprachlich als Besonderheit der eigenen Berufsbiografie von den Befragten dargestellt wurde, brachte vor allem die Notwendigkeit der Prüfung dieser vorläufigen und abduktiv gewonnenen Hypothese mit sich, wozu weitere kontrastive Erhebungen beitragen sollten. Zur Glaubwürdigkeit meiner abduktiven Hypothese muss ich hinzufügen, dass es sich bei den Aussagen zur Besonderheit des eigenen berufsbiografischen Verlaufs um eine freiwillige, also selbst eingebrachte Aussage handelt, die weder im Kontext der ersten Erhebungen noch später von mir abgefragt wurde. Beim weiteren Fortgang der Datensammlung ging ich nun allerdings bei der Eingangsfrage gezielter vor, in dem ich die Akteure anregte, mir zu erzählen, wie sie zu ihrer aktuellen beruflichen Tätigkeit gekommen sind. Die Forschungsfragen, die sich nach einem ersten Zugriff auf die anfänglich erhobenen Daten herauskristallisierten und dem sequenziellen Analyseverfahren zugrunde liegen, lassen sich wie folgt umschreiben: 1) Wie wird aus einem potentiellen Mitglied ein einfaches Mitglied bei der Gewerkschaft? 2) Wie wird ein einfaches Mitglied zu einem aktiven Mitglied und ferner zu einem hauptberuflichen Akteur bei der Gewerkschaft? 3) Wie verlaufen die Prozesse der Sozialisation in und durch den Beruf?78 4) Welche biografische Identifizierungen mit dem Beruf treten auf? Über die Klärung dieser Fragen lassen sich Aussagen zur Rekrutierungspraxis in der sozialen Welt der Gewerkschaften treffen, die im Rahmen eines theoretischen
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Für die Analyse der beruflichen Sozialisationsprozesse sensibilisierte mich Heinz (1995), dessen Konzept zu beruflicher Arbeit ich im Abschnitt II. der Arbeit vorgestellt habe.
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Erklärungsmodells in Kapitel IV dieser Arbeit präsentiert werden (vgl. hierzu auch Abschnitt II.2.3 dieser Arbeit). In dem von Becker und Geer (1979) als zweite Phase der Datenanalyse beschriebenen Forschungsprozessabschnitt, der der Prüfung der Häufigkeit und Verteilung von Phänomenen dient (ebd.: 167), verfügte ich bereits über die Gewissheit, dass es sich um einen für die Arbeitsprozesse im mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaft bedeutsamen Zusammenhang von Biografie und Handlungspraxis handelt, der allerdings noch in seinen grundlegenden Aspekten erschlossen werden muss. Der zentrale Punkt meiner Untersuchung war somit entdeckt und konnte forschungsstrategisch weiterverfolgt werden. Bis dahin hatte ich männliche Personen befragt, die aus der beruflichen Praxis heraus in die hauptamtliche Position bei der Gewerkschaft aufgestiegen waren (vgl. Tabelle 1 in Abschnitt II.2.1.4 – Das Datenauswertungsverfahren). Es zeigte sich, dass hauptberuflich beschäftigte Gewerkschafter häufig vor ihrer Anstellung bei der Gewerkschaft als Betriebsräte oder auch in anderen Zusammenhängen freiwillig politisch engagiert sind und dass dieses Engagement von einigen parallel zu ihrer beruflichen Tätigkeit weiterverfolgt wird. Ferner stieß ich darauf, dass aktuelle Haltungen, die zentrale Bedeutung für das hauptamtliche Agieren der Akteure entfalten, auf diese eigenen Erfahrungen als ehrenamtlich Engagierte zurückgehen. Dies schätzte ich als deutliche empirische Hinweise zu vorhandenen kollektiven Zugehörigkeiten der befragten Akteure ein. Die erkenntnisgenerierende Kraft dieser These sollte sich jedoch erst über weitere Fallerhebungen und deren Kontrastierung zeigen. Ich suchte nun weibliche Akteure, deren beruflicher Aufstieg andere Aspekte aufwies, zu interviewen und zu klären, ob auch für sie der Zusammenhang zwischen Biografie und Handlungspraxis zutrifft. Die sozialstrukturellen Daten dieser Informantinnen habe ich in Tabelle 2 festgehalten. Im Zuge weiterer Datenauswertungen konnte ich die mir bislang bekannten Aufstiegsverläufe so weit ausdifferenzieren, wie ich es in untenstehender Tabelle 3 illustriert habe. Es handelt sich um drei verschiedene Formen des Verlaufs in die berufliche Tätigkeit im mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaften, denen ich die mit Nummern versehenen Fälle in einer tabellarischen Abbildung zugeordnet habe. Nachdem sowohl der Zusammenhang von Biografie und beruflicher Handlungspraxis als auch der Bezug in der Darstellung der eigenen Berufsbiografie auf einen gewöhnlichen gewerkschaftlichen Aufstiegsprozess auch für diese Fälle identifiziert werden konnte, erhob ich vier weitere Fälle, um die bis dahin gefundenen Merkmale wiederum zu überprüfen. Wie aus der nachstehenden Tabelle 4 zu ersehen ist, handelt es sich um drei männliche Akteure und eine weibliche hauptberufliche Person, die bei verschiedenen Gewerkschaften angestellt sind und unter den laufenden Nummern 7 bis 10 zu finden sind.
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Tabelle 2: In der Forschungsphase II erhobene Fälle
Tabelle 3: Aufstiegsverläufe der in den Forschungsphasen I und II erhobenen Fälle
Hierüber konnten die bislang identifizierten Aufstiegsverläufe, wie Tabelle 5 zu entnehmen ist, zu einem vierten ausdifferenziert werden. Die als zentral erkannten Merkmalszusammenhänge konnten für jeden dieser aufgefundenen Aufstiege in die hauptberufliche Tätigkeit im mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaften als gültig identifiziert werden. Auf dieser Grundlage konnte die, wie Becker und Geer (1979) es nennen, „quasi-statistische“ Komparation der als relevant erkannten Merkmale durchgeführt werden. Hierbei ist es wichtig zu erwähnen, dass diese Ergebnisse zwar implizit numerisch sind, jedoch keine präzise Quantifizierung erfordern (ebd.: 167). Über diesen Prozess, der auch als axiales und selektives Kodieren bezeichnet wird (Strauss & Corbin 1996: 43ff.), ist es möglich, Merkmalskombinationen gezielt aufzufinden, die
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II. Methodologische Rahmung und methodischer Prozess
dazu dienen, ein gegenstandsbezogenes Modell zur Erklärung der empirischen Daten zu konstruieren.79 Tabelle 4: In der Forschungsphase I und II erhobene Fälle
Tabelle 5: Aufstiegsverläufe der in den Forschungsphasen I und II erhobenen Fälle
Es handelt sich hierbei um korrelierende Merkmale, die zu einer Merkmalskombination führen, die zwar auf der empirischen Grundlage von zehn hier einbezogenen Fällen fußt, jedoch Merkmalsräume abbildet, die verallgemeinernd auf die berücksichtigten Gewerkschaften in Ansatz gebracht werden können, und daher eine quasistatistische Angabe darstellt. Hierin drückt sich zugleich eine der zent-
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Vgl. hierzu die Komparation aller zehn Fälle in Abschnitt III.6.2 dieser Arbeit.
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ralen Annahmen der qualitativen und rekonstruktiv vorgehenden Sozialforschung aus, nämlich, „dass ein Fall sowohl Allgemeines als Besonderes enthält. Es lassen sich am Fall sowohl gesellschaftliche Regeln und Bedingungen als auch die fallspezifischen Auswahlmechanismen ... rekonstruieren“ (Miethe 1999: 71f.).
Zugleich ist hiermit die Grundlage für eine Typenbildung gelegt, die in Bezug auf diese Untersuchung zu einer Typologie führt, die auf Wir-Gruppenzugehörigkeiten basiert (vgl. hierzu Kapitel IV der Arbeit). Kelle und Kluge (1999), die ergänzend zur Erläuterung des hier verwandten methodischen Verfahrens herangezogen werden, schreiben zum Prozess der Typenbildung, dass dieser über vier eng miteinander verbundene Auswertungsschritte erfolge, die logisch aufeinander aufbauen, jedoch nicht linear und starr, sondern mehrfach reflexiv durchlaufen werden müssen (ebd.: 82). Die empirisch begründete Kategorien- und Typenbildung verläuft von der Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen, der Gruppierung der Fälle sowie der Analyse der empirischen Regelmäßigkeiten über die Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge zur Charakterisierung der gebildeten Typen (ebd.: 83ff.). Tabelle 6: Kernfälle der Untersuchung
Bei der hier verwandten Form der Kodierung wurden also neue Kategorien aus dem Datenmaterial extrapoliert (abduktives Vorgehen), auf deren Grundlage fallübergreifende Vergleiche durchgeführt wurden, über welche ein für die Theoriebildung hinreichender Abstraktionsgrad erreicht werden konnte. Diese fallvergleichenden Kontrastierungen dienten der Ermittlung von sogenannten Achsen oder Vergleichsdimensionen für die Verallgemeinerungsfähigkeit der Fallbesonderheiten (ebd.: 83f.). Über die ermittelten Ähnlichkeiten und Unterschiede konnten die untersuchten Fälle unterschiedlichen Merkmalsräumen, die jeweils
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II. Methodologische Rahmung und methodischer Prozess
eine für sie typische Charakteristik aufweisen, zugeordnet werden, wie sie in oben stehender Tabelle 6 verdeutlicht werden. Bilanzierend ist zu den meiner Befragung zugrunde liegenden Fallauswahlkriterien Folgendes zu sagen: Sie zielten auf ein maximal heterogenes Sample sowie auf das Erfassen eines möglichst breiten Spektrums an Erfahrungen, sodass ich in meine Erhebungen männliche und weibliche Beschäftigte der Einzelgewerkschaften IG Metall, IG Bau, ver.di sowie des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) einbezog. Hierbei achtete ich darauf, dass die hauptberuflichen Sekretäre sowohl in den Alten als auch in den Neuen Bundesländern beschäftigt sind, da sich aufgrund unterschiedlich entwickelter gewerkschaftlicher Strukturen Unterschiede in den Erfahrungen und handlungsleitenden Orientierungen hätten zeigen können. Die grundlegende Haltung in den Interviews war, meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern so viel Raum wie möglich für die ihnen wichtig erscheinenden Themen zu lassen. Auf diese Weise erhielt ich wertvolles Datenmaterial zu berufsbiografischen Prozessen sowie zu den Inhalten, Bedingungen und zentralen beruflichen Tätigkeiten hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit, die als Einzelfalldarstellungen (III.2, III.4, III.5) dokumentiert sind. 2.3. Phase III des Forschungsprozesses Durch die komparativen Analysen, die in aller Ausführlichkeit im empirischen Teil der Arbeit beschrieben sind (vgl. III.3, III.6), konnte eine neue Ebene für die Ergebnisse dieser Untersuchung beschritten werden, die in der Erkenntnis einer typisierbaren Rekrutierungspraxis bei Gewerkschaften liegt. Die Prozesse des selektiven und axialen Kodierens erbrachten Einsichten in die Korrelationen fallbezogener und fallübergreifender Merkmale und führten zur Bildung von Merkmalskomplexen, die auf einer Gruppierung der zehn Fälle basiert. Dieser analytische Prozess stellt die Grundlage für die angeschlossene Generierung von vier gewerkschaftlichen Rekrutierungstypen dar, für die jeweils eine spezifische berufliche Handlungspraxis charakteristisch ist. Diese Einsicht verdankt sich der analytischen Aufbereitung der Daten zur gewerkschaftlichen Handlungspraxis zu einer vergleichenden Darstellung des als zentral erkannten Aspektes dieser Handlungspraxis, des Sentimental Work (III.6.1.1 und III.6.1.2). Es ging nun also darum, ein deskriptives Modell zu entwerfen, welches die gesammelten Daten am besten erklärt. Dies konnte erstens durch den Bezug auf Theorien zu Zugehörigkeiten in Wir-Gruppen (Elwert 1989; Gamson 1992; Wallace 1973) und zweitens durch die Bezugnahme auf das Konzept der sozialen Welt (Strauss 1991b-e) realisiert werden. Die genannten theoretischen Rahmungen erwiesen sich, wie ich in Kapitel IV zeige, für die
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Komplexität des Gegenstandes und die analytischen Erkenntnisse als angemessen. An dieser Stelle soll nur so viel vermerkt sein, dass nicht die biografischen Erfahrungen im Allgemeinen, sondern die sozialisationsbezogenen Erfahrungen, die die hauptberuflichen Akteure im Kontext von kollektiven Zusammenhängen gemacht haben, auf zentrale Weise ihr Rekrutierungshandeln bei der Gewerkschaft prägen. Das können zum einen Erfahrungen in der Gewerkschaft als kollektiver Gemeinschaft sein, der man sich zugehörig fühlt, zum anderen können aber auch andere Gruppenzugehörigkeiten, wie die zu einer sozialen Bewegung, für die berufliche Handlungspraxis relevant sein. Die aus den jeweiligen Gruppenzugehörigkeiten resultierenden Orientierungen drücken sich in den Haltungen zur Gewerkschaft, folglich in der ihnen jeweils zugeschriebenen Bedeutung aus. Auf der Grundlage dieser Orientierungen „machen sich die Akteure ein Bild“ davon, aus welchen Gründen Personen erwägen, in die Gewerkschaft einzutreten. Dass dem so ist, kann man anhand der Analysen zum Umgang hauptberuflicher Mitglieder mit potenziellen, einfachen oder aktiven Mitgliedern sehen. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass die Art und Weise, wie die hauptberuflichen Mitglieder in Gruppenkontexte einsozialisiert wurden, ihren aktuellen Umgang mit Personen, die für die Gewerkschaft gewonnen werden sollen, auf zentrale Weise prägt. Der Handlungsstil wird jedoch auch durch die soziale und strukturelle Rahmung der Gewerkschaft beeinflusst. Die auf der Basis von Wir-Gruppen-Zugehörigkeiten basierende gegenstandsbezogene Rekrutierungstypologie wird in einem letzten Schritt der sozialwissenschaftlichen Analyse zu einem generalisierten Modell der Organisation (Becker & Geer 1979: 169) zur Rekrutierungspraxis in der sozialen Welt der Gewerkschaften weiterentwickelt, welches ein Mehrebenenmodell darstellt, da es neben der Handlungs- und Biografieebene auch die Dimension der sozialen Welt umfasst. Dieses theoretische Modell impliziert, „dass einzelne soziale Fakten durch ausdrücklichen Bezug darauf, dass sie in einem Komplex untereinander verbundener Variablen einbezogen sind“ (ebd.: 169).
Auf der Basis der durchgeführten Analysen und unter Bezugnahme auf den theoretischen Rahmen der Wir-Gruppen-Bildung wird nun eine neue Fallzuordnung möglich, die überblickartig in der nachstehenden Tabelle 7 die Ordnung der zehn Fälle nach Bindungstypen abbildet.
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Die endgültige Fallzuordnung beruht auf dem Verständnis eines idealtypischen Falls.80 Hierbei kommt es Kelle und Kluge (1999) zufolge darauf an, über drei zirkulär miteinander verbundene Analyseschritte, und zwar 1) die Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen, 2) der Gruppierung und Suche nach empirischen Regelmäßigkeiten und 3) der Identifikation und Erklärung inhaltlicher Sinnzusammenhänge zu einer Konstruktion von Typen81 zu gelangen. Die Bildung von Typen kann nur über eine permanente Fallkontrastierung erreicht werden und erfordert eine systematische Suche nach Zusammenhängen zwischen den über die einzelfallbezogene Analyse extrapolierten theoretischen Kategorien.82 Tabelle 7: Fallzuordnung Bindungstypen
Da das Prinzip der Fallkomparation gleichermaßen Kern der grounded theory (Glaser & Strauss 1979, 1998) wie des theoretical samplings (Strauss & Corbin 1996) ist und sie zudem auch bei Schützes Datenauswertungsverfahren (1983, 1984a, 1999) zum Einsatz kommt, können diese Auswertungsstrategien elegant kombiniert werden.
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Die Bildung von Idealtypen geht auf Max Weber zurück (vgl. ausführlich zur Bildung von Idealtypen Gerhardt 1998: 193-212). Typen werden von Kelle und Kluge als Kombination von Merkmalen definiert. Typologien seien „Heuristiken der Theoriebildung“, machen zentrale Ähnlichkeiten und Unterschiede im Datenmaterial deutlich und regen zur Formulierung von Hypothesen über allgemeine kausale Beziehungen und Sinnzusammenhänge an (Kelle & Kluge 1999: 9). Vgl. hierzu die fallkontrastiven Analysen der Gliederungspunkte III.3, III.6 dieser Arbeit.
III. Empirisch-analytischer Teil
1. Gewerkschaften und ihre Arbeit im mitgliedernahen Bereich Unter Rückgriff auf die begrifflichen Bestimmungen zu den deutschen Gewerkschaften in Abschnitt I.1 dieser Arbeit, die auf die Klärung der ihnen zugeschriebenen Bedeutung abzielten, wird behauptet, dass es bei der Frage nach der Hauptaufgabe von Gewerkschaften um eine Kernfrage der deutschen Gewerkschaftspolitik schlechthin geht. Ich konstatierte die ungeklärte, uneindeutige Rolle und Bedeutung der deutschen Gewerkschaften, zu der eine von ihnen selbst nach außen propagierte Einheitlichkeit gehört. Gewerkschaftlichen Verlautbarungen zufolge83 ist für sie ein lebensweltbezogener84 Vertretungsanspruch ihrer Mitgliedschaft charakteristisch. Hieraus ergeben sich vielfältige von der Organisation zu verfolgende Ziele und für die Adressaten der Gewerkschaftsarbeit ein auf Vieldeutigkeit angelegter Interessenvertretungsanspruch. Dennoch sind Gewerkschaften zuallererst Verbände, deren Basis ihre Mitglieder darstellen, sodass jede Bedeutung, die der Gewerkschaft zugeschrieben werden kann, evidenterweise einen Bezug zu den Mitgliedern aufweisen müsste. Es zeigte sich, dass begriffliche Bestimmungen, gewerkschaftseigene Verlautbarungen sowie fachwissenschaftliche Publikationen nur begrenzt dazu beitragen, die Bedeutung der deutschen Gewerkschaften zu klären. Vor dem Hintergrund des andauernden innergewerkschaftlichen Diskurses, in dem es um die Entscheidung zugunsten einer Engführung der Gewerkschaftsarbeit auf die ökonomische Interessenvertretung oder aber zugunsten ihrer Öffnung für kulturelle und lebensweltbezogene Interessen geht, halte ich es nicht nur für zu zulässig, sondern für notwendig und aufschlussreich, die aktuelle Praxis der Gewerkschaftsarbeit, wie sie durch die hauptberuflich tätigen Akteure dargestellt wird, heranzuziehen, um die aufgeworfenen Fragen nach der Bedeutung von Gewerkschaften zu klären. Was bedeutet diese im Selbstverständnis der Gewerkschaften nach wie vor ungeklärte Frage zur prinzipiellen Bedeutung von Gewerkschaften für die hier anzutreffenden beruflichen Tätigkeiten? 83 84
Ich beziehe mich hierbei auf die in Abschnitt I.1 bereits eingeführte Werbebroschüre von ver.di. Vg. Zur phänomenologischen Tradition des Begriffes Lebenswelt Schütz 1932, Schütz/ Luckmann 1984.
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III. Empirisch-analytischer Teil
Die Beantwortung dieser Frage basiert auf dem der Untersuchung zugrunde liegenden Verständnis von Organisationen. Diesen wird mit Bezug auf Liebig (2001) jeder objektive, außerhalb der Realitätserfahrung des Individuums anzusiedelnde Gehalt aberkannt (ebd.: 143ff.). Stattdessen werden sie als Produkte des Bewusstseins und somit als prinzipiell veränderliche und vieldeutige Konstrukte betrachtet. Dieses organisationskulturelle Verständnis legt es nahe, die empirisch generierte berufliche Praxis so, wie sie durch die befragten Akteure geschildert wird, aufzugreifen und sie als Schlüssel zum Verstehen der Organisation als kulturelles Phänomen zu benutzen. Ich begreife daher die in den Interviews dargelegte berufliche Handlungspraxis als Ausdruck der grundlegenden Haltungen der Akteure zur Gewerkschaft – Haltungen, die sich aus jenen Bedeutungen ableiten, die die Akteure ihr jeweils zuschreiben. Es gilt also, auf empirischem Weg die aktuell zentralen Aufgaben der hauptberuflichen Gewerkschaftsarbeit zu ermitteln. Gleichwohl gehe ich davon aus, dass die berufliche Arbeit Ausdruck des Selbstverständnisses der handelnden Akteure ist. Ferner nehme ich an, dass die den Gewerkschaften individuell attestierte Bedeutung eine entsprechende Schwerpunktlegung in der beruflichen Praxis der Akteure nach sich zieht. Dessen ungeachtet erwarte ich, im mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaftsarbeit ein Spektrum an beruflichen Tätigkeiten anzutreffen, welches sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der sozialen Ebene vielfältige Angebote für ihre Adressaten bereithält. Die empirischen Daten werden demnach herangezogen, um die gegenwärtige Bedeutung von Gewerkschaften aus der Perspektive ihrer hauptamtlich Beschäftigten zu klären. Dieses dritte Kapitel betrachte ich als das Kernstück der Untersuchung, da es den empirisch-analytischen Erkenntnisprozess darstellt. Es handelt sich hierbei zugleich um das Fundament der generierten gegenstandsbezogenen Theorie, welche in Kapitel IV der Arbeit vorgestellt wird. Es beschreibt eingangs die berufliche Praxis der befragten Akteure.85 Bei der nachfolgenden Beschreibung der beruflichen Handlungspraxis – die neben der Charakteristik der strukturellen Dimension beruflicher Arbeit bei Gewerkschaften auch Informationen zu typischen Abläufen der alltäglichen Berufspraxis und hierbei auftretenden Schwierigkeiten bereitstellt – bediene ich mich der von Geertz in die Methodologie qualitativer Sozialforschung eingeführten Darstellungsform der dichten Beschreibung86 (Wolff 2000: 84ff.). Diese Darstellung dient nicht nur dem besseren
85
86
Dabei wird prinzipiell jeder Hinweis, der zu einer Identifizierung der Befragten führen könnte, anonymisiert und maskiert. Geertz unterscheidet Wolff zufolge (2000: 87) die sogenannte „dünne“ von einer „dichten“ Beschreibung. Letztere erschöpfe sich nicht „in ihrem Reichtum an Details oder in ihrer Genauig-
1. Gewerkschaften und ihre Arbeit im mitgliedernahen Bereich
103
Verständnis der mit der Einzelfalldarstellung verfolgten Explikation der berufsbiografischen Dimension hauptberuflicher gewerkschaftlicher Handlungspraxis, darüber hinaus dient sie als Basis für eine vertiefte Analyse zu gewerkschaftlichen Arbeitsprozessen anhand einer ausgewählten Dimension beruflicher Tätigkeit, des Sentimental Work.87 Die Dimension Biografie prägt, wie sich an den vier zentralen Untersuchungsfällen zeigen wird, die berufliche Handlungspraxis auf grundlegende Weise. Biografische und handlungspraktische Dimensionen gewerkschaftlicher Rekrutierungspraxis stehen, wie exemplarisch zu sehen sein wird, in einer spezifischen Verbindung, die typische Regeln aufweist und somit ein charakteristisches handlungspraktisches Profil des jeweiligen Akteurs hervorbringt. Die nun folgende fallübergreifende Beschreibung der beruflichen Handlungspraxis im mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaftsarbeit wird durch eine einzelfallbezogene Darstellung der vier als zentral erkannten Untersuchungsfälle fortgesetzt, an deren Beispiel die Typisierbarkeit berufsbiografischer und handlungspraktischer Merkmale hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit verdeutlicht werden kann. 1.1.
Was ist der mitgliedernahe Bereich bei Gewerkschaften?
Die Arbeit der Gewerkschaften unterliegt einer strukturellen Gliederung, die eine örtliche Ebene88 von der Ebene des Bezirkes89 und des Bundes unterscheidet. Die von mir befragten Akteure sind jeweils auf der Strukturebene beruflich tätig, die in der Organisationshierarchie die niedrigste darstellt90 – und deren Arbeit den engsten Kontakt zu den Mitgliedern einer Gewerkschaft aufweist, weshalb er auch mitgliedernaher Bereich genannt wird.91 Die berufliche Handlungspraxis der Gewerkschaftsarbeit in diesem Bereich zeigt sich bei genauer Betrachtung als ein vielfältiges und komplexes Geflecht verschiedener beruflicher Tätigkeiten, die fallbezogen geringe Besonderheiten, fallübergreifend demnach viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Im Kontext meiner Erhebungen habe ich Geschäftsstellen aufgesucht, deren verwaltungsraumbezogene Zuständigkeiten danach variieren, ob es sich um eine Einzelgewerkschaft
87 88
89
90
91
keit. … Dichte Beschreibungen sind zunächst unsere (Re-)Konstruktionen dessen, was die Beteiligten vor Ort konstruieren“ (ebd.: 87). Vgl. hierzu Abschnitt II.2.1.6.4 dieser Arbeit. Bei den Einzelgewerkschaften wird auch von der „Betriebsebene“ oder „Verwaltungsstellenebene“ gesprochen, beim DGB jedoch von der „Ebene der Region“. Bei der Einzelgewerkschaft ver.di wird zusätzlich zwischen Landesbezirken und Bezirken unterschieden (vgl. Abbildung 1 und b in Abschnitt I.1 dieser Arbeit). Dies trifft auch auf die Vergütung der Tätigkeit zu, die niedriger als die auf den höheren Ebenen ist (vgl. Interview-Transkript Ricarda Korn). Im Vergleich zu dieser Ebene der Arbeit stellt die Bundesebene die in der Hierarchie höchste dar.
104
III. Empirisch-analytischer Teil
oder um den DGB handelt und wie hoch die Bevölkerungsdichte der entsprechenden Verwaltungsräume ist bzw. in welchem Umfang dort Betriebe angesiedelt sind.92 Diese Zuständigkeit für größere, aber auch für kleinere Verwaltungsräume bringt die Tatsache mit sich, dass die Akteure nicht nur von ihrem Büro aus agieren, sondern dass ihre Arbeit stets einen gewissen Anteil aufsuchender Tätigkeiten impliziert. 1.2. Wer sind die befragten Akteure? Die beschäftigten Personen, die im Hinblick auf ihr Lebensalter ein Spektrum von 29 Jahren bis zu 54 Jahre abbilden, tragen entweder die Bezeichnung ‚Sekretär’ oder ‚Referent’93, und sie arbeiten in einer als Verwaltungs- oder Geschäftsstelle bezeichneten Struktureinheit der Gewerkschaftsorganisation in einem Team mit anderen hauptamtlichen Kollegen94 zusammen. Auf ihren Arbeitsort können die hauptberuflichen Sekretäre zumeist keinen Einfluss nehmen; sie werden unter Umständen bundesweit dort eingesetzt, wo sie aus der Perspektive der Organisation gebraucht werden. Während es den Äußerungen der Befragten zufolge in der früheren Einsatzpraxis nicht vorgesehen war, dass die hauptberuflich tätigen Gewerkschafter in der Nähe ihres Heimatortes tätig werden, ist dies inzwischen üblich geworden. Unter den hier berücksichtigten Befragten befinden sich drei Akteure mit geschäftsleitenden Funktionen, die in regelmäßigen Abständen95 einer Bestätigung durch die Mitglieder der Verwaltungseinheit bedürfen. Hieraus ergibt sich deren befristete Einstellung bei der Gewerkschaft und die Möglichkeit für die Gewerkschaftsmitglieder, zu beeinflussen, wer über welchen Zeitraum ihre Interessen geschäftsleitend vertritt. Die sieben anderen Akteure meines Samples hingegen sind nicht mit geschäftsführenden Aufgaben betraut und stehen in einem unbefristeten Angestelltenverhältnis; sie entziehen sich somit einer direkten Einflussnahme durch die Gewerkschaftsmitglieder. Charakteristisch für die Gruppe der Befragten ist, dass sie sich neben ihrer hauptberuflichen Tätigkeit bei der Gewerkschaft in örtlichen, regionalen und überregionalen Gremien ehrenamtlich engagieren.
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93 94
95
Prinzipiell ausgespart habe ich die Ebene des Bundes, da mir daran gelegen war, die Interaktionsbeziehungen zwischen den hauptberuflichen Akteuren und den einfachen bzw. aktiven Mitgliedern der Gewerkschaft ins Blickfeld meiner Untersuchung zu rücken. Im Folgenden werden beide Bezeichnungen ihrem gleichen Sinn nach synonym benutzt. Hierbei handelt es sich um weitere hauptberufliche Sekretäre oder um Verwaltungsangestellte, die allerdings in der sozialen Hierarchie unter den Erstgenannten stehen. Es handelt sich um Wahlperioden zwischen zwei und vier Jahren.
1. Gewerkschaften und ihre Arbeit im mitgliedernahen Bereich
1.3.
105
Soziale Rahmung der beruflichen Arbeit im mitgliedernahen Bereich
In ihrer beruflichen Arbeit stützen sich die hauptamtlich tätigen Akteure auf freiwillig aktive und gewählte Mitglieder der Gewerkschaft, die die sogenannten ehrenamtlichen Vorstände zu einer jeweiligen Verwaltungseinheit bilden. Es handelt sich um Personen, die sich ähnlich wie die hauptberuflichen Akteure selbst für ein politisches oder soziales Ehrenamt in gemeinnützigen Vereinsoder Gewerkschaftsstrukturen zur Wahl gestellt haben und aufgrund des Vertrauens anderer Gewerkschaftsmitglieder ein solches Ehrenamt innehaben. Da die heterogene Mitgliedschaft der Einzelgewerkschaften nach Personen- und Beschäftigungsmerkmalen zu verschiedenen Gruppen zusammengefasst wird, gehören die freiwillig aktiven Akteure einer der Personengruppen an, die in der jeweiligen Satzung der Gewerkschaft festgeschrieben sind. Diese Zuordnungen sollen „eine auf die unterschiedlichen Mitglieder- und Beschäftigtengruppen ausdifferenzierte Politik ermöglichen und zu Mitgliederbindung und -werbung beitragen“ (Verwaltungshandbuch der IG-Metall: Richtlinie Arbeit mit Mitgliedergruppen der IG Metall. Präambel: 1). Als übliche Personengruppen werden Angestellte, Ausländer, Frauen und Jugendliche, aber auch Senioren und Erwerbslose angeführt.96 Um die ihnen verwaltungsstrukturell zugewiesenen Mitglieder aufsuchen und somit den mobilen Aspekten ihrer beruflichen Arbeit gerecht werden zu können, benötigen die Sekretäre Kraftfahrzeuge. Diese Fahrzeuge werden entweder von der Gewerkschaft bereitgestellt, was zumeist bei den Sekretären der Einzelgewerkschaften der Fall ist, oder sie benutzen die eigenen, privaten Personenkraftwagen, wie ich es für die Referenten des DGB feststellen konnte.97 Sofern es sich um einen großen Anteil aufsuchender Arbeit handelt, erlangt das Fahrzeug auch die Bedeutung eines Arbeitsplatzes, an den mit einem Büro vergleichbare Ansprüche gestellt werden. Um das komplexe organisatorische Bild der beruflichen Tätigkeiten im mitgliedernahen Bereich verstehen zu können, muss man sich vor Augen halten, dass die Akteure häufig auf aktuelle Entwicklungen reagieren müssen. Hieraus folgt, dass der Tagesablauf der befragten Akteure zum Teil stark variiert. Der berufliche Tagesablauf beginnt mitunter bereits vor 8 Uhr morgens, endet häufig in den späteren Abendstunden und wird durch Innen- und Außentätigkeiten 96
97
Das Spektrum der sogenannten Personengruppen, in die die Mitglieder der jeweiligen Gewerkschaft aufgegliedert werden, unterscheidet sich zum Teil beträchtlich. Ich habe daher lediglich die organisations-übergreifend dargestellten Gruppen aufgeführt. Dabei stütze ich mich auf das Verwaltungshandbuch der IG Metall. Die Frage der Größe und Ausstattung des bereitgestellten Dienstwagens für den hauptberuflichen Akteur der Einzelgewerkschaften kann den Ausführungen Torsten Kampes zufolge durch die ehrenamtlichen Vorstände beeinflusst werden.
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III. Empirisch-analytischer Teil
strukturiert. Sofern der berufliche Alltag im Büro beginnt, werden zunächst die virtuellen und manifesten Postfächer auf Nachrichten hin durchsucht, die aktuell handlungsrelevant sind. Die zeitliche Ausdehnung der beruflichen Arbeit, die auch Wochenenden und Feiertage nicht ausspart, lässt sich auf die zentrale Aufgabe der Mitgliederbetreuung zurückführen. Diejenigen Mitglieder, die erwerbstätig sind und die Gewerkschaften durch ihr freiwilliges Engagement unterstützen, sind erst nach ihrer beruflichen Arbeit verfügbar, was zu berufsbezogenen Aktivitäten der hauptamtlichen Akteure in den Abendstunden bzw. an den Wochenenden führt. Die Notwendigkeit, feiertags beruflich zu agieren, ergibt sich aus der Tatsache, dass gewerkschaftliche Großveranstaltungen häufig einen rituellen Charakter aufweisen und zu stets wiederkehrenden Daten durchgeführt werden.98 1.4. Adressaten der Arbeit und die Wege zu ihnen Zu den Adressaten gewerkschaftlicher Arbeit zählen in erster Linie Erwerbstätige und in zweiter Linie berentete Senioren und Erwerbslose, die steigende Anteile der Mitgliederbasis darstellen. Zur Innendiensttätigkeit, der Arbeit in der Verwaltungsstelle, gehört vor allem die Beratung der Mitglieder hinsichtlich ihrer Interessen als Arbeitnehmer. Diese Leistung führt zumeist in den Nachmittagsstunden zu Besucherverkehr in den Verwaltungsstellen. Die Serviceanfragen der Mitglieder werden vorwiegend persönlich, seltener fernmündlich, an die hauptberuflichen Akteure herangetragen; ihre Bearbeitung erfordert ein breit angelegtes berufliches Fachwissen zur Arbeitswelt. Im Dienstleistungsbereich haben es die hauptberuflichen Akteure meist mit einzelnen Mitgliedern, zuweilen auch im Verein mit deren Familienangehörigen zu tun, die sie in der Wahrung ihrer Arbeitnehmerrechte unterstützen. Ein Teil der beruflichen Aktivitäten richtet sich auf erwerbslose Personen, die beim Wiedereinstieg ins Erwerbsleben durch Beratungsangebote unterstützt werden. 1.5.
Ausgewählte Aspekte beruflicher Tätigkeiten
An dieser Stelle folgt ein Überblick über die verschiedenen Aspekte beruflicher Tätigkeiten, der in Verbindung mit Interviewausschnitten99 der befragten Akteure zu ihrer Arbeit mit den Gewerkschaftsmitgliedern einen Eindruck von der 98 99
Beispiele hierfür sind der 1. Mai sowie der Internationale Frauentag. Vgl. zu den Transkriptionszeichen Abschnitt II.2.1.3 dieser Arbeit.
1. Gewerkschaften und ihre Arbeit im mitgliedernahen Bereich
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alltäglichen beruflichen Arbeit im mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaft vermittelt. Auf der Basis des in Abschnitt II.2.1.6 vorgestellten arc of workKonzeptes von Anselm Strauss (1991b-e) werden die thematisierten beruflichen Tätigkeiten fallübergreifend zusammengetragen und in Anlehnung an den Ordnungsversuch Schützes (1984b) systematisch erfasst. Zur Inhaltskomponente hauptberuflicher Arbeit gehören: • Dienstleistungsarbeit für die Mitglieder wie o beruflicher Rechtsschutz100 durch o Rechtsberatung und -vertretung, o Information, • Werbung und Betreuung von Mitgliedern, • Rekrutierungsarbeit, • Mobilisierungsarbeit, • aufsuchende politische Bildungsarbeit an Berufsschulen bzw. bei freien Bildungsträgern, • Schulungen und Seminare an den gewerkschaftseigenen Bildungsstätten, • Arena-Arbeit (Großveranstaltungen, Projekte), • konzeptionelle Arbeit, • Verwaltungsarbeit, • inner- und außergewerkschaftliche Gremienarbeit, • Koordinationsarbeit, • Präsentationsarbeit in Form von Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, • Tarifarbeit, beispielsweise die Tarifrundenvorbereitung, sowie • finanz- und haushaltstechnische Aufgaben. Als übergeordnete Komponente der Gewerkschaftsarbeit im mitgliedernahen Bereich zählen: 1) Gefühlsarbeit wie • Vertrauensarbeit, • Bindungsarbeit, die eine • biografische Dimension und eine o politisch-sachliche Dimension o aufweist, sowie die 100
Bei der IG BAU werden die Mitglieder auch im Hinblick auf eine Freizeitunfallversicherung beraten (Bonner Satzung 2001: 12).
108
III. Empirisch-analytischer Teil
•
Betreuungsarbeit101, die ebenfalls eine sachliche und eine soziale Dimension aufweist,
2) Artikulationsarbeit, 3) Kommunikationsarbeit, die in • Konflikt- und Vermittlungsarbeit sowie • Evaluationsarbeit differenziert werden kann. Gradmesser für die evaluative Arbeit sind: • die Medien, • die eigene Zufriedenheit sowie • die Zufriedenheit der Jugendlichen. Zur Einrichtungskomponente der Gewerkschaftsarbeit zählt die • Organisations- und Planungsarbeit, beispielsweise im Zusammenhang mit Kampagnen sowie im Kontext von Mitgliederwerbung. Die inhaltliche Dimension der Gewerkschaftsarbeit unterliegt, so schildert es Peter Krause für den Kontext arbeitsrechtlicher Beratungen, auch emotionalen Einflüssen: „wenn denn ´n Kollege kommt der jetzt zwei oder drei Monate keen Geld gekriegt hat ganz schlimm ist es immer zur Weihnachtszeit //hm// weil denn kommt der nich alleene //hm// der bringt seine Frau mit der bringt seine Kinder mit und sitzt die Frau da und weint //hm// äh und da hängen denn schon Schicksale dran //hm// da hängen dann schon Schicksale dran wo man denn sagt das muss alles nicht sein nu weiß ich och dass manchmal die Zahlungsmoral der Arbeitgeber nicht die dollste ist //hm// hat och manchmal damit was zu tun dass die Auftraggeber nicht zahlen vollkommen unstrittig aber dafür hat der Auftraggeber genau so die Möglichkeit seine Rechtsanwälte denn in die Spur zu schicken //hm// ich bin dafür verantwortlich wenn der Kollege sein Geld nich gekriegt hat dass ich mich darum kümmer dass er sein Geld kriegt //hm// und das werde ich och immer widder machen und genau so hat der Arbeitgeber seine Möglichkeiten aber der Arbeitgeber der sieht nicht die finanzielle Notsituation der Familien denn wenn se denn sagen na ja dies Jahr fällt Weihnach101
Im Wort ‚Betreuung’ steckt „Treue“. Simmel definierte Treue als ‚Beharrungsvermögen der Seele‘ (Simmel 1968: 439 nach Nedelmann 1983: 183), die sozial verursacht sei. Im Anschluss an Simmel kann man Jubiläen, wie sie bei Gewerkschaften für ihre Mitglieder ritualisiert und medial inszeniert gefeiert werden, als positive Sanktionierung langjähriger Treue zur Gewerkschaft deuten.
1. Gewerkschaften und ihre Arbeit im mitgliedernahen Bereich
109
ten aus weil //hm// keen Geld gekriegt wir wissen gar nich was wir mit unsern Kindern machen sollen //hm// wie sollen wir denen das erklären und (.) das sind dann schon (.) das macht dann schon betroffen und da is man denn och ´n Stück nich bloß Gewerkschaftssekretär da is man denn och ´n Stück Sozialpädagoge weil die sind och froh dass sie mit jemandem mal darüber reden können ne //hm// und wenn du hier bloß sitzt und einfach bloß zuhörst“102.
Nicht nur die offiziell verlautbarten Satzungen zur Gewerkschaftsarbeit erklären die Akteure auf der örtlichen Ebene für die Betreuung und Beratung ihrer Mitglieder für zuständig, auch die Beschäftigten selbst tun dies, wie sich im obigen Beispiel von Peter Krause zeigt. Indem er sich explizit für die Unterstützung der Arbeitnehmer verantwortlich erklärt, benennt er eine seiner zentralen Aufgaben, nämlich die situationsangemessene arbeitsrechtliche Beratung. Zugleich zeigt sich die Relevanz gefühlsbezogener Aufgaben, die als soziale Zuwendungen erkennbar werden, wie Zuhören, Ermutigen, Trostspenden, Verständniszeigen sowie als moralische Stärkung, die eigenen Rechte überhaupt in Anspruch zu nehmen. Den gefühlsbezogenen Aspekt ihrer hauptberuflichen Tätigkeit betont auch Regine Bauer, beispielsweise wenn sie über die Suche nach Adressaten für die Mitgliederbetreuung in den Betrieben erzählt: „aber im Moment bin ich wirklich das wird immer krasser (.) dazu da wirklich die Leute aufzurichten dass sie überhaupt noch mal die Traute haben sich zu //hm// rühren //mhm// und ja und das ist eigentlich immer schade //hm// also wenn de zwanzig Leute hast dann klagen vielleicht dann vier davon obwohl wenn sie alle zwanzig zusammenhalten würden wär das ´ne (easy)*geschichte* ((*lachend gesprochen)) //hm// das wäre wunderbar //mhm// aber sie tun´s halt nich obwohl sie zum Teil auch in der Gewerkschaft sind //hm// die machen das nich und manche die kriegst du rucki zucki rum und wenn die einmal Erfolg hatten dann machen die das auch weiter ne //hm// ohne Rücksicht auf Verluste und die bleiben meistens auch am *längsten* ((*lachend gesprochen)) //hm// in so ´m Laden“.103
Hauptberufliche Akteure, so stellt sich anhand der Darstellungen von Regine Bauer heraus, müssen, bevor sie erwerbstätige Mitglieder in der Wahrung ihrer Rechte überhaupt unterstützen können, diese häufig erst als Adressaten der Hilfe ausfindig machen. Im Kontext von regelmäßigen Sprechstunden im Zuge des Innendienstes stoßen sie entweder auf einzelne Mitglieder oder aber auf solche, die in Begleitung ihrer Familien arbeitsrechtlichen Rat suchen. Im Kontext aufsuchender Arbeit kann der hauptberufliche Akteur auch betriebsbezogen mit 102 103
Auszug aus dem Nachfrageteil Peter Krause. Auszug aus der Eingangserzählung Regine Bauer.
110
III. Empirisch-analytischer Teil
Gruppen von Arbeitnehmern zu tun haben und diese bei der Durchsetzung ihrer Rechte beraten bzw. betreuen. Neben die individuelle Beratung einzelner Mitglieder tritt eine kollektivbezogene Dimension hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit: Den Sekretären und Referenten geht es darum, dass sich Arbeiter oder Arbeitnehmer aufgrund ihrer vergleichbaren Situation solidarisch zusammenschließen, um effektiver vertreten werden zu können. Dieses Ziel hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit werde jedoch in den Augen der hauptberuflichen Akteure selten erreicht. Günstig hierfür wirke sich ein erfolgreich durchlaufener Arbeitskampf aus, der Regine Bauer zufolge zugleich die Chance einer dauerhaften Bindung der Mitglieder an die Gewerkschaft beinhalte.104 Deutlich wird, dass sich die hauptberuflichen Akteure bei beratenden oder informierenden Tätigkeiten der mündlichen Kommunikation bedienen. Die Kommunikationsarbeit ist ebenso wie die Gefühlsarbeit eine die Inhalte der beruflichen Arbeit im mitgliedernahen Bereich übergreifende Komponente, deren Vollzug durch mündliche Konversation sich als grundlegendes Prinzip erweist. Bevor die Gewerkschaftssekretäre jedoch mit den Adressaten ihrer beruflichen Arbeit mündlich kommunizieren können, sind sie zu ihnen auf dem Weg und daher zumeist nur über ihre Mobiltelefone zu erreichen. Die Interviewerin hat selten im ersten Anlauf einen zur Befragung ausgewählten Akteur telefonisch erreicht. Dies muss darauf zurückgeführt werden, dass sie den fernmündlichen Kontakt über das Festnetz herstellen wollte, die Sekretäre jedoch zumeist nur mobil zu erreichen sind. Die aufsuchende Arbeit führt die Sekretäre, unabhängig davon, ob es sich um Jugendsekretäre handelt oder nicht, vormittags häufig in Berufsschulen und zu anderen Bildungsträgern, um die Auszubildenden dort, zum Beispiel im Rahmen des Sozialkundeunterrichtes, über ihre Rechte als Auszubildende und künftige Arbeitnehmer zu informieren. Zu den alltäglichen beruflichen Tätigkeiten gehört neben der Information und Beratung von bereits erwerbstätigen oder sich noch in Ausbildung befindlichen Einzelnen und Gruppen auch die Verwaltungsarbeit. Hinzu kommen die im Kontext politischer Bildungsarbeit stehenden gruppenbezogenen Schulungen oder Seminarangebote, für deren inhaltliche Ausgestaltung die Sekretäre hin und wieder verantwortlich zeichnen. Es handelt sich hierbei um konzeptionelle Arbeiten, die als sogenannte Schulung in einer gewerkschaftlichen Bildungsstätte zumeist an Wochenenden durchgeführt wird. In diesem Kontext kann die bereits dargestellte Verzahnung inhaltlicher Arbeit mit gefühlsbezogenen Aufgaben weiter verdeutlicht werden: Neben das methodisch-didaktische Wissen, auf das auch im Unterricht an den Berufsschulen zurückgegriffen werden muss, tritt ein 104
Zur biografischen Gebundenheit dieser Proposition bitte die nachstehenden Einzelfallanalysen bzw. die komparative Analyse im Abschnitt III.6 heranziehen.
1. Gewerkschaften und ihre Arbeit im mitgliedernahen Bereich
111
weiterer Aspekt beruflicher Tätigkeit, nämlich die Kompetenz, mit gruppendynamischen Prozessen umzugehen. Ein letztes Beispiel aus der Sprechstundenpraxis einer Verwaltungsstelle des DGB in den Neuen Bundesländern soll die grundlegende Wichtigkeit der Kommunikationsarbeit im mitgliedernahen Bereich unterstreichen, die hier eine besondere Facette aufweist, da sie zugleich soziale Beziehungen unter hauptberuflichen Akteuren verdeutlicht: „letztens stand nen älterer Kollege hier hat denn jeschimpt er will aus’m FDGB austreten, aber wie ooch ne //mhm// und mit’m Personalausweis immer ((lacht)) ick sag mal (.) du musst uns aber mal sagen in welcher Gewerkschaft du bist den FDGB gibt’s schon lange nich mehr wir sind jetz beim DGB und wir könn det ooch nich machen ne ja weiss ick nich ick bezahl jeden Monat sechs Euro ne und kriege nich mal ne Zeitung ((verstellt die Stimme)) und und wees ick wat alles ne //mhm// ick sag denn denn sag mir mal wo de jearbeitet hast ja ick war da und da im Lager ((verstellt die Stimme)) ick sag denn geh mal hinter zur IG Metall denn biste da wahrscheinlich Mitglied und denn bin ich zu der Kollegin gegangen zur Sylvia war’n Älterer schon da ((fragend)) und sag du Sylvia biste denn nu klargekommen mit dem Kollegen ja sagt‘se der fing hier an und so ja ick hab denn ma nachjeguckt und der bezahlt im viertel Jahr sechs Euro der war Rentner ne sagt‘se und ne Zeitung kriegt der ooch jeden Monat ne ick hab ihm det denn jezeigt und denn hat er jesagt na ja wenn dat so is denn bleib ick drin und denn isser wieder *losgegangen* ((*lachend gesprochen)) ((lacht 4 Sekunden))“.105
Das vorgestellte Beispiel verdeutlicht die Kommunikationsarbeit sowohl zwischen hauptberuflichem Akteur und hilfesuchendem Mitglied als auch zwischen zwei hauptamtlich Beschäftigten bei der Gewerkschaft, die in den sozialen Kontakt zu einem desorientierten Rentner, der die Geschäftsstelle aufsucht, involviert sind. Dieses als „älterer Kollege“ bezeichnete Mitglied kommt, so ist der Situationsdarstellung zu entnehmen, mit der Absicht, aus der Gewerkschaft auszutreten, in die Geschäftsstelle, weil es sich unfair behandelt fühlt. Da ihm entgangen zu sein scheint, dass es den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) nicht mehr gibt, landet er beim lautmalerisch ähnlichen DGB. Konrad Wolke leistet im Kontext der Kommunikationsarbeit hier Vermittlungs- und Konfliktarbeit, bei der er darauf abzielt, in der Sprache des Mitgliedes zu klären, wo und wie ihm weitergeholfen werden kann. Vermittelnde Arbeit ist insbesondere dort wichtig, wo verschiedene Bezugswelten aufeinandertreffen, wie es in der Betreuungsarbeit einer heterogenen Mitgliedschaft der Fall ist.106 Konrad Wolke informiert 105 106
Auszug aus dem Nachfrageteil Konrad Wolke. Vgl. zu weiteren Facetten von Konflikt- und Vermittlungsarbeit insbesondere die Falldarstellung Sabine Jung im nachfolgenden Abschnitt III.2.1.
112
III. Empirisch-analytischer Teil
das Gewerkschaftsmitglied, dass es beim DGB nicht an der richtigen Stelle ist, vermutet aufgrund der vormals ausgeführten Tätigkeit, dass es der IG Metall zugeordnet wurde, und schickt es zu der dort tätigen Kollegin. Nun könnte der Sachverhalt für ihn abgeschlossen sein, da weder das Mitglied selbst noch dessen Anliegen in seine Verantwortlichkeit fallen – er ist es jedoch nicht. Konrad Wolke erkundigt sich im Nachhinein bei der Kollegin, ob das Mitglied auch dort angekommen sei und sein Anliegen geklärt werden konnte. Hierdurch erfährt er nicht nur vom Fortgang der Mitgliederbetreuung, sondern auch, dass der kollegial verbundene soziale Kontakt erfolgreich den Austritt des Rentners verhindert habe. Es ist demnach nicht nur die persönliche, mündliche Kommunikation per se wichtig, sondern es kommt im mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaftsarbeit vor allem darauf an, Vermittlungs- und Konfliktarbeit zu leisten. Hierzu gehört es, die Sprache des Mitgliedes zu sprechen. „Verschiedene Sprachen sprechen können“ stellt sich als eine wichtige Facette der Kommunikationsarbeit dar, die im Hinblick auf zunehmend heterogene Gewerkschaftsmitgliedschaften zugleich eine besondere Anforderung an die kommunikativen Kompetenzen hauptberuflicher Akteure stellt. 1.6. Rekrutierungs- und Bindungsarbeit als zentrale Komponente beruflicher Arbeit im mitgliedernahen Bereich107 Die berufliche Tagesarbeit von Gewerkschaftssekretären endet zumeist mit der sogenannten „Pflege des Ehrenamtes“. Was ist darunter zu verstehen? Hauptberufliche Akteure treffen sich beispielsweise mit den ehrenamtlichen Vorständen der Personengruppen, die in einigen Gewerkschaften auch als Orts- oder Fachgruppen bezeichnet werden, und besprechen aktuelle Themen der Gewerkschaftsarbeit. Die Orte, an denen diese Besprechungen stattfinden, sind sehr vielfältig: Das kann die örtliche Verwaltungsstelle sein, die Wohnung oder der Garten eines ehrenamtlichen Akteurs oder auch eine in der Nachbarschaft gelegene gastronomische Einrichtung. Die sozialen Kontakte der hauptberuflichen Akteure zu erwachsenen Mitgliedern beschränken sich in aller Regel auf stundenweise Zusammenkünfte, in denen im Vergleich zu den sozialen Beziehungen zu jugendlichen Mitgliedern die inhaltliche Dimension der Gewerkschaftsarbeit deutlicher im Vordergrund steht. Die berufsbezogenen Aktivitäten im Kontext der sozialen Kontakte zu jugendlichen Mitgliedern können sich sogar auf mehrtägige Reisen erstrecken. Die zeitliche Dauer jugendbezogener Angebote ergibt 107
Vgl. auch die komparative Analyse zur Rekrutierungs- und Bindungspraxis der hauptberuflichen Akteure im Abschnitt III.6 dieser Arbeit.
1. Gewerkschaften und ihre Arbeit im mitgliedernahen Bereich
113
sich aus dem beruflichen Anliegen der Mitgliederbindung, die durch Wochenendfahrten und andere Seminarreisen am ehesten erreicht werden kann. Insbesondere die erfolgreiche Rekrutierung und Bindung jugendlicher Akteure stellt sich zunehmend als hartes Geschäft heraus und unterliegt speziellen Bedingungen, die von den hauptberuflichen Sekretären berücksichtigt werden müssen. Die Mitgliedergewinnung gehört zu den gewerkschaftsintern und -extern langjährig beforschten und diskutierten Thematiken108, deren individuelle Reflexion Spuren im hier analysierten Datenmaterial hinterlassen hat. Die empirisch anzutreffenden Variationen der Rekrutierungspraxis berücksichtigen in aller Regel aktuelle Befunde des Ehrenamtsdiskurses109. So gehört es zum Wissensbestand der von mir befragten Akteure, dass insbesondere große Mitgliederverbände bei der Rekrutierung neuer Mitglieder über rein berufsbezogene Interessenvertretung hinaus auf projekt- und themenbezogene, spaß- und dienstleistungsorientierte Angebote abstellen sollten (Picot 2000: 117–207). Dass Gewerkschaften Optionen zur individuellen Entfaltung und Entwicklung bieten und darauf abstellen, dass freiwilliges Engagement „eine bedeutsame Rolle beim ‚Erwachsenwerden‘ in dieser Gesellschaft spielt“ (Picot 2000: 202), wird am Beispiel der nachstehenden Einzelfallanalysen deutlich. Moderne Rekrutierungspraxen gehören, wie ich zeigen werde, zu den fallübergreifenden Gemeinsamkeiten hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit. Diesbezügliche und gegenwärtig erzielte Erfolge können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mitgliederverluste für die Gewerkschaften in den letzten Jahren enorm waren. Flexibilität und Wandlungsfähigkeit werden von den hauptberuflichen Akteuren insbesondere im Bereich der Jugend erwartet. Jugendliche gelten Picot (2000) zufolge im Kontext freiwilliger Aktivitäten als Sozialisationsagenten und Vorreiter neuer Trends. Dass dies auch für freiwillige Organisationen wie Gewerkschaften gilt, kann an den vielfältigen von ihnen vorgehaltenen Bindungsangeboten abgelesen werden: „weil im Jugendbereich also vor allem wir in Bundesland Südwest hier haben sehr sehr viele Angebote für Jugendliche in den Gewerkschaftsreihen und die reichen halt vom äh Sommerfreizeit jetzt praktisch von reinen Spaßfaktoren bis hin zu politischer Grundausbildung Ökonomieseminare was weiss ich ich ja schon die ganze Bandbreite wo man da abdecken und auch jeder seinen Teil finden kann“.110
Zumeist handelt es sich bei den für die gewerkschaftliche Jugendarbeit angestellten Personen um junge erwachsene Akteure, die selbst über biografische Erfahrungen in der jugendkulturellen Sozialisation bei Gewerkschaften verfügen. 108 109 110
Vgl. stellvertretend Negt 1989; Hielscher 1995; Hoffmann 1990. Vgl. den referierten Forschungsstand zu Gewerkschaften in Abschnitt I.2 dieser Arbeit. Auszug aus dem Nachfrageteil Jürgen Teschner.
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III. Empirisch-analytischer Teil
Aufgrund der Tatsache, dass ihre eigene Jugendphase noch nicht lange hinter ihnen liegt und dass sie über vergleichbare Erfahrungen, vor allem als ehrenamtlich politisch Engagierte verfügen, eignen sie sich in besonderer Weise dazu, nachrückende junge Akteure für die Gewerkschaft zu gewinnen. Hierbei spielen erneut die persönliche Ansprache und der individuell angelegte soziale Kontakt zum potenziellen Mitglied eine entscheidende Rolle. Der soziale Umgang in der gewerkschaftlichen Jugendarbeit gestaltet sich fernab formalisierter Strukturen, um hierdurch möglichst niedrige Zugangsschwellen für junge Interessierte zur Gewerkschaft bereitzuhalten. Insbesondere im Zuge einer auf mehrere Tage angelegten kompakten Jugendarbeit sind Planungsaktivitäten im Kontext konzeptioneller Arbeit nötig. Die Konzeptionsarbeit muss stets sowohl die Inhalte der Gewerkschaftsarbeit – wie Informationen zum Arbeitsrecht, zu gewerkschaftlicher Arbeit, zu politischer Partizipation etc. – mit der sozialen Dimension des gewerkschaftlichen Angebotes verbinden, um eine Bindung an die Gewerkschaft wahrscheinlich werden zu lassen. Bei der Konzipierung von gewerkschaftlichen Angeboten geht es also um eine gelungene Verbindung von Sach- und Sozialbezug gewerkschaftlicher Arbeit, die stets auf die Rekrutierung und Bindung von Mitgliedern ausgerichtet ist. Das Verhältnis und die Qualität der beiden genannten Dimensionen werden durch die Handlungspraxis der hauptberuflichen Akteure maßgeblich bestimmt und individuell festgelegt, sodass verschiedene Logiken der Mitgliederrekrutierung empirisch-analytisch zu identifizieren sind.111 Was allgemein für die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit im mitgliedernahen Bereich zutrifft, nämlich deren Ausrichtung auf die Herstellung und Pflege sozialer Kontakte zu den Mitgliedern der Gewerkschaft, gilt insbesondere für die Außendiensttätigkeiten. Hierzu gehört neben den bereits genannten aufsuchenden Tätigkeiten der Unterricht an Berufsschulen und an anderen Bildungseinrichtungen, die betriebsbezogene Information von Arbeitnehmern sowie Schulungen und seminaristische Bildungsarbeit; ferner die bereits erwähnte Suche nach geeigneten, weil gegenüber arbeitsrechtlichen Themen aufgeschlossenen Personen, die als passive oder aktive Mitglieder für die Gewerkschaft gewonnen werden sollen und dazu persönlich angesprochen werden. Zur Illustration dieses berufsbezogenen Aspektes ziehe ich ein Beispiel aus den Darstellungen des Gewerkschaftssekretärs Peter Krause heran: „Das ist meine persönliche Meinung und da toi toi toi (2) läuft das eigentlich hier in unserm Bezirksverband relativ gut //hm// und noch dazu immer wieder mit der Jugendarbeit bin ich wie gesagt sehr zufrieden //mhm// und da kommt och immer wie111
Vgl. hierzu Abschnitt III.6, der sich mit den Rekrutierungs- und Bindungsstrategien der hauptberuflichen Akteure befasst.
1. Gewerkschaften und ihre Arbeit im mitgliedernahen Bereich
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der neues Per- also neues Potenzial nach //hm// ne weil wir ja die Möglichkeiten haben wenn wir denn immer in ´n ersten im ersten Ausbildungsjahr sind dass ich dann schon feststelle wenn ich dort unterrichte äh in den Schulen //hm// wo man Leute einschätzen kann der wäre was oder die wäre was ne //ja// denn tritt man eben einfach heran und sagt du wie sieht´s ´n aus du bist doch Gewerkschaftsmitglied haste nicht Interesse einfach (.) selber effektiv Jugendarbeit zu gestalten //mhm// dann fragen die zwar ja was is´n das denn sagste einfach komm mal mit hier her guck dir das an //mhm// und meist bleiben die denn och“.112
Diese Feld- oder Außendienstarbeit kann jedoch, wie es Regine Bauer als typisch für ihre Arbeit schildert, als sehr energiezehrend und wenig erfolgreich empfunden werden und mitunter im Vorfeld der Mitgliederarbeit stecken bleiben: „Suchen, Suchen eigentlich ähm fahr ich viel (.) rum zum Beispiel hab ich mir jetz in K-Stadt alle sämtliche Schulen knöpf ich mir vor //hm// fahr da fang da an morgens durch die Stadteile zu fahrn und versuche mit den Hausmeistern zu sprechen um zu erfahren welche Reinigungsfirma drin ist mit wie viel Leuten und wann die kommen //mhm// und oftmals hab ich Glück weil die Hausmeister selber (.) in ´ner Gewerkschaft sind zum Teil Vertrauensleute über verdi und so //hm// dann sind die auch sehr also bereit Auskunft zu geben //mhm// und auch mal Informationen weiterzuleiten aber es gibt auch welche die das total blockieren //hm// und ja und wenn ich das rausgekriegt habe dann versuche ich vielleicht ´ne Vorarbeiterin zu erwischen //mhm// mich gut mit ihr zu stellen und ´n Termin abzumachen dass ich mit den Leuten mal sprechen kann //mhm// und ja wenn man dann so ´n paar Termine auf die Reihe gekriegt hat dann ist man schon ganz froh weil das ist eine unglaubliche Vielfahrerei Sucherei manchmal muss man drei vier fünf Mal irgendwo anfahren das Ganze anfahren //hm// um überhaupt mal ´ne Reinigungskraft zu sehen //hm (.) mhm// manchmal haste auch Glück du fährst da in ´n Krankenhaus oh ja da sind vierzig Leute die Objektleiterin da ist Gewerkschafterin (.) oh ja das müssen alle hören das ist ja sind unsere Rechte das hat die auch mal zu interessieren und //hm// ich ruf die alle zusammen dann und dann kannste wiederkommen und dann besprechen wir das halbe Stunde //hm// in ´ner Pause //mhm// das sind natürlich Idealfälle aber die sind sehr selten“.113
Anhand dieser Schilderungen zur aufsuchenden Dimension hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit zeigt sich nicht nur die Bedeutung der Rekrutierungs- und Bindungsarbeit bei Gewerkschaften an sich, sondern zugleich deren Gebundenheit an den Inhaltsaspekt der beruflichen Arbeit, die Wissensvermittlung zum Arbeitsrecht. Der Berufsschulunterricht beispielsweise erlangt somit neben einer Informationsveranstaltung – die darauf angelegt ist, den Auszubildenden Kennt112 113
Auszug aus dem Nachfrageteil Peter Krause. Auszug aus dem Nachfrageteil Regine Bauer.
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III. Empirisch-analytischer Teil
nisse zum Arbeitsrecht zu vermitteln, deren Vergütungsansprüche darzustellen, Informationen zum Tarifrecht und zu Abmahnungen zu geben – die Bedeutung eines sozialen Erstkontaktes zu potenziell nachrückenden, freiwillig bei der Gewerkschaft aktiven Akteuren. 1.7. Schwierigkeiten hauptamtlicher Gewerkschaftsarbeit im mitgliedernahen Bereich Die vorstehend beschriebenen sozialen Kontakte zu den Mitgliedern führen zugleich zu einer Voraussetzung für hauptberufliche Arbeit bei Gewerkschaften: die ehrenamtliche Zusatzleistung in den Abendstunden, an den Wochenenden und Feiertagen, die jedoch nicht auf die Arbeitszeit angerechnet werden kann. Diese Tatsache wirft die Frage auf, weshalb Gewerkschaften, die im Common Sense mit dem Kampf um die Einhaltung der gesetzlichen Arbeitszeiten in Verbindung gebracht werden, ihren eigenen Beschäftigten diese freiwilligen Zusatzleistungen abverlangt, ohne ihnen einen materiellen Ausgleich zu gewähren. Den Befragten zufolge ist der Anteil unentgeltlicher Mehrarbeit zusätzlich zur beruflich bezahlten Arbeit in den vergangenen Jahrzehnten sukzessive ausgeweitet worden; der Grund liegt in der Veränderung der sozialen Rahmenbedingungen hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit durch ihre Zentralisierung im Zuge von Fusionen.114 Die Veränderung der sozialen Rahmung für hauptberufliche Arbeit bei der Gewerkschaft wird von den Akteuren als „Rückzug aus der Fläche“ und als Erschwernis ihrer Arbeit thematisiert. Aus dem Mangel an hauptberuflichem Personal resultiert der Bewältigungsversuch, durch die Verlagerung hauptamtlicher Tätigkeiten auf ehrenamtlich Engagierte eine Entlastung zu erreichen. Wie sich fallbezogen zeigen wird, kann insbesondere den mit gewerkschaftlicher Jugendarbeit betrauten Sekretären ein sensibler Umgang mit diesen zur Diffusität tendierenden Profilen der hauptamtlichen und der ehrenamtlichen Akteure attestiert werden. Die fallbezogene Darstellung zur beruflichen Handlungspraxis der Gewerkschaftsarbeit im mitgliedernahen Bereich soll anhand der nachstehenden Einzelfallanalysen ergänzt werden. Auf dieser Grundlage wird zum einen das Verständnis der biografischen Bedingtheit hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit ermöglicht und zum anderen werden berufliche Sozialisationsprozesse für und durch die hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit verdeutlicht. Die Datenanalyse der vier zentra114
Belege hierfür finden sich in der Fusion von fünf Einzelgewerkschaften zu ver.di oder auch zur IG BAU sowie zur IG BCE. Es handelt sich aus der Sicht der hauptberuflichen Akteure bei all diesen Fusionen um die Zusammenlegung von gewerkschaftlichen Verwaltungseinheiten, die dazu führt, dass immer weniger hauptberuflich angestellte Personen für größere Verwaltungsgebiete zuständig sind.
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
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len Untersuchungsfälle verweist, wie ich nun zeigen werde, in erster Linie auf die Verknüpfung von biografischen und handlungspraktischen Aspekten der Gewerkschaftsarbeit im mitgliedernahen Bereich. 2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften Der vorangegangenen Beschreibung der beruflichen Praxis bei Gewerkschaften folgt die Darstellung zur (berufs-)biografischen Dimension der Handlungspraxis am Beispiel der vier theoretisch relevanten Fälle in den Abschnitten III.2.1, III.2.2; III.4 und III.5. Vor dem Hintergrund der vorab referierten Untersuchungsmethode werden hier lediglich die Fälle in ihrer analytisch erschlossenen Gesamtgestalt präsentiert, die sich als theoretisch relevant und repräsentativ erwiesen haben. Bei diesen vier Einzelfällen handelt es sich, wie dargelegt, um eine von mir getroffene theoretische Auswahl von Fällen, die zu dem genannten Kriterium der theoretischen Relevanz ebenfalls die Bandbreite der beruflichen Tätigkeiten im mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaften abbilden.115 Die theoretische Relevanz der berufsbiografischen Dimension für die gewerkschaftliche Rekrutierungspraxis deutete sich bereits, wie ich bei der Rekonstruktion meiner Datenanalyse (Kapitel II dieser Arbeit) dargestellt habe, in den ersten sequenzanalytischen Auswertungen des Datenmaterials an und legte die Schlussfolgerung nahe, dass das berufliche Handeln gewerkschaftlicher Akteure entweder durch vorberufliche biografische Erfahrungen geprägt ist oder durch handlungsleitende Orientierungen, die über berufliche Sozialisationserfahrungen erworben wurden. Insbesondere die Rekonstruktion der Einzelfälle, aber auch die anschließend dargestellten komparativen Analysen sind dem Bemühen geschuldet, nicht nur die methodische Nachvollziehbarkeit, sondern vor allem die Fundierung meiner Analysen in den tatsächlichen Daten zu gewährleisten. Zugleich wird hiermit der Nachweis zur Begründung des theoretischen Modells zu Rekrutierungs- und Bindungsprozessen in der sozialen Welt der Gewerkschaft, welcher in den empirischen Daten verankert ist, erbracht. Die ausgewählten Kernfälle, die anhand von vier fallrekonstruktiv ermittelten Vergleichsdimensionen dargestellt werden, umspannen zeitlich betrachtet
115
Dass es sich dabei entgegen der Praxis der Gewerkschaftsarbeit um drei Frauen und nur einen Mann handelt, trägt den genannten Fallauswahlkriterien Rechnung, darf jedoch keinesfalls zur irrigen Annahme führen, es handle sich hierbei um ein verallgemeinerbares und quantifizierbares Zeichen zur Geschlechterverteilung der hauptamtlichen Gewerkschaftsarbeit.
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III. Empirisch-analytischer Teil
drei Jahrzehnte gewerkschaftlicher Rekrutierungs- und Bindungspraxis von den 1980er Jahren bis zur Gegenwart. Die Darstellung der Einzelfallanalysen vollzieht sich entlang von vier Erfahrungskomplexen, die ich nachfolgend aufführe, berücksichtigt allerdings so weit als möglich die sequenzielle Anordnung des Datenmaterials: 1) 2) 3) 4)
die Bildungserfahrungen, die Stellenbesetzung, die Milieuerfahrungen sowie die Partizipationserfahrungen.
Nach der detailgerechten Darstellung zweier kontrastierender Fälle, Sabine Jung und Jürgen Teschner, unterziehe ich beide einer ersten komparativen Analyse in Abschnitt III.3, die sich auf ihre berufsbiografische Entwicklung bezieht und Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede hinsichtlich der oben genannten Vergleichsdimensionen (Erfahrungskomplexe) zwischen beiden Fällen bilanziert. Hierauf folgt die Darstellung des dritten theoretisch relevanten Falles, Regine Bauer, deren Berufsbiografie und Aufstiegsprozess einen minimalen Kontrast zu Jürgen Teschner darstellt, daher eine verknappte Darstellung ermöglicht, jedoch in der biografischen Grundlegung ihrer Handlungspraxis neue Aspekte der hauptberuflichen Arbeit bei Gewerkschaften hervorbringt. Der vierte und letzte Kernfall, Ricarda Korn, differenziert die bis dahin einzelfallanalytisch gewonnenen Hinweise zu berufsbiografischen Verläufen bei der Gewerkschaft, da ihr Fall Gemeinsamkeiten zu allen drei vorangehend dargestellten Fällen aufweist und doch hinsichtlich ihrer Partizipations- und Milieu-Erfahrungen deutlich andere Akzente in die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit einbringt. Die fallrekonstruktiv ermittelten und zugleich zu ihrer lesefreundlichen Darstellung eingesetzten Vergleichsdimensionen für Arbeitsprozesse im mitgliedernahen Bereich von Gewerkschaften können in einem weiteren Schritt der Fallkomparation (Kapitel III.6) zu zwei zentralen Dimensionen, Berufsbiografie und Handlungspraxis, zusammengeführt werden. Es handelt sich demnach bei den Vergleichsdimensionen sowohl um Resultate der Fallrekonstruktion als auch um Komponenten der einzelfallanalytischen und fallübergreifenden Darstellung. Mit den nachstehenden Fallanalysen, die in erster Linie auf die Rekonstruktion der jeweiligen Berufsbiografie abzielen, sollen zunächst zentrale, handlungsleitende Orientierungen der Informantinnen und Informanten empirisch kleinschrittig herausgearbeitet und belegt werden. Hierzu habe ich das Datenmaterial einer Segmentierung unterzogen, die auf einer Textsortenbestimmung beruht, und zugleich tentative Orientierungen der Befragten über eine fallimmanente komparative Analyse geprüft. Die zentralen beruflichen Haltungen und
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
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Orientierungen des Einzelfalls werden in einer analytischen Bilanz am Ende der Fallbeschreibung zusammengeführt. In einem ersten Schritt werden nun die analytischen Erträge zu den berufsbiografischen Verläufen in die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit vorgestellt. Die Darstellung der Berufsbiografie einleitend wird der jeweilige Akteur bzw. die jeweilige Akteurin mit einem Porträt vorgestellt, um sodann die von den Informanten und Informantinnen verschlüsselten Informationen zu den sozialen Prozessen ihres beruflichen Wirkens decodieren zu können. Die Darstellung erfolgt entlang den erkannten Segmentierungen im Datenmaterial der Eingangserzählung, zieht partiell Passagen des Nachfragteils hinzu und ist den vier Vergleichsdimensionen zugeordnet. Neben diesen als Überschriften gliedernd verwandten Dimensionen finden sich weitere segmentbezogene Überschriften, die den Vorrat empirisch gewonnener Kategorien darstellen und zu einer Theorie der Rekrutierung in der sozialen Welt der Gewerkschaft führen. Ich rekonstruiere an der ersten Darstellung die berufsbiografische Entwicklung Sabine Jungs, die von mir durchgeführte Datenanalyse detailierend, um die Nachvollziehbarkeit meines methodischen Vorgehens zu gewährleisten. Wohl wissend, dass eine solche Darstellung dem Lesenden sperriges Vokabular des sozialwissenschaftlichen Auswertungsverfahrens zumutet, habe ich mich um des Nachweises meines methodischen Vorgehens willen hierzu entschlossen. Ich bitte die eher ergebnisorientierten Leserinnen und Leser hierfür um Verständnis. 2.1. Berufsbiografie: Sabine Jung 2.1.1. Porträt Sabine Jung „und ne gute Taktik (.) hab ich jetzt schon als Beispiel mal gesehen ist halt doch wirklich so lange zu diskutieren (.) oder Fragen zu stellen (.) bis beide Seiten wissen was sie voneinander wollen beziehungsweise //hm// ne oder an so ´n Punkt kommen wo man das man das reflektiert weil dann hat man sich oder man hat sich nich und dann dann muss man natürlich den Mut haben zu sagen so ähm (2) wir machen das jetzt hier nicht um der Zahlen Willen“.116
Sabine Jung wurde Mitte der 1970er Jahre als ältestes Kind der Familie in einer kleineren ostdeutschen Stadt geboren. Nach dem Umzug der Familie nach RStadt wuchs sie als Schwester einer jüngeren Bruders in einer großen ostdeutschen Stadt auf, in der sie heute noch lebt. Während sie den überwiegenden Teil ihrer schulischen Bildung als Kind in der DDR erhielt, erlangte sie die allgemeine Hochschulreife bereits nach der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten. 116
Auszug aus dem Nachfrageteil.
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III. Empirisch-analytischer Teil
Die Erfahrung des gesellschaftlichen Systemwechsels erweist sich für Sabine Jung als biografisch relevant und wird von ihr im Zusammenhang mit der Entfaltung ihres politischen Engagements thematisiert. Sie gehört zu den vielseitig aktiven Akteurinnen; insofern beziehen sich ihre freiwilligen Aktivitäten auf verschiedene kollektive Handlungsrahmen. Hierzu gehört vor allem die politische Bildungsarbeit wie die örtliche Kinder- und Jugendarbeit, aber auch das Theaterspielen sowie der Aufbau eines lokalen Radiosenders. Dieses ehrenamtliche Engagement ist an die Stadt, in der sie lebt, gebunden, hat bereits in ihrer Schulzeit begonnen und setzt sich bis zur Gegenwart fort. Im Anschluss an das Abitur studierte Sabine Jung die Fächer Politik und Germanistik an einer Universität in R-Stadt. Hier fand sie nach dem abgeschlossenen Studium auch ihre erste Anstellung bei einem gemeinnützig arbeitenden Verein. In diesem war sie in erster Linie für die Berufsberatung von Jugendlichen verantwortlich. Dieses Arbeitsverhältnis konnte durch den Erlass neuer Richtlinien zur Qualifikation des Personals nicht fortgesetzt werden, sodass sie gezwungen war, sich eine andere berufliche Tätigkeit zu suchen. Da sie über ehrenamtliche und berufliche Kontexte bereits Kontakte zum Deutschen Gewerkschaftsbund aufgebaut hatte, lag es für sie nahe, sich dort auf eine vakante Stelle im Jugendbildungsreferat zu bewerben. Sie konnte, entgegen ihren eigenen Erwartungen, dieses Bewerbungsverfahren erfolgreich für sich entscheiden und trat 29-jährig ihre erste Stelle bei der Gewerkschaft an. Zum Zeitpunkt des Interviews waren nur wenige Monate vergangen, in denen Sabine Jung Erfahrungen als Jugendbildungsreferentin des DGB sammeln konnte.117 Die Bandbreite ihrer beruflichen Tätigkeit umfasst die politische Bildungsarbeit mit Jugendlichen in gewerkschaftlichen und außergewerkschaftlichen Kontexten, verwaltungs-, finanz- und haushaltstechnische Aufgaben, Gremienarbeit, die Rekrutierungs- und Mobilisierungsarbeit, die Pflege sozialer Beziehungen zu ehrenamtlichen Akteuren inner- und außerhalb der Gewerkschaft sowie die Kommunikations- und Vermittlungsarbeit. Einen Schwerpunkt der Rekrutierungsarbeit stellen repräsentative und medienwirksame Tätigkeiten im öffentlichen politischen Raum der Arbeitswelt dar.
117
Zu dieser DGB-Region bestanden bereits Kontakte aus dem Kontext des Forschungsprojektes „Neue Ehrenamtlichkeit“, was neben der Tatsache, dass es sich um eine Jugendbildungsreferentin handelt, die also unmittelbar mit Jugendlichen arbeitet, die Anbahnung des Interviews erbrachte.
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
121
2.1.2. Fallbeschreibung Sabine Jung Das Interview mit Frau Jung kann formal in zwei Teile mit einem jeweils anderen Darstellungsmodus unterteilt werden. Der erste Teil, der gleichzeitig einen suprasegmentalen biografischen Erfahrungszusammenhang118 bildet, umfasst die Abhandlung ihrer Berufsbiografie und untergliedert sich in vier Segmente, die im Modus der Erzählung abgefasst sind – die ausgedehnte Eingangspassage des Interviews. Der zweite, größere Teil des Interviews umfasst einen Nachfrageteil mit insgesamt sieben Segmenten, welche im Modus der Beschreibung und der Argumentation abgefasst und von den immanenten und exmanenten Nachfragen der Interviewerin strukturiert ist. Es handelt sich gleichwohl im ersten wie auch im zweiten Teil des Interviews um zum Teil sehr lange Passagen, die sich selbstläufig entfalten. Beide Interviewteile, Eingangserzählung und Nachfrageteil, sind jeweils einem Darstellungsmodus zuzuordnen (Erzählung bzw. Beschreibung/Argumentation). Aushandlung des Interviews In ihrer Erzählung zur Berufsbiografie reagiert Sabine Jung auf den doppelten Aufforderungscharakter des Erzählstimulus’ der Interviewerin. Y: Was is für dich B: [mhm Y: eigentlich so wichtig an deiner alltäglichen Arbeit und äh wie sind so deine Erfahrungen ähm mit mit Ehrenamtlichen oder mit der ehrenamtlichen Arbeit und ähm außerdem wie wie kommt es eigentlich das du auf dieser Stelle bist also wie hat sich das so entwickelt B: [mhm Y: dass du jetzt ausgerechnet da gelandet bist wenn du mir davon erzählen würdest das wär für mich so das interessanteste so B: [ok, soll ich ich is schon an ((fragend)) Y: [ja, ja B:[ja gut mh (2) beginnen wir mit der letzten Frage ne ((fragend)) Y: [mhm, ja B: zuerst wie is es gekommen also ich hab selbst Germanistik Politik studiert Y: [mhm
Sie tut dies, indem sie die zweite Erzählaufforderung, die eine Narration ermöglicht („wie kommt es eigentlich das du auf dieser Stelle bist also wie hat es sich
118
Zur Terminologie, Methodologie und Methodik des Auswertungsverfahrens bitte Abschnitt II.2.1.4 der Arbeit heranziehen.
122
III. Empirisch-analytischer Teil
so entwickelt“119), aufgreift und den Ablauf ihrer Berufsbiografie zu schildern beginnt. 1) Bildungs- und Partizipationserfahrungen Hier: Politisches Engagement als berufliche Vorerfahrung Ausgangspunkt der Erzählung Sabine Jungs ist das von ihr absolvierte Magisterstudium der Germanistik und Politik und ihr bereits zu dieser Zeit bestehendes Interesse an Organisationskunde und Gewerkschaftsarbeit. Es handelt sich hierbei um den Erzählgerüstsatz120 „Also ich hab selbst Germanistik Politik studiert“121 mit kurzer Detaillierung „Und ähm hab da m- p- äh Organisationskunde für mich denn schon auch äh vorwiegend für Gewerkschaft interessiert“122. In der nachfolgend zitierten Hintergrundkonstruktion führt die Informantin aus, weshalb sie bereits im Studium gewerkschaftlich interessiert war, und erklärt dies mit ihrem politischen Engagement vor dem Studium: „Das hat m- letztendlich ne ne ist ne Frage der politischen Haltung nehm ich mal an //mhm// ähm hat insbesondere damit zu tun das ich also bevor ich angefangen hab zu studieren schon immer politisch aktiv war allerdings nicht in den Gewerkschaften aber in Zusammenarbeit //hm// also so ´n paar Sachen kenne ich aus der Zeit auch noch //hm// ähm das hat sich ja in R-Stadt ne also ich hab in R-Stadt studiert und auch gewohnt (.) und gelebt was ich ja immer noch tue hm vorwiegend auch auf die (.) die Antifa Arbeit bezogen in der Zeit also weil nach [gesellschaftspolitischen Entscheidungen; K. B.] war ja da einiges (.) zu machen (.) und da eben mit den Gewerkschaften zusammen dann auch erinnerungsmäßig äh die Streiks und und die die Betriebsbesetzungen und dann aber auch die Schließung von Betrieben und so weiter gut in Erinnerung also ich denk mal das hat so (.) so geprägt also dass das da irgendwie //hm// das ne Alternative also ne Parteizugehörigkeit (.) für mich keine Alternative is dass ich aber Gewerkschaftsmitgliedschaft m- wie ´n Führerschein behandel also das das irgendwie so (.) normal ist was nicht heißen muss dass jeder ähm (.) ((lacht kurz)) jeder Mensch dann auch gleich in die Gewerkschaft eintritt also ich war auch lange nicht in der Gewerkschaft muss ich auch dazu sagen //hm// also weil das sind sind also sind manchmal eben Selbstverständlichkeiten die man wo ich auch denke jetzt in der Arbeit immer mal wieder drauf äh kommen muss Leute einfach zu fragen (.) //hm// ne was Gewerkschaft oft nicht tut und //hm// in Organisationen treten wir ja glaube ich grundsätzlich alle nicht gerne bei ne //hm// also wenn wir nicht selbst ´n Verein gründen dann ist immer ein bisschen //hm// irgendwohin zu kommen oder so ist schon (.) ist schon denn doch immer irgendwie ´n Schritt (.) muss man zumindestens dann diesen Mitgliedsding da in der Hand halten und und 119 120 121 122
Auszug aus der Eingangserzählung. Siehe Fußnote 117. Auszug aus der Eingangserzählung. Auszug aus der Eingangserzählung.
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
123
eh man das halt bespricht mit Leuten die man dort kennt bespricht man glaube ich tausendfünfhundert andere Sachen oder so“.123
Es zeigt sich, dass die politischen Aktivitäten Sabine Jungs nicht aus einer Gewerkschaftsmitgliedschaft resultieren, jedoch inhaltlich den typischen gewerkschaftlichen Handlungsfeldern zuzuordnen sind, weshalb Gewerkschaften auch als Kooperationspartner fungieren. Dieses ehrenamtliche Engagement wird von Sabine Jung als „Antifa-Arbeit“ bezeichnet. Innerhalb der Hintergrundkonstruktion gibt es einen zweiten knappen Einschub an der Stelle, wo sie den Ort RStadt einführt: „Ne also ich hab in R-Stadt studiert und auch gewohnt (.) und gelebt was ich ja immer noch tue“. Der Ort R-Stadt wird von ihr ganz selbstverständlich im Zusammenhang mit ihren Aktivitäten eingeführt. Dass sie eine diesbezügliche Erklärung hinzufügt, in der sie klarmacht, dass es sich hierbei um ihren damaligen und aktuellen Lebens- und Studienort handelt, ist Ausdruck ihrer Befürchtung, von der Interviewerin nicht verstanden zu werden.124 Frau Jung verdeutlicht in dieser Passage, dass Streiks im Zusammenhang mit Betriebsschließungen, also die Interessenvertretung von Arbeitnehmern, ihr nicht fremd sind. Diese Erfahrungen führen für die Informantin zur Einsicht, dass Gewerkschaften als organisierte Instanz, die sich für die Rechte von Arbeitern und Arbeitnehmern einsetzt, eine natürliche Daseinsberechtigung besitzen. Sie stellt fest, dass sie durch dieses Engagement derart geprägt wurde, dass sie sich zwar Gewerkschaften, nicht jedoch Parteien zugehörig empfindet und dennoch zunächst nicht Mitglied der Gewerkschaft wird. Einerseits erklärt sie eine gewerkschaftliche Mitgliedschaft, auf ihren eigenen Erfahrungen basierend, als „normal“ und führt, diese Normalität verstärkend, hier erstmalig die Metapher „Gewerkschaftsmitgliedschaft m- wie’n Führerschein“ ein. Zu dieser Metapher lohnt es sich nachzudenken. Sie vergleicht also die Gewerkschaftsmitgliedschaft mit dem Erwerb eines Führerscheins, der ihrer Meinung nach eine gesellschaftliche Normalität darstellt. Die meisten Menschen erwerben so früh wie möglich einen Kfz-Führerschein, obgleich sie nicht wissen, ob und wann sie ihn benötigen werden, um ein Auto zu fahren. Sabine Jung sagt weiter, dass nicht alle Menschen sofort einer Gewerkschaft beitreten müssten, und bringt hiermit zum Ausdruck, dass für sie aus dieser natürlichen Daseinsberechtigung kein Zwang zur Mitgliedschaft erwächst. Sie führt sich in diesem Kontext selbst als Beleg an, da sie ebenfalls „lange nicht in der Gewerkschaft“ war. Hierauf folgt eine Detaillierung, die die Zugangsbarrieren zur Gewerkschaftsmitgliedschaft in einer unpersönlicheren „Man-Sprache“ erörtert, was als 123 124
Auszug aus der Eingangserzählung. Diese Bemühtheit um die Nachvollziehbarkeit ihrer Darstellung durchzieht das gesamte Interview, was insbesondere an den Hintergrundkonstruktionen abzulesen ist.
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III. Empirisch-analytischer Teil
Ausdruck für deren allgemeine Gültigkeit in der Perspektive der Informantin verstanden werden kann. Diese allgemeingültigen Hindernisse liegen ihrer Meinung nach darin, dass die Zurückhaltung, Organisationen beizutreten, sehr verbreitet ist, und zudem oftmals von den Gewerkschaften nicht angefragt werde, ob politisch engagierte Akteure bereits in der Gewerkschaft sind und ob sie gegebenenfalls Mitglied werden möchten. Die formale Zugehörigkeit zu einer Organisation gehört aus der Sicht Sabine Jungs nicht zu den naheliegenden Gesprächsinhalten in Freiwilligkeitskontexten: „Muss man zumindestens dann diesen Mitgliedsding da in der Hand halten und und eh man das halt bespricht mit Leuten die man dort kennt bespricht man glaube ich tausendfünfhundert andere Sachen oder so“.125
Sie findet nun, nach einer kurzen Pause von zwei Sekunden, zu ihrer Haupterzähllinie zurück, indem sie das zuvor eingeführte Studium wieder aufgreift: „Hm (2) ja also dann habe ich studiert“.126 Dies ist als Ergebnissicherung und somit als Abschluss des ersten Segmentes zu verstehen. Welche grundlegende Haltung der Informantin zur Gewerkschaftsmitgliedschaft dieser Äußerung zugrunde liegt, wird unter Einbezug weiteren Datenmaterials nachstehend geklärt. Ehrenamtliche Aktivitäten als „Sprungbrett“ in die hauptamtliche gewerkschaftliche Beschäftigung Das zweite Segment der Eingangserzählung behandelt die Zeit nach dem Studium und schildert bewusst das „Sprungbrett“ für die Tätigkeit beim DGB. Sabine Jung erzählt, dass sie schnell Eintritt in das Erwerbsleben gefunden habe, und plausibilisiert dies wiederum in einer in sich verschachtelten Hintergrundkonstruktion: Nach Beendigung ihres Studiums ist sie in einem Fremdsprachenverein ehrenamtlich engagiert. Der Verein verfügt über ein ehrenamtliches Mandat im Stadtjugendring von R-Stadt, welches von der Informantin übernommen wird. In diesem ehrenamtlichen Kontext erfährt sie von einer bezahlten Stelle des Vereins, in dem sie bis dahin ehrenamtlich tätig gewesen ist. Detaillierend führt sie aus, dass jener Verein gewerkschaftlich initiiert und einer von vielen Jugendbegegnungsstätten gewesen sei, die von Gewerkschaften nach 1989 in den Neuen Bundesländern eingerichtet worden sind. Sie bewirbt sich erfolgreich auf diese Stelle und arbeitet hier mit dem Schwerpunkt „arbeitsweltbezogene Jugendarbeit“.127 Sabine Jung spezialisiert sich auf die Beratung von Auszubildenden – 125 126 127
Auszug aus der Eingangserzählung. Auszug aus der Eingangserzählung. Auszug aus der Eingangserzählung.
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
125
„Azubiberatung das war halt so meine Strecke“.128 Durch diese Tätigkeit hält sie den Kontakt zur Gewerkschaft, da der DGB als Vereinsinitiator Seminare auf Antrag hin finanziell unterstützt. Hier zeigen sich bereits erste Elemente ihrer späteren beruflichen Tätigkeit. Sabine Jung nähert sich also mit dieser Tätigkeit schon dem Profil der Jugendbildungsreferentin, die sie später werden wird. Als Projektmitarbeiterin des Vereins unterhält sie einerseits soziale Kontakte zu den Auszubildenden (Sentimental Work)129 und muss andererseits Konzepte für Seminare schreiben130 (Paper Work) und diese Bildungseinheiten unter finanztechnischen Gesichtspunkten in einen Vereinshaushalt einbauen. Es stellt sich später heraus, dass der Informantin die formale Qualifikation für diese Tätigkeit fehlt, da sie über keinen Pädagogikabschluss verfügt, weshalb sie die Tätigkeit nicht lange ausführt und gezwungen ist, sich nach einer neuen Stelle umzusehen. 2) Stellenbesetzung Hier: „Ohne Stallgeruch“ – eine ungewöhnliche Gewerkschaftskarriere Das dritte Segment der Eingangserzählung wird eingeleitet durch den Erzählgerüstsatz „Und dann kam es dazu dass dort eben diese Stelle ge- äh frei war das gesucht worden ist und dass ich dann sozusagen erst mal darauf reagiert habe“.131 Die Informantin vermutet, dass sie weder die erste noch die einzige Person gewesen ist, die von der Stelle erfahren hat: „Also s- (.) sicherlich (.) also ich glaub nicht als Erste erfahren hab da si- gibt´s die dann äh die dann in Betracht würden //hm// die man dann anspricht oder so (.) also hab ich mich bisschen drum gekümmert (.) und dann gab´s nach(her) (.) noch ´ne offizielle Ausschreibung und dann gab´s ganz viele Kandidaten und am Ende hat´s trotzdem geklappt was ich auch sehr verwunderlich fand aber es ist *eben irgendwie so gekommen* ((*lachend gesprochen))“.132
Sabine Jung mutmaßt, dass sie nicht zu den Personen gehört, die üblicherweise für eine solche Stelle in Betracht kommen und die dann „angesprochen“ werden. Ihre Bemühungen, die Stelle zu bekommen, zunächst auf informellem Weg und dann auf eine formale Ausschreibung hin, sind dennoch erfolgreich. Obgleich 128
Auszug aus der Eingangserzählung. Bei den in runde Klammern gesetzten Kategorien handelt es sich um eine Zuordnung zu den beruflichen Kerntätigkeiten des arc of work nach Anselm Strauss. Die abstrahierte Kategorie „Kontakt zu Jugendlichen“ wird vorläufig zu den Kernaktivitäten der beruflichen Tätigkeiten gerechnet. Strauss’ Kategorien, hier vor allem die des Sentimental Work, müssen im Hinblick auf die berufliche Arbeit der hauptberuflichen Gewerkschafter modifiziert und ausdifferenziert werden. 130 Hier handelt es sich um eine Variante der Strauss‘schen Kategorie Paper Work . 131 Auszug aus der Eingangserzählung. 132 Auszug aus der Eingangserzählung. 129
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III. Empirisch-analytischer Teil
aus der Perspektive der Informantin nichts dafür spricht, dass sie die anderen „angesprochenen“ Konkurrenten in die Flucht schlägt, kommt es dazu, dass sie eingestellt wird. Dieser Stellenbesetzungsverlauf kann von der Informantin selbst nicht argumentativ erklärt werden, und so sagt sie lediglich: „aber es ist *eben irgendwie so gekommen* ((*lachend gesprochen))“.133 Im Kontext des Falles fällt diese Formulierung sprachlich schnell ins Auge, da die Informantin ansonsten sehr reflektiert über sich und ihre berufsbiografischen Erfahrungen spricht. In einer nun folgenden Detaillierung erklärt sie ihre Verwunderung, die Stelle besetzen zu können, da sie sich nicht zu den üblicherweise gesuchten Personen zählt. Sie sei nämlich eine „Jugendbildungsreferentin ohne Stallgeruch“134, was bedeutet, dass sie keiner Einzelgewerkschaft zugehörig war, die sie gewerkschaftspolitisch hätte protegieren können bzw. deren Interessen sie in ihrer neuen beruflichen Arbeit hätte unterstützen können: „Und äh ja und dann saß ich sozusagen da //hm// und würde jetzt sagen also geweralso ein ein eine Jugendbildungsreferentin ohne Hof- (.) ohne Stallgeruch wurde mal gesagt //hm// also die sozusagen mit ähm //hm// die mit keinen Mehrheiten oder keinen Hausmächten reingeht ne in die Gewerkschaftspolitik sonst ist´s ja oft so dass die Stellen schon ´n bisschen (.) ne also dass (.) was weiß ich die Metall oder wie auch immer Hausmächte mit verteilt werden oder so //hm// das hat hab ich jetzt nicht sozusagen das muss ich //hm// erarbeiten wenn dann schon //hm mhm//“.135
Es zeigt sich, dass Sabine Jung ohne gewerkschaftliche Zugehörigkeit eine Anstellung bei der Gewerkschaft findet. Ihr fehle hierdurch der typische „Stallgeruch“136, ein Umstand der für die Informantin weitere Indizien für die Unwahrscheinlichkeit birgt, in diese gewerkschaftliche Anstellung zu kommen. Es scheint also so zu sein, dass es Personen gibt, die über einen entsprechenden „Geruch“ als Angehörige der sozialen Welt der Gewerkschaft erkannt werden können. Dieser Identifizierungsprozess von Menschen, die an gewerkschaftskulturelle Milieus gebunden sind, läuft offenbar in erster Linie über das Erkennen 133
Diese Formulierung verweist auf ein allgemeines Merkmal berufsbiografischer Prozesse, die in eine hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften im mitgliedernahen Bereich münden. Frau Jungs Formulierung ist in diesem Zusammenhang insofern eine typische. Das erfolgreiche Einmünden in eine hauptberufliche Beschäftigung bei Gewerkschaften scheint für die eingestellten Akteure nicht bewusster Reflexion zugänglich zu sein. Die spezifischen Kompetenzen, welche zur Anstellung der Akteure geführt haben, werden lediglich von Ricarda Korn (Abschnitt III.5) zur Erklärung der Stellenbesetzung herangezogen. In allen anderen Fällen bleiben die Auswahlkriterien ungewusst und unbenannt. 134 Auszug aus der Eingangserzählung 135 Auszug aus der Eingangserzählung 136 „Stallgeruch“ wird hier als Metapher für das Vorhandensein typischer Personenmerkmale verstanden, die eine Zugehörigkeit zum gewerkschaftlichen Milieu eindeutig erkennen lassen.
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
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einer für das Gewerkschaftsmilieu typischen Ausstrahlung der entsprechenden Personen. Es muss sich hierbei um einen besonderen Sinn für die Zugehörigkeit zu diesem Bezugsrahmen handeln, der möglicherweise ohne Sprache auskommt. Dass der Befragten hingegen zuerst der „Hof“ und nicht der „Stall“ in den Sinn kommt, spricht für ihren nicht vertrauten Umgang mit gewerkschaftlichen Termini und kann zugleich als Hinweis auf die soziale Hierarchie zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern bei Gewerkschaften gedeutet werden. In dieser Passage findet sich also eine empirische Spur, die impliziert, dass Menschen, die aus einem Gewerkschafts-„Stall“ stammen und einen dementsprechenden „Geruch“ aufweisen, zu den Personen gehören, die „angesprochen werden“, es also für gewöhnlich leichter haben, in eine hauptberufliche Beschäftigung bei Gewerkschaften zu kommen als diejenigen, die dieses Merkmal nicht aufweisen. In diesem Stellenbesetzungsverfahren ist es jedoch genau umgekehrt, denn die Bewerber mit „Stallgeruch“ können sich gerade nicht gegen Sabine Jung behaupten. Was spricht also aus Perspektive der Organisation dafür, die Informantin und nicht die üblicherweise „angesprochenen“ Bewerber einzustellen? Handelt es sich hierbei organisationsperspektivisch um eine Anstellung „trotz“ fehlenden „Stallgeruchs“ oder gerade wegen des fehlenden „Stallgeruchs“, also um ein „weil“-Motiv der Organisation? Die Daten aus den ersten beiden Segmenten der Eingangspassage enthalten Hinweise auf die berufsbiografische Dimension der Anstellungsattraktivität von Sabine Jung für die Gewerkschaft: Erstens engagiert sie sich seit langer Zeit ehrenamtlich im Umfeld von Gewerkschaften, verfügt zweitens über Erfahrungen in der Gremienarbeit sowie drittens über eine einschlägige, weil gewerkschaftsnahe, berufliche Praxis für diese Stelle, die sich durch ein breites Tätigkeitsspektrum auszeichnet.137 Bleiben die Fragen, wie die Identifizierung milieugebundener Akteure tatsächlich vonstatten geht, was einen „Stallgeruch“ ausmacht und welche Bedeutung dieser im Rahmen der Stellenbesetzungen bei der Gewerkschaft gegenwärtig spielt. Zur Erhellung der Abläufe, Bedingungen und Mechanismen gewerkschaftlicher Rekrutierung sollen mit der fortgesetzten Feinanalyse des Datenmaterials weitere empirische Spuren erschlossen werden.
137
Hauptberufliche Stellen beim DGB werden in der Regel offiziell ausgeschrieben. Es liegt ihnen folglich ein nach außen transparentes Profil zugrunde. Zugleich kommen die beiden anderen befragten Gewerkschafter beim DGB ohne formale Bewerbung in ihre hauptberufliche Anstellung. Mein Sample enthält auch in Bezug auf die Einzelgewerkschaften solche empirische Befunde (vgl. hierzu Kapitel III.6).
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III. Empirisch-analytischer Teil
Antritt der Stelle bei der Gewerkschaft Das vierte und letzte Segment der Eingangserzählung thematisiert die berufliche Gegenwart der Informantin und stellt gleichzeitig den Übergang zu dem sich anschließenden Nachfrageteil dar. Es enthält daher bereits Kategorien ihrer beruflichen alltäglichen Arbeit, die nachfolgend en détail beschrieben werden. Sabine Jung schildert insbesondere den Einstieg in ihre hauptberufliche Tätigkeit bei der Gewerkschaft, den sie als belastend empfand. Der von ihr als „turbulent“ bezeichnete Einstieg wird nach dem Erzählgerüstsatz detailliert dargestellt und enthält eine generalisierte Aussage, dass nämlich hauptberuflich bei Gewerkschaften Beschäftigte generell ohne Einarbeitung auskommen müssen: „Ja de- der Einstieg war auch bisschen turbulent weil wie gesagt da grad ´ne Personal (.) lücke bestand seit geraumer Zeit //hm// durch diesen ganzen Wechsel hin und her (.) da blieben sind eben Sachen liegen geblieben ähm (.) da das anonym ist kann ich ja auch sagen dass das allgemein wahrsch- offensichtlich bei den Gewerkschaften so ist also dass is was kritisches ((lacht kurz)) //hm// das das das äh man ohne Einarbeitung auskommt //hm// sozusagen //hm// also dass es dann wirklich Vollschuss (.) ist dass (.) hm dass du alles und nichts machen musst (2) o- also von Finanzen angefangen bis also ´n Haushalt eben bewerkstelligen bis Seminare planen durchführen und ich hatte da- ich hab also in Bundesland X eben die Großveranstaltung Z (.) ne sofort gehabt und (.) da eben auch quer eingestiegen sozusagen den öffentlichen Part dann nur noch mitgemacht //hm// die letzten zwei Wochen war ja im September war ja nicht mehr viel //hm// und (.) hab dann aber die Abwicklung des Ganzen (.) gehabt und hab jetzt praktisch die Vorbereitung zur nächsten also es ist so (.) ne //ah ja hm// das ist halt ´n sehr m- ein sehr großes Projekt was man hier so als (.) DGB Jugend hat //hm// ja (.) sozusagen (.) das war der Einstieg //mhm ja// (2)“.138
An dieser Passage zeigt sich die Bandbreite beruflicher Tätigkeiten der hauptamtlichen Bildungsreferenten, die Sabine Jung in den Stichworten „Finanzen“, „Haushalt“ sowie „Seminare“ unterbringt. Dies schließt die konzeptionelle Erarbeitung von Seminaren, deren inhaltliche Umsetzung und Vermittlung an die Jugendlichen in Form von Seminaren ein. Folglich handelt es sich neben verwaltungs-, finanz- und haushaltstechnischen Aufgaben auch um politische Bildungsarbeit sowie um repräsentative und medienwirksame Tätigkeiten im öffentlichen politischen Raum der Arbeitswelt. Hiermit sind gewerkschaftlich organisierte Großveranstaltungen139, im weiteren Arena-Veranstaltungen genannt, gemeint, 138 139
Auszug aus der Eingangserzählung. Wenn Arenen als soziale Räume, wo Verhandlungen stattfinden, konzipiert sind, können die Hauptakteure einer Arena als Repräsentanten von sozialen Welten angesehen werden (vgl. hierzu ausführlich Abschnitt II.2.1.5). Die in der Passage in Rede stehenden beruflichen Tätigkeiten sind den Kernaktivitäten Paper Work, Sentimental Work sowie Arena-Arbeit zuzuordnen.
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
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die in diesem Fall als eine Demonstration zum Thema Ausbildungsplätze von Jugendlichen mit programmatischen Reden zur Ausbildungssituation im Land konzipiert wird. Sabine Jung verhehlt nicht, dass sie sich mit „liegengebliebener“ und von anderer Hand vorbereiteter Arbeit konfrontiert sah, in die sie ohne Vorbereitung einsteigen musste. Ihr sprachlicher Ausdruck „alles und nichts machen müssen“ deutet darauf hin, dass ihr selbst nicht klar ist, was genau zu ihren Aufgaben gehört. Unmissverständlich jedoch erklärt sie, dass sie sich mit Stellenantritt prompt vielfältigsten beruflichen Anforderungen ausgesetzt sah. Die Kategorie „Vollschuss“ transportiert hierbei sowohl Unmittelbarkeit als auch Breite der beruflichen Anforderungen und die damit verbundene Verantwortung. Diese empirischen Hinweise werfen die Frage auf, ob es sich hierbei tatsächlich um ein allgemeines Merkmal gewerkschaftlicher Personalpolitik handelt, wie die Informantin vermitteln möchte. Gewerkschaften müssten sich dann den Vorwurf einer nachlässigen Personalpolitik im Hinblick auf fehlende Einarbeitungen gefallen lassen. Oder ist es vielmehr eine einzelfallbezogene Besonderheit, die dann zwar in dieser Analyse als Hinweis auf problematische Abläufe in der beruflichen Arbeit der Informantin Berücksichtigung finden muss, aber darüber hinaus keinerlei theoretische Relevanz entfaltet? Meines Erachtens handelt es sich weder ausschließlich um das eine noch um das andere. Ich deute diesen Hinweis als Spur zu den Spezifika gewerkschaftskultureller Rekrutierungspraxis. Kombiniert man nämlich probehalber die empirischen Aussagen zur gewöhnlichen Rekrutierung hauptberuflicher Gewerkschafter aus den eigenen „Ställen“ und das „Nicht-Einarbeiten“ miteinander und nimmt sie als gegebenen Fakt an, dann ist es möglich, die Aussage von Sabine Jung auf eine dritte Art zu lesen: Wenn vor allem Personen in hauptberufliche Anstellung gelangen, die gewerkschaftlich bereits langfristig, zumeist als ehrenamtliche Akteure, Vertrauensleute oder auch als Betriebsräte, in die soziale Welt der Gewerkschaft einsozialisiert sind, benötigen diese aus Organisationsperspektive naheliegenderweise keine Einarbeitung, da sie längst mit dem Kontext vertraut sind. Es könnte dann ferner angenommen werden, dass die Notwendigkeit einer Einarbeitungs- oder Übergabephase im Horizont des Verwaltungsapparates Gewerkschaft schlicht nicht vorkommt, weil sie nicht der Logik der Rekrutierungspraxis entspricht. Was Frau Jung als generelle Kritik an gewerkschaftlicher Stellenbesetzungspraxis formuliert, könnte insofern als Ausdruck eines für die Gewerkschaft charakteristischen Rekrutierungsmechanismus’ über eine ehrenamtliche Einsozialisierung verstanden werden, mit dessen Konsequenzen Frau Jung in ihrer beruflichen Praxis konfrontiert wird. Ob es sich hierbei um eine theoretisch relevante Dimension gewerkschaftlicher Rekrutierungspraxis handelt, soll mit fallübergreifenden Datenanalysen geprüft werden.
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III. Empirisch-analytischer Teil
3) Milieu-Erfahrungen Um im Rahmen der Einzelfallanalyse handlungsleitende Orientierungen für das aktuelle berufliche Handeln von Sabine Jung herausarbeiten zu können, ist es nun erforderlich, einige Passagen des Nachfrageteils heranzuziehen. Zentrale Haltungen werden zumeist anhand von Darstellungen sozialer Beziehungen, in deren Kontext die berufliche Praxis steht, identifizierbar. Die Informantin thematisiert in erster Linie ihre sozialen Kontakte zu ehrenamtlichen Akteuren innerhalb und außerhalb von Gewerkschaften. Geringere Bedeutung entfalten die sozialen Bezüge zu ebenfalls hauptamtlich Tätigen, mit denen Sabine Jung zu tun hat. Insofern konzentriere ich mich an dieser Stelle auf ihre Darstellungen zu sozialen Beziehungen mit ehrenamtlichen Akteuren bei der Gewerkschaft. In diesem Kontext zeigt sich, dass die Informantin mit ihrem beruflichen Handeln soziale Bildungs- und Erziehungsprozesse bei den ehrenamtlich aktiven Jugendlichen befördern möchte: „ne Hoffnung also nnn ganz großes Ziel wwwas ich aber jetzt also das is jetz wirklich auch ne kleine Traumblase wäre denn höchstens also nnn ak- wirklich aktiver Jugendverband der den Alten auf den Füßen rumtritt ja das wär //hm// natürlich schön (1) //hm// also en freches Ding ff- den sich auch n ich finde (1) den sich eigentlich jede Genera- äh jede Organisation leisten sollte weil die natürlich mehr Kohlen aus dem Feuer holen können //hm// oder mal Brände legen wo die Alten nich dürfen //hm// ne weil se eingebunden sind das kann man natürlich dann machen (2) //hm// also zumindestens pff ja mein Anspruch die Leute schon soweit zu bringen zu sagen denkt denkt drüber nach bringt äh macht ne Haltung und (2) gucktähm welche Konsequenz ihr zieht ihr müsst nich in die und die Richtung ziehn aber eben müsst vvvor Augen haben welche Konsequenz möglich wäre(n) so //hm// das is is so was ich so mit politischer Bildung überhaupt mit Arbeit so verbinde (2) //hm// das so n bisschen aufzuzeigen und dann das nicht aufzählen sondern zusammen zu arbeiten zu dem Punkt zu kommen und dann kann also ich schreibe keinem vor wo er hingeht //hm// kann natürlich nicht abstreiten dass man immer weiß ich nicht äh wenn mans au- als wenn mans vorbildhaft tut natürlich Punkte sammelt dabei ne aber (1) //hm// trotzdem immer irgendwie versuchen ihnen da den also nur offen zu halten oder nur zu zeigen (das) alles was du machst hat Konsequenzen und und entweder du reflektierst das und gehst da mit oder du //hm// machst es eben nicht (2).“
Es handelt sich bei der ausgewählten Interviewpassage um die Textsorte Argumentation, die allerdings mit Beschreibungen und auch wörtlicher Rede versetzt ist. Während der erste Teil des Transkriptes gänzlich ohne einen persönlichen Bezug auskommt und somit sehr abstrakt und allgemein gehalten ist, spricht die Informantin im zweiten Teil aus der „Ich-Perspektive“ und reflektiert die eigene Haltung zu ihrer beruflichen Arbeit. Gleichzeitig wird deutlich, dass sie mit der
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Tätigkeit als Jugendbildungsreferentin vor allem „politische Bildungsarbeit“ assoziiert. Es ist ihr einerseits wichtig, die jugendlichen Akteure nicht unreflektiert in eine von ihr favorisierte Richtung zu schicken. Dabei erkennt sie andererseits, dass allein schon ihr eigenes berufliches Handeln ein Modell für die jungen Engagierten darstellt. Ihr ist bewusst, dass sie so als Orientierungsfigur für Heranwachsende fungiert, von der diese sich angezogen oder abgestoßen fühlen können. Als zentral für ihr berufliches Handeln erweist sich, größtmögliche Bewusstheit bei den ehrenamtlichen Akteuren für ihr eigenes Handeln zu fördern und somit deren Reflexionsniveau steigern zu können. Durch die bisherigen Analysen konnten bereits mehrere zentrale Aspekte des beruflichen Handelns Sabine Jungs aufgezeigt werden: Hierzu gehört beispielsweise die Haltung, politische Überzeugungen durch gewerkschaftliche Bildungsprozesse vermitteln zu wollen. Es geht ihr vor allem darum, ehrenamtliche Akteure zu rekrutieren, die aufgrund ihrer inneren Überzeugung Gewerkschaftsmitglied werden und auch bleiben. Die qualitative Dimension gewerkschaftlicher Rekrutierung entfaltet also grundlegende Bedeutung für ihr berufliches Handeln. Von dieser berufsbiografisch motivierten Haltung ausgehend, stellt sie ihre Perspektive auf die ehrenamtlichen Akteure, mit denen sie zu tun hat, an verschiedenen Stellen des Interviews ausführlich dar und äußert sich zu deren Orientierungen, Mitglied der Gewerkschaft zu werden. Zur Plausibilisierung ihrer Haltung setzt sich Frau Jung mit dem bei Gewerkschaften verbreiteten Phänomen der materiellen Gratifikation140 für ehrenamtliches Engagement und dem „Behüten der Ehrenamtler“ auseinander: „Is landläufig so die die (.) würde ich mal sagen Strategie vieler //hm// ne damit so umzugehen ihre ihrer Ehrenämter zu behüten (2) da muss ich sagen bin ich noch nicht mit durch also das weiß ich noch nicht wie ich das mache //hm// also b- eigentlich widerstrebt‘s mir weil ich immer denke das (.) widerstrebt eigentlich auch dem Ehrenämtler der was machen würde //hm// also die jedem jedem Menschen also ich komm ja hm nich irgendwie hin um irgendwem ne also um irgendwas zu genießen (.) dass es mal schön ist dass man einen schönen Seminarort auswählt das ist glaube ich versteht sich von selbst also ungemütlich soll´s ja nich werden //hm// aber ähm ich bin ja eigentlich immer irgendwo weil ich (.) was will //hm// und und und ne gute Taktik (.) hab ich jetzt schon als Beispiel mal gesehen ist halt doch wirklich so lange zu diskutieren (.) oder Fragen zu stellen (.) bis beide Seiten wissen was sie voneinander wollen beziehungsweise //hm// ne oder an so ´n Punkt kommen wo man das man das reflektiert weil dann hat man sich oder man hat sich nich und dann dann
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Es handelt sich bei diesem Terminus um einen üblicherweise für Zuwendungen bzw. Entschädigungen verwandten Begriff für freiwilliges Engagement.
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III. Empirisch-analytischer Teil
muss man natürlich den Mut haben zu sagen so ähm (2) wir machen das jetzt hier nicht um der Zahlen Willen oder so“.141
Sabine Jung distanziert sich in dieser Passage von anderen hauptberuflich Beschäftigten, die die ehrenamtlichen Akteure „behüten“. Hierin drückt sich implizit ihre allgemeine Haltung des Respekts und der Ebenbürtigkeit von Menschen, die in ihrer Individualität immer etwas einzubringen vermögen, aus, denn eine „Behüter-Perspektive“ setzt eine Hierarchie zwischen „Behüter“ und „Behüteten“ voraus. In kritischer Auseinandersetzung mit der materiellen Gratifikation sagt sie: „da muss ich sagen bin ich noch nicht mit durch also das weiß ich noch nicht wie ich das mache“ und zieht so den Ansatz der materiellen Gratifikation als Strategie, die Mitgliederstatistik zu pflegen, in Zweifel. Sie selbst hat sich allerdings noch nicht abschließend eine Meinung dazu gebildet, überträgt jedoch ihre Vorstellungen über Motive, ehrenamtlich tätig zu sein, auf andere engagierte Akteure. So ist an dieser Passage eindrücklich der Wechsel von Darstellungsperspektiven zu erkennen, die zwischen dem persönlichen „Ich“ und dem generalisierendem „Man“ pendeln: Den ehrenamtlichen Akteur treibt nicht der Genuss, sondern das Anliegen, etwas bewegen zu wollen. Hier entwirft die Informantin quasi idealtypisch den ehrenamtlich Handelnden, für den sie selbst Modell gestanden hat. Sabine Jung, langjährig ehrenamtlich in den verschiedensten Kontexten aktiv, engagiert sich auch aktuell neben ihrer hauptberuflichen gewerkschaftlichen Tätigkeit ehrenamtlich für einen lokalen Radiosender. Die Perspektive aus ihrem eigenen ehrenamtlichen Tätigsein bestimmt auch ihren Umgang mit den ehrenamtlichen Akteuren im gewerkschaftlichen Kontext. Diese Tatsache läuft jedoch, und dies ist für ihr umsichtiges berufliches Handeln eine der zentralen Bedingungen, sozusagen nicht „hinter ihrem Rücken“ ab, entzieht sich also nicht ihrer eigenen Reflexion (wie man vielleicht an dieser Passage ablesen möchte). An einer späteren Stelle des Interviews sagt sie nämlich auch explizit: „Da [im Lokalradio; K. B.] hab ich ja nu(r) Ehrenamt und da bin ich nich mehr diejenige die damit ne Existenz am Ende sichern muss //mhm// sozusagen und ähm das federt mich bisschen auf meiner Arbeit jetz auch ab hab ich den Eindruck beziehungsweise leb ich da das Ehrenamt äh ja auch inner Gruppe und weiss warum ich bestimmte Sachen mache und und diesen Maßstab wende ich halt auch bisschen an //mhm// an w- also zumindestens ähm den Blick auf den auf den Hauptamtlichen“.142
141 142
Auszug aus dem Nachfrageteil Auszug aus dem Nachfrageteil.
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
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Hier findet sich ein eindeutiger Beleg dafür, dass die Erfahrungen ihres langjährigen ehrenamtlichen Engagements ihre hauptberufliche Arbeit bei der Gewerkschaft handlungsleitend bestimmen. Ihre ehrenamtliche Arbeit „federt“ die berufliche Arbeit ab und Erstere wird von ihr „gelebt“ und nicht ausgeübt. Der oben idealtypisch gezeichnete ehrenamtliche Akteur steht also Pate für ihr Verhältnis zu den ehrenamtlichen Akteuren im gewerkschaftlichen Zusammenhang und dient somit als zentraler Vergleichshorizont. Dieser entfaltet grundlegende Bedeutung für das berufliche Handeln der Informantin und plausibilisiert jede der anderen herausgefilterten Haltungen der Informantin. Ein Beispiel: Wenn das Ehrenamtlich-Sein aus politischer Überzeugung gelebt wird, schließt dies aus, dass man nur die Mitgliederstatistik pflegt. An einer anderen Stelle im Interview legt Sabine Jung ihre Haltung zur ideellen bzw. materiellen Gratifikation ehrenamtlichen Engagements erneut dar und tut dies wiederum vor dem positiven Vergleichshorizont ihres eigenen freiwilligen Engagements. Sie vergleicht in diesem Kontext innergewerkschaftliches Engagement mit außergewerkschaftlichem Engagement: „Es muss auch schon noch irgendwie ein bisschen so sein dass man auch kommt wegen dem was da ist //hm// ne //hm// also weil (2) finde ich auch auf un- auf das Projekt was ich kenne auch gesehen und auf meine auf meine Kollegen jetzt mal so also außerhalb der Gewerkschaft ((lacht kurz)) also außerhalb meiner Gewerkschaftsorganisation als Arbeitgeber (.) auch nicht ganz fair weil d- ähm (.) weil viele Ehrenamt eben auch nicht damit verbinden oder da eben auch mal ein paar Einbußen mit hinnehmen“.143
Sie äußert sich damit gleichzeitig zu gewerkschaftlichen Rekrutierungsmechanismen, die ihrer Meinung nach, statt materielle Entschädigungen als Anerkennung ehrenamtlicher Arbeit anzubieten, vor allem an Inhalten und Überzeugungen ansetzen sollten. Eine kritische Haltung nimmt sie deshalb auch konsequenterweise ein gegenüber dem verstärkt zu beobachtenden Werben von Mitgliedern durch Mitglieder, denen dieser Werbevorgang vergütet wird: „Aber da gibt es die Mentalität und das ist halt also Leute zu kaufen und ähm (.) das gibt´s überhaupt so diese Bewegung ne also das geht ja bis dahin dass dass gefragt wird ob ob ob sich Ehrenamtler finden ähm die für Geld halt losziehen auch (.) und Mitglieder werben //hm// also auf dieser Provisionsbasis machen inzwischen auch viele Einzelgewerkschaften“.144
143 144
Auszug aus dem Nachfrageteil. Auszug aus dem Nachfrageteil.
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III. Empirisch-analytischer Teil
Dieser Rekrutierungsmechanismus wird von der Befragten kurz darauf ergebnissichernd als „weg von den Werten und Idealen“ bezeichnet. In diesen Sinnzusammenhang stellt sie ebenfalls die Kategorien „Gewerkschaft als Dienstleister“ und „Arbeitnehmer als Kunde“. Diese gewerkschaftlichen Orientierungen stehen Sabine Jungs Haltung entgegen, da es ihr in ihrer beruflichen Arbeit vor allem darum geht, politische Ideale an die nachwachsende Generation jugendlicher ehrenamtlicher Akteure weiterzugeben und sie dadurch an Gewerkschaften zu binden. Sie erkennt in der Aushandlung der zeitlichen und inhaltlichen Dimension politischer Arbeit eine wesentliche Bedingung für einen erfolgreichen Bindungsprozess: „Also ohne Aufgabe ohne Ziel ohne Projekt ist da nichts zu machen und wenn man das einmal gemeinsam durchhat dann dann dann läuft´s meistens auch weil dann //hm// dann hat ja jeder was davon oder (2) denn hä- halten einen andere Dinge //hm// nehme ich mal an als das Materielle hm ja oder also ne ((fragend)) also dieses (.) ph irgendwie nur so ´n Anschluss zu haben an irgend ´ne Gruppe also ich mein es muss schon was los sein das ist (. ) das denke ich auch und das lebt dann auch schon von //hm// von Personen in einer Gruppe ne wer da so //hm// welchen Einfall hat und und und so ´ne Fragen das möch- das das will ich gar nicht abstreiten ich glaub das ist äh sehr wichtig (2)“.145
Neben den Aushandlungsdimensionen Zeit, Inhalte und Ziele sind aus ihrer Perspektive die beteiligten Personen wichtig. In diesem Sinnzusammenhang nimmt sie nun die Kategorisierung „positive und negative Ehrenamtler“ vor. Als positiver Vergleichshorizont dient Sabine Jung wiederum der ambitioniert handelnde Akteur, der wie folgt kontrastiert wird: „Ne nur ist es halt schwierig und das ist halt die (.) die schwierige Variante d- die Leute die von vornherein sehr bewusst darangehen erkennt man halt auch relativ schnell also die auch in ihrer Jugend //hm// Ausprobierphase schon eigentlich das feste Ziel am Ende haben und da schon lernen wie man sich in einem Apparat bewegt (2) sind (.) die schwierigen Kandidaten ne also ich meine Erfahrung ist es am schw- also es gibt (.) gibt auch genug bei denen es die es äh vielleicht sogar auch geplant haben aber irgendwie trotzdem damit anders umgehen also mit ´m gewissen politischen Anspruch oder mit ´m //hm// bisschen Herzblut oder so in so´ne Sachen gehen weil //hm// das heißt ja auch immer du musst viel über die Arbeitszeit hinaus das ist einfach zwangs- also wenn also man muss schon politisch genug sein um das auch noch durchzuführen //hm, hm// abends dann auch noch //hm// oder ne //hm// all so ´ne Sachen (2) aber es gibt eben doch schon (.) a- dis- also ich kann nur für mich
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Auszug aus dem Nachfrageteil.
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
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sagen dass mir das unsympathisch ist (.) leben muss ich damit auch //hm// aber mögen tu ich´s nich“.146
Frau Jung beschreibt hier ehrenamtlich Engagierte in der Gewerkschaft, die „in ihrer Ausprobierphase“ beschließen, später in eine hauptberufliche Position zu wechseln, und differenziert damit in den vorangegangenen Segmenten dokumentierte Mitgliedschaftsentwürfe der „Kundenorientierung“ und der „politischen Beteiligungsorientierung“. Zentrale Orientierung einiger ehrenamtlich aktiver Akteure bei Gewerkschaften sei demnach die bewusst verfolgte Karriere in die Hauptamtlichkeit, wobei sie diese noch weiter ausdifferenziert. Innerhalb der Gruppe derjenigen, die ihre „berufliche Heimat“ bei Gewerkschaften suchten, könnten zusätzlich jene unterschieden werden, die mit der von ihnen geplanten Karriere anders umgehen, weil sie dabei einen „gewissen politischen Anspruch“ hätten und „Herzblut“ einbrächten. Beide Karrieristen seien jedoch „politisch genug“, den Automatismus, der sich mit einer hauptberuflichen Beschäftigung verbinde, über die Arbeitszeit hinaus zu arbeiten, in Kauf zu nehmen. Lediglich eine „Variante“ dieser ehrenamtlichen Akteure trifft bei Sabine Jung auf Antipathie, das sind diejenigen, die schon früh gelernt hätten, „wie man sich in einem Apparat bewegt“. Diese Deutung verdichtet sich mit den nächsten Passagen: “Meine Erfahrung is aber in- damit (3) ähm dass komischerweise die die das mal machen wollen also die dich genau angucken vielleicht deshalb auch also die mal ins Hauptamt wollen dies anvisieren die schärfsten Kritiker sind //hm// an soner Geschichte //hm// also die gucken wirklich auf die Uhr wann kommst du wie //hm// und pipapo oder stellen also ma-machen manchmal Sachen madich oder so ne //mhm// vielleicht weil sie sich schon in ihrer Funktion (daneben) sehen oder (1) //hm// äweiß es nich also so n Abgleich tun“.147
Die Informantin trifft durch die „negative Variante“ des ehrenamtlichen Akteurs auf ein Verhalten, in dem das Augenmerk auf Kontrolle und Strukturen gerichtet ist und das für sie im Sinnzusammenhang des „Apparates“ steht. Diese analytische Spur kann in einen größeren Zusammenhang gerückt werden, wenn man bereits empirisch abgesicherte Haltungen der Informantin hinzunimmt. Dazu gehört der Vorwurf Studierenden, also angehenden Akademikern, gegenüber, stets unpünktlich zu sein und spät aufzustehen, was sich eben auch auf Sabine Jung als ehemalige Studentin bezieht. Es geht im obigen Segment erneut um die Dimensionierung beruflicher Arbeit im Hinblick auf die Zeit. In diesen thematischen Kontext setzt Sabine Jung die Kategorien „Studentenhasser“, „Studenten“, „die, die mal ins Hauptamt wollen“, und den „Apparat“ systematisch in Bezug 146 147
Auszug aus dem Nachfrageteil. Auszug aus dem Nachfrageteil.
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III. Empirisch-analytischer Teil
zueinander. Die bisherigen Hinweise verdichten sich zum Ende des Interviews weiter: „Also ich hab schon den einen Typen angesprochen also mit dem ne ((fragend)) //hm// zu gucken wo man seinen Posten gewinnen kann oder so //hm// dann dabei auch die Intrigen (.) des Erwachsenenverbandes mitspielen //hm// relativ schnell lernen was ist Machtpolitik und da auch relativ schnell in die Spur zu gehen //hm// Gewerkschaftsthemen ad acta zu legen dabei also Mobbing oder so ´ne Sachen sind dann eben auch mal schnell bei der Hand“.148
Die Informantin stellt hier ihre Perspektive zur sozialen Welt der Gewerkschaften dar. So denkt sie diese Welt offenbar in mehreren Subwelten und benennt hier eine explizit, nämlich den „Erwachsenenverband“. Dies ist nicht die einzige Stelle, an der diese Differenzierung von ihr eingebracht wird. Der „Erwachsenenverband“ scheint eine eigene unterschiedene Logik zu besitzen und muss deshalb von Sabine Jung als gesonderte Teilwelt beschrieben werden. Inhaltlich auffällig und in der Interpretation eindeutig ist die negative Konnotation dieser Subwelt, in der „Intrigen“ um die „Macht“ gesponnen werden und „Gewerkschaftsthemen“ obsolet sind. Die Kategorie „Gewerkschaftsthemen“ steht hierbei als positiver Gegenhorizont zu „Mobbing“, beide stellen also einen maximalen Kontrast dar. Der oben dargestellte Sinnzusammenhang kann nun in zwei Sinnzusammenhänge ausdifferenziert werden. In einem verbinden sich „Studentenhasser“, „die, die mal ins Hauptamt wollen“, der „Apparat“, „Erwachsenenverband“, „Intrigen“, „Mobbing“, „Kontrolle“ und „Strukturen“. In einem zweiten vereinen sich „Studenten“, „Kooperation“, „Gewerkschaftsthemen“ und „Überzeugung“. Beide Sinnzusammenhänge unterscheiden offensichtlich entgegengesetzt gerichtete Orientierungen voneinander. Diese können über weitere Detaillierungen der Informantin zu dieser Thematik präzisiert werden: „Aber was wirk- also was ich erlebt hab aber doch größtenteils von den anderen hab ich inzwischen so für mich festgestellt die auch ins Amt wollten die haben sehr viel Wert auf die strukturellen Dinge gele- also auf auf diese ganzen Geschichten auf die Formsachen auf die Machtbalancen auf die Bezeichnungen und ähm haben //hm// in dem Sinne das kopiert was sie im Erwachsenenverband eben auch (.) oft erleben ne jemand hat ein Amt und das Amt ist erst mal zuerst da und dann kommt alles andere hinten dran //hm// so und ähm sehen das dann auch so leben dann auch das Amt //hm// ihr Amt im Landesjugendausschuss //hm// füllen sie dann genauso aus //hm// also n- äh obwohl da nichts ist also da also da da da ist ja nichts dahinter ähm in dem
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Auszug aus dem Nachfrageteil. Diese Detaillierung wurde von der Informantin selbst eingebracht und nicht von der Interviewerin angeregt, weshalb der Beschreibung besondere Bedeutung beigemessen werden kann.
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Sinne //hm// oder es wird gar nicht so richtig abgefragt was denn dahinter ist ein Amt“.149
Zur Perspektive auf die negativ konnotierte Einheit bei Gewerkschaften fügt die Informantin die Kategorien „ein Amt leben“, „Machtbalance“ und „Formsachen“ hinzu, sodass es nunmehr möglich ist, die verdichteten Aussagen zu diesem Sinnzusammenhang analytisch zu fassen. Zugespitzt können also zwei soziale gewerkschaftliche Subwelten identifiziert und unterschieden werden: die soziale Welt des „Jugendverbandes“ und die diametral entgegengesetzte Welt des „Erwachsenenverbandes“. Für die Informantin gehören beide Subwelten zur sozialen Welt der Gewerkschaft. Zur Logik des Jugendverbandes gehören die stark ambitionierten Akteure, die ihr Engagement als gesellschaftliche Beteiligung leben und dabei traditionell gewerkschaftliche Themen miteinander aushandeln. Die idealtypisch gedachten Akteure engagieren sich aus dem Antrieb, etwas politisch bewegen zu wollen, und sind nicht an der materiellen Gratifikation ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit interessiert. Ihnen sind die Inhalte gewerkschaftspolitischer Arbeit wichtiger als die Strukturen, in denen sie stattfindet. Mit dieser Welt können sich deshalb auch (ehemalige) Studenten wie Sabine Jung identifizieren. Im Kontrast zu diesen stehen die negativ konnotierten ehrenamtlichen Akteure, die ihrer Orientierung nach einer zweiten Subwelt, dem „Erwachsenenverband“, zugeordnet werden können. Diese planen frühzeitig, hauptberuflich bei der Gewerkschaft tätig zu werden, und treten konkurrierend gegenüber aktuell hauptamtlich Tätigen auf. Sie legen auf strukturelle Dimensionen sowie auf Formales in der ehrenamtlichen Arbeit großen Wert und können hierfür unter Umständen sogar bereit sein, zentrale Inhalte gewerkschaftlicher Arbeit zu opfern. Diese ehrenamtlichen Akteure sind der materiellen Gratifikation ihres ehrenamtlichen Engagements nicht abgeneigt. Sie können aufgrund dieser Orientierungen als Repräsentanten des „Apparates“ identifiziert werden, dem sie faktisch zwar noch nicht angehören, dessen Logik sie jedoch, diese Zugehörigkeit antizipierend, vertreten. Schwierigkeiten bei der beruflichen Arbeit Wie sich bereits gezeigt hat, ist das berufliche Handeln der Informantin nicht nur durch ihre berufsbiografischen Erfahrungen, insbesondere durch ihre ehrenamtlichen Aktivitäten, geprägt, sondern sie verfügt hierdurch zugleich über einen Vergleichshorizont für ihr hauptberufliches Handeln bei der Gewerkschaft. Der grundlegende Einfluss dieser Erfahrungen entzieht sich dabei nicht ihrer Refle149
Auszug aus dem Nachfrageteil.
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xion, sondern er wird bewusst im Rahmen der sozialen Kontakte herangezogen. Dies schließt die Übernahme der Perspektive der ehrenamtlichen Akteure ein, was für Sabine Jung nicht allzu schwierig ist, da sie ja selbst nach wie vor ehrenamtlich agiert. Dieser Perspektivenwechsel führt dazu, dass die Informantin sehr umsichtig in sozialen Beziehungen agieren kann, Gefahren für freiwillig Engagierte erkennt und diese zu vermeiden bestrebt ist: „also weil Privatheit spielt hier auch ne große Rolle(1) //hm// und und das kann nu nich verlangen von meinem Ehrenamt //hm// um noch mal zu gucken //hm// also ne wie ist die Rollenverteilung da wenn //hm// ich das für mich (1) lebe kann jemand anderes sagen hmm das find ich gut das ist en Vorbild für mich //hm// gebe ich dir genauso zurück das Feedback du kannst es bei mir auch ich kanns aber nich voraussetzen und es auch nicht ständig verkaufen(1) also wwweil äh das ist auch nicht wirklich meine Auffassung is //hm// wenn denn du ne innere Notwendigkeit wo man (sagt) //hm// das is nich unbedingt meine Auffassung für diese Welt //hm// das man das genau so machen soll oder so //hm// also es kann auch jeder ganz normal sein Wochenende und seinen Urlaub mit seiner Freundin oder //hm// mit seinem Freund oder mit Kleinsiehstenich verbringen (1) //hm// ne das ähm (2) is so das und da denk ich is ne große Gefahr was ähm (1) ((atmet tief ein)) was zwangsläufig entsteht weil Hauptamt natürlich sich ja auch rechtfertigen muss permanent vor eben vorstehenden Hauptamt und so weiter //hm mhm// und so weiter in so ne Mentalität zu kommen Leute zu verbrennen und ähm (1) //hm// so wie man vielleicht selbst nah dran is mal verbrannt zu werden auch das denn weiterzugeben (2) //hm// das ist n schwieriges Thema al- ne also da da aufzupassen auch (3) //hm// ja nehm ich an //hm// also da auch wirklich Grenzen ziehen und zu sagen ne den schick da jetzt nich noch ma hin dann fällts ebend aus (2) //hm mhm// ne und und den Druck den Druck ebend auch auszuhalten oder so (2) //hm// der dann kommen kann ne *ihr habt ja- steht ja nicht da und was ist denn das hier jetzt wieder ne oder so* ((mit verstellter Stimme gesprochen)) (3) //hm mhm// also so n also das is ja wahrscheinlich auch ne permanente Selbstreflexion (2) auch zu gucken welche welche welchen Gewinn zieht denn jetzt mein Ehrenamtler daraus wenn er jetzt noch darauf und darauf fährt //hm// bin ich nu wirklich der Überzeugung das is für den das schönste der Welt und da- weil ich weil ich ihn kenne und der findet das total toll und hat jetz- sagt jetz Mensch aber ich war schon zehn Mal und ich würd sagen ei- da tu muss du dir noch antun weil das is jetz wirklich gut also dieses //hm// Seminar oder so das würde dir viel bringen (2) äh dann würd ich’s ja vielleicht machen aber wenn wenn wenn wenn’s denn wirklich (nur) ausartet wir habens auch grad mit dieser ganzen Terminüberschneidung da muss da is es dann schwierig also da- (1) //hm// dann auch mal ein Schuss vorm Bug und sich sagen sich selber sagen so es is Schluss da haste einfach zu viel geplant //hm// oder zuviel gewollt oder nich (2) ne weil die ja alle also weil die ja auch durch doppelten Druck (1) //hm// kommen oder den doppelten Druck durch meinen und dann noch durch die Einzelgewerkschaften //hm// und in den Einzelgewerkschaften die Jugendverantwortlichen dann durch ihre Oberverwaltung oder so (1) //hm// es is ja letztendlich w- is wahrscheinlich deshalb die Mentalität zu
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(s) in Watte zu packen weil d- alle andern haben Druck und denn irgendwann (1) //hm// geht das denn halt dahin und das muss halt auch ausgeglichen werden mit besonders großen Anlässen irgendwann ne (2)“.150
Dieser längere Transkriptauszug dient dazu, die Schwierigkeiten der beruflichen Arbeit im Kontext sozialer Beziehungen zu den ehrenamtlichen Akteuren zu verdeutlichen. Die Informantin sieht die Gefahr für hauptberufliche Akteure, ehrenamtlich engagierte Jugendliche bei der Gewerkschaft zu überfordern. Sie schildert einen Balanceakt ihrer pädagogischen Verantwortung für die jugendlichen Freiwilligen, der zwischen individueller Förderung und Überforderung oszilliert. Gleichzeitig laufe sie selbst als hauptberufliche Akteurin Gefahr, „verbrannt“, also überfordert zu werden. Hierfür macht sie den von der „Oberverwaltung“ ausgehenden Handlungsdruck verantwortlich, der in einem ersten Schritt an hauptberufliche Gewerkschafter vermittelt werde, die nun Gefahr liefen, diesen unreflektiert an die ehrenamtlichen Akteure weiterzugeben. Über die Passage lässt sich ferner die Professionalität der Informantin zeigen, da sie die eigenen und fremden Grenzen beruflicher Arbeit er- und bekennen kann. Die ideelle, aber auch die materielle Gratifikation freiwilligen politischen Engagements durch die Organisation kann insofern als Bewältigungsversuch problematischer Abläufe in der Gewerkschaftsarbeit gedeutet werden – mithin als eine Art Wiedergutmachung an ihren Akteuren, denen man diese tendenzielle Überforderung zumutet. 2.1.3. Analytische Bilanz Sabine Jung Die obenstehende Fallanalyse zeitigt vor allem Erkenntnisse zur Verwobenheit berufsbiografischer Erfahrungen und aktueller hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit. Es konnte gezeigt werden, dass Orientierungen, die sich im Kontext biografischer Erfahrungen herausbilden – hier durch das vielseitige ehrenamtliche Engagement – zentrale Bedeutung für die berufliche Arbeit bei der Gewerkschaft entfalten. Für Sabine Jung stellen diese Erfahrungen einen positiven Vergleichshorizont zu ihrer Tätigkeit als Jugendbildungsreferentin dar, den sie bewusst in ihrer alltäglichen beruflichen Arbeit heranzieht. Der Bedingungsrahmen ihrer in die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit verlaufenen Karriere vereint folgende Merkmale: ein vielseitiges freiwilliges politisches Engagement in außergewerkschaftlichen, kollektiven Handlungsrahmen, eine berufliche Tätigkeit in einem gewerkschaftsnahen Kontext, die dem Profil der gewerkschaftlichen Jugendbildungsarbeit ähnlich ist, sowie ein abgeschlossenes Hochschulstudium. 150
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Die erfolgreiche Besetzung der Stelle als Jugendbildungsreferentin wird vor einem üblichen Stellenbesetzungsverfahren als „ungewöhnlich“ kategorisiert und auf die Tatsache zurückgeführt, dass Sabine Jung zu diesem Zeitpunkt kein Mitglied der Gewerkschaft war und nicht über den üblichen „Stallgeruch“ verfügte. Mit Blick auf die ausgewählten Kernfälle, welche die berufsbiografischen Verläufe der Akteure im mitgliedernahen Bereich von Gewerkschaften in ihrer theoretischen Varianz abbilden und Informationen zu Rekrutierungsprozessen und -mechanismen von hauptberuflichen Akteuren liefern sollen, weist sich der Fall Sabine Jung durch die besonders distanzierte, fremd- und selbstkritische wie auch stark reflektierende Haltung zur eigenen beruflichen Handlungspraxis aus. Ihre reflektorische Distanz und Gelassenheit zur eigenen beruflichen Tätigkeit, die gleichzeitig ein Ausdruck von Professionalität ist, entwickelt sich im Wesentlichen daraus, dass Sabine Jung in ihrer biografischen Entwicklung vor allem in akademischen und politischen Kontexten Erfahrungen gesammelt hat, die vom gewerkschaftlichen Milieu am weitesten entfernt sind.151 Mit dieser Aussage beziehe ich mich sowohl auf das ehrenamtliche Engagement der Informantin in außerhalb der Gewerkschaft liegenden Handlungskontexten (antifaschistische Aktivitätszusammenhänge – „Antifa“), als auch auf ihre universitäre Bildung, also ihre Bindung an akademische Milieus, in denen sie ehrenamtlich einsozialisiert wurde. Sabine Jung entwirft im Interview das idealtypische Modell eines ehrenamtlich Engagierten, für das sie selbst Pate steht. Dieser Akteur wird aus tiefer Überzeugung, etwas bewegen zu wollen und zu können, ehrenamtlich aktiv und findet hierdurch unter Umständen auch seine berufliche Identität und Anstellung. Sabine Jungs Sozialisation in linkspolitischen und universitären Kontexten, ihre hiermit verbundenen Erfahrungen und die daraus entwickelten Orientierungen sind zwar einerseits Voraussetzung, um in die soziale Welt der Gewerkschaft aufgenommen zu werden, führen so zu ihrer Anstellung als hauptberufliche Referentin und prägen ihr berufliches Handeln grundlegend. Andererseits erwächst hieraus eine enge Verbundenheit mit außerparlamentarisch verortbaren politischen Kontexten, die nun im Rahmen ihrer beruflichen Arbeit mit der Organisationslogik ihres Arbeitgebers, der Gewerkschaft, konfrontiert wird, woraus sich berufliche Schwierigkeiten ergeben. Für Sabine Jung erwächst aus diesen differenten Logiken politischen Handelns die Notwendigkeit des Vermittelns, was als handlungsleitende Orientierung der Informantin identifiziert werden konnte. Dieser Vermittlungsprozess vollzieht sich auf zwei Ebenen: Auf der innergewerkschaftlichen, im Hinblick auf ihre Kollegen und die Gewerkschaftsmitglieder, sowie auf der Ebene des Verhältnisses zur nicht-gewerkschaftlichen Welt. 151
Diese Einsicht basiert auf der komparativen Analyse der berufsbiografischen Verläufe aller zehn in die Auswertung einbezogenen Fälle.
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
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Innerhalb der sozialen Welt der Gewerkschaft differenziert die Informantin zwei Subwelten: die soziale Subwelt des „Jugendverbandes“ sowie die diametral entgegengesetzte Subwelt, den „Erwachsenenverband“. Die Logik des „Jugendverbandes“ vertreten stark ambitionierte Akteure, die ihr Engagement als gesellschaftliche Beteiligung leben und dabei traditionell gewerkschaftliche Themen miteinander aushandeln. Die idealtypisch gedachten Akteure engagieren sich aus eigenem Antrieb, etwas politisch bewegen zu wollen, und messen materiellen Gratifikationen ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit wenig Bedeutung bei. Ihnen sind die Inhalte gewerkschaftspolitischer Arbeit wichtiger als die Strukturen, in denen diese stattfindet. Mit dieser Welt können sich deshalb auch (ehemalige) Studenten wie Sabine Jung identifizieren. Eine gegensätzliche Logik hierzu vertreten ehrenamtliche Akteure, die einer zweiten Subwelt, dem „Erwachsenenverband“, zugeordnet werden können. Diese planen frühzeitig, hauptamtlich tätig zu werden, und treten konkurrierend gegenüber aktuell hauptberuflich Tätigen auf. Sie legen auf strukturelle Dimensionen sowie auf Formales in der ehrenamtlichen Arbeit großen Wert und vernachlässigen hierfür unter Umständen zentrale Inhalte gewerkschaftlicher Arbeit. Für diese ehrenamtlichen Akteure entfaltet die materielle Gratifikation ihres ehrenamtlichen Engagements eine größere Bedeutung. Sie können aufgrund dieser Orientierungen als Repräsentanten des Apparates, des organisatorischen Gerüsts der Gewerkschaft, identifiziert werden, dem sie faktisch zwar noch nicht angehören, dessen Logik sie jedoch, diese Zugehörigkeit antizipierend, vertreten. Es schälen sich vier Ausdifferenzierungen gewerkschaftlicher Mitgliedschaftsentwürfe heraus, die weitere Befunde zu Sabine Jungs Perspektive auf die soziale Welt der Gewerkschaft darstellen und als gewerkschaftsbezogene Bedeutungszuschreibungen verstanden werden müssen: • eine Kundenorientierung, die die gewerkschaftliche Mitgliedschaft in erster Linie als eine Dienstleistung begreift, • eine formale Karriereorientierung, die ehrenamtliche Arbeit lediglich als Etappe auf dem Weg in die hauptberufliche Anstellung vorsieht, • eine politisch-ambitionierte Beteiligungsorientierung, die Engagement als Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe und Einflussnahme versteht, wobei Beteiligungsorientierung und formale Karriereorientierung in einem maximalen Kontrast stehen, • ein Mitgliedschaftsentwurf, der hinsichtlich einer hauptberuflichen Anstellung bei Gewerkschaften in einer inhaltlichen Karriereorientierung besteht, die zwar ebenso wie die formale einen Wechsel von der freiwilligen Arbeit in die bezahlte berufliche Arbeit anstrebt, sie jedoch dem Engagement für politische Inhalte unterordnet.
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III. Empirisch-analytischer Teil
Die Analyse bildet zudem die Bandbreite der beruflichen Tätigkeiten Sabine Jungs ab, innerhalb derer sich die soziale Komponente als grundlegend erweist. Es geht hierbei vor allem um ihre sozialen Beziehungen zu ehrenamtlichen Akteuren, die von Respekt, Ebenbürtigkeit und Wertschätzung getragen werden und so zu einem gleichberechtigten, die Hierarchie nivellierenden Umgang führen. Ehrenamtliches Engagement begreift Sabine Jung als Phase des Lernens und Ausprobierens, in der Optionen zur beruflichen Identität und Anstellung entdeckt werden können. Es handelt sich hierbei um ein Beispiel, wie sie eigene lebensund berufsgeschichtliche Erfahrungen in ihre berufliche Arbeit einbringt. Das berufliche Handeln von Sabine Jung ist vor allem durch Erfahrungen ihres eigenen ehrenamtlichen Engagements geprägt. Zentrale Bedeutung im Kontext der sozialen Beziehungen zu ehrenamtlichen Akteuren erlangt zudem die verantwortungsvolle Haltung Sabine Jungs den freiwilligen Akteuren gegenüber, die der Sorge entspringt, sie durch vorzeitiges Hineinziehen in hauptberufliches Handeln zu überfordern. Für die Informantin steht die Förderung von Authentizität über die politische Bildung der nachrückenden freiwilligen Akteure bei Gewerkschaften im Vordergrund ihrer beruflichen Arbeit. Diese grundlegende Orientierung Sabine Jungs widerspricht zugleich einer quantitativ orientierten Rekrutierungslogik. 2.2. Berufsbiografie: Jürgen Teschner 2.2.1. Porträt Jürgen Teschner „ich kann des einfach au net ich kann mich net äh vor die Jugendlichen hinstelln und ihnen Werte beibringen in irgendner Form und selber keine eigenen Werte leben und das versuch ich denen au wirklich zu zeig’n und dadurch bind’i aber auch wirklich die Leute an mich“.152
Jürgen Teschner wurde ebenso wie Sabine Jung Mitte der 1970er Jahre als erstes Kind einer Familie geboren. Als Sohn eines Postbeamten und einer nichterwerbstätigen Mutter wuchs er in einfachen familiären Verhältnissen mit religiöser Prägung im ländlichen Raum Süddeutschlands auf, wovon sein Dialekt noch aktuell zeugt. Er gewöhnte sich früh an, bezahlten Ferientätigkeiten nachzugehen, um sich persönliche Wünsche erfüllen zu können. Nach dem Realschulabschluss absolvierte er eine Berufsausbildung im Straßenbau und erwarb einen Abschluss am Berufskolleg153. Im Zuge seiner Ausbildung wurde er zunächst als zahlendes, also einfaches Gewerkschaftsmitglied geworben, trat jedoch im zwei152 153
Auszug aus dem Nachfrageteil. Vergleichbar mit der Fachhochschulreife.
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
143
ten Ausbildungsjahr, als Vertreter der Auszubildenden (JAVI), in einen Karriereprozess ein, der in einem gewerkschaftlichen Ehrenamt auf Bundesebene gipfelte.154 Über sein langjähriges innergewerkschaftliches ehrenamtliches Engagement auf den verschiedenen Strukturebenen erlangte Jürgen Teschner eine große Vertrautheit mit dem und im gewerkschaftlichen Milieu. Mithilfe der Gewerkschaft durchlief er im Laufe der Zeit sowohl hinsichtlich seiner Persönlichkeit als auch seines sozialen Handelns einen Wandlungsprozess, der ihn bis heute eng an das gewerkschaftliche Milieu bindet. Nach seiner Ausbildung absolvierte er den Wehrdienst, entschloss sich in dieser Zeit, das Fachhochschulstudium Bauwesen aufzunehmen und erhielt im Rahmen der Studienförderung ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung. Gegen Ende des Studiums wurde ihm die vakante Stelle Jugendbildungsreferent beim DGB angeboten, die er annahm und seit seiner Diplomierung im Jahr 2003, zum Zeitpunkt des Interviews bereits seit zwei Jahren, ausübt. Im Rahmen seiner aktuellen Tätigkeit ist Jürgen Teschner für die Jugendbildungsarbeit einer größeren Verwaltungseinheit, Region155 genannt, zuständig. Das Tätigkeitsspektrum erweist sich als sehr vielfältig und umfasst die Rekrutierungs- und Mobilisierungsarbeit, die aufsuchende Bildungsarbeit sowie die Arena-Arbeit. Zur Arena-Arbeit wiederum gehört die Gremienarbeit inner- und außerhalb gewerkschaftlicher Strukturen. In den Kontext beruflicher Bindungsaktivitäten fällt auch die Präsentations- und Dienstleistungsarbeit. Neben extensiver Verwaltungsarbeit sind übergeordnete Tätigkeiten wie fernmündliche, elektronische und persönliche Kommunikations- und Artikulationsarbeit, aber auch Vermittlungs- und Steuerungsarbeit auszuüben. Die berufliche Kernarbeit zielt vor allem auf die Rekrutierung und Bindung neuer Mitglieder, wozu intensives Sentimental Work geleistet werden muss. Jürgen Teschner fokussiert in diesem Kontext beruflicher Aufgaben die berufsbiografische Arbeit mit Jugendlichen.156 Die mit dieser Arbeit verbundenen Reflexionen über das eigene Tun sollen als Evaluationsarbeit begrifflich gefasst werden. Der von Jürgen Teschner durchlebte Wandlungsprozess und hieraus resultierende Schwierigkeiten, die für sein aktuelles berufliches Handeln Bedeutung entfalten, werden nachfolgend anhand von ausgewählten Interviewausschnitten analytisch rekonstruiert.
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Dieses legt er erst nach dem Wechsel in die hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit ab. Es handelt sich um eine von insgesamt elf Regionen, in welche das Bundesland untergliedert wurde. Diese berufliche Aktivität, die eine Besonderheit im Hinblick auf die untersuchten Kernfälle darstellt, wird als spezifische Komponente der Bildungsarbeit, nämlich als Personalentwicklungsarbeit bezeichnet.
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III. Empirisch-analytischer Teil
2.2.2. Fallbeschreibung Jürgen Teschner 1) Stellenbesetzung Hier: Ungewöhnliche Gewerkschaftskarriere Der Stimulus zielt analog zu den anderen geführten Interviews auf die Darstellung des berufsbiografischen Verlaufs in die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit. Insofern identifiziert der Stimulus der Interviewerin Herrn Teschner nicht nur als hauptamtlich Beschäftigten bei der Gewerkschaft, sondern fokussiert unmittelbar den Kontext des dortigen beruflichen Einstiegs. Der Informant reagiert auf den doppelten Stimulus der Interviewerin, indem er sich auf den ersten Teil der Eingangsfrage bezieht, die eine biografische Narration ermöglicht, und benutzt hierfür ein höheres Prädikat, eine sogenannte Präambel, die als Zeichen für ein ausgeprägtes Problembewusstsein gedeutet werden muss: „Ja also wie ich dazu kommen bin isch echt eigentlich ganz abnormal im Gegensatz zu den anderen Kollegen wo mir hier im Haus sitzen obwohl wir jetz auch nen jüngeren Kollegen seit letztes Jahr noch in der Abteilung Jugend haben der wo auch ungefähr auf die gleiche Art und Weise hier mit rein kam“.157
Der Informant bringt zum Ausdruck, dass er auf eine ungewöhnliche Art Gewerkschaftskarriere gemacht habe. Dazu stellt er sich und andere Kollegen in eine Gegensatzanordnung, da sich deren in die hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit verlaufene Karriere von der seinen maximal unterscheidet. Dieser ungewöhnliche Prozess der Stellenbesetzung treffe jedoch nicht nur auf ihn, sondern auch auf einen weiteren „jüngeren Kollegen“ der Abteilung zu, von dem er sich folglich im Hinblick auf die Karriere in die Hauptamtlichkeit minimal unterscheidet. Jürgen Teschner verwendet also, die biografische Erzählorientierung des ersten Stimulusteils aufgreifend, ein höheres Prädikat und betont hierdurch das Außergewöhnliche an seiner in die Hauptamtlichkeit gemündeten Karriere. Er etikettiert, eine Gegensatzanordnung benutzend, den Prozess seiner Gewerkschaftskarriere als „abnormal“. Welche Gründe halten ihn nun dazu an, diese „Vorab-Kennzeichnung“ seiner berufsbiografischen Entwicklung vorzunehmen? Menschen, die häufig zu ihrer Lebensgeschichte befragt werden, entwickeln nicht nur eine gewisse Routine in der Darstellung derselben, sondern suchen diesen lebensgeschichtlichen Prozess bereits vorab zu einem charakteristischen Etikett zusammenzufassen. Für gewöhnlich ist es jedoch so, dass Menschen kaum die Gelegenheit geboten bekommen, erzählend über ihr bisheriges Leben
157
Auszug aus der Eingangserzählung.
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
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nachzusinnen158, was ebenso für Jürgen Teschner gilt. Zur Klärung dieses formalen Phänomens sollen daher textuelle Bezüge herangezogen werden. Der Informant stellt, wie bereits dargelegt, seine persönliche Karriere in einen maximalen Kontrast zu der seiner meisten Kollegen. Aus dieser Tatsache kann man schließen, dass es auf Gewerkschaften bezogen wenigstens zwei Karriereverläufe in die Hauptamtlichkeit geben muss: einen dominanten, der für die meisten Kollegen, und einen abweichenden, der auf ihn und einen weiteren Gewerkschafter zutrifft. Letztere gehören zur Abteilung Jugend, sodass angenommen werden kann, dass hierin wenigstens eine Erklärung für die Abweichung liegt. Ein Textauszug, in dem die üblichen Stellenbesetzungskriterien vom Informanten dargestellt werden, soll dazu beitragen, die Motivation für die gesetzte Präambel zu klären: „weil normalerweise wird dieser Job ausgeschrieben als äh ja Gewerkschaftserfahrung brauchst du //mhm// und solltest du haben dann solltest du nen abgeschlossenes Studium haben das hängt mit öffentliche Mittel zusammen //ah ja// und vor allem solltes dann in den sozpädbereich gehen weil das einfach auch sehr sinnvoll für die Arbeit isch //mhm// was weniger sinnvoll isch wenn man keine Verwaltungserfahrung mitbringt weil das sehr viel Verwaltungsarbeit auch bindet“.159
Jürgen Teschner bringt hier zum Ausdruck, dass es sich bei den Stellen der Jugendbildungsreferenten um öffentlich geförderte Tätigkeiten handelt, die insofern an formale Stellenbesetzungskriterien gebunden sind. Hierzu gehört in erster Linie die öffentliche Ausschreibung der vakanten Stelle sowie die an späterer Stelle genannte Voraussetzung eines abgeschlossenen Studiums. Als erstes inhaltliches Kriterium führt er „Gewerkschaftserfahrung“ an, die somit zu den wichtigsten beruflichen Voraussetzungen gezählt werden kann. Weiter sinnvoll für die Arbeit der Jugendbildungsreferenten sind sozialpädagogische Praxiserfahrungen und solche in der Verwaltungsarbeit, die als sehr ressourcenbindend dargestellt wird. Es wird also, zur der Kontrastfolie „Kollegen“, eine weitere Dimension seiner abweichenden Karriere in diesem Segment eingeführt, nämlich die der üblichen formalen Ausschreibung und die genannten zu erfüllenden beruflichen Voraussetzungen. Inwieweit Herr Teschner sowohl auf formale als auch auf inhaltliche Kriterien bezogen von der üblichen Art, vakante Stellen beim DGB zu besetzen, abweicht, kann mit der weiteren Analyse der Eingangserzählung geklärt werden. Bis hierhin ist festzuhalten, dass bereits der Anfang der berufsbiografischen Erzählung 158
Ausnahmen sind Personen, die im Zentrum öffentlichen Interesses als Prominente stehen oder Klienten der sozialen Arbeit bzw. der Psychiatrie, die häufig die Einschätzung der Professionellen zu ihrer Biografie übernehmen. Beispielsweise: „Ich heiße Klaus und bin Alkoholiker“ – vgl. hierzu ausführlich Riemann 1987. 159 Auszug aus der Eingangserzählung.
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III. Empirisch-analytischer Teil
in formaler Hinsicht auffällig ist und dass diese Auffälligkeit aus den bisherigen inhaltlichen Bezügen nicht vollständig geklärt werden kann, sodass weitere sequenzielle Textanalysen nötig sind. 2) Bildungs- und Partizipationserfahrungen Hier: In den 1990er Jahren als Mitglied für die Gewerkschaft geworben werden Nach dieser allgemeinen Darstellung schildert der Jürgen Teschner seine berufliche Entwicklung bis zur Übernahme der hauptamtlichen Stelle, die mit seiner persönlichen Entwicklung und Entfaltung über die ehrenamtliche Arbeit in politischen, vor allem aber in gewerkschaftlichen Kontexten verbunden ist. Diese Entwicklung beginnt damit, dass er während seiner Ausbildung im Straßenbau für die Gewerkschaft geworben wird: „zu meiner Person (.) ich hab irgendwann mal angefangen nach der Realschule ne Lehre ne Ausbildung zu machen wusste zu diesem Zeitpunkt nich was Gewerkschaften sin //mhm// bin dann irgendwann mal auf der Baustelle da war die IG BAU noch die IG BSE Bausteinerde //mhm// hat mich dann mal nen Kollege angesprochen hat so gemeint so mhm schon nich schlecht inner Gewerkschaft zu sein hascht net Luschst und mir machen des mir machen des mir machen des //mhm// dann bin i heim zum Papa wie man des früher halt noch klassisch g’macht hat und ha den Papa fragt was isch’n Gewerkschaft isch des wichtig mhm sagt der Vatter halt auf schwäbisch da isch ma halt drin ja //mhm, mhm// und des brauch man und da hab ich g’sagt gut dann geh ich da rein.“160
Entgegen der Tendenz, biografisch verkürzt und in Allsätzen zu sprechen, ereignet sich in dieser Passage, die in zwei Erzählsegmente gegliedert ist und zwei Episoden schildert161, ein Sprachregisterwechsel ins Mundartliche, ein Ansteigen des Detaillierungsniveaus und der Einsatz wörtlicher Rede. Dies sind Kennzeichen für Darstellungen, deren Inhalte aus der Perspektive der Informanten eine hohe Relevanz besitzen.162 Es handelt sich also um Ereignisse, die dem Informanten wichtig genug erscheinen, diese ins Detail gehend auszuführen. Im ersten Segment geht es um den persönlichen Werbeversuch der Gewerkschaft. Jürgen Teschner gibt an, zu Beginn seiner Ausbildung nicht gewusst zu haben, „was Gewerkschaften sind“. Daraus kann man schließen, dass über gewerkschaftliche Arbeit im familiären Kontext nicht geredet wurde. Er wird von einem „Kollegen“ persönlich angesprochen, der einerseits verdeutlicht habe, dass die Mit160
Auszug aus der Eingangserzählung. Im ersten Teil stellt der Informant lediglich die Situation der persönlichen Ansprache dar, während er im zweiten Teil die Bedingungen ihres Erfolges, nämlich über die Referenz des Vaters schildert. 162 Vgl. zu Fokussierungsmetaphern Bohnsack 1999. 161
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
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gliedschaft eine wichtige Sache sei, und ihm andererseits schilderte, was die Gewerkschaft macht. Schließlich sei er gefragt worden, ob er nicht Lust hätte, in die Gewerkschaft einzutreten. Da er nicht so recht weiß, wie er mit der Anfrage, Gewerkschaftsmitglied zu werden, umgehen soll, schildert er in einem zweiten Segment, wie er sich in dieser Sache an seinen Vater wendet. Dem Vater wird insofern die Rolle eines signifikanten Anderen zugeschrieben.163 Der zu Hause befragte Vater erweist der Gewerkschaft eine positive Referenz, indem er sagt, dass es dazugehöre, Mitglied der Gewerkschaft zu sein, was darauf schließen lässt, dass er selbst um die Existenz derselben weiß und eine Mitgliedschaft für sinnvoll hält, möglicherweise selbst Mitglied der Gewerkschaft ist, dies jedoch nicht zum Inhalt von Gesprächen innerhalb der Familie gemacht hat. Diese vom Vater ausgestellte Referenz164 führt dazu, dass Jürgen Teschner als Mitglied für die Gewerkschaft geworben wird.165 Jürgen Teschner stammt aus einem Milieu, für das Gewerkschaftsarbeit etwas Neues darstellt, in dem die gewerkschaftliche Mitgliedschaft selbst jedoch als so üblich empfunden wird, dass man nicht darüber redet. So kommt es, dass der jugendliche Jürgen Teschner nicht weiß, was Gewerkschaften sind, und von deren Sinn noch überzeugt werden muss. Karriere im Freiwilligkeitsbereich der Gewerkschaft Mit dem nächsten Segment der Eingangserzählung stellt der Informant seine eigene Karriere als Ehrenamtlicher bei der Gewerkschaft dar. Hieran wird deutlich, dass Herrn Teschners freiwilliges Engagement durch einen Bedingungsrahmen im zweiten Ausbildungsjahr gefördert wird: „Und hab praktisch äh (.) immer mehr gemacht als alle anderen also //hm// ich war nie Klassensprecher zum Beispiel ich hab nie in der Schule was gemacht gehabt ehrenamtlich //ah ja// ja //hm// das hat alles erst mit dem praktisch mit dem zweiten Lehrjahr angefangen“.166
Über den Auslöser, aus seiner passiven gewerkschaftlichen Mitgliedschaft herauszutreten, spricht Jürgen Teschner erst gegen Ende des Interviews: 163
Vgl. zur begrifflichen Verwendung Mead 1968. Es konnte fallübergreifend beobachtet werden, dass eine Gewerkschaftsmitgliedschaft entweder durch Menschen, die dem gewerkschaftlichen Milieu entstammen – ich bezeichne sie als Milieuvermittler –, angebahnt oder durch die Vergabe von Referenzen günstig beeinflusst wird. Hierbei begeben sich Menschen, die aktives oder passives Mitglied der Gewerkschaft sind, in die Rolle eines Referenzträgers. 165 Die Kombination von persönlicher Ansprache und angetragener Werbung erweist sich als zentrale Bedingung sowohl für das Zustandekommen der Mitgliedschaft als auch für das der hauptamtlichen Anstellung. 166 Auszug aus dem Nachfrageteil. 164
148
III. Empirisch-analytischer Teil
„wir hatten fünfzehn Auszubildende ´ne zeitlang und dann waren wir plötzlich nur noch sieben //mhm// und wir wussten dass der Firma net gut geht und wir wollten Informationen und haben wir im Prinzip ´ne einköpfige JAV gegründet //hm// das war net ganz einfach vor allem wurde ich immer boykottiert man durfte nicht zu Betriebsversammlungen //hm// und das hab ich dann irgendwie auch hingekriegt dass ich dann irgendwann dazukonnte aber die Insolvenz war net aufzuhalten also alle Lehrlinge wurden noch fertig und nach mir war noch mal ´n Lehrg- äh Lehrjahr sehr stark //hm// und äh die wurden alle noch fertig und ein Jahr nachdem ich weg war praktisch äh ´98 war der Betrieb dann auch zu“.167
Der Informant beginnt also, wie am Text deutlich geworden ist, seine Karriere in der ehrenamtlichen Gewerkschaftsarbeit im Kontext der Interessenvertretung von Auszubildenden und vertritt sich somit unmittelbar selbst, aber auch die anderen Auszubildenden in einer gegründeten Jugendauszubildendenvertretung (JAV). Er etikettiert die Entfaltung seines gewerkschaftlichen Engagements als „üblich“. Es handelt sich folglich im Verständnis des Informanten um einen natürlichen Ablauf, der als normales Mitglied beginnt, über ehrenamtliche Funktionen auf der Bezirksebene zu jenen auf der Landesebene führt und bis hin zu Ehrenämtern auf der Bundesebene geht: Über die Darstellung des Aufstiegs („vom normalen Mitglied zum äh Bezirksjugendvorsitzender Stellvertreter Vorsitzende Kassierer bis hin zum Landesjugendvorsitzenden das war so meine Karriere eigentlich hier im ehrenamtlichen Bereich in Bundesland Südwest“168) wird implizit mitgeteilt, dass Jürgen Teschner sich im Rahmen seiner ehrenamtlich übernommenen Funktionen für die Gewerkschaft bewährt hat. Aus dem Informanten, der ursprünglich „nicht weiß, was Gewerkschaften sind“, entwickelt sich ein ehrenamtlich aktiver Akteur, der bei der Gewerkschaft Karriere im Freiwilligkeitsbereich macht. Die Art der Darstellung lässt erkennen, dass es sich hierbei um eine selbstverständliche institutionelle Ablaufstruktur handelt, in die ehrenamtliche Akteure bei Gewerkschaften eintreten. Die Überzeugung, dass Gewerkschaften wichtig sind, erfährt im Kontext der eigenen Interessenvertretung eine Vertiefung, die die Basis für ein andauerndes Engagement bilden soll. Mit diesem ehrenamtlichen Engagement ist nicht nur eine politische und gewerkschaftliche Sozialisierung, sondern auch der Erwerb von speziellem Wissen und Kompetenzen, also die Möglichkeit zur Qualifizierung, verbunden.169 Mit der Zeit seines Aufstiegs im Freiwilligkeitsbereich der Industriegewerkschaft (IG) BauSteineErden (BSE) verbindet er auch die „interessante“ Erfahrung, 167
Auszug aus dem Nachfrageteil. Auszug aus der Eingangserzählung. 169 Vgl. zu den Möglichkeiten von Qualifizierungen über politische und soziale Ehrenämter im Kontext sozialer Bewegungen Rucht 1997: 392f. 168
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
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miterleben zu können, wie „Gewerkschaften fusionieren“ und sich dadurch die inneren Strukturen verändern. Das nächste Segment der Eingangserzählung erweist sich als in formaler Hinsicht sehr interessant: Während Jürgen Teschner seine eigene ehrenamtliche Karriere und die Beobachtung der gewerkschaftlichen Fusion in einer unpersönlichen „Man-Sprache“ darstellte, ändert sich diese nun. Inhaltlich stellt der Informant weitere innergewerkschaftliche Strukturveränderungen unter dem Stichwort „Einführung des Prinzips der Zweigliedrigkeit“ dar und greift hierbei zu einer „Wir-Sprache“. Es ist das erste Mal im Interview, dass er aus der Perspektive der Gewerkschaft spricht, sich folglich zu diesem Zeitpunkt als dieser sozialen Welt zugehörig empfindet, sich mit den hier geltenden Orientierungen identifiziert. Das legt die Annahme eines von Jürgen Teschner durchlebten Wandlungsprozesses im Rahmen seines ehrenamtlichen Engagements nahe, wobei diese vorläufige Deutung einer Bestätigung durch weiteres Datenmaterial bedarf. Allerdings darf man bereits die Tatsache, dass der Informant familiär gesehen neuen Aktivitäten nachgeht – ehrenamtlichem gewerkschaftlichem Engagement, wie es in seiner Herkunftsfamilie nicht üblich war –, als Beleg einer erlangten Überzeugtheit für die Sache der Gewerkschaft deuten. Strukturelle Veränderungen in der sozialen Rahmung der Gewerkschaftsarbeit zeitigen personelle Konsequenzen, von denen Jürgen Teschner als ehrenamtlich Engagierter ebenso wie die hauptamtlichen Akteure betroffen ist und die er in einer Hintergrundkonstruktion darstellt: „dann hab ich (.) paar Jahre drauf ham mir im Prinzip diese Zweigliedrigkeit eingeführt bei der Bau das heißt wir haben keine Landesebenen mehr wir haben zwar Regionen //mhm// wo keine äh strukturellen Gremien mehr haben //mhm// sondern sind direkt dem Bundesvorstand zu geordnet und es gibt nur noch den Bezirksverband //achso// aber is auch eine längere Geschichte drumherum weil im Prinzip aus vielen kleinen Bezirksverbänden so wie die Kreise früher ungefähr au’ vom DGB zu Regionen zusammengelegt sind wurden in Deutschland äh in Deutschland (.) in äh Bundesland Südwest aus glaub ehemaligst acht Bezirksverbänden die vier gemacht //mhm// und dann kann man sich jetzt auch so ungefähr vorstellen //mhm// einfach au’ das Land mal durch vier teilen das sind Riesenflächen und da arbeiten teilweise drei bis vier hauptamtliche politische Sekretäre //mhm// und dadurch war die Jugendarbeit für mich schon immer (.) nen Teil mit politische Arbeit weil nie eine volle Jugendsekrestelle- Sekretärsstelle gab //achso// und ich bin damals schon an Berufsschulen gegangen ich bin damals an die Ausbildungszentren gegangen //mhm// hab dort Werbung gemacht hab dort Unterricht gemacht zur Arbeitszeit zu //mhm// Kündigungsschutz zu Tarifrecht //mhm// und das hab ich dann weiter betrieben und
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III. Empirisch-analytischer Teil
nach meine Lehre (.) um den beruflichen Werdegang noch mal vor- zu vollziehen“.170
Anhand dieser Passage erhält man einen guten Eindruck von der sozialen Rahmung hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit, die in diesem Fall unmittelbar durch innergewerkschaftliche Strukturveränderungen, die den Charakter einer Zentralisierung aufweisen, beeinflusst wird. Dass es sich nicht um eine nüchterne Betrachtung veränderter Rahmenbedingungen der Gewerkschaftsarbeit handelt, sieht man bereits an der bildlichen Sprache „Riesenflächen“, für die drei bis vier hauptamtliche Sekretäre zuständig sind.171 Über diese Informationen hinaus wird deutlich, dass Jürgen Teschner bereits als ehrenamtlicher, sich noch in der Ausbildung befindlicher Akteur Tätigkeiten ausführt, die zum Kerngeschäft seiner derzeitigen hauptamtlichen Berufsarbeit gehören. Somit übt er seine späteren beruflichen Tätigkeiten als hauptberuflicher Akteur antizipierend aus. Am Beispiel der Jugendarbeit schildert er implizit die Verringerung personeller Ressourcen, die strukturell verursacht ist und dazu führt, dass die gewerkschaftspolitische Arbeit mit Jugendlichen nicht nur zu einer weiteren beruflichen Aufgabe der politischen Sekretäre wird, sondern von diesen nicht mehr geleistet und an ehrenamtliche Akteure delegiert wird.172 Die Tatsache, dass man dem Informanten diese anspruchsvollen Aufgaben überträgt, impliziert, dass man sie ihm auch zutraut. Man kann folglich davon ausgehen, dass seine bis dahin geleistete ehrenamtliche Arbeit beobachtet und für gut befunden wurde, da man ihm weitere Aufgaben andernfalls sicher nicht übertragen hätte.173 Als ehrenamtlicher Akteur hauptamtliche Tätigkeiten ausführen zu dürfen bedeutet für den Befragten, so kann man sich gut vorstellen, eine Art Auszeichnung und die Möglichkeit, sich weiterhin auszuzeichnen. Gleichzeitig muss man dieses vor-berufliche Handeln, Tätigkeiten zu übernehmen, die zu den beruflichen Aufgaben hauptamtlicher Akteure gehören, als etwas Ungleichzeitiges charakterisieren. Wenn man davon ausgeht, dass vorberufliche Erfahrungen und hier erworbene Orientierungen späteres hauptamtliches Handeln maßgeblich prägen, so darf man gespannt sein, inwiefern diese Erfahrung Bedeutung für das aktuelle Handeln des Informanten erlangt.
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Auszug aus der Eingangserzählung. Vgl. zum Einsatz von Ressourcen für die Betreuung der zunehmend weiträumig aufzusuchenden Mitglieder durch hauptberufliche Akteure die Falldarstellung Ricarda Korn und Regine Bauer. 172 Vgl. hierzu die Darstellung beruflicher Tätigkeiten hauptberuflicher Akteure über die innergewerkschaftliche Aufgabenverteilung in diesem Kapitel. 173 Vgl. zur fallübergreifenden Bedeutung der Beobachtung der Aktivitäten ehrenamtlicher Akteure für den Rekrutierungsprozess hauptberuflicher Gewerkschafter Kapitel IV dieser Arbeit. 171
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
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Lebens- und Berufsplanung nach Lehre und Studium Nach dem Ende der Ausbildung, mit dem zugleich der Erwerb der Fachhochschulreife einher geht, engagiert sich Jürgen Teschner weiterhin freiwillig bei der Gewerkschaft. Er ist zwar nunmehr dem jugendlichen Alter entwachsen, setzt aber dennoch die begonnenen freiwilligen Aktivitäten im Kontext der Jugendarbeit fort. Aus der Betonung dieses auch nach Abschluss der Ausbildung „weiterbetriebenen“ Engagements kann man schließen, dass dies für Herrn Teschner bedeutsam ist, auch wenn zunächst nicht deutlich wird, in welcher Hinsicht. Es könnte sich hierbei allerdings auch um einen weiteren Hinweis auf etwas gleichzeitig Stattfindendes bei der Gewerkschaftsarbeit handeln. Es beginnt für Jürgen Teschner ein längerer Suchprozess um seine berufliche Zukunft, den er selbst explizit mit der Zeit seines Bundeswehrdienstes in Verbindung bringt. Die Entscheidung zum schnell an die Ausbildung angeschlossenen Wehrdienst resultiert aus der fehlenden betrieblichen Perspektive in der insolvenzgefährdeten Firma sowie der eingetretenen Winterarbeitslosigkeit, die drei Monate andauert. Es geht für Jürgen Teschner mit der Aufnahme des Bundeswehrdienstes also auch um das Abwenden einer finanziellen Not. Der Dienst an der Waffe wird von ihm als „unklug“ und „nicht in seinen Lebenslauf passend“ empfunden, was vermutlich auf seine religiöse Haltung zurückgeht. Er realisiert nicht, dass sich ihm hierdurch die Möglichkeit eines time-off eröffnet, die tatsächlich die Chance zur biografischen Orientierung bietet. Er sucht also nach einer beruflichen Tätigkeit – „was wär denn mein Ding“ –, mit der er sich identifizieren kann, und bezieht die Überlegung ein, aus seiner bislang ehrenamtlichen Gewerkschaftsarbeit eine hauptamtliche zu machen: „aber hab dacht so nee das machscht ehrenamtlich das willscht eigentlich net hauptamtlich machen“. Aus diesen Überlegungen heraus entschließt er sich zur Bewerbung an einer Fachhochschule, um das Fach Bauwesen zu studieren. Dieses Studium knüpft thematisch an seine Ausbildung im Straßenbau an und ermöglicht ihm somit die berufsbiografische Anbindung an seine bisherige berufliche Tätigkeit, die fortan freilich eher theoretisch zum Gegenstand seiner Beschäftigung wird. Jürgen Teschner sagt in diesem Zusammenhang: „es war immer mein Ding ich hab seit ich fuffzehn bin auf´m Bau gearbeitet //hm// und von daher bin ich immer mit’m Bau verbunden gewesen //hm// ich hab in meiner Lehre die erste Insolvenz auf´m Bau mitgemacht von hundertzwanzig Leute auf siebenundzwanzig runter //hm// dadurch kennst du ja die ganzen Arbeitsfacetten auch ´n Stück weit //hm// ja und hab ich mir nach´m Bundeswehr überlegt so ´99 was könntest jetzt machen //hm// bin noch mal ´nen Monat zu meinem Betrieb arbei-
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ten gegangen und habe gesagt so Leute das war´s jetzt //mhm// ich geh jetz studieren Semesterferien komm ich dann wieder“.174
Die Entscheidung, ein Studium zu beginnen, wird nicht nur durch die Tatsache der Schließung seines Ausbildungsbetriebes befördert, sondern auch dadurch, dass sich Jürgen Teschner in einem neuen, weitaus größeren Betrieb, von dem im nächsten Textausschnitt die Rede ist, unwohl fühlt, er hier also auch keine berufliche Perspektive sieht: „und dann da war ich in ´ner zweieinhalbtausend Mann Firma und da hab ich mich eigentlich nie wohl gefühlt //hm hm// und das war halt auch so´n Grund warum ich vielleicht jetzt auch nicht mehr zurück bin auf ´n Bau“.175
Parallel zu seinem Studium bleibt er aktiv in der Gewerkschaftsarbeit und entdeckt zusätzlich die Hochschulpolitik als Engagementfeld: „Ich hab den Ehrenpreis der Hochschule gekriegt für meine Arbeit der wurde vier Jahre lang nicht mehr ausgezeichnet //mhm// den haben jetzt nach mir noch mal zwei gekriegt die waren genauso aktiv wie ich //hm// wir war´n ´ne sehr gute äh gute Asta“.176
Jürgen Teschner ist also, so wird deutlich, sowohl in der Gewerkschaft als auch in der Hochschule ehrenamtlich aktiv und erfährt hierfür öffentliche Anerkennung in Form einer Auszeichnung durch die Hochschulleitung. Aus der Darstellung dieses Erzählsegmentes muss man ableiten, dass der Informant bis zum Ende des Fachhochschulstudiums keine Entscheidung zu seiner weiteren beruflichen Arbeit getroffen hat. 3) Stellenbesetzung Hier: Angebot des DGBs: Jugendbildungsreferent und die entscheidungsrelevanten Bedingungen Noch bevor Jürgen Teschner das Studium des Bauwesens beendet hat, setzen, ausgelöst durch ein Angebot des DGB, erneut intensive Überlegungen zu seiner beruflichen Zukunft ein. Er sieht sich aufgrund der Anfrage, ob er die Stelle als Jugendbildungsreferent beim DGB übernehmen möchte, gezwungen, eine berufsbiografische Entscheidung zu treffen, die für seine Zukunft entscheidende Bedeutung entfalten soll. Hierbei gilt es zu entscheiden, ob er im Hinblick auf seinen Ausbildungsberuf und das hier aufgesattelte Studium oder bezogen auf 174
Auszug aus dem Nachfrageteil. Auszug aus dem Nachfrageteil. 176 Auszug aus dem Nachfrageteil. 175
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
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sein ehrenamtliches Engagement berufsbiografisch anschließen will. Bauingenieur oder Gewerkschaftssekretär – diese Frage stellt sich Jürgen Teschner. Seine Überlegungen hierzu sind allerdings in einem Bedingungsrahmen gefangen, der die Erwägungen möglicher beruflicher Alternativen minimalisiert und möglicherweise, so kann man vermuten, vorschnell zugunsten der Gewerkschaftsarbeit getroffen wird. Zu nennen ist zunächst seine Überzeugung, dass die beruflichen Chancen als studierter Bauingenieur gering sind: „und ich hab g’sehn dass sich die (Kurve) sich immer weiter dem Tal zugibt und dass Akademiker noch schlechtere Startchancen haben“177. Interessant an dieser Stelle ist die recht allgemeine Formulierung „Akademiker“, wo es sich doch bei seinem Abschluss um die sehr konkrete Tätigkeit als Bauingenieur handelt. Er ist davon überzeugt, dass sich sein Studium nicht in praktische Berufstätigkeit überführen lässt und ihm andererseits die Möglichkeit fehlt, seine frühere berufliche Tätigkeit wieder aufzunehmen: „und ich konnt’ eigentlich nich mehr in meinen Lehrberuf so richtig zurück //mhm// könnte schon aber ich weiß nicht wie lange des mit meinen körperlichen Kreuz //mhm// dahinten weitergeht“178. Der Informant präsentiert hier eine Dilemma-Situation. Die Phasen Lehre, Bundeswehr und Studium führen in seiner Darstellung nicht zur Aussicht auf einen erfolgreichen beruflichen Einstieg mit dem erworbenen Abschluss, sondern stellen lediglich Durchgangsstadien eines berufsbiografischen Suchprozesses dar. Aufgrund körperlicher Beeinträchtigungen, aber auch weil es seinen Ausbildungsbetrieb, der für ihn eine emotionale und berufliche Heimat symbolisierte, nicht mehr gibt, sieht Jürgen Teschner weder einen Weg zurück in die gelernte Tätigkeit, noch kann er eine berufliche Zukunft als diplomierter Bauingenieur erkennen, sodass seine berufliche Orientierung nicht erfolgreich abgeschlossen werden kann. Erst innerhalb dieser problematisch dargestellten Situation erwächst aus dem ehrenamtlichen Engagement bei der Gewerkschaft eine berufsbiografische Option: „deswegen hab ich dacht gut dann äh gugscht mal was gibt’s denn so anderes und ich hab durch des Jugendcamp wo wir hier in Bundesland Südwest haben //mhm// in Kleinstadt Südwest unten isch ja was einmaliges sehr viel Kontakt zum DGB eigentlich schon gehabt das hat sich //ja// zwar an wenige Personen gemündet //mhm// aber die war’n alle in Jugendstellungen früher bzw. zu dem Zeitpunkt noch als sie mich dann angefragt haben 2003 ob i’ net Luscht hätte hier anzufangen als Jugendbildungsreferent“ 179.
Wiederum werden die Überlegungen aufwändig argumentativ dargestellt, die die Anfrage der mit ihm bekannten hauptberuflichen Jugendsekretäre auslöste. Er 177
Auszug aus der Eingangserzählung Auszug aus der Eingangserzählung. 179 Auszug aus der Eingangserzählung. 178
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III. Empirisch-analytischer Teil
schildert seine Zweifel, ob die hauptamtliche Arbeit eines Gewerkschafters eine berufliche Tätigkeit für ihn sein könnte. Interessant ist die Aussage des Informanten, dass seine Kontakte an „wenige Personen“ gebunden gewesen seien. Diesen wenigen Personen, die Jürgen Teschner ein zweites Mal für die Gewerkschaft, diesmal für eine hauptamtliche Funktion, werben wollen, habe er jedoch „sehr viel zu verdanken“.180 Er reflektiert seinen eigenen Reifungs- und Wandlungsprozess in der Gewerkschaft, der für die Aufnahme der hauptberuflichen Tätigkeit spricht, und erklärt zwei Motive als verantwortlich für seine endgültige Entscheidung, hauptamtlicher Gewerkschafter zu werden: zum einen Gedanken zu finanzieller Existenzsicherung und zum anderen die Unmöglichkeit, in den Ausbildungsbetrieb zurückzukehren. Erstgenanntes Motiv wird von Jürgen Teschner in der Eingangserzählung dargelegt und das zweitgenannte führt er erst gegen Ende des Interviews im Nachfrageteil aus. Für die Analyse des berufsbiografischen Verlaufs werden nun beide Passagen im Verein betrachtet und hier eingefügt: „hab ich sehr lange mit mir gerungen //mhm// hab aber au’ gedacht a lauft mein Hans Böckler Stipendium aus //mhm// und äh b ich hab äh nen Vater der wo seit ich angefangen hab zu studieren Frührentner is //mhm// noch ne kleinere Schwester die noch voll in Ausbildung is die dementsprechend au’ noch mal Kohle braucht meine Mutter is (nur) Haushaltsangestellte dacht gut wenn i’ jetz ne Angebot hab dort anzufangen und relativ gut Geld au’ nen Stück weit verdienen kann //mhm// liege ich denen net auf der Tasche //mhm// und warum soll ich des was ich als Hobby g’macht hab net au’ als Beruf machen ... ma von den inneren Strukturen abgesehen es isch nie alles Gold was glänzt aber das war’s im Betrieb au’ nie //mhm// ich hatte im Betrieb au’ nie ich hatte im Betrieb auch (.) die Möglichkeit der Arbeitslosigkeit mal in die Augen zu schaun ich war einer der wenigen Winterarbeitslosen in 97 //mhm// wo s’ auf’m Bau gab //mhm// frisch von der Lehre kommen in der Probezeit wieder rausgeflogen weil mehrere Sachen vorgefallen sin die (.) jetz nich unbedingt erklärungsbedürftig sin aber die wo zumindescht ich trotz Gewerkschaft nich richtig hingebogen kriegt hab //mhm// und hab praktisch au’ meine negativen Erfahrungen als Gewerkschaftsmitglied schon g’macht wie man sich auf Gewerkschaften verlassen bzw. wie’s au’ umgesetzt wird //mhm// und war dann winterarbeitslos und durch die Winterarbeitslosigkeit und und die Arbeitslosigkeit kann ich auch mittlerweile die die Kids au’ verstehn die wo in diesen Warteschleifen hängen al- wie wie die sich fühlen müssen also //mhm// is war’n die schlimmschte Zeit 97 Dezember bis 98 im März //mhm// war für mich ne Horrorzeit //mhm// drei Monate daheim sitzen es war Winter kalt hast kein Geld //mhm// am ersten Arbeitslosentag hab ich mein Auto noch in’ Graben versengt //mhm// da war also praktisch die ganze Grundexischtenz erst mal weg //mhm// und ich hab nie Geld von daheim kriegt ich hab seit ich 180
Vgl. zu Werbungs- und Rekrutierungsprozessen bei Gewerkschaften das Theoriekapitel (IV) dieser Arbeit.
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
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dreizehn bin hab ich anfangen zu arbeiten für mich selber und hab immer meine Wünsche mir selber erfüllt //mhm// und das war halt au’ son Grund wo ich g’sagt hab äh da lernschte auf jeden Fall au’ dazu dadurch //mhm// für mich isch heut ganz arg wichtig wenn ich immer die ganzen Hartz vier Geschichten höre weil ich da einfach au’ nen Bezug dazu hab //mhm// (.)“181 „Und das äh also das war´n richtig schöner Familienbetrieb und mir hat´s da tierisch Spaß gemacht würd´s heut so was noch geben dann //hm// äh würde ich heut noch in dem Betrieb wahrscheinlich arbeiten //hm// da wäre ich auch net studieren gegangen glaub ich da hätte ich mich betrieblich hochgeschafft“182.
Die oben angeführten Darstellungen offenbaren die dilemmatische berufliche Situation Jürgen Teschners. Zwar lässt sich nicht eindeutig rekonstruieren, um welche „Probezeit“ es sich handelt, in der er „rausfliegt“ und die Erfahrung der „Winterarbeitslosigkeit“ macht, allerdings ist das bedrückende Erleben dieser Zeit in seiner Darstellung dominant und erklärt, weshalb diese Erfahrung für Jürgen Teschner berufsbiografisch als negativer Gegenhorizont zur beruflichen Tätigkeit als Jugendbildungsreferent dient. Was lässt sich nun aus den Darstellungen von Herrn Teschner schlussfolgern? Die in der Eingangserzählung dargestellten Überlegungen des Informanten zur finanziellen Absicherung seiner Person und die dadurch antizipierte Entlastung der Herkunftsfamilie resultieren vor allem aus der erlittenen Arbeitslosigkeit nach der Lehre und einer hiermit verbundenen Hilflosigkeit. Die Erfahrung als ehrenamtlicher Akteur der Gewerkschaft, ohne deren erfolgreiche Vertretung auskommen zu müssen, verdeutlicht das Leidenspotenzial und die Enttäuschung Jürgen Teschners. Die dreimonatige Phase der Winterarbeitslosigkeit kann als Verlaufskurvenepisode in der berufsbiografischen Entwicklung des Informanten gedeutet werden, die durch die Aufnahme des Studiums aktiv beendet wird. Insofern erlangt diese Erfahrung die Bedeutung eines Gegenhorizontes, die im Kontext der Legitimation seiner aktuellen beruflichen Tätigkeit einen rechtfertigenden Charakter aufweist. Ein stichhaltiges Argument für die Annahme der Stelle beim DGB entspringt also einer Absicherungslogik Herrn Teschners: um eine weitere Phase der Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Sicher muss man hierbei seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen berücksichtigen, die er ja bereits zugunsten seiner finanziellen Absicherung durch die berufliche Tätigkeit und das Studium verlassen hatte. Seine berufliche Entscheidung für die Gewerkschaftsarbeit und gegen die Tätigkeit als Bauingenieur erfährt zudem eine Unterfütterung aus einer anderen Richtung, die sich dem zweiten Auszug entnehmen lässt. Hier kann man das Bedauern des Informanten über die Insolvenz des Ausbildungsbetriebes erkennen. 181 182
Auszug aus der Eingangserzählung. Auszug aus dem Nachfrageteil.
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III. Empirisch-analytischer Teil
In diesem Kontext wird von ihm ein zweiter signifikanter Anderer, nach dem Vater, eingeführt: der Inhaber des Familienbetriebes, der bedeutsam für die berufsbiografische Entwicklung Jürgen Teschners ist. Ihm verdankt der Informant nicht nur die Anregung, parallel zur Ausbildung die Fachhochschulreife im Rahmen eines Berufskollegs zu erwerben, sondern sogar den Eintritt in die Ausbildung selbst: „ich hab mit meinem Chef meinem damaligen Chef dadurch dass er halt auch über die Kirche das ganze auch über die Kirche kam hab ich praktisch dort angefangen und der kam auch mit der Idee mach dein Berufskolleg dazu und so //hm// hab auch heut noch sehr guten Kontakt zu ihm“183
Der „Chef“ scheint also insgesamt als Person mit Orientierungsfunktion für Jürgen Teschner gewirkt zu haben.184 Jürgen Teschners Darstellung markiert Beginn und Ende des beruflichen Suchprozesses, der von der Lehre aus-, aber über das Studium hinausgeht. Insofern stellt er selbst das Fachhochschulstudium und den akademischen Abschluss eines Diplom-Bauingenieurs als Etappe seiner Suche dar und wertet beides hierdurch in der Bedeutung herab. Obwohl das Studium einen mehrjährigen persönlichen Aufwand erforderte, bleibt es in der Darstellung des Informanten für den beruflichen Werdegang relativ unbedeutend. Hierdurch erfährt jedoch das kontinuierlich verfolgte ehrenamtliche Engagement, vor allem in der Gewerkschaft, eine Aufwertung, deren Hintergründe noch zu klären sind. Bilanzierend kann festgehalten werden, dass die Entscheidung, die vakante Stelle als hauptamtlicher Jugendbildungsreferent anzutreten, in scheinbarer Ermangelung beruflicher Alternativen sowie aus einer Absicherungslogik heraus in Erwägung gezogen wird. Die Art der Darstellung weist dementsprechend Legitimationscharakter auf. Da die Anfrage, hauptamtlicher Referent zu werden, von vertrauten Personen der Gewerkschaft an ihn persönlich gerichtet wird, kann man annehmen, dass dem Informanten eine abschlägige Antwort schwergefallen wäre Menschen gegenüber, denen er zu Dank verpflichtet ist.
183 184
Auszug aus dem Nachfrageteil. Im Nachfrageteil erklärt Herr Teschner, dass er sehr religiös sei, und betont, dass er deshalb stets ehrlich in sozialen Kontakten, insbesondere ehrenamtlichen Akteuren gegenüber sei. Das Merkmal „religiös“ führte zu Beginn seiner hauptamtlichen Arbeit beim DGB bei Kollegen zu Irrationen: „ich bin halt ne brutal ehrliche Haut weil ich bin sehr religiös das passt in die G’werkschaftsreihen gar net s’war au so ganz am Anfang nen bissel son vorsichtiger Punkt wo sie alle son bissel mhm ((verstellt die Stimme)) Nase hochzog’n ham //ah ja// aber ich hab das alles au immer schön nach außen gekehrt und dann g’sagt hey ich bin religiös ich leb dafür und ich leb au für die Gebote und deswegen (wär) ich nie meinen Ehrenamtlichen anlügen“ (Auszug aus dem Nachfrageteil).
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
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Gleichzeitig ist deutlich geworden, dass der Befragte nur teilweise den eingangs geschilderten Stellenbesetzungskriterien gerecht werden kann, da er weder handlungspraktische Erfahrungen in der Verwaltung noch in der Sozialpädagogik vorweisen kann. Wohl aber verfügt er über einen akademischen Abschluss und ist vor allem in der gewerkschaftspolitischen Arbeit erfahren und erprobt. Auch die formal vorgesehene Ausschreibung spielt im Fall von Herrn Teschner keine Rolle, da diese durch die persönliche Ansprache der hauptamtlichen Jugendsekretäre und deren Werbung, die Stelle anzutreten, ersetzt wird. Hiermit konnten bereits wertvolle Details zur Klärung der Präambel für die berufsbiografische Entwicklung des Informanten identifiziert werden, die jedoch durch die nun folgende Analyse der letzten zwei Segmente der Eingangserzählung ergänzt werden können. Antritt der Stelle beim DGB Die Vermutung, dass es sich beim Antritt der Stelle als Jugendbildungsreferent um eine nicht ausgereifte berufsbiografische Entscheidung handelt, bestätigt sich mit der Analyse dieser beiden letzten Segmente der Eingangspassage. Hierbei erlangt das vorletzte Segment der Eingangserzählung, Präcoda-Segment genannt, ausschlaggebende Bedeutung. Es trägt in der Regel Bilanzierungs- und Einschätzungscharakter, dient also der Bilanzierung des berufsbiografischen Verlaufs, und leitet zur Gegenwartssituation über. Auch Jürgen Teschner bemüht sich zum Ende seiner berufsbiografischen Erzählung um eine solche abschließende Evaluierung, verstrickt sich jedoch immer wieder in Argumentationszwänge, die der Legitimierung seiner aktuellen beruflichen Tätigkeit dienen. Zeitlich gesehen setzt er gerade nicht bei seiner aktuellen Tätigkeit an und führt hierzu Details aus, sondern geht zur Entscheidung für die Stelle beim DGB zurück. Hierbei wägt er, den Zugzwängen der Argumentation ausgesetzt, Vor- und Nachteile seiner derzeitigen Berufsarbeit ab unter Einbezug der uns bereits vorgestellten vermeintlich entscheidungsrelevanten Motive (finanzielle Absicherung und fehlende berufliche Alternativen) für diese Tätigkeit. Es zeichnen sich vor dem Hintergrund der bereits analytisch erfassten Passagen sukzessive zwei Argumentationslinien im Hinblick auf seine aktuelle berufliche Tätigkeit ab: Er rekurriert auf den durchlaufenen persönlichen Wandlungsprozess bei der Gewerkschaft, welcher seine berufliche Entscheidung als gerechtfertigt erscheinen lässt: „und das is eigentlich des was ich sag das macht G’werkschaft für mich persönlich aus das man sich entfalten kann und sich entwickeln kann //mhm// und das man sehr gute Hilfestellung dafür kriegt“.185 185
Auszug aus der Eingangserzählung.
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III. Empirisch-analytischer Teil
Hierbei handelt es sich erneut um die Formulierung eines höheren Prädikates, eines abstrakten Begriffes, der „Entwicklungsoption“, allerdings ist eine solche Entwicklung an eine Bedingung, nämlich die vorhandene „Hilfestellung“ gebunden, was einen zweiten abstrakten Begriff darstellt. Die Gewerkschaft erweist sich aus der Sicht des Informanten als Bildungs-, Qualifizierungs- und Entwicklungskontext, in dem die persönliche Entfaltung junger Menschen ermöglicht und gefördert wird. Diese Argumentationslinie, die ein abschließendes Fazit, eine tragfähige Bewertung der Aufnahme der hauptamtlichen Gewerkschaftsarbeit darstellen könnte, wird nun von einem zweiten Argumentationszug gefolgt: „was ich nen bisschen schade finde isch immer noch wenn man die Jugendlichen anguckt die wo engagiert sind ja des is so wie bei mir auch ich bin aber n- sag i’ mal vielleicht nen anderer anderer Charakter //mhm// aber wenn man heute die Jugendliche anguckt is es immer noch so das sie praktisch von jetz auf nachher die ganzen Ämter aufgelaschtet kriegen //mhm// wenn einer engagiert isch und das man da nich selektiert und die besseren in die Bildung reinkriegt also //mhm// das das merk ich immer noch das is nen Stück weit au’ nen Fehler isch von uns //mhm// das mer die zu schnell (.) nach oben putscht //mhm// ja und das sie dem vielleicht au’ gar net gewachsen sind //mhm, mhm// ja die lassen sich das na klar net anmerken da(s) sie sich unwohlfühlen aber s’ gibt d- dadurch das ich zwölf Jahre bei der Bau jetzt insgesamt aktiv war doch gesehen hab äh wie viel kommen und gehen ja //mhm// und wenn man den Jugendlichen zuviel auflaschtet merkt man des ganz deutlich das sie halt auch schnell wieder resignieren“.186
Der Textauszug veranschaulicht eine zweite Argumentationslinie Jürgen Teschners, die der positiven Bilanz seiner persönlichen Entwicklung über ehrenamtliche Aktivitäten in der Gewerkschaft und der hierdurch erfahrenen Wandlung entgegensteht: Er beschreibt eine als negativ erkannte, weil in Ansätzen selbst erlebte Gefahr der Überforderung durch zu schnelles Hineinziehen der ehrenamtlich aktiven Akteure in das Kerngeschäft der Gewerkschaftsarbeit. Hierbei nimmt der Informant zunächst explizit auf seine eigene Person Bezug „ja des is so wie bei mir auch ich bin aber n- sag i’ mal vielleicht nen anderer anderer Charakter //mhm// aber wenn man heute die Jugendliche anguckt is es immer noch so“ spricht dann jedoch biografisch verdeckt weiter „das sie dem vielleicht au’ gar net gewachsen sind //mhm, mhm// ja die lassen sich das na klar net anmerken da(s) sie sich unwohlfühlen“.
Die zweite Argumentationslinie stellt die positive Bilanz der eigenen persönlichen Entwicklung im gewerkschaftlichen Kontext und die hierauf basierende Rechtfer186
Auszug aus der Eingangserzählung.
2. Berufsbiografische Verläufe in die hauptberufliche Tätigkeit bei Gewerkschaften
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tigung der berufsbiografischen Entscheidung nachträglich wieder infrage. Die eigene Erkenntnis des Gleichzeitigen von ehrenamtlichem und hauptamtlichem Handeln durch vorzeitiges Hineinziehen der jugendlichen Akteure in berufliche Tätigkeiten der hauptamtlichen Sekretäre entwickelt sich zu einer Schwierigkeit in der alltäglichen Arbeit Jürgen Teschners. Wie diese auf eigenen Erfahrungen und Beobachtungen beruhenden beruflichen Schwierigkeiten von ihm bewältigt werden, kann unter Zuhilfenahme der Nachfragepassagen erhellt werden. Zunächst erwächst aus der negativ konnotierten Erfahrung des vorschnellen und daher überfordernden Hineingezogenwerdens in die hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit eine besondere Sensibilität bei Jürgen Teschner im Hinblick auf ehrenamtliche Akteure, mit denen er beruflich zu tun hat. Er ist überzeugt, dass sich die Situation für aktuell engagierte Akteure bei der Gewerkschaft nicht von der seinen damals unterscheidet. Aus dieser spezifischen Sensibilisierung, die sich aus seinen eigenen berufsbiografischen Erfahrungen ergibt, entwickelt er bei seiner beruflichen Arbeit als hauptamtlicher Jugendbildungsreferent eine besondere Haltung. Er möchte verhindern, dass nachrückende jugendliche Akteure bei der Gewerkschaft solche Erfahrungen machen müssen, läuft jedoch durch seine aktuelle berufliche Tätigkeit als Jugendreferent selbst Gefahr, Druck auf junge ehrenamtliche Akteure bei der Gewerkschaft auszuüben. Dies macht die schwierige moralische Situation für Jürgen Teschner aus. Sein bewältigendes Handeln zielt auf eine individuell zugeschnittene Bildungsarbeit, die die jeweiligen Bedürfnisse und Kompetenzen der ehrenamtlich Engagierten berücksichtigt: „es gibt äh von uns dieses Planspiel ready steady go //mhm// das ist ein autobiografisches Planspiel ((holt es vom Schrank)) //aha// wo wir ver-suchen gemeinsam äh mit Kooperationspartnern Bewerbertraining zu machen //mhm// hier hab ich in den letzten halben dreiviertel Jahr also Ende 2005 glaub siebenhundert oder achthundert Jugendliche erreicht in der Region S-Stadt //mhm// über dieses Planspiel //ist ja ´ne Menge// das isch halt auch noch ´ne Arbeit wo viel Aufwand bedeutet viel Kontaktpflege von Betriebsräten“.187
Diese autobiografisch orientierte Bildungsarbeit, die der Berufsfindung junger Menschen dient, nenne ich Personalentwicklungsarbeit, die die zentrale Bedeutung der sozialen Komponente der beruflichen Arbeit Jürgen Teschners verdeutlicht.188 Sein Versuch, die moralische Schwierigkeit seiner beruflichen Anforderungen, die insbesondere auf die Rekrutierung und Mobilisierung der Mitglieder ausgerichtet ist, zu lösen, zeitigt ein Bewältigungshandeln, welches über eine besondere berufsbiografische Sensibilität jugendliche Akteure bei Gewerkschaf187 188
Auszug aus dem Nachfrageteil. Mit dieser Kategorie kann der Strauss’sche Vorrat an Ordnungskategorien zu beruflichen Tätigkeiten in diesem Einzelfall ausdifferenziert werden.
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III. Empirisch-analytischer Teil
ten in ihrer Entwicklung fördern will, ohne die Erfordernisse der Gewerkschaftsarbeit auf ihrem Rücken auszutragen. Das Präcoda-Segment ist vom Wechsel berufsbiografischer Bilanzierungen und immer wieder einsetzenden Argumentationen geprägt, die seine derzeitige hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit zu legitimieren suchen. Diese argumentativen Verstrickungen machen im Verein mit der formalen Auffälligkeit des Erzählanfangs deutlich, dass die Entscheidung, die zur aktuellen Arbeit als Jugendbildungsreferent führte, nicht ausreichend durchdacht, also vorschnell getroffen wurde und mit Tätigkeiten verbunden ist, die für Jürgen Teschner problematisch sind. Andernfalls würde es ihm gelingen, im Hinblick auf seinen eigenen beruflichen Werdegang ein abschließendes Fazit zu ziehen. Stattdessen wird am Text deutlich, dass er einem argumentativen Druck ausgesetzt ist, die ausgeübte Tätigkeit zu legitimieren. Die Unzufriedenheit hinsichtlich seiner derzeitigen beruflichen Tätigkeit schildert er folgendermaßen: „wenn’s wenn’s parallel ne Möglichkeit in der Wirtschaft gegeben hätte wär mir des wahrscheinlich schon lieber gewesen //mhm// aber des Feedback was ich von meinen Jugendlichen krieg lohnt sich hier reinzuhocken //mhm// (.) ma von den inneren Strukturen abgesehen es isch nie alles Gold was glänzt aber das war’s im Betrieb au’ nie“.189
Hier erlangen die sozialen Kontakte und die Arena-Arbeit kompensatorische Bedeutung für Jürgen Teschner. Pro und Kontra zur eigenen beruflichen Arbeit halten sich also in der immer wieder aufflammenden Argumentation des Informanten die Waage und können nicht zu einer abschließenden Bilanz vermittelt werden. Jürgen Teschners reflektorische Distanz zu seinem eigenen beruflichen Werdegang ermöglicht ihm zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht, hinter die Rekonstruktion seiner dilemmatischen berufsbiografischen Entscheidung zu sehen. Stattdessen favorisiert er die berufsbiografische Arbeit mit nachrückenden Freiwilligen, die als Ausdruck für die noch unvermittelte Haltung zu seiner berufsbiografischen Entwicklung verstanden werden kann. Im letzten Segment, Coda genannt, bestätigt sich diese Deutung, da er einleitend, erneut um ein berufsbiografisches Fazit bemüht, sagt: „wie gesagt für mich war halt (.) der Weg hierher oder hier an diesem Schreibtisch war im Prinzip nie vorbestimmt ich wollte des eigentlich nie //mhm// ja s’ war au’ nie meine persönliche Karriere //mhm// ich hätt mir eher nen Betriebsrat (noch) vorstellen können ja oder auch als Ingenieur draussen“.190
189 190
Auszug aus der Eingangserzählung. Auszug aus der Eingangserzählung.
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In dieser Aussage steckt nicht nur die Haltung, dass er die in die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit verlaufene Karriere seinerseits nicht geplant habe, sondern noch immer die Frage, ob er tatsächlich in diesen beruflichen Kontext passe. Er „sitzt auf einer Stelle, die er eigentlich nie wollte“ und mit deren zu leistenden Tätigkeiten er sich „schwertut“. Der Informant benutzt in dieser Passage eine Gegensatzanordnung, die ihn als „immer produktiv arbeitenden Menschen“ in einen maximalen Kontrast zu dem „am Schreibtisch gefesselten“ Menschen setzt, dem die Verwaltungsarbeit nicht liegt und der nunmehr die Früchte seiner Arbeit nicht mehr erkennen kann: „ich seh nix (.) ich bin produktiv arbeitender Mensch immer g’wesen //ja// und bin jetz seit zwei Jahren oder zweieinhalbjahren am Schreibtisch (gesessen) irgendwie //mhm// oder mit unter anderem auch aber die Entschädigung praktisch dafür sind die Aktionen die wo wir machen die Gremienarbeit die mir sehr viel Spaß macht //mhm// und äh praktisch auch die kleinen minimalen Fortschritte //mhm// ich hab hier auch gelernt anderschter zu denken //mhm// das heißt in kleinen Schritten seine Ziele au’ nen Stück weit zu bemessen“.191
Der Textauszug verdeutlicht, dass Jürgen Teschner Schwierigkeiten mit der Routinearbeit seiner beruflichen Tätigkeit hat, was ja auch in anderen Passagen bereits zutage trat: Diese beinhalte viel Verwaltungsarbeit, die keine konkreten Ergebnisse zeitigt. Den Nachteilen dieser beruflichen Arbeit stellt er die ihn entschädigenden sozialen Kontakte zu den ehrenamtlichen Akteuren und die Aktivitäten im Kontext von Großveranstaltungen gegenüber. Er begreift seine Tätigkeit beim DGB als schützende Dacharbeit, unter der sich die Akteure der Einzelgewerkschaften zusammenfinden können, die er über seine Person an sich bzw. die Gewerkschaft habe binden können.192 2.2.3 Analytische Bilanz Jürgen Teschner Im Hinblick auf Jürgen Teschners Berufsbiografie kann Folgendes festgehalten werden: Die Herkunftsfamilie des Informanten kann in einem Milieu der einfachen Verhältnisse mit religiöser Orientierung verortet werden. Eine Lehre wird für den Heranwachsenden mit Realschulabschluss als geeignet anvisiert. Beim Übergang in die berufliche Ausbildung entfaltet ein signifikanter Anderer, dessen Bekanntschaft der Informant über den gemeinsamen kirchlichen Kontext macht, Bedeutung. Dieser steht einem Familienbetrieb vor, in welchem Jürgen 191 192
Auszug aus der Eingangserzählung. Vgl. hierzu die berufliche Orientierung von Sabine Jung als DGB-Jugendbildungsreferentin in diesem Kapitel.
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III. Empirisch-analytischer Teil
Teschner seine Ausbildung zum Facharbeiter für Straßenbau absolviert und hieran gekoppelt die Fachhochschulreife erwirbt. Er wird zunächst als zahlendes Mitglied durch eine persönliche Ansprache und das Wirken eines Referenzträgers (Vater) für die Gewerkschaft gewonnen. Im Kontext eines sich prekär entwickelnden Ausbildungsverhältnisses wird er als gewählter gewerkschaftlicher Vertreter der Auszubildenden aktiv. Er gerät somit durch das Gewerkschaftsmilieu in einen Lern- und Bildungskontext, und es eröffnet sich ihm hierüber eine neue soziale Welt. Im Zuge einer institutionellen Ablaufstruktur erlebt er eine Karriere im Freiwilligkeitsbereich der Gewerkschaft. Hiermit verbunden ist ein Wandlungsprozess, der ihn in seiner persönlichen Entwicklung fördert und in seinen grundlegenden Orientierungen an die soziale Welt der Gewerkschaft bindet. Jürgen Teschner wird durch die Zentralisierung der Gewerkschaftsarbeit im Kontext der Fusionierung von Einzelgewerkschaften bereits als ehrenamtlicher Akteur mit beruflichen Aufgaben der hauptamtlichen Gewerkschafter betraut, welche überfordernde Aspekte mit sich bringen. Über die Analyse des Wandlungsprozesses konnten einige Handlungsschemata der Organisation identifiziert werden. Hierzu zählt die vorzeitige Übernahme hauptamtlicher Tätigkeiten durch ehrenamtliche Akteure, die als Parallelität ehrenamtlichen und hauptamtlichen Handelns charakterisiert wurde; ferner die Fortsetzung freiwilliger Aktivitäten im Kontext der Jugendarbeit über das eigene jugendliche Alter hinaus bzw. das Hineinziehen ehrenamtlicher Tätigkeiten in die hauptamtliche berufliche Arbeit. Über den Karriere- und Wandlungsprozess entwickelt Jürgen Teschner ein tiefes Loyalitätsgefühl der Gewerkschaft gegenüber, die ihn in seiner persönlichen Entwicklung gefördert hat. Die Phasen der Lehre, des Wehrdienstes und des Studiums stellen den suprasegmentalen Zusammenhang einer nicht erfolgreich verlaufenden Suche nach einer beruflichen Identität dar. Die in diesem Kontext identifizierten Verlaufskurvenepisoden – insolvenzgefährdete Firma und unsicherer Status als Auszubildender sowie eine in der Probezeit eingetretene Winterarbeitslosigkeit mit finanzieller Not – entfalten für die aktuelle berufliche Arbeit die Bedeutung eines Gegenhorizontes der Gefährdung. Dieser dient einerseits zur Legitimierung der aktuellen beruflichen Arbeit und sensibilisiert ihn andererseits in seinem Umgang mit Jugendlichen, die über keinen Ausbildungsplatz oder keine Stelle verfügen. Ebenso wie die erste erfolgt auch die zweite Werbung Jürgen Teschners für die hauptamtliche Arbeit bei der Gewerkschaft, als weiteres Handlungsschema der Organisation, durch gewerkschaftliche Referenzträger (Jugendsekretäre), zu denen der Informant im Kontext seiner Karriere als ehrenamtlicher Akteur eine persönliche Bindung aufgebaut hat und die zum Bedingungsrahmen für eine erfolgreiche persönliche Entwicklung bei der Gewerkschaft („Hilfestellung“) gehören.
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Anstelle der für Präcoda und Coda-Segmente üblichen Darstellung der Jetzt-Zeit und einer abschließenden Bilanzierung der eigenen berufsbiografischen Entwicklung legitimiert Jürgen Teschner, weshalb er die Stelle als hauptamtlicher Jugendbildungsreferent angenommen hat. Der Informant wird von einem gewissen Druck getrieben, seine berufliche Entwicklung argumentativ zu legitimieren. Dieser setzt bereits zu Beginn seiner Anfangserzählung ein, zieht sich bis in das letzte Segment der Eingangserzählung und kann somit eindeutig als dominante Aktivität erkannt werden. Herrn Teschners Art der berufsbiografischen Darstellung betont durch eine Gegensatzanordnung das Ungewöhnliche an seiner beruflichen Karriere in die Hauptamtlichkeit und trägt selbst beschwichtigenden Charakter. Hierbei stellt der Informant auf einen äußeren Bedingungsrahmen ab, der die Aufnahme der hauptamtlichen Referententätigkeit als zwingend erscheinen lässt, da ein Eintritt in die berufliche Arbeit des Bauingenieurs nicht möglich und eine finanzielle Existenzabsicherung dringend erforderlich ist. Dass sein berufliches Handeln insbesondere die sozialen Kontakte zu den ehrenamtlichen Akteuren, für deren positive und individuelle Entwicklung er sich verantwortlich fühlt, fokussiert, muss vor dem Hintergrund der moralischen Schwierigkeit seiner Arbeit betrachtet werden. Diese resultiert aus den eigenen Erfahrungen, im Zuge der Zentralisierung gewerkschaftlicher Arbeit als ehrenamtlicher Akteur bereits mit hauptamtlichen Tätigkeiten betraut zu werden. Dem Druck der beruflichen Aufgabe, Mitglieder zu rekrutieren und zu mobilisieren, begegnet er insofern mit einer besonderen Sensibilität für die berufsbiografische Entwicklung der jugendlichen Akteure und entfaltet eine ausgeprägte Personalentwicklungsarbeit, die der sozialen Komponente des beruflichen Handelns zugeordnet werden kann. Hierdurch wird gleichzeitig die getroffene berufliche Entscheidung zugunsten der Gewerkschaftsarbeit immer wieder infrage gestellt. Die beschriebene Parallelität ehrenamtlichen und hauptamtlichen Handelns stellt zentrale Probleme zwischen der beiden Akteursgruppen dar, die im Rahmen institutioneller Ablaufstrukturen stets große Sensibilität der hauptamtlich Beschäftigten erfordern. Es konnte herausgearbeitet werden, dass die freiwilligen Aktivitäten jugendlicher Akteure von hauptamtlichen Akteuren beobachtet und unterstützt werden, es sich jedoch als schwierig erweist, den richtigen Zeitpunkt für einen stärkeren Einbezug der ehrenamtlich Engagierten in das Kerngeschäft der Gewerkschaftsarbeit zu finden. Insbesondere im Kontext von strukturellen Veränderungen der Gewerkschaftsarbeit laufen hauptamtliche Akteure Gefahr, die jungen Freiwilligen zu überfordern, wenngleich solche Karriereprozesse stets auch Möglichkeiten zur Qualifizierung bieten, wie am Fall Jürgen Teschners deutlich wurde. Das zentrale Motiv seiner Entscheidung, sich hauptamtlich der Gewerkschaftsarbeit zu verschreiben, liegt in der intensiven Bindung an die Orientierun-
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gen der sozialen Welt der Gewerkschaft und einer Dankbarkeit für die Möglichkeit, sich persönlich bilden, entwickeln und qualifizieren zu können, die Jürgen Teschner gegenüber wenigen gewerkschaftlichen Referenzträgern empfindet. 3. Komparative Analyse der Fälle Jung und Teschner Partizipations- und Bildungserfahrungen, Stellenbesetzung und Milieu bei Sabine Jung und Jürgen Teschner Nach der ausführlichen Darstellung der beiden Einzelfälle habe ich mich zu einer ersten vergleichenden Betrachtung der Fälle Sabine Jung und Jürgen Teschner entschieden, um fallübergreifende Gemeinsamkeiten und Differenzen herauszuarbeiten. Beider berufsbiografische Entwicklung ist grundlegend durch ihre ehrenamtlichen Aktivitäten geprägt, ihre Bildungsabschlüsse liegen auf einem akademischen Niveau und die gleichaltrigen Akteure sind beim DGB beschäftigt. Neben diesen fallübergreifenden Gemeinsamkeiten liegen die fallbezogenen Unterschiede im unterschiedlichen Verlauf ihrer Berufsbiografie, in einem differenten Besetzungsverfahren ihrer Stellen sowie in ihrem Geschlecht, ihrer sozialen Herkunft und im Ort ihrer beruflichen Tätigkeit (in den Alten bzw. Neuen Bundesländern). Inwieweit beide Fälle übereinstimmende, ihren erfolgreichen Karriereverlauf bedingende Faktoren aufweisen, soll nachfolgend herausgearbeitet werden. Der Fallvergleich dient somit der Identifikation grundlegend rekrutierungsrelevanter Merkmale, welche eine hauptamtliche Beschäftigung bei Gewerkschaften befördern. Die hierüber empirisch-analytisch gewonnenen Kategorien sollen im Anschluss mit zwei weiteren, ebenfalls in einem Kontrast stehenden Fällen konfrontiert werden, um den Kategorienvorrat auf diese Weise überprüfen und ausdifferenzieren zu können. Von einer solchen Darstellung verspreche ich mir zudem, den analytischen Prozess der Kategorienbildung bis zur Erarbeitung eines theoretischen Modells zur gewerkschaftlichen Rekrutierungspraxis transparent halten zu können. Beide vorgestellte Akteure gehören als in der Mitte der 1970er Jahre erstgeborene Kinder der gleichen Generation an. Allerdings unterscheiden sich sowohl das Milieu ihrer Herkunftsfamilien als auch das gesellschaftliche System, in welches sie hineingeboren werden. Während Sabine Jung als Tochter berufstätiger Eltern zunächst im klein-, später im großstädtischen Milieu der DDR aufwächst und auf direktem Weg ihr Abitur erreicht, wird Jürgen Teschner im ländlichen Milieu von einer nichterwerbstätigen Mutter und einem als Beamter tätigen Vater erzogen. Er durchläuft entsprechend seinem Herkunftsmilieu eine
3. Komparative Analyse der Fälle Jung und Teschner
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Realschullaufbahn und erwirbt parallel zu einer Berufsausbildung die Fachhochschulreife, die ihn für sein späteres Studium qualifiziert. Beide Akteure engagieren sich vor ihrer hauptamtlichen Beschäftigung als Jugendbildungsreferent und -referentin aktiv in politischen Kontexten, was sich als zentrale Gemeinsamkeit der beiden Fälle erwies. Dieses politische Engagement stellt eine erste Bedingung für die spätere Rekrutierung bei der Gewerkschaft dar, wobei es sich bei Frau Jung um außergewerkschaftliche und bei Herrn Teschner um gewerkschaftliche Zusammenhänge handelt. Auf der Basis dieser freiwilligen politischen Aktivitäten werden sie als attraktive Akteure für die hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit eingeschätzt, wenngleich Sabine Jungs Engagement sich einer gezielten Beobachtung durch hauptamtliche Gewerkschafter, wie es bei Jürgen Teschner der Fall war, entzieht. Jürgen Teschners Karriereverlauf in die hauptamtliche Bildungsarbeit der Gewerkschaft kann vor den vier von Sabine Jung ausdifferenzierten Mitgliedschaftsentwürfen zunächst als dienstleistungsorientiert, später jedoch, durch die prekäre Entwicklung seiner Ausbildung ausgelöst, als politisch-ambitionierte Beteiligungsorientierung identifiziert werden. Beide Akteure gelangen zwischen 2003 und 2005 in ihre hauptamtlichen Anstellungen beim DGB und entsprechen sowohl durch ihre vorberuflichen Tätigkeiten als auch durch ein abgeschlossenes akademisches Studium prinzipiell den formalisierten Stellenausschreibungen zur Jugendbildungsarbeit bei Gewerkschaften. Schließlich zeigt sich, dass die vorberuflichen Aktivitäten, also das ehrenamtliche politische Engagement, zwar eine Gemeinsamkeit darstellen, doch verlieren sie im Vergleich zu den Unterschieden im Karriereverlauf an Bedeutung. Insbesondere die eigentliche Stellenbesetzung zeigt sich als signifikant verschieden: Sabine Jung durchläuft erfolgreich ein formales Bewerbungsverfahren, während Jürgen Teschner durch informelle Ansprache und Auswahl seine Stelle besetzt hat. Beide Fälle stehen somit insgesamt in einem stärkeren Kontrast als ursprünglich vermutet. Ob es sich hierbei zugleich um einen maximalen Kontrast handelt, kann erst nach Analyse der beiden anderen Kernfälle eingeschätzt werden. Der Kategorienvorrat zur Rekrutierung hauptamtlicher Akteure bei der Gewerkschaft kann nunmehr wie folgt beschrieben werden: Merkmalraum 1: weibliche Akteurin, außergewerkschaftliches politisches Engagement in Verbindung mit formaler Stellenbesetzung und persönlichem Auswahlgespräch, akademisches Bildungsniveau, berufliche Tätigkeit beim DGB, Bindung an politische außergewerkschaftliche Kontexte und akademische Milieus Merkmalraum 2: männlicher Akteur, innergewerkschaftliches politisches Engagement in Verbindung mit informeller Stellenbesetzung, akademisches Bil-
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III. Empirisch-analytischer Teil
dungsniveau, berufliche Tätigkeit beim DGB, Bindung an gewerkschaftskulturelle und akademische Milieus. Bei der komparativen Betrachtung beider berufsbiografischer Verläufe in die gleiche berufliche Tätigkeit als hauptamtliche Jugendbildungsreferenten konnten folgende, eine erfolgreiche Karriere in die hauptamtliche Beschäftigung bei der Gewerkschaft bedingende, Faktoren identifiziert werden, die als fünf fallübergreifende rekrutierungsrelevante Merkmale aufgefasst werden: • als Jugendlicher begonnenes, freiwilliges politisches Engagement als ehrenamtlicher Akteur (1), • die Vertrautheit mit dem Thema politische Bildungsarbeit (2) sowie • die Einbindung in das Gewerkschaftsmilieu, mindestens jedoch ein Zugang zu gewerkschaftlichen Kontexten (3). Hinzukommt die akademische Bildung beider Akteure als formales Stellenbesetzungskriterium (4). Interessant ist, dass sowohl Sabine Jung als auch Jürgen Teschner ihre in die hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit verlaufene Karriere als „ungewöhnlich“ etikettieren (5). Beide rekurrieren auf einen gewöhnlichen Anstellungsverlauf und verweisen insoweit auf Besonderheiten ihres individuellen berufsbiografischen Prozesses. Sabine Jung bezieht sich hierbei explizit auf den ihr fehlenden „Stallgeruch“, der aus der Tatsache resultiert, dass sie zum Zeitpunkt der Anstellung keiner Gewerkschaft angehörte. Obgleich es üblicherweise so ist, dass Stellen bei Gewerkschaften mit Personen besetzt werden, die einen typischen „Stallgeruch“ aufweisen, und bereits an die soziale Welt der Gewerkschaft gebunden sind, wird sie nicht nur ohne diese Bindung angestellt, sondern zudem anderen einschlägigen Mitbewerbern vorgezogen. Jürgen Teschner, der zweifelsohne aufgrund seiner Karriere als freiwilliger politischer Akteur bei der Gewerkschaft diesen „Stallgeruch“ aufweist, führt zu Beginn seiner Eingangserzählung eine Reihe formaler Stellenbesetzungskriterien an. Hierzu gehören eine Ausschreibung der Stelle, Erfahrungen in der Gewerkschafts- und Verwaltungsarbeit, eine akademische Qualifikation und sozialpädagogische Kompetenzen. Die genannten Kriterien zur Besetzung einer Stelle erfüllt Jürgen Teschner nur teilweise. So weist seine Bildungslaufbahn akademische Anteile auf, vor allem aber verfügt er über Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit; wenngleich er den anderen Kriterien nicht entsprechen kann, wird er angesprochen und gebeten, die Stelle als Jugendbildungsreferent anzutreten. Sabine Jung rekurriert in ihrer Darstellung auf einen als typisch und traditionell identifizierbaren Stellenbesetzungsverlauf, von dem sich ihr eigener jedoch absetzt, und Jürgen Teschner nimmt Bezug auf ein formalisiertes Bewerbungsverfahren, von welchem er durch die informelle Art der Besetzung abweicht.
4. Berufsbiografie: Regine Bauer
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Die empirischen Spuren beider Fälle stellen wichtige Hinweise zu den die Rekrutierungspraxis von hauptamtlichen Gewerkschaftern bedingenden Faktoren dar, die als analytische Kategorien bei den weiteren sequenziellen Fallanalysen geprüft und ausdifferenziert werden sollen. Es handelt sich hierbei um folgende in Kategorien gefasste Merkmalräume: Merkmalraum 1: weibliche Akteurin, 1971 bis 1976 Geborene, akademische Bildung, außergewerkschaftliches politisches Engagement in Verbindung mit formaler Stellenbesetzung und persönlichem Auswahlgespräch, Stellenbesetzungszeit zwischen 2000 und 2005, Etikettierung der eigenen Karriere als „ungewöhnlich“, Vertrautheit mit politischer Bildungsarbeit in gewerkschaftsnahem beruflichen Kontext; Prägung der aktuellen beruflichen Arbeit sowie das hieraus resultierende Bewältigungshandeln, insbesondere im Kontext der Rekrutierungspraxis, durch eigene berufsbiografische Erfahrungen; Spezifik der Sozialkomponente Sentimental Work, bei der beruflichen Arbeit: gruppenbezogene Jugendarbeit, die auf die Förderung von politischen Überzeugungen ausgerichtet ist; Anstellungsträger DGB Merkmalraum 2: männlicher Akteur, 1971 bis 1976 Geborener, berufsbezogene und akademische Bildung, innergewerkschaftliches politisches Engagement in Verbindung mit informeller Stellenbesetzung über Beobachtung und persönlicher Ansprache, Stellenbesetzungszeit zwischen 2000 und 2005, Etikettierung der eigenen Karriere als „ungewöhnlich“; Bindung an das gewerkschaftskulturelle Milieu, Prägung der aktuellen beruflichen Arbeit sowie das hieraus resultierende Bewältigungshandeln, insbesondere im Kontext der Rekrutierungspraxis, durch eigene berufsbiografische Erfahrungen; Spezifik der Sozialkomponente Sentimental Work bei der beruflichen Arbeit: individualisierende personenbezogene Jugendarbeit; Anstellungsträger DGB 4. Berufsbiografie: Regine Bauer 4.1. Porträt Regine Bauer „im Moment bin ich wirklich das wird immer krasser (.) dazu da wirklich die Leute aufzurichten dass sie überhaupt noch mal die Traute haben sich zu //hm// rühren //mhm// und ja und das ist eigentlich immer schade //hm// also wenn de zwanzig Leute hast dann klagen vielleicht dann vier davon obwohl wenn sie alle zwanzig zusammenhalten würden wär das ´ne (easy)*geschichte*“.193
193
Auszug aus der Eingangserzählung
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III. Empirisch-analytischer Teil
Regine Bauer wurde Anfang der 1960er Jahre als ältestes von drei Kindern und Schwester von zwei jüngeren Brüdern geboren. Regine Bauer wächst im Kontext der 1968er Bewegung in der alten BRD auf. Sie äußert sich im Verlauf des Interviews von sich aus zur Neuen Frauenbewegung und dazu, als Frau bei der Gewerkschaft zu arbeiten, was als Hinweis auf die biografische Bedeutung dieses Themas gedeutet werden kann. Als sie dreizehn Jahre alt war, starb ihre Mutter. Durch den frühen Tod der Mutter fühlte sie sich veranlasst, stellvertretend die Rolle der Mutter zu übernehmen, versorgte also ihre jüngeren Geschwister und den Vater. Im Rahmen der stellvertretenden Mütterlichkeit in ihrer Familie erwirbt sie Kompetenzen, die für ihr soziales und berufliches Handeln grundlegende Bedeutung erlangen werden. Diese sozialen Kompetenzen werden sowohl im Hinblick auf das Zustandekommen des Interviewtermins als auch in Bezug auf das „Bemuttern“ der demoralisierten Gewerkschaftsmitglieder deutlich. Ergänzend soll hier ein Textauszug vorgestellt werden, der ihre biografische Erfahrung thematisiert: „ja meine Mutter ist gestorben als ich dreizehn war //mhm// und hat mich so ungefähr an ihren Platz gesetzt ich hatte zwei jüngere Brüder fünf und elf //mhm// und da war das selbstverständlich dass man eben die Älteste //mhm// und das denn das sozusagen in die Hand nehmen müssen und das sind genau die Jahre von dreizehn bis achtzehn ich zu Hause ausgezogen bin //mhm// und da war ich auf einmal von einem Tag zum andern musst‘ ich erwachsen sein //mhm// und da fehlt mir einiges“.194
Es handelt sich hierbei um eine Regine Bauers weitere Entwicklung grundlegend prägende biografische Erfahrung, deren zentrale Bedeutung bereits zu Beginn des Interviews angedeutet, jedoch erst aufgrund einer vorsichtigen Nachfrage der Interviewerin im Nachfrageteil ausgeführt wird. Die Erfahrung, als Heranwachsende familiäre Verantwortung tragen zu müssen, führte dazu, dass schulische Verpflichtungen weniger Bedeutung entfalteten und die Befragte ihre Schullaufbahn mit einem Realschulabschluss beendete. Sie absolvierte anschließend zwei Ausbildungen: zunächst die zur Zahnarzthelferin und im Anschluss die zur Bürokauffrau, woraus man schließen kann, dass sie zu diesem Zeitpunkt keine klaren Vorstellungen von einer künftigen beruflichen Tätigkeit hegte. Als Bürokauffrau arbeitete sie in der Verwaltung einer metallfördernden Firma bis zu deren Insolvenz. Aus diesem prekären Arbeitsverhältnis heraus suchte Regine Bauer nach einer anderen Stelle, insbesondere da sie sich zu diesem Zeitpunkt durch den Kauf eines Hauses in eine starke finanzielle Verantwortung begeben hatte und auf ein regelmäßiges Einkommen angewiesen war. Somit hatte sie sehr früh viel zu verlieren. So fand sie bei einem Bildungsträger eine neue berufliche 194
Auszug aus dem Nachfrageteil.
4. Berufsbiografie: Regine Bauer
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Aufgabe. Aufgrund einiger Einschnitte, die die damalige Leitung der Firma im Hinblick auf die Vergütung der Tätigkeit vornahm, trat sie im Verein mit Kollegen in Widerstand, der zum Wunsch der Gründung eines Betriebsrates führte. Im Zusammenhang der Vertretung ihrer Rechte als Arbeitnehmerin bekam sie Kontakt zur Gewerkschaft und erfuhr deren Nützlichkeit. Nach und nach wurde sie durch die Teilnahme an Seminaren in gewerkschaftliche Netzwerke eingeführt und setzte sich mit deren Aktivitäten und Orientierungen auseinander. In ihrer Funktion als Betriebsratsvorsitzende vertrat sie die Rechte der Angestellten des Bildungsträgers bis zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Hierdurch wurde man auf sie aufmerksam und bot ihr eine Teilzeitstelle bei der Gewerkschaft ÖTV an. Regine Bauer sah hierin eine günstige Gelegenheit, den arbeitsrechtlichen Dissonanzen ihres aktuellen Arbeitskontextes zu entfliehen, und trat die Stelle als gewerkschaftliche Verwaltungsangestellte an. Nach fünf Jahren in dieser Tätigkeit wurde sie von einem Gewerkschaftssekretär der IG Bau angesprochen und gefragt, ob sie eine Vollzeitstelle antreten möchte. Sie ergriff dieses Angebot und entschloss sich nach weiteren fünf Jahren zu einer gewerkschaftlichen Weiterbildung an der Akademie der Arbeit. Zur gleichen Zeit erhielt sie die Möglichkeit, an einem Auswahlverfahren für Interessierte an einer hauptamtlichen Gewerkschaftstätigkeit teilzunehmen, welches sie erfolgreich bestand. Hieraufhin schloss Regine Bauer einen Ausbildungsvertrag zu einem innergewerkschaftlichen Curriculum ab, welches der Vorbereitung hauptamtlicher Tätigkeiten als Sekretärin, Sekretär dient. Sie trat ihre Stelle als hauptberufliche Gewerkschaftssekretärin im gleichen Zeitraum an wie Sabine Jung und Jürgen Teschner, im Jahr 2001.195 Regine Bauer ist bei einer Einzelgewerkschaft tätig, der IG BAU, und in ihren berufsbezogenen sozialen Kontakten stärker auf Erwachsene als auf Jugendliche bezogen. Ihre berufsbiografische Entwicklung nimmt einen von den bislang vorgestellten Akteuren gänzlich verschiedenen Verlauf, zeitigt hierdurch eine neue berufsbiografische Merkmalskombination und soll daher einer gründlichen Betrachtung unterzogen werden. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Regine Bauer seit dreieinhalb Jahren Gewerkschaftssekretärin bei der IG BAU. Ihr Tätigkeitsspektrum umfasst die Betreuung der Angestellten von Gebäudereinigungsfirmen, soziale Kontakte zu gewerkschaftlichen Mitgliedergruppen wie die der Frauen und der Jugend, die aufsuchende Bildungsarbeit sowie die Rekrutierung und Mobilisierung von Mitgliedern. Ihre berufliche Arbeit konzentriert sich zunehmend auf die quasimütterliche Betreuung von Mitgliedern sowie auf Tätigkeiten, die sich im Vorfeld der Rekrutierungsarbeit ansiedeln lassen. Hieraus resultiert eine Reihe von 195
Sie ergreift damit ca. 20 Jahre später ihre hauptberufliche Tätigkeit bei der Gewerkschaft als Ricarda Korn, deren Falldarstellung sich anschließt.
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III. Empirisch-analytischer Teil
Schwierigkeiten, welche Regine Bauer die Richtigkeit ihrer berufsbiografischen Entscheidung in Zweifel ziehen lässt. 4.2. Fallbeschreibung Regine Bauer 1) Partizipationserfahrungen Hier: Prekäre berufliche Situationen als Ausgangssituation für ein Stellenangebot der Gewerkschaft Die narrative Frage der Interviewerin zu ihrem persönlichen Weg bis zur hauptamtlichen Beschäftigung bei der IG BAU aufgreifend, beginnt die Informantin ihre berufsbiografische Erzählung mit den Worten: „also bei mir hat das angefangen Anfang der 90er Jahre“196. Diese Einleitung darf als Ausgangspunkt eines längeren Prozesses verstanden werden, der, so ist naheliegenderweise zu vermuten, zur hauptamtlichen Beschäftigung Regine Bauers bei der Gewerkschaft führt. Sie schildert nun ihre prekäre berufliche Situation als Bürokauffrau in einem insolvenzgefährdeten metallfördernden Unternehmen zu Beginn der 1990er Jahre. Ihre dortige Anstellung gibt sie, durch die drohende Insolvenz, erzwungenermaßen auf und findet bei einem „privaten Bildungsträger“ eine neue Anstellung. Bereits in diesen ersten drei Erzählsegmenten zeigt sich eine Absicherungslogik, die dem existenzsichernden Handeln der Informantin zugrunde liegt: „und ich war auch die Letzte da musste mich dann umsehen nach einem neuen Arbeitsplatz hab immer- also es ging ging in die Pleite //mhm// und ich hatte gefragt solange man mich noch braucht //mhm// man möchte mir aber rechtzeitig sagen das ich äh mir was anderes suchen soll weil ich hab mir jetzt grad das Haus gekauft und bin auch auf mein Geld angewiesen und nich das ich hier wie die andern sitze und monatelang //mhm// kein Geld kriege //mhm// so und bis ich dann selber gemerkt habe jetz is der Zeitpunkt gekommen also ich hab mir immer noch mein Geld zurückgehalten das ich mir noch notfalls hätte *was auszahl’n können* ((* lachend gesprochen))“.197
Durch den Kauf eines Hauses hat Regine Bauer früh sehr viel zu verlieren und versucht, indem sie sich ihr Gehalt dosiert auszahlt, eine finanzielle Absicherung zu gewährleisten. Da sie es sich nicht leisten kann, erwerbsuntätig zu sein, sucht sie eine neue Anstellung. Dieses neue Arbeitsverhältnis entwickelt sich zunehmend schwierig, da die Gehälter der Angestellten sukzessive durch die Unternehmensleitung gekürzt werden. Dennoch orientiert sich der Bildungsträger 196 197
Auszug aus der Eingangserzählung. Auszug aus der Eingangserzählung.
4. Berufsbiografie: Regine Bauer
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prinzipiell an den tarifrechtlich vorgesehenen Gehältern, und so bemüht sich Regine Bauer mit einigen Kolleginnen um Information und Unterstützung durch die Gewerkschaft. Da diese lediglich bei gewerkschaftlich organisierten Mitgliedern beratend tätig wird, ist davon auszugehen, dass die Informantin zu diesem Zeitpunkt entweder bereits Mitglied einer Gewerkschaft ist oder sich hier entscheidet, einer Einzelgewerkschaft beizutreten. In diesem Kontext, in dem es für Regine Bauer erneut darum geht, ihre finanzielle Existenz abzusichern, tritt sie mit der Gewerkschaft IG BAU in Verbindung: „und denn hat er denn auch angefangen hier zu streichen da zu streichen und’s war sehr herri*scher** ((lachend gesprochen)) ((lacht kurz)) //hm// Chef und ja da wurd’n wir denn nen bißchen aufmüpfig und haben versucht einen Betriebsrat zu wählen das heißt wir haben uns erstmal erkundigt //mhm// und da wir unter den Bautarif fielen sind wir zur Baugewerkschaft gegangen //mhm// in Z- Kleinstadt und das Kuriose war nachher alle anderen waren weg weil die hatten zum Teil auch Zeitverträge weil sie nur für diese Maßnahmen eingestellt waren die Lehrer und so und da stand ich denn alleine davor und hatte aber Hilfe von dem Geschäftsführer der IG Bau in Z- Kleinstadt“.198
Die Informantin schildert, wie aus der ursprünglich mit anderen gemeinsam geplanten Aktion eine Alleinvertretung ihres eigenen arbeitsrechtlich verbrieften Gehaltes wird. Hierin von dem zuständigen hauptamtlichen Gewerkschaftssekretär unterstützt, gründet sie einen Betriebsrat, dem sie, in Ermangelung personeller Alternativen, vorsteht. In diesem Kontext, so schildert Regine Bauer, kann sie Erfahrungen in der Arbeitnehmervertretung bis zur gerichtlichen Auseinandersetzung vor dem Arbeitsgericht sammeln. 2) Milieu-Erfahrungen Hier: Kontakte zum Gewerkschaftsmilieu Regine Bauer stellt nun mit ansteigendem Detaillierungsniveau und wörtlicher Rede den Prozess ihrer Einführung in das gewerkschaftliche Milieu dar, in dessen Rahmen sie die Gewerkschaftsarbeit und diese ausführende Personen kennenlernt: „und dann hab ich also ja nun- als Gewerkschaftsmitglied Einladungen gekriegt für DGB-Veranstaltungen und und und und dadurch habe ich auch andere Gewerkschaften kennen gelernt //mhm// auch Hauptamtliche zum Beispiel war das der von der ÖTV der Geschäftsführer //mhm// wir kamen dann mal ins Gespräch und ich sage bin da und da Betriebsrat ach sacht der das is mein Badmintonpartner das hat’er mir ja noch gar nich erzählt das er jetz auch nen Betriebsrat in seinem Laden hat und so 198
Auszug aus der Eingangserzählung.
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III. Empirisch-analytischer Teil
kam das und eines Tages hat er mich gefragt (.) ob ich nich Lust hätte bei ihm zu arbeiten“.199
Bei den Einladungen handelt es sich um Angebote der Gewerkschaften zur Weiterbildung ihrer Mitglieder, die der Organisation zugleich die Möglichkeit bietet, in persönlicheren Kontakt zu ihren Mitgliedern zu treten und deren ehrenamtliche Aktivitäten im Bereich der Arbeitnehmervertretung genauer zu verfolgen. So schildert die Informantin das Zustandekommen eines Kontaktes zu einem hauptamtlichen Gewerkschafter der ÖTV, der als Bedingung für das spätere Stellenangebot dargestellt wird. Regine Bauer kommt im obigen Segment auf die Einleitung ihrer berufsbiografischen Erzählung zurück, greift also ihre Haupterzähllinie „wie wurde ich hauptamtliche Gewerkschaftssekretärin der IG BAU“ erneut auf, sodass die bislang analysierten Erzählsegmente diesem Gesamtzusammenhang zugeordnet werden können. Der Bedingungsrahmen für das erste Angebot einer gewerkschaftlichen Anstellung als Verwaltungsangestellte sieht also wie folgt aus: Im Rahmen eines prekären Arbeitsverhältnisses macht Regine Bauer negative Erfahrungen als Arbeitnehmerin und fasst den Entschluss, im Rahmen eines Betriebsrates ihre eigene Vertretung in die Hand zu nehmen. Als gewerkschaftlich aktives Mitglied wird sie zum Besuch von Weiterbildungsseminaren eingeladen und so in das gewerkschaftliche Milieu eingeführt. In diesem Netzwerk ergeben sich persönliche Kontakte zu einem bereits hauptamtlich tätigen Gewerkschafter, der auf die Informantin aufmerksam wird und ihr eine Stelle als Verwaltungsangestellte bei der ÖTV anbietet. Dieses Angebot impliziert, dass die bis dahin von Frau Bauer geleistete ehrenamtliche Arbeit als Betriebsrätin über Beobachtung für gut befunden wurde und dass der anbietende Gewerkschafter sich eine Zusammenarbeit mit ihr persönlich gut vorstellen kann, was auch im Textausschnitt deutlich wird: “und eines Tages hat er mich gefragt (.) ob ich nich Lust hätte bei ihm zu arbeiten“. Unzufriedenheit als Motor einer gewerkschaftlichen Karriere Nach fünf Jahren Teilzeitbeschäftigung als Verwaltungsangestellte bei der Gewerkschaft ÖTV wird Regine Bauer angefragt, ob sie eine Vollzeitstelle in der Verwaltung der IG BAU antreten möchte: „fünf Jahre später (.) hat er mich gefragt ob ich kommen will und denn Vollzeit und da hab ich sofort ja gesacht //mhm// weil ich gemerkt habe das Halbtagsarbeit und
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Auszug aus der Eingangserzählung.
4. Berufsbiografie: Regine Bauer
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Zweitjob und so das is ziemlich nervig gewesen also das alles //mhm// unter einen Hut zu kriegen //hm, mhm// und so bin ich dann zur IG Bau gekommen“.200
Sie schildert hier abschließend ihre Erzählung, wie sie zur IG BAU gekommen ist. Man erfährt nichts über die beruflichen Tätigkeiten ihrer ersten gewerkschaftlichen Anstellung, stattdessen erfährt man, dass sie sich spontan für die nun angebotene Stelle entscheidet. Im weiteren Verlauf der Eingangspassage dienen ihre beruflichen Erfahrungen bei der ÖTV, wie sich gleich zeigen wird, als negativer Gegenhorizont zur beruflichen Arbeit bei der IG BAU. Die nun folgende Detaillierung zu ihrer Arbeit als Verwaltungsangestellte der IG BAU gibt Aufschluss über unterschiedliche Milieus der Gewerkschaft am Beispiel der ÖTV und der IG BAU: Die Informantin leitet die Darstellung mit einer Gegensatzanordnung ein, die beide Gewerkschaften miteinander vergleicht. In dieser vergleichenden Perspektive ist die ÖTV in einer komfortableren Situation als die IG BAU, da sie vor allem Großbetriebe betreue und der Organisationsgrad höher sei als bei der IG BAU, deren Mitglieder zumeist in kleineren Betrieben beschäftigt sind, was die Betreuung erschwere. Dass ihr die berufliche Arbeit bei der IG BAU sehr gefällt, kommt in dieser Passage deutlich zum Ausdruck. Hierzu gehöre sowohl die Ausstattung – sie hat sich ihren „Arbeitsplatz selber einrichten können“ – als auch das soziale Klima in der Verwaltungseinheit. So habe sie beim Einstieg viel Unterstützung und Freude gehabt und sich schnell einarbeiten können. Besondere Betonung findet die Qualität der sozialen Beziehungen zu anderen hauptamtlichen Akteurinnen: „und sehr hilfsbereite Kolleginnen das hab ich noch nie vorher in meinem Berufsleben erlebt //mhm// die haben da haben war immer irgendeine dabei die dann einem ein Bein stellen wollte Konkurrenz und so //hm// das war aber überhaupt nich bei der IG Bau“.201
Regine Bauer teilt mit, dass sie in der Vergangenheit stets in von Konkurrenzen geprägte kollegiale Verhältnisse involviert gewesen sei, was sich nun zu ihrer Erleichterung verändert habe. Die Informantin baut erneut ein Gegensatzpaar zwischen ÖTV und IG BAU auf: „wir konnten als Verwaltungsangestellte über den Geschäftsführer wunderbar auch ähm Betriebsräteseminare mitmachen //hm// das fand ich ganz Klasse gleich zu Anfang //mhm// dass man auch gleich die Gewerkschaftsstruktur kennen gelernt hat in der IG Bau eigentlich ziemlich //hm// viel Leute kennen gelernt hat also (.) das der Laden war ganz schnell n´ offenes Buch für mich was bei der ÖTV eigentlich nie 200 201
Auszug aus der Eingangspassage. Auszug aus der Eingangspassage.
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III. Empirisch-analytischer Teil
war das sind alles //hm// so Eigenbrödler *gewesen* ((* lachend gesprochen)) ne“.202
Die für die IG BAU eingesetzte Metapher „offenes Buch“ transportiert sehr klar, wie leicht Frau Bauer es empfunden hat, deren strukturelle und kulturelle Facetten zu erfassen, was einen positiven Gegenhorizont zu ihren bei der ÖTV gesammelten Erfahrungen darstellt, wo sie es mit „Eigenbrötlern“ zu tun hatte. In diesem angenehmen Arbeitsklima erkennt Regine Bauer schnell Ressourcen der Gewerkschaftsarbeit, und man merkt ihrer Erzählung an, dass sie sich gern diesbezüglich stärker eingebracht hätte, wenn sie nicht durch einen Geschäftsführerwechsel daran gehindert worden wäre: „ja und dann war das auch ganz spannend hab mich auch schnell eingearbeitet hat mir Spaß gemacht und hab ich gesehn man könnt eigentlich noch n´ *bisschen* ((* lachend gesprochen)) mehr machen //hm// das hatt ich auch gesehn (.) aber wir hatten dann Geschäftsführerwechsel und mit dem war das nich mehr so einfach der (.) hat das nich so auf die Reihe gekricht und da hab ich gedacht (.) du kannst nichts ändern oder du kannst ihn nich ändern wir haben alles versucht aber dann wenn du ihn nich ändern kannst musst du dich selber verändern wenn dir das so auf n´ Geist geht“203
Die Veränderung des sozialen Klimas ihrer beruflichen Arbeit durch den Wechsel des Geschäftsführers, mit dem sie nicht mehr so gut zusammenarbeiten konnte wie mit seinem Vorgänger, führt zu dem Wunsch, sich selbst zu verändern. So bittet sie darum, sich über die Akademie der Arbeit für ihre Tätigkeit weiterqualifizieren zu können. Auch hier tritt die ihrem Handeln zugrunde liegende Absicherungslogik deutlich zutage, da sie die elfmonatige Weiterbildung lediglich dann machen möchte, wenn ihr derzeitiger Arbeitsplatz erhalten bleibe. Sie stößt mit ihrem Wunsch nicht nur auf Unterstützung, sondern man ermuntert sie zudem, an einem Auswahlverfahren zur hauptamtlichen Sekretärin teilzunehmen. Da sie dieses erfolgreich besteht, schließt man mit ihr einen sogenannten „Ausbildungsvertrag“ ab, der die Qualifizierung zur hauptamtlichen Gewerkschaftssekretärin curricular regelt: „sie haben mich auch genommen war ich gleich wieder eingestellt dann mit Ausbildungsvertrach hatte immer noch die Option wenn ich das nich schaffe oder nich mehr will oder so dass ich dann aber als Verwaltungsangestellte hier (nach) wieder hinkommen //hm// könnte //hm// hatte dann hier ´ne Nachfolgerin die hat denn erst mal n´ Jahresvertrag gekriegt //mhm// aber die sitzt da heute noch (.).“204 202
Auszug aus der Eingangspassage. Auszug aus der Eingangspassage. 204 Auszug aus der Eingangspassage. 203
4. Berufsbiografie: Regine Bauer
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Die Ausbildung verläuft jedoch problemlos, sodass Regine Bauer in der Nähe ihrer Heimatstadt die erste Anstellung als Gewerkschaftssekretärin besetzen kann: „und dann haben se mich in H-Stadt eingesetzt also eigentlich heimatnah was früher‘n Problem war //hm// das haben se nich gerne gemacht komischerweise haben se´s aber machen se ´s heute eigentlich“.205
Es zeigt sich an dieser Stelle ein Handlungsmuster der Organisation Gewerkschaft: So kann zwischen einem gegenwärtigen und einem vergangenen Prinzip des Einsatzes von hauptamtlichen Gewerkschaftssekretären unterschieden werden. Während früher darauf geachtet wurde, dass die hauptamtlichen Akteure nicht „heimatnah“ eingesetzt wurden, sei eine solche Entscheidung heute üblicher geworden.206 In den folgenden Segmenten schildert die Informantin ihre neuen beruflichen Aufgaben und den sozialen Rahmen, in dem diese Arbeit stattfindet. Hier kommt es erneut zu Dissonanzen mit ihrem Vorgesetzten, die dazu führen, dass sie dort „das Handtuch schmeißt“207. An dieser Formulierung ist zu erkennen, dass Regine Bauer im Kontext der beruflichen Auseinandersetzungen mit dem Vorgesetzten eine Niederlage ihrerseits erkennt und folglich „das Handtuch schmeißt“. Es zeigt sich, dass für Regine Bauer die sozialen Beziehungen ihrer beruflichen Arbeit, vor allem die zu anderen hauptamtlichen Kollegen, große Bedeutung im Rahmen des Interviews einnehmen. Sie thematisiert die Qualität dieser sozialen Bezüge im Vergleich zu den anderen Befragten umfangreicher und auch detaillierter. Auffällig ist darüber hinaus, dass sich ihre Unzufriedenheit stets auf das berufliche Handeln ihrer männlichen Vorgesetzten bezieht, die die Ursache für den jeweils nachfolgenden Stellenwechsel darstellt. Insofern lässt sich sagen, dass sich Regine Bauer in ein Konkurrenzverhältnis zu den in der Hierarchie höher stehenden Männern setzt und die jeweiligen Konflikte durch einen Stellenwechsel, der ihre Karriere in der Gewerkschaft befördert, bewältigt. An diesem Prozess wird zugleich deutlich, dass die Organisation an ihr als hauptamtlicher Akteurin interessiert ist, ihren Aufstieg fördert und im Kontext von Konflikten Ausweichstellen anbietet.
205
Auszug aus der Eingangspassage. Man kann sich an dieser Stelle fragen, welchen Sinn es aus Organisationsperspektive macht, die Akteure der hauptamtlichen Gewerkschaftsarbeit nicht in ihnen bereits bekannten Regionen beruflich einzusetzen. Sofern diese Aussage fallübergreifende Relevanz entwickelt, soll ihr im Rahmen der komparativen Analyse (Abschnitt III.6.2) nachgegangen werden. 207 Auszug aus der Eingangserzählung. 206
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III. Empirisch-analytischer Teil
Berufsbiografische Dilemma-Situation Im vorletzten Segment der Eingangspassage, vor allem aber im ausführlichen Nachfrageteil zur Berufsbiografie thematisiert Regine Bauer ihre derzeitige Tätigkeit als Gewerkschaftssekretärin in K-Stadt. Neben Informationen zur Verteilung von Aufgaben unter den hauptamtlichen Akteuren schildert sie die problematische Zuspitzung ihrer eigenen Tätigkeit auf das Empowerment der Mitglieder: „aber im Moment bin ich wirklich das wird immer krasser (.) dazu da wirklich die Leute aufzurichten dass sie überhaupt noch mal die Traute haben sich zu //hm// rühren //mhm// und ja und das ist eigentlich immer schade //hm// also wenn de zwanzig Leute hast dann klagen vielleicht dann vier davon obwohl wenn sie alle zwanzig zusammenhalten würden wär das ´ne (easy)*geschichte* ((*lachend gesprochen)) //hm// das wäre wunderbar //mhm// aber sie tun´s halt nich obwohl sie zum Teil auch in der Gewerkschaft sind //hm// die machen das nich und manche die kriegst du rucki zucki rum und die wenn die einmal Erfolg hatten dann machen die das auch weiter ne //hm// ohne Rücksicht auf Verluste und die bleiben meistens auch am *längsten* ((*lachend gesprochen)) //hm// in so ´m Laden“.208
Während die Informantin also bislang vornehmlich die Qualität ihrer sozialen Beziehungen zu Kollegen thematisierte, geht es nun um die zu den Mitgliedern, und den Personen, die es potenziell werden könnten. Die sozialen Kontakte werden im Kontext der Vertretung der Arbeitnehmerrechte dargestellt, was darauf hinweist, dass dieser Bereich besondere Relevanz für die Informantin besitzt. Sie beschreibt ein quasisozialpädagogisches Handeln als Tätigkeit im Vorfeld arbeitsrechtlicher Auseinandersetzungen, zu dem sie sich veranlasst sieht, um zu ihrer eigentlichen gewerkschaftspolitischen Arbeit vordringen zu können.209 Implizit teilt sie mit, dass sowohl der Mut als auch die Solidarität unter den Arbeitnehmern abnimmt, da sie sich bei gleichen arbeitsrechtlichen Problemen nicht zusammenschließen und gemeinsam gegen die Arbeitgeber vorgehen. Zugleich wird an dieser kurzen Passage deutlich, dass es bei ihrer beruflichen Arbeit auch darum geht, Überzeugungsarbeit zu leisten („rumkriegen“), damit Arbeitnehmer und Gewerkschaftsmitglieder ausreichend motiviert sind, sich für ihre Rechte einzusetzen. Wenn diese dann nämlich einmal erfolgreich gewesen seien, dann blieben sie am längsten bei der Gewerkschaft. Implizit teilt Regine Bauer uns an dieser Stelle ein biografisches Motiv ihrer beruflichen Arbeit mit, welches grundlegende Bedeutung entfaltet. Ungewusst schildert sie hier ihre eigene Erfolgsgeschichte als Betriebsrätin, die zu einem 208 209
Auszug aus der Eingangserzählung. Diese fallübergreifend relevante Facette des Sentimental Work wird Gegenstand der komparativen Analyse sein (Abschnitt III.6.2).
4. Berufsbiografie: Regine Bauer
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berufsbiografischen Orientierungswechsel führt: Selbst vor die Entscheidung zur Verteidigung ihrer gefährdeten Arbeitnehmerinnenrechte gestellt, entschließt sie sich für den Eintritt in die Gewerkschaft und zu einem Engagement als Betriebsrätin. Dies stellt die Ausgangsbedingung für ihre weitere Karriere bei der Gewerkschaft dar. Obgleich sie auf verschiedenen Ebenen immer wieder mit Schwierigkeiten bei der Umsetzung ihrer beruflichen Arbeit konfrontiert wird, ist sie ausreichend motiviert, diese Tätigkeit fortzuführen. Der tatsächliche Grad ihrer Unzufriedenheit offenbart sich zum Ende des Interviews: „also wenn ich das äh wieder rückg- gängig machen könnte ich würde auch wieder gern als Verwaltungsangestellte arbeiten weil das is einfach einfacher //mhm// und ich ähm kann hab man hat das Gefühl man kann mehr für die Mitglieder tun //mhm// weil man ein Ergebnis sieht ... ja du machst halt wieder Kasse Buchhaltung und hast immer Kontaktzeit bestimmte Dinge aus (.) schreibst Einladungen und du kümmerst dich immer du hast immer direkten Kontakt mit den Mitgliedern es geht immer über dich //mhm// und während Sekretäre ja äh mh oft nur ein sozusagen direkten Kontakt draussen haben aber alles andere was Mitgliedschaft angeht läuft indirekt ab also man gibt mal was weiter also wenn man sagt die Kontonummer hat sich geändert oder (.) ähm //mhm// dadurch ist die Betreuung eigentlich oder der Kontakt letztenendes fast noch intensiver //mhm// sehr wertvoll also //mhm// und ganz wichtig //mhm// und das man bescheid weiss und sacht das kann man für d- das kannst du kriegen und die Ansprüche hast du meinetwegen //mhm// auch bei uns wenn man sechs Wochen krankes Geld kriegt //mhm// ne Zuschuss zum Krankengeld oder Freizeitunfallversicherung halt solche Sachen bearbeitet man dann auch //mhm// und du hast’n Ergebnis du hast abends siehst du was du getan hast und das siehst in dem Job draussen kaum //mhm// wann kriegste mal nen Meldebogen das nen neuer Betriebsrat gewählt is //mhm// wenn de Glück hast zweimal im Jahr //mhm// *als Erfolgserlebnis* ((*lachend gesprochen) oder mal mh das se zu dir sagn mensch das hat das war klasse wir haben was erreicht und so //mhm// das ist auch äußerst selten ne //mhm// das die Leute dann mal positiv //mhm// da mit solchen Sachen rüberkommen“.210
Bisher implizit Gebliebenes tritt hier sehr deutlich zutage: Zum einen wertet Regine Bauer die Tätigkeit der Verwaltungsangestellten auf, und zum anderen mindert sie die Kompetenzen derjenigen Gewerkschaftssekretäre in der Bedeutung herab, die keine Verwaltungserfahrung haben machen können. Sie kann aus dieser Perspektive besser mit den Anforderungen der beruflichen Tätigkeit als Gewerkschaftssekretärin umgehen als ihre nicht verwaltungserfahrenen männlichen Kollegen.211 Die berufliche Arbeit der Verwaltungsangestellten und die der Gewerk210 211
Auszug aus dem Nachfrageteil. Vgl. hierzu die komparative Analyse der beruflichen Tätigkeiten hauptamtlicher Gewerkschaftssekretäre und der Bedeutung von Verwaltungsarbeit in Abschnitt III.6.
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III. Empirisch-analytischer Teil
schaftssekretäre stehen sich in einer Gegensatzanordnung gegenüber: Erstere kategorisiert sie als sehr konkret und „innen“ stattfindend und Zweitere als vage Tätigkeit „draußen“, der es an Ergebnissen, vor allem aber an Erfolgen mangele. Die Informantin ist überzeugt, dass sie aufgrund ihrer berufsbiografischen Karriere eine besondere Perspektive auf die Gewerkschaftsarbeit entwickeln konnte: „ich hab noch ´ne Kollegin die auch aus ´m Verwaltungsangestelltenbereich kommt (.) wir beide haben ´ne ganz andere Sichtweise als jemand der ganz von außen kommt also von der Baustelle //hm// dann ähm aus irgendeinem Ehrenamt äh hauptamtlich wird //hm// als jemand der auch schon diese Tätigkeit gemacht hat diese Verwaltungs äh angestelltentätigkeit weil das sehr viel mit Betreuungsarbeit zu tun hat das wird immer sehr unterschätzt find ich //mhm// das sind eigentlich die Leute die auch sehr engen Kontakt mit Mitgliedern haben die Verwaltungsangestellten //hm// und die müssen auch in der Lage sein mit Menschen umzugehen und das können auch nich alle ((lacht kurz)) //hm// zum Teil sitzen die an falschen Plätzen in unserm Laden“.212
Regine Bauer stellt in oben stehender Passage zwei verschiedene in die hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit führende Karrierewege dar: die Möglichkeit, über die Arbeit als ehrenamtlicher Betriebsrat, also aus dem erlernten Beruf heraus, in die Position eines Gewerkschaftssekretärs aufzusteigen – solche Personen kategorisiert die Informantin als von „außen“ kommend – und der Weg, den sie und eine weitere Kollegin genommen haben – über die „innere“ Hierarchie innerhalb der Verwaltungsarbeit. Hierüber konnten die beiden Letztgenannten eine andere Binnenperspektive auf die hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit entwickeln, die positiv konnotiert ist. Diese andere, „bessere“ Möglichkeit der Einschätzung gewerkschaftlicher Arbeitsabläufe und Strukturen stellt die Basis für Frau Bauers innergewerkschaftliche Kritik dar. Diese ist so grundlegend und weitgehend, dass sie nur zwei Möglichkeiten der Bewältigung sieht: entweder bei der Gewerkschaft zu kündigen oder selbst Geschäftsführerin zu werden. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf einen Prozess, der ihre eigene berufsbiografische Entwicklung als Gewerkschaftssekretärin verallgemeinernd beschreibt: „wir die die ziemlich frisch aus dieser Ausbildung kommen sind sehr motiviert und lebendig //hm// also halt ich uns alle doch für recht lebendig und innerhalb von zwei drei Jahren wird das wird man einfach nich kalt gestellt aber irgendwie so als wenn man so ´ne (.) Hülle //hm// äh entwickelt oder umgelegt kriegt sagen wir mal mehr //hm// das zwingt einen fast manchmal ja zur Resignation //hm// nur dass ich dann
212
Auszug aus dem Nachfrageteil.
4. Berufsbiografie: Regine Bauer
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eben auch so weit wäre wenn das für mich zu krass wird dann kann ich mich da nich mehr mit identifizieren und denn würd ich dann aufhören“.213
Die Informantin schildert eine quasinatürliche Ablaufgeschichte, wie ursprünglich ambitionierte hauptamtliche Akteure sukzessive von der Organisation aufgesaugt werden, diesen die Organisationsperspektive aufgezwungen werde und sie so zunehmend passiver in ihrer beruflichen Arbeit würden. Dass sie diesen Prozess an sich selbst beobachtet hat, steht außer Frage. Gleichzeitig ist ihr bewusst, dass sie nicht wieder als Verwaltungsangestellte arbeiten könnte. Dies würde einen Karriereabstieg bedeuten und sie dem verstärkten Einfluss des hierarchischen gewerkschaftlichen Gefüges aussetzen. Dieses „Nichtzurückkönnen“ drückt sie mit der konjunktiven Formulierung „wenn ich das rückgängig machen könnte würde ich auch gern“ aus. Es stellt für Regine Bauer eine besondere berufliche Schwierigkeit dar, ihre zentrale Haltung zur Gewerkschaft als wertorientierte Gemeinschaft immer weniger in berufliches Handeln umsetzen zu können, da sie diese bei ihren Kolleginnen zumeist vermisst und da sie durch den Zwang, Mitglieder werben zu müssen, an der eigentlichen Gewerkschaftsarbeit gehindert werde: „ich mache auch nie Druck also was ich sehr schade finde bei den Gewerkschaften oder bei uns bei der neuen Struktur ist es rausgekommen oder hat sich so entwickelt dass (.) na sagen wir mal Mitgliederwerbung im Moment das Wichtigste ist weil sie uns so wegbrechen //hm// und das wir müssen einfach den Bestand sozusagen sichern um //hm// überleben äh zu können als äh Gewerkschaft aber und das der Job eines Gewerkschaftssekretärs so zu ´ner Drückergeschichte verkommen ist //hm// und ich finde das ganz furchtbar weil wenn man sagt das ist das Wichtigste was wir im Moment tun müssen //hm// dann kann das nicht zu etwas verkommen“.214
Dazu fällt es ihr schwer, als Einzelkämpferin nach potenziellen Nutznießern ihrer hauptamtlichen Gewerkschaftsarbeit zu fahnden. Sie beschreibt, danach gefragt, welche Tätigkeiten für ihre berufliche Arbeit typisch sind, diese mit den folgenden Worten: „Suchen eigentlich ähm fahr ich viel (.) rum zum Beispiel hab ich mir jetz in KStadt alle sämtliche Schulen knöpf ich mir vor //hm// fahr da fang da an morgens durch die Stadteile zu fahrn und mit versuche mit den Hausmeistern zu sprechen um zu erfahren welche Reinigungsfirma drin ist mit wie viel Leuten und wann die kommen //mhm// und oftmals hab ich Glück weil die Hausmeister selber (.) in ´ner Gewerkschaft sind zum Teil Vertrauensleute über verdi und so //hm// dann sind die auch sehr also bereit Auskunft zu geben //mhm// und auch mal Informationen wei213 214
Auszug aus dem Nachfrageteil. Auszug aus dem Nachfrageteil.
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III. Empirisch-analytischer Teil
terzuleiten aber es gibt auch welche die das total blockieren //hm// und ja und wenn ich das rausgekriegt habe dann versuche ich vielleicht ´ne Vorarbeiterin zu erwischen //mhm// mich gut mit ihr zu stellen und ´n Termin abzumachen dass ich mit den Leuten mal sprechen kann //mhm// und ja wenn man dann so ´n paar Termine auf die Reihe gekriegt hat dann ist man schon ganz froh weil das ist ein unglaubliche Vielfahrerei Sucherei manchmal muss man drei vier fünf Mal irgendwo anfahren das Ganze anfahren //hm// um überhaupt mal ´ne Reinigungskraft zu sehen“.215
Es wird deutlich, welche Ressourcen Regine Bauer für die Umsetzung ihrer gewerkschaftspolitischen Arbeit einsetzen muss und wie mühselig sie diese Arbeit, die ich als Feldarbeit bezeichnen möchte, empfindet. Die Informantin beschreibt also eine Suche nach Adressaten, die sie unterstützen kann. Diese Hilfe setzt bei der Vertretung von Arbeitnehmerrechten an. Es handelt sich jedoch zunächst um Vorfeldarbeit, die Recherchekompetenzen und wiederum Sentimental Work von der Informantin fordern. Man erfährt zudem, wie vielfältig die herzustellenden sozialen Kontakte sind und dass es jeweils unterschiedliche „Sprachen“ sind, mit denen die hauptamtliche Gewerkschafterin sprechen muss. Regine Bauer ist, so muss konstatiert werden, über ihre berufsbiografische Entwicklung – die ihren Ausgang in einer prekären beruflichen Situation hat und über das Engagement als Betriebsrätin zu einer Anstellung in der hauptamtlichen Verwaltungsarbeit der Gewerkschaft führt – in eine berufliche DilemmaSituation geraten. Nunmehr zur hauptamtlichen Gewerkschaftssekretärin aufgestiegen, ist sie in einem hohen Maße mit ihrer aktuellen beruflichen Tätigkeit unzufrieden. Diese speist sich aus verschiedenen Dimensionen: Zum ersten ist das die fremdbestimmte Engführung ihres Tätigkeitsspektrums auf die Mitgliederwerbung und die hierdurch vernachlässigte wertorientierte gewerkschaftspolitische Arbeit mit ihrer Klientel. Zum zweiten ihre Erfahrungen mit den Grenzen ihres Einflusses auf innere Strukturen, Abläufe und Inhalte der Gewerkschaftsarbeit, für deren Scheitern sie vor allem ihre älteren männlichen Vorgesetzten verantwortlich macht. Zum dritten ihre „Sandwichposition“ in der gewerkschaftlichen Hierarchie: „aber da ist es jetzt wirklich da oben steht der Geschäftsführer und dann stehen da die Sekretäre und ganz unten die Verwaltungsangestellten so wird das dann aufrecht erhalten //hm// und das find ich schrecklich“.216
Hinzukommt die enorm ressourcen- und zeitaufwändige soziale Arbeit im Vorfeld der eigentlichen Bindung neuer Mitglieder bzw. ehrenamtlicher Akteure. Die von der Informantin bevorzugte Rekrutierungsstrategie ist die Orientierung 215 216
Auszug aus dem Nachfrageteil. Auszug aus dem Nachfrageteil.
4. Berufsbiografie: Regine Bauer
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auf die Unterstützung von Arbeitnehmern bei arbeitsrechtlichen Schwierigkeiten, was als biografisch motiviert identifiziert werden konnte. In diesem Zusammenhang leistet Regine Bauer hohe emotionale Investitionen in die demoralisierten Arbeitnehmer und Gewerkschaftsmitglieder, die einen großen Teil der Vorfeldarbeit ausmachen. Es zeigt sich, dass sie in der Betroffenheit von schlechten Erfahrungen in der Arbeitswelt den Ausgangspunkt für einen wachsenden Idealismus bei den ehrenamtlichen Akteuren sieht. Wenn diesen Personen zum richtigen Zeitpunkt durch Information und moralische Orientierung die Möglichkeit eröffnet wird, sich selbst gegen die Entrechtung in Arbeitsbezügen zu wehren, beginnt die eigentliche Bindungsarbeit („gewecktes Interesse“). Es handelt sich bei dieser Passage wiederholt um indirektes biografisches Sprechen, da auch Regine Bauers Interesse an gewerkschaftspolitischer Arbeit zum passenden Zeitpunkt, nämlich der eigenen Betroffenheit, von arbeitsrechtlichen Problemen geweckt wurde. Die Haltung, potenzielle Mitglieder über die Unterstützung bei der Vertretung ihrer eigenen Arbeitnehmerrechte gewinnen zu können, resultiert aus ihren eigenen Erfahrungen und wird unbewusst auf die Akteure, zu denen sie soziale Kontakte unterhält, übertragen. Mögliche Bewältigungsstrategien für ihre berufliche Dilemmasituation liegen für die Informantin entweder in der Kündigung ihrer gewerkschaftlichen Anstellung, wenn sie die ihrer beruflichen Arbeit zugrunde liegende Überzeugung zu sehr gefährdet sieht; oder aber im weiteren Aufstieg in der Gewerkschaftshierarchie, um stärker auf die kritisierten inneren Missstände Einfluss nehmen zu können: „ich muss wenn wahrscheinlich noch selber Geschäftsführerin werden *um* ((*lachend gesprochen)) um was zu ändern ne //hm// weil meistens du du kannst es einfach nich ändern eine bestimmte Generation bei uns will nicht dass was geändert wird“.217
4.3. Analytische Bilanz Regine Bauer Regine Bauers berufsbiografische Entwicklung verläuft von der Ausbildung zur Zahnarzthelferin über zahlreiche Stationen der Fort- und Weiterbildung zur Anstellung als hauptamtliche Gewerkschaftssekretärin bei der IG BAU. Hierbei erlangt der Umstand, dass sie im Alter von dreizehn Jahren die früh verstorbene Mutter in der Familie ersetzen muss, eine besondere Bedeutung. Im Rahmen der stellvertretenden Mütterlichkeit erwirbt sie soziale Kompetenzen – wie die der Fürsorglichkeit, aber auch die, Entscheidungen treffen zu können –, die berufs217
Auszug aus dem Nachfrageteil.
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III. Empirisch-analytischer Teil
biografisch relevant werden. In diesen Kontext gehört ebenfalls die Sublimierung ihrer eigenen Kinderlosigkeit durch die hauptamtliche Tätigkeit in Bildungskontexten, wie Gewerkschaften sie auch darstellen. Die Ambivalenz der gewerkschaftlichen Jugendarbeit gegenüber, mit der Regine Bauer nur ansatzweise Berührungen hat, geht auf eine biografisch motivierte Unsicherheit zurück und liegt in der Erfahrung, die eigene Jugend nicht erlebt haben zu können. Ihr soziales und berufliches Handeln ist von einer Absicherungslogik geprägt, deren Basis ebenfalls im biografischen Kontext der (zu) frühen Selbstständigkeit und Verantwortung für andere zu sehen ist. Hieraus resultiert zugleich ihr Bemühen, die zumeist demoralisierten Adressaten ihrer beruflichen Tätigkeit für deren eigene Vertretung als Arbeitnehmer stärken zu wollen. Dass sie zur Rekrutierung neuer Mitglieder deren Involviertsein in prekäre Arbeitsverhältnisse fokussiert, konnte als Dimension eigener berufsbiografischer Erfahrungen erkannt werden. Sie setzt hierbei, ungewusst, die im Rahmen der eigenen Vertretung als Arbeitnehmerin und Betriebsrätin erworbenen Kompetenzen gezielt ein und vermittelt den Erfolg an potenzielle und tatsächliche Gewerkschaftsmitglieder. Dementsprechend sieht sie ebenso wie die bereits vorgestellten Akteure und Akteurinnen Gewerkschaften als Kontexte politischer Bildungsarbeit und als soziale und wertorientierte Gemeinschaft, fokussiert jedoch bei der Rekrutierung neuer Mitglieder biografisch motiviert die organisierte Vertretung von Arbeitnehmerrechten. Sie assoziiert mit ihrer beruflichen Arbeit die Möglichkeit, die politische Eigenständigkeit innerhalb der Interessenvertretung bei den potenziellen und tatsächlichen Gewerkschaftsmitgliedern zu befördern. Ihre berufliche Karriere, als deren Motor eine Unzufriedenheit mit der gewerkschaftspolitischen Arbeit hierarchisch höhergestellter Akteure und die hiermit verbundene soziale Rahmung der Gewerkschaftsarbeit identifiziert werden konnte, führt in eine Dilemma-Situation. Als zentral für das berufliche Handeln von Regine Bauer erweist sich ihre Orientierung an Werten wie Gemeinschaft, Solidarität, wechselseitiges Vertrauen und Stärken der gewerkschaftlichen Akteure. Hierdurch entwickelt sie eine Haltung zu ihrer beruflichen Arbeit, die die politische und soziale Dimension der Gewerkschaftsarbeit favorisiert und in der verstärkten Dienstleistung eine Bedrohung dieser Wertorientierung erkennt. Da sie über ihre berufsbiografischen Erfahrungen erkannt hat, dass es sich lohnt, sich aktiv und selbstständig für die eigenen Interessen als Arbeitnehmerin einzusetzen, erkennt sie in der Verstärkung der Dienstleistungsorientierung bei Gewerkschaften eine Gefahr, da dies zu einer weiteren Passivierung der Arbeitnehmer führt. Lösungen für das hieraus resultierende Dilemma ihrer beruflichen Arbeit sieht sie in einem weiteren Aufstieg auf der gewerkschaftlichen Karriere-
5. Berufsbiografie: Ricarda Korn
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leiter oder in der Kündigung ihrer derzeitigen Stelle, wenn sich der Sinnentzug der alltäglichen Arbeit als zu groß erweisen sollte. In Kategorien gefasster Merkmalraum: Weibliche Akteurin, 1950 bis 1960 Geborene, berufsbezogene Bildung, freiwilliges Engagement als Betriebsrätin und hierüber erfolgte Bindung zum gewerkschaftskulturellen Milieu; informelle Stellenbesetzung: Auswahl über Beobachtung und persönliche Ansprache; Stellenbesetzungszeit zwischen 2000 und 2005; Prägung der aktuellen beruflichen Arbeit sowie das hieraus resultierende Bewältigungshandeln, insbesondere im Kontext der Rekrutierungspraxis durch eigene berufsbiografische Erfahrungen; Spezifik der Sozialkomponente bei der beruflichen Arbeit: partizipationsorientierte und den ökonomischen Vorteil einer Mitgliedschaft fokussierende Erwachsenenarbeit; Anstellungsträger IG BAU 5. Berufsbiografie: Ricarda Korn 5.1. Porträt Ricarda Korn „Manchmal muss man ja Menschen auch zum Jagen tragen.“218
Im Vergleich zu den bereits vorgestellten hauptamtlichen Gewerkschaftern gehört Ricarda Korn einer anderen Generation an und verfügt über deutlich längere Erfahrungen in der hauptamtlichen Gewerkschaftsarbeit: Sie tritt zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt, nämlich in den 1980er Jahren, ihre erste Stelle bei einer Einzelgewerkschaft an und setzt ihre Arbeit nach der Fusionierung zur ver.di dort fort. Wichtiger als die Unterschiede im beruflichen Tätigkeitsspektrum zwischen Frau Korn und Frau Bauer – verglichen etwa mit den anderen Akteuren, den DGBReferenten – ist die zentrale Gemeinsamkeit ihrer beruflichen Arbeit, die in der Pflege von sozialen Beziehungen (Sentimental Work) besteht. Im Gegensatz zu den DGB-Akteuren zielt die Arbeit von Frau Korn jedoch nicht auf die Bindung von Jugendlichen ab, sondern, ebenso wie die von Frau Bauer, auf die von Erwachsenen. Die berufsbiografische Darstellung dieser Informantin eröffnet insofern neue Aspekte zur Rekrutierungspraxis bei Gewerkschaften. Wie nachstehend gezeigt wird, vereint der Karriereverlauf dieser Informantin berufsbiografische Merkmale, die, sowohl bei Jürgen Teschner als auch bei Sabine Jung identifiziert wurden, obgleich es sich bei diesen um stark kontrastierende Fälle handelt. Ricarda Korn wurde Ende der 1950er Jahre in einer norddeutschen Stadt geboren. Über ihre Eltern wird außer der Tatsache, dass sie aus dem süddeut218
Auszug aus dem Nachfrageteil des Interviews.
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III. Empirisch-analytischer Teil
schen Raum stammen und dass der Vater aktives Mitglied einer Gewerkschaft gewesen ist, im Interview nichts gesagt. Sie wuchs im städtischen Milieu auf und absolvierte die gymnasiale Schullaufbahn, welche mit dem Erreichen der Allgemeinen Hochschulreife endete. Im Anschluss entschied sie sich für einen Lehramtsstudiengang mit den Fächern Deutsch, Sozialwissenschaften und Sport und begann zu studieren. Nach erlangtem zweitem Staatsexamen und dem Absolvieren des Referendariats begann sie ihre gewerkschaftliche Tätigkeit in den 1980er Jahren als 28-jährige Berufseinsteigerin bei einer Einzelgewerkschaft. Diese fusionierte im Jahr 2001 mit weiteren vier Einzelgewerkschaften zur Gewerkschaft ver.di. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sie seit über zwei Jahren Gewerkschaftssekretärin in geschäftsleitender Funktion in einem nördlichen Verwaltungsbezirk bei der Einzelgewerkschaft ver.di. Frau Korn kann inzwischen auf eine 21jährige Beschäftigungszeit und hiermit verbundene Erfahrungen bei der Gewerkschaft zurückblicken. Im Verlauf dieser Zeit hat sie verschiedene Stellen bekleidet, in deren Ausführung sie gewerkschaftspolitische Arbeit auf verschiedenen Hierarchie- und Strukturebenen kennen gelernt hat. Ihre derzeitige Tätigkeit schließt sowohl die fachbereichsbezogene Interessenvertretung der Arbeitnehmer als auch die politische Bildungsarbeit mit erwachsenen ehrenamtlichen Gewerkschaftsmitgliedern ein. Die Verwaltungseinheit, deren Geschäfte Ricarda Korn leitet, trägt die Bezeichnung Landesbezirk und besteht aus drei Standorten: N-Stadt, der Sitz der Geschäftsstelle, K-Stadt und H-Stadt. Die gewerkschaftliche Arbeit des Landesbezirkes stützt sich strukturell auf den Bezirksvorstand mit Präsidium und Sitz in N-Stadt sowie auf die zur Verwaltungseinheit gehörenden sechs Ortsvereine. 5.2. Fallbeschreibung Ricarda Korn Insbesondere in der Eingangserzählung bedient sich die Informantin vorwiegend eines Telegrammstils, um ihren beruflichen Werdegang und die Tätigkeiten ihrer beruflichen Arbeit darzustellen. Obgleich es sich um, teilweise auch indirektes, biografisches Sprechen handelt, ist es aufgrund des verknappten Stils nur eingeschränkt möglich, biografische Prozesse, die das berufliche Handeln prägen, zu rekonstruieren. Handlungsleitende Orientierungen hingegen lassen sich analytisch über die Darstellungen von Beispielen aus der beruflichen Praxis erschließen. Die Eingangserzählung Ricarda Korns ist eine verknappte berufsbiografische Erzählung, die in zwei Suprasegmente219 zerlegt werden kann. Beim ersten 219
Zur Terminologie des Auswertungsverfahrens bzw. zu erzähltheoretischen Grundlagen desselben vgl. Abschnitt II.2.1.4 dieser Arbeit.
5. Berufsbiografie: Ricarda Korn
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Suprasegment handelt es sich um die sehr kurze Darstellung ihres berufsbiografischen Verlaufs bis zum Berufseinstieg, der mit einem beruflichen Orientierungswechsel einhergeht, sowie die Abfolge der verschiedenen Anstellungen bei der Gewerkschaft bis zu ihrer derzeitigen Beschäftigung als Geschäftsführerin eines ver.di-Bezirkes im Norden der Bundesrepublik. Die Textsortenanalyse zeigt, dass zunächst das Darstellungsschema „Erzählen“ dominant ist, jedoch zunehmend in das „Beschreiben“ übergeht. Das zweite Suprasegment ist thematisch auf die Darstellung ihrer derzeitigen beruflichen Tätigkeit fokussiert und zeichnet das Durchlaufen eines berufsbiografischen Identifikationsprozesses nach.220 Ricarda Korn setzt sich hier vor dem Hintergrund ihres beruflichen Werdegangs bilanzierend mit ihrer aktuellen Tätigkeit bei der Gewerkschaft auseinander. Aushandlung des Interviews Der Stimulus der Interviewerin identifiziert Frau Korn als hauptamtlich Beschäftigte bei der Gewerkschaft und fokussiert unmittelbar den Kontext des dortigen beruflichen Einstiegs. Die Informantin reagiert auf den doppelten Stimulus der Interviewerin, indem sie sich auf den ersten Teil der Eingangsfrage bezieht, die eine Narration ermöglicht: Y: „Also ähm ja dann würd ich dich jetzt bitten mir zu erzählen wie so eins zum andern kam dass du jetzt ähm hier als Hauptamtliche beschäftigt bist bei der Gewerkschaft und ähm was so wichtig ist eben in der alltäglichen Arbeit und was du da so für Erfahrungen gemacht hast mit der ehrenamtlichen Arbeit so B: [hm willst du meine Lebensgeschichte wissen? ((lacht 2 Sekunden)) Y: ((lacht kurz)) B: Wie ich zur Gewerkschaft gekommen bin //hm// wir wir splitten das einfach mal also zur Gewerkschaft //hm//“.221
Aus der Reaktion der Informantin wird deutlich, dass sie vor allem auf den ersten Teil des Stimulus’ reagiert und vermutet, dass sie ihre „Lebensgeschichte“ erzählen soll. Da sie hierzu keine eindeutige Aufforderung von der Interviewerin bekommt, schränkt sie die Eingangsfrage selbst ein und deutet sie nun als Aufforderung, ihren beruflichen Weg zur Gewerkschaft zu schildern. Sie schlägt pragmatisch ein „Splitten“ vor, da sie dem Doppelstimulus, der Auskünfte zu zwei Themen parallel anfragt, nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander gerecht werden kann.
220 221
Auszug aus der Eingangserzählung. Auszug aus der Eingangserzählung.
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III. Empirisch-analytischer Teil
1) Bildungs- und Milieu-Erfahrungen Hier: Berufliche Vorerfahrungen – akademisches Studium Ende der 1970er Jahre Ricarda Korn leitet die nun folgende lakonische berufsbiografische Erzählung mit „also zur Gewerkschaft“ ein und nennt ihren ursprünglichen Beruf „Lehrerin“ mit „zweitem Staatsexamen“: „Ich bin von Haus aus Lehrerin //mhm// habe zweites Staatsexamen gemacht“. Sie bringt hiermit zum Ausdruck, dass sie einen akademischen Abschluss erworben hat, bereits staatlich examiniert ist und berufliche Erfahrungen einer Lehrerin im Rahmen des Referendariats gesammelt hat.222 Dieses universitäre Studium bildet Ausgangsposition und Basis für den beruflichen Verlauf von Frau Korn. Beruflicher Orientierungswechsel in den 1980er Jahren: von der Lehrerin zur Gewerkschaftssekretärin Im nächsten Segment schildert die Information zunächst, wie sie Kontakt zur Gewerkschaft erhielt – durch ihren damals dort beschäftigten Freund: „habe dann Kontakt äh damals äh zum Chef der Einzelgewerkschaft in einem Bundesland zum Landesverbandsleiter bekommen //hm// weil mein Freund damals als Landesjugendleiter wieder aufhören wollte um ein Volontariat //hm// bei einer Rundfunkanstalt zu machen //mhm// ist natürlich auch sehr dubios und die f- Ehefrau des Gewerkschaftschefs hat gesagt wenn der Mann geht nimm doch die Frau ((lacht kurz)) //aha// ja es is ja auch nett“.
In diesem zweiten Segment taucht ein signifikanter Anderer223 auf, der der Informantin einen Zugang zum gewerkschaftlichen Milieu vermittelt. Die Kontaktaufnahme zur Gewerkschaft wird also durch einen Dritten, ihren Freund, vermittelt, und so erhält die Informantin Zugang zu dieser sozialen Welt. Das in Rede stehende Segment enthält den Kommentar der Informantin „natürlich auch sehr dubios“. Dieser könnte sich auf die berufliche Entscheidung des Freundes von Frau Korn beziehen, die hauptamtliche gewerkschaftliche Anstellung zugunsten des Volontariats beim Rundfunk aufzugeben. Gleichwohl könnte der Kommentar auch die sich anschließende Empfehlung einleiten, die von der Ehefrau eines Gewerkschafters ausgeht und die Besetzung einer freiwerdenden Stelle mit Frau Korn vorschlägt. Da die Informantin diesen Akt der Empfehlung abschließend jedoch mit „ja es is ja auch nett“ kommentiert, ist anzunehmen, dass es sich um einen Kommentar handelt, der das Empfinden der Informantin im Hinblick auf den anvisierten Stellenwechsel des Freundes zum Ausdruck bringt. Die Empfeh222
Die hier gesammelten Erfahrungen dienen Frau Korn im weiteren Verlauf des Interviews als Kontrastfolie zu ihrer gewerkschaftlichen Tätigkeit. 223 Vgl. zur begrifflichen Verwendung: Mead 1968.
5. Berufsbiografie: Ricarda Korn
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lung, sie selbst in gewerkschaftliche Anstellung zu bringen, betrachtet Frau Korn als Kompliment, wobei nicht eindeutig zu erschließen ist, ob sie dieses ihrem Freund oder sich selbst zurechnet. Wie den unten stehenden Textauszügen zu entnehmen ist, bestand bereits ein über den Freund der Informantin vermittelter informeller Kontakt zwischen Ricarda Korn und dem Landesleiter der Gewerkschaft, aufgrund dessen sie im Hinblick auf eine vakant werdende Stelle ins Gespräch kommt. Dieser äußere Umstand, die vakante Stelle bei der Gewerkschaft, und das Interesse des hauptamtlichen Gewerkschafters, die Informantin näher kennen zu lernen, lösen im berufsbiografischen Verlauf von Frau Korn einen Orientierungswechsel aus: „n‘ja es wurde damals jemand für den frauenpolitischen Bereich gesucht //mhm// äh und für den Bildungsbereich und das war ja klassisch das was ich auch gemacht hatte //hm// woher ich kam“. Der vermittelte Zugang zur Gewerkschaft entwickelt sich also zu einer berufsbiografischen Veränderungsoption. Ricarda Korn folgt der Einladung des Gewerkschaftssekretärs und führt mit ihm ein Gespräch, in dessen Folge ihr die Stelle offeriert wird: „also mit der Einzelgewerkschaft hatt ich da vorher nich so den Kontakt gehabt //mhm// und äh ((pustet aus)) ähhhh ja aber das das war halt nur so das ich halt den Landesverbandsleiter da kennengelernt habe und äh naja ich äh der mich dann eingeladen irgendwann sachte dann mein Freund dann du sollst mal dahin kommen oder so ne ((lacht)) *ich will mal mit dir sprechen* ((*lachend gesprochen)) //mhm// und dann hab ich den zwei Stunden lang zugelabert ne und zwei Stunden nur erzählt und gemacht und getan und der hat gesagt ja Mensch kann ich mir vorstellen //mhm// find ich gut //mhm//“.224
Die durch einen Dritten vermittelte Option, eine Stelle bei der Gewerkschaft anzutreten, ergreift Ricarda Korn nun und engagiert sich während des Einstellungsgespräches, indem sie „zwei Stunden macht und tut“. Sie nutzt also das ihr entgegengebrachte Interesse und ergreift im Kontext der Vorstellung aktiv die Möglichkeit zur Präsentation. Diese Präsentation ihrer Person im Rahmen des ausführlichen Vorstellungsgespräches führt dazu, dass der hauptamtliche Gewerkschafter sich Ricarda Korn in der Arbeit der Einzelgewerkschaft vorstellen kann. Der positive Gesamteindruck bewirkt also ihre Anstellung bei der Gewerkschaft. Bis auf die Tatsache, dass aus Informantinnenperspektive die bisherigen beruflichen Tätigkeiten „Frauenpolitik“ und „Bildung“ optimal zu den Anforderungen der zu besetzenden Stelle passen, bleiben die Hintergründe für den beruflichen Wechsel und den Erfolg ihrer Vorstellung unklar. So bleibt es vorerst den Vermutungen anheimgestellt, ob das aktive Folgeleisten Frau Korns aus einer Unzufriedenheit mit ihrer 224
Auszug aus dem Nachfrageteil.
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III. Empirisch-analytischer Teil
beruflichen Perspektive als Lehrerin resultiert oder ob andere Motive ihren beruflichen Orientierungswechsel befördern. Ebenso wenig gibt die Anfangserzählung darüber Aufschluss, welche Kriterien bei der Stellenbesetzung vorliegen und inwieweit sie selbst diesen entsprechen kann. Etwas deutlicher lassen sich sowohl die Motivlage der Informantin, zur Gewerkschaft zu wechseln, als auch die Stellenbesetzungskriterien der Organisation rekonstruieren, wenn man die Daten des Nachfrageteils heranzieht. 2) Stellenbesetzung Hier: Ungewöhnliche Gewerkschaftskarriere Die uns bislang bekannte Darstellung zur Anbahnung des beruflichen Orientierungswechsels vermittelt den Eindruck, dass rein zufällige Ereignisse zum Vorstellungstermin Ricarda Korns bei der Gewerkschaft geführt haben, und betonen die Relevanz des positiven Eindrucks, den die Informantin bei dem einstellungsbefugten Landesleiter hervorrufen kann. Das Herausstreichen der besonderen Art der Stellenbesetzung, die sich vor allem auf die Personenmerkmale der Informantin bezieht, wird durch weitere Darstellungen im Nachfrageteil des Interviews gestützt. Frau Korn schätzt hier ihre eigene Anstellung bei der Gewerkschaft bilanzierend ein und stellt fest, dass sie auf unübliche Weise in ihre erste Stelle bei der Gewerkschaft gelangt sei.225 Um die relevanten Merkmale einer als „normal“ bzw. „unnormal“ empfundenen Stellenbesetzung bei der Gewerkschaft rekonstruieren zu können, füge ich die Ausführungen Ricarda Korns hier ein: „Na ja aber ich mein ich war ja auch so Einsteigerin also so quasi nach der Ausbildung bin ich ja denn direkt gekommen weil das ähhhh mit Bildung Frauen so was auch da zusammen passte //mhm mhm// man muss natürlich sehen in der Gewerkschaftsarbeit normalerweise äh stellt man dich jetzt nich einfach so ein und sagt du hast jetzt dein Studium //mhm// und dann machst du vielleicht für den Jugendbereich weil du ´n gewisses jugendliches Alter hast weil man sagt //mhm// das passt aber im Normalfall ist es so dass eigentlich viele in die Gewerkschaftsarbeit kommen äh dass du aktive Betriebs oder Personalräte oder solche Leute //mhm// da in die Gewerkschaftsarbeit holst //ja// also gestandene Leute //ja// die auch zum Teil (.) das war früher auch so das Prinzip häufig dass das nich so junge Leute waren sondern eher ältere //ältere ja// Mitte Vierzig Ende Vierzig oder so was weißt du //hm hm// wo man sagte Mensch der ist eigentlich gut und macht tolle Arbeit und wir brauchen 225
Es handelt sich hierbei um eine Perspektive, die für die Mehrzahl der befragten Gewerkschafter in der Darstellung des berufsbiografischen Prozesses eine Rolle spielt und insofern theoretische Bedeutung für gewerkschaftliche Rekrutierungsverfahren entwickelt. Während einige Informanten bereits in der Anfangserzählung auf das unübliche Zustandekommen ihrer Gewerkschaftsanstellung hinweisen, macht Frau Korn erst im Nachfrageteil diesbezügliche Aussagen. In diesem wie in jedem anderen Fall wurde die Einschätzung der eigenen beruflichen Karriere selbstläufig eingebracht, nicht durch eine Intervention der Interviewerin.
5. Berufsbiografie: Ricarda Korn
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da ´n Sekretär und woll´n wir den nich nehmen ne //hm// weißt du und und dass du dann eigentlich alt erfahrene Leute die schon BAT und und //mhm// Betriebsverfassungsgesetz und alles mögliche kannten dass du die Leute geholt hast und nich so junge Hüpfer die du da irgendwie erst mal hm einarbeiten musstest ne //mhm// das war eigentlich mehr im Jugendbereich ja und das war´n aber auch dann häufig Leute die schon als Jugendvertreterin oder Jugendvertreter und so was engagiert waren und äh also bei mir ist es eigentlich eher ungewöhnlich weil ich halt keine Berufs- also //mhm// nichts gelernt hatte vorher und keine Berufserfahrung so na ja bis auf meine Sachen also im bildungspolitischen Bereich da auch hatte natürlich viele Sachen schon gemacht so Wohlfahrtsverband X und dies und das und und Kinderfreizeiten alles aber hab eigentlich nich so diesen klassischen Weg eigentlich äh oder komm nich über diesen Weg ne //hm// das war eigentlich so Y: Also aus´m Betrieb geholt sozusagen das B: [äh aus´m Betrieb geholt ja ja Y: Ja das B: Also es war dann auch nich üblich da bei den Gewerkschaftssekretären meinetwegen dass die Abitur hatten oder irgend so was //hm// da also dann war das eigentlich schon so eher (.) ja ein bisschen ungewöhnlicher ne //mhm// also dass du da so aus ´ner ganz andern Ecke kommst aber das ist natürlich auch je nachdem welche Leidenschaft dann vielleicht auch Hauptamtliche oder Personalverantwortliche haben irgendwie ne ob ob du deren Typ bist ne“.226
Im Hinblick auf die Stellenbesetzungskriterien unterscheidet Ricarda Korn sowohl zwischen verschiedenen Tätigkeitsgebieten der Gewerkschaftssekretäre als auch zwischen früheren und gegenwärtigen rekrutierungsrelevanten Kriterien. Es handelt sich um die Bereiche der Jugend- und Fachbereichsarbeit, und für beide Kontexte entfaltet das Alter der Akteure eine wichtige Bedeutung – allerdings nur bei oberflächlicher Betrachtung. Hauptamtliche Jugendsekretäre sollten, um besser auf die jugendlichen ehrenamtliche Akteure eingehen zu können, möglichst selbst jung sein. Die Frage des Alters kann im Jugendbereich unter Umständen wichtiger für die erfolgreiche Stellenbesetzung sein als bereits vorhandene Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit. Favorisiert wird die glückliche Verbindung beider Merkmale, da es auch für die Jugendarbeit üblich sei, Akteure anzustellen, die bereits einschlägiges Wissen und Kompetenzen im Rahmen einer Karriere im Freiwilligkeitsbereich, beispielsweise als „Jugendvertreter“, gesammelt haben. Dieser Stellenanforderung, welche früher das „Prinzip“ der Rekrutierung darstellte, entsprachen die Kandidaten in der Regel erst dann, wenn sie ein Alter von „Mitte oder Ende Vierzig“ erreicht hatten. Das Auswahlkriterium „Alter“ entpuppt sich daher als sekundäre Stellenanforderung, da sich das Alter aus der Dauer der gesammelten Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit 226
Auszug aus dem Nachfrageteil.
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ergibt, welches zentrales Kriterium für die Stellenbesetzung ist. Hintergrund dieses Stellenbesetzungskriteriums ist das Ansinnen, bei Neueinstellungen möglichst ohne Einarbeitung auszukommen.227 Dieser Logik entspricht auch die Schilderung, dass die Akteure in die Auswahl einer zu besetzenden Stelle dadurch gelangen, dass ihre Person aus der Perspektive der Organisation als passend empfunden wird und die Qualität ihrer bis dahin geleisteten Arbeit Aufmerksamkeit erregt. Interessant scheint mir auch die Abfolge in der Darstellung der Informantin: „wo man sagte Mensch der ist eigentlich gut und macht tolle Arbeit“, zunächst wird also die Person und erst danach deren gewerkschaftliche Arbeit eingeschätzt. Übersetzt man die Reihenfolge der Nennung der Auswahlkriterien in eine Rangfolge, so hieße dies, dass im Kontext einer gewerkschaftlichen Stellenbesetzung den Personenmerkmalen deutlich mehr Gewicht zukäme als den fachlichen Kompetenzen. Dieses favorisierte Rekrutierungsmerkmal könnte man im Vergleich zum Alter, zum Geschlecht und zu einer formalen Qualifikation als weiches Stellenbesetzungskriterium bezeichnen. Die Deutung einer Favorisierung der Personenmerkmale im Rahmen von gewerkschaftlichen Stellenbesetzungen, die sich aus der allgemeinen Darstellung der Informantin ergibt, bestätigt sich, wenn man den Stellenbesetzungsverlauf von Ricarda Korn selbst heranzieht: Die Informantin verfügt, wie sie selbst darlegt, bei Antritt ihrer Stelle weder über einschlägige berufliche Erfahrungen noch über das favorisierte Alter und kommt zudem „aus einer anderen Ecke“. Ein akademisches Studium, wie sie es vorweisen kann, entfaltet im Kontext gewerkschaftlicher Rekrutierung kein Gewicht. Sie empfindet sich selbst vor dem Entwurf der klassischen Stellenbesetzungskriterien als nicht einschlägig, zumindest was ihre berufliche Herkunft anbelangt. Ihre Erfahrungen mit den Themen „Bildung“ und „Frauenpolitik“ entstammen zwar gewerkschaftsnahen, nicht jedoch originär gewerkschaftlichen Kontexten und entziehen sich daher einer Beobachtung durch die Organisation. Auf die Befragte wird man, wie bereits deutlich wurde, aufmerksam durch ihren Freund, der seinerzeit bei der Gewerkschaft beschäftigt ist und ihr den Zugang zum gewerkschaftlichen Milieu vermittelt. Die die Vermittlungshandlung zum gewerkschaftlichen Milieu vollziehende Person wurde bereits im Zuge der Datenanalyse zu Jürgen Teschner (Abschnitt III.2.2.2) mit der Kategorie „Milieuvermittler“ belegt. Entscheidend für den Erfolg der persönlichen Vorstellung Ricarda Korns ist der positive Eindruck ihrer Gesamtperson, also ihre Personenmerkmale, beim einstellenden Gewerkschaftssekretär. Mit den Worten der Informantin gesprochen, ist es bei einer gewerkschaftlichen Stellenbesetzung bedeutsam, „ob du deren Typ bist“. Neben 227
Vgl. hierzu die Fallanalyse Sabine Jung in diesem Kapitel.
5. Berufsbiografie: Ricarda Korn
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dem Kriterium der einschlägigen beruflichen Erfahrungen ist es also für die Besetzung einer hauptamtlichen Stelle bei der Gewerkschaft vor allem wichtig, allgemein in das gewerkschaftliche Milieu und besonders zu den persönlichen Vorstellungen der Einstellenden als passend empfunden zu werden. Die Informantin differenziert in ihrer Darstellung zudem zwischen der Rekrutierung in der Vergangenheit und in der Gegenwart und macht somit klar, dass das Verfahren der Stellenbesetzung bei Gewerkschaften einem Wandel unterworfen ist. „Prinzip“ der Vergangenheit sei es gewesen, dass Gewerkschaftssekretäre sich in ihrem vierten Lebensjahrzehnt befanden, demnach keine „jungen Hüpfer“ mehr und in der Regel nicht akademisch gebildet waren. Gegenwärtig sind, so die Informantin an anderer Stelle, die hauptamtlichen Sekretäre „ja im Normalfall auch besser qualifiziert“.228 Ricarda Korn beschreibt also einen Wandel beim Qualifizierungsprofil der hauptamtlichen Akteure: „und äh das is natürlich schon so das äh äh das die dann äh das heutzutage sind die Gewerkschaftssekretäre mh die Gewerkschaftssekretäre oftmals vielleicht schon (.) besser oder weitergehend auch qualifiziert weil früher wirklich so der der Verkäufer wurde halt Gewerkschaftssekretär“.229
Ricarda Korn stellt damit zwei Modelle der Rekrutierung von hauptamtlichen Gewerkschaftern durch die Organisation vor: eine ältere, klassische Rekrutierung, die sich über die Beobachtung der Akteure in der betrieblichen Interessenvertretung realisiert, und eine neue, die auch nicht einschlägig beruflich erfahrene Akteure mit zumeist höherem Bildungsabschluss einbezieht. Beide Gewerkschaftskarrieren verlaufen erfolgreich in die hauptamtliche Anstellung. Aufgrund der zunehmend weniger vorhandenen Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit werden organisationsinterne Schulungen angeboten, die die neuen Sekretäre optimal auf ihre berufliche Tätigkeit vorbereiten sollen. Hierzu ein weiterer empirischer Beleg: „Also unsere Jugendsekretäre und Sekretärinnen die sind alle erst mal durch ´ne totale Schulung geschickt worden was ich schon ´n bisschen viel fand weil die hatten wirklich eine Woche Schulung eine Woche Arbeit eine Woche Schulung da hab ich immer gesagt wie //hm// sollen die das alles umsetzen oder mal ausprobieren können wenn du ewig nur geschult //hm// wirst aber die hatten da volles Programm äh ja (.) war natürlich äh sehr gut gedacht nun sind sie ja alle wieder weg ne ((lacht)) //hm// das ärgert mich natürlich weil genau damit habe ich natürlich irgendwo wahrscheinlich auch gerechnet dass ich dachte wer weiß wie viel nachher übrig bleiben“.230 228
Auszug aus dem Nachfrageteil. Auszug aus dem Nachfrageteil. 230 Auszug aus dem Nachfrageteil. 229
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III. Empirisch-analytischer Teil
Die Informantin eröffnet mit der obenstehenden Darstellung zwei wichtige Dimensionen zur Analyse der gewerkschaftlichen sozialen Welt. Eine betrifft erneut die Ausdifferenzierung der Stellenbesetzung bzw. die Qualifikationsprofile der Sekretäre im mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaft. Die andere bezieht sich auf Schwierigkeiten in den beruflichen Arbeitsabläufen der Informantin, die mit der hohen Fluktuation in den Bezirksverwaltungen in Zusammenhang gebracht werden. Auf deren Ankündigung in der Darstellung wird hier jedoch nur aufmerksam gemacht, da die problematischen Abläufe der Gewerkschaftsarbeit im zweiten Teil der Fallanalyse insgesamt in den Blick genommen werden sollen. Frau Korn fokussiert hier die „gegenwärtige“ gewerkschaftliche Einstellungspraxis, die davon gekennzeichnet sei, dass hauptamtliche Stellen bei der Gewerkschaft zunehmend mit Menschen besetzt werden, die nicht auf einschlägige berufliche Erfahrungen zurückgreifen können. Hieraus entsteht die Notwendigkeit einer Einarbeitung, die in der früheren, klassischen Rekrutierung nicht nötig gewesen ist. Somit wird deutlich, dass eben dieser Rekrutierungsmechanismus über Beobachtung und Auswahl im gewerkschaftlichen Kontext eine Gewähr zur Verhinderung zusätzlicher Einarbeitung darstellte, da die entsprechenden Akteure vor allem als Gesamtperson, ihrer Personenmerkmale wegen, und ferner aufgrund ihrer qualitativ wertvollen Gewerkschaftsarbeit für eine hauptamtliche Tätigkeit ausgewählt worden waren. So kann man, da diese Veränderungen in der Einstellungspraxis über den Einzelfall hinaus beobachtet werden können, von einer Ausdifferenzierung im Rekrutierungsverfahren bei Gewerkschaften sprechen. Alte Rekrutierungsmuster haben noch nicht ihre handlungsleitende Bedeutung verloren, was man auch an der fallübergreifenden Thematisierung des eigenen beruflichen Werdegangs auf der Folie der als „klassisch“ empfundenen Karriere ablesen kann – obgleich die Praxis der Stellenbesetzung immer häufiger vom früheren Prinzip der Rekrutierung abweicht. Dass vorhandene Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit und die durch Beobachtung gewonnene Einschätzung, ob ein Akteur in die hauptamtliche Arbeit der Gewerkschaft passt oder nicht, weiterhin große Bedeutung bei der Stellenbesetzung entfalten, kann auch mit der fortgesetzten Analyse empirisch fundiert werden. Die beschriebene analytische Spur zur Rekrutierungspraxis hauptamtlicher Akteure soll zugleich als Modernisierungsmoment gewerkschaftlicher Rekrutierung gedeutet werden, da sie gegenwärtig neben den weichen Stellenbesetzungskriterien, die vor allem auf Personenmerkmale rekurrieren, formale Kriterien wie etwa Hochschulabschlüsse einbezieht.
5. Berufsbiografie: Ricarda Korn
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Antritt der Stelle als Gewerkschaftssekretärin und deren Bedingungen Zur Klärung der berufsbiografisch relevanten Orientierungen der Informantin bietet es sich an, weitere Textpassagen der Analyse zu unterziehen. Ich verwende dazu das dritte Segment der Eingangserzählung, in dem die Informantin die Zugangsvoraussetzungen für hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit an ihrer eigenen Berufsbiografie thematisiert und sich zu ihrem neuen kollegialen Umfeld äußert: „und äh kam damals a- auch als einzige Frau dann als Nachfolgerin einer Kollegin die in Ruhestand gegangen war dann äh in ein Club alter Männer eigentlich ne //hm// also das war´n schon alles //hm// langjährig gediente äh Kollegen und äh da ich äh von Haus aus eigentlich da so geprägt war gewerkschaftspolitisch geprägt mein Vater war auch in der //hm// IG Druck und Papier äh also auch so´n DGB Gewerkschafter und äh d- ja äh Nähe auch SPD und alles mögliche also so´n so´n äh Engagement //hm// äh war das für mich halt äh nicht so abwegig jetzt nach meiner pädagogischen Ausbildung dann auch äh Gewerkschaftssekretärin zu werden.231
Zunächst macht sie deutlich, dass sie die einzige Frau unter den Gewerkschaftssekretären gewesen sei und die bis dahin einzige weibliche Sekretärin ersetze. Frau Korn bezeichnet die betreffende Einzelgewerkschaft als einen „Club alter Männer“, in den sie nun beruflich einmündet. Diese „alten Männer“ werden von ihr detaillierend als „Kollegen“ beschrieben, die diese Tätigkeit bereits seit langem ausüben und in das gewerkschaftliche Milieu hineingewachsen sind. „Der Organisation langjährig gedient“, so könnte man der von der Informantin gebrauchten Kategorie voranstellen, transportiert eine über die zeitliche Dimension hinausgehende, tiefer liegende Dimension beruflicher Identifikation. Hiermit ist eine besonders intensive Bindung an die Gewerkschaft gemeint, die auf eine Identifikation mit ihren grundlegenden Idealen wie soziale Gerechtigkeit, Gemeinschaft und Solidarität unter abhängig Beschäftigten sowie einer prinzipiellen Kapitalismuskritik basiert. Die „alten Männer“ verstehen sich als „Diener“ und Kämpfer für eine höhere Idee, die in eine Gesellschaftskritik mündet. Über den textuellen Bezug erschließt sich durch die oben stehende Passage ein Gegensatzpaar, in welchem die Informantin sich selbst in maximalen Kontrast zu ihren beruflich erfahrenen und daher als höher identifizierten Kollegen setzt. Ich möchte dies kurz erläutern: Frau Korn entscheidet sich als „frauenpolitisch“ engagierte und akademisch ausgebildete Lehrerin, ihre berufliche Perspektive als dauerhaft staatlich beschäftigte und abgesicherte Pädagogin aufzugeben und fortan in einem „Club alter Männer“ zu arbeiten. Man kann sich vorstellen, dass diese kontrastreiche Mischung der Beschäftigten ein und derselben örtlichen Geschäftsstelle durchaus zu 231
Auszug aus der Eingangserzählung.
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III. Empirisch-analytischer Teil
Konflikten in der beruflichen Arbeit durch unterschiedliche berufliche Haltungen und Orientierungen führen kann. Doch weder die Tatsache, dass sie als einzige Frau unter vielen Männern, noch dass sie als Berufseinsteigerin über berufliche Erfahrungen im Allgemeinen oder gewerkschaftliche im Speziellen verfügt, führt zu nennenswerten Konflikten. Wie lässt sich dies erklären? Die Bedingung, die diesen unproblematischen beruflichen Wechsel ermöglicht und zugleich milieubezogene Anschlussschwierigkeiten verhindert, liegt meines Erachtens im Herkunftsmilieu der Informantin, das im Kommentar zu diesem Segment dargestellt wird. Frau Korn führt – neben ihrem Freund – in diesem Segment einen zweiten signifikanten Anderen, nämlich ihren Vater, ein und sagt, dass sie in ihrem Elternhaus „gewerkschaftspolitisch geprägt“ wurde, da ihr Vater „also auch so’n DGB-Gewerkschafter“ gewesen sei. Hierin liegt für sie die Begründung, weshalb ihr der Wechsel in eine gewerkschaftliche Anstellung nach erfolgreich absolvierter pädagogischer Ausbildung „nicht so abwegig“ vorkam. Es wird deutlich, dass Ricarda Korn durch das gewerkschaftspolitische Engagement des Vaters, einem weiteren Milieuvermittler, bereits früh in ihrer primären Sozialisation eine Prägung erfuhr, die für einen späteren berufsbiografischen Orientierungswechsel wenigstens begünstigende, wenn nicht gar bedingende Bedeutung entfalten kann. Zudem hat sie durch die berufliche Tätigkeit ihres Freundes über ihre Herkunftsfamilie hinaus einen vermittelten Einblick in die gewerkschaftspolitische Arbeit. Über den Partner, ebenfalls Milieuvermittler, wird der Informantin ein neuer Zugang zur sozialen Welt einer Einzelgewerkschaft vermittelt, durch den sie explizit an die frühere gewerkschaftspolitische Sozialisation durch den Vater anknüpfen kann. Als Frau in einer männlich dominierten Organisation beschäftigt zu sein thematisiert Ricarda Korn erst im Kontext ihrer aktuellen Tätigkeit als Geschäftsführerin, also erst sehr viel später, im Nachfrageteil des Interviews. Die Dimension „Geschlecht“ erlangt dort insofern besondere Bedeutung, da ihr der Ruf als ehemalige Frauenreferentin auch in der gegenwärtigen Arbeit vorauseilt. Dies zeigt sich an einem Auszug des Nachfragteils: „also ich habe ja auch hier äh Sekretäre die phh der eine ist äh auch glaube ich auch schon achtundfünfzig oder so der ge- die kenn ich nun alle sehr gut auch von früher her noch (.) aber ich weiß der eine Kollege //hm// der hatte eigentlich schon ´n Problem ne dass er dachte Ricarda kommt unsere Oberemanze ne //hm// weil ich war ja früher die Frauenreferentin //achso// und hab ja immer hier ((hebt den Arm als wenn sie eine Fahne schwingt)) //hm// Fahne ne *Frauen* ((* lachend gesprochen)) und so weiter und äh das fand der ganz furchtbar weil mit meinem Vorgänger ne das war so Kumpelverhältnis und mein Vorgänger war Tischler //hm// so ne war so so Handwerker und //hm// so ´n ganz anderer Typ die konnten so miteinander ne //hm// und ich als Frau natürlich ne ich sag auch so hier ne das ist sexistisch das ist //hm// frau-
5. Berufsbiografie: Ricarda Korn
195
enfeindlich oder das und das kannst du nich machen oder wie auch immer nein also wir verstehen uns da schon ganz gut aber äh weißt du wenn ich jetzt als Achtundzwanzigjährige hier frisch von ´ner Uni und und und nach ´m Examen hierher //hm// gekommen wäre würde so ´n Job machen also weiß ich nich“.232
Am Beispiel des Textes erhält man einen Eindruck von der heterogenen Zusammensetzung des Personals in diesem nördlichen Bezirk. Während sich die hauptamtlich beschäftigten „alten Männer“, denen wir bereits in der Darstellung ihres Berufeinstiegs begegnet sind, untereinander sehr gut verstehen, gestaltet sich der Umgang zwischen der als „Oberemanze“ betitelten neuen Geschäftsführerin Ricarda Korn und eben diesen männlichen Kollegen etwas spannungsreicher. Ihre kritische Haltung den beruflichen Handlungen ihrer männlichen Kollegen gegenüber kann sie nur auf der Basis ihrer langen vielseitigen Erfahrungen bei der Gewerkschaft und ihres gewachsenen Selbstbewusstseins kundtun. Die besondere Bedeutung von Erfahrungen für die Praxis der Gewerkschaftsarbeit, die die Informantin diesen beimisst, deutet sich hier bereits an und kann mit der weiteren Analyse stärker fundiert werden.233 3) Milieu-Erfahrungen: Hier: Gewerkschaftliche Milieu-Erfahrungen In welcher Weise Erfahrungen für Ricarda Korn ihre besondere Bedeutung entfalten, soll über deren kontextbezogene Thematisierung erschlossen werden. Im nachstehenden Textauszug schildert sie Schwierigkeiten, mit denen sie zu Beginn ihrer beruflichen Arbeit zu kämpfen hatte: „Also ich denke du brauchst Erfahrungswerte also als ich //ja// als ich al- ich bin mit 28 angefangen bei der Gewerkschaft //ja// und als ich da anfing habe ich immer gedacht du schaffst es nie die Leute mit Kollege oder //hm// Kollegin an- weißt du das ist ja nich üblich Frau Meier zu sagen sondern Kollegin Meier //ja, ja// hab ich gedacht ist das peinlich ist das oh nee //hm// ((lacht kurz)) *aber* ((lachend gesprochen)) du gewöhnst dich natürlich dran so wie man sich an alles gewöhnt //hm// äh nachher war das dann so wenn wenn jemand zu mir gesagt hat auch meinetwegen in der Gewerkschaft Frau Korn dann hab ich gedacht mag die mich nicht ne weißt du //hm, hm// aber meine Kolleginnen in H-Stadt in der Hauptverwaltung die fanden so Kollegin Korn das fanden sie so proletisch ne //hm// weil das sind natürlich manch232 233
Auszug aus dem Nachfrageteil. Die Dimension „Geschlecht“ hingegen taucht nur ein weiteres Mal im Kontext der betrieblichen Interessenvertretung auf. Männer und Frauen werden hier in ihren charakterlichen Einschätzungen gegensätzlich dargestellt, wobei sie Frauen ein größeres Durchsetzungsvermögen bescheinigt, da sie die „größeren Streiterinnen“ und „penetranter im Durchsetzen von Zielen“ seien. Männern hingegen attestiert sie ein „gewisses Karrierestreben“, aufgrund dessen sie nicht gern „Widerworte“ gäben.
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III. Empirisch-analytischer Teil
mal auch so Leute die sich gar nich so- die arbeiten bei der Gewerkschaft die könnten auch bei Siemens arbeiten ne //hm, mhm// ist also die Frage also unsere Frauen hier so vor Ort sind eigentlich auch so Frauen //hm// äh die sich eigentlich auch glaub ich noch stärker auch mit der Gewerkschaft identifizieren die kommen zur ersten Maiveranstaltung oder wenn wir hier Demo machen //hm// kommen sie und so was weißt du //hm, hm// und die andern sitzen manchmal so ´n bisschen fern ab weil die sind da so abgehoben weil die nich so direkt da was mit denen zu tun haben aber also damit will ich nur sagen du brauchst manchmal schon ein gewisses Alter äh um äh ja was heißt Alter eigentlich nich aber du brauchst natürlich ´ne gewisse Erfahrung um um //hm// äh also auch äh äh die die Gewerkschaft zu erleben zu begreifen was da überhaupt abläuft da braucht man eigentlich schon mal erst mal fast ´n Jahr dafür ne“.234
Die Informantin ist aus heutiger Perspektive darüber amüsiert, dass es ihr anfangs unmöglich erschien, andere Beschäftigte mit „Kollegin“ anstatt des sonst üblichen „Frau“ anzusprechen. Sie lässt hiermit einerseits keinen Zweifel an der Allgemeingültigkeit dieser gewerkschaftskulturellen Regel aufkommen und verdeutlicht zudem, dass sie inzwischen voll ins gewerkschaftliche Milieu einsozialisiert ist. Die „Üblichkeit“ dieser Ansprache im gewerkschaftlichen Milieu verdeutlicht sie nicht nur mit der ausführlichen Darstellung als solcher, sondern auch indem sie sich explizit an die Interviewerin wendet – „weißt du das ist ja nich üblich…“ –, womit sie offenbar vermutet, dass der Interviewerin das Berichtete so nicht bekannt ist. Diese Passage ist eine Belegerzählung, die im Kontext der Bedingungen hauptamtlichen Handelns bei Gewerkschaften steht. Für die örtliche Gewerkschaftsarbeit sind nach Meinung Ricarda Korns vor allem Erfahrungen wichtig, die die Beschäftigten im Laufe der Zeit sammeln, wie sie an ihrem eigenen Beispiel zu verdeutlichen sucht. Dass mit dieser Passage ihre Einsozialisierung in das gewerkschaftliche Milieu und somit ein erfolgreich verlaufener beruflicher Lern- und Identifizierungsprozess dargestellt ist, wird ergebnissichernd am Ende des angeführten Segmentes deutlich. So interpretiere sie nun die Ansprache als Frau und nicht als Kollegin Korn als eine ihr gegenüber bestehende und über diese unübliche Ansprache vermittelte Antipathie. Es handle sich jedoch gar nicht um eine bestehende Antipathie, sondern um „Leute“, die zwar bei der Gewerkschaft arbeiten, die aber genauso gut irgendwo anders in der Verwaltung arbeiten könnten. Die Informantin führt insofern eine Gegensatzanordnung ein: Es gibt einerseits Beschäftigte, die zentral in die Gewerkschaftsarbeit eingebunden und in die Milieukultur über gesammelte Erfahrungen einsozialisiert sind. Diese verhalten sich den üblichen Regeln des Umgangs entsprechend, der auch sprachliche Typiken einschließt, und sind so als Gleichgesinnte erkennbar. An234
Auszug aus dem Nachfrageteil.
5. Berufsbiografie: Ricarda Korn
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dererseits gibt es gewerkschaftliche Akteure, die fernab von der zentralen Gewerkschaftsarbeit beschäftigt sind und nicht zur Gewerkschaft passen, was daran zu erkennen sei, dass sie die Ansprache mit „Kollegin“ „proletisch“ fänden, somit gegen die übliche Kultur der Ansprache verstoßen und insofern auch anderweitig beruflich tätig sein könnten. Zu dieser Gruppe gehören ihrer Meinung nach die Beschäftigten der Verwaltung. Von dieser Belegerzählung ausgehend, die sowohl auf ein erfolgreiches Einmünden der Informantin in die gewerkschaftliche Kultur als auch auf eine nunmehr vorhandene berufliche und fachliche Identifikation schließen lässt, wende ich mich erneut der Anfangserzählung zu. Es soll geprüft werden, ob Frau Korn tatsächlich einen berufsbiografisch relevanten Lernprozess im Rahmen ihrer hauptamtlichen gewerkschaftlichen Tätigkeit durchlaufen hat oder ob die oben stehende Belegpassage auf andere Weise gedeutet werden muss. Wandlungsprozess durch beruflichen Verlauf innerhalb der Gewerkschaft Um die berufsbiografisch relevanten Orientierungen Ricarda Korns herausarbeiten zu können, soll nun der zweite suprasegmentale Zusammenhang der Eingangserzählung feinanalytisch ausgewertet werden. Er setzt sich aus drei Segmenten zusammen und beschreibt aufeinanderfolgende Anstellungen, die Frau Korn bei der Gewerkschaft innehat und mit denen verschiedene Aufgabenbereiche und Arbeitsorte verbunden sind, bis zu ihrer derzeitigen Beschäftigung als Geschäftsführerin eines ver.di-Bezirkes im Norden der Bundesrepublik.235 Die Aussagen dieser Interviewpassage bergen sowohl berufsbiografische Spuren als auch Hinweise zu institutionellen Ablaufmustern. Der Erzählgerüstsatz „Und hab dann also verschiedene Sachen da durchlaufen und das hat mir sehr viel Spaß gemacht“ dient einleitend den nun folgenden Detaillierungen zu den „durchlaufenen“ beruflichen Stationen und den damit verbundenen Aufgabenbereichen innerhalb der Gewerkschaft. Die Informantin gibt zu verstehen, dass sie mit diesen Tätigkeiten viel Freude verbinde.236 Im Anschluss zählt Frau Korn die Bereiche ihrer beruflichen Tätigkeiten im Einzelnen auf, um sie daraufhin noch einmal ausführlicher darzustellen. Als Tätigkeitsbereiche nennt sie den „Gesundheitsbereich“, den „Kunst- und Medienbereich, „die „Pressearbeit“ und die „Ersatzkassen“. Es handelt sich hierbei um eine sehr verknappte Darstellung, die sich auf Schlagwörter beruflicher Arbeitsbereiche beschränkt und keine Details expliziert.237 Frau Korn liefert Informationen darüber, weshalb sie ihrer Meinung 235
Auszug aus der Eingangserzählung. Diese Information ist quasi Vorbote des später von ihr aufgestellten Kontrastes zwischen dem beruflichen Handlungsfeld Schule und dem der Gewerkschaft. 237 Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass sie bei der Interviewerin gewerkschaftliches Hintergrundwissen vermutet und daher berufliche Aktivitäten nicht genauer ausführt. 236
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III. Empirisch-analytischer Teil
nach kompetent für „so’n ganzen Strauß von Aufgaben“ ist. Sie führt das „Betrautwerden“ mit dem „Medienbereich“ darauf zurück, dass ihr Partner beim Rundfunk tätig sei. Diese Argumentation bestätigt die eingangs vermutete Deutung, dass sie nämlich von den beruflichen Kompetenzen ihres Freundes profitiert. Diese versetzen sie in die Lage, den „Medienbereich zu machen“. Den „Frauenbereich“ hingegen muss sie übernehmen, weil sie „Frau war“. Ins Auge springen neben der Tatsache, dass Frau Korn eigene berufliche Fähigkeiten aus den Kompetenzen ihres Partners ableitet, die kontextbezogen benutzten Verben. Mit dem „Medienbereich“ wird sie „betraut“, wohingegen sie den „Frauenbereich“ übernehmen „muss“. In beiden drückt sich die Festlegung der Arbeitsbereiche durch Dritte aus, wobei der „Medienbereich“ von der Informantin positiv („betraut werden“) und die Frauenpolitik negativ („machen müssen“) konnotiert wird. Wiederum sind es äußere Faktoren, die Ricarda Korns berufliche Tätigkeitsfelder bestimmen. Diese Tatsache erlangt vor dem Hintergrund, dass der berufliche Wechsel des Freundes ihren eigenen auslöst, indem er ihr einen Zugang zur Gewerkschaft vermittelt, besondere Bedeutung. Es verdichtet sich der Eindruck, dass ihre berufsbiografische Entwicklung bis zum Einstieg in die gewerkschaftliche Arbeit in erster Linie durch äußere auf sie einwirkende Faktoren geprägt ist. Sogar eine von ihr als Kompliment gedeutete Empfehlung, sie gewerkschaftlich anzustellen, führt erst in zweiter Linie zu ihrer eigenen Person, da sie ja lediglich von den Kompetenzen ihres Freundes profitiert. Es ergibt sich also neben dem bereits herausgearbeiteten berufsbiografischen Orientierungswechsel von der Lehrerin zur Gewerkschaftssekretärin und den Hinweisen auf die Rekrutierungspraxis eine weitere analytische Spur. Inwieweit ist also der von außen angeregte berufsbiografische Orientierungswechsel ein Indiz für eine zentrale biografische Orientierung, die als passiv, erduldend oder gar erleidend charakterisiert werden kann? Die Informantin bilanziert ihre gewerkschaftliche Tätigkeit, die sie im Hinblick auf die genannten Arbeitsbereiche „Bildungs- und Frauenpolitik“ insgesamt neun Jahre ausführt, auf folgende Weise: „ja das war eigentlich ein schon positives Erleben“.238 Innerhalb dieses Segmentes wechselt sie die Perspektive und tut dies, indem sie die anfangs gebrauchte „Ich“-Form gegen die „Man“Form austauscht, die eine Distanz zur eigenen Berufsbiografie vermittelt. Das oben eingefügte Zitat drückt ebenfalls eine eher distanzierte Haltung im Kontext ihres beruflichen Wechsels aus, die sich auch am geringen Detaillierungsgrad in der Schilderung der damals ausgeübten Tätigkeit ablesen lässt.239 Hintergrundfo-
238 239
Auszug aus der Eingangerzählung. Demgegenüber kann ein höherer Detaillierungsgrad in den Passagen festgestellt werden, in denen Frau Korn die Arbeitsbereiche „Presse- und Öffentlichkeitsarbeit“ darstellt.
5. Berufsbiografie: Ricarda Korn
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lie für dieses eingeschränkte positive Erleben sind die als Gegensatz dargestellten Tätigkeitsfelder “Schule“ und „Erwachsenenpädagogik“: „Zumal ja auch beispielsweise in der Bildungsarbeit äh das alles eine freiwillige Veranstaltung ist //hm// während Schule beispielsweise ja äh Zwangsveranstaltung ist //hm hm// und in der Schule kann man die Kinder nicht nach Hause schicken und sagen du gefällst mir heute gar nicht aber im erwachsenenpädagogischen Bereich sieht´s natürlich anders aus //mhm// und äh die Leute kommen freiwillig und und haben Interesse und und äh zur Mitarbeit und und das war eigentlich immer ganz schön“.240
Die Informantin spricht in dieser Passage indirekt biografisch. Man erfährt, dass sie ihre berufliche Tätigkeit bei der Gewerkschaft aus dem Blickwinkel ihrer Tätigkeit als Lehrerin sieht. Vor dem Hintergrund, dass die Schule eine „Zwangsveranstaltung“ sei, in dem Lehrer und Kinder einander auf Gedeih und Verderb ausgesetzt sind, wird der freiwillige Kontext der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit mit Erwachsenen in den Augen von Frau Korn „eigentlich immer ganz schön“. Sie bestätigt die bisherige Deutung einer eingeschränkt positiven Erfahrung ihrer beruflichen Arbeit bei der Gewerkschaft, die sich aus der implizit negativen Konnotation ihrer Tätigkeit als Lehrerin ergibt. Grundlegend für diese berufliche „Verbesserung“ scheint die nunmehr gegebene Freiwilligkeit für die Bildung der Erwachsenen zu sein, die sie dem Zwangskontext der Schulbildung vorzieht. Dies mutet jedoch eher als Erklärung an, deren rechtfertigende Züge nicht zu übersehen sind. Auch wenn man berücksichtigt, dass die berufsbiografische Entscheidung Ricarda Korns auf eine optimale Passung der bisherigen und künftigen beruflichen Tätigkeiten, auf die Tatsache, dass ihr das gewerkschaftliche Milieu vermittelt durch ihren Vater und ihren Freund als signifikante Andere vertraut scheint, und darauf, dass sie Bildungsarbeit in einem Freiwilligkeitskontext gegenüber einem Zwangskontext favorisiert, plausibilisiert sich die Attraktivität des berufsbiografischen Orientierungswechsels für die Informantin nur unzureichend. Man fragt sich weiter, welche biografischen Gründe diesen bewirkten, wie die eingeschränkte Zufriedenheit mit ihrer neuen beruflichen Tätigkeit einzuschätzen und ob diese von Dauer oder nur temporär ist. Festzuhalten ist, dass während der ersten Phase ihrer gewerkschaftlichen Tätigkeit bei Ricarda Korn keine volle Identifizierung mit ihrer beruflichen Arbeit vorliegt.241 In den 1990er Jahren durchläuft sie vier weitere gewerkschaftli240 241
Auszug aus der Eingangserzählung. Auch in anderen Kernfällen wie bei Jürgen Teschner und Regine Bauer konnten Hinweise auf eine Unzufriedenheit mit der derzeitigen beruflichen Tätigkeit gefunden werden. So stellt sich die Fra-
200
III. Empirisch-analytischer Teil
che Anstellungen, die eine Dauer von einem Jahr bis zu fünf Jahren umfassen. An der Darstellung des beruflichen Werdegangs innerhalb der Gewerkschaft fällt auf, dass es sich zumeist um knappe Angaben zur Stellenbezeichnung, zur Einbettung derselben in die gewerkschaftliche Hierarchie und zum Beschäftigungsort handelt. Hingegen führt sie nichts zu ihrer jeweiligen Tätigkeit im Speziellen, zu sozialen Rahmen oder Beziehungen aus. Darüber hinaus wird an jeder der aufgenommenen Tätigkeiten deutlich, dass die Initiative zu diesem Stellenwechsel nicht von Frau Korn selbst ausging. Sie formuliert das auf folgende Weise: „bin gewechselt“, „bin wiederum gebeten worden“, „kam wieder der Ruf“, „dass ich kommen sollte“, „hat mich geholt“.242 Diese Darstellung ist im Hinblick auf die institutionellen Ablaufmuster in der Gewerkschaft sehr aufschlussreich. Die hauptamtlich Beschäftigten können, nach Aussage Frau Korns, prinzipiell im gesamten Bundesgebiet eingesetzt werden. Sie selbst folgt den verschiedenen „Rufen“ innerhalb Norddeutschlands und ist offenbar flexibel genug, sich den unterschiedlichen beruflichen Anforderungen erfolgreich zu stellen. Man kann der Informantin insofern ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit attestieren, die sie als Ressource für ihre gewerkschaftliche Arbeit allerdings auch nötig hat. Die Art des bislang dargestellten innergewerkschaftlichen beruflichen Verlaufs, die sich einer knappen Funktionärssprache bedient und an äußeren Merkmalen wie Orte und Stellenbezeichnungen orientiert ist, verändert sich mit dem nächsten Segment. Evaluation und Bilanzierung des berufsbiografischen Verlaufs: Von der Impulsgeberin zur Impulsempfängerin Es handelt sich hierbei um das letzte Segment vor der Erzählcoda und das umfangreichste in der gesamten Anfangserzählung. Im sogenannten PräcodaSegment wird, wie bereits angemerkt wurde, für gewöhnlich die derzeitige berufliche Tätigkeit dargestellt und vor dem eigenen beruflichen Werdegang bilanziert. Insofern ist damit zu rechnen, dass die Perspektive der Informantin auf ihre berufsbiografische Entwicklung hier klarer werden wird. Ricarda Korn wechselt auf eine freiwerdende Stelle in einem nördlichen ver.di-Bezirk und sagt, dass ihr dies „schon viel Spaß“ bringe. Diese Freude an der beruflichen Tätigkeit wird sprachlich an ihre bisherigen Erfahrungen in der hauptamtlichen Gewerkschaftsarbeit rückgebunden. Ihre emotionale Bilanz zur gegenwärtigen beruflichen Tätigkeit wird also vor dem Hintergrund ihrer Arbeit in anderen, höheren Hierarchieebenen der Gewerkschaft dargestellt und im Erge, welche Sinnquellen dem beruflichen Handeln zugrunde liegen, die eine so große Bedeutung entfalten, dass diese Unzufriedenheit in Kauf genommen wird. 242 Auszug aus der Eingangserzählung.
5. Berufsbiografie: Ricarda Korn
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gebnis auf folgende Weise gesichert: „und äh bin jetzt da gelandet wo ich eigentlich nie hin wollte //mhm// nämlich äh ich bin hier so richtig an der Basis“243. Sie entfaltet anschließend die Bandbreite hauptamtlichen Handelns: hierzu gehören in erster Linie die sozialen Beziehungen zu den ehrenamtlichen Akteuren, mit denen sie „richtig viel zu tun hat“, die in ihr Büro kommen und Anliegen vortragen, zu deren Klärung sie beitragen soll, und zudem ungewöhnliche Arbeitszeiten mit Abend- und Wochenendterminen. Obgleich diese Gewerkschaftsarbeit „an der Basis“, wo sie „nie hin wollte“, durchaus besondere Anstrengungen von ihr fordert, bringt sie zum Ausdruck, dass ihr „diese direkte Arbeit vor Ort sehr viel Spaß bringt“. Die Zufriedenheit und Freude an der beruflichen Tätigkeit, die sie erstmals so deutlich darstellt, steht in einem organisationsstrukturellen Spannungsgefüge, welches Frau Korn über diese sehr lange Interviewpassage in vielen Facetten auffächert. Thematisiert werden in erster Linie die Mitgliederbetreuung, die Qualität der sozialen Beziehungen vor Ort, die sozialen Rahmungen der Arbeit sowie die strukturellen Spannungen durch die heterogene Zusammensetzung des ver.diVerbandes. Ein Aufgabenbereich nimmt sich im Hinblick auf die Darstellung als Besonderheit aus: die Pressearbeit. Auf die thematisierten beruflichen Tätigkeiten Ricarda Korns soll im Nachgang ein analytischer Blick geworfen und mit dessen Hilfe geklärt werden, welche Bedeutung die derzeitige Arbeit als Bezirkssekretärin im Kontext des berufsbiografischen Verlaufs der Informantin einnimmt. Es zeigt sich, dass Frau Korn nunmehr eine Position innerhalb der gewerkschaftlichen Struktur einnimmt, deren inhaltliche Aufgaben sie bisher auf hierarchisch übergeordneter Ebene geplant und angeordnet hat. Während sie also zunächst Impulse für die gewerkschaftliche Arbeit vor Ort von der Landes- und Bundesebene aus setzte, empfängt sie solche nunmehr selbst. Sie beschreibt die Konfrontation mit Entscheidungen, die auf höherer Ebene getroffen werden, folgendermaßen: „also normalerweise werden ja von der Landes und Bundesebene werden ja oftmals Aufgaben auch mehr durchgereicht das heißt zum Beispiel wir machen eine Großdemonsa- äh dra- äh Großdemonstration gegen Sozialabbau in Berlin und da müsst ihr so und so viel Leute //hm// bringen und das reicht man an die Bezirke durch //hm// und jetzt sitze ich natürlich genau an der Stelle wo wir´s umsetzen müssen //hm// ich muss sehen dass ich drei Busse voll kriege //hm// oder fünf oder acht so etwas //hm// aber das ist natürlich genau das was äh ich eigentlich ganz schön finde auch zu gucken äh mit welchen Mitteln kann ich die Ehrenamtlichen hm abholen äh
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Auszug aus der Eingangserzählung; weitere Bezeichnungen für ihre gegenwärtige Stelle sind „Arbeit vor Ort“, „ganz nah am Mitglied dran“, „genau an der Stelle wo wirs umsetzen müssen“.
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III. Empirisch-analytischer Teil
wo stehen sie was interessiert sie //hm// welche Themen sind relevant um für Gewerkschaftsarbeit äh sie auch interessiert zu machen“.244
Ricarda Korn verwendet im obigen Textausschnitt die Kategorien „wir“ („machen eine Großdemonstration“) und „ihr“ („müsst die Leute bringen“), die unterschiedliche Wir-Gemeinschaften der sozialen Welt der Gewerkschaft mit ihren verschiedenen Funktionen und Aufgaben darstellen (Subwelten der sozialen Welt der Gewerkschaft). Dass hiermit zweifellos eine innergewerkschaftliche Hierarchie abgebildet wird, kommt dort eindeutig zum Ausdruck, wo sie von „durchreichen“ („an die Bezirke“) oder „zusehen müssen“ („dass ich drei Busse voll kriege“) redet. Frau Korn sieht sich veranlasst, den Impuls zur Mobilisierung der Mitglieder aufnehmend, die avisierten Teilnehmerzahlen für eine Großveranstaltung zusammenzubringen. Rekrutierung und Mobilisierung von Mitgliedern ist also eine zentrale Tätigkeit der Gewerkschaftssekretäre vor Ort, deren Ausführung sie aufgrund sinkender Mitgliederzahlen zunehmend unter Druck setzen dürfte. An solchen Beispieldarstellungen wird jedoch zugleich das je individuelle Bewältigungshandeln der hauptamtlichen Akteure deutlich, welches wiederum Rückschlüsse auf den Grad ihrer Identifikation mit der beruflichen Arbeit zulässt und auch über die Ressourcen und Sinnquellen des beruflichen Handelns Aufschluss gibt. Im Fall von Ricarda Korn ist festzustellen, dass sie gerade die schwierige Aufgabe der Mitgliedermobilisierung als Herausforderung betrachtet: „aber das ist natürlich genau das was ich eigentlich ganz schön finde“. Das berufliche Handeln hauptamtlich Beschäftigter ist folglich durch Impulse aus übergeordneten Strukturen gesteuert, die gewerkschaftspolitische Aktivitäten auf der Ebene des Bezirkes anweisen. In der Beispieldarstellung handelt es sich um die möglichst optimale Selbstpräsentation in der Arena der Arbeitspolitik245. Eine solche gewerkschaftliche Selbstpräsentation lässt sich ohne die Mobilisierung der Mitglieder nicht erreichen. Der Umgang mit dem „von oben“ gesteuerten Handlungsauftrag „Mitgliedermobilisierung zur gewerkschaftlichen Selbstpräsentation“ kann nun prinzipiell bei den Akteuren sehr unterschiedlich sein. Frau Korn betrachtet es im Kontext der Mobilisierung als besondere Herausforderung, Themen, die für die ehrenamtlichen Akteure interessant sein könnten, zu finden. Ein Thema habe für ihre Gewerkschaftsarbeit vor Ort besondere Bedeutung erlangt: die „friedenspolitische Arbeit“. Neben den hierarchiebedingt veranlassten beruflichen Aktivitäten gibt es folglich Impulse zu beruflichen Tätigkeiten, 244 245
Auszug aus der Eingangserzählung. Die in der Passage in Rede stehenden beruflichen Tätigkeiten ordne ich zu den Kernaktivitäten Sentimental Work und Arena-Arbeit zu. Zudem spielt die Kooperations- und Vermittlungsarbeit eine zentrale Rolle.
5. Berufsbiografie: Ricarda Korn
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die den sozialen Beziehungen der hauptamtlichen und ehrenamtlichen Akteure entspringen: „Also hier zum Beispiel in N-Stadt ist es schon so äh dass ich hier Leute habe die sehr stark eben aus der Friedensbewegung und äh //hm// aus der Bewegung gegen Nazis und so weiter kommen und die haben dann bei mir so ´n Feld gefunden nicht also //hm// mein Vorgänger hat sich mit solchen Sachen nicht so beschäftigt //mhm// das war nicht so sein Ding //hm// der kam aus ´m Handelsbereich bei uns und ((räuspert sich)) hat sich auch damit mehr auseinander gesetzt und ähm //mhm// als ich dann kam stürzten sich so einige auf mich und haben so weiß nicht so ´ne intellektuelle Gemeinsamkeit da wohl *gesehen dass wir* ((*lachend gesprochen)) da arbeiten können //hm// und für mich ist es schon so dass i- dass ich solche Sachen auch aufnehme weil ich einfach denke wenn das wichtig ist //hm// oder wenn wenn das so ´n Bedürfnis ist und so ´n Bindeglied ist nicht dann ist das eigentlich auch schon ganz positiv“.246
Welche Themen für die gewerkschaftliche Arbeit vor Ort Bedeutung erlangen, wird von den jeweiligen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Akteuren ausgehandelt. Vorlieben und Interessen beider Akteursgruppen scheinen hierbei gleich viel Gewicht im Verhandlungsprozess einzunehmen. Ricarda Korn schreibt den Themen gewerkschaftlicher Arbeit eine besondere Funktion im Rahmen des Bindungsprozesses ehrenamtlicher Akteure zu. Im oben geschilderten Beispiel handelt es sich augenscheinlich um ein optimales Passungsverhältnis der Interessen beider Verhandlungspartner. Das Thema „Friedenspolitik“ kann insofern größtmögliche Bedeutung für die gewerkschaftspolitische Arbeit vor Ort entfalten. Die Formulierung der Informantin, die in diesem Kontext betont von „hier bei mir im Bezirk“ spricht, lässt sich leicht als Ausdruck ihrer Identifikation mit der geschäftsführenden Tätigkeit im ver.di-Bezirk identifizieren. Während sie also zu Beginn ihrer gewerkschaftspolitischen Arbeit, impulssetzend, noch nicht voll mit derselben identifiziert war, kann man nun ohne Zweifel von einer positiven Haltung zu ihrer berufsbiografischen Entwicklung ausgehen. Hierfür spricht auch der höhere Detaillierungsgrad in dieser Passage des Interviews. Weitere Belege für die errungene berufliche Identität bei der Gewerkschaft enthalten die Beispiele, die die Informantin aus ihrer Arbeit berichtet. Zentrale Bedeutung für die friedenspolitische Arbeit erlange auch die „Arbeit gegen Rechtsradikalismus“. Diese erwächst wiederum aus einer Initiative vor Ort, gehört also zur verhandelbaren Dimension hauptamtlicher Arbeit. An den häufig in der Darstellung auftauchenden „Wir-Gemeinschaften“ verdichtet sich die Vermutung ihres eindeutigen Zugehörigkeitsgefühls zur Gewerkschaft. Um ein Zeichen gegen die 246
Auszug aus dem Nachfrageteil.
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III. Empirisch-analytischer Teil
„Ansiedelung von Neonazis“ zu setzen, werden inner- und außergewerkschaftliche örtliche Bündnisse geschlossen, entfaltet also die Kooperation auf breiter Basis eine zentrale Rolle für die Gewerkschaftsarbeit auf der Ebene des Bezirks. Um eine möglichst hohe Beteiligung an solchen Großkundgebungen zu erreichen, ist der aktive Einbezug der untersten Strukturebene der Gewerkschaft unabdingbar. Es handelt sich hierbei um die eingangs erwähnten Ortsverbände, die von den ehrenamtlichen Akteuren der Gewerkschaft getragen werden. Die berufliche Aktivität Mitgliedermobilisierung entfaltet also sowohl für die „von oben“ gesteuerte Dimension hauptamtlicher beruflicher Arbeit als auch für die spontane, verhandelbare Dimension zentrale Bedeutung. Ein Schwerpunkt für die hier untersuchte Arbeit der hauptamtlichen Akteure liegt insofern auf der Qualität der sozialen Beziehungen zwischen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Akteuren vor Ort.247 Die aktuelle gewerkschaftliche Tätigkeit Frau Korns ist also durch einen besonders engen Kontakt zu den Mitgliedern der Gewerkschaft gekennzeichnet und stellt auch von daher einen Kontrast zu ihren letzten drei Stellen dar. Man könnte mit Blick auf die strukturelle Ebene von einem Karriereabstieg sprechen, da die Informantin von der Bundesebene, die im Hierarchiegefüge der Gewerkschaft den höchsten Rang einnimmt, über die Ebene des Landes auf die örtliche Ebene gewechselt ist.248 Dieser Abstieg wird allerdings von Ricarda Korn anders bewertet, da sie ihre berufliche Aufgabe als anspruchs- und voraussetzungsvoll empfindet und zur souveränen Erfüllung derselben über einen vielseitigen Fundus fachlichen Wissens aus der gewerkschaftspolitischen Handlungspraxis sowie über ein starkes Selbstbewusstsein verfügen muss. Ihre langjährigen, unterschiedlichen beruflichen Erfahrungen in der Arbeit bei Gewerkschaften führen zu einer gewachsenen Kompetenz in der Gewerkschaftsarbeit und manifestieren sich in einer eindeutigen berufsbiografischen Identität. Frau Korn äußert sich hierzu wie folgt: „weißt du wenn ich jetzt als Achtundzwanzigjährige hier frisch von ´ner Uni und und und nach ´m Examen hierher //hm// gekommen wäre würde so ´n Job machen also weiß ich nich //hm// weißt du //hm// (.) du kannst ja niemandem was erzählen ne //hm// weil mir können sie hier nichts erzählen weil ich immer sagen kann liebe Leute ich hab Tarifverhandlungen im Einzelhandel gemacht //hm// als ´ne Kollegin Schwangerschaft in der Schwangerschaft war äh ich hab die ganzen Tarifverhandlungen äh auf Bundesebene und als Haustarifverträge im Medienbereich gemacht ich hab hier auch vor Ort ich hab dies und jenes //mhm// und total verschiedene Bereiche ne //hm// erzähl du mir was ne //hm, mhm// und das ist ja manchmal auch so 247 248
Eine zentrale Kategorie der beruflichen Tätigkeiten ist das Sentimental Work. Die Informantin spricht im Nachfrageteil eigenmotiviert über die von ihr beobachtete Tendenz der hauptamtlichen Akteure, so schnell wie möglich in eine Anstellung auf Landes- oder Bundesebene zu wechseln, da diese deutlich besser bezahlt würde.
5. Berufsbiografie: Ricarda Korn
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dass du auch du kommst in eine Position hinein ´ne Kollegin sagte dann zu mir (.) die selber früher Geschäftsführerin war bei der ÖTV sagte die ja ach Ricarda und das ist furchtbar und nun eine Woche vor der Bezirkskonferenz wirst du jetzt hier in diesen Job und dann hast du dann Bezirkskonferenz und alles ganz schwierig und dann habe ich zu der Kollegin gesagt sage ich weißt du ich habe auf Landesebene Landesverbandstage organisiert ich habe auf Bundesebene Bundeskongresse organisiert //hm// da wird mich solch eine kleine Bezirkskonferenz nicht gerade *schocken nich weißt du //hm, hm// aber* ((* lachend gesprochen)) das ist natürlich so weil weil Leute gönnen dir natürlich zum Teil den Job auch nicht ne //hm// sie würden den auch gerne selbst machen //mhm, mhm// halten sich natürlich selbst für viel qualifizierter *oder wie auch immer* ((lachend gesprochen)) also //hm// das ist natürlich schon äh und da ist es natürlich mal ganz wichtig auch Ehrenamtlichen gegenüber dass man so ´n gewisses Standing hat und äh sich da so´n bisschen durchsetzen kann ne //hm// also ich hab zum Beispiel kein Problem damit zu sagen auch ich weiß es nicht ich kann es nicht oder klärt mich mal auf oder so was ne //hm// weißt du aber das das das Selbstbewusstsein hast du meistens eigentlich nur dann auch ja wenn du schon gewisse Erfahrungswerte hast ne //hm, mhm// aber ich sach mir immer ich hab Abitur ich hab meine Examen ((lacht)) *was soll mir noch passieren also* ((*lachend gesprochen)) //mhm// das das äh ((räuspert sich)) ist halt einfach äh so“.249
Diese Passage steht stellvertretend für andere selbstläufig eingebrachte Situationsbeschreibungen und verdichtet die Deutung des berufsbiografischen Entwicklungsprozesses der Informantin. Während sie anfangs über keinerlei berufliche Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit verfügte, kann sie inzwischen auf einen beachtlichen Erfahrungsfundus zurückgreifen, der sie in ihrem Selbstwertgefühl stärkt. Das gestärkte Bewusstsein erwächst aus ihren verschiedenen Tätigkeiten bei der Gewerkschaft und wird sogleich als Ressource in der Auseinandersetzung mit einer anderen hauptamtlichen Gewerkschafterin eingesetzt. Frau Korn thematisiert demnach wichtige Ressourcen für ihre berufliche Arbeit im Zusammenhang mit den grundlegenden sozialen Beziehungen, die sie sowohl zu ehrenamtlichen als auch zu anderen hauptamtlichen Akteuren unterhält. Vertretern beider Gruppen gegenüber müsse sie sich durchsetzen. Deutlich wird, dass für die Informantin die sozialen Beziehungen auf der gleichen Hierarchieebene ebenso von Konkurrenz und Kampf um die bessere Position geprägt sind wie die Beziehungen zu den ehrenamtlich Engagierten, die ihr hierarchisch untergeordnet sind. Es geht für sie darum, „sich nichts erzählen lassen zu müssen“ bzw. den anderen „etwas erzählen zu können“, also selbst in einer unangreifbaren Position zu stehen. Eine solche souveräne Position ist für
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Auszug aus dem Nachfrageteil.
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III. Empirisch-analytischer Teil
sie an die Bedingungen „Erfahrungswerte“ und vielseitige berufliche Praxis geknüpft: „Aber es ist natürlich auch schon so wenn du hier solch eine Aufgabe und Funktion übernimmst dass es natürlich schon gut ist wenn du gewisse Erfahrungswerte irgendwie hast und unterschiedliche Sachen gemacht hast“.250
Da die Erfahrungswerte im Kontext der Durchsetzungskraft gegen andere Akteure der sozialen Welt thematisiert werden, liegt es nahe, dass der Rückgriff auf diese Ressourcen Frau Korns Arbeit sowohl fachlich fundiert als auch zu einer gestärkten Position im Netz der konkurrierenden Akteure führt. Weitere Hinweise auf ihr prozesshaft gewachsenes Selbstbewusstsein und eine uneingeschränkte Identifizierung mit dem Beruf finden sich in der Thematisierung ihrer eigenen beruflichen Grenzen. Zu einem echten „Standing“ bei den ehrenamtlichen Akteuren gehöre selbstverständlich dazu, dass sie zu eventuellen Informationsdefiziten steht und diese nicht zu verbergen sucht. Es kann mit großer Sicherheit behauptet werden, dass es die gesammelten Erfahrungen im Kontext ihrer gewerkschaftlichen Tätigkeiten waren, die das heutige „Standing“ der Informantin fundieren. Die beruflichen Vorerfahrungen – Pädagogikstudium und Referendariat – entfalten als Sinnquellen ihrer hauptamtlichen Tätigkeit weiterhin Bedeutung, wie man an der segmentschließenden Darstellung erkennen kann. Die orientierungsleitende Qualität der pädagogischen Sinnquellen für das hauptberufliche Handeln Ricarda Korns soll mit dem folgenden Textauszug stellvertretend belegt werden: „Ich hatte mit einem ich habe einen sehr äh engagierten //hm// ehrenamtlichen Kollegen auch ein Personalratsvorsitzenden der ähm auch sehr stark in dieser Friedens äh //hm// Bewegung drin ist und gegen Rechtsradikalismus gegen Nazis und so weiter und ich hatte aber oftmals immer das Gefühl dass nur ihn äh dass ihn nur diese Themen interessieren //mhm// und dass er bei allen andern Themen die a- Ohren zuklappt also auch wenn wir bei Sitzungen sind wenn es um Arbeitszeit oder Handel oder sonst was ging das ist richtig so //hm// und da habe ich ihm mal da da irgendwann war´s mir dann irgendwie zu viel und dass ich dann einfach gesagt habe du ich find das irgendwie nich so besonders toll //hm// du bist immer nur für Frieden und Freiheit und Tralala und um alles andere kümmerst du dich überhaupt nicht und da war dann dieser Kollege sehr sehr getroffen //hm// äh aber äh ich hab dann schon gemerkt dass er sich das zu Herzen genommen hat und ähm ja daraufhin eigentlich auch offener für andere Themen geworden ist //mhm// ne weil er sonst irgendwie so´n bisschen mit Scheuklappen auch immer durch die Gegend gelaufen ist aber das ist halt auch so meine Art äh dass ich äh natürlich auch versuche wenn ich so Kon250
Auszug aus dem Nachfrageteil.
5. Berufsbiografie: Ricarda Korn
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fliktlagen sehe oder wenn mich irgendwas irgendwann total so nervt dass ich das Gefühl habe es kommt immer jemand zu mir und sagt du musst mal dies und das und hin und her und mich auch in großem Maße beansprucht irgendwie und auf eiauf der andern //hm// Seite kommt da aber auch keine Hilfestellung oder nichts zurück also da bin ich schon so strukturiert und ich kann mir das anscheinend dann aber oftmals auch erlauben dass dass ich dann den Leuten auch sage was ich davon halte oder was ich von ihnen halte oder was mich dann irgendwie stört //hm// also das finde ich eigentlich auch ganz wichtig das ist ja auch so aus der Pädagogik heraus //mhm// nicht also nicht immer zu sagen ich bin tieftraurig wenn ich stinkend sauer bin ne //hm// sondern dann auch offen und ehrlich zu sagen ich bin im Augenblick total sauer ne weil das und das und das nicht gelaufen ist oder ne weil weil weil die Verabredung nicht //hm// eingehalten worden ist //hm// und damit habe ich eigentlich auch ganz gute Erfahrungen gemacht also dass äh dass man //hm// einfach so auch mal ja über Wahrheiten sprechen muss also dass man nicht alles unter den Teppich kehren kann ne“.251
Erneut werden grundlegende Haltungen, die für das berufliche Handeln bedeutsam sind, und mit diesen gemachte Erfahrungen im Kontext der sozialen Beziehungen zu ehrenamtlichen Akteuren thematisiert. Insbesondere von der Informantin dargestellte Situationen bieten tiefer gehende Einblicke in das Relevanzsystem der Befragten. Diese können an der Verwendung der wörtlichen Rede und dem erhöhten Detaillierungsgrad identifiziert werden. In diesem Fall wurde von der Interviewerin die Frage nach einem Beispiel für einen typischen Kontakt zu ehrenamtlichen Akteuren gestellt, woraufhin die Informantin zunächst allgemeiner die Kontaktwege zu den ehrenamtlich Engagierten beschreibt, um dann an diesem Beispiel genauer darzustellen, wie sich ihre soziale Beziehungen gestalten. Es geht um soziale und politische Bildungsprozesse aus der Perspektive der Informantin; eine authentische, pädagogisch motivierte Haltung den ehrenamtlichen Akteuren gegenüber besitzt hierbei zentrale Bedeutung. Was könnte mit dem Hinweis auf die Pädagogik an dieser Stelle gemeint sein? Ricarda Korn betont die Wichtigkeit, ihre Emotionen so zu benennen, wie sie sie zum jeweiligen Zeitpunkt empfindet. Ein Umetikettieren vorhandener Gefühle kommt für sie nicht infrage, stattdessen favorisiert sie eine sach- und situationsorientierte Thematisierung. In jedem Fall sei eine „offene“ Konfrontation der ehrenamtlich Engagierten mit ihrer Meinung für ein gesundes soziales Gleichgewicht unabdingbar, da sie nicht über Gebühr beansprucht werden möchte. Gleichzeitig reflektiert sie, dass diese Form der Auseinandersetzung nur auf der Basis einer sicher fundierten sozialen Beziehung möglich ist: „ich kann mir das anscheinend dann aber oftmals auch erlauben dass dass ich dann den Leuten auch sage was ich davon halte oder was ich von ihnen halte oder was mich dann 251
Auszug aus dem Nachfrageteil.
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III. Empirisch-analytischer Teil
irgendwie stört“; dies bleibt somit auch nicht ohne Wirkung auf den Adressaten der Kritik. Der Rekurs auf ihren pädagogischen Ausbildungshintergrund könnte als Indiz gedeutet werden, dass sie das Mandat der Erziehung, welches zweifellos im schulischen Bereich vorhanden ist, auf den außerschulischen Kontext ihrer beruflichen Arbeit bei der Gewerkschaft überträgt. In diesem Fall wäre das ein Hinweis auf eine zentrale Haltung zu sozialen Beziehungen: ehrenamtliche Akteure als erziehungsbedürftig zu identifizieren und sich selbst in eine Ziehmutter-Rolle zu setzen. Gleichzeitig könnte dies als Strategie, effektiv zu arbeiten, hier also beruflich nicht überbeansprucht zu werden, dienen. Diese Spur soll durch weitere Analysen des Datenmaterials verfolgt werden. 5.3. Analytische Bilanz Ricarda Korn Ricarda Korn stammt aus einem Elternhaus, in dem gewerkschaftliche Aktivitäten bekannt und üblich sind. Nach dem Abitur absolviert sie einen Lehramtsstudiengang und wird hierüber an akademische Milieus gebunden. Als staatlich examinierte Lehrerin vollzieht sie im Alter von 28 Jahren einen berufsbiografischen Orientierungswechsel zur hauptamtlichen Gewerkschaftssekretärin. Zentrale Bedingungsfaktoren für ihren berufsbiografischen Verlauf in die hauptamtliche gewerkschaftliche Anstellung sind einerseits die gewerkschaftspolitische Prägung durch die Sozialisation im Elternhaus und die fortgesetzte Nähe zur sozialen Welt der Gewerkschaft durch die berufliche Tätigkeit des Freundes. Vater und Lebenspartner treten als signifikante Andere auf und wirken als Milieuvermittler. Bedeutung erlangt zudem die Vertrautheit der Informantin mit den Arbeitsbereichen „Frauen- und Bildungspolitik“. Andererseits erweist sich Ricarda Korns erfolgreiche persönliche Selbstpräsentation im Rahmen eines informellen Vorstellungsgespräches als zentrale Bedingung für das Einmünden in die hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit. In ihrer Gesamtperson wird sie als für die soziale Welt der Gewerkschaft sowie als zur konkreten Verwaltungseinheit passend eingestuft und kann die vakante Stelle erfolgreich besetzen. Ein berufsbiografischer Orientierungswandel von der Berufsperspektive Lehrerin zur gewerkschaftlichen Bildungs- und Frauenpolitik mündet schließlich in einen biografischen Wandlungsprozess. Dieser vollzieht sich über verschiedene berufliche Tätigkeiten bei der Gewerkschaft und stellt sich in erster Linie als Lernprozess dar. Es handelt sich hierbei um die Einsozialisierung in eine neue soziale Welt, die für Ricarda Korn eine andere professionelle Sinnwelt darstellt. Gleichzeitig behalten die im Rahmen des Studiums erworbenen pädagogischen Haltungen ihre Gültigkeit und erlangen handlungsleitende Bedeutung für die sozialen Beziehungen bei der Gewerkschaft. Die ihrem beruflichen Handeln
5. Berufsbiografie: Ricarda Korn
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zugrunde liegenden Orientierungen konnten somit analytisch extrahiert und deren Gebundenheit an ihre berufsbiografische Entwicklung belegt werden. Die Erfahrungen einer sich prozesshaft entwickelnden berufsbiografischen Identität im Rahmen nicht selbst gewählter gewerkschaftlicher Anstellungen prägen, von Ricarda Korn ungewusst, ihren Umgang mit den ehrenamtlichen Akteuren im Allgemeinen und die Gefühlsarbeit im Besonderen. Die berufliche Entwicklung, die sich unter formalen Gesichtspunkten als Karriereabstieg darstellt, jedoch von Ricarda Korn anders, nämlich positiv, bewertet wird, führt zur Übersetzung dieser Erfahrungen in handlungsleitende Orientierungen, die am deutlichsten in den Beispieldarstellungen der Informantin herausgearbeitet werden konnten. Im Kontext der sozialen Beziehungen zu erwachsenen ehrenamtlichen Akteuren, mit denen Ricarda Korn es in erster Linie zu tun hat, schreibt sie sich, selbst kinderlos, die Rolle einer Orientierungsfigur zu, die erzieherisch auf die politische Bildung der Ehrenamtichen einwirkt. Die an die eigenen biografischen Erfahrungen rückgebundene Bedeutung, die sie der Gewerkschaft attestiert, besteht für Frau Korn in erster Linie in einem Kontext der Entwicklung und Wandlung und in zweiter Linie in der politischen Interessenvertretung von Arbeitnehmern. Idealerweise sind Mitglieder der Gewerkschaft allseitig politisch interessiert und gebildet und engagieren sich aktiv in örtlichen Strukturen. Für ihre gewerkschaftspolitische Arbeit im mitgliedernahen Bereich haben rituell terminierte, größere Veranstaltungen eine hohe Bedeutung, sind jedoch in ihrer politischen Thematik variabel. Im Hinblick auf die Jugendarbeit nimmt sie die Haltung ein, dass für Jugendliche insbesondere die Integration in eine Gemeinschaft Bindungskraft entfalte. Ebenso wie Jürgen Teschner und Sabine Jung etikettiert auch Ricarda Korn ihren berufsbiografischen Verlauf in die hauptamtliche Anstellung als „ungewöhnlich“. Sie streicht hierbei die Besonderheit ihrer fehlenden Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit heraus. Dadurch wird der Umstand ihrer familiär initiierten Milieuanbindung an die Gewerkschaft über signifikante Andere (Milieuvermittler) sowie die erfolgreiche Präsentation ihrer Person in der Bedeutung für die Rekrutierung verstärkt. Am Datenmaterial zeigt sich eine Ausdifferenzierung gewerkschaftlicher Rekrutierungsmuster hauptamtlicher Akteure, die als Formalisierungstendenzen der Stellenbesetzungen und somit als Modernisierungsmomente eingeschätzt werden. Dem Datenmaterial sind wichtige Hinweise zu jenen Gewerkschaftskarrieren, die in die hauptamtliche Anstellung verlaufen, zu entnehmen, die auf zwei Modelle der Rekrutierung rekurrieren: Aus einer älteren, klassischen Rekrutierung, die sich über die Beobachtung der Akteure in der betrieblichen Interessenvertretung realisierte, differenziert sich eine neue, die auch nicht einschlägig beruflich erfahrene Akteure mit zumeist höherem Bildungsabschluss einbezieht. Die fallbezogen gewonnenen Rekrutierungsmerkmale: Beo-
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III. Empirisch-analytischer Teil
bachtung und Auswahl einer Gesamtperson als informelles, weiches Stellenbesetzungskriterium, Passungsverhältnis zum gewerkschaftlichen Milieu sowie Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit dienen als Kategorien für die noch anstehenden fallübergreifenden Analysen. Man kann sich an dieser Stelle fragen, ob der Zugang zur sozialen Welt der Gewerkschaft lediglich eine Bedingung der Stellenbesetzung dieses berufsbiografischen Verlaufs darstellt oder ein von der Organisation intendiertes Stellenbesetzungskriterium. Da fallübergreifende Analysen jedoch in den berufsbiografischen Verläufen anderer Informanten ebenfalls wenigstens die Nähe zum gewerkschaftlichen Milieu gezeigt haben, muss angenommen werden, dass es sich hierbei um systematisch hervorgebrachte Hinweise auf die gewerkschaftliche Rekrutierungspraxis handelt, sodass diese als grundlegende Kategorien mit theoretischer Relevanz behandelt werden. Diesen empirisch-analytischen Spuren zur gewerkschaftlichen Einstellungspraxis soll im Rahmen der weiteren Fallanalysen nachgespürt werden. In Kategorien gefasster Merkmalraum: Merkmalraum 4: weibliche Akteurin, 1950 bis 1960 Geborene, Zugang zum gewerkschaftskulturellen Milieu, akademische Bildung; informelle Stellenbesetzung: Auswahl über persönliche Ansprache und Gespräch, Stellenbesetzungszeit: 1980er Jahre, Etikettierung der eigenen Karriere als „ungewöhnlich“; Vertrautheit mit politischer Bildungsarbeit in gewerkschaftsnahem Kontext, Prägung der aktuellen beruflichen Arbeit sowie das hieraus resultierende Bewältigungshandeln, insbesondere im Kontext der Rekrutierungspraxis durch eigene berufsbiografische Erfahrungen; Spezifik der Sozialkomponente bei der beruflichen Arbeit: personenbezogene, vertikal orientierte Erwachsenenarbeit, Anstellungsträger ver.di Die systematische Untersuchung der biografischen Erfahrungen, die auf der Grundlage der Darstellungen zur Berufsbiografie erfolgte, generierte auf der Ebene der Einzelfälle theoretische Kategorien, die für die Gewerkschaften rekrutierungs- und bindungsrelevant sind und auf folgende Weise analytisch erfasst werden: • die Bildungserfahrungen, • die Milieu-Erfahrungen sowie • die Partizipationserfahrungen. Aus der fallspezifischen Verbindung dieser Erfahrungskomplexe resultieren voneinander verschiedene biografische Bindungserfahrungen. Die Bindungen bestehen einerseits zur Gewerkschaft selbst und andererseits an andere politi-
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sche, soziale oder religiöse Gruppen, die der gewerkschaftsbezogenen zeitlich vorausgehen. Die Hinweise zur zentralen Bedeutung der Rekrutierungsarbeit für die Gewerkschaftsarbeit im mitgliedernahen Bereich und zur berufsbiografischen Relevanz der Bindungserfahrungen scheinen aus meiner Sicht eine hinreichende Basis zu sein, auf der die theoretische Kategorie der Bindung als Schlüsselkategorie identifiziert werden kann. Nachfolgend werden die in den vier Merkmalräumen zusammengefassten weiteren theoretischen Kategorien eingehender in ihrer Verbindung zur fallbezogenen beruflichen Handlungspraxis und zu hiermit verbundenen emotionalen Aspekten untersucht, da sich die biografische Rückgebundenheit der handlungsrelevanten Orientierungen als empirisches, fallübergreifendes Phänomen gezeigt hat. 6. Prüfung von Häufigkeit und Verteilung von Phänomenen 6.1. Komparative Analyse zur Rekrutierungspraxis als zentrale Dimension hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit Vor dem Hintergrund, dass sich die Bindungserfahrungen sowohl auf der biografischen als auch auf der handlungspraktischen Ebene von berufsbiografischen Verläufen in die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit als zentral erweisen, soll nun die Analyse des sozialen Umgangs der Akteure mit den Mitgliedern fortgesetzt werden. Ich untersuche die Rekrutierungs- und Bindungsstrategien der Akteure durch eine komparative Analyse. Es wird zu zeigen sein, auf welche Weise biografische Erfahrungen, berufliche Handlungsorientierungen und emotionale Zuschreibungen an die Gewerkschaft in den Falldarstellungen der Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen zusammenspielen. Aus den Schilderungen der befragten Akteure zu ihrer beruflichen Arbeit bzw. zu ihren berufsbiografischen Aufstiegsprozessen ging sowohl die Komplexität der alltäglichen Berufsarbeit als auch deren Schwerpunkt, die Rekrutierungs- und Bindungsarbeit hervor. Die hauptberuflichen Gewerkschaftssekretäre und -sekretärinnen sehen ihre vornehmliche Aufgabe darin, neue Mitglieder für die Gewerkschaft zu werben. Dieser empirische Schwerpunkt der beruflichen Arbeit im mitgliedernahen Bereich von Gewerkschaften soll daher nachstehend, anstelle einer Analyse, die die Vielgestalt beruflicher Tätigkeiten in dem untersuchten Bereich berücksichtigt, die vier Kernfälle vergleichend betrachtet werden. Dieser fallkontrastive Arbeitsschritt, der sich des Datenmaterials bereits eingeführter Akteure bedient, beruht auf dem Strauss’schen Konzept zur beruflichen Arbeit arc of work und rekurriert auf die in Gliederungsabschnitt III.1 abgebildete systematische Übersicht zur beruflichen Handlungspraxis. Bei der den
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III. Empirisch-analytischer Teil
Komplex der rekrutierungs- und bindungsbezogenen Aktivitäten fokussierenden Analyse kommt es mir insbesondere darauf an, die gefühlsbezogenen Aufgaben, das Sentimental Work, kontrastierend einzufangen. Dass das Sentimental Work die berufliche Arbeit der befragten Akteure grundlegend durchzieht und prägt, konnte bereits in den Abschnitten II.2.1.6.4 und III.1.5 gezeigt werden. Die Tatsache, aufgrund derer Gefühlsarbeit im untersuchten Bereich gewerkschaftlicher Arbeit ursächlich hervorgerufen wird, gründet sich, so soll erinnert werden, in der zu leistenden Gewinnung, Betreuung und Beratung von Mitgliedern. Emotionen sind insoweit nicht nur prinzipiell sozialen Kontakten immanent, sondern zudem, so wurde in verschiedenen Forschungskontexten erkannt, auch wichtige Bestandteile politischer Erfahrungen (Ferree 2000: 122). Die Hinweise zur gefühlsbezogenen Dimension beruflicher Arbeit (Strauss et al. 1980, 1991d; Glaser 1976) und zur Bedeutung emotionaler Erfahrungen in Partizipationskontexten waren hinreichend genug, um bei der fortgeschrittenen Datenanalyse zum mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaftsarbeit auf diesbezügliche Spuren im erhobenen Datenmaterial zu achten. Tatsächlich zeigt sich nämlich insbesondere im Kontext der Rekrutierungs- und Bindungsarbeit, dass das Sentimental Work eine fallübergreifende Relevanz entfaltet. Ich werde nachfolgend die emotionale Verankerung der rekrutierungs- und bindungspraktischen Aktivitäten in den jeweiligen biografischen Erfahrungen anhand exemplarischer Aussagen der befragten Akteure deutlich machen. Wenn nämlich hauptberufliches Handeln über die eigenen berufsbiografischen Erfahrungen und insbesondere durch Verlauf und Charakter der eigenen Bindung an die Gewerkschaft bestimmt ist, dann muss ferner angenommen werden, dass die ihr jeweils zugeschriebene Bedeutung biografisch differente Aspekte aufweist. Die grundlegenden biografischen Orientierungen erlangen dann auch für die Vorstellungen, welche Motive einer Mitgliedschaft bei der Gewerkschaft zugrunde liegen können, also für die Mitgliedschaftsentwürfe der hauptamtlichen Akteure, zentrale Bedeutung. Die Erwartung, die sich mit einer fallübergreifenden Analyse des konkreten Umgangs der Gewerkschaftssekretäre mit den Mitgliedern verbindet, liegt darin, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der erhobenen Fälle herauszufiltern und zu klären, inwieweit sich fallbezogene berufsbiografische Erfahrungen mit bestimmten gefühlsbezogenen Aktivitäten zu charakteristischen Zusammenhängen verbinden, die die bereits herausgearbeiteten Merkmalräume schärfen können. Mit anderen Worten: Die gezielte Analyse der im Kontext des Sentimental Work stehenden beruflichen Aktivitäten dient der weiteren Ausdifferenzierung der bereits gewonnenen Erkenntnisse zur gewerkschaftlichen Rekrutierungspraxis und dem Auffinden von fallübergreifenden regelhaften Verbindungen zwischen den berufsbiografischen Erfahrungen der Akteure einerseits und ihrer
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Handlungspraxis andererseits. Hierbei stehen die biografischen Bindungserfahrungen der Akteure und ihre aktuellen Aktivitäten im Kontext der beruflichen Rekrutierungs- und Bindungsarbeit sowie ihre Bedeutungszuschreibungen an die Gewerkschaft im Mittelpunkt. 6.1.1. Komparation der Fälle Jung und Teschner zu gefühlsbezogenen beruflichen Aufgaben Die inhaltlichen Hinweise der Akteure Sabine Jung und Jürgen Teschner zu ihrer aktuellen beruflichen Tätigkeit beim Deutschen Gewerkschaftsbund sind nahezu identisch, obgleich sie auf unterschiedlichen Ebenen der Organisationsstruktur arbeiten.252 Beide fokussieren die Rekrutierungs- und Mobilisierungsarbeit, wodurch die Qualität der sozialen Beziehungen zu den ehrenamtlichen Akteuren, das Sentimental Work, besondere Relevanz erlangt. Sowohl Sabine Jung als auch Jürgen Teschner thematisieren die Bedeutung von Bildungs- und Erziehungsprozessen bei ihrer hauptamtlichen Gewerkschaftsarbeit; hierbei überwiegen wiederum die Gemeinsamkeiten die Unterschiede der von ihnen dargestellten beruflichen Schwierigkeiten. Beide schildern die In- und Extensität der zu leistenden Verwaltungsarbeit, die Gefahr der Überforderung ehrenamtlicher Akteure durch Übertragen hauptamtlicher Aufgaben und die zentrale Bedeutung von gewerkschaftlichen Großveranstaltungen (Arena-Veranstaltungen). Sie reflektieren den Handlungsdruck, dem sie als hauptamtliche Gewerkschafter durch die Notwendigkeit, neue Mitglieder zu rekrutieren, ausgesetzt sind, ebenso wie die hiermit verbundene Gefahr, diesen Druck an die nachrückenden Freiwilligen weiterzugeben. Aus dieser reflektorischen Sensibilität heraus favorisieren sie in ihrer beruflichen Arbeit die Förderung von authentischen politischen Haltungen bei den ehrenamtlichen Akteuren und ermöglichen diesen einen möglichst großen Entfaltungsraum. Obgleich es beiden Akteuren um die Förderung von Authentizität und Partizipation bei jungen Freiwilligen geht, verfolgen sie verschiedene Strategien im Kontext der Rekrutierung und Bindung neuer Gewerkschaftsmitglieder. Diese gehen, so konnte rekonstruktiv aus den Einzelfallanalysen herausgearbeitet werden, auf ihre verschiedenen biografischen Erfahrungen und die hieraus resultierenden Bedeutungszuschreibungen an Gewerkschaften zurück: Sabine Jung, die bereits als Abiturientin in die Turbulenzen politischer Kämpfe nach der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten verwickelt gewe252
Sabine Jung arbeitet in einem Landesbezirk in den Neuen Bundesländern, während Jürgen Teschner in einem als Region bezeichneten Verwaltungsgebiet in den Alten Bundesländern für die Jugendarbeit zuständig ist.
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sen ist, hat über diese freiwilligen Aktivitäten in außergewerkschaftlichen Kontexten zu einer linkspolitischen Identität gefunden. Sie ist in erster Linie an die autonome politische Szene als Teil der sozialen Bewegung gebunden. Kern ihrer politischen Orientierung ist eine idealistisch geprägte Haltung zum freiwilligen Engagement, die den positiven Gegenhorizont zu ihrer hauptberuflichen Arbeit darstellt. Das von ihr fortgesetzte ehrenamtliche Engagement, welches sie parallel zu ihrer hauptamtlichen Anstellung verfolgt, stellt sich insofern als natürliche Konsequenz dieser Orientierung dar. Die Gewerkschaft stellt daher für Sabine Jung einen von verschiedenen möglichen Kontexten politischen Engagements und politischer Sozialisation. Die gewerkschaftliche Sozialwelt wird von ihr als zweigeteilte Subwelt wahrgenommen, an deren sozialbewegten Teil, der von ihr als „Jugendverband“ bezeichnet wird, sie sich gebunden fühlt. Die andere Subwelt des Organisationsapparates mit zugehöriger Organisationsratio widerspricht nicht nur ihrem horizontalen Kommunikationsstil, sondern auch ihrer politischen Handlungslogik insgesamt, da diese als von Verwaltungslogik, Macht und Hierarchie dominierte Subwelt wahrgenommen wird. Jürgen Teschner hingegen, der in gewerkschaftlichen Strukturen unter institutionalisierten Bedingungen eine Karriere als ehrenamtlicher Akteur durchlaufen hat, begreift die Gewerkschaft in erster Linie als Rahmen für individuelle Entfaltungs- und Wandlungsprozesse, was auf seinen eigenen biografischen Erfahrungen fußt. Auf folgende Weise thematisiert Jürgen Teschner die Bedeutung von Gewerkschaften: „war im äh Gewerkschaftsgremium X der IG Bau bis jetzt letzte Woche vorletzte Woche da bin ich //ah ja// mein letztes Ehrenamt losgeworden auf’m Gewerkschaftstag hab auf’m Gewerkschaftstag vor der versammelten Mannschaft au’ gelernt zu reden //mhm// und auch mal (.) f- für gewisse Anträge mich einzusetzen //ja// und wie g’sagt ich mach auch sehr viel an äh was heißt Werbung oder was bringt Jugendlichen die Gewerkschaft von heute //mhm// um die Frage noch mal mitzunehmen an mir (.) fescht weil ich könnt heut nich mit dir reden wenn ich nich bei der Gewerkschaft gelandet wär //mhm// also ich hab da sehr viel wenigen Personen zu verdanken //mhm// aber ich hab zumindescht dadurch gelernt aufzutreten hinzu(.)stehen //mhm// Ruhe zu bewahren keine schwitzige Hände zu kriegen (sondern) sich einfach für seine Werte Dinge einzusetzen //mhm// und sich vor allem aber auch zu präsentieren (sondern) sich auch nen Stück weit zu verkaufen lernen //mhm// und net unter’m Marktwert wegzugehen //mhm// ja und aber auch seine Geschichten halt dementsprechend ins Bild zu setzen //mhm// (.) und das is eigentlich des was ich sag das macht G’werkschaft für mich persönlich aus das man sich entfalten kann und sich entwickeln kann //mhm// und das man sehr gute Hilfestellung dafür kriegt“.253
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Auszug aus der Eingangserzählung.
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Der retrospektive Blick auf seine individuelle, von hauptberuflichen Gewerkschaftern geförderte und in der Gewerkschaft durchlaufene Entwicklung verkörpert den Ausgangspunkt für seinen aktuellen Umgang mit jungen Gewerkschaftsmitgliedern. Jürgen Teschner fokussiert in seiner Darstellung die Qualität seiner sozialen Kontakte als ehrenamtlicher Akteur zu wenigen Menschen, bereits hauptamtlich agierende Gewerkschafter, von denen er in seiner persönlichen Entwicklung gefördert wurde. Diesen „wenigen Personen“ habe er „viel zu verdanken“, und zwar im Hinblick auf seine persönliche Entwicklung. Hier bricht sich ein Gefühl der Dankbarkeit Bahn, dass ihm wenige Repräsentanten der Gewerkschaft eine solche Entwicklung ermöglicht haben. Daher richtet sich das positive Gefühl über die konkreten Personen der Gewerkschafter hinaus an die Gewerkschaft selbst. Jürgen Teschner identifiziert aufgrund dieser eigenen Erfahrungen die Gewerkschaft als Kontext, in welchem Personen zu verorten sind, die jugendliche Akteure fördern und unterstützen können, die daher die Bedeutung von Orientierungsfiguren erlangen können. Dennoch, so zeigte die Analyse seiner Biografie, schließt er hier lediglich an ein bereits gelerntes Modell der Bindung an, und zwar an das des signifikanten Anderen. Diese biografische Bindungserfahrung macht Jürgen Teschner während seiner Ausbildung, in der sein ehemaliger Chef, den er bereits aus der Kirchengemeinde kennt, sich seiner beruflichen und persönlichen Entwicklungsförderung annimmt. Dieses Bindungsmodell erlangt berufsbiografisch handlungsleitende Relevanz, da sich Herr Teschner nunmehr selbst in einer solchen Rolle sieht und zu einem Advokaten der nachrückenden freiwilligen Akteure bei der Gewerkschaft wird. Ihm ist insofern bewusst, so zeigt sich am Text, dass sein aktueller Umgang mit ehrenamtlichen Akteuren durch seine eigenen biografischen Erfahrungen mit Repräsentanten der Gewerkschaft grundgelegt ist, nicht jedoch, dass es sich um einen biografischen Anschluss an das Bindungsmodell aus seiner Lehrzeit handelt. Diese für sein berufliches Handeln im Kontext gewerkschaftlicher Rekrutierungs- und Bindungsprozesse zentrale Orientierung dokumentiert sich im Interview an zahlreichen Stellen: „ich versuch zwar die kleinen [Gewerkschaften] immer mitzunehmen aber das ist ganz arg schwer die an sich zu binden weil ich hab keine Mitgliederdatenbank ich bin immer angewiesen was der Jugendsekretär mir //hm// an Datenmengen gibt und dann kann ich dementsprechend auf die Jugendlichen zugehen“.254
Die biografische Grundlegung der Sinnquellen hauptamtlichen Handelns zeigt sich fallbezogen nicht nur darin, dass sich Jürgen Teschner mit Herz und Seele der zeit- und ressourcenintensiven hauptberuflichen Arbeit bei der Gewerkschaft 254
Auszug aus dem Nachfrageteil.
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verschreibt, sondern zeitigt auch die Möglichkeit der Perspektivenübernahme durch berufsbiografisch vergleichbare Erfahrungen: „und durch die Arbeitslosigkeit kann ich auch mittlerweile die die Kids au‘ verstehn die wo in diesen Warteschleifen hängen al- wie wie die sich fühlen müssen“255. Die einzelfallanalytisch herausgearbeitete Ambivalenz einerseits positiv erlebter Chancen zur persönlichen Entfaltung durch die Unterstützung hauptamtlicher Orientierungsfiguren und der andererseits als Gefahr erkannten Parallelität ehrenamtlichen und hauptamtlichen Handelns nachrückender Akteure gehört zu den fallbezogenen Schwierigkeiten beruflicher Arbeit. Dieses, selbst in Ansätzen erfahrene, Gefühl der Überforderung äußert sich in fürsorglichen Gesten den jungen Freiwilligen gegenüber bzw. im Versuch einer Minimierung der Gefahr, diese durch das vorzeitige Hineinziehen in die hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit zu überfordern. Hinzu tritt eine weitere wichtige, jedoch vom Informanten ungewusste Dimension seines beruflichen Handelns, nämlich die eigene berufsbiografische Unsicherheit, ob die Entscheidung für die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit die richtige war. Diese letztlich nicht geklärte biografische Frage findet ihren Ausdruck in der von ihm favorisierten aufsuchenden Bildungsarbeit, die auf die biografisch orientierte Berufsfindung von Jugendlichen ausgerichtet ist: „es gibt äh von uns dieses Planspiel ready steady go //mhm// das ist ein autobiografisches Planspiel ((holt es vom Schrank)) //aha// wo wir versuchen gemeinsam äh mit Kooperationspartnern Bewerbertraining zu machen //mhm// hier hab ich in den letzten halben dreiviertel Jahr also Ende 2005 glaub siebenhundert oder achthundert Jugendliche erreicht in der Region S-Stadt //mhm// über dieses Planspiel //ist ja ´ne Menge// das isch halt auch noch ´ne Arbeit wo viel Aufwand bedeutet viel Kontaktpflege von Betriebsräten“.256
Es handelt sich bei dieser gefühlsbezogenen Aufgabe um eine Förderung von berufsbiografischen Kompetenzen bei Jugendlichen, die der Einschätzung des Protagonisten nach als berufliche Aktivität einen sehr großen Aufwand darstellt. Adressaten für den berufsbiografischen Dienst findet Jürgen Teschner zum Beispiel an Berufsbildenden Schulen. Ihm geht es vor allem darum, die jungen Menschen darin zu unterstützen, die von ihnen favorisierten Ausbildungsberufe zu erkennen und gezielt Kompetenzen für Bewerbungsverfahren und -gespräche aufzubauen. Um diese investigative Arbeit bewältigen zu können, ist Jürgen Teschner auf eine funktionierende soziale Beziehung zu Betriebsräten angewiesen, was er 255 256
Auszug aus der Eingangserzählung. Auszug aus dem Nachfrageteil.
6. Prüfung von Häufigkeit und Verteilung von Phänomenen
217
als „Kontaktpflege“ bezeichnet. An diese vermittelt er also parallel zu seinen eigenen Aktivitäten das nötige Know-how, um dieses „autobiografische Planspiel“ einsetzen zu können. Die Vermittlungs- und Bildungsarbeit, die er an den Multiplikatoren, den Betriebsräten, verrichtet, gehört ebenfalls zum Komplex des Sentimental Work. Die gefühlsbezogenen beruflichen Aktivitäten richten sich somit einerseits direkt auf Schüler und Auszubildende und andererseits auf Multiplikatoren, die einen Teil dieser aufsuchenden berufsbiografischen Arbeit übernehmen sollen. Jürgen Teschner evaluiert seine in diesem Kontext geleistete Arbeit sowohl quantitativ, wie anhand der bezifferten Adressatenzahl deutlich wird, als auch qualitativ: „und hab sehr viele Jugendliche aber das liegt ja na klar au’ an meiner Person an mich binden können“.257 Den Erfolg seiner beruflichen Rekrutierungsarbeit verortet Jürgen Teschner demnach grundsätzlich in seiner eigenen Person, was als eindeutiger Ausdruck seines Selbstverständnisses als Sozialisationsagent der Jugendlichen gewertet werden muss. Im Favorisieren berufsbiografischer Bildungsarbeit mit Jugendlichen erkennt man sein Bemühen, die erörterten Ambivalenzen, die in seiner beruflichen Arbeit immer wieder zur Schwierigkeit werden, zu bewältigen und die eigene biografische Arbeit somit fortzusetzen. Das bedeutet mithin den Versuch, die emotionale Ambivalenz zu seiner beruflichen Arbeit durch ein eindeutiges „Ja“ oder „Nein“ zu ersetzen. Im Zuge der berufsbiografischen Orientierungsarbeit leistet Jürgen Teschner insofern neben der Informationsarbeit zu beruflichen Ausbildungsprofilen, vor allem gefühlsbezogene Arbeit an sich selbst, an Multiplikatoren sowie an den Adressaten seiner Arbeit. Bei der Betrachtung gefühlsbezogener Tätigkeiten in der Gewerkschaftsarbeit zeigt sich darüber hinaus, dass der Kontakt zu jugendlichen Akteuren eine Entschädigung für die als nicht attraktiv empfundene Seite der hauptberuflichen Gewerkschaftsarbeit, zum Beispiel die Verwaltungsarbeit oder auch die extensive Arbeitszeit, sein kann: „aber des Feedback was ich von meinen Jugendlichen krieg lohnt sich hier reinzuhocken“258. Als weitere Energiequelle in der alltäglichen Arbeit bezeichnet Jürgen Teschner gewerkschaftliche Großveranstaltungen, die sich fallübergreifend als wichtige inhaltliche Komponente der Arbeit erwiesen haben und deren kontextbezogene berufliche Tätigkeiten als projektbezogen erkannt wurden. Unter projektbezogenen Tätigkeiten werden solche gefasst, die auf ein Ziel orientiert sind und somit zu einem konkreten Abschluss führen sowie zumeist zeitlich befristet sind. Während die Darstellungen zur beruflichen Praxis der Gewerkschafter insgesamt zwar die Bedeutsamkeit projektbezogener Tätigkeiten aufzeigen, schildert Herr Teschner wenig konkrete Beispiele. Zumeist beinhaltet die Darstellung zu Arena-Veranstaltungen keine Verlaufsperspektive, sondern es werden 257 258
Auszug aus der Eingangserzählung. Auszug aus der Eingangserzählung.
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III. Empirisch-analytischer Teil
lediglich die Rahmenbedingungen, Themen und Erfolge berichtet: Großveranstaltungen wie die jährlich zu begehenden 1.-Mai-Veranstaltungen, der Jahrestag zum Ende des 2. Weltkrieges, der Internationale Frauentag, aber auch andere Veranstaltungen mit rituellem Charakter wie Jubilar-Ehrungen259 oder mit demonstrativem Charakter wie beispielsweise Aktionen im Zusammenhang mit Ausbildungsplätzen. Diese Großveranstaltungen finden in der Öffentlichkeit und häufig auch in Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern statt. Es handelt sich zugleich um Auseinandersetzungs- und Präsentationsräume, in denen sich Repräsentanten verschiedener sozialer Welten treffen, um sich zum Beispiel diskursiv mit dem Thema Arbeitspolitik zu befassen. Hierbei geht es stets um das themenbezogene Erlangen von gesellschaftlicher Definitionsmacht. Daher werden solche Veranstaltungen, die in der Sozialweltperspektive als Arenen gelten, auch als Arena-Veranstaltungen bezeichnet. Diese entfalten für Gewerkschaften deshalb eine besondere Bedeutung, weil sich mit ihnen emotional aufgeladenere Erfahrungen verbinden, als das in der alltäglichen beruflichen Arbeit der Fall ist, und weil mithin aus ihr motivationale Ressourcen für die alltägliche Handlungspraxis, aber auch für die mitgliederadressierte Bindungsarbeit bezogen werden. Im Kontext einer Analyse zur gewerkschaftlichen Rekrutierungspraxis bietet es sich somit an, die wenigen situativen Darstellungen der Befragten zu ArenaVeranstaltungen in die Analyse einzubeziehen. Es soll daher exemplarisch an einer ritualisierten 1.-Mai-Veranstaltung, die unter dem Motto „Du bist mehr als ein Kostenfaktor, Du hast Würde – zeig sie“ (Jürgen Teschner im Nachfrageteil) stattfand, gezeigt werden, mit welchen gefühlsbezogenen Aspekten eine solche, vom Befragten sprachlich als „Aktion“ gefasste Veranstaltung verbunden ist: „Wo hab ich die Pressemitteilung also es messt sich au‘ an Reflexionen meischtens von von der Presse also ich wo ich wirklich superklasse Feelings hatte dabei war einfach unserer Erste Mai Aktion dieses Jahr //mhm// einmal hier und einmal in MStadt oben wir haben hier also es war ganz einfach ich hab gesagt hey erster Mai rückt näher wollen wir was machen und so ja klar wir machen was ((verstellt die Stimme)) //hm// und da hab ich gesagt ja machen wir getrennt oder machen wir gemeinsam //mhm// weil da muss man immer aufpassen so verdi und Metall //hm// sind sich net immer grün //hm// aber ich hab´s geschafft dieses Jahr //mhm// verdi und Metall sind an einen Tisch gehockt //mhm// also sitzen sie immer im Regionsjugendausschuß aber die ganzen (..........)gremien also sprich der ganze OJA der ganze Bezirksjugendvorstand haben sich in größerer Anzahl nicht komplett aber in größerer Anzahl getroffen und ich hatte das Problem dass ich vorm ersten Mai den Aufbau von B-dorf hatte vom //hm// Jugendcamp und dann das ganze Ding organisatorisch bei mir n‘ stückweit liegt //ja// äh das organisieren musste und diesen Aufbau 259
Das ist eine Auszeichnung, die ein Mitglied nach zehn und zwanzig Jahren und weiteren Jahrzehnten der Zugehörigkeit zur Gewerkschaft erhält.
6. Prüfung von Häufigkeit und Verteilung von Phänomenen
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hinzukriegen //hm// und konnte nicht so viel da sein und da haben die Jugendsekretäre diese Rolle übernommen //mhm// ein stückweit und aber die haben fascht nix machen müssen wir haben nur (Termine setzt) und die Kids haben allein g‘macht im Endeffekt isch rauskommen das war ja ähm du bist mehr du bist mehr als ein Kostenfaktor du du hast Würde zeig sie das war das Motto ja und dann haben die einen Thron gebaut mit äh Velour und schön und dann praktisch zwei Stecken unten hin //mhm// haben sich (.) Ganzkörperkondome angezogen also diese Maler //mhm// äh Weschten und haben sich Strichcodes hinten drauf gemacht und oben saß im Thron dann die Chefin mit der Peitsche und so sind die praktisch mit vorne und hinten Plakat noch begleitend //mhm// auf der auf dem Demozug gelaufen anderthalb Stund‘ ham die Jungs des getragen und dann haben sie noch eine supergeniale Rede Männlein Weiblein gemischt vom äh Ding von der B-straße aus gemacht //mhm// wo ich sagen muss das hat wirklich geflutscht und das war eine supernette Aktion jedem hat´s Spaß gemacht //hm// und in der Presse wurden eigentlich großtenartigsten nur wir praktisch wieder berichtet //mhm// also die Jugend war auf´m Vormarsch und das Schöne für die Jugendliche war dass alle andern an diesem Tag net mal mein Chef war so wichtig nach der vor allem nach der Rede einmal vor wo sie reingelaufen sind sind die //hm// Reporter schon zu dene gestürmt und dann nach der Rede noch mal wo die praktisch belagert war‘n von den Reportern da stand ich im Hintergrund das war auch nicht mein Erfolg in dem Sinne das haben sie sich selber zuzuschreiben //ja// aber wenn man´s nur schafft im Prinzip das zu initiieren und das lauft dann //ja// dann hat man sie also find find ich habe ich meine Arbeit richtig g’macht“ .260
Die vorstehende Situationsdarstellung eröffnet Hinweise zur Arbeitsteilung zwischen hauptberuflichen Jugendsekretären vor Ort und jungen freiwilligen Akteuren als an einer Arenaveranstaltung beteiligten Akteuren, zu ihren Inhalten, zu gefühlsbezogenen, aber auch zu evaluativen Aspekten von mitgliedernaher Gewerkschaftsarbeit. Die Rolle, in der sich Jürgen Teschner hier sieht, kann als Initiator und Regisseur bezeichnet werden. Organisatorisch selbst in andere Ereignisse verwickelt, stiftet er eine kooperative Atmosphäre zwischen den Jugendsekretären der großen Einzelgewerkschaften, die sich schließlich zur Vorbereitung der Aktion zum 1. Mai zusammensetzen. Diese Kooperationsbereitschaft bildet die Basis, auf der die jungen Freiwilligen sowohl zum Motto als auch zur Art und Weise seiner szenischen Umsetzung finden. Inhaltlich geht es darum zu zeigen, dass Auszubildende nicht Aufwand und Kosten für die Arbeitgeber darstellen, sondern dass sie menschliche Wesen sind, die in Würde ihre berufliche Ausbildung absolvieren möchten. Sowohl das Motto selbst als auch dessen öffentliche Präsentation provozieren mediale Aufmerksamkeit. Die Resonanz der Medien spielt auch in diesem Kontext eine zentrale Rolle – und zwar sowohl für die jungen freiwilligen Akteure als 260
Auszug aus dem Nachfrageteil.
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III. Empirisch-analytischer Teil
auch für die regieführenden hauptberuflichen Gewerkschafter. Auf der emotionalen Ebene geht es um die über die Medienpräsenz vermittelte Wertschätzung. Zuallererst steht die „Aktion“ im Zeichen des Erfolges der Jugendlichen selbst, denn Jürgen Teschner schreibt ihnen diesen Erfolg explizit zu. Allerdings, so ist man geneigt festzustellen, schlägt er den Erfolg der freiwillig Engagierten in zweiter Instanz auch sich selbst zu. Hierfür stehen seine evaluativen Aussagen zu erfolgreich von ihm geleisteter Arbeit, die darin besteht, die Veranstaltung initiiert und organisiert zu haben. Einerseits gibt es also einen quasi organisationsinternen Gradmesser für erfolgreiche hauptberufliche Arbeit, welcher im Empfinden der ehrenamtlichen Jugendlichen und hauptamtlichen Akteuren liegt, und andererseits einen externen Indikator für den Erfolg einer Arena-Veranstaltung wie dieser, nämlich das Ausmaß der medialen Resonanz. Das Gelingen liegt demnach im individuell empfundenen und kollektiv inszenierten Spaß bei der Aktion und deren medialer Repräsentanz. Der letztgenannte Gradmesser entfaltet für den Erfolg von Gewerkschaftsarbeit eine besondere Bedeutung, die nicht nur aus ihrer Nennung zu Beginn der Darstellung, sondern aus ihrer fallübergreifenden Relevanz geschlußfolgert werden muß.261 Der fallinterne Vergleich hat also gezeigt, dass sich die selbst zugeschriebene Rolle als Initiator und Regisseur mit geteilter Freude über den Erfolg der Jugendlichen sowie mit dem organisationsexternen Attest „mediale Relevanz“ verbindet. Die oben erwähnten motivationalen Ressourcen liegen demnach einerseits in der indirekten Resonanz der eigenen hauptamtlichen Handlungspraxis über den Erfolg der Jugendlichen mit der Arena-Veranstaltung und im Dokument der Wertschätzung durch die Presse, andererseits in der Freude und dem Spaß kollektiver Handlungen im Kontext der Gewerkschaft. Dass die gefühlsbezogenen Aspekte eine besondere Relevanz für die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit entfalten, belegt die folgende Aussage eindrücklich: „aber auch die Atmosphäre wo man da mitkriegt das sind so diese motivierenden Schübe nach vorne in der Arbeit“.262
Zur charakteristischen Erfassung des Umgangs von Jürgen Teschner mit den Mitgliedern füge ich nachstehdens Zitat ein: „ich versuch bei allem was ich tue meine Jugendlichen mitzunehmen und wenn die Jugendlichen ´ne Aktion ´ne Maßnahme ´n Seminar verstehen als ihres //hm// was sie auch so definieren dann (.) funktioniert´s auch und wird auch getragen und macht auch tierisch Laune und isch kein äh Frustrationsgeschichte“.263 261
Vgl. hierzu die Einzelfalldarstellung Ricarda Korn. Auszug aus dem Nachfrageteil. 263 Auszug aus dem Nachfrageteil. 262
6. Prüfung von Häufigkeit und Verteilung von Phänomenen
221
Die Bindungsstrategie des Befragten zielt einerseits darauf, einen paternalistischen Umgang mit den Mitgliedern zu vermeiden, da sie sich dann bevormundet fühlen und die gewerkschaftspolitische Arbeit nicht als „ihr“ Werk ansehen können; andererseits geht es hierbei stets um emotionale Erfahrungen, die Jürgen Teschner im günstigen Fall als „tierisch Laune“ oder im schlechten Verlauf als „Frust“ kategorisiert. Wo liegen nun konkrete Schwierigkeiten bei der Rekrutierung nachrückender Akteure für den Befragten? Zur prinzipiellen Bedeutung des Themas Rekrutierung äußert sich der Befragte wie folgt: „und des ist des Problem wo wir auch haben uns fehlt ´n stückweit der Nachwuchs ja //hm// und dann sagen wir eigentlich sind wir diejenigen die wo Freizeiten machen nach dem äh vierzehnten Lebensjahr wo viele Kirchen Pfadfinder und was weiß ich aufhören ja //hm// und eigentlich müsste ja genug Klientel geben wo die dann Lust hat noch mal ´ne Woche oder zwei Wochen auf ´m Camp zu fahren“.264
Er spricht hier den fehlenden Nachwuchs an und bezieht sich auf die Möglichkeiten der Rekrutierung in freizeitkulturellen Kontexten. Bei der Klärung der Frage, weshalb es der Gewerkschaft an nachrückenden Akteuren mangelt, zieht er verschiedene Erklärungsansätze heran. Schwierigkeiten bei der Rekrutierung verortet er im schlechten Ruf der Gewerkschaften in der nichtgewerkschaftlichen Welt, in den Adressaten und hauptberuflich Tätigen selbst, aber auch in den veränderten Rahmenbedingungen gewerkschaftlicher Arbeit: “und da funktioniert´s auch also wo einer direkt vor Ort hockt funktioniert das auch //hm// aber es hängt an Personen definitiv //hm// und ich kann Jugendliche nur ansprechen oder mit denen äh kommunizieren wenn ich direkt Zugriff krieg“.265
Erneut erlangt man einerseits Hinweise zur Aufgabenteilung zwischen den hauptberuflichen Sekretären vor Ort, hier am Beispiel des Angewiesenseins des DGB-Referenten auf die Preisgabe von Personendaten aus der Mitgliederstatistik, und andererseits zur Wichtigkeit der direkten mündlichen Kommunikation mit den Adressaten der Arbeit. Erfolgreiche Rekrutierungs- und Bindungsarbeit ist lediglich bei den Personen möglich, die selbst schon eine gewisse Engagementbereitschaft mitbringen: „Also wir können sie schon langfristig binden (.) aber es sind nicht die gro- das Gros sondern eher die Elite die wo dann bei uns auch ein stückweit hängen bleibt die wo
264 265
Auszug aus dem Nachfrageteil. Auszug aus dem Nachfrageteil.
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III. Empirisch-analytischer Teil
sowieso schon immer interessiert war politisch wie auch gesellschaftlich um sich weiter nach vorne zu bringen“.266
Interessant ist diese Aussage auch deshalb, weil sie erneut die personenbezogene Orientierung der Handlungspraxis des Befragten zum Ausdruck bringt, da es den Freiwilligen darum gehe, „sich selbst weiter nach vorn zu bringen“. Im Vergleich zu Jürgen Teschner rekurriert Sabine Jung nicht auf die personengebundene und freizeitkulturelle Strategie der Rekrutierung, sondern stellt die politische Sozialisation und damit eine andere Dimension gewerkschaftlicher Bedeutung in den Fokus ihres beruflichen Handelns: „also wenn man die [ein sozialer Bewegungsakteur] haben möchte //mhm// als Gewerkschaft muss man schon Überzeugungstätertum hervorrufen //mhm// oder eben immer wieder darstellen eine große Organisation und das sind die Schwierigkeiten und so also so ´n bisschen (.) ähm die Frage diskutieren ist man jetzt nun ne Apo oder ist man nun wirklich in so ´ner Organisation“.267
Die Informantin, die selbst in außerparlamentarischen politischen Kontexten eine linkspolitisch orientierte Identität als freiwillige Akteurin ausgebildet hat, stellt hier die Kontrastpunkte zur Bedeutung von Gewerkschaften aus ihrer Perspektive dar. Diese liegt zwischen „Außerparlamentarischer Opposition“ und „Organisation“ – also zwischen dem Selbstverständnis eines Akteurs der sozialen Bewegung268, der sich außerhalb etablierter politischer Strukturen kritisch verortet, und dem eines hierarchischen Organisationsgefüges. Diesen maximal kontrastierenden Selbstverständnissen ordnet Sabine Jung differente Logiken politischen Handelns zu. Ihre eigene politische Überzeugung in den Kontext ihrer hauptberuflichen Tätigkeit bei der Gewerkschaft einbringend, wird sie mit der Logik des Gewerkschaftsapparates konfrontiert, woraus für die Akteurin berufliche Schwierigkeiten erwachsen. Die Gewerkschaftskultur, insbesondere aber die verwaltungsbürokratische Dimension der Gewerkschaftsarbeit bereiten ihr große Schwierigkeiten bei der Ausführung ihrer beruflichen Aufgaben. Es handelt sich hierbei um die bereits in der Einzelfallanalyse identifizierte gewerkschaftliche Subwelt, die Frau Jung als „Erwachsenenverband“ kategorisiert und im Gegensatz zum „Jugendverband“ negativ konnotiert. Aus der Analyse ihrer Biografie ging bereits ihre Bindung an die politisch-autonome Szene hervor, aus der sich im Kontext ihrer beruflichen Arbeit eine Vermittlungsnotwendigkeit ergibt zwischen ihrer eigenen, jenseits etablierter Strukturen erworbenen, politischen Ori266
Auszug aus dem Nachfrageteil. Auszug aus dem Nachfrageteil. 268 vgl. zum verwendeten Begriff einer sozialen Bewegung die Ausführungen im theoretischen Teil dieser Arbeit (Kapitel IV). 267
6. Prüfung von Häufigkeit und Verteilung von Phänomenen
223
entierung, die in der Logik der gewerkschaftlichen Subwelt „Jugendverband“ aufgeht, und der beschriebenen gewerkschaftlichen Organisationslogik, die der anderen sozialen Teilwelt, dem „Erwachsenenverband“ zugeordnet wird. Ebenso erwächst hieraus ihr vermittelndes Handeln zwischen politisch gleichgesinnten Akteuren außerhalb der Gewerkschaft und den gewerkschaftlichen Akteuren, die die Organisationslogik vertreten. In diesem Darstellungskontext benutzt sie die Gegensatzanordnung „Studenten“ und „Studentenhasser“, worin, biografisch verdeckt, ihre eigene Betroffenheit als ehemalige Studentin, die sich mit den plakativen Haltungen anderer hauptamtlicher Gewerkschaftsakteure auseinandersetzen muss, zum Ausdruck kommt. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die hauptberuflich tätige Akteurin emotional am stärksten an außerparlamentarisch-politische und damit an soziale Bewegungskontexte gebunden ist, in denen der Prozess ihrer politischen Sozialisation stattgefunden hat. Aus diesen Erfahrungen heraus, die in ihrer Darstellung zu knapp sind, um Details des Prozesses herauszuarbeiten, entwickelt sie nicht nur eine tiefe linkspolitische Überzeugung, die ihrer beruflichen Arbeit zugrunde liegt, sondern auch eine emotionale Loyalität, die dazu führt, dass die Vermittlungsarbeit zwischen der Gewerkschaft als ihrem Anstellungsträger und den außergewerkschaftlichen politischen Akteuren der sozialen Bewegungen eine zentrale Bedeutung entfaltet. Im Hinblick auf mögliche Motivationen, Gewerkschaftsmitglied zu werden, äußert sich Sabine Jung wie folgt: „da könnte natürlich //mhm// n- was allgemeineres w- wie DGB schon auch ne Anlaufstelle sein oder zumindestens das das auch den Leuten dort ähm (.) na wie soll ich das sagen also dass man sich da ein bisschen drauf fokussiert auch dort zu sagen ´behandelt doch eure Mitgliedschaft wie einen Führerschein also (.) das ist einfach ne Interessensvertretung die ihr m- mal nötig haben könnt´ ne also (.) und wenn ´s denn also wenn´s sch- also ich ich bin ja mehr für Überzeugungstäter(.)tum als für ich bin der Kunde“.269
Es wird, indem Sabine Jung die Gewerkschaftsmitgliedschaft mit dem Erwerb eines Führerscheins vergleicht, deutlich, dass der Sinn einer solchen Mitgliedschaft für sie außer Frage steht. Der Vergleich mit einem „Führerschein“ stellt eine Metapher dar, über die es lohnt nachzudenken: So könnte es sein, dass sie die Haltung vertritt, man mache den Führerschein für gewöhnlich in einem Alter, indem man noch nicht wisse, wann man ihn einmal brauchen werde. Der Vergleich bezöge sich dann auf eine beiden Handlungen zugrunde liegende Haltung: im Sinne von „für alle Fälle“ den Führerschein resp. die Gewerkschaftsmitglied269
Auszug aus dem Nachfrageteil.
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III. Empirisch-analytischer Teil
schaft zu erwerben. Die einfache Mitgliedschaft stellt allerdings für die Akteurin eine Art Mindestanforderung dar, da sie jene Mitgliedschaft favorisiert, die nicht im bloßen Wunsch einer potenziellen Interessenvertretung aufgeht, sich also nicht nur als „kundenorientierte Mitgliedschaft“ entpuppt. Die von ihr bevorzugte Motivation für eine gewerkschaftliche Mitgliedschaft liegt vielmehr im „Überzeugungstätertum“, also in einer idealistisch geprägten und authentischen Haltung zu freiwilligen politischen Aktivitäten, die als biografisch motiviert identifiziert wurde. Diese über eigene biografische Erfahrungen erworbene Haltung erlangt zentrale Bedeutung für ihr berufliches Handeln. Gleichwohl reflektiert sie, dass beide Mitgliedschaftsorientierungen und diesbezügliche Wandlungen möglich sind: „also weil das kann Gewerkschaft bieten also ein lockeres ne man muss nicht unbedingt aktiv (.) Bürger werden m- aber man kann es ne mhm// man kann bestimmte Sachen einfach mit (.) mit anfassen“.
Die Haltung Frau Jungs zu ihrer beruflichen Arbeit als Referentin bei der Gewerkschaft besteht also in erster Linie im Wunsch der Förderung politischer Identifikation und Authentizität bei den freiwilligen Akteuren, aus denen gesellschaftliche und gewerkschaftliche Partizipation erwächst. Diese handlungsleitende Orientierung basiert auf ihren eigenen biografischen Erfahrungen, aus denen sie selbst als Modell für nachrückende freiwillige Akteure hervorgeht. Die Gemeinsamkeiten zwischen Jürgen Teschner und Sabine Jung liegen darin, dass sie mit ihrer beruflichen Tätigkeit eine Förderung von politischen Bildungs- und Erziehungsprozessen bei freiwilligen Akteuren der Gewerkschaften verbinden. Die Realisierung wird durch den sozialen Umgang mit den jungen Mitgliedern der Gewerkschaft möglich. Beide sind sich ihrer Verantwortung für die nachrückende Generation bewusst, was sich darin zeigt, dass sie deren Überforderung durch vorzeitiges Hineinziehen in hauptamtliche Tätigkeiten zu vermeiden bestrebt sind. Beide Akteure beugen sich nicht dem Druck einer quantitativ orientierten Mitgliederrekrutierungslogik, sondern orientieren auf langfristige Bindungen, die aus einer Überzeugung ihre Kraft bezieht. Außerdem ist ihnen bewusst, dass sie als hauptamtliche Jugendbildungsreferenten zu Orientierungsfiguren für junge Freiwillige bei Gewerkschaften werden können, indem sie diese durch ihr eigenes berufliches Handeln mit Werten und Überzeugungen konfrontieren. Während sich jedoch Jürgen Teschner explizit in die Rolle einer Orientierungsfigur begibt und daher den Kontakt zu einzelnen Freiwilligen favorisiert, rekurriert Sabine Jung vor allem auf die Bindungskraft kollektiver Einheiten und Aushandlungsprozesse in der politischen Bildungsarbeit und nimmt hierbei beinahe billigend in Kauf, selbst zur Orientierungsfigur zu werden:
6. Prüfung von Häufigkeit und Verteilung von Phänomenen
225
„also zumindestens pff ja mein Anspruch die Leute schon soweit zu bringen zu sagen denkt denkt drüber nach bringt äh macht ne Haltung und (2) guckt- ähm welche Konsequenz ihr zieht ihr müsst nich in die und die Richtung ziehn aber eben müsst vor Augen haben welche Konsequenz möglich wäre so //hm// das is is so was ich so mit politischer Bildung überhaupt mit der Arbeit so verbinde (2) //hm// das so n bisschen aufzuzeigen und dann das nicht nur aufzuzeigen sondern zusammen zu arbeiten zu dem Punkt zu kommen und dann kann also ich schreibe keinem vor wo er hingeht //hm// kann natürlich nicht abstreiten dass man immer weiß ich nicht äh wenn mans au- also wenn mans vorbildhaft tut natürlich Punkte sammelt dabei ne aber (1) //hm// trotzdem immer irgendwie versuchen ihnen da den also nur offen zu halten oder nur zu zeigen (das) alles was du machst hat Konsequenzen und und entweder du reflektierst das und gehst da mit oder du //hm// machst es eben nicht“.270
Beide Akteure wissen folglich um ihre Bedeutung als Orientierungsfigur für nachrückende freiwillige Akteure und sind sich somit der pädagogischen Dimension ihrer beruflichen Tätigkeit bewusst. In ihrem Selbstverständnis verkörpert die Gewerkschaft einen wertorientierten, weil politisch aktiven Verband, in dem politische Sozialisationsarbeit geleistet wird. Dennoch unterscheiden sie sich in zweierlei Hinsicht in ihrem Umgang mit Mitgliedern, die sie an die Gewerkschaft binden wollen. Das betrifft einerseits die Zielstrebigkeit, mit der sie wegweisende Figur sein wollen: Während für Jürgen Teschner sein Wirken als Orientierungsfigur, der junge gewerkschaftliche Akteure nachfolgen, evident ist, geht Sabine Jung davon aus, dass sie zwar nachahmendes politisches Handeln auslösen kann, verbalisiert jedoch eine offenere Haltung zur Entscheidung der ehrenamtlichen Akteure, in welche Richtung sie sich entwickeln wollen. Andererseits stellen sie in der gemeinsam verfolgten Förderung der politischen Partizipation und der individuellen Selbstentfaltung jeweils einen dieser Aspekte in den Vordergrund, ohne jedoch den jeweils anderen Aspekt auszuschließen. Herr Teschner favorisiert die individualisierende an Personen gebundene gefühlsbezogene Arbeit, Frau Jung hingegen die Förderung politischer Partizipation in kollektiven Handlungsrahmen. Die beschriebenen Orientierungen beruhen auf biografisch gelernten Bindungsmodellen, sind demnach biografisch motiviert und finden zudem ihren Ausdruck in einem differenten Bewältigungshandeln im Kontext beruflicher Schwierigkeiten. Schließlich unterscheiden sich beide Fälle auch darin wesentlich, dass sie kontrastierende Aufstiegsprozesse verkörpern. Das Eintreten in die hauptberufliche Arbeit bei der Gewerkschaft vollzieht sich bei Jürgen Teschner informell und gewerkschaftsbezogen, Sabine Jung hingegen wird außergewerkschaftlich rekrutiert und besetzt ihre Stelle formal. Kontrastierend stellt sich ebenfalls der Stil ihrer Bindungsarbeit im Kontext politischer Partizipation dar, der personen270
Auszug aus dem Nachfrageteil.
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bezogen-individuell bzw. aushandlungs- und gruppenbezogen ausgerichtet ist. Während Sabine Jung den idealistisch motivierten politischen Freiwilligen favorisiert, der sich aus tiefer Überzeugung für seine Werte einsetzen will und so auch bei Gewerkschaften seine (berufliche) Heimat finden kann, stellt Jürgen Teschner die auf einer personenbezogenen Bindung beruhende persönliche Entwicklung in gewerkschaftlichen Kontexten heraus und betont hiermit sowohl die Bedeutung einer Orientierungsfigur als auch die berufsbiografische Beratung für die gewerkschaftliche Jugendarbeit. 6.1.2. Komparation der Fälle Bauer und Korn zu gefühlsbezogenen beruflichen Aufgaben Vor diesem Hintergrund sollen nun für Regine Bauer und Ricarda Korn jene gefühlsbezogene Aktivitäten im Zuge der Rekrutierungs- und Bindungsarbeit untersucht werden, die sich bei ihnen, wie bekannt, nicht auf jugendliche, sondern auf erwachsene Personen richten. Regine Bauer, deren berufsbezogener Aufstiegsprozess einzelfallanalytisch als informell und gewerkschaftsbezogen identifiziert wurde, beschreibt den Schwerpunkt ihrer beruflichen Arbeit, die sie in der politischen Bildungsarbeit sieht, wie folgt: „ich seh meinen Job nich als unbedingt als Dienstleistung //hm// muss ich sagen also ich möchte was anderes transportieren //hm// auch so ´n gewissen Idealismus (.) der den kann man manchmal entdecken in Menschen die schon einige schlechte Erfahrungen gemacht haben und sagen //hm// also irgendwie kann das nicht sein aber die fühlten sich nie befähigt was zu machen weil //hm// sie nich wussten wie //hm// und wenn man da den Punkt kriegt dann kann man da sehr viel Interesse wecken“.271
Obgleich die Informantin ihre Arbeit nicht in erster Linie als Dienstleistung versteht und stattdessen Idealismus fördern und wecken will, setzt sie im Umgang mit den Adressaten auf die Vermittlung arbeitsrechtlicher Informationen. Hierin drückt sich nicht nur die biografische Rückbindung an ihre eigenen Erfahrungen im Zuge der Bindung an die Gewerkschaft aus, sondern zugleich die Haltung, dass man den potenziellen Mitgliedern zunächst etwas bieten müsse, um sie für die Arbeit der Gewerkschaften zu interessieren. Am nachstehenden Transkriptauszug wird deutlich, dass Regine Bauer anstelle der politischen Bildungsarbeit mit bereits gewonnenen Mitgliedern verstärkt die Rekrutierung neuer Mitglieder zugewiesen wird und dass sie hierbei die ökonomischen Vorteile der Gewerkschaftszugehörigkeit fokussiert: 271
Auszug aus dem Nachfrageteil.
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„ich mache auch nie Druck also was ich sehr schade finde bei den Gewerkschaften oder bei uns bei der neuen Struktur ist es rausgekommen oder hat sich so entwickelt dass (.) na sagen wir mal Mitgliederwerbung im Moment das Wichtigste ist weil sie uns so wegbrechen //hm// und das wir müssen einfach den Bestand sozusagen sichern um //hm// überleben äh zu können als äh Gewerkschaft aber und das der Job eines Gewerkschaftssekretärs so zu ´ner Drückergeschichte verkommen ist //hm// und ich finde das ganz furchtbar weil wenn man sagt das ist das Wichtigste was wir im Moment tun müssen //hm// dann kann das nicht zu etwas verkommen“.272
Um Gewerkschaften aus ihrer existenzbedrohten Situation zu befreien, so empfindet es die Akteurin, ergibt sich für ihre hauptberuflich Beschäftigten die zentrale Aufgabe der Werbung neuer Mitglieder. Dennoch sollte die Entscheidung, der Gewerkschaft beizutreten und sich hier zu engagieren, stets eine freiwillige sein, sodass sich Druck jeder Art für die Akteurin verbietet. Die Haltung, in erster Linie aus Überzeugung in die Gewerkschaft eintretende Mitglieder gewinnen zu wollen, teilt sie mit Jürgen Teschner und Sabine Jung, die sich ebenfalls explizit gegen quantitative Zwänge der Rekrutierungspraxis aussprechen. Die Informantin gibt jedoch im obigen Transkriptauszug nicht nur Hinweise zur zentralen Bedeutung der beruflichen Aufgabe Mitgliederrekrutierung für Gewerkschaftssekretäre, sondern verweist zugleich auf deren innergewerkschaftliche Wertschätzung, die sie als Geringschätzung erlebt. Hiermit werden also Schwierigkeiten angedeutet, die sich mit der Engführung ihres beruflichen Tätigkeitsspektrums als Gewerkschaftssekretärin verbinden. Wenn Regine Bauer im Rahmen der Mitgliederrekrutierung solche Kontexte vorzieht, in denen sie Arbeitnehmer unterstützen kann, ihre eigenen Interessen in prekären Arbeitsverhältnissen zu vertreten, und sie moralisch stärken, so kann dies als biografisch rückgebunden eingeschätzt werden: „aber im Moment bin ich wirklich das wird immer krasser (.) dazu da wirklich die Leute aufzurichten dass sie überhaupt noch mal die Traute haben sich zu //hm// rühren //mhm// und ja und das ist eigentlich immer schade //hm// also wenn de zwanzig Leute hast dann klagen vielleicht dann vier davon obwohl wenn sie alle zwanzig zusammenhalten würden wär das ´ne (easy)*geschichte* ((*lachend gesprochen)) //hm// das wäre wunderbar //mhm// aber sie tun´s halt nich obwohl sie zum Teil auch in der Gewerkschaft sind //hm// die machen das nich und manche die kriegst du rucki zucki rum und die wenn die einmal Erfolg hatten dann machen die das auch weiter ne //hm// ohne Rücksicht auf Verluste und die bleiben meistens auch am *längsten* ((*lachend gesprochen)) //hm// in so ´m Laden“.273
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Auszug aus dem Nachfrageteil. Auszug aus der Eingangserzählung.
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III. Empirisch-analytischer Teil
Es ist eindrücklich, welche Bedeutung die emotionale Zuwendung im Kontext der sich an potenzielle Mitglieder richtenden Überzeugungsarbeit entfaltet. Zudem zeigt sich die Relevanz der selbsterlebten biografischen Erfahrung des Erfolges arbeitnehmerischer Gegenwehr, die auf einer klassenbezogenen Haltung basiert und aus der die Kraft für eine dauerhafte Bindung von Mitgliedern resultiert. Während sich als eindeutig erwiesen hat, dass die Bindungsstrategien von Regine Bauer biografisch motiviert sind, da sie hierbei auf Kontexte abstellt, in denen es um die empowermentbezogene Unterstützung gewerkschaftlich vertretener Mitglieder geht, die bei erfolgreichem Verlauf die Chance einer langfristigen Bindung an die Gewerkschaft bietet, sind eindeutige Aspekte hinsichtlich ihrer Orientierung auf individuumsbezogenes oder gruppenbezogenes Rekrutierungshandeln schwerer zu generieren. Meines Erachtens zeigt sich eine Tendenz zu gruppenbezogenen Ansätzen, die auf die Vertretung von Arbeitnehmerrechten abzielen und sich daher mit einer Fokussierung ökonomisch motivierter Interessenvertretung verbinden. Regine Bauer stellt bei der Rekrutierung zum einen auf gewerkschaftsbezogene Kontexte ab, und hierin ist die aufsuchende Arbeit an Berufsschulen eingeschlossen; zum anderen verfolgt sie freizeitkulturell orientierte Rekrutierungsstrategien. Ihre beruflichen Handlungen stehen somit im Einklang mit den traditionellen Zielen der deutschen Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung, die die Regulierung der Arbeit angefangen von der politischen Interessenvertretung bis hin zur kulturellen Reproduktion anstrebte. Die freizeitkulturellen Bezüge ihrer Rekrutierungs- und Bindungsarbeit stellen allerdings insofern eine Ausnahme dar, als sie sich stets auf die Rekrutierung von Jugendlichen beziehen, die nicht zur beruflich anvisierten Adressatengruppe Regine Bauers zählen: „also Jugendarbeit hab ich eigentlich weniger gemacht //hm// aber jetz hab ich dann immer mal ich hab jetz mal so ´n Fußballspielwochenende für ganz Bundesland West da war ich mit und //mhm// und musste dann so ´n paar Jugendliche da aktivieren und motivieren die waren auch das erste Mal zum Teil mit und das is auch ganz gut gelungen da wolln jetz auch welche weiter mitmachen //mhm// und jetzt kommen wieder Haufen Berufsschultermine auf uns zu und da versucht man ja auch immer wirklich Interessierte die sich auch nachher mal melden mit einzubeziehen in die Jugendarbeit aber es is schon also bei den Frauen is es *leichter* ((*lachend gesprochen)) als bei den Jugendlichen muss ich sagen //hm mhm// ne //hm// obwohl ich denke wenn man da mal so ´n so ´n Feuer gelegt hat könnt ich mir auch vorstellen dass das funktionieren könnte nur ich hab mich damit nie beschäftigen sollen müssen //hm// und ähm da mir meine eigene Jugend fehlt ähm hab ich da auch nich so ´n unbedingt so ´n Bezug zu //hm// also meine Jugendzeit fehlt mir und ähm von
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229
daher hab ich mich dann eigentlich nie so mit auseinander gesetzt obwohl´s macht mir Spaß ab und zu mal was mitzumachen“.274
An der obenstehenden Textpassage lässt sich nicht nur die Tatsache belegen, dass Regine Bauer nur in der Ausnahme mit Jugendlichen beruflichen Umgang pflegt; der Auszug ist erneut Ausdruck der Bedeutung, die biografische Erfahrungen entfalten. Ich spreche hiermit auf den Hinweis der Informantin an, dass sie deshalb nur in der Ausnahme mit Jugendlichen zu tun habe, weil ihr die eigene Jugend fehle. Wenn man den Fortgang dieser Situationsdarstellung verfolgt, erhält man weitere Hinweise zu gefühlsbezogenen Aspekten der Rekrutierungsarbeit: „Ja bei dieser Fußballgeschichte war das //ja// und da ähm ist ein junger Mann dabei der ist dann notgedrungen Auto gefahren oder er wollte auch unbedingt Auto fahren da fühlte ich mich erst mal mit zwanzig Jahre wieder zurückversetzt ne mit //hm// äh vier Jugendlichen im Auto Musik ganz laut Fenster runtergedreht ((lacht)) //hm// und sind wir dahin gefahren und ja ich hab total Spaß mit denen gehabt es war nämlich ´ne superklasse Fußballmannschaft //mhm// und ähm die sind auch unter die ersten vier von elf Mannschaften gekommen obwohl die sich eigentlich gar nich kannten und //hm// wir eigentlich auch ´n bisschen unterbesetzt waren mussten noch mit ´n paar andern zusammen spielen hat das total Laune gemacht und das hat auch bewirkt dass der eine auf jeden Fall unbedingt nächstes Jahr mit zum Bundesjugendtreffen will //mhm// jetzt hatten ihn so einige aus seiner Klasse sitzen lassen die eigentlich auch mitfahren wollten da //hm// wollte er Druck machen //hm// und hat jetzt schon angekündigt also er möchte halt unbedingt irgendwie weiter irgendwas mitmachen //hm// und das muss man natürlich denn gleich nutzen und sich warm *halten und* ((*lachend gesprochen)) //hm// die dann so ´n bisschen umtütteln und das das denke ich mal //hm// das verstehe ich dann auch unter Feuer legen also es hat da eben so viel //hm// stattgefunden dass der da total Bock hatte //hm// weiterzumachen und sein Freund auch //hm// ne nich immer alle aber //hm// und die müssen das dann selber transportieren in ihre Berufschulklassen und //hm// zu ihren Freunden und das wir denn ´ne größere Truppe denn eben haben die mit nach CStadt fahren und wer dann einmal mit so ´n Treffen mitgemacht eigentlich ist da (.) viel offener für alles //hm// und wir wollen den jungen Mann jetzt auch ähm für so ´n Jugendseminar //mhm// am Wochenende begeistern //hm// und wenn man dann andere kennen gelernt hat und macht erst mal was mit dann ist es der Weg eigentlich schon ziemlich geebnet //hm hm// und wenn es dann auch noch so Bereiche sind wo tariflich auch wirklich für die man noch was machen kann zum Beispiel Dachdecker dass man nach der Ausbildung für die ihr sämtliches was sie nich gekricht haben einfordern kann (.) das ist dann immer schon ´ne ganz gute Sache //hm// ist aber nich leider nich in allen Bereichen //hm// weil die Tarife verschlechtern sich laufende Meter //hm// Mal- Maler zum Beispiel als ich in H-Stadt war hab ich für Jugendliche 274
Auszug aus dem Nachfrageteil.
230
III. Empirisch-analytischer Teil
im Bauhauptgewerbe bis zu zwanzigtausend Mark ausgerechnet für über drei Jahre //mhm// was denen noch zustand //hm// also die werden die Gewerkschaft immer in guter Erinnerung behalten ne //hm// und ich denke mal auch dann dabei bleiben //hm// und also man muss heute schon den Leuten oft was bieten erst mal ne //hm// bevor sie //mhm// was mitmachen“.275
Diesem längeren Transkriptauszug ist eine Reihe von Informationen zu entnehmen. Man erfährt etwas zu gewerkschaftlichen Rekrutierungszusammenhängen – wozu beispielsweise Fußballturniere gehören –, zudem etwas zur Verwobenheit der Rekrutierungsaufgaben, die einerseits von den hauptberuflich Tätigen und andererseits den jungen Freiwilligen (peergebundene Rekrutierung) ausgeführt werden, sowie darüber hinaus zu den emotionalen Aspekten der Bindungspraxis. Auch hier geht es, wie bei den erörterten Arena-Veranstaltungen, um die Bedeutung eines kollektiven Handlungsrahmens, in dem man durch gemeinschaftliches Handeln etwas erleben kann. Hieraus resultiert ein gefühlsmäßiger Zugang der Adressaten gewerkschaftlicher Arbeit zu den Repräsentanten der Gewerkschaft bzw. umgekehrt. Dieser initialisierende Gefühlsbezug wird von den hauptberuflichen Akteuren sowohl in freizeitkulturellen als auch in ausbildungs- und in engerem Sinn gewerkschaftsbezogenen Kontexten provoziert. Der initialisierende Moment der Rekrutierung wird von Regine Bauer metaphorisch als „Feuer legen“ kategorisiert. An einem Feuer kann man sich nun, um in der bildlichen Sprache zu bleiben, wohl und behaglich niederlassen oder auch von der Hitze verbrannt werden – möglicherweise spielen beide Aspekte im Umgang mit zu werbenden und geworbenen Mitgliedern eine Rolle.276 Die Belegerzählung verdeutlicht zudem sehr anschaulich den Prozess der Bindung, der neben der Initialzündung von weiteren Bedingungen abhängt. Hierzu gehört die Pflege des sozialen Kontaktes, die die Befragte als „warmhalten“ und „betüddeln“ bezeichnet. Hinzu kommen die Anbahnung des Kontaktes zu anderen jungen Freiwilligen und das Fördern von Interesse an gewerkschaftsbezogenen Themen. Wenn hauptberufliche Akteure in solchen Rekrutierungszusammenhängen zudem noch dienstleistend tätig werden können, steht einer dauerhaften Bindung an die Gewerkschaft nichts mehr im Wege. Wie sich gezeigt hat, bezieht Regine Bauers Rekrutierungsstrategie vielfältige Kontexte ein, favorisiert jedoch, sowohl biografisch motiviert als auch organisationsbezogen zugeteilt, den Umgang mit erwachsenen Mitgliedern. Die Lösung arbeitsrechtlicher Schwierigkeiten als Fokus eines klassenbezogenen Vertretungshandelns liegt ihr
275 276
Auszug aus dem Nachfrageteil. Vgl. zum negativen Aspekt des „Verbranntwerdens“ die Fallanalysen von Sabine Jung und Jürgen Teschner .
6. Prüfung von Häufigkeit und Verteilung von Phänomenen
231
besonders nah. Zudem sind die emotionalen Aspekte ihrer beruflichen Rekrutierungs- und Bindungsarbeit situationsübergreifend deutlich geworden. Der nun folgende letzte Transkriptauszug bekräftigt die vorab getroffenen Aussagen zu fallinternen Charakteristiken ihrer beruflichen Handlungspraxis und stellt neben den emotionalen Aspekten der Bindungsarbeit die utilitaristische Qualität derselben heraus: „also ich spreche oft Frauen an die eigentlich ähm zeigen dass sie aktiv auch tätig sind oder //mhm// die manchmal sind´s eben Wortführerinnen die sagen Mensch das machen wir jetzt aber los wir klagen unsere Sachen ein //hm// also so Frauen die überhaupt Interesse zeigen an der (.) was steckt dahinter warum kann ich das und wieso //hm// können was sind das für Rechte //ah ja// und so kommt das und die treffen sich ´n paar mal zum Teil sind dann die Betriebsrätinnen auch dazwischen die finden Gefallen dran und ähm sehen dass sie auch für sich da was mitnehmen können und dann funktioniert //hm// das immer ganz gut //mhm// und ich versuche das auch so hinzukriegen aus ganz vielen verschiedenen Bereichen (.) und mein der Frauenarbeitskreis wird auch eigentlich immer größer //hm// muss ich sagen //mhm// das macht Spaß und das wird auch eigentlich vom ähm Bezirksverband selber (.........) es ist ja immer der Geschäftsführer der die Hand da auf´n Finanzen *hält* ((*lachend gesprochen)) //hm// wird das eigentlich sehr gut unterstützt muss ich sagen“.277
„Etwas mitnehmen zu können“ stellt sich aus Regine Bauers Perspektive als Bedingung einer erfolgreichen Rekrutierungs- und Bindungsarbeit dar. Das kann sowohl eine emotionale Erfahrung sein, die sich aus dem Einbringen von eigenen Kompetenzen ergibt, aus der Freude an gemeinschaftlichem Handeln in der Politik oder in der Freizeit, als auch eine durch gewerkschaftliche Dienstleistungen erlangte Auszahlung von ausstehenden Löhnen und Gehältern. Die reichhaltigen Hinweise zur gewerkschaftlichen Rekrutierungspraxis sollen nun anhand der Daten einer letzten Befragten geprüft und, wenn möglich, ausdifferenziert werden. Im Fall von Ricarda Korn bezieht sich die Rückgebundenheit ihrer Rekrutierungsaktivitäten auf die Art ihrer eigenen Bindung an die Gewerkschaft über wechselnde Tätigkeitsbereiche. Besondere Relevanz hierbei entfaltet die Tatsache, dass sie, wie in der Einzelfallsanalyse herausgearbeitet wurde, im Rahmen institutioneller Abläufe an verschiedenen Standorten der Gewerkschaft eingesetzt wird. Im Durchlaufen dieser nicht eigenmotiviert, sondern fremdbestimmt auszuführenden Tätigkeiten wächst Ricarda Korn sukzessive in die ihr bis dahin fremde professionelle Sinnwelt hinein und entwickelt eine Identifikation mit den hier geltenden Orientierungen. Dieser Prozess einer persönlichen Entwicklung 277
Auszug aus dem Nachfrageteil.
232
III. Empirisch-analytischer Teil
und Wandlung, der von der Informantin biografisch positiv konnotiert wird, erlangt für ihr berufliches Handeln, insbesondere jedoch für ihre Rekrutierungsaktivitäten, wie zu zeigen sein wird, zentrale Bedeutung. Unwissentlich überträgt sie diese an sich selbst erfahrene Wandlung auf die Adressaten ihrer beruflichen Arbeit. Dies zeigt sich am deutlichsten an der folgenden metaphorischen Darstellung: „Also insofern ist das natürlich schon immer ganz wichtig sich da auch gute richtige äh und die richtigen Leute auch aufzubauen ne //mhm// die in der Lage sind- bitte ((fragend)) Y: Wie geht das ((fragend)) Ja weiß ich nicht also entweder man findet sie sowieso schon vor oder man muss halt sehen dass man Leute irgendwie versucht zu engagieren oder äh also so so zu motivieren //mhm// irgendwas zu machen nich //mhm// manchmal muss man ja Menschen auch zum Jagen tragen also das hab ich auch schon erlebt dass man dann gesagt hat Mensch möchtest du nich und mach doch mal und äh dann //mhm// aber viele Leute dann in ihrem Job gerade auch im Medienbereich Redakteure sagen ach Mensch ich finde meine Aufgabe eigentlich so toll ich hab gar keine Lust jetzt frei gestellter Personalratsvorsitzender zu sein //mhm// oder so aber wenn die Menschen natürlich erst mal in diese Funktion hineingekommen sind dann lecken sie ja oftmals auch Blut oder sagen //mhm// dann ach Mensch eigentlich ist es ja doch ganz toll diese ne //mhm// das bringt ja doch Spaß oder ich bin ja auch wichtig oder der Chef will mich immer sprechen und und ich muss mich da //mhm// durchsetzen und und und das ist ja so äh wie mit vielen Positionen äh ich kann ja oftmals wenn ich in eine Position neu hineinkomme kann ich ja nicht immer unbedingt sagen fülle ich diese Aufgabe so aus wie ich sie ausfüllen sollte //mhm// und bringt sie mir auch Spaß also es äh //mhm// es hat ja (.) ich meine gut äh nicht alles kann über den Spaßfaktor laufen aber letztendlich //mhm// ist es ja so wenn wenn mir ´ne Aufgabe Freude macht und ich mich äh damit identifizieren kann mach ich denke ich auch ganz gute Arbeit ne //mhm// dass ich auch motiviert bin und äh Lust dazu habe und äh das ist es halt da zu gucken ja //mhm// was hab ich da für Menschen vor Ort oder wen kann ich vielleicht ansprechen in einem Betrieb vielleicht diese Arbeit mit äh zu befördern“278
Im Gegensatz zu Regine Bauer ist Ricarda Korn der Meinung, dass Menschen mitunter auch zu ihrem Glück, aktives Gewerkschaftsmitglied zu sein, gezwungen werden müssten. Die Art und Weise, in der sie selbst erfahren hat, dass es sich lohnt, an zugewiesenen Arbeitsorten beruflich tätig zu werden, übersetzt sie nun in ihre berufliche Rekrutierungs- und Bindungsarbeit. Worin mag nun das Lohnenswerte eines solchen Lernprozesses liegen? Wenn man die von Ricarda Korn formulierten Vorteile heranzieht, so fällt neben 278
Auszug aus dem Nachfrageteil.
6. Prüfung von Häufigkeit und Verteilung von Phänomenen
233
erfahrbarem „Spaß“ auch erlangbare „Wichtigkeit“ ins Auge, die sich darin gründet, dass der „Chef“ mit einem sprechen wolle, sowie die Notwendigkeit, sich „durchsetzen [zu] müssen“. Hiermit spricht sie den Machtaspekt organisationsbezogener Partizipation deutlich genug an, um ihn über den Hinweis auf den „Spaß“ nicht übersehen zu können. Wie bereits aus der Einzelfallanalyse hervorging, besteht bei Ricarda Korn eine Präferenz vertikaler Kommunikation, die die Bedeutung hierarchischer Strukturen in der Gewerkschaftsarbeit hervorhebt. Dieser soziale Umgangsstil resultiert aus ihrem mit Erfolg absolvierten Staatsexamen als Lehrerin und schließt nun an die vertikalen Organisationsstrukturen der Gewerkschaft an. Schulische Kontexte verbinden sich stets mit vertikalen Kommunikationsstrukturen, deren handlungspraktische Relevanz Ricarda Korn über das Lehramtsstudium hinaus im Kontext des Referendariates erfahren hat. Hierin gründet sich der als erzieherisch erkannte Aspekt ihres Umgangs mit den Mitgliedern. Zugleich verfolgt sie die thematischen Interessen der Akteure vor Ort, die entweder bereits Mitglieder sind oder es werden könnten, und greift diese politischen Themen auf. Im Gegensatz zu den horizontal geprägten Kommunikationsund Umgangsstilen von Sabine Jung und Regine Bauer, zeigt sich im Fall von Ricarda Korn demnach ein hierarchischer Stil des Umgangs, der an die von ihr gelernten vertikalen Kommunikationsstrategien im Kontext des Lehramtsstudiums anschließt. Bezogen auf bereits rekrutierte Akteure richten sich ihre beruflichen Aktivitäten darauf, diese zu universell politisch aktiven Personen zu erziehen. Sie schreckt insofern nicht davor zurück, politisch Interessierte im Umfeld von Gewerkschaften zu freiwilligen Aktivitäten aufzufordern, die zunächst in keiner Weise von ihnen in Betracht gezogen wurden. Dieses gegen den Willen der Freiwilligen angestrebte Aktivieren und Mobilisieren von (potenziellen) Mitgliedern drückt sich in der von der Informantin benutzten Metapher „zum jagen getragen“ aus. Eine Identifizierung mit den ursprünglich nicht selbst anvisierten gewerkschaftspolitischen Aktivitäten stellt sich in der Perspektive Ricarda Korns sukzessive und durch organisationsbezogene Machtteilhabe befördert ein, was schließlich in eine Freude an diesen Aktivitäten mündet. Der soziale Kontakt zu den Mitgliedern stellt eine Kraftquelle für ihre berufliche Tätigkeit dar: „also ich bin jetzt hier im Bezirk natürlich ganz nah am Mitglied dran //mhm// und äh merke einfach äh dass einem auch viel zurückgegeben wird weil weil die Mitglieder halt äh gewisse Erwartungshaltungen haben oder sagen Mensch lass uns mal ´n Sommerfest machen oder //mhm// lass uns mal ´n Seminar machen oder lass uns
234
III. Empirisch-analytischer Teil
dies oder jenes machen //hm// und das klappt eigentlich immer sehr gut //hm// also ich komm da eigentlich auch mit den Leuten ganz gut zurecht“.279
Der vorstehende Textauszug zeigt die fallübergreifende Relevanz der bereits fallintern geprüften Motivationsquelle hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit, die in den sozialen Beziehungen zu den Mitgliedern liegt und wiederum die emotionalen Aspekte der beruflichen Arbeit ins Licht rückt. Wie festzustellen war, befasst sich jeder der vorgestellten Akteure schwerpunktmäßig entweder mit jungen oder mit erwachsenen (potenziellen) Mitgliedern der Gewerkschaft. Unabhängig vom jeweiligen Rekrutierungsschwerpunkt in der mitgliedernahen Arbeit wurden die Akteure, sofern sie dies nicht selbst thematisierten, zur Jugendarbeit in ihrer Geschäftsstelle befragt. Dass Ricarda Korn in erster Linie mit Erwachsenen sozialen Umgang pflegt, stellt sich als nicht zufällig heraus. Sie antwortet auf folgende Weise auf die Frage nach der Bedeutung, die die Gewerkschaft für Jugendliche haben könnte: „ich denke Gewerkschaft hat sich für Jugendliche eigentlich nicht so geändert äh dass das auch als eine Art von Gemeinschaft ist also äh gemeinsame Aktivitäten zu machen und äh erleben von (.) Gemeinschaftserfahrungen (.) also nicht umsonst macht natürlich die Jugend auch viele Fahrten also dass sie Skireisen nach Schweden machen oder (.......)jugendcamp //hm// hm Seminare //hm// und solche Sachen also ich glaube das ist schon für Jugend immer ganz wichtig (.) aber Erfahrungen waren früher auch schon immer dass du es manchmal haben konntest dass so ´ne ganze Gang von zwanzig Leuten kam //mhm// das ist ´ne super Jugendgruppe //mhm// und dann waren die aber auch irgendwann wieder weg ne (.) weil das Schöne ist natürlich wenn du er- mit Erwachsenen arbeitest mit älteren Leuten (.) äh dann sind die Kinder groß und aus ´m Haus oder ich hab mich gesattelt äh ich habe mich emanzipiert gegenüber meinem Ehemann dass ich auch mal alleine aus ´m Haus *darf* ((*lachend gesprochen)) //hm// oder zum Seminar darf (.) und so weiter Eifersuchtsgeschichten sind dann schon vielleicht weg weil Beziehungen schon langjährig sind oder ich gar keine mehr habe und dann ist das okay bei jungen Leuten sieht´s natürlich ganz anders aus äh dass die ja häufig in der Situation sind äh dass dass die vielleicht so ´ne Gemeinschafts- also entweder sie gehen zur Kirche oder so sie gehen zur Gewerkschaft oder sie sie treffen sich in irgendwelchen äh PC äh Geschichten oder machen da irgendwelche Computergeschichten (.) aber die sind natürlich auch immer auf ´m Absprung nicht also die jungen Männer müssen irgendwann zur Bundeswehr oder sie machen Führerschein erste Freundin und und und //hm// also da gibt es so viele Unwägbarkeiten ne //hm// oder sie sind dann fertig mit der Ausbildung orientieren sich irgendwie ganz anders insofern ist es immer schwierig äh Jugend so als feste Gruppe zu sehen und und äh die //hm// so zu halten ne (.)
279
Auszug aus der Eingangserzählung.
6. Prüfung von Häufigkeit und Verteilung von Phänomenen
235
also wenn morgen irgendwie ´n Thema kommt was dann wichtiger ist dann sind sie zum Teil auch wieder weg“
Nach Ricarda Korns Einschätzung, die selbst nicht mit der Arbeit mit Jugendlichen befasst ist, hat sich die Bedeutung der Gewerkschaft nicht verändert und liegt stets im Vorzug eines gemeinschaftlichen Kontextes, in dem Erfahrungen gemacht werden können. Dieses Bedürfnis werde durch die speziellen Angebote der Gewerkschaft, die sich über mehrere Tage erstrecken, aufgenommen. In ihrer Darstellung werden die bereits aus den anderen Interviews bekannten Strategien der Rekrutierung über freizeitkulturelle (Reisen, Camps) oder gewerkschaftsbezogene Kontexte (Seminare) erneut erkennbar. Erkenntnisreich ist jedoch nicht nur die fallübergreifende Relevanz gewerkschaftlicher Rekrutierungsstrategien, sondern zudem die Tatsache, dass Ricarda Korn die Jugendarbeit in einen maximalen Kontrast zur Erwachsenenarbeit setzt – und auf welche Weise sie dies tut. Hierzu gehört vor allem der Wechsel der Erzählperspektive vom unspezifischen Du zum eindeutigen Ich.280 Sie konzipiert die Erwachsenen als sozial gereifte Persönlichkeiten, die, entlastet von der Erziehungsarbeit an ihren Kindern und befreit von paardynamischen Schwierigkeiten, zu einer beständig verfügbaren Ressource hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit werden. In der Arbeit mit jungen Mitgliedern seien hauptberufliche Akteure jedoch stets in der Gefahr, diese als Bezugsressource zu verlieren. Daher könne man die Jugendlichen nicht als kollektive Einheit auf Dauer sehen, sondern müsse eher damit rechnen, dass sie bei der nächsten Gelegenheit wieder der Gewerkschaftsarbeit entschwinden würden. Die Jugendphase verbindet Ricarda Korn dementsprechend mit Gruppen, in denen die jungen Freiwilligen gemeinsam auftauchen und auch gemeinsam wieder verschwinden. Aus ihrer Sicht scheint es geradezu beliebig zu sein, in welchen Kontexten Jugendliche anzutreffen sind, im Vordergrund steht die Regel, dass sie es als kleine Gemeinschaften sind. Folgt man dieser Haltung, dass Jugendliche stets als Gruppe zu sehen sind und diese als solche nicht „zu halten“ ist, läge eine mögliche Bewältigungsstrategie darin, Bindungsangebote für Jugendliche individuell auf einzelne Akteure zu fokussieren, wie es als charakteristisch für Jürgen Teschner herausgearbeitet wurde. An dieser Passage zeigt sich daher nicht nur explizit die fallbezogene Präferenz, mit Erwachsenen zu arbeiten, sondern zugleich implizit Ricarda Korns Fokus, individuell mit einzelnen Personen im Erwachsenalter zu arbeiten. Diese Deutung erhärtet die bereits fallintern geprüfte Erkenntnis eines erzieherischen Auftrages im Kontext politischer Sozialisierungsprozesse, wie sie in der Einzelfallanalyse identifiziert
280
Es liegt die Vermutung nahe, dass Ricarda Korn an dieser Stelle biografisch verdeckt spricht und somit implizit über an sich selbst erfahrene Entwicklungen spricht.
236
III. Empirisch-analytischer Teil
werden konnte. Die jungen Freiwilligen weisen demnach in der Perspektive der Akteurin das Merkmal „temporäre Verbindlichkeit“ auf. Dass sie sich in der Frage der Sozialisation zugleich prozessorientiert zeigt, kann mit einem weiteren Textauszug gezeigt werden: „du brauchst natürlich ´ne gewisse Erfahrung um um //mhm// äh also auch äh äh die die Gewerkschaft zu erleben zu begreifen was da überhaupt abläuft da braucht man eigentlich schon mal erst mal fast ´n Jahr dafür ne“.281
Die für Ricarda Korn als charakteristisch herausgearbeitete Orientierung auf sich sukzessiv entfaltende Einsichten durch Reifungsprozesse, die sie ja selbst berufsbezogen erfahren hat, wird durch die obige Aussage erneut bekräftigt. Die soziale Welt der Gewerkschaft erschließt sich, so ihre Überzeugung, den involvierten Akteuren nicht auf den ersten und auch nicht auf den zweiten Blick. Die tatsächliche Bedeutung muss vielmehr individuell über langfristige Erfahrungen durch den hier involvierten Einzelnen erschlossen werden, so wie sie es an sich selbst erlebt hat. Was kann nun als Ergebnis der komparativen Analyse der Kernfälle zum Umgang mit den Gewerkschaftsmitgliedern und ihren gefühlsbezogenen Aspekten festgehalten werden? Sowohl für die drei vorgestellten Akteurinnen als auch für den Akteur verkörpert die Gewerkschaft einen wertorientierten Kontext, in dem über politische Aktivitäten sozialisationsbezogene Prozesse durchlaufen werden. Dies bezieht sich einerseits auf die Erfahrungen der hauptberuflichen Akteure selbst, die sie gewerkschaftsbezogen (Jürgen Teschner, Ricarda Korn, Regine Bauer) oder in außergewerkschaftlichen Kontexten (Sabine Jung) gesammelt haben. Zugleich wird die implizite berufsbezogene Bedeutung dieser Erfahrungen, aus der die Haltung zur Gewerkschaft resultiert, für den sozialen Umgang mit den (potenziellen) Mitgliedern deutlich. Ich möchte dies fallbezogen resümieren: Im Hinblick auf das berufliche Handeln von Sabine Jung entfalten ihre außerhalb der beruflichen Arbeit beim DGB vorgeschalteten Erfahrungen in sozialen Bewegungskontexten zentrale Bedeutung für ihre berufsbezogene Arbeit. Dementsprechend erweisen sich die Erfahrungen, die sie im Kontext ihrer hauptberuflichen Gewerkschaftsarbeit macht, für ihre Persönlichkeitsentwicklung als weniger zentral als beispielsweise für Jürgen Teschner. Für ihn erweisen sich die gewerkschaftsbezogen gemachten Erfahrungen deshalb als zentral, weil es sich hierbei um einen Selbstentfaltungsprozess handelt, dessen Anfang im Ausbildungskontext liegt. Jürgen Teschner, der vor der Aufnahme seiner hauptberuflichen Tätigkeit bereits Bindungserfahrungen mit einem Sozialisationsagenten 281
Auszug aus dem Nachfrageteil.
6. Prüfung von Häufigkeit und Verteilung von Phänomenen
237
(Ausbilder) gesammelt hat, erweitert diese an eine einzelne Person gebundenen Erfahrungen anschließend im Kontext ehrenamtlicher Aktivitäten in der sozialen Welt der Gewerkschaft. Er erfährt über die seiner hauptberuflichen Gewerkschaftsarbeit vorangehende Einsozialisierung in die soziale Welt der Gewerkschaften über freiwillige Aktivitäten einen entscheidenden Wandel an seiner Persönlichkeit. Ricarda Korns Lern- und Wandlungsprozess beginnt hingegen erst im Zuge ihrer hauptberuflichen Arbeit bei der Gewerkschaft im jungen Erwachsenenalter und erweist sich insoweit als berufsbezogen. Regine Bauer wird ebenfalls im Erwachsenenalter für die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit rekrutiert und rekurriert in der Ausführung ihrer beruflichen Aufgaben stark auf ihre im Kontext freiwilliger Betriebsratsarbeit gesammelten Erfahrungen. Im Kern dieser Erfahrungen steht die Aktivierung ihres politischen Bewusstseins durch das persönliche Betroffensein von arbeitsrechtlichen Problemen. Jürgen Teschner und Ricarda Korn weisen hinsichtlich ihres Umgangs mit Gewerkschaftsmitgliedern einen personenbezogenen Fokus auf, in dem sie sich allerdings wiederum auch unterscheiden. Zum einen ist Jürgen Teschner im Gegensatz zu Ricarda Korn in der beruflichen Arbeit auf Jugendliche ausgerichtet, und zum anderen unterscheiden sich ihre vertikal geprägten Umgangsstile voneinander. Während Jürgen Teschner gefühlsbezogen fürsorglich und gerade nicht paternalistisch mit den jungen Freiwilligen umgeht und sich hierbei selbst als Sozialisationsagent versteht, favorisiert Ricarda Korn einen konfliktorientierten, erzieherischen Umgang mit erwachsenen Mitgliedern der Gewerkschaft. Sie fokussiert einen Bindungsstil, in dessen Kern die Teilhabe an organisationsbezogener Macht als personenbezogene Be-Vorteilung steht. Diesen im Blick, werden die Mitglieder in bester pädagogischer Absicht zur Übernahme von Ehrenämtern geführt. Die aktuelle Handlungspraxis bezogen auf Rekrutierungs- und Bindungsprozesse erscheint somit als Übersetzung eigener biografischer Bindungs- und Sozialisationserfahrungen, die zu besonderen Facetten bei der Bedeutungszuschreibung an Gewerkschaften führt. Für Regine Bauer konnte ein klassenbezogener Bezug bei der beruflichen Arbeit identifiziert werden, der auf die ökonomische Interessenvertretung abzielt und sich mit einem fürsorglich-mütterlichen Stil im Umgang mit erwachsenen Mitgliedern der Gewerkschaft verbindet. Auch für sie beginnt im Erwachsenenalter ein Entwicklungsprozess im Kontext vorberuflicher Aktivitäten als Betriebsrätin, der im Kern eine biografische Erfahrung des Erfolges über arbeitsrechtliche Gegenwehr darstellt. Der ihre hauptberufliche Arbeit bei der Gewerkschaft prägende Fokus auf erwachsene Mitglieder lässt sich gleich in zweifacher Hinsicht an ihre biografischen Erfahrungen rückbinden. Hiermit ist der von ihr
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III. Empirisch-analytischer Teil
thematisierte fehlende Bezug zur Jugend gemeint, der durch den frühen Tod der Mutter zur einer stellvertretend ausgeübten Mutterrolle in ihrer Herkunftsfamilie führt, aber auch der Zeitpunkt, an dem die Gewerkschaft Bedeutung für Regine Bauer erlangt. Sie ist bei der Aufnahme ihrer hauptberuflichen Arbeit ebenso wie Ricarda Korn bereits ausgebildet und daher im Alter einer erwachsenen Frau. Sabine Jung, die ebenfalls als erwachsene, allerdings deutlich jüngere Frau bei der Gewerkschaft angestellt wird, stellt im Vergleich zu diesen zwei Akteurinnen in mehrfacher Hinsicht einen maximalen Kontrast dar. Zunächst bezieht sie sich in ihrer Rekrutierungsarbeit explizit auf junge Freiwillige und favorisiert kollektive Bezüge bei der beruflich von ihr fokussierten politischen Sozialisation der Mitglieder. Frau Jungs gefühlsbezogener Umgang mit den Mitgliedern bezieht seine Orientierung aus dem von ihr selbst als Jugendliche durchlaufenen politischen Sozialisationsprozess in autonomen politischen Kontexten, aus denen sie als soziale Bewegungsakteurin hervorgeht. Bei einem vergleichenden Blick zu Regine Bauer und Ricarda Korn zeigt sich zudem, dass die soziale Welt der Gewerkschaft für jede der drei Akteurinnen eine neue professionelle Sinnwelt darstellt, die sie sich über Lernprozesse erschließen muss. Bei ihrer beruflichen Rekrutierungsarbeit nehmen sie Anschluss an biografisch gelernte Bindungsstile, deren handlungsleitende Relevanz sich aus dem jeweiligen sozialen Umgang mit den Mitgliedern erschließen ließ. Es geht somit in gewerkschaftlichen Kontexten sowohl hinsichtlich hauptamtlicher als auch ehrenamtlicher Akteure stets um Bindungs- und im weiteren Sinne Sozialisationsprozesse, die politisch dimensioniert sind. Ihren Anfang nehmen sie entweder bereits vor Aufnahme hauptberuflicher Arbeit bei der Gewerkschaft (Fälle Teschner und Bauer) oder durch diese Tätigkeit selbst (Fälle Jung und Korn). Die zentralen Quellen der beruflichen Handlungspraxis liegen in den biografischen Bindungserfahrungen und entfalten ihre größte Bedeutung im Kontext gewerkschaftlicher Rekrutierungspraxis. Vor diesem Hintergrund erweist sich die analytische Kategorie „Bindung“ als Schlüsselkategorie für die mitgliedernahe Gewerkschaftsarbeit. Diese Schlüsselkategorie steht fallbezogen in folgenden merkmalbezogenen Verbindungen: 1) weibliche, sozialbewegungsgebundene Akteurin, 1971 bis 1976 Geborene, akademische Bildung; außergewerkschaftliches politisches Engagement in Verbindung mit formaler Stellenbesetzung und persönlichem Auswahlgespräch, Stellenbesetzungszeit zwischen 2000 und 2005, Etikettierung der eigenen Karriere als „ungewöhnlich“, Vertrautheit mit politischer Bildungsarbeit in gewerkschaftsnahem beruflichen Kontext; Prägung der aktuellen beruflichen Arbeit sowie das hieraus resultierende Bewältigungshandeln, insbesondere im Kontext der Rekrutierungspraxis, durch eigene berufsbiografi-
6. Prüfung von Häufigkeit und Verteilung von Phänomenen
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sche Erfahrungen: berufsbezogener Lernprozess (neue professionelle Sinnwelt); Spezifik des Sentimental Work bei der beruflichen Arbeit: kollektive Orientierung partizipativer Jugendarbeit, Anstellungsträger DGB 2) männlicher, an Sozialisationsagenten gebundener Akteur, 1971 bis 1976 Geborener, berufsbezogene und akademische Bildung; innergewerkschaftliches politisches Engagement in Verbindung mit informeller Stellenbesetzung über Beobachtung und persönliche Ansprache; Stellenbesetzungszeit zwischen 2000 und 2005, Etikettierung der eigenen Karriere als „ungewöhnlich“, Bindung an das gewerkschaftskulturelle und akademische Milieu; Prägung der aktuellen beruflichen Arbeit sowie das hieraus resultierende Bewältigungshandeln, insbesondere im Kontext der Rekrutierungspraxis, durch eigene berufsbiografische Erfahrungen: vorberuflich begonnener Selbstentfaltungs- und Wandlungsprozess durch freiwilliges gewerkschaftliches Engagement; Spezifik des Sentimental Work bei der beruflichen Arbeit: an einzelne Personen gerichtete und auf Selbstentfaltung bezogene Jugendarbeit, Anstellungsträger DGB 3) weibliche, über ökonomische Interessenvertretung gebundene, Akteurin, 1950 bis 1960 Geborene, berufsbezogene Bildung; freiwilliges Engagement als Betriebsrätin und hierüber erfolgte Bindung an das gewerkschaftskulturelle Milieu, informelle Stellenbesetzung: Auswahl über Beobachtung und persönliche Ansprache; Stellenbesetzungszeit zwischen 2000 und 2005; Prägung der aktuellen beruflichen Arbeit sowie das hieraus resultierende Bewältigungshandeln, insbesondere im Kontext der Rekrutierungspraxis, durch eigene berufsbiografische Erfahrungen als Erwachsene: vorberuflich begonnener Einsozialisierungsprozess in das gewerkschaftskulturelle Milieu über die Arbeit als Betriebsrätin in Verbindung mit berufsbezogenem Lernprozess (neue professionelle Sinnwelt); Spezifik des Sentimental Work bei der beruflichen Arbeit: fürsorgliche Förderung solidarischer, kollektiver Interessenvertretung mit Erwachsenen; Anstellungsträger IG BAU 4) weibliche, organisationsbezogen gebundene Akteurin, 1950 bis 1960 Geborene, vermittelter Zugang zum gewerkschaftskulturellen Milieu in der Herkunftsfamilie, akademische Bildung; informelle Stellenbesetzung: Auswahl über persönliche Ansprache und Gespräch, Stellenbesetzungszeit 1980er Jahre, Etikettierung der eigenen Karriere als „ungewöhnlich“, Vertrautheit mit politischer Bildungsarbeit in gewerkschaftsnahem Kontext; Prägung der aktuellen beruflichen Arbeit sowie das hieraus resultierende Bewältigungshandeln, insbesondere im Kontext der Rekrutierungspraxis, durch eigene berufsbiografische Erfahrungen als Erwachsene: berufsbezogener Entwicklungs- und Wandlungsprozess in Verbindung mit berufsbezogenem Lernprozess (neue professionelle Sinnwelt); Spezifik des Sentimental Work
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III. Empirisch-analytischer Teil
bei der beruflichen Arbeit: personenbezogene und erzieherisch ausgerichtete Erwachsenenarbeit; Anstellungsträger ver.di Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufweisenden Merkmalszusammenhänge berücksichtigen neben der Schlüsselkategorie Bindung sowohl den Prozessverlauf der Berufsbiografie als auch die Qualität und den Inhalt der beruflichen Handlungspraxis. Auf welche Weise die abduktiv gewonnenen Merkmale zur Handlungspraxis und zur Berufsbiografie mit den vorab festgelegten Kriterien in Verbindung stehen, soll mit der nachstehenden komparativen Analyse gezeigt werden. 6.2. Komparative Analyse und Bilanz der berufsbiografischen und handlung-praktischen Dimension hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit aller Fälle Die nachfolgend dargestellten kontrastiven Vergleiche zwischen deduktiven, also vorab festgelegten Kriterien und abduktiv gewonnenen theoretischen Kategorien aus den Einzelfallanalysen beziehen sich auf die Dimensionen „Berufsbiografie“ und „Handlungspraxis“ der untersuchten Fälle. Im Zuge dieses analytischen Schrittes zeigen sich typische Verbindungen zwischen verschiedenen Kriterien, die nicht nur fallbezogen bestehen, sondern auch fallübergreifende Relevanz entfalten. Sie werden daher als charakteristische Merkmalverbindungen zur gewerkschaftlichen Rekrutierungs- und Bindungspraxis eingeschätzt und als Mermalskomplexe dargestellt. Von diesen Komplexen können insgesamt vier identifiziert und voneinander unterschieden werden, die die Varianz der von mir untersuchten gewerkschaftlichen Rekrutierungspraxis abbilden und im Folgenden erläutert sind. 6.2.1 Merkmalskomplex 1 Bei Mermalskomplex 1 handelt es sich um die durch die Falldarstellung Jürgen Teschner repräsentierte Merkmalverbindung, die einen berufsbiografischen Aufstieg darstellt, der bereits in der Ausbildung seinen Anfang nimmt, indem der Akteur als Jugendlicher Kontakt zur sozialen Welt der Gewerkschaft bekommt und von einem hauptamtlich tätigen Gewerkschafter zunächst als passives Mitglied282 für den Verband gewonnen wird. Dieser Protagonist beginnt nun, die 282
Von Alemann und Schmid benennen insgesamt drei Rollen, in denen sie Mitglieder der Gewerkschaft sehen. Da sie diese nicht näher spezifizieren, fällt ein Vergleich zu den empirischen Ergebnissen meiner Untersuchung schwerer, als er andernfalls sein könnte. Ich vermute, dass das passi-
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soziale Welt der Gewerkschaft mit ihren Netzwerken kennen zu lernen, und entwächst sukzessive seiner Rolle als passives Mitglied der Organisation. Auf der Grundlage dieser ursprünglich passiven Gewerkschaftsmitgliedschaft, die zumeist auf die potenzielle Vertretung in arbeitsrechtlichen Schwierigkeiten abstellt und damit eine Kundenorientierung darstellt, entwickelt der Akteur ehrenamtliche gewerkschaftspolitische Aktivitäten, die seine passive Mitgliedschaft in eine aktive überführen. Das im Anfang begriffene Engagement wird durch die Bewältigung einer eigenen, als prekär erlebten arbeitsrechtlichen Situation katalysatorisch gefördert.283 Jürgen Teschner durchläuft dann eine durch institutionelle Ablaufmuster getragene Karriere im Freiwilligkeitsbereich der Gewerkschaft und zieht hierdurch die Aufmerksamkeit einiger hauptberuflich Beschäftigter auf sich. Diese fördern, die ehrenamtlichen Aktivitäten des jungen Akteurs beobachtend, seine persönliche Entwicklung, indem sie eine enge soziale Beziehung zu ihm aufbauen, die ihn zunächst an die Person des hauptamtlichen Akteurs bindet. Auf der Grundlage einer solchen sozialen Beziehung durchläuft der junge Protagonist seinen weiteren Einsozialisierungsprozess in gewerkschaftliche Kontexte und sammelt Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit. Er lernt die in dieser sozialen Welt geltenden Haltungen und Orientierungen kennen und sich mit ihnen zu identifizieren, wodurch er nunmehr auch an die Gewerkschaft selbst gebunden wird. Da er sich im Rahmen seiner ehrenamtlichen Aktivitäten auszeichnet, erhält er die Möglichkeit, fachliche Kompetenzen im Kontext politischer Bildungs- und Interessenvertretungsarbeit, beispielsweise durch die Teilnahme an Seminaren und Schulungen, zu erwerben. Eine in dieser Art durchlaufene Karriere als Freiwilliger beschert dem „Betroffenen“ nicht nur eine Vielzahl von ehrenamtlichen Funktionen und hierüber gesammelte Erfahrungen und Kompetenzen, sondern, wie im Fall der hier Befragten, ein Angebot zur hauptberuflichen Anstellung bei der Gewerkschaft. Von den zehn einbezogenen Befragten lassen sich drei dem soeben beschriebenen berufsbiografischen Verlauf zu ordnen. Neben Jürgen Teschner kategorisiert auch Frank Süd seine in die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit verlaufene Karriere als „ungewöhnlich“. Beide stellen in der Darstellung ihrer Berufsbiografie auf jeweils verschiedene Besonderheiten ab, die vor dem Hintergrund eines üblichen Karriereverlaufs geschildert werden.
283
ve Mitglied von ihnen in der Rolle eines Kunden gesehen wird (vgl. v. Alemann & Schmid 1998: 64f. bzw. die Abschnitte I.2 und IV.1.2 und IV.1.3 in dieser Arbeit). Ein erneuter Bezug zu von Alemann und Schmid eröffnet für die aktive Mitgliedschaft einen Vergleich zur Rolle des Klienten, der ein bestimmtes Anliegen gewerkschaftsbezogen lösen möchte (vgl. v. Alemann & Schmid 1998: 64f.)
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Der dritte Befragte hingegen, Stefan Herbst, bezeichnet seine berufsbiografische Entwicklung, die die gleichen – oben beschriebenen – verlaufsbezogenen Merkmale wie die von Frank Süd und Jürgen Teschner aufweist, als „klassisch“. Jeder der drei Informanten stellt so seine eigene Berufsbiografie auf der Folie eines normalen, üblichen Karriereverlaufs bei der Gewerkschaft dar, kommt jedoch, den eigenen, individuellen mit einem gewöhnlichen Karriereverlauf vergleichend, zu verschiedenen bewertenden Kategorien (gewöhnlich vs. ungewöhnlich). Die Tatsache, dass es sich hierbei um eine, wie sich zeigen wird, über drei von vier Merkmalszusammenhängen hinweg auftretende berufsbiografische Darstellungsfolie handelt, zeitigt nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Erkenntnis, dass ein diesbezüglicher Bezug für die Informanten bei der Schilderung ihrer eigenen Berufsbiografie zentrale Bedeutung entfaltet. Insofern handelt es sich, bezogen auf meine Untersuchung, um ein verallgemeinerbares Merkmal der Darstellung von Berufsbiografien bei Gewerkschaften. Aussagen über die tatsächliche Existenz eines klassischen Karriereverlaufs im Sinne einer universalen Gültigkeit oder gar über dessen Grammatik können hingegen nicht getroffen werden. Bei der fallübergreifenden Komparation zeigt sich, dass eine Verbindung der Fälle Teschner, Herbst und Süd darin liegt, dass sie männlich sind und zu den jüngsten Befragten – ca. 30 Jahre alt – gehören, für die die Gewerkschaft bereits in ihrer Jugend eine Bedeutung im Zusammenhang mit ihren beruflichen Ausbildungen entfaltet. Sie werden demnach in vor-beruflichen Kontexten in die soziale Welt der Gewerkschaft eingeführt. Ferner vereint sie, dass die Besetzung ihrer Stellen über eine Beobachtung durch bereits hauptamtlich tätige Akteure und eine persönliche Ansprache derselben realisiert wird. Hinsichtlich ihrer Anstellungsträger zeigt sich, dass zwei der Befragten bei der IG Metall beschäftigt sind und einer aus der IG BAU kommend beim DGB beruflich tätig wird. Während Jürgen Teschner sich kurz vor Abschluss seines der Ausbildung zum Straßenbauer nachgeschalteten Hochschulstudiums entschließt, die ihm angebotene Stelle als Jugendbildungsreferent anzunehmen, werden Stefan Herbst und Frank Süd als Betriebsräte im Kontext ihrer Herkunftsberufe – Elektrotechniker bzw. Elektriker – für die hauptberufliche Arbeit rekrutiert und durchlaufen vor Aufnahme ihrer Tätigkeit ein qualifizierendes gewerkschaftliches Curriculum. Insofern verfügt jeder der drei Verlaufsrepräsentanten über berufspraktische Erfahrungen, doch lediglich einer von ihnen, Jürgen Teschner, ist akademisch gebildet. Der Zeitpunkt ihrer Stellenbesetzung liegt zwischen den Jahren 2000 und 2005. Jeder der drei Akteure stellt seine berufliche Karriere vor dem Hintergrund eines üblichen Verlaufs dar. Zudem vereint sie, dass sie durch innergewerkschaftliches politisches Engagement an das gewerkschaftskulturelle Milieu ge-
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bunden sind. Frank Süd und Stefan Herbst engagieren sich außerdem als Betriebsräte in ihren jeweiligen beruflichen Kontexten, sind jedoch im Gegensatz zu Jürgen Teschner über ihre berufsbezogene Ausbildung hinaus nicht akademisch gebildet. Herr Teschner weist nun seinerseits keine Erfahrungen in der betrieblichen Interessenvertretung auf, ist jedoch aufgrund seiner ehramtlichen Aktivitäten in der Selbstverwaltung der Fachhochschule auch an akademische Milieus gebunden. Im Hinblick auf charakteristische Züge ihrer aktuellen beruflichen Arbeit, insbesondere im Kontext der Rekrutierungspraxis, lässt sich fallübergreifend feststellen, dass alle drei Befragten bemüht sind, junge Freiwillige in der Entfaltung ihrer individuellen Persönlichkeit zu fördern. Dies soll als „personenbezogene und auf Selbstentfaltung gerichtete gewerkschaftliche Jugendarbeit“ bezeichnet werden. Dieser Rekrutierungsstrategie bedienen sich hauptberufliche männliche Akteure, die sich selbst als Orientierungsfigur verstehen und die Persönlichkeit eines jungen Freiwilligen auf der Basis ihrer sozialen Beziehung im Kontext der Gewerkschaftsarbeit individuell fördern. Es zeigt sich ferner, dass jeder der drei Akteure selbst bereits über männliche Gewerkschafter, zu denen jeder der Protagonisten eine enge soziale Beziehung unterhielt, an die soziale Welt der Gewerkschaft gebunden wurden. Sie greifen nun ihrerseits auf die zuvor beschriebenen Erfahrungen des sozialen Umgangs im Kontext der Bindung an die soziale Welt der Gewerkschaft zurück und richten ihr berufliches Rekrutierungshandeln, sowohl in freizeitkulturellen als auch in gewerkschaftsbezogenen Kontexten, hieran aus. Dieser Umstand verdichtet die bereits erkannte Bedeutung der gefühlsbezogenen Dimension gewerkschaftlicher Rekrutierungs- und Bindungspraxis, der Sentimental Work. Bilanzierend kann festgehalten werden, dass sowohl für die berufsbiografische Verlaufscharakteristik als auch für die berufliche Handlungspraxis die Gemeinsamkeiten zwischen den drei Akteuren deutlich überwiegen und diesbezüglich organisationskulturell keinerlei Unterschiede festgestellt werden können. Während die Differenz ihrer beruflichen Herkunft so gering ist, dass sie als Einflussgröße ausscheidet, variieren die formalen Bildungsabschlüsse jedoch stark, und zwar in Verbindung mit vorhandenen bzw. nichtvorhandenen Erfahrungen der betrieblichen Interessenvertretung. Eine komprimierte Darstellung des oben Erörterten zeigt folgender Mermalskomplex: Es handelt sich um den Aufstieg eines männlichen, etwa 30jährigen Akteurs, der über beobachtete freiwillige, in Ausbildungszusammenhängen, also vor-beruflich begonnene, gewerkschaftspolitische Aktivitäten in der Jugendvertretung und/oder im Betriebsrat sukzessive an die Gewerkschaft gebunden wurde. Dieser Bindungsprozess verläuft über die Bindung an einen gewerkschaftlichen Repräsentanten, einen bereits hauptberuflich Tätigen, der den
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Nachrückenden in seiner persönlichen Entwicklung fördert und somit als Sozialisationsagent bezeichnet werden kann. Von diesem wird er persönlich hinsichtlich der Übernahme einer hauptberuflichen Funktion bei der Gewerkschaft angesprochen und somit für die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit ausgewählt. Betrieblich ausgebildet, weist der Akteur nur in der Ausnahme akademische Anteile in seiner Bildung auf, und zwar dann, wenn keine Erfahrungen als Betriebsrat vorliegen. Die beruflichen Aktivitäten dieses Akteurs liegen schwerpunktmäßig auf der Rekrutierungs- und Bindungsarbeit, fokussiert auf eine politische Bildungsarbeit mit Jugendlichen, die durch gefühlsbezogene Tätigkeiten in der Entfaltung ihrer individuellen Persönlichkeit gefördert werden. Die berufliche Tätigkeit wurde vor weniger als fünf Jahren aufgenommen und wird in den Alten Bundesländern entweder bei der IG Metall oder von der IG BAU kommend beim DGB ausgeführt. 6.2.2. Merkmalskomplex 2 In minimalem Kontrast zu diesem Merkmalszusammenhang stehen die Akteure, die quasi in einem Zeitraffer den oben dargestellten Einsozialisierungsprozess durchlaufen haben. Für diese Befragten erlangt die Gewerkschaft als erwachsene Berufstätige im Kontext von Prekarität der beruflichen Arbeit Bedeutung. Ihr Entschluss, in die Gewerkschaft einzutreten, basiert somit zunächst auf dem klientelistischen Anliegen, ihre Arbeitsverhältnisse mithilfe der Gewerkschaft wieder in Ordnung zu bringen. Regine Bauer, Torsten Kampe und Konrad Wolke wurden demnach nicht als Jugendliche, sondern als Erwachsene im Zuge der Bewältigung prekärer Arbeitsverhältnisse an die soziale Welt der Gewerkschaft gebunden. Es handelt sich um einen vorberuflich begonnenen Einsozialisierungsprozess in die soziale Welt der Gewerkschaft, allerdings liegt das „Vor“ zeitlich gesehen bei weitem nicht so lange zurück wie das der Akteure im Merkmalskomplex 1. Infolge der erkannten Notwendigkeit der Vertretung ihrer Interessen als Arbeitnehmer lernen die Akteure des Mermalskomplex 2 die soziale Welt der Gewerkschaft – ebenso wie die vorstehend kategorisierten Akteure – über freiwillige Aktivitäten kennen, in diesem Fall die Arbeit des Betriebsrates. Aufgrund dieser im Rahmen der betrieblichen Interessenvertretung als Gewerkschaftsmitglied ausgeführten Tätigkeit ziehen sie die Aufmerksamkeit eines hauptamtlichen Sekretärs auf sich und erhalten das Angebot, hauptberuflich bei der Gewerkschaft tätig zu werden. Zwei der drei Befragten durchlaufen vor dem Ausüben ihrer Tätigkeit als hauptamtliche Gewerkschaftssekretäre ein innergewerkschaftliches Curriculum, welches sie für ihre neue berufliche Tätigkeit bei der gleichen Einzelgewerkschaft, der IG BAU, qualifizieren soll. Während die berufliche Herkunft der
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Befragten, die diesem berufsbiografischen Verlauf zugeordnet werden konnten, sehr verschieden ist (Bürokauffrau, Landwirt, Schweißer), vereint sie, dass sie aus der beruflichen Praxis heraus aufsteigen und nicht zusätzlich akademisch gebildet sind. Während Konrad Wolke seine Karriere in der hauptamtlichen Gewerkschaftsarbeit als „ungewöhnlich“ kategorisiert, bezeichnet Torsten Kampe den von ihm erlernten Beruf als „untypisch“ im Vergleich zu anderen hauptamtlichen Sekretären. Zwei von drei Repräsentanten stellen ihre eigene Berufsbiografie vor dem Hintergrund einer für die Gewerkschaft gewöhnlichen, typischen dar und verweisen damit auf eine Besonderheit ihrer berufsbiografischen Profile. So zeigt sich auch in der Thematisierung der eigenen berufsbiografischen Entwicklung eine maximale Nähe zu den Repräsentanten des ersten Merkmalszusammenhangs, Jürgen Teschner, Frank Süd und Stefan Herbst. Im Vergleich zu diesen erlangt die Gewerkschaftsarbeit für Regine Bauer, Konrad Wolke und Torsten Kampe lediglich zu einem späteren Zeitpunkt ihrer Berufsbiografie Relevanz, und zwar im Kontext von Beteiligungsaktivitäten, die zunächst durch die Vertretung ihrer eigenen beruflichen Interessen motiviert ist. Aufgrund der Tatsache, dass die berufliche Handlungspraxis der Befragten stets an die biografischen Erfahrungen rückgebunden werden kann, stellt sich die Frage, in welcher Weise sich die Handlungspraxis der befragten Akteure als charakteristisch erweist. Während sich für Regine Bauer in fallinternen und fallübergreifenden Analysen eine fürsorgliche personen- und gruppenbezogene Erwachsenenarbeit zeigte, liegt Torsten Kampes Schwerpunkt in der beruflichen Arbeit nicht auf erwachsenen, sondern auf jugendlichen Mitgliedern. In der gefühlsbezogenen Dimension der Rekrutierungs- und Bindungsarbeit ist er zwar wie Regine Bauer auf die Unterstützung der Mitglieder in prekären Arbeitsverhältnissen ausgerichtet, seine Tätigkeit erschöpft sich jedoch nicht hierin; ebenso ist er in seinem Umgang sowohl auf einzelne Personen als auch auf Gruppen bezogen. Konrad Wolke, der für die Betreuung, Beratung und Bildung erwachsener Mitglieder zuständig ist, favorisiert zwar die Kontakte zu Personen, die, wie er selbst, dem Arbeitermilieu entstammen, sowie die tarifpolitische Arbeit, ist hierin jedoch ebenso wenig festgelegt wie Regine Bauer und Torsten Kampe. Die Handlungspraxis der Akteure, deren berufsbiografischer Aufstiegsprozess als übereinstimmend identifiziert werden konnte, erweist sich vor dem referierten Hintergrund als erstaunlich heterogen. Damit zeigen die fallübergreifenden kontrastiven Vergleiche zwar deutlich, dass jeder der sechs genannten Repräsentanten in vor-beruflichen Kontexten über freiwillige Aktivitäten, bei denen er beobachtet wurde, an die soziale Welt der Gewerkschaft gebunden werden konnte, es zeigt sich jedoch für die drei zuletzt vorgestellten Fälle eine im Vergleich zu den ersten drei Fällen differente berufliche Handlungspraxis.
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Aufgrund der fallüberübergreifenden Gemeinsamkeiten im berufsbiografischen Aufstiegsprozess erweitert sich die Gruppe der Befragten, die auf der Grundlage einer tragfähigen sozialen Bindung zu einem bereits hauptamtlich Tätigen persönlich angesprochen werden und als nachrückende Akteure gewonnen werden, von drei auf sechs von insgesamt zehn Informanten. Die Art der Stellenbesetzung hat sich ebenfalls als übereinstimmendes Merkmal erwiesen und konnte als informell charakterisiert werden. Obgleich die in Rede stehenden Stellen in den Darstellungen der Informanten üblicherweise öffentlich ausgeschrieben werden, besetzt jeder der Repräsentanten seine Stelle, ohne sich auf eine formale Ausschreibung zu bewerben. Diese Tatsache verdeutlicht eine Parallele zwischen dem in der Darstellung der Akteure implizierten gewöhnlichen Karriereverlauf bei Gewerkschaften und einer gewöhnlichen Stellenbesetzung durch Ausschreibung, von der jedoch in der Praxis jeweils abgewichen wird: Die üblicherweise für eine Ausschreibung vorgesehenen Stellen werden in der Praxis der Rekrutierung gerade nicht auf formalem Weg besetzt. Es stellt sich also die Frage, ob anstelle der Entsprechung implizit vorhandener Rekrutierungsprinzipien die Abweichung davon ein verallgemeinerbares Merkmal gewerkschaftlicher Stellenbesetzungspraxis ist. Hiermit wird zugleich die Frage nach der Bedeutung informeller, also für Sozialwelt-Fremde nicht transparente Kriterien für die Besetzung von Stellen aufgeworfen, die nach der fallvergleichenden Analyse beantwortet werden soll. Unabhängig von der Homogenität der berufbiografischen Aufstiegsprozesse eröffnet sich durch die Analyse eine erstaunlich heterogene berufliche Handlungspraxis, die sich bei den Fällen Bauer, Kampe und Wolke in ihrer größten Varianz zeigt. Hierin besteht die Basis für die Identifikation eines zweiten Merkmalraums, der homogene berufsbiografische Merkmale mit einer heterogenen beruflichen Handlungspraxis verbindet. Eine zusammenfassende Merkmalkombination der in ihren berufsbiografischen Aufstiegsprozessen minimal mit dem ersten Mermalskomplex kontrastierenden Fälle Regine Bauer, Torsten Kampe und Konrad Wolke liest sich dann wie folgt: Herausgeschält wurde der Aufstieg eines zwischen 40 und 50 Jahre alten überwiegend männlichen Akteurs (Regine Bauer ist die einzige weibliche Akteurin) über beobachtete freiwillige, vor-beruflich und im Erwachsenenalter begonnene gewerkschaftspolitische Aktivitäten als Betriebsrat, die zur persönlichen Ansprache und Auswahl für die hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit führt. Er ist betrieblich in einem Beruf ausgebildet und weist keine akademischen Anteile in seiner Bildungslaufbahn auf. Seine soziale Bindung an die Gewerkschaft erfolgt ausgehend von der Basis einer klientelistischen Orientierung sukzessive über freiwillige Aktivitäten und Weiterbildungsangebote der Organisation. Die
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Rekrutierungs- und Bindungsarbeit ist sowohl in ihren inhaltsbezogenen Strategien als auch in ihrer gefühlsbezogenen Dimension sehr heterogen und beinhaltet sowohl die politische Bildungsarbeit mit Erwachsenen als auch die mit Jugendlichen. Die Tätigkeit wurde zwischen der Mitte der 1990er Jahre und Anfang der 2000er Jahre aufgenommen und dementsprechend mehr als fünf Jahre überwiegend in den Alten Bundesländern entweder bei der IG BAU oder von der IG Metall kommend beim DGB ausgeführt. Komparation der Mermalskomplexe 1 und 2 Im Hinblick auf die Merkmalkombination von Jürgen Teschner, Frank Süd und Stefan Herbst unterscheidet sich Mermalskomplex 2 durch den zeitlich nach hinten verlagerten Beginn der Einsozialisierung in die soziale Welt der Gewerkschaft aufgrund eines Eintritt in gewerkschaftliche Kontexte als erwachsene Person. Erneut tritt der Zusammenhang „Arbeit als Betriebsrat“ in Verbindung mit „betrieblicher Ausbildung“ auf. Eine fallübergreifende Analyse zeigt, dass es sich bei fünf von sechs einbezogenen Befragten um männliche Beschäftigte in den Alten Bundesländern handelt, deren Bildungsniveau bei einem Realschulabschluss und einer betrieblichen Ausbildung angesiedelt ist (Ausnahme: Jürgen Teschner, der eine akademische Ausbildung aufweist). Bei den Akteuren der Mermalskomplexe 1 und 2 handelt es sich folglich um eine Akteursgruppe, für die die Gewerkschaft bereits im Ausbildungskontext bzw. später im Zusammenhang mit einer prekären beruflichen Situation – in jedem Fall vor-beruflich – bedeutsam wird und deren überwiegend männliche Repräsentanten, in Kontakt mit der Gewerkschaft gekommen, zunächst als Mitglied für die Gewerkschaft gewonnen werden. Über freiwillige Aktivitäten lernen sie die soziale Welt der Gewerkschaft kennen, werden gewerkschaftskulturell gebildet und eignen sich sukzessive die hier geltenden Orientierungen an. Innerhalb der engen sozialen Bindungen an bereits hauptamtlich Tätige, welche die spätere Rekrutierung als hauptamtliche Akteure bedingen, werden die freiwillig Engagierten von den hauptberuflichen Sekretären in ihren gewerkschaftlichen Aktivitäten beobachtet, persönlich angesprochen und in der Folge für die Gewerkschaft geworben. In diesem den berufsbiografischen Aufstiegsprozess fokussierenden übergreifenden berufsbiografischen Mermalskomplex 1 und 2 entfalten Erfahrungen in der praktischen Gewerkschaftsarbeit die größte, hingegen Erfahrungen akademischer Bildung die geringste Bedeutung, weshalb Letztere auch lediglich ein Repräsentant aufweist. Die Akteure dieser beiden Gruppen besetzen ihre Stellen informell Ende der 1990er bis Anfang der 2000er Jahre. Im Hinblick auf ihre Rekrutierungs- und Bindungsarbeit unterscheidet sich die homogen auf die Förderung einzelner Jugendlicher in ihrer persönlichen Entwicklung ausgerichtete Handlungspraxis
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des Merkmalskomplex 1 von einer sich heterogen ausweisenden Umgangsweise und Strategie zur Rekrutierung und Bindung an die Gewerkschaft des Merkmalskomplex 2. 6.2.3. Merkmalskomplex 3 Während für die bislang vorgestellten Akteure übergreifend gilt, dass sie informell, vor-beruflich und sukzessive an die soziale Welt der Gewerkschaft gebunden werden und über eine gezielte persönliche Ansprache von bereits hauptberuflich Agierenden in ihre aktuelle Tätigkeit aufsteigen, trifft die ausschließlich formale Besetzung ihrer Stellen auf die Befragten Sabine Jung, Ida Zimmer und Peter Krause zu. Diese drei Repräsentanten bewerben sich auf formale Ausschreibungen der Einzelgewerkschaften bzw. des DGB und durchlaufen die Bewerbungsverfahren erfolgreich. Peter Krause absolviert vor Antritt seiner hauptberuflichen Stelle bei der IG BAU zusätzlich ein innergewerkschaftliches Curriculum. Dass auch in dieser Gruppe Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit eine Bedeutung, wenngleich auch eine wesentlich geringere, entfalten, zeigt sich daran, dass Peter Krause über Erfahrungen in der betrieblichen Interessenvertretung verfügt und hierdurch Zugang zur sozialen Welt der Gewerkschaft erhält. Die beiden weiblichen Akteurinnen verfügen im Gegensatz zu Peter Krause über keinerlei Erfahrungen in der betriebsbezogenen Gewerkschaftsarbeit, haben jedoch einen Zugang zum gewerkschaftskulturellen Milieu. Während Ida Zimmer bereits in der DDR als hauptamtliche Gewerkschafterin beim Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) tätig ist und sich nach 1990 bei einer Einzelgewerkschaft erfolgreich bewirbt, tritt Sabine Jung über ihre freiwilligen politischen Aktivitäten in den Kontext von gewerkschaftlichen Engagementfeldern und hat beruflich mit dem DGB als Finanzträger für Jugendarbeit in den Neuen Bundesländern zu tun. Die berufsbiografischen Aufstiegsprozesse sind demnach zwar durch einen vorberuflich existenten, wenngleich heterogenen Zugang zum Gewerkschaftsmilieu gekennzeichnet, sie weisen jedoch keine sukzessive Bindung an Gewerkschaften auf. Dieser Bindungsprozess beginnt demnach mit der hauptberuflichen Tätigkeit der Akteurinnen und des Akteurs, kann also als berufsbezogene Bindung bei Vorhandensein eines gewerkschaftskulturellen Zugangs charakterisiert werden. Die Bildungslaufbahn der Akteurinnen und des Akteurs schließt akademische Anteile ein. Insofern stößt man auch in dieser Gruppe auf die Verbindung der Merkmale „keine Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit“ und „akademisches Bildungsniveau“. Je weniger einschlägige Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit vorhanden sind, umso höher, so kann vermutet werden, ist die Wahrscheinlichkeit akademischer Bildungserfahrungen. Allerdings kann dies nur für die
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beiden Gewerkschafterinnen, Jung und Zimmer, identifiziert werden, da Herr Krause sowohl akademische Bildungserfahrungen – jedoch ohne formalen Abschluss – als auch Erfahrungen in der betrieblichen Interessenvertretung vorweisen kann. In einem minimalen Kontrast einer fallübergreifenden Analyse steht die Tatsache, dass auch Sabine Jung als Repräsentantin eines formalen Aufstiegs ihren eigenen berufsbiografischen Verlauf als „ungewöhnlich“ kategorisiert und insofern auf eine Besonderheit ihrer eigenen Berufsbiografie vor dem Hindergrund eines gewöhnlichen, klassischen Verlaufs in die hauptberufliche Beschäftigung bei der Gewerkschaft verweist. Hierbei bezieht sie sich insbesondere auf die Tatsache, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Anstellung kein Mitglied einer Gewerkschaft war. Die Art der berufsbiografischen Darstellung, die mit dem Hinweis auf eine Besonderheit des eigenen berufsbiografischen Verlaufs auf eine Abweichung hinsichtlich eines gewöhnlichen aufmerksam macht, vereint sie folglich mit den Repräsentanten der berufsbiografischen Merkmalskomplexe 1 und 2. Im Gegensatz zu diesen informell aufgestiegenen Akteuren ist jedoch jeder der drei formal Aufgestiegenen akademisch gebildet und stammt nicht aus den Alten, sondern aus den Neuen Bundesländern. Hinsichtlich ihrer organisationskulturellen Anbindung, ihres Alters und ihrer beruflichen Herkünfte stellen sie sich als sehr heterogen dar. Eine die drei Fälle übergreifende Analyse erbrachte eine schwerpunkthaft auf die politische Sozialisation in kollektiven Zusammenhängen ausgerichtete Rekrutierungspraxis, die sich bei Sabine Jung und Peter Krause auf Jugendliche, bei Frau Zimmer hingegen auf Erwachsene bezieht. Diese Orientierung kann biografisch an die Sozialisation der drei Akteure in der DDR rückgebunden werden. Ungeachtet des differenten Alters entfalten die spezifischen Sozialisationserfahrungen in der DDR, die zu einer die Klassengegensätze fokussierenden Orientierung und stark politisch motivierten Haltung bei der hauptberuflichen Arbeit führen, für die zwei Akteurinnen und den einen Akteur handlungsleitende Orientierung. In diesem Merkmalraum verbinden sich die deduktiven Merkmale „Geschlecht“ und „Alte bzw. Neue Bundesländer“ mit den abduktiv gewonnenen des Bildungsniveaus und der Stellenbesetzung zu folgendem Merkmalskomplex: Mehrheitlich weibliche Akteurinnen aus den Neuen Bundesländern, die über akademische Bildungserfahrungen verfügen, besetzen ihre Stellen auf formalem Wege. Lediglich in einem Fall sind gewerkschaftsbezogene Erfahrungen durch die betriebliche Interessenvertretung vorhanden, und zwar bei dem einzigen männlichen Akteur. Demzufolge ist die Wahrscheinlichkeit einschlägiger Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit und somit das Verfügen über gewerkschaftsstruktu-
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relles Wissen, so kann bereits an dieser Stelle festgehalten werden, bei den männlichen Akteuren höher als bei den weiblichen. In dieser Gruppe, so kann konstatiert werden, verbindet sich ein aufgrund verschiedener gewerkschaftskultureller Zugänge heterogen verlaufener Aufstiegsprozess mit einer als homogen identifizierten Handlungspraxis, die sowohl auf Jugendliche als auch auf Erwachsene bezogen ist und deren Rekrutierungsstrategien in jedem Fall politischkollektiv orientiert sind. Eine zusammenfassende Abbildung des Merkmalskomplex 3 stellt sich wie folgt dar: Es konnte der Aufstieg eines zwischen 30 und 50 Jahre alten Akteurs, der überwiegend weiblich ist, identifiziert werden. Der Akteur verfügt über einen Zugang zum gewerkschaftlichen Milieu, jedoch nur in der Ausnahme über Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit, und besetzt seine Stelle über ein erfolgreich durchlaufenes formales Bewerbungsverfahren in Verbindung mit einem persönlichen Gespräch. Seine Bildungskarriere schließt akademische Anteile ein. Die Rekrutierungs- und Bindungsarbeit dieses Akteurs ist grundsätzlich politisch motiviert, fokussiert jedoch politische Bildungs- und Sozialisationsarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen. Die freizeit- und gewerkschaftskulturell bezogenen Rekrutierungsstrategien weisen sowohl individuell angelegte als auch auf kollektive Einheiten bezogene Aspekte auf, sodass sie in einem Spektrum von gesellschaftspolitischer Partizipation und individualisierter Förderung einzelner Personen oszillieren. Die Tätigkeit wurde zwischen der Mitte der 1990er Jahre bis Anfang der 2000er Jahre in den Neuen Bundesländern bei der IG BAU, dem DGB oder bei ver.di aufgenommen und zumeist länger als fünf Jahre ausgeführt. Die identifizierten Verbindungen von charakteristischen Merkmalen, die bestimmte hauptberufliche Akteure miteinander vereint, weisen die Qualität von typisierbaren Zusammenhängen auf, weshalb sie fortan als theoretische Teile einer Rekrutierungstypologie betrachtet werden. Der dritte Mermalskomplex weist vor dem referierten Hintergrund die Verbindung eines heterogen verlaufenen berufsbiografischen Aufstiegsprozesses mit einer heterogenen Handlungspraxis auf, sodass er in einem maximalen Kontrast zu Mermalskomplex 1 steht. Als Repräsentanten dieser Merkmalskomplexe können unschwer Sabine Jung (3) und Jürgen Teschner (1) identifiziert werden, die daher als Kernfälle ausgewählt wurden. Wenn man nun die Mermalskomplexe 1 und 3 kontrastiert, zeigt sich als wesentlicher Unterschied der Vollzug der Stellenbesetzung – der nämlich im ersten Fall in einer informellen und im dritten in einer formalen Besetzung besteht. Während die Repräsentanten des ersten Mermalskomplexes über freiwillige Aktivitäten in der Gewerkschaft prozesshaft an diese gebunden werden, bestehen beim dritten sowohl gewerkschaftskulturelle Zugänge zur sozialen Welt der Gewerkschaft als auch Erfahrungen in der betrieblichen Interessenvertretung.
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Während für die als informell charakterisierten berufsbiografischen Verläufe des ersten und zweiten Mermalskomplexes praktische Erfahrungen in der ehrenamtlichen Gewerkschaftsarbeit eine zentrale Bedeutung entfalten und unter diesen lediglich eine weibliche Akteurin fünf männlichen gegenübersteht, zeigt sich dies für den Merkmalskomplex 3 genau umgekehrt: Zwei weibliche Akteurinnen mit akademischem Bildungsniveau, jedoch ohne einschlägige Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit stehen einem männlichen Akteur mit Erfahrungen in der betrieblichen Interessenarbeit gegenüber. Für den Mermalskomplex 3 entfalten demnach die Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit die geringste Bedeutung. Da wiederum der Mann als einziger über praktische Erfahrungen in der betrieblichen Interessenvertretung und somit über strukturelles Wissen zur sozialen Welt der Gewerkschaft verfügt, kann behauptet werden, dass die Verbindung der Merkmale „akademische Bildung“, „formale Besetzung der Stelle“ und „Arbeitsort in den Neuen Bundesländern“ nicht nur maximal mit der Merkmalverbindung „Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit“ und „berufsbezogene Bildung und Arbeitsort in den Alten Bundesländern“ kontrastiert, sondern zudem einen Geschlechtsbezug aufweist. Der Frage nach geschlechterbezogenen Unterschieden bei der gewerkschaftlichen Rekrutierungspraxis soll daher anhand eines letzten Mermalskomplexes in finaler Weise nachgegangen werden. 6.2.4. Merkmalskomplex 4 Die bislang identifizierten drei Mermalskomplexe für in die hauptberufliche Anstellung verlaufene Berufsbiografien, die als Teile einer Rekrutierungs- und Bindungstypologie angesehen werden, können nun in einem letzten Schritt der komparativen Analyse mit einem weiteren als informell charakterisierten Verlauf kontrastiert werden. Dieser durch Ricarda Korn repräsentierte Verlauf stellt sich im Vergleich zur dritten Gruppe, deren Karriereverläufe als formal charakterisiert wurden, deshalb als maximaler Kontrast dar, weil ihr Aufstieg in die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit, ebenso wie in den Mermalskomplexen 1 und 2, als informell erkannt wurde. Auch diese Akteurin wird durch einen hauptberuflichen Sekretär persönlich angesprochen. Sie wird jedoch nicht, wie es für die Merkmalskomplexe 1 und 2 als typisch erkannt wird, sukzessive und vorberuflich als Jugendliche oder Erwachsene an die Gewerkschaft gebunden, sondern ihre gewerkschaftliche Bindung wird bereits in ihrer Herkunftsfamilie durch den in der Gewerkschaft aktiven Vater grundgelegt. Im Unterschied zu den Mermalskomplexen 1 und 2 liegen hier jedoch keine direkten gewerkschaftlichen Sozialisationserfahrungen vor, sondern lediglich über durch einen signifikanten Anderen vermittelte Erfahrungen. Der Vermittlungsprozess, der Ricarda Korn mehr einen gewerkschaftskulturellen Zugang als
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eine tatsächliche Bindung offeriert, setzt sich, wie aus der Einzelfallanalyse hervorging, durch ihren Lebensgefährten, der seinerzeit hauptberuflich bei der Gewerkschaft tätig ist, fort. Ein gewerkschaftlicher Bindungsprozess der Akteurin, der von eigenen direkten Erfahrungen getragen wird, setzt insofern erst durch die Aufnahme ihrer hauptberuflichen Tätigkeit als Gewerkschaftssekretärin ein. Das Charakteristikum wurde ebenfalls für den Mermalskomplex 3 als typisch erkannt, woraus sich ein diesbezüglicher minimaler Kontrast zwischen beiden ergibt. Im Hinblick auf den informellen Vollzug der Stellenbesetzung wiederum besteht zwischen beiden Merkmalskomplexen ein maximaler Kontrast, hingegen zu den Mermalskomplexen 1 und 2 ein minimaler. Wenn man auf die Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit abstellt, die für die Merkmalskomplexe 1 und 2 eine zentrale Rolle entfalten, unterscheidet sich Mermalskomplex 4 wiederum maximal, da bekanntermaßen keine eigenen Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit vorliegen. Dies führt, wie einzelfallanalytisch herausgearbeitet werden konnte, zu Schwierigkeiten bei der beruflichen Einarbeitung und der gewerkschaftskulturellen Einsozialisierung. Durch dieses Merkmal als einer Beobachtung ihrer freiwilligen Aktivitäten durch hauptamtliche Gewerkschafter entzogene Akteurin tritt wiederum ein minimaler Kontrast zu Mermalskomplex 2, den formal Aufgestiegenen, auf. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den Merkmalverbindungen 3 und 4 besteht neben dem existenten gewerkschaftlichen Milieuzugang und den wenigen oder fehlenden Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit in den akademischen Bildungserfahrungen. Die Hinweise auf die geschlechtsgebundene Merkmalverbindung „weibliche Akteurin, akademisches Bildungsniveau und keine einschlägigen Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit, jedoch ein gewerkschaftskultureller Zugang“ können somit im Zuge des letzten Schrittes der fallübergreifenden Komparation empirisch verdichtet werden. Insofern wächst mit der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht die Wahrscheinlichkeit einer Anteile akademischer Bildung enthaltenen berufsbiografischen Karriere, die in die hauptberufliche Anstellung bei der Gewerkschaft führt, es verringert sich jedoch die Wahrscheinlichkeit von Erfahrungen in der praktischen Gewerkschaftsarbeit. Die Erkenntnis, dass diese Merkmalverbindung in erster Linie mit einem Arbeitsort in den Neuen Bundesländern in Bezug steht und sich insofern mit einer formalen Stellenbesetzung verbindet, erweitert sich um die Kenntnis, dass es sich hierbei um ein zeitlich ungebundenes Merkmal von Berufsbiografien bei Gewerkschaften handelt. Dies konnte durch fallübergreifende Vergleiche im Hinblick auf die zeitliche Dimension hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit gewonnen werden, da dieser Zusammenhang sowohl zum frühesten Zeitpunkt einer Stellenbesetzung als auch bei den aktuellen Rekrutierungen rekonstruiert werden konnte. Es handelt sich bei Ricarda Korn um die Befragte, die zeitlich gesehen zum frühesten
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Zeitpunkt ihre Stelle bei einer Gewerkschaft besetzt hat. Demgegenüber vereinen die Mermalskomplexe 1 und 3 die jüngeren bzw. jüngsten Stellenbesetzungen, deren berufliches Aufgabenfeld die gewerkschaftliche Jugendarbeit ist. Auch für den letzten, durch Ricarda Korn repräsentierten Mermalskomplex entfaltet die Thematisierung der eigenen Berufsbiografie vor einer üblichen, gewöhnlichen berufsbiografischen Folie und einer Kategorisierung des eigenen Karriereverlaufs als „ungewöhnlich“ Bedeutung. Die Thematisierung der eigenen Berufsbiografie als besondere, von einem üblichen gewerkschaftlichen Aufstieg abweichend, erweist sich insofern als ein die Mermalskomplexe übergreifendes Charakteristikum. Schließlich soll die Spezifik der hier anzutreffenden Handlungspraxis kontrastierend zu den Mermalskomplexen 1 bis 2 herangezogen werden. Aus der Einzelfallanalyse ging eine Präferenz individuell ausgerichteter Rekrutierungsund Bindungsarbeit hervor, die sich an einzelne Personen im Erwachsenalter richtet, einen erzieherischen und konfliktorientierten Impetus aufweist, jedoch, wie es bei den anderen Komplexen ebenso der Fall ist, grundsätzlich politisch orientiert ist. Die jeweiligen handlungspraktischen Orientierungen vergleichend, können stets partielle Gemeinsamkeiten zwischen dem vierten und den ersten drei Komplexen festgestellt werden. Mermalskomplex 4 stellt folglich eine Kombination berufsbiografischer und handlungspraktischer Merkmale dar, für die nicht nur kein vergleichbarer Fall gefunden werden konnte, sondern der auch keinem der anderen Mermalskomplexe zugeordnet werden kann. Vor diesem Hintergrund verkörpert der Fall Ricarda Korn einen von den Merkmalverbindungen 1 bis 3 verschiedenen Mermalskomplex, der auf folgende Weise beschrieben werden kann: Aufstieg einer ca. 50-jährigen weiblichen Akteurin, die zum Zeitpunkt der Aufnahme ihrer hauptberuflichen Gewerkschaftstätigkeit über keine Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit, wohl aber über einen Zugang zum gewerkschaftskulturellen Milieu durch primäre Sozialisation im Elternhaus verfügt. Der hierdurch erlangte Milieuzugang stellt die Basis für die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft dar, der Eintritt in die Organisation folgt demnach weder einer Kunden- noch Klientenorientierung, allerdings auch keinen explizit als politisch ausgewiesenen Interessen.284 Stattdessen erfolgt ihre Bindung an die Gewerkschaft berufsbezogen durch die Aufnahme einer hauptberuflichen Tätigkeit bei der Gewerkschaft. Hierfür wird sie im Zuge eines informellen persönlichen Auswahlgespräches durch einen bereits hauptamtlich tätigen Gewerkschafter ausgewählt. Die Bildungslaufbahn der Akteurin wurde als akademisch kategorisiert. Sie fokussiert im Kontext der Rekrutierungs- und Bildungsarbeit eine erzieherisch ausgerichtete politische Bildungsarbeit mit Er284
Vgl. zu den drei bei v. Alemann und Schmid vorgesehenen Mitgliederrollen: Kunde, Klient und politischer Interessent (1998: 64f.) bzw. die Abschnitte IV.1.2 und IV.1.3 dieser Arbeit.
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wachsenen, in der sie auf ihre eigenen berufsbezogenen biografischen Erfahrungen der sukzessiven und fremdbestimmt organisierten Bindung an die Gewerkschaft rekurriert. Jeder der herausgearbeiteten Mermalskomplexe ist auf der biografischen Ebene durch eine spezifische Verbindung bildungs-, milieu- und partizipationsbezogener Erfahrungen bestimmt. Diese zeitigt charakteristische Bindungserfahrungen, die handlungsleitende Bedeutung für die aktuelle berufliche Arbeit bei der Gewerkschaft entfaltet. Es handelt sich folglich bei den vier Mermalskomplexen um auf typische Weise miteinander verbundene berufsbiografische und handlungspraktische Kennzeichen, die jeweils auf eine begrenzte Anzahl von Fällen zutrifft und die somit zugleich Fallgruppierungen darstellen. Während es sich für Fallgruppe 1 als charakteristisch erweist, dass sie sowohl im Hinblick auf die Dimension des berufsbiografischen Aufstiegs als auch auf die Dimension der Handlungspraxis homogen ist, stellt Fallgruppe 3 ihren maximalen Kontrast dar. Beide Dimensionen sind durch Heterogenität bestimmt. Für die Fallgruppierung mit der Nummer 2 hingegen zeigt sich Homogenität hinsichtlich der berufsbiografischen Aufstiegsprozesse, jedoch stellt sich ihre Handlungspraxis als heterogen dar. Der Fall Ricarda Korn verkörpert einen von diesen drei Fallgruppierungen verschiedenen Mermalskomplex, der, wie ausführlich geschildert wurde, neben seinen fallbezogenen Besonderheiten auch partielle Gemeinsamkeiten mit den Fallgruppierungen aufweist. So erweist er sich sowohl im Hinblick auf die theoretische Varianz der berufsbiografischen Verläufe als auch auf der Ebene der Handlungspraxis als relevant. In nachfolgender Tabelle 8 wird versucht, die vier Mermalskomplexe grafisch darzustellen. Tabelle 8: Merkmalskomplexe
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Für die Mermalskomplexe 1 und 2 ist eine Visualisierung realisierbar. Die Heterogenität des Mermalskomplexes 3 verhindert ebenso wie die Tatsache, dass es sich bei Mermalskomplex 4 um lediglich einen Fall handelt, eine angemessene grafische Darstellung. Die auf dem beschriebenen analytischen Wege entstandenen Fallgruppierungen (Mermalskomplexe) repräsentieren die theoretische Varianz der gewerkschaftlichen Rekrutierungs- und Bindungspraxis im Rahmen dieser Untersuchung. Der systematische Zugriff auf die innere Grammatik dieser vier Mermalskomplexe eröffnet nunmehr die Möglichkeit, die Besonderheiten gewerkschaftlicher Rekrutierungs- und Bindungspraxis im Kontext ihrer Sozialwelt zu erklären, was im nächsten und letzten Kapitel der Arbeit geleistet wird.
IV. Theoretischer Teil
1. Fundstücke einer gegenstandsbezogenen Theorie zur sozialen Welt der Gewerkschaften Die im vorangegangenen Kapitel generierten Befunde (Mermalskomplexe), bei denen es sich Weber zufolge um die Erfassung empirischer Regelmäßigkeiten handelt (Weber 1921/72 nach Kelle & Kluge 1999: 91), sollen nun in ihrer Sinnhaftigkeit richtig gedeutet werden. Keller und Kluge beziehen sich hier auf die ebenfalls von Weber stammende Definition soziologischer Erklärung, zu der es gehöre, sowohl den subjektiv gemeinten Sinn als auch den gesellschaftlich objektiven Sinn zu erfassen (ebd.: 92). Das hierfür entscheidende heuristische Werkzeug sieht Weber in der Konstruktion eines Idealtypus (ebd.: 92). Welche Idealtypik sich auf der Grundlage meiner empirischen Regelmäßigkeiten konstruieren lässt, möchte ich im Folgenden darlegen. Es konnte anhand einzelner Untersuchungsfälle und ihrer Komparation gezeigt werden, dass es sich aus der Perspektive von Gewerkschaftsakteuren um Prozesse politischer Sozialisation handelt, in deren Kontext die aktuelle berufliche Tätigkeit der Akteure bei der Gewerkschaft nachvollziehbar und verstehbar wird. Diese auf der individuellen Ebene stattfindenden Prozesse bilden sich Miethe und Roth (2000) zufolge „auf der Organisations- und Bewegungsebene als Interaktion von sozialen Bewegungen und Diffusionsprozessen“ (ebd.: 17) ab. Auf diese Weise würden „Rahmungen, Strategien und Handlungsrepertoires ... durch sie überlappende Mitgliedschaften und durch Koalitionen von der einen zur anderen Bewegung transferiert“ (ebd.: 17). Die Interaktionsaktionsprozesse und Mechanismen, welche die Autorinnen hier beschreiben, gelten in gleichem Maße für die in der vorliegenden Untersuchung einbezogenen deutschen Gewerkschaften. Ich komme an dieser Stelle auf das in der Einführung dargelegte begriffliche Verständnis zurück: Gewerkschaften definierte ich, in Anlehnung an Miethe und Roth (2000), als Bewegungsorganisationen und die in ihnen agierenden hauptberuflich tätigen Personen als Akteure in einem kollektiven Handlungsrahmen (Gamson 1992). Hauptberufliche Akteure bei Gewerkschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie, wie die Einzelfallanalysen zeigten, parallel oder nacheinander verschiedenen WirGruppen (Elwert 1989) zugehörig sind. Dieses charakteristische Merkmal über-
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IV. Theoretischer Teil
lappender Mitgliedschaften teilen sie mit den Akteuren sozialer Bewegungen285 (Miethe & Roth 2000: 17). Der von mir in dieser Studie gewählte akteursbezogene Ansatz impliziert damit ein Verständnis, welches sowohl sozialpsychologische als auch strukturelle und organisatorische Faktoren in die Analyse einbezieht (Ferree & Miller 1985/ Snow et al. 1986 nach Miethe & Roth 2000: 12). Insofern übernehme ich zugleich eine methodologische Implikation, die für den Symbolischen Interaktionismus charakteristisch ist (ebd.: 13): Akteure stets unter Einbezug der Mikro-, Meso- und Makroebene zu erforschen. Bei der Rekonstruktion sozialer Prozesse und des Selbst (Mead 1968) resp. der Persönlichkeit handelt es sich, wie Miethe und Roth (2000) betonen, „um zwei Seiten des gleichen Prozesses“ (ebd.: 13). Daher trage die Interpretation sozialer Beziehungen zugleich zur Konstruktion von Identität und sozialen Strukturen bei (ebd.: 13). Die Analyse des Datenmaterials bestätigt daher den Nutzen, den vorgelegte Studien zu sozialen Bewegungen (Miethe 1999/ Miethe & Roth 2000; Gamson 1992) für diese gewerkschaftsbezogene Untersuchung haben. Dieses Kapitel generiert vor dem beschriebenen Hintergrund Antworten auf die eingangs gestellte Frage: Wie kommt es überhaupt dazu, dass Menschen sich einer Gruppe anschließen, und wie verändern sich die Akteure über diese berufsbezogenen und/oder freiwilligen Aktivitäten? In diesem Sinne geht es gleichermaßen um Antworten auf die Fragen: Welche Bindungsmöglichkeiten halten kollektive soziale Einheiten wie Gewerkschaften für Personen bereit, wie sind Prozesse von Passungen individuellen Erfahrungswissens mit der Gewerkschaftskultur zu verstehen und wie ist die Bindungsfähigkeit der deutschen Gewerkschaften einzuschätzen? Der Vorteil einer biografischen Perspektive auf die soziale Welt der Gewerkschaften besteht mithin darin, dass durch sie sowohl parallel vorhandene Zugehörigkeiten der Akteure zu Wir-Gruppen als auch aufeinanderfolgende oder sich berufbezogen entwickelnde Zugehörigkeiten und ihre Implikationen für berufliches Handeln erfasst werden können. Strauss (1959) zufolge sind Ziele und Strategien stets Ausdruck von Identität. Unterstellt man die Richtigkeit dieser Aussage, heißt dies, dass berufliches Handeln immer Ausdruck von biografisch erworbenen Orientierungen ist. Das berufliche Handeln gewerkschaftlicher Akteure ist demnach Ausdruck ihrer erworbenen Orientierungen in kollektiven Handlungsrahmen und somit Ausdruck von Zugehörigkeiten. Dass Zugehörigkeiten nicht an gemeinsam geteilte 285
Soziale Bewegungen werden nach Miethe und Roth (2000) als kollektive Akteure definiert. Die Autorinnen beziehen sich hierbei auf das begriffliche Verständnis kollektiver Akteure von Raschke (1991). Als kollektiver Akteur gilt demnach derjenige, „der mit einer gewissen Kontinuität auf der Grundlage hoher symbolischer Integration und geringer Rollenspezifikation mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgt, grundlegenderen sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen“ (Raschke 1991: 32f. nach Miethe & Roth 2000: 7).
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Motive von Mitgliedschaften gebunden sind, gleichwohl aber aus klaren und bewussten Motiven resultieren können, zeigte sich ebenfalls anhand der fallbezogenen und fallübergreifenden Analysen. Deutlich wird, dass Personen, die zu einem kollektiven Handlungsrahmen gehören, nicht zwingend die gleichen, wohl aber diesem Rahmen angemessene Orientierungen und Handlungen aufweisen müssen. Die Angemessenheit sozialen und beruflichen Handelns wiederum resultiert aus Aushandlungs- und Lernprozessen. Der Schlüssel zum Verstehen der differenten Aspekte beruflichen Handelns bei der Gewerkschaft liegt damit in der Rekonstruktion der biografischen Erfahrungen mit den aus ihnen resultierenden Sinnquellen, die das berufliche Handeln entscheidend prägen. Diese Prägungen können, wie sich gezeigt hat, nicht ausschließlich auf Prozesse beruflicher Sozialisation286 zurückgeführt werden, sondern umfassen unter Umständen Erfahrungen, die bereits in der Herkunftsfamilie gesammelt wurden. Die Klärung der angeführten Fragen geschah folglich unter der hier eingenommenen biografietheoretischen Perspektive, unter welcher der Prozess der Entwicklung eines (zunächst) einfachen Gewerkschaftsmitgliedes zum hauptberuflichen Gewerkschaftssekretär mithilfe von biografischen Methoden rekonstruiert werden konnte. Dass ebenso bedeutsam ist, welche biografischen Erfahrungen diesem Prozess vorausgehen, wie die Frage danach, welche handlungspraktischen Orientierungen aus ihm resultieren, habe ich bereits in den ersten beiden Kapiteln der Arbeit dargelegt. Auf der Basis der biografieanalytischen Studie muss dementsprechend konstatiert werden, dass es den Prozess, der einen hauptberuflich tätigen Gewerkschafter hervorbringt, nicht gibt – wenngleich sich die Mehrzahl meiner Informanten auf einen solchen „klassischen“ Prozess bezog, um eine sie persönlich betreffende Besonderheit herauszustreichen. Die biografischen Wege in die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit sind stattdessen vielfältig. Ebenso wie die Sozialisationsprozesse, die die hauptberuflichen Akteure durchlaufen, bevor sie die hauptberufliche Arbeit bei der Gewerkschaft aufnehmen, typusbezogen einander ähnlicher oder voneinander verschiedener (typenübergreifend) sind, stellt sich in analoger Weise auch deren berufliche Handlungspraxis dar. Die hauptberufliche Anstellung bei Gewerkschaften setzt in ihrem Ergebnis folglich einerseits komplexe Passungsverhältnisse voraus, impliziert jedoch andererseits die Gewerkschaften kennzeichnende kulturelle Regelmäßigkeiten. Hierzu gehört, dass die in die Untersuchung einbezogenen Personen ein grundlegend politisches Verständnis zu ihrer beruflichen Arbeit aufweisen, aber auch die Gemeinsamkeit ihrer Sozialisation in Gruppenkontexten und eine hieraus resultierende Zugehörigkeit, die sich sprachlich in ein Wir kleidet. Dieses Wir ist auf 286
Vgl. Abschnitt I.2 zum verwandten Konzept beruflicher Sozialisation, dessen Einbezug sich den Forschungsarbeiten von Walter Heinz verdankt.
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IV. Theoretischer Teil
die Gewerkschaft selbst bezogen, schlägt jedoch auch Verbindungsbögen zu anderen Wir-Gruppen (Elwert 1989). Die gewerkschaftliche Rekrutierungs- und Bindungspraxis, die zentrale Bedeutung trägt für die berufliche Arbeit gewerkschaftlicher Akteure und die empirische Grundlage der vorliegenden Arbeit bildet, muss als Ausdruck dieser kulturellen Charakteristik verstanden werden. Diese Darlegungen transportieren bereits die Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach der Idealtypik, welche sich in den empirisch rekonstruierten Befunden verbirgt: Die genannten Befunde zu akteursbezogenen Gemeinsamkeiten und Unterschieden warfen die Frage auf, für welches Charakteristikum ich einen empirischen Ausdruck rekonstruiert hatte. Zur Lösung dieser Forschungsaufgabe galt es herauszufinden, aus welcher theoretischen Perspektive das Spezifikum der Daten am ehesten einer sozialweltlichen Logik entsprach. Die Klärung dieser Frage konnte mithilfe verschiedener Theoretisierungen (vgl. hierzu Abschnitt I.1.3) vorgenommen werden, in deren Licht das für Gewerkschaften charakteristische Rekrutierungsprinzip der Adäquanz erkannt wurde. Es handelt sich bei den empirisch rekonstruierten Befunden zur gewerkschaftlichen Rekrutierungspraxis mitnichten um eine unsystematische Vielfalt (berufs)biografischer und handlungspraktischer Merkmale, vielmehr um eine Vielfalt, die sich stets aus einer spezifischen Abweichung ergibt: Jeder in die Untersuchung einbezogene Akteur gehört, obwohl er sich in seinem beruflichen Handeln partiell von den anderen untersuchten Akteuren unterscheidet, zur Gewerkschaft und entspricht somit den hier geltenden kulturellen Regeln in einer für sie angemessenen Weise. Ich halte daher das Prinzip der Adäquanz für einen geeigneten Begriff, um das Charakteristikum gewerkschaftlicher Rekrutierungspraxis auszudrücken – nämlich die Angemessenheit. Was ist hiermit gemeint? In Anlehnung an Wallace’ (1973) anthropologische Theorie (I.1.3.3), nach der Individuen dann an Gruppen anschließen können, wenn sie ihrer Kultur fähig sind, formuliere ich im Hinblick auf Gewerkschaften Folgendes: Personen können unter der Voraussetzung, dass sie in einer gewerkschaftskulturell erwarteten und zulässigen Weise auf eine gewerkschaftskulturell vorhandene und definierte Situation zu reagieren in der Lage sind, sich zumindest als zu der Lernleistung fähig erweisen, hauptberufliches Mitglied der Gewerkschaften werden. Was als kulturell angemessen zu verstehen ist, ist dabei stets ausgehandeltes Ergebnis zwischen Ich und Wir (Gamson 1992; Miethe & Roth 2000). Ich ziehe den Begriff der ‚Adäquanz’ dem der ‚Äquivalenz’ von Wallace vor (ebd.: 319) vor, da es bei Gewerkschaften meines Erachtens stärker um eine Angemessenheit und Entsprechung als um eine Gleichwertigkeit geht.287 Hiermit 287
Das Prinzip der Adäquanz trifft wahrscheinlich ebenso auf andere Organisationen zu, deren kollektive Identität mit politischen und/oder moralischen Implikationen verbunden ist.
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ist die zentrale Charakteristik kollektiver Identität von Gewerkschaften bezeichnet. Die Mitgliederwerbung bei Gewerkschaften fußt damit grundlegend auf der typisierbaren Verbindung von biografischen Zugehörigkeitserfahrungen und berufspraktischem Handeln ihrer hauptberuflichen Akteure. Sowohl die mithilfe biografischer Methoden rekonstruierte Vielfalt sich überschneidender Gruppenzugehörigkeiten als auch die der beruflichen Handlungspraxis verweigern sich auf empirisch rekonstruiertem Weg einer öffentlich unterstellten Gemeinsamkeit geteilter Mitgliedschaftsmotive und somit auch einer selbst- und fremdzugeschriebenen Homogenität der Gewerkschaften. Die von Turner und Killian konstatierte „illusion of homogeneity“ (Turner & Killian 1987 nach Miethe 1999: 274), die für kollektive Akteure gilt, beansprucht vor diesem Hintergrund auch für Gewerkschaften Geltung. Kollektive Akteure müssen stattdessen als sich wandelnde Akteure begriffen werden. Veränderung und Wandel resultieren aus den Aushandlungs- und Lernprozessen der den kollektiven Akteuren zugehörigen Individuen, die durch die Zugehörigkeit kulturell in ihrem Denken und Handeln beeinflusst sind, umgekehrt jedoch auch selbst die Kultur beeinflussen. Insofern muss auch kollektive Identität als dynamisches und aushandelbares Ergebnis zwischen Ich und Wir begriffen werden, was tatsächlich dazu führt, dass das eine (Individuum) nicht sauber vom anderen (Gruppe) getrennt werden kann. Ob dies allerdings als problematisch begriffen werden muss (Haunss 2004), wird das nachstehend entwickelte theoretische Modell zur sozialen Welt der Gewerkschaften zeigen. 1.1. Zur Bedeutung von Sozialisationsagenten für die Fortschreibung gewerkschaftskultureller Traditionen Die nachstehend dargestellten Einsichten zur sozialen Welt der Gewerkschaft, in deren Zentrum ihre hauptberuflichen Akteure stehen, bilden nicht den ihnen zugrunde liegenden Erkenntnisprozess ab; sie stellen lediglich seine zentralen Ergebnisse dar. Als erkenntnisgenerierend erwies sich allen voran die Frage danach, was Menschen dazu bringt, sich der Gewerkschaft im Rahmen einer Mitgliedschaft anzuschließen, da sich mit ihrer Beantwortung der Beginn des Prozesses erfassen ließ, der in eine auch emotional dimensionierte Zugehörigkeit zur Gewerkschaft mündet. Mit den vorangehenden Sätzen habe ich den Kern dieser Arbeit umrissen, der sich auf ein Wort reduzieren lässt: Sie befasst sich mit Bindungen. Zum einen sind hauptberufliche Gewerkschafter in aller Regel bereits Mitglieder der Gewerkschaft, bevor sie ihre bezahlte Tätigkeit dort aufnehmen, zum anderen verbindet sich, wie die empirischen Analysen zeigten, mit ihrer beruflichen Arbeit vor allem die Aufgabe, neue Mitglieder an die Gewerkschaft zu
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binden. Die den empirischen Daten entnommene Einsicht, dass die berufliche Rekrutierungs- und Bindungspraxis gewerkschaftlicher Akteure durch eigene biografisch erlebte Bindungsmuster bestimmt wird, wird aus biografietheoretischer Perspektive möglicherweise kein besonderes Aufsehen erregen, gleichwohl stellt es das zentrale Ergebnis der ersten analytischen Ebene dieser Untersuchung dar, auf der das zweite Abstraktionsniveau – die anschließend dargestellte gegenstandsbezogene Theorie – fußt. Bevor ich jedoch das von mir entwickelte gegenstandsbezogene Modell vorstelle, möchte ich die wesentlichen ihm zugrunde liegenden theoretischen Annahmen explizieren und greife dazu auf die im vorangegangenen Kapitel generierten Befunde zurück. Die rekonstruierte Zugehörigkeit der hauptberuflichen Akteure zur Gewerkschaft geht hiernach keineswegs in einer formalen Mitgliedschaft oder in ihrer Anstellung auf, sie ist vielmehr das Ergebnis eines dynamischen Aushandlungsprozesses zwischen der individuellen Anschlussbereitschaft und -fähigkeit an die gewerkschaftliche Kultur (Wallace 1973) und dem gewerkschaftlichen Wir. Das „individuelle Weltbild“ (ebd.: 295) der Akteure weist identische, mindestens jedoch adäquate Aspekte zu gewerkschaftskulturellen Implikationen auf, von denen ihre Anschlussbereitschaft und -fähigkeit abhängt. Es geht somit um das von Wallace (1973) und Gamson (1992) beschriebene Verhältnis von individuellen Leistungen und Kulturen, aus deren Wechselspiel und Verflechtung (politisches) Bewusstsein entspringt. Hierbei erweitere ich Wallace‘ auf kognitive Leistungen begrenzten Begriff um emotionale Aspekte, die sich im Datenmaterial deutlich dokumentieren und somit als Element von Zugehörigkeit erfasst werden müssen. Gamsons Studie zu Prozessen der Bedeutungsanreicherung am Beispiel der Massenmedien verdeutlicht eine Dimension dieses komplexen symbolischen Kampfes, über welchen sich (Be-)Deutungen verbreiten (1992: xi): Sowohl das System der Massenmedien als auch andere kulturelle Systeme treffen auf denkende Individuen, wobei es die interdependente Verflechtung beider ist, aus der sich politisches Bewusstsein entwickelt (ebd.: xii). Der Prozess der Bedeutungskonstruktionen selbst ist indes umfassender und komplexer, als eine Untersuchung zu kollektiven Handlungen und kollektiven Identitäten zu analysieren in der Lage ist (ebd.: xiii). Was jedoch mit ihrer Hilfe erkannt werden kann, ist Folgendes: Die Art und Weise individueller Deutungen einer Situation, eines Themas oder, wie Wallace es nennt, eines „Stimulus“ (1973: 289) befördert oder hemmt die Bereitschaft zu Bindungen und Zugehörigkeiten und hieraus entspringende Handlungen (Gamson 1992: xiii). Gamson legt ein seinen empirischen Untersuchungen entspringendes theoretisches Modell vor, dessen zentrale These in der latenten Existenz politischen Bewusstseins bei Individuen besteht (ebd.: 1992). Sein in Abschnitt I.1.3.5 vorgestelltes Konzept zu kollektiver Identität dient meinen analytischen Befunden
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zur gewerkschaftlichen Rekrutierungs- und Bindungspraxis als theoretische Rahmung. Es muss freilich dem hier untersuchten Gegenstand angepasst und insoweit modifiziert werden, was ich im Folgenden erläutern werde. Sowohl die Rekrutierung einfacher Mitglieder als auch hauptberuflicher Mitglieder für die Gewerkschaft muss als Aushandlungsprozess sozial und interaktiv hergestellter Zugehörigkeiten verstanden werden. Es handelt sich um zirkuläre Prozesse von Bedeutungskonstruktionen, die zwischen bereits hauptberuflich bei Gewerkschaften tätigen Personen und ihren (potenziellen) Mitgliedern bzw. sich aktiv engagierenden Mitgliedern stattfinden. Letztere können mit Mayntz (1963: 118) in ihrer organisationsbezogenen Bedeutung als Nachwuchsreservoir identifiziert werden. „Aktive Hilfskräfte“ (ebd.: 118), wie Mayntz freiwillig engagierte Mitglieder nennt, sind demnach potenzielle Anwärter auf eine hauptberufliche Anstellung bei der Gewerkschaft. Dieser idealtypisch288 erfasste Rekrutierungszirkel lässt sich aus der mikroanalytischen Perspektive als Prozess eines institutionell geförderten Aufstiegs vom einfachen Mitglied in eine hauptberufliche Position (hier im mitgliedernahen Bereich) der Gewerkschaft darstellen und als charakteristisches gewerkschaftskulturelles Merkmal identifizieren. Die untenstehende grafische Abbildung 3 versucht, diesen idealtypisch rekonstruierten Rekrutierungs- und Bindungszirkel visuell darzustellen. Sowohl Ausgangs- als auch Endpunkt des Zirkels liegen am rechten oberen Rand der Grafik, in welchem ein gewerkschaftlicher Sozialisationsagent (Mermalskomplex 1) und ein potenzielles Mitglied aufeinandertreffen. Charakteristisch für diesen in der gewerkschaftlichen Binnenwelt zu verortenden Bindungszirkel ist die dyadisch angelegte soziale Beziehung zwischen einem (in dieser Untersuchung männlichen) hauptberuflichen Akteur der Gewerkschaft und einem (männlichen, potenziellen) Mitglied. Der durch den hauptberuflichen Akteur in seiner persönlichen Entwicklung unterstützte junge Freiwillige wird nicht nur personengebunden in die soziale Welt der Gewerkschaft eingeführt, sondern zudem selbst zu einem potenziellen Anwärter hauptberuflicher Gewerkschaftsarbeit. Die Idealtypik dieser gewerkschaftlichen Bindungsform liegt einerseits im erfolgreich durchlaufenen Aufstiegsprozess, der in eine hautberufliche Anstellung bei einer Gewerkschaft mündet; sie findet jedoch andererseits ihren Ausdruck darin, dass der ehemalige Rekrut nun wiederum selbst Mitglieder für die Gewerkschaft wirbt, womit sich der Rekrutierungszirkel schließt und zugleich erneut aktiviert ist. Hauptberufliche Akteure, die einen solchen Sozialisationsprozess durchlaufen haben, entfalten daher auf zirkuläre Weise zentrale Bedeutung für diesen 288
Vgl. zur Idealtypik Weber (1921/1972) oder Kelle & Kluge (1999: 92) bzw. Abschnitt II.2.3 dieser Arbeit.
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binnenbezogenen Ausschnitt gewerkschaftlicher Rekrutierungspraxis. Ich bezeichne sie mit dem Begriff „Sozialisationsagenten“ (Hoerning 1989: 161). Hierbei handelt es sich um die personenbezogenen Merkmale der analytisch differenzierten Komplexe 1 und 2. Insbesondere Merkmalskomplex 1 (Becker & Geer 1979), für welchen Jürgen Teschner als Kernfall ausgewählt wurde, zeichnete sich sowohl durch die Homogenität seiner biografischen Erfahrungen als auch durch die seiner beruflichen Handlungspraxis aus. Bei den im Mermalskomplex 1 zusammengefassten hauptberuflichen Akteuren handelt es sich ausschließlich um gewerkschaftliche Jugendsekretäre, die in den Alten Bundesländern tätig sind.
Abbildung 3:
Rekrutierungszirkel im gewerkschaftlichen Binnenraum
Das von ihnen verkörperte sozialweltliche Merkmal der Gewerkschaft, ihr binnenbezogener Sozialisations- und Aufstiegsprozess, stellt ein zentrales und in Gewerkschaften traditionenbehaftetes Stück meines gegenstandsbezogenen Modells zur gewerkschaftlichen Rekrutierungs- und Bindungspraxis dar. Sozialisationsagenten sind diejenigen Akteure, die eher identische als adäquate „individuelle Weltbilder“ aufweisen, was aus ihrer langjährigen gewerkschaftskulturellen
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Sozialisation resultiert. Dass hiermit jedoch lediglich einer der möglichen Verläufe erkannt wurde, durch die ein Ich Anschluss an das gewerkschaftliche Wir finden und nehmen kann, sollen die folgenden Darlegungen zeigen. 1.2. Klassenkampfakteure und Organisationsagenten in ihrer Bedeutung für utilitaristisch motivierte Mitgliedschaften Trotz latenten politischen Bewusstseins (Gamson 1992) wird nicht aus jedem Adressaten gewerkschaftlicher Politik ein Mitglied der Bewegungsorganisation Gewerkschaft. Sofern sich jedoch eine Person hierzu entschließt, ist sie aus organisationsbezogener Perspektive zunächst als Beitragszahler/-zahlerin bedeutsam.289 In Bezug auf die sogenannten einfachen Mitglieder der Gewerkschaft können nun die in Abschnitt I.1 eingeführten drei Rollen nach von Alemann und Schmid (1998: 64f.) in Ansatz gebracht werden. Ein Mitglied kann den Autoren zufolge in der Rolle eines „Kunden“, eines „Klienten“ oder eines „politischen Interessenten“ auftreten und eine dieser Rolle entsprechende Strategieoption verfolgen. Dem „Kunden“ wird die Strategie des „multilateralen Korporatismus“, dem „Klienten“ die der „bilateralen Kooperation“ und dem „politischen Interessenten“ die Strategie des „Konfliktes oder des Wettbewerbes“ optional zugeschrieben. Die Wiederholung des bereits eingangs referierten Modells, auf dem politisch-moralische Großorganisationen wie Gewerkschaften beruhen (I.1), hat nicht den Sinn, den Leser oder die Leserin zu langweilen, es erfolgt aus der implizierten Anschlussfähigkeit des Modells an meine eigenen Befunde. Von Alemann und Schmid gehen davon aus, dass sich der „Gewerkschaftsapparat mit drei Funktionen identifizieren“ (ebd.: 64) könne. Diese drei Funktionen würden von den „Funktionsträgern“, also von den hauptberuflichen Akteuren verkörpert. Ich befasse mich zunächst mit der Rollenoption „advokatorischer Interessenvertreter“ (ebd.: 64).290 Die Kategorie des Vertreters von advokatorischen Interessen ist an diejenigen hauptberuflichen Kräfte anschlussfähig, die ich rekonstruktiv als Klassenkampfakteure identifiziert habe und für die der Kernfall Regine Bauer ausgewählt wurde. Klassenkampfakteure finden sich in den Mermalskomplexen 2 und 3. Komplex 2 zeichnet sich in idealtypischer Weise durch homogene (berufs)biografische Erfahrungen, jedoch durch differentes berufliches Handeln aus. Die Homogenität (berufs)biografischer Erfahrungen entspringt aus dem von den 289
Vgl. zur besonderen Bedeutsamkeit beitragszahlender Mitglieder für Gewerkschaften von Alemann 2007: 247. 290 Vgl. im Hinblick auf Rollenzuweisungen für hauptberufliche Akteure Dettling (2005: 19), der sich hierbei seinerseits auf Kirsch & Mackscheidt (1983) bezieht.
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Akteuren, verglichen mit den Sozialisationsagenten, im „Zeitraffer“ durchlaufenen Bindungsprozess an die soziale Welt der Gewerkschaft durch die Aktivierung ihres politischen Bewusstseins in Situationen prekärer Arbeitsverhältnisse. Die Angemessenheit der Stimulierung (Gamson 1992) liegt in einem Bedingungsrahmen, der eine Passung zwischen persönlicher Betroffenheit, dem zeitnah von der Organisation gesetzten Anreiz zur Partizipation sowie der Aussicht auf die Lösung individueller arbeitsrechtlicher Probleme aufweisen muss. Die eine Seite des skizzierten Bedingungsrahmens verkörpert das Individuum (potenzielles Mitglied) und die von ihm anvisierte utilitaristische Befriedigung arbeitsrechtlicher Schwierigkeiten, während ihre andere Seite durch die Organisation verkörpert wird und die als Rekrutierungsabsicht einer „aktiven Hilfskraft“ (Mayntz 1963: 118) beschrieben werden kann. Auf diese Weise gewinnen Gewerkschaften über die erfreuliche Tatsache, dass das Mitglied Beiträge zahlt, ein Mitglied, welches freiwillige und unentgeltliche Arbeit (Ehrenamt) in die Organisation einbringt. Die beruflichen Orientierungen des Klassenkampfakteurs können im Zuge gewerkschaftlicher Bindungsprozesse durch Zugehörigkeit entstehen, müssen es jedoch nicht zwingend. Sie können ebenso gut bereits im Kontext der familiären oder sekundären gruppenbezogenen Sozialisation, also im Kontext anderer Gruppenzugehörigkeiten erworben worden sein. Die Zugehörigkeit von Klassenkampfakteuren erschöpft sich folglich nicht zwingend in der zur Gewerkschaft. Sie kennzeichnet, und das sollte mit ihrer namentlichen Bezeichnung ausgedrückt werden, häufig ein Klassenbewusstsein, welches in latenter Form vorliegt und sich im Zuge prekärer Arbeitsverhältnisse durch Gewerkschaften aktivieren lässt. Diese Akteure stellen somit nicht nur Zugehörigkeiten zur gewerkschaftlichen Wir-Gruppe her, sondern identifizieren sich (unter Umständen) mit einer größeren Gruppe – zum Beispiel mit der der Arbeiter (Gamson 1992). Kennzeichen ihres auf die eigene Wir-Gruppe bezogenen beruflichen Handelns ist daher ein horizontaler Stil des Umgangs, der sich komplementär zu einem konfrontativen Stil verhält, welcher soziale Kontakte außerhalb der eigenen Wir-Gruppe prägt. Klassenkampfakteure können somit aus anderen kollektiven Handlungskontexten für die Gewerkschaft rekrutiert werden. Sie durchlaufen im Zuge ihres freiwilligen Engagements gewerkschaftskulturelle Sozialisationsprozesse zumeist nach ihrer beruflichen Erst-Aus-Bildung. Obgleich das hier zugrunde gelegte Verständnis sozialen Handelns dem Symbolischen Interaktionismus entspringt und biografietheoretisch fundiert ist, kann die Charakteristik des beruflichen Handelns von Klassenkampfakteuren unerwarteterweise handlungstheoretisch durch den Bezug auf die rational choice-Theorie (Olson 1968) und ihre Implikationen erfasst werden. Dieser Bindungstypus verfolgt, eher rational, ihm
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bewusste Motive durch die Zugehörigkeit zur Gewerkschaft und unterstellt Gleiches potenziellen Mitgliedern, mit denen er durch seine berufliche Arbeit in Kontakt kommt. Klassenkampfakteure entfalten daher im Vergleich zu den Sozialisationsagenten eine sie unterscheidende sozialweltliche Bedeutung. Von diesen beiden Bindungstypen kann ein dritter unterschieden werden: der Organisationsagent. Auch Organisationsagenten können aus anderen kollektiven und/oder beruflichen Handlungskontexten rekrutiert werden. Am Beispiel von Ricarda Korn etwa ist zu sehen: Es ist ebenso möglich, dass Organisationsagenten im Zuge ihrer beruflichen Arbeit auf gewerkschaftskulturelle Erfahrungen im Rahmen primärer Sozialisation zurückgreifen. Charakteristisch für Organisationsagenten ist die von ihnen hergestellte Zugehörigkeit zur Organisation, worauf mit ihrer Bezeichnung abgestellt wird. Die berufliche Handlungspraxis von Organisationsagenten resultiert, wie bei den bereits vorgestellten Klassenkampfakteuren, aus biografischen Erfahrungen der Befriedigung utilitaristischer Bedürfnisse. Sie kann, wie im Fall von Ricarda Korn, aus berufsbiografischen Orientierungen resultieren, die in der hauptberuflichen Anstellung bei der Gewerkschaft eine Chance machtbezogener Partizipation bedeuten, muss dies jedoch nicht zwingend. Ausdruck der Identifikation dieser Agenten mit organisationsbezogenen Interessen ist der vertikale Stil, der ihren Umgang in sozialen Beziehungen kennzeichnet. Die Aspekte ihres beruflichen Handelns, die sich auf Interessenvertretung beziehen, eignen sich dazu, als gewerkschaftliche Dienstleistungsangebote291 interpretiert zu werden, auch wenn dies von den Akteuren selbst nicht so verstanden wird.292 Zechs (1995) generalisierende Aussage, dass professionsbezogene Bindungen per se die Handlungsorientierungen der hauptberuflichen Akteure dominieren, kann am Beispiel der Organisationsagenten empirisch bestätigt, muss ansonsten jedoch ausdifferenziert werden, da sie lediglich auf diesen Bindungstypus zutrifft. Der von Ricarda Korn in professionsbezogenen Kontexten erworbene vertikale Stil in sozialen Beziehungen findet in der berufsbiografischen Einsozialisierung in gewerkschaftskulturelle Kontexte seinen Anschluss und prägt das berufliche Handeln der Akteurin auf zentrale Weise. Kritisch möchte ich zu den anschlussfähigen Mitgliedschaftsrollen von Alemann und Schmids (1998) anmerken: Selbst wenn die Autoren eine Prozessorientierung und den Wandel von Mitgliedschaftsrollen in ihrem Modell zu Gewerkschaften angedacht haben, konnte ich dies bei seiner Rezeption nicht erschließen. Ihr Rollenmodell unterscheidet sich insofern von meinen rekonstruk291 292
Vgl. die Rollenoption „Dienstleister“ bei von Alemann und Schmid 1998. Tatsächlich konnte ich ausschließlich als Dienstleistung intendiertes berufliches Handeln empirisch nicht rekonstruieren, was nichts über dessen empirische Existenz resp. Nichtexistenz aussagt.
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tiv ermittelten Befunden, deren Charakteristik insbesondere im Verlauf sozialer Prozesse und hiermit verbundenem Wandel liegt. Ich schließe an die von ihnen in Rollen angelegten „Funktionsträger“ folglich nur insoweit an, als ihre Befunde von mir rekonstruktiv ermittelte Aspekte hauptberuflicher Handlungspraxis darstellen. Ich begreife diese jedoch eher als mitgliederbezogene Rekrutierungsstrategien, die den biografischen Erfahrungen der hauptberuflichen Akteure im Kontext gruppenbezogener Zugehörigkeiten entspringen und daher in meinen Augen weder eine aktive Rollenübernahme noch eine passive Rollenzuweisung darstellen. Klassenkampfakteure und Organisationsagenten verkörpern neben den Sozialisationsagenten typische kulturelle Aspekte gewerkschaftlicher Rekrutierungs- und Bindungspraxis und werden daher als personenbezogene Bindungstypen kategorisiert. Im Folgenden wird zu zeigen sein, welchen weiteren, die Binnenwelt der Gewerkschaften stabilisierenden, Aspekt die gewerkschaftliche Rekrutierung aufweist: die berufliche Handlungspraxis von Bewegungsakteuren (Miethe & Roth 2000). 1.3. Zur (re)vitalisierenden Bedeutung von Bewegungsakteuren für die gewerkschaftliche Sozialwelt Von Alemann und Schmid (1998) benennen eine dritte Rolle, in der sie hauptberufliche Gewerkschafter sehen, und zwar die Option „politischer Akteur“ bzw. die komplementär auf der Mitgliederebene angelegte Rolle des „politischen Interessenten“ (ebd.: 65). Welche Implikationen diese Rollen haben, bleibt bei den Autoren offen. Ich ziehe sie dennoch heran, um darauf hinzuweisen, dass sich jeder von mir rekonstruktiv identifizierte Bindungstyp als politisch handelnd versteht. Allerdings gibt es unter diesen Akteurstypen solche, deren berufliches Handeln sich als stärker ambitioniertes beschreiben lässt. Ich bezeichne sie deshalb als Bewegungsakteure, weil sie biografisch relevante Erfahrungen in gruppenbezogenen Kontexten sozialer Bewegungen gemacht haben, aus denen ihre diesbezügliche Zugehörigkeit resultiert. Es handelt sich folglich um Personen, die ähnlich wie Klassenkampfakteure von der Bewegungsorganisation Gewerkschaft aus anderen und größeren kollektiven Handlungszusammenhängen rekrutiert werden. Im Unterschied zu diesen biografisch-utilitaristisch rekrutierten Akteuren, deren gewerkschaftliche Sozialisation im Vollzug freiwilliger und/oder berufsbezogener Partizipation liegt, sind Bewegungsakteure in erster Linie berufsbezogen in das gewerkschaftliche Wir involviert.
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Dieser Prozess gewerkschaftskulturellen Einbezuges über die Aufnahme der hauptberuflichen Tätigkeit vereint den Kernfall der Bewegungsakteurin Sabine Jung mit dem Kernfall der Organisationsagentin Ricarda Korn. Bezogen auf ihre handlungsleitenden Orientierungen stehen Bewegungsakteure und Organisationsagenten allerdings in einem maximalen Kontrast. Die hierarchisch und vertikal orientierten sozialen Umgangsformen der Organisationsagenten stehen dem horizontalen Kommunikations- und Aushandlungsstil der Bewegungsakteure kontrastierend gegenüber. Obgleich die berufliche Handlungspraxis beider selbstredend politisch motiviert ist, weist sie bei den Organisationsagenten utilitaristische Aspekte und Orientierungen auf, wohingegen sich Bewegungsakteure durch leidenschaftliche Hingabe und die Selbstlosigkeit ihres freiwilligen und beruflichen Engagements auszeichnen. Aus der Konfrontation mit den beschriebenen und maximal verschiedenen Handlungsorientierungen im berufsbezogenen Kontext resultiert die lediglich partiell hergestellte Zugehörigkeit der Bewegungsakteure zum gewerkschaftlichen Wir. Neben den hieraus erwachsenden beruflichen Schwierigkeiten, die Sabine Jung auf der individuellen Ebene beschreibt, entspringen der Rekrutierung von Bewegungsakteuren für die Gewerkschaft als Organisationskultur (Liebig 2002: 143) Aspekte, die die Institution bereichern. Neidhard (1983: 29) zufolge setzen Bewegungsakteure ihre in sozialen Bewegungsgruppen interaktiv erworbenen Orientierungen, Gefühle und Motive auch außerhalb dieser Gruppen ein. Diese nicht nur eingesetzten, sondern auch beanspruchten Orientierungen könnten auf diese Weise soziale Wandlungsimpulse bei der Gewerkschaft auslösen. Wenn man die vorab dargelegten mikro- und mesoperspektivischen Befunde zur sozialen Welt der Gewerkschaften zusammenfasst, so gilt festzuhalten, dass sie verschiedene bindungstypologische Merkmale aufweisen. Ihr zentraler und bindungstypenübergreifender Kern besteht auf der individuellen Ebene in der komplementären Anordnung biografischer Erfahrungen in gruppenbezogenen Kontexten und hieraus resultierenden Zugehörigkeiten, die das berufliche Rekrutierungshandeln bei Gewerkschaften auf charakteristische Weise prägen. Die den hauptberuflichen Akteuren zugeteilte Aufgabe der Rekrutierung und Bindung von Mitgliedern lässt sich vor dem beschriebenen Hintergrund als zentraler mitgliederbezogener Selektionsmechanismus erkennen und erweist sich somit als Charakteristikum der gewerkschaftlichen Kultur. Aus ihm resultiert ein Erneuerungskreislauf der (partiellen) Zugehörigkeiten zur und Identifikationen mit der Gewerkschaft, der, so konnte gezeigt werden, im Sozialisationsprozess ihrer hauptberuflich Angestellten und in deren biografischen Erfahrungen grundgelegt ist.
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Die Art und Weise der Zugehörigkeiten, die der beruflichen Arbeit bei Gewerkschaften vorgeschaltet und/oder parallel zu ihr vorhanden sind, erweist sich als eine das berufliche Handeln ihrer Akteure zentral prägende Größe: Die Akteure identifizieren sich nicht nur mit der Gewerkschaft, sondern eben auch mit signifikanten Anderen, mit ihren Herkunftsfamilien, mit Teilen sozialer Bewegungen und sogar mit religiösen Gemeinschaften. Dass die Zugehörigkeiten zu einer Wir-Gruppe nicht allein durch „Nutzenorientierung, äußeren Zwang, Recht und Moral“ (Simmel 1922: 51 nach Nedelmann 1983: 176) hergestellt werden können, zeigte sich in der als zentral erkannten Relevanz gefühlsbezogener Arbeit (vgl. hierzu die Abschnitte II.2.1.6.4, III.6.1.1 sowie III.6.1.2), die die Rekrutierungs- und Bindungspraxis der hauptberuflichen Akteure durchzieht. Über einzelfallbezogene und fallübergreifende Differenzierung konnten entscheidende Merkmale zur Qualität dieser Rekrutierungsarbeit identifiziert werden. Im Folgenden werde ich die auf der mikro- und mesoanalytischen Ebene anzusiedelnde personenbezogene Bindungstypologie stärker hinsichtlich ihrer Bedeutung für die soziale Welt der Gewerkschaften unter meso- und makroanalytischer Perspektive beleuchten. Hiervon verspreche ich mir, die für Gewerkschaften charakteristische Rekrutierungs- und Bindungsarbeit noch deutlicher herausarbeiten zu können, was jedoch vereinzelt zu Redundanzen führen kann. Hierfür bitte ich die Leserin/den Leser vorab um Verständnis. Die theoretische Rahmung meiner biografieanalytischen Befunde durch erstens das Konzept zur Bildung von Wir-Gruppen (Elwert 1989), zweitens durch die Konzeption kollektiver Identität von Gamson (1992) und drittens durch die anthropologische Theorie der Beziehung von Individuum und Kultur (Wallace 1973) erweist sich, wie nun gezeigt wird, insbesondere aus der Perspektive der sozialen Welt der Gewerkschaft als sinnvoll. Mein theoretisches Erklärungsmodell fußt somit einerseits auf der empirisch-regelmäßigen Erkenntnis, dass die biografischen Erfahrungen, die der hauptberuflichen Arbeit bei der Gewerkschaft vor- oder in sie eingelagert sind, den zentralen Zugang zu den aktuellen beruflichen Bindungsstrategien darstellen. Es rekurriert andererseits auf die oben skizzierten Implikationen der theoretischen Konzepte von Wallace und Gamson sowie auf das formalistische Verständnis von Zugehörigkeiten von Elwert, wobei Letzeres den formalen Akt der sozialen Handlung, die Grenzziehung, in das Zentrum seiner Definition stellt. Dieses begriffliche Verständnis von Zugehörigkeiten stellt sicher, dass sowohl dyadische Formen der Bindung (Sozialisationsagenten) als auch solche an Großidentitäten (Klassenkampfakteure) bei der Untersuchung zur sozialen Welt der Gewerkschaft einbezogen werden können. Bei einer Vielzahl von Gruppen, die sich jeweils eine besondere kollektive Identität zuschreiben, wird „das Kriterium der Selbstzuschreibung (Barth 1969)
2. Das theoretische Erklärungsmodell zur sozialen Welt der Gewerkschaften
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zum entscheidenden Definitionskriterium ... dabei steht sie ... in einem komplexen Wechselverhältnis zur Fremdzuschreibung“ (Elwert 1989: 23). Wir-Prozesse sind Elwert (1989) zufolge Resultate sehr unterschiedlicher sozialer Prozesse „wie etwa Reaktionen auf zunehmende soziale und ökonomische Unsicherheit, Verlust individueller Identität und Wettbewerb um neue Revenuen“ (ebd.: 29). Aus dieser Perspektive stelle die Reformation den religiösen Ausdruck der politisch-kulturellen Bewegung des späten Mittelalters dar (ebd.: 11) und könne „die Kritik von Herrschaft und Ausbeutung ... sowohl mit einem ökonomischen Akzent einen Klassenkampf initiieren, mit einem moralischen Akzent zu einer religiösen Gemeinschaftsbildung führen oder als Kritik von Herrschaft und Ausbeutung durch Fremde auch Nationalismus oder Nativitismus konstituieren" (ebd.: 29). Welche Erkenntnismöglichkeiten aus der Betrachtung meiner Befunde unter der analytischen Perspektive von Zugehörigkeiten (Elwert 1989; Gamson 1992; Wallace 1973) resultieren und welchen Erkenntnisgewinn sie im Hinblick auf die soziale Welt der Gewerkschaften birgt, lege ich im Folgenden dar. 2. Das theoretische Erklärungsmodell zur sozialen Welt der Gewerkschaften 2. Das theoretische Erklärungsmodell zu Mitgliederrekrutierung und Bindungsprozessen in der sozialen Welt der Gewerkschaften Die nachstehenden grundlegenden Annahmen sind das Ergebnis eines biografieanalytischen Forschungsprozesses, an dessen Befunde ich verschiedene theoretische Perspektiven anlegte. Dazu wählte ich diejenigen Theoretisierungen aus, die die sozialweltliche Bedeutung und Sinnhaftigkeit der Befunde für die Gewerkschaften am besten zu erklären vermochten. Unter Bezug auf theoretische Konzepte zu Wir-Gruppen-Bildungen (Elwert 1989; Gamson 1992; Wallace 1973) konnte eine vier Differenzierungen umfassende Bindungstypologie zur gewerkschaftlichen Rekrutierungspraxis extrapoliert werden (vgl. Tabelle 7, Seite 100). Diese wurde in ihrem mikroanalytischen Kern bereits im vorangegangenen Abschnitt dargelegt und soll nun unter Bezug auf die vorab genannten theoretischen Konzepte zur kollektiven Identität vorwiegend makroperspektivisch eingeschätzt werden. Es handelt sich hierbei um vier differente und idealtypisch definierte Bindungsmuster einer Typologie, die zwar auf den nachstehend abgebildeten Mermalskomplexen beruht, indes jedoch nicht mit ihnen identisch ist. Dieser Bindungstypologie wurden die zehn Untersuchungsfälle zugeordnet. Die Bindungstypologie stellt das Ergebnis der von mir vorgenommenen Theoretisierungen dar und drückt aus, welches übergeordnete Merkmal die vier generierten Komplexe miteinander verbindet: das Merkmal der Zugehörigkeit(en). Die Verteilung der
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IV. Theoretischer Teil
identifizierten Mermalskomplexe (Becker & Geer 1979) auf die Bindungstypen ist der folgenden Tabelle 9 zu entnehmen. Aus der untenstehenden Abbildung wird deutlich, dass der Bindungstypus Sozialisationsagent vorwiegend die Mermalskomplexe 1 aufweist und sich damit erneut in homogener Gestalt zeigt. Hierin liegt der Nachweis der „Sinnadäquanz“ (Weber 1921/1972 nach Kelle & Kluge 1999: 91) der von mir konstruierten Bindungstypologie. Sie ist in diesem Fall als Ausdruck der vom Agenten gewerkschaftskulturell durchlaufenen Sozialisation zu verstehen, aus der die erneut auftretende Homogenität resultiert. Grundlage hierfür ist die Tatsache, dass die identitätsstiftende Zugehörigkeit zu einer Wir-Gruppe, hier der Gewerkschaft, stets bestimmte soziale Umgangsformen zwischen ihren Mitgliedern impliziert, welche auf die hier gültigen zentralen Orientierungen zurückgehen. Hiermit ist die empirische Basis bezeichnet, für welche die Homogenität dieses Bindungstypus’ einen Ausdruck darstellt. Tabelle 9: Beziehung von Mermalskomplexen und Bindungstypen
Dem Bindungstypus der Klassenkampfakteure hingegen können die Mermalskomplexe 2 und 3 zugeordnet werden, worin sich gleichermaßen gewerkschaftsbezogene Aufstiegsprozesse und Rekrutierungen aus anderen kollektiven Handlungskontexten ausdrücken. Für die Bindungstypen Bewegungsakteure und Organisationsagenten liegen zwar keine Vergleichsfälle vor, daher können die von ihnen verkörperten Bindungsmuster nicht vor anderen Fällen ausdifferenziert werden. Gleichwohl müssen sie in ihrer Bedeutung für die soziale Welt der Gewerkschaften erkannt und verstanden werden, dürfen vor allem aber aufgrund fehlender Vergleichsfälle nicht unterschätzt werden.
2. Das theoretische Erklärungsmodell zur sozialen Welt der Gewerkschaften
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Meiner nachfolgend dargestellten gegenstandsbezogenen Theorie liegen nun folgende Annahmen zugrunde: 1) Vor dem Hintergrund, dass „Kulturen trotz der Verschiedenheit der Interessen und Motivationen ihrer Mitglieder, trotz der Unmöglichkeit vollständigen zwischenmenschlichen Verstehens und Kommunizierens und des unvermeidlichen Restes von Einsamkeit, das in jedem Menschen lebt, existieren und Gesellschaften überleben“ (Wallace 1973: 287), müssen die Voraussetzungen und Bedingungen von Wir-Gruppen-Bildungen außerhalb eines gemeinsam geteilten Feldes von Interessen und Motiven gesucht werden. 2) Die Suche des Individuums nach einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft verweist zum einen auf seine „motivationale Einsamkeit“ (ebd.: 286) und stellt zum anderen den Versuch dar, seine Instabilität zu bewältigen (Elwert 1989). 3) Das Verhältnis von Individuum und Gruppe wird als Wechselspiel zwischen individuell geleisteten kognitiven Anschlüssen und kulturellen Bedeutungskonstruktionen verstanden (Gamson 1992; Wallace 1973). 4) Aus der dynamischen Verflechtung individueller kognitiver Leistungen und kollektiver Kulturen entspringt (politisches) Bewusstsein, und jedes Individuum verfügt in einer latenten Form über ein solches (Gamson 1992). 5) Die Art und Weise der individuellen Deutungen einer Situation, eines Themas oder eines Stimulus’ (Wallace 1973: 289) fördert oder hemmt die Bereitschaft zu kollektiven Bindungen und hieraus entspringende Handlungen (Gamson 1992: xiii). 6) Über eine angemessene Stimulierung kann dieses latent vorhandene (politische) Bewusstsein aktiviert werden (ebd.). 7) Gesellschaftliche Teilhabe wird vor diesem Hintergrund als Passung zwischen der latenten Suche des Individuums nach sinnhaften Handlungsmöglichkeiten und Stabilisierung verstanden, die kulturell auf vielfältige Weise aktiviert und verstärkt werden kann. 8) Gewerkschaften werden in dieser Untersuchung als Bewegungsorganisationen und kollektive Akteure (Miethe & Roth 2000) definiert und verstanden. Dieses begriffliche Verständnis resultiert einerseits aus der historischen Betrachtung von Gewerkschaften und andererseits aus der Berücksichtigung aktueller Befunde der Bewegungsforschung (Haunss 2004; Miethe & Roth 2000).293
293
Vgl. zum Entstehungskontext der Gewerkschaften im Zusammenhang mit sozialen Fragen und Sozialpolitik im 19. Jahrhundert die umfangreiche Abhandlung bei Sachße 2003: 20–35 und knapp bei Wolf 2002 b: 445.
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IV. Theoretischer Teil
9) Gewerkschaften als Bewegungsorganisationen verstanden, stellen organisationsbezogene und kollektive Rahmungen für soziale Lernprozesse dar, befördern freiwilliges politisches Engagement und bringen somit ‚soziales Kapital‘ hervor (Bourdieu 1993 nach Wolf 2002 b: 445). Nachdem ich die zentralen Annahmen meiner gegenstandsbezogenen Theorie dargelegt habe, greife ich zu einer ersten Visualisierung des kollektiven Wir der Gewerkschaften auf das von mir entwickelte Schaubild zurück (vgl. Abschnitt I.3.5), welches Gamsons Konzept kollektiver Identität abbildet und nun mit Bezug auf die Gewerkschaften modifiziert werden kann. Die von mir entwickelte grafische Darstellung verdeutlicht – über die drei von Gamson (1992) identifizierten Komponenten kollektiver Identität hinaus – eine Differenzierung der organisationsbezogenen Identitätskomponente, die aus der empirischen Analyse des Datenmaterials resultiert. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass ich im Folgenden den Begriff ‚Organisation’, der Gamsons Theorie entstammt, durch den der sozialen Welt (Strauss 1991) ersetze. Die Vorteile und Implikationen dieses theoretischen Konzeptes wurden in Abschnitt II.2.1.5 dargelegt. Mit Blick auf die unten dargestellte Abbildung 4 fasse ich das, was in Gamsons Terminologie ‚Organisation‘ und in der von Miethe und Roth (2000) ‚Bewegungsorganisation‘ genannt wird, sprachlich als ‚Sozialwelt‘.
Abbildung 4:
Modifiziertes Modell kollektiver Identität zum gewerkschaftlichen Wir
Die gewerkschaftliche Sozialwelt gliedere ich analytisch in zwei Subwelten mit voneinander verschiedenen sozialen Beziehungsformen, Handlungsorientierun-
2. Das theoretische Erklärungsmodell zur sozialen Welt der Gewerkschaften
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gen und hieraus entspringende Handlungslogiken auf. Bei der Beschreibung lege ich Schwerpunkte auf die hauptberuflichen Akteure der gewerkschaftlichen Binnenwelt, ohne jedoch ihre Beziehungen zur Umwelt außen vor zu lassen. Es handelt sich somit um den Versuch, die soziale Welt der Gewerkschaften in ihren mikro-, meso- und makroanalytischen Dimensionen in den Blick zu nehmen, der den Forderungen Miethes und Roths (2000) nachkommt, denen zufolge „ein kollektiver Akteur nur dann adäquat erfasst werden kann, wenn auch die dem Kollektiven zugrunde liegenden Konstruktionsmechanismen der beteiligten Akteure erfasst werden“ (Whittier 1995/ Roth 1997/ Miethe 1999 nach Miethe & Roth 2000). Ich empfehle, zum Nachvollzug meines theoretischen Mehrebenenmodells (Schütze 1999), welches neben der biografischen auch die handlungsbezogene Dimension in die Sozialwelt-Ebene integriert, die zu seiner Veranschaulichung entworfene grafische Darstellung am Ende des Abschnittes heranzuziehen. Die gewerkschaftliche Sozialwelt lässt sich analytisch in zwei Subwelten gliedern. Während Subwelt I durch horizontale Beziehungen und Kommunikationsformen geprägt ist, kennzeichnen die zweite Subwelt vertikale und demnach hierarchische Beziehungen und Kommunikationsstile. Subwelt I stellt sich aus der Deutungsperspektive der befragten Akteure als eine familiäre gute Binnenwelt dar, die dem Prinzip von Kameradschaft folgt und durch egalitäre Denkund Handlungsstrukturen sowie vom Typus der Ehrenamtlichkeit geprägt ist. Die egalitäre Handlungs- und Orientierungslogik der gewerkschaftlichen Subwelt I steht zu der hierarchischen Ordnung ihrer sozialen Schwesterwelt (Subwelt II) in starkem Kontrast. Letztere stellt sich analytisch als Verwaltungsapparat einer auf Dauer gestellten (Gewerkschafts-)Bewegung dar, der in Anlehnung an Miethe und Roth (2000) als Bewegungsorganisation gefasst wird und dessen Logik rationalen und ökonomischen Prinzipien folgt. Die kulturelle Organisiertheit (Wallace 1973) beider Subwelten offeriert (potenziellen) einfachen Mitgliedern, aber auch hauptberuflich und ehrenamtlich tätigen Akteuren vielfältige Zugehörigkeitsoptionen und ist systematisch auf eine quantitative und qualitative Anreicherung des gewerkschaftlichen Wir ausgerichtet. Die Systematik des Prozesses der Bedeutungsanreicherung (resp. kultureller Organisation) beruht auf einer für Gewerkschaften charakteristischen und daher typischen Rekrutierungs- und Bindungsarbeit ihrer hauptberuflichen Kräfte, die dem Prinzip der Adäquanz folgt und auf unscharf angelegten Profilen von ehrenamtlich und hauptberuflich Tätigen beruht. Hiermit sind die zentralen empirischen Voraussetzungen benannt, auf denen gewerkschaftliche Mitgliederwerbung fußen und die Fortbestand und Vitalisierung der Gewerkschaften gegenwärtig sichern.
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IV. Theoretischer Teil
Während sich Subwelt I der nichtgewerkschaftlichen Umwelt eher offen ins Verhältnis setzt, ist Subwelt II durch eine stärkere Binnenorientierung und Abschottung nach außen gekennzeichnet.294 Aus dem Prozess individueller Deutungen dieser subweltlichen Merkmale von Gewerkschaften resultieren nun personale Anschlüsse an die Organisation Gewerkschaft (Wallace 1973: 318f.). Hierbei handelt es sich entweder um gezielte organisationsbezogene Rekrutierungen oberhalb der Ebene einfacher Mitglieder (institutionell geförderte Aufstiegsprozesse und formale Rekrutierungen) oder um die Werbung einfacher Mitglieder, die auf mehr oder weniger bewussten personenbezogenen Rekrutierungs- und Bindungsstrategien von hauptberuflichen Kräften im mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaften beruht. Die Akteursgruppe der sogenannten Hauptamtler setzt sich aus vier biografieanalytisch ausdifferenzierten Bindungstypen zusammen. Es handelt sich hierbei um die im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten Bewegungs- und Klassenkampfakteure; deren Anschlussbereitschaften und -fähigkeiten und damit ihre kulturellen Zugehörigkeiten (Gamson 1992: xi) beziehen sich in erster Linie auf die gewerkschaftliche Subwelt I. Zum anderen handelt es sich um die hauptberuflichen Akteure, die sich überwiegend Subwelt II zuordnen und als Organisations- und Sozialisationsagenten bezeichnet werden. Der Typus der Sozialisationsagenten stellt allerdings insofern eine Besonderheit dar, als seine ursprüngliche Zugehörigkeit zu Subwelt I durch die Aufnahme seiner hauptberuflichen Arbeit dekonstruiert werden muss, worauf ich später ausführlicher zu sprechen kommen werde. Gewerkschaften fokussieren, darauf habe ich bereits hingewiesen, personenbezogene Rekrutierungsstrategien. Jeder Bindungstypus unterhält und pflegt in einer für ihn typischen Weise soziale Beziehungen in der gewerkschaftlichen Binnenwelt bzw. zur nichtgewerkschaftlichen Umwelt. Diese die Gewerkschaft verkörpernden Personen vermitteln in ihrem Umgang mit (potenziellen) Mitgliedern Ausschnitte der kollektiven Identität der Gewerkschaften. Auf der Grundlage ausgehandelter und konstruierter Zugehörigkeiten zu gewerkschaftlichen und nichtgewerkschaftlichen Wir-Gruppen offerieren die hauptberuflichen Akteure Anschlussmöglichkeiten für (potenzielle) Mitglieder, die ihrerseits wiederum bereits vorhandene Bedeutungsfacetten der gewerkschaftlichen Sozialwelt verstärken und ergänzen können (Prinzip der Adäquanz). Gewerkschaftliche Strategien der Rekrutierung, Bindung und Mobilisierung von Mitgliedern sind somit darauf ausgerichtet, eine möglichst breite, stets jedoch adäquate Mitgliederbasis
294
Vgl. hierzu die Überlegungen bei Weber, nach denen Verwaltungen stets unter Ausschluss von Öffentlichkeit „ihr Wissen und Tun vor der Kritik“ zu verbergen suchen (Weber 1972 nach Becker 1986: 191).
2. Das theoretische Erklärungsmodell zur sozialen Welt der Gewerkschaften
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zu gewährleisten, und suchen dies über die Zusammensetzung ihrer hauptberuflichen Kräfte im mitgliedernahen Bereich der Organisation zu erreichen.295 Die kulturelle Organisiertheit der Gruppe (Gewerkschaft) stellt nach Wallace (1973) die Grundlage dafür dar, dass jede Person an ihrer Gemeinschaft teilhaben kann, die ein ausreichend großes Set von Bedeutungen gelernt hat oder zu lernen fähig ist, sodass ihre Teilnahme am Leben dieser Gemeinschaft für die Person selbst und für die anderen Mitglieder befriedigend ist. Ferner existiert Wallace zufolge für die Mitglieder der gewerkschaftskulturell organisierten Gruppe zu jeder Situation eine adäquate oder gar identische Bedeutung und eine gewerkschaftskulturell adäquate oder identische Reaktion auf sie. Die kulturelle Adäquanz könne jedoch im Vergleich zur Fülle der individuell erlebten Bedeutungen und individuell ausgedrückten Reaktionen sehr einfach sein. Diese These erklärt, weshalb die von mir Befragten mehrheitlich auf einen für Gewerkschaften typischen Aufstiegs- und Rekrutierungsprozess bei der Darstellung ihrer eigenen Berufsbiografie abstellen, um auf die von ihnen verkörperte, und von diesem abweichende, Besonderheit aufmerksam zu machen. Wallace’ Theorie (ebd.: 292) zufolge gilt auch, dass das „Bedeutungsfeld und die Reaktion eines normalen Mitgliedes einer Gemeinschaft Untertypen der kulturell definierten Bedeutungsfelder und des kulturell definierten Reaktionsfeldes“ darstellen. Auf dieser Grundlage können die von mir rekonstruktiv ermittelten Bindungstypen als Subdimensionen des gewerkschaftskulturell definierten Bedeutungsfeldes erkannt und verstanden werden. Wallace’ weiter folgend (ebd.: 295), bedeutet dies auch, dass die individuelle Fähigkeit zu lernen die Befähigung des Individuums zur Gewerkschaftskultur impliziert, was an und mit den Falldarstellungen, die individuelle Prozesse des Lernens ausdrücken, gezeigt werden konnte. Insoweit gilt auch, dass die Bemühungen von Individuen, „Ausmaß und Organisation von ‚Bedeutung‘ kognitiv zu maximieren, ein Ausdruck ihrer Lernfähigkeit sind“ (ebd.: 295). Vor diesem Hintergrund lässt sich am Beispiel der deutschen Gewerkschaften belegen, dass „die Tendenz von Verhaltenssystemen wie Kultur und Persönlichkeit, sich in Richtung auf zunehmende Organisation zu entwickeln“ (ebd.: 319), nicht als problematisch aufzufassen, allerdings in stetem Wandel begriffen ist. Um weitere Aussagen zur sozialen Welt der Gewerkschaften treffen zu können, möchte ich mich ihren hauptberuflichen Akteuren unter Bezugnahme auf einige Überlegungen Georg Simmels (1921, 1922) zuwenden. Simmel, der sich Nedelmann zufolge (1983: 174ff.) mit den Emotionen in intimen Gruppen tiefgehend auseinandergesetzt hat, behauptet, dass sich Teil-
295
Hieraus resultiert die Wahrscheinlichkeit, dass außer den vier biografieanalytisch identifizierten Bindungstypen weitere in der gewerkschaftlichen Sozialwelt identifiziert werden könnten.
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IV. Theoretischer Teil
nehmer in engen Gruppen296 zu differenzierten Persönlichkeiten entwickeln (ebd.: 175). Diesem Gedanken folgend eröffnet sich die Möglichkeit einer potenzierten Differenzierung der Persönlichkeit, wenn Personen gleichzeitig oder aufeinanderfolgend mehreren Gruppen angehören. Die theoretischen Überlegungen Simmels, denen sich in der Folge neben Nedelmann (1983) auch andere namhafte Wissenschaftler angeschlossen haben (bspw. Neidhardt 1983; Joas 2003), sind für diese Untersuchung insofern hilfreich, als vor ihrem Hintergrund hauptberufliche Kräfte bei Gewerkschaften angemessen eingeschätzt werden können. Sie müssen als differenzierte Persönlichkeiten bezeichnet werden, sofern es sich bei ihrer Mehrzahl um Personen handelt, die mehreren Wir-Gruppen (Elwert 1989) angehören. Prott (2002), dessen Forschungen bereits wichtige Erkenntnisse zu hauptberuflichen Akteuren bei Gewerkschaften generiert haben, hat seinerseits darauf hingewiesen, dass es sich bei diesen Akteuren um „kulturelle Grenzgänger“ (ebd.: 22) handelt. Er bezieht sich hierbei auf seine aus empirischen Studien stammenden Befunde, die darauf verweisen, dass „lebensgeschichtlich betrachtet ... jene Arbeiter, die sich aus dem Herkunftsmilieu durch berufliches und/oder schulisches Avancement zum Gewerkschaftssekretär hochgearbeitet haben, kulturelle Grenzgänger [sind, K.B.]. Sie benötigen eine wachsende Kompetenz, sich situationsadäquat in unterschiedlichen Lebenssphären zu bewegen, die ihnen womöglich als Gefährdung ihres sozialmoralischen Traditionsbestandes und – mehr noch – daraus gewonnenen sozialen Kapitals erscheint“ (ebd.: 22).
Prott schließt mit den Theoretisierungen seiner Befunde an die milieuanalytische Perspektive von Vester (1993) an, aus der Vergemeinschaftungsprozesse des Individuums betrachtet werden können. Es geht Prott demnach um die Sensibilisierung von Wissenschaft und Forschung für berufsbezogene Schwierigkeiten hauptberuflicher Akteure bei Gewerkschaften, die aus dem Wechsel von Milieus resultieren. Die von Prott generierten Erkenntnisse nutzend, kann vor dem Hintergrund meiner biografieanalytischen Befunde gesagt werden, dass es in jedem Fall gruppenbezogene Identitäten sind, die für das berufliche Handeln eine Relevanz entfalten. Es muss sich hierbei jedoch nicht zwingend um milieubedingte Zugehörigkeiten handeln. Bei den von Prott beschriebenen hauptberuflichen Kräften handelt es sich um diejenigen, die in meiner Untersuchung in den Mermalskomplexen 1 und 2 abgebildet und für deren berufliche Position binnenwelt296
Hiermit sind Face-To-Face-Gruppen (Neidhardt 1983) gemeint, insbesondere jedoch Gruppen, die numerisch auf zwei, drei Mitglieder beschränkt werden (Simmel 1890 nach Nedelmann 1983: 175).
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liche Aufstiegsprozesse eine zentrale Bedeutung entfalten. Seine Befunde gelten daher nur für einen Teil meiner empirischen Ergebnisse, nämlich für Klassenkampfakteure und Sozialisationsagenten. Wenn dennoch in dieser Untersuchung keine milieuwechselbedingten Schwierigkeiten rekonstruiert werden konnten, so sagt das nichts über ihr Vorkommen in der sozialen Wirklichkeit der Gewerkschaft aus. Damit stellen sich die akteursbezogenen Untersuchungen von Prott und mir eher ähnlich als verschieden dar, sodass ich empirisch ein Sowohl-alsauch für wahrscheinlich halte. Hauptberufliche Akteure entwickeln sich durch ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Milieus (Prott 2002) oder, so würde ich es sagen, durch ihre Teilnahme an mehr als einem gruppenbezogenen Kontext zu kollektiv handelnden differenzierten Persönlichkeiten. Aus diesen parallelen oder aufeinanderfolgenden Zugehörigkeiten können Schwierigkeiten bei der hauptberuflichen Gewerkschaftsarbeit resultieren. Gleichwohl stellen Zugehörigkeiten und eine ihnen entspringende differenzierte Persönlichkeit eine der zentralen Voraussetzungen für eine hauptberufliche Anstellung bei Gewerkschaften dar. Aus welchen Gründen handelt es sich hierbei um einen grundlegenden, der Gewerkschaftskultur immanenten Rekrutierungswunsch? Simmel, so argumentiert Nedelmann (1983: 175), sieht die Voraussetzung für Intimität und Exklusivität, wie sie als spezifische Qualitäten enger Gruppen auftreten, als nur von stark differenzierten Persönlichkeiten erreichbar. Die Chancen zur Differenzierung der Persönlichkeit jedoch steigen mit zunehmender Teilnahme an verschiedenen Gruppen (Simmel 1890: 21–23 nach Nedelmann 1983: 175). Wenn also gilt, dass „die Fähigkeit zur Exklusivität ... die Fähigkeit zur Nicht-Exklusivität voraus[setzt]“ (ebd.: 175), so sind Intimität und Exklusivität umso wahrscheinlicher, „je mehr Individuen die Grenzen ihrer Dyade gegenüber Dritten öffnen und je mehr sie selbst an anderen Kreisen teilnehmen“ (ebd.). Vor dem Hintergrund, dass sich gewerkschaftliche Mitgliederwerbung in dyadischen Formen anbahnt und in Gruppenkontexten vollzogen wird, gelangt man zu folgender Erkenntnis: Das gewerkschaftskulturelle Merkmal der personenbezogenen Rekrutierung erfordert die Kompetenz, den für Dyaden und enge Gruppen charakteristischen Spannungen zu begegnen. Da jeder in die Untersuchung einbezogene Fall eine Differenzierung der Persönlichkeit aufweist, kann dies als unausgesprochener Selektionsmechanismus gewerkschaftlicher Rekrutierungspraxis in Bezug auf ihre hauptberuflichen Kräfte identifiziert werden. Der funktionale und hier analytisch erfasste subweltliche Aufbau der sozialen Welt von Gewerkschaften fördert durch die kulturelle Ordnung der Subwelt I die Fähigkeit ihrer Mitglieder zur Nichtexklusivität, die sich als Voraussetzung zur Exklusivität im Kontext hauptberuflichen Handelns in Subwelt II darstellt. Hierin liegt zugleich die Begründung für mein Argument, dass Gewerkschaften
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IV. Theoretischer Teil
nicht nur auch, sondern gerade aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive einen erkenntnisreichen Untersuchungsgegenstand darstellen. Auf diese Weise können sie als kollektive Rahmenwelt für individuumsbezogene Sozialisationsprozesse in sozialen Gruppen untersucht werden. Die von mir unter dieser Perspektive generierten Erkenntnisse, die die sozialen Beziehungen in der gewerkschaftlichen Sozialwelt in den forschenden Blick rücken und die sozialen Umgangsstile der vier Bindungstypen explizieren, stelle ich im Folgenden dar. Hilfreich erweist sich abermals der Bezug auf Simmels von Nedelmann referierte Überlegungen (Simmel 1922, nach Nedelmann 1983: 176) zum Zusammenhalt von Gruppen, der „durch Nutzenorientierung, äußeren Zwang, Recht oder Moral allein nicht hergestellt werden kann“. Die Frage, deren Beantwortung nun geleistet werden soll, lautet also, wie die hauptberuflichen Akteure „soziale Gefühle – daß man einander wohlwill und gern verbunden ist“ (Simmel 1921: 30, nach Nedelmann 1983: 177), bei den Gewerkschaften herstellen. Beispielsweise erweist sich insbesondere für die Bindungstypen ‚Klassenkampfakteure‘ und ‚Bewegungsakteure‘ die berufliche Aktivität des Vermittelns als charakteristisch. Unter Vermittlung wird hier verstanden, dass die Akteure zwischen gewerkschaftlicher Umwelt und Bewegungsorganisation (Gewerkschaft) vermittelnd tätig werden und auf diese Weise die Spannung zwischen den Binnenmilieus ihrer Wir-Gruppen und deren gesellschaftlichen Umwelten kurzschließen (Neidhardt 1983: 29). Hauptberufliche Gewerkschafter, die verschiedenen Wir-Gruppen zugehörig sind, erweisen sich so als Vermittler im reinsten Sinn des Wortes. Dass sie auf diese Weise Veränderungen auszulösen imstande sind, die über den mikrostrukturellen Bereich hinausgehen, hält Neidhardt (1983: 29) für wahrscheinlich, betont jedoch, dass dies strukturell nicht eindeutig zu bestimmen sei. Während Klassenkampfakteure allerdings einen eher konfrontativen Stil des Umgangs mit Akteuren der nichtgewerkschaftlichen Welt verfolgen, um beispielsweise die Rechte von Arbeitnehmern zu wahren oder gegebenenfalls zu verteidigen, zeichnet sich der Bewegungsakteur vor allem durch einen kooperativen Stil aus. Ihm kann die idealtypische Ausprägung des Vermittelns zugeschrieben werden. Bewegungsakteure sind, wie ich bereits dargelegt habe, Personen, die an eine soziale Bewegung gebunden sind. In ihrem Selbstverständnis stellen sie sich als ambitionierte politische Akteure dar. Sowohl Klassenkampfakteure als auch Bewegungsakteure fühlen sich Wir-Gruppen zugehörig, die umfassender und komplexer sind als das gewerkschafts- und organisationsbezogene Wir. Letztere entwickeln aufgrund ihrer starken emotionalen Bindung an soziale Bewegungsgruppen im Zuge ihrer hauptberuflichen Arbeit bei der Gewerkschaft lediglich eine partielle Wir-Gebundenheit, die sich beispielsweise auf den konkreten Arbeitsbereich beziehen kann. Aus ihrem Selbstverständnis als
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Bewegungsakteure erscheint die Fokussierung ihrer Bedeutungszuschreibung auf die Bewegungsaspekte von Gewerkschaften nicht nur vernünftig, sondern auch notwendig, um gewerkschaftskulturell anschlussfähig zu sein. Hierfür entfaltet beispielsweise der von ihnen in der alltäglichen Berufsarbeit hergestellte Bezug zu gewerkschaftlichen Traditionen der Arbeiterbewegung besondere Relevanz. Dieser Traditionsbezug verbindet sie zugleich mit den Klassenkampfakteuren; deren Wir-Zugehörigkeiten beziehen sich zumeist auf die Solidargemeinschaft der Arbeiter (solidarity group, nach Gamson 1992), woraus sich ihre zentrale Orientierung auf politischen Protest ergibt. Die politische Orientierung der Klassenkampfakteure, Dreh- und Angelpunkt der Handlungsorientierung, resultiert folglich aus einem Klassenbewusstsein. Bewegungsakteure werden beispielsweise durch Unterstützung in einer prekären Arbeitssituation an die Gewerkschaft gebunden, sodass für sie der Bedeutungskern gewerkschaftlicher Mitgliedschaft in ihrem ökonomischen Vorteil liegt. Aus dieser Anfangssituation entwickelt sich politische Partizipation, in erster Linie betriebsrechtliche Engagementformen, die zunächst auf die positive Wendung eigener arbeitsrechtlicher Schwierigkeiten abzielt. Während Klassenkampfakteure sowohl durch formale Rekrutierung als auch durch gewerkschaftsbezogene Aufstiegsprozesse in ihre hauptberufliche Anstellung gelangen, werden Bewegungsakteure typischerweise für die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit formal rekrutiert. Die empirische Existenz des Bindungstypus’ Bewegungsakteure zeigt, dass Gewerkschaften auch noch gegenwärtig von Sozialbewegungsaspekten durchzogen sind. Diese Aussage will sich empirisch gegen Rucht (2000) behaupten, dem zufolge „das einst den Parteien und Verbänden noch vielfach innewohnende Bewegungsmoment sich zunehmend verflüchtigt hat“ (ebd.: 57). Die hauptberufliche Tätigkeit bei der Gewerkschaft stellt für Bewegungsakteure aufgrund ihrer formalen Rekrutierung nach abgeschlossener beruflicher Ausbildung eine neue professionelle Sinnwelt dar, in die sie sich durch Lernprozesse einsozialisieren müssen. Ihre beruflichen Aktivitäten zielen in erster Linie auf gruppenbezogene Interaktionsprozesse, in denen sie Inhalte und Ziele gewerkschaftlicher Politik und Bildung an (potenzielle) Mitglieder zu vermitteln suchen. Bewegungsakteure kennzeichnet insbesondere die Hingabe, mit der sie politisch agieren, was Rucht (2000) zufolge das wichtigste Kapital sozialer Bewegungen bezeichnet (ebd.: 55). Bewegungsakteure verfolgen einen nivellierenden Umgang mit den gewerkschaftlich (ohnehin unscharf) definierten Akteursrollen „hauptamtlich“ und „ehrenamtlich“. Kennzeichen ihrer sozialbewegten Identität ist ferner das Plädoyer für ein ambitioniertes Engagement, welches sich selbst trägt und keinerlei Gratifikationen297 bedarf. Ihre problem- und basisnahe Orientierung 297
Gratifikationen verstehe ich hier als materielle und/oder ideelle Entschädigungen für die geleistete freiwillige Arbeit.
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IV. Theoretischer Teil
(Rucht 2000: 64) bei der beruflichen Rekrutierungs- und Bindungsarbeit setzt in erster Linie bei den Jugendauszubildendenvertretungen in den Betrieben an. Rekrutierungshandeln und Bindungsarbeit der Klassenkampfakteure hingegen sind durch die Perspektive des Arbeitskampfes geprägt. Hierbei stellen sie auf bei den Adressaten latent vorhandenes Klassenbewusstsein (Gamson 1992) ab, was es zu aktivieren gilt. Zu den Bedingungen eines erfolgreich initiierten Bindungsprozesses zählt, den richtigen Zeitpunkt hierfür abzupassen. Die Klassenkampfakteure zielen vorrangig auf Momente der Betroffenheit von arbeitsrechtlichen Problemen ab, da diese für sie selbst biografische Bedeutung erlangt haben. Sie sprechen bevorzugt Arbeitnehmer an, die schlechte Erfahrungen mit Arbeitgebern gemacht haben und sich wehren wollen, zum Protest somit bereit sind, aber nicht wissen, wie sie es ‚anstellen’ sollen. Solche Personen sind einerseits motiviert, sich in der Arbeitnehmervertretung zu engagieren, jedoch andererseits auf das fachliche und strategische Wissen des hauptberuflichen Akteurs angewiesen, was sie zu hoffnungsvollen Adressaten gewerkschaftspolitischen Wissens und Wirkens macht. Insofern zielen Klassenkampfakteure bei ihrer Rekrutierungsarbeit auf die Förderung von Engagement ab, welches sich auf die Vertretung eigener Interessen als Arbeitnehmer gründet. Dieses Bindungsmuster impliziert neben der biografischen Erfahrung des Erfolgs und der Aktivierung des Klassenbewusstseins eine Perspektive des Nutzens, also eine utilitaristische Haltung, von der potenzielle Mitglieder überzeugt werden müssen.298 Bindungstypenübergreifend konnte ein auf Quantität abzielender Rekrutierungsdruck für hauptberufliche Gewerkschafter rekonstruiert werden, der als Ausdruck einer ökonomischen Ratio des Bewegungsapparates (Subwelt II) verstanden werden muss. Sie setzt sich insbesondere zum Selbstverständnis der Bewegungs- und Klassenkampfakteure kontrastierend ins Verhältnis, widerstrebt jedoch auch den Sozialisationsagenten, aus deren Orientierung auf dyadische Formen der Bindungen ebenfalls eine quantitative Begrenzung ihrer sozialen Beziehungen erwächst. Je größer jedoch der Einfluss dieser Wirtschaftsratio auf die soziale Welt der Gewerkschaft wird, desto stärkere Auswirkungen hat dies auf ihre sozialen Beziehungen, vor allem jedoch auf die Bindungsmöglichkeiten. Die egalitäre Handlungs- und Orientierungslogik der gewerkschaftlichen Subwelt I, der vor allem Klassenkampf- und Bewegungsakteure folgen, setzt sich, wie oben angedeutet, mit der hierarchischen Ordnung ihrer sozialen Schwesterwelt (Subwelt II) in starken Kontrast. Dieser zweiten Subwelt fühlen sich in erster Linie diejenigen Bindungstypen zugehörig, die als Organisationsund Sozialisationsagenten kategorisiert wurden. Beide kennzeichnet ein vertikal ausgerichteter Kommunikationsstil, der im Fall der Organisationsagenten pater298
Vgl. zum Zusammenwirken zweckrationalistischer und emotionaler Motive bei Gruppenzugehörigkeiten Simmel 1922.
2. Das theoretische Erklärungsmodell zur sozialen Welt der Gewerkschaften
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nalistische Züge und damit eine stark hierarchische Handlungsorientierung aufweist. Diese Bindungstypen zeichnen sich im Vergleich zu den Bewegungs- und Klassenkampfakteuren durch eine ausgeprägtere binnenbezogene Handlungsorientierung aus. Das Verhältnis des Organisationsagenten zur nichtgewerkschaftlichen Welt ist eher konfrontativ ausgerichtet, das der Sozialisationsagenten eher kooperativ. Der Bindungstypus der Organisationsagenten weist als einziger eine kulturelle Bindung an die Gewerkschaft im Zuge der Primärsozialisation in der Herkunftsfamilie auf. Sofern die hauptberufliche Tätigkeit bei der Gewerkschaft für Organisationsagenten eine neue professionelle Sinnwelt darstellt, werden sie durch diese Lernprozesse nicht nur berufsbezogen in die Sozialwelt der Gewerkschaft einsozialisiert, sondern sukzessive an die Organisation der Bewegung gebunden. Hieraus resultiert die von ihnen konstruierte Zugehörigkeit zur Gewerkschaft als Organisation. Grundlage ihrer utilitaristisch orientierten Zugehörigkeit stellt ihre berufliche Sozialisation und die hiermit verbundene Partizipation an Macht dar. Es sind folglich das Organisationshandeln und die ihm zugrunde liegende Organisationsratio, welche den Kern des Typus’ ausmacht. Selbstredend geht es den Organisationsagenten, ebenso wie den Bewegungs- und Klassenkampfakteuren, um die Förderung politischer Partizipation im Kontext ihrer Rekrutierungs- und Bindungsarbeit. Allerdings gilt ihre Bindungsstrategie dem Herausstreichen dessen, was der einzelne Akteur durch seine Mitgliedschaft gewinnt. Dass aus dem hier vorliegenden Selbstverständnis als paternalistisch handelnde Organisationsagenten Schwierigkeiten bei der Rekrutierung- und Bindungsarbeit resultieren, findet seinen klarsten Ausdruck in einer Metapher dieses Bindungstypus‘ selbst – wenn es nämlich gilt, bei der Rekrutierung „die Leute zum Jagen zu tragen“. Organisations- und Sozialisationsagenten vereint das Selbstverständnis einer politischen Orientierungs- und Führungsfigur, was für die sozialen Beziehungen besondere Relevanz entfaltet. Kontrastiert werden sie jedoch durch den differenten emotionalen Bezug zu den Mitgliedern: Während noch für beide Bindungstypen ein vertikaler Stil der Kommunikation charakteristisch ist, weiß der Organisationsagent besser, was für den Rekruten gut ist, und schreckt nicht davor zurück, dies auch gegen dessen Willen zu verfolgen. Ein Sozialisationsagent hingegen achtet sehr darauf, dass sich insbesondere junge Rekruten entsprechend ihren eigenen Vorlieben entfalten und entwickeln können, und vermeidet hierbei paternalistische Bevormundung. Kennzeichen des biografisch gelernten Bindungsmodells der Sozialisationsagenten ist die Perspektivenübernahme wichtiger Personen, die auch signifikante Andere (Sullivan 1953 nach Joas 2003) genannt werden. Die zentrale Strategie dieses Bindungstypus’ besteht darin, die Adressaten der beruflichen Arbeit an die eigene Person zu binden. Insofern begreifen Vertreter dieses Typus’ junge Freiwillige bei der Gewerk-
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IV. Theoretischer Teil
schaft als Nachfolgende. Diese Form der Bindung wird von denjenigen Akteuren favorisiert, die, selbst jung an Jahren, als Auszubildende prozesshaft von bereits hauptberuflich tätigen Akteuren an die soziale Welt der Gewerkschaft gebunden wurden (Mermalskomplex 1). Sozialisationsagenten gelangen in ihre hauptberufliche Anstellung ausschließlich durch organisationsbezogene Aufstiegsprozesse, was sich in der Homogenität ihrer (berufs)biografischen und handlungspraktischen Merkmale ausdrückt. Das Bindungsmuster der Sozialisationsagenten hat somit biografisch betrachtet Kontinuität – ebenso wie die utilitaristisch geprägte Identität der Organisationsagenten oder das freiwillige, ambitionierte politische Engagement der Bewegungsakteure. Ich komme an dieser Stelle auf die eingangs erwähnte Besonderheit des Bindungstypus’ Sozialisationsagent zurück. An seinem Beispiel können die Schwierigkeiten des Lernprozesses von der Fähigkeit der Nichtexklusivität zur Fähigkeit der Exklusivität erläutert werden. Die Gewerkschaft stellt sich im Verständnis der Sozialisationsagenten nicht nur als Kontext wichtiger Sozialisationserfahrungen dar, sondern aufgrund ihrer biografischen Erfahrungen als einer Familie ähnlich, in der man grundlegende Vorstellungen davon entwickelt, wer man eigentlich ist, und basale Fähigkeiten des sozialen Handelns und Umgangs mit anderen erlernt (Joas 2003: 129). So erfährt man auch in der gewerkschaftlichen Wir-Gruppe emotionalen Rückhalt und die Unterstützung einer Person bei der eigenen Entwicklung. Diese biografische Erfahrung in der gewerkschaftlichen Subwelt I wird nun durch die hauptberufliche Arbeit in der sozialen Subwelt II maximal kontrastiert, woraus sich Schwierigkeiten für den einzelnen Akteur entwickeln können (vgl. Kernfall Jürgen Teschner). Für den Anschluss an die ökonomische und rationale Handlungslogik der hauptberuflichen Gewerkschaftsarbeit (Subwelt II) erweisen sich die unscharf konstruierten Profile der ‚Ehrenamtlichen’ und der ‚Hauptamtlichen’ als sehr bedeutsam. Die Unschärfe dient nicht nur der institutionellen Beförderung von Aufstiegsprozessen, die sich in den Mermalskomplexen 1 und 2 ausdrücken bzw. für die Klassenkampfakteure und Sozialisationsagenten kennzeichnend sind, sie sichern zugleich das frühzeitige Einsozialisieren in die zwei gewerkschaftlichen Subwelten. Hiermit ist ihre stabilisierende Funktion für die gewerkschaftliche Binnenwelt bezeichnet. Das Übertragen hauptberuflicher Aufgaben auf die freiwillig Engagierten führt einerseits zu einer Entlastung der hauptberuflichen Kräfte, andererseits kann hieraus eine Überforderung der Freiwilligen resultieren. Nicht zuletzt wird die Profilunschärfe dadurch optimiert, dass die Akteure häufig selbst parallel zu ihrer hauptberuflichen Arbeit freiwillig engagiert waren oder es noch sind, was zu ihrer hohen Bereitschaft unentgeltlicher Zusatzleistungen im Rahmen der hauptberuflichen Gewerkschaftsarbeit beiträgt.
2. Das theoretische Erklärungsmodell zur sozialen Welt der Gewerkschaften
285
Auf die beschriebene Weise werden sowohl die Bewegungen im gewerkschaftlichen Binnenraum – zwischen Subwelt I und II – in ihrer Dynamik befördert, als auch Abschottungs- und Öffnungseffekte der Gewerkschaften ihrer Umwelt gegenüber erreicht. Abschottung und Öffnung stellen Elwert (1989) zufolge Mechanismen dar, die die innere und äußere Stabilität von Wir-Gruppen beeinflussen (ebd.: 49f). Die kollektive Identität von Gewerkschaften erweist sich stets als verhandelbares und ausgehandeltes Konstrukt zugleich. Die in ihrem Handlungsrahmen agierenden Personen (hier mitgliedernaher Bereich) verkörpern die Gewerkschaftskultur jeweils ausschnitthaft und werden auf dieser Grundlage als gewerkschaftskulturelle Bindungstypen identifizierbar. Es handelt sich bei den Sozialisations- und Organisationsagenten bzw. bei den Klassenkampf- und Bewegungsakteuren um zum Teil kontrastierende Typen, die im kollektiven Akteur – Gewerkschaft – vereinigt werden.299 Insofern müssen Gewerkschaften als in Veränderung begriffene kollektive Akteure verstanden werden. Die vier Bindungstypen, wie sie für die soziale Welt der Gewerkschaft rekonstruktiv ermittelt wurden, tragen im Vollzug ihrer alltäglichen hauptberuflichen Arbeit insbesondere durch die für sie charakteristischen Rekrutierungs- und Bindungsstrategien zur Anreicherung der „semantischen Matrize“ (Wallace 1973: 308) von Gewerkschaften bei. Auf diese Weise wird gegenwärtig eine Stabilisierung der Gewerkschaften im Innen und Außen erreicht (Elwert 1989: 49f). Insbesondere das berufliche Handeln von Klassenkampfakteuren und Organisationsagenten ist durch die Betonung von Grenzziehungen gekennzeichnet und dient gleichermaßen wie die von den Bewegungsakteuren und Sozialisationsagenten fokussierte Öffnung der gewerkschaftlichen Sozialwelt der Stabilisierung von Gewerkschaften (ebd.: 49f.). Der typusübergreifend beklagte Verlust des örtlichen Bezuges durch gewerkschaftliche Zentralisierungsprozesse (Fusionen), mit dem wesentliche Aspekte von Gemeinschaft verloren gehen (ebd.: 15), erweist sich als ebenfalls nicht für jeden Bindungstypus in gleicher Weise relevant. Er erlangt für die auf regionale Probleme orientierte Bewegungsakteurin zweifelsohne mehr Bedeutung als für den auf personale Nachfolge abzielenden Sozialisationsagenten, um nur die maximalen Kontraste aufzuzeigen. Um die in den beiden vorangegangenen Abschnitten dargelegten Ergebnisse zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, an dem das Gesagte auch visuell erfassbar wird, präsentiere ich abschließend eine von mir entwickelte grafische Darstellung (Abbildung 5).
299
Vgl. hierzu die ähnlich gelagerten Ergebnisse Miethes (1999) bezogen auf soziale Bewegungen.
286
IV. Theoretischer Teil
Die Abbildung zum theoretischen Erklärungsmodell dient zugleich als Basis für die sich anschließenden Schlussbetrachtungen, deren Anliegen es ist, die wesentlichen und neuen Erkenntnisse dieser Untersuchung herauszustellen.
Abbildung 5:
Theoretisches Erklärungsmodell zur sozialen Welt der Gewerkschaft
3. Schlussbetrachtungen Die vorgelegte Arbeit überwindet das für Publikationen der Gewerkschaftsforschung charakteristische Merkmal der Erforschung von stark begrenzten Ausschnitten. Gleichwohl konnten einige dieser Studien für die hier verfolgte Fragestellung erkenntnisfördernd in Ansatz gebracht werden. Es erwies sich für die Ergebnisse dieser Untersuchung als besonders ergiebig biografietheoretische Konzepte (Schütze 1984) und professionsbezogene Heuristiken des Symbolischen Interaktionismus (Strauss 1991; Strauss et al. 1980) mit theoretischen
3. Schlussbetrachtungen
287
Konzepten von Zugehörigkeiten (Elwert 1989; Gamson 1992; Wallace 1973) miteinander zu verbinden, da Gewerkschaften auf diese Weise in ihrer Gesamtgestalt erfasst werden konnten. Die Arbeit ergründete daher, welches Potenzial die biografieanalytische Perspektive für die akteursbezogene Untersuchung zu den deutschen Gewerkschaften aufweist. Hauptberuflich im mitgliedernahen Bereich bei Gewerkschaften tätige Akteure gehören, so konnte analytisch herausgearbeitet werden, zu den von Simmel (1921) als differenzierte Persönlichkeiten bezeichneten Personen. Die Differenzierung ihrer Persönlichkeit resultiert aus parallelen oder aufeinanderfolgenden Zugehörigkeiten zu verschiedenen Wir-Gruppen (Elwert 1989). Hiermit ist zugleich der gewerkschaftskulturelle Mechanismus der zirkulär angelegten Rekrutierungen bezeichnet. Er stellt die Basis für die gegenwärtige Rekrutierungs- und Bindungspraxis der Gewerkschaften dar. Das für die Rekrutierung und Bindung zentrale Prinzip der Adäquanz verbindet sich mit der gewerkschaftlichen Organisationsstrategie zur Auswahl ihrer hauptberuflichen Kräfte, durch welche die gewerkschaftskulturelle Organisiertheit beeinflusst wird: Hauptberufliche Akteure haben die berufliche Aufgabe, personenbezogen Mitglieder zu werben; dies gewährleistet, dass vorwiegend jene Adressaten in die gewerkschaftliche Politik einbezogen werden, mit denen das gewerkschaftskulturelle Prinzip der Adäquanz fortgeschrieben werden kann. Eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft kommt ferner dann zustande, wenn sich das (potenzielle) Mitglied bezogen auf die Gewerkschaftskultur als ausreichend lernfähig erweist. Hiermit sind die Bedingungen des Zustandekommens wie auch des Aufrechterhaltens gewerkschaftlicher Mitgliedschaften bezeichnet. Das heißt zugleich: Gewerkschaftliche Partizipation lässt sich nicht mit der Vorstellung einer Statik verbinden, vielmehr ist sie als dynamisches Ergebnis wechselseitig bedingter Aushandlung von Akteuren und Gewerkschaft zu denken. Ferner konnte mit dieser Untersuchung gezeigt werden, dass die Gewerkschaft eine „kulturell organisierte Gruppe“ ist, da sie „völlig von dem Beziehungsmuster der Stimulusbedeutungen abhängt, die ... [ihre, K.B.] Mitglieder ... gelernt haben (Wallace 1973: 289). Entscheidend für diese theoretischen Befunde ist die biografieanalytische Einsicht in die Verwobenheit von Akteursbiografie und hierin verankerter WirGruppen-Bindungserfahrungen mit der beruflichen Handlungspraxis. Es handelt sich mithin um eine die innere Stabilität von Gewerkschaften fördernde Rekrutierungsstrategie, die durch Versuche der Konsolidierung der äußeren Stabilität flankiert wird (Elwert 1989: 49). Elwert zufolge stabilisiert Gemeinschaften nichts stärker als Kämpfe und Kriege (ebd.: 48). Folgt man dieser These, so spricht sie dafür, dass gesuchte Schulterschlüsse an große verbandspolitische Koalitionen gegenwärtig eher die äußere Stabilität der deutschen Gewerkschaf-
288
IV. Theoretischer Teil
ten gefährden. Grenzziehungen hingegen werden durch Kämpfe deutlicher, da die Gemeinschaft ein reales Element von Kameradschaft im Beistand der Kämpfenden gefunden habe (1989: 48). Insoweit tragen die jüngeren Erfolge der Gewerkschaften im Hinblick auf die tarifpolitische Vertretung ihrer Mitglieder ganz sicher zu einer äußeren Stärkung ihrer Gemeinschaft bei, die sich zugleich günstig auf ihre innere auswirkt. Arbeitskämpfe, Arena-Orientierung und binnenweltlicher Rekrutierungszirkel sind probate Mittel, um einen stärkeren inneren Zusammenschluss der gewerkschaftlichen Gemeinschaft zu befördern. Der hier gewählte theoretische Ansatz ermöglichte es schließlich auch, die Differenz zwischen einem klaren und stabilen Common-Sense-Verständnis zu Gewerkschaften und ihrer rekonstruktiv generierten komplexen sozialen Welt in den Blick zu rücken. Gewerkschaften werden von ihren Akteuren als weniger homogen begriffen, als Gewerkschaften dies selbst in offiziellen Verlautbarungen tun bzw. als es Fremdzuschreibungen glaubhaft vermitteln möchten. Demnach zeigt sich die empirische soziale Welt der Gewerkschaften, und man findet Hinweise darauf, dass es sich hierbei um die einzige Wirklichkeit handelt (Filstead 1979), weder nur in einer umfassenden und bedingungslosen Hingabe an die Gewerkschaft noch in einer rigorosen Abkehr vom einstmals zentral agierenden gesellschaftlichen Akteur. Vielmehr geht es um sozial und interaktiv hergestellte Zugehörigkeiten, die in einem zirkulären Prozess zwischen kollektiv handelnden Personen (hauptberufliche Gewerkschafter) und (potenziellen) Mitgliedern bzw. aktiven Freiwilligen entstehen. Der rekonstruierte und durch das Prinzip der Adäquanz bestimmte Rekrutierungs- und Bindungszirkel ist strategisch sowohl auf den gewerkschaftlichen Binnenraum als auch auf die gewerkschaftliche Umwelt bezogen. Für den auf diese Weise entstehenden Erneuerungskreislauf der (partiellen) Zugehörigkeiten zur Gewerkschaft entfaltet das berufliche Handeln der vier gewerkschaftskulturell differenzierbaren Bindungstypen zwar eine verschiedene, jedoch gleichermaßen wichtige Bedeutung. Sowohl Bewegungs- und Klassenkampfakteure als auch Sozialisations- und Organisationsagenten dienen auf gleichwertige Weise der Vitalisierung und Mobilisierung der Mitgliedschaft und damit der gegenwärtigen Existenzsicherung von Gewerkschaften. Die soziale Wirklichkeit der Gewerkschaften verweigert sich vor diesem Hintergrund einem einfachen und stabilitätsbezogenen Zugriff des Verstehens. Es handelt sich hierbei um eine Vorstellung von Stabilität, die König (1983) noch im besten Sinne als „blinden Fleck im Auge des Beobachters“ (ebd.: 59) bezeichnet. So zeigt sich am Beispiel der von den gewerkschaftlichen Akteuren selbst dargestellten, ihnen jedoch nicht zu Bewusstsein gekommenen Tatsache, dass es „kein ‚Jenseits‘ des Sozialen, wohl aber einen ständigen Erneuerungsprozeß“ (ebd.: 60) gibt.
3. Schlussbetrachtungen
289
Auf der Basis der in dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnisse ist es möglich, neue interdisziplinäre Fragen zu den Gewerkschaften zu generieren. Gewerkschaften erweisen sich insbesondere im Hinblick auf grundlagentheoretische Erkenntnismöglichkeiten für die Pädagogik als relevanter Untersuchungsrahmen. So würde beispielsweise die Analyse interpersonaler jugendpädagogischer Vermittlungsprozesse, die die alltäglichen Beziehungsverläufe zwischen pädagogisch Tätigen (hauptberufliche Kräfte bei Gewerkschaften) und Jugendlichen (freiwillig aktive Mitglieder) in den Blick nimmt, Impulse für die pädagogische Theoriebildung geben können. Hiervon könnte beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem von Nohl (1970) konzipierten „pädagogischen Bezug“ (ebd.: 130) profitieren. Die Arbeit zeigt zudem methodische Konzepte auf, mit denen es möglich ist, auch emotionale und affektive Dimensionen von Zugehörigkeiten und hieraus entspringende Partizipation zu untersuchen. Strauss et al. (1991, 1980) legen mit dem Sentimental Work ein theoretisches Konzept vor, auf dessen Grundlage nicht nur berufsbezogene, sondern jede Art interpersonaler Beziehungen auf ihre gefühlsbezogenen Aspekte analytisch untersucht werden kann. Für Untersuchungen dieser Art hält diese Arbeit lohnenswerte Anknüpfungspunkte vor. Schließlich wird es die Aufgabe künftiger Forschungsarbeiten sein zu zeigen, wie sich die soziale Welt der Gewerkschaften – die sich in meinen Augen als höchst spannender Forschungsgegenstand erwiesen hat – wandeln und erneuern wird, weil das „Heute immer das Gestern von Morgen“ 300 sein wird.
300
König 1983: 60.
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Index Index
Abduktion 70, 97 Arc of work 78ff. - Anwendungen 84ff. - mitgliedernaher Gewerkschaftsarbeit 106ff. Berufliche Aufgabenteilung - Mandat 25, 106ff. Bewegungsorganisation 24, 60, 87, 257, 273ff. Beziehung von Individuum und Gruppe 20f., ..37ff., 60, 273f. Bindungstypen 99f., 267ff., 276f. - Sozialisationsagenten 237ff., 261ff, 272, 276ff., 282f., 284ff. - Klassenkampfakteure 265ff., 280, 282 - Organisationsagenten 267, 282f. - Bewegungsakteure 268ff., 280 - soziale Umgangsstile 280ff. Biografieforschung 59f. Biografische Handlungsschemata - Wandlungsprozeß 148f., 161f. - Verlaufskurve 162 Datenanalyseverfahren 14f., 63ff., 69ff. Datenerhebung 14, 58ff., 74, 90. Dichte Beschreibung 102 differenzierte Persönlichkeiten 278ff. Ehrenamt 27
Erhebungs- und Auswertungsverfahren, siehe auch Datenerhebungsund Datenanalyseverfahren - axiales und selektives Kodieren 95f. - Experteninterview 64ff. - exploratives Interview 66f. - sequenzanalytisches Interpretationsverfahren 69ff. Erzähltheorie 69ff. - Coda 160, 162f. - Darstellungsmodus 71, 120f. - Erzählgerüstsatz 121, 125 - Erzählstimulus 121 - Hintergrundkonstruktion 122 - Präcoda 157, 159f., 162f. Fallanalysen - Vergleichsdimensionen 117f. Fallgruppierung 254f. Gegenstandsbezogene Theorie 271ff., 286 - analytische Kategorien 167f., 240f. - Konstruktion 71, 95f. - Schlüsselkategorie 211, 238f. gesellschaftliche Teilhabe 273 Gewerkschaften 1, 23ff., 273f. - ehrenamtliche Akteure 284f. - hauptberufliche Akteure 278f., 284f. - kollektive Identität 285
302 - kulturelle Organisiertheit 277 - Zentralisierung 149 gewerkschaftliche - Aufstiegsverläufe 95ff. - Zugehörigkeit, siehe auch WirGruppe gewerkschaftliche Rekrutierung 37ff., 191f., 260, 268, 279, 281 - Merkmale 165f., 190, 209 - Milieuvermittler 146, 190, 194f. 208f. - Referenzträger 146, 162 - Strategien 235, 250, 268, 276f. Gewerkschaftlicher Rekrutierungszirkel, siehe auch Prinzip der Adäquanz 16, 260f., 263ff., 275, 288 grounded theory 72, 100 - theoretical sampling 63, 100 Gruppe 39ff. - Dyade 39 - enge Gruppe 277f., 279 - face-to-face-Gruppen 39, 41, 53 - kulturell-organisierte 44ff., 277, 287 - soziale 39 - Wir-Gruppe 42f., 257ff., 266, 270ff., 280ff. - Zusammenhalt 280 Handlungstheorie 38f. - identitätsorientiert 38ff., 273 - rational-choice 38, 267 Idealtypus 100, 257 Intermediäre Organisation 23f., 30f. Kollektive Identität 46ff. - Theorien 37ff.
Index
Kollektiver Handlungsrahmen 47ff. kulturbezogene Lernfähigkeit 45f., 277 Lebenswelt 101 Merkmal - komplexe, siehe auch Fallgruppierung 96, 240ff. - raum 78 - zusammenhänge 95 Mitglied 24 - Rollen: 27ff. Nutzenorientierung, siehe auch Utilitarismus 27, 38f., 283 Organisationskultur 102 Pädagogischer Bezug 57f. Prinzip der Adäquanz 16, 260, 275f., 287f. Qualitative Sozialforschung 61, 96f. Sentimental Work 87ff. Sinnquellen beruflichen Handelns 41ff. Soziale Bewegung 46ff. Soziale Beziehungen 40f., 57f. Soziale Welt der Gewerkschaften - bindungstypologische Merkmale 269 - Komponenten kollektiver Identität 274 - kulturelle Organisiertheit 275 - mikro-, meso- und makroanalytische Dimension 275ff. - Sozialbewegungsaspekte 281 - Subwelten 77, 136., 141, 274f.
303
Index
Soziale Welt 76ff., 129, 137, 140f., 162, 166, 208, 236ff., 241ff., 271ff. - Arenen 77, 128, 217ff. Symbolischer Interaktionismus 38, 60, 77, 266
Transkriptionssystem 68f. Triangulation 67 Typenbildung 97ff., 100 siehe auch Idealtypus - Typologie 239ff.
Theoretisches Erklärungsmodell, siehe auch gegenstandsbezogene Theorie 270ff., 286 - analytische Kategorien 166f., 238f. - Konstruktion 71, 95f. - Schlüsselkategorie 211, 238f.
Utilitarismus, siehe auch Handlungstheorie 27, 283 Verhältnis individueller und kollektiver Identität, siehe auch Beziehung von Individuum und Gruppe 37ff., 44ff., 51ff., 273