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Scan by Schlaflos Buch Während das Königreich Wendar von den Aikha bedroht wird, probt Sabella den Aufstand gegen König Henry, ihren Bruder. Und als die Aikha sogar über die Grenzen des Königreichs vordringen, stellt sich ihnen nur Prinz Sanglant entgegen. Das ganze Land befindet sich in Aufruhr: Sabella hat inzwischen offen zur Rebellion
aufgerufen und sammelt mit Mitteln der schwarzen Magie eine mächtige Armee, um ihren Bruder zu vertreiben. Bald werden zwei ahnungslose junge Waisen in das Geschehen hineingerissen: Alain leistet Frondienst beim Grafen Lavastine, und Liath ist in der Gewalt eines sadistischen Geistlichen gefangen. Sie sind sich nie begegnet, doch als sie frei kommen, steuern ihre Schicksale in den Wirren des königlichen Familienzwists unaufhaltsam auf einen gemeinsamen Wendepunkt zu. Niemand ahnt, das die Zukunft des Königreichs auf den Schultern einer reitenden Botin und eines Knappen im Tross der rebellischen Sabella ruht ...
Autorin Kate Elliott hatte bereits unter dem Namen Alis A. Rasmussen mehrere Science-Fiction-Romane veröffentlicht, bevor sie mit Melanie Rawn und Jennifer Roberson »Die Chronik des Goldenen Schlüssels« verfasste. »Sternenkrone« ist ihr erstes großes Solo-Projekt in der Fantasy und wurde von Kritikern und Lesern begeistert aufgenommen.
Von Kate Elliott bereits erschienen: STERNENKRONE: 1. Erben der Nacht. Roman (24742), 2. Im Namen des Königs. Roman (24743), 3. Auf den Flügeln des Sturms. Roman (24744), 4. Die Kathedrale der Hoffnung. Roman (24842), Der brennende Stein. Roman (24843), 6. Das Rad des Schicksals. Roman (24844), 7. Kind des Feuers. Roman (24131), 8. Schatten des Gestern. Roman (24132), 9. Ins Land der Greife. Roman (24183) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Kate Elliott
Erben der Nacht Im Namen des Königs Sternenkrone 1+2 Zwei Folgen in einem Band! Ins Deutsche übertragen von Susanne Gerold blanvalet Originaltitel: Crown of Stars 1. King's Dragon Originalverlag: DAW Books, Inc., New York Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. 1. Auflage Taschenbuchausgabe September 2005 Copyright © der Originalausgabe 1997 by Katrina Elliott \ Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1998 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Published in arrangement with the author c/o BAROR International, Inc., Armonk, New York, USA Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Krasny Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Verlagsnummer: 24349 Lektor: Urban Hofstetter Printed in Germany ISBN 3-442-24349-1 www.blanvalet-verlag.de Dieses Buch ist aus tiefstem Herzen meiner Schwester Ann Marie Rasmussen gewidmet. Prolog Auf einem Hügel, der an drei Seiten von Wald und an einer vierten von den Ruinen einer Festung umgeben war, stand ein Steinkreis. Die Steine verliehen dem Hügel eine schroffe Schönheit, als sei tief in der Erde eine Burg vergraben, von der einzig die Zinnen des höchsten Turms noch herausragten. Es hieß, daß sich Kammern unter den Steinen befänden, Räume voller Schätze, Flüche und nichtmenschlicher Geschöpfe. Es hieß auch, daß Tunnel von den Kammern wegführten wie Flüsse von einem landumschlossenen See, und daß sich diese Tunnel
vom Hügel aus durch das ganze Land zogen, bis hin zum kalten Meer im Norden und dem großen Gebirge tief im Süden. Am dritten Tag des Monats Avril, als der Nachmittag zu fahler Dämmerung verblaßte und der Vollmond tief am dunkler werdenden Himmel stand, bahnte sich eine einsame Reisende ihren Weg durch die verstreuten Reste der alten Festung. Sie trug enge Hosen, eine einfache Leinentunika und bis zu den Knien geschnürte Sandalen Menschenkleider, an die sie sich während ihres Aufenthalts in diesem fremden Land gewöhnt hatte, ohne sich in ihnen wohl zu fühlen. Einen Stab in der einen Hand und einen kleinen Beutel am Gürtel, überwand sie das Labyrinth aus Mauern, als würde sie es tief in ihrem Innern kennen. Die Ruinen lagen auf einer sanften Anhöhe; sie erstreckten sich von den Ufern eines nahe gelegenen Flusses bis zu der Stelle, wo die letzte Mauer, nicht größer als ein Kind von etwa einem Jahr, allmählich zerbröckelte. Dahinter erhob sich der 11 Wald. Auf der anderen Seite des Flusses, hinter den Stümpfen gefällter Bäume und erst kürzlich abgebrannten Feldern, die für die Frühjahrssaat vorbereitet worden waren, sah man ein einsames Wachfeuer - Anzeichen des einzigen Dorfes in Sichtweite des steingekrönten Hügels. Die Reisende machte halt, bevor sie über die letzte Mauer der Festung stieg. Sie schlug die Kapuze zurück. Ihre Haare waren so hell, als schimmerten sie von einem eigenen Licht. Sie griff in den Beutel und holte ein Stück zerrissenen Stoff heraus; er war blutbefleckt. Sie zog eine Grimasse, als wollte sie den Fetzen auf den Boden werfen, um sich so von seiner bindenden Kraft zu befreien, bevor sie in den majestätischen Kreis der Steine trat. Doch sie hielt inne, neigte den Kopf leicht zur Seite und lauschte. Und fluchte. Sie zögerte - und dieser Augenblick genügte dem vordersten Reiter, sie zu entdecken. Zwar dämmerte es bereits, doch ihr Haar war hell, und seine Augen waren jung und scharf, und er suchte nach ihr. »Alia!« rief er. »Geliebte!« Energisch drängte er sein Pferd vorwärts, folgte dem durch die Festung führenden Pfad. Weitere Reiter tauchten hinter ihm auf. Er wartete einen Augenblick und ließ das Pferd einen Schritt zur Seite treten, damit Männer zu Fuß und mit Fackeln ihn einholen und ihm den Weg weisen konnten. Er hielt die Zügel nur mit einer Hand. Mit der anderen preßte er ein Stoffbündel gegen seine Brust. Beim Anblick des kleinen Bündels zuckte sie zurück. Der Schwur, den sie Jahre zuvor - nach der Zeitrechnung der Menschen - abgelegt hatte, schien jetzt unbesonnen und hart. Kühn hatte sie damals vor dem versammelten Rat gesprochen, doch ohne zu wissen, was sie in der Welt der Menschen erleiden würde. Dann blieb ihr Blick an einem Banner hängen. Ein von den 12 Narben vieler Schlachten gezeichneter Mann in einem goldschwarzen Überwurf trieb sein Pferd neben das des jungen Prinzen. Aufrecht und arrogant saß er im Sattel, hielt in der einen Hand das Drachenbanner, Symbol der Elitetruppen, die den Erben und damit auch das Königreich beschützten: ein schwarzer Drache, zusammengerollt vor einem goldenen Hintergrund. Oberhalb des Drachens strahlten sieben Sterne auf goldenem Feld. Sie tastete die Konstellation mit ihren Blicken ab, wollte sich daran erinnern, wofür die Sternenkrone stand, die, halbvergessen in der Welt der Menschen, aber zur Rückkehr bestimmt, vom Herrscher des alten Kaiserreiches getragen worden war. Dafür hatte sie das Opfer gebracht. Der junge Prinz hatte ihr Zögern ausgenutzt und zügelte jetzt sein Pferd neben ihr. Die Fackeln warfen tänzelnde Zungen aus Licht über die Ruinen, und ihre Hitze umgab sie wie ein Gefängnis aus Feuerwänden. »Warum bist du mir gefolgt?« fragte sie. »Du wußtest, daß ich gehen wollte.« »Wie kannst du fortgehen?« wollte er wissen, wie ein Kind, das dagegen aufbegehrt, beiseite geschoben zu werden. Aber er war noch so jung, kaum ein Mann, erst achtzehn Jahre alt nach der Zeitrechnung dieser Welt. Mit einiger Anstrengung gab er seiner Miene den Ausdruck hochmütiger Verachtung; er versuchte es jetzt auf andere Weise. »Bestimmt willst du dich doch vergewissern, daß das Kind wächst und gedeiht, und bleibst daher zumindest, bis es ein oder zwei Jahre alt ist.« »Keine Krankheit, die du kennst, wird ihm je etwas anhaben können, und kein Wesen, sei es männlich oder weiblich, ist in der Lage, es tödlich zu verwunden«, sagte sie, ohne lange nachzudenken. Ein Raunen ging durch die Gruppe der anwesenden Soldaten, als würde ein Windhauch das Laub der Bäume zum Ra13 schein bringen. Jene, die nahe genug standen, um ihre Prophezeiung zu hören, flüsterten die Worte denen zu, die weiter entfernt waren. Der alte Soldat drängte sein Pferd neben den jungen Prinzen. Das Drachenbanner fiel über den Sattel, streifte den Arm des jungen Mannes. In diesem Augenblick bewegte sich das Bündel auf seinem Arm. Das Baby wurde wach, stieß mit unbewußten, kindlichen Bewegungen die Decke von sich. Sie sah den schwarzen Haarschopf, das winzige Gesicht mit den weit geöffneten, jadegrünen Augen, die lebhaft vor sich hin starrten; sie sah die bronzefarbene, glänzende Haut, den letzten Beweis, daß es auch ihr Kind war, da sie so gar nicht der nordischen Blässe des jungen Prinzen entsprach, die jener selbst dort besaß, wo seine Haut Sonne und Wind ausgesetzt war. Das Baby umklammerte mit der winzigen Hand eine Ecke des Drachenbanners, zerrte mit all seiner kindlichen Kraft daran. Die bewaffneten Männer zeigten darauf und deuteten es als Omen: Der von einer nichtmenschlichen Frau geborene
Bastard spürte bereits sein Schicksal, auch wenn er noch nicht zwei Monate alt war. Der Prinz wandte das Gesicht ab, er wollte nicht hinschauen. Statt dessen reichte er das Baby vorsichtig - sehr vorsichtig! - dem alten Soldaten, der wiederum das Banner einem anderen Mann gab, um das Baby halten zu können. Dann stieg der Prinz ab, bedeutete seinen Männern, sich zurückzuziehen, und trat einen Schritt auf sie zu. »Du machst dir nichts aus dem Kind?« Sie unterließ es, dem alten Soldaten nachzublicken, der sein Pferd zu einem geschützteren Fleckchen lenkte, wo sich nicht so viele Steine gelöst hatten und es weniger halbverborgene, steile Abhänge gab, die ein unachtsames Tier nur zu leicht zum Straucheln bringen konnten. »Es ist nicht länger mein Kind.« 14 »Wie kannst du so etwas sagen ? Er ist das hübscheste Kind, das ich jemals gesehen habe!« »Das sagst du nur, weil es deines ist!« »Und auch deins!« »Nein, es ist nicht meins! Ich trug ihn, gebar ihn, blutete genug, um die Felder des Dorfes zu bedecken, an denen wir soeben vorbeikamen! Es war niemals meins, und es wird niemals mein Kind sein. Verlaß mich, Henry.« Sie hatte den östlichen Akzent niemals gelernt und sprach seinen Namen so aus, wie die Salianer es tun würden. »Ich habe dir niemals mehr als das Kind versprochen. Laß mich in Frieden gehen.« Der junge Mann sagte eine Zeitlang nichts - zumindest nicht mit Worten. Er hatte ein ausdrucksvolles Gesicht, doch er lernte bereits, seine Empfindungen zu verbergen. Während sie ihn beobachtete, fragte sie sich, was er wohl hatte sagen wollen und was er nun sagen würde. Als sie ihm ein Jahr zuvor zum ersten Mal begegnet war, hatte er immer sofort das von sich gegeben, was ihm in den Sinn gekommen war. Jetzt, durch seine Zeugungsfähigkeit zum rechtmäßigen Erben aufgestiegen, lernte er, erst nachzudenken, bevor er sprach. »Ich will dich nicht gehen lassen«, entgegnete er schließlich. »Bei der Beschwörung deines Namens, Alia, ich bitte dich, bleib bei mir.« »Alia ist nicht mein Name, Henry.' Es ist nur der, mit dem du mich ansprichst.« »Es geht dir noch nicht so gut, daß du weggehen solltest. Du warst so krank nach der Geburt.« »Es geht mir inzwischen gut genug.« »Warum bist du dann zu mir gekommen? Liebst du mich denn gar nicht?« Seine Stimme versagte bei den letzten Worten, doch er fing sich rasch wieder und straffte sich, bis sein Gesicht zu einer Maske erstarrt war. 15 Dies ist die Maske, dachte sie, die er meistens tragen wird, wenn er König ist. Sie erwog einen Augenblick, ihm die Wahrheit zu sagen, denn sie mochte ihn. Er war noch jung und vielleicht ein bißchen unreif, doch er besaß innere Stärke und war klug und zielstrebig, und darüber hinaus war er - nach menschlichen Maßstäben - durchaus als gutaussehend zu bezeichnen und besaß eine gewisse Eleganz und Stolz. Doch es war nicht an ihr, ihm die Wahrheit zu sagen, und nicht an ihm, sie zu erfahren. Er mochte zwar eines Tages König werden, aber er würde niemals mehr als eine Schachfigur in den Händen derjenigen sein, deren Macht bei weitem die überstieg, die er als Herrscher über zwei Königreiche jemals besitzen würde. Sie waren beide nur Schachfiguren, und bei diesem Gedanken empfand sie so etwas wie Sympathie für ihn. Sie beugte sich vor und küßte ihn auf den Mund. »Ich bin gegenüber menschlichem Charme nicht ganz gefeit«, log sie. »Aber ich habe andere Pflichten zu erfüllen.« Zumindest das war die Wahrheit. Sie konnte es nicht ertragen, ihm noch weiter zuzuhören. Sie konnte nicht länger in dieser Welt verweilen, die mit solch einem Gewicht auf ihr lastete, ihr so viel von ihrem kostbaren Blut gestohlen hatte. Sie befühlte den blutbefleckten Stofffetzen, den sie während der Geburt vom Laken abgerissen hatte; dieser Fetzen - und das, wofür er stand: ihre Beziehung zu dem Kind - war das einzige, was sie noch mit dieser Welt verband. Sie öffnete ihre Hand, und der Fetzen schwebte zu Boden. Während der Prinz niederkniete, um ihn aufzuheben, kletterte sie über die letzte Mauer. Er erhob sich, rief ihr etwas hinterher, versuchte jedoch nicht, ihr zu folgen. Sie hörte seine Stimme auch gar nicht mehr richtig, als die Steine vor ihr Ge16 stalt annahmen. Endlich hörte sie die schwache Musik, die ihr aus ihrer Anordnung entgegenwehte. Mit ihrem inneren Blick berührte sie den Stein des Windes, dann den des Lichtes, des Blutes, des Wassers, des Feuers und all die anderen Steine, jeden entsprechend seiner Eigenschaft. Damit sie in dieser Welt der Menschen das Innere eines jeden Gegenstandes berühren und beherrschen konnte, mußte sie sich mühsam um jene Mauern und Barrieren herumwinden, die mit Hilfe menschlicher Magie errichtet worden waren; was Menschen nicht verstehen konnten, pflegten sie zu bezwingen und dann zu beherrschen. Doch als sie zu den Steinen trat, lösten diese Mauern sich auf. Sie hob eine Hand. So, wie Nebel sich bildet, wenn Wasser und Luft aufeinandertreffen, so wallte auf ihre Beschwörung hin Nebel um sie auf und entzog sie seinem Blick, als sie den Steinkreis betrat. Ungehindert vom Nebel um sie herum sah sie über sich die Sterne schimmern. Sie deutete ihre Anordnung und beschwor die Macht, die aus den einzelnen Sternen erklang, verband sie mit der Anordnung der Steine, führte sie zusammen, einen nach dem anderen, bis ein wahrer Chor aus Klängen zum Himmel aufstieg. Sie beschwor das Herz ihrer eigenen Heimat, und auf dem Altar aus Feuer und Blut öffnete sich eine Pforte.
Es war keine richtige Tür und auch kein bloßes Flimmern in der Luft, es erinnerte vielmehr an einen Laubenbogen, der üppig mit blühenden Reben bewachsen war. Sie roch Schnee und spürte die scharfe Kälte des Winterwindes auf der anderen Seite. Ohne Zögern trat sie hindurch und ließ die Welt der Menschen hinter sich zurück. 17 Prinz Henry, Erbe der Königreiche Wendar und Varre, sah Alia von ihm weg und in den Steinkreis gehen. Er straffte sein Gesicht, seinen ganzen Körper, stählte sein Herz - und als der Nebel wallte und sie umhüllte, verstärkte er lediglich seinen Griff um den Stoffetzen, den sie zurückgelassen hatte und der alles enthielt, was ihm von ihr geblieben war: ihr Blut. Drei von seinen Männern standen jetzt neben ihm und versuchten mit Fackeln den Nebel zurückzutreiben, der plötzlich vom Boden aufgestiegen war und die Steine umhüllte. Licht blitzte im Steinkreis auf. Ein kalter Wind brannte auf seinen Lippen, und eine kristallene Schneeflocke sank mit dem letzten Windhauch auf seinen Stiefel hinab, wo sie sich auflöste. Noch immer wallte Nebel um die Steine. »Sollen wir nach ihr suchen, Prinz?« fragte einer der Männer. »Nein. Sie ist fort.« Er klemmte den Stoffetzen hinter seinen Gürtel und ließ sich das Pferd bringen. Als er aufgestiegen war und das Baby wieder auf dem Arm trug, machte er sich, umgeben von seinem Gefolge, an den langsamen Abstieg vom Hügel. Das Baby gab keinen Laut von sich, starrte jedoch mit weit aufgerissenen Augen gen Himmel - oder zu seinem Vater oder auf das Drachenbanner. Wer hätte das schon sagen können? Eine Brise erhob sich über den Steinen, und Nebelschwaden wogten vom Hügel herab über die Ruinen, hüllten die halbverfallenen Gebäude in dicke, graue Schleier und verbargen den Mond. Vorsichtig bahnten sich die Männer ihren Weg. Die, die zu Fuß waren, hielten sich am Zaumzeug der Pferde fest; andere riefen sich gegenseitig etwas zu, um am Klang ihrer Stimmen die Entfernung abzuschätzen. 18 »Ihr seid besser dran ohne eine solche Frau«, sagte der alte Soldat plötzlich zum Prinzen; er hatte den Tonfall eines Mannes, dem das Recht zustand, Ratschläge zu geben. »Die Kirche hätte sie niemals anerkannt. Und sie besitzt die Macht, die Natur zu beherrschen - und davon sollten wir uns besser fernhalten.« Das Drachenbanner hing jetzt schlaff herab, feucht und schwer von dem unnatürlichen Nebel. Doch der Prinz antwortete nicht. Sein Blick wanderte über die Fackeln rings um ihn, deren Flammen wie kleine Wachfeuer wirkten - Licht gegen die Finsternis. Ein Kreis aus sieben Kerzen, Licht gegen die Finsternis. Jene, die beobachteten, starrten in den Nebel, der von dem gewaltigen Block aus Obsidian in ihrer Mitte aufstieg. Ihre Gesichter lagen im Dunkeln. Sie sahen winzige Gestalten in dem Nebel, einen jungen Edlen, der ein Baby trug und von treuen Anhängern umgeben war. Die Gestalten schritten langsam durch eine Festung, die zur Hälfte eine Ruine war, zur Hälfte der Geist des einst unversehrten Gemäuers. Die winzigen Gestalten schritten durch die Mauern, als wären sie Luft, und für sie waren sie auch Luft, denn die geisterhaften Mauern entstanden nur in der Vorstellung einiger Wächter - durch die Rückbesinnung auf das, was einst dort gewesen war, die Erinnerung einer neu gestalteten Vergangenheit. »Wir müssen das Kind töten«, erklang eine Stimme, als der Nebel sich legte und in den schwarzen Stein sickerte. Gleichzeitig löste sich das Bild vom Prinzen und seinem Gefolge auf. »Das Kind wird zu gut beschützt«, entgegnete eine zweite Stimme. 19 »Wir müssen es versuchen, denn sie wollen die Welt selbst zerschmettern.« Jene, die in ihrer Runde die Erste war, rührte sich, und die anderen, die miteinander geflüstert hatten, verstummten, so daß eine unheimliche Stille herrschte. »Es ist niemals weise, nur die Zerstörung zu suchen«, sagte die Erste. Ihre Stimme hatte einen vollen, tiefen Klang. »Dieser Weg führt nur zur Vernichtung. Dieser Weg führt in die Finsternis.« »Also?« verlangte der erste Sprecher zu wissen. Er zuckte ungeduldig mit den Schultern. Das Kerzenlicht schimmerte auf seinem weißen Haar. »So, wie der Feind die Gläubigen vom Pfad des Lichts abbringt und sie zum Abgrund führt, können Ungläubige vom Irrtum befreit und auf den rechten Weg gebracht werden, damit sie das Versprechen der Kammer des Lichts erkennen. Wir müssen der Macht, die in die Hände dieses ahnungslosen Kindes gelegt wurde, unsere eigene Macht entgegenstellen.« »Es gibt einen wichtigen Unterschied«, sagte der zweite Sprecher. »Wir wissen von der Existenz unserer Gegner, sie aber nichts von unserer.« »Zumindest nehmen wir das an«, meinte der erste Mann. Er saß steif da, ein Mann der Tat, der an langes Stillsitzen nicht gewöhnt war. »Wir müssen Vertrauen zu Unserem Herrn und Unserer Herrin haben«, erklärte die Frau, und die übrigen nickten und murmelten zustimmend. Das einzige Licht in ihrer Runde stammte von den flackernden Kerzen, deren helle Flammen auf der Oberfläche des Obsidian-Altars immer wieder scharf aufblitzten, und von den Sternen und der Scheibe des Mondes über
ihnen. Gewaltige Schatten umgaben sie wie ein Gefolge aus Riesen. 20 Ein unsichtbarer, aber spürbarer Wind strich stöhnend durch die Gemäuer, die letzten Überreste eines großen Reiches, das vor langer Zeit durch Feuer und Schwerter, Blut und Magie vernichtet worden war. Die Ruinen endeten so abrupt an einer Uferböschung, als hätte die Klinge eines Messers sie abgetrennt. Die Brandung zischte. Sand wurde vom Wind erfaßt und in den Kreis gewirbelt, knirschte zwischen ihren Zähnen und verfing sich in den Falten ihrer Gewänder. Eine der Anwesenden zitterte und zog die Kapuze tief ins Gesicht. »Es ist eine nutzlose Aufgabe«, sagte sie. »Sie sind stärker als wir, hier und in ihrem eigenen Land.« »Dann müssen wir nach Kräften greifen, die noch größer sind«, sagte die Erste unter ihnen. Ihre Worte wurden von erwartungsvollem Schweigen beantwortet. »Ich selbst werde das Opfer bringen«, fuhr sie fort. »Ich allein. Sie wollen die Welt in Stücke reißen, während wir mit all unserer Kraft danach trachten, sie der Kammer des Lichts näherzubringen. Wenn sie einen, der ihrer Sache dienen soll, auf diese Welt bringen, müssen wir uns ebenfalls einen suchen. Wir können sie anders nicht besiegen.« Nacheinander senkten sie die Köpfe, ergaben sich dem Urteilsvermögen der Ersten, bis nur noch ein Mann den Kopf erhoben hatte. Er legte der Frau eine Hand auf die Schulter. »Ihr werdet nicht alleine sein.« Eine Zeitlang verharrten sie in Schweigen. Die großen Ruinen umgaben sie, warfen die Stille zurück, das Skelett einer Stadt ohne geisterhafte Mauern oder Visionen einstiger Größe. Sand wirbelte von den Straßen auf, prallte gegen Stein, löschte Korn für Korn die gewaltigen Wandgemälde, die die langen Mauern schmückten. Doch wo die Mauern in die See reichten und von der messerscharfen Kante abgeschnitten 21 wurden, vermischte sich die geisterhafte Gestalt der alten Stadt mit den Wellen, eine Erinnerung an das, was sie einst gewesen war - nicht ertränkt von der See, sondern vollständig fort. Über ihnen zogen die Sterne ihre endlose Bahn. Das Kerzenlicht schimmerte auf der glitzernden Oberfläche des Obsidian-Altars. In seiner schwarzen Tiefe war noch das Bild des Steinkreises weit im Norden zu sehen, und die letzten Fackeln des Prinzengefolges flackerten kurz auf und verloren sich im Nichts, als sie aus dem Blickfeld verschwanden. 1 Der Sturm von der See
1 Als der Winter sich in den Frühling verwandelte und zu Ehren des Tages, da St. Thekla die Verzückung des heiligen Daisan bezeugt hatte, eine Messe gehalten wurde, war es an der Zeit, die Boote vorzubereiten, damit sie im Sommer fremde Häfen ansteuern konnten. Alain lag am Strand unter dem auf Baumstämmen aufgebockten Boot seines Vaters und untersuchte den Rumpf. Er hatte es im Herbst geteert, und es hatte den Winter gut überstanden; nur eine Planke hatte sich gelöst. Er stopfte mit Teer getränkte Schafswolle in die Lücke und schlug einen Weidenholznagel auf einem Taukranz ein. Ansonsten befand sich das Boot in einem guten Zustand. Am Ende der Heiligen Woche würde sein Vater es mit Ölfässern und Mühlsteinen beladen, die aus nahe gelegenen Steinbrüchen stammten und in den Werkstätten des Dorfes bearbeitet worden waren. 23 Doch Alain würde seinen Vater nicht begleiten, obwohl er inständig darum gebettelt hatte, dabeisein zu dürfen wenigstens diesen einen Sommer. Gelächter erscholl weiter oben am Strand, wo der Weg ins Dorf führte, und er kroch unter dem Boot hervor. Er wischte die Hände an einem Fetzen Stoff ab und wartete auf seinen Vater, der noch eifrig mit anderen Händlern sprach; auch sie waren hergekommen, um ihre Boote für die Fahrt vorzubereiten. »Komm, mein Sohn«, sagte Henri, nachdem er einen Blick auf das Boot geworfen hatte. »Deine Tante hat ein Festmahl vorbereitet, und anschließend beten wir bei der Mitternachtsmesse um gutes Wetter.« Schweigend kehrten sie nach Osna zurück. Henri war ein breitschultriger Mann, nicht sehr groß, mit braunen Haaren, in denen silbrige Strähnen leuchteten. Er verbrachte den größten Teil des Jahres fern von zu Haus und bereiste die Häfen entlang der Küste, doch im Winter saß er meist still in der Werkstatt seiner Schwester und zimmerte Stühle, Bänke und Tische. Er sprach wenig, und wenn doch, dann nur ganz leise - im Unterschied zu seiner Schwester, die mit ihrer scharfen Zunge einen Wolf das Fürchten lehren konnte. Alains Haare waren dunkler, und obwohl er schon jetzt deutlich größer als sein Vater war, verhieß sein schlaksiger Körper - mit jener Sicherheit, mit der manch ein Frühlingstag Sturm und Regen mit sich führte noch eine Reihe weiterer Zentimeter. Wie immer wußte Alain nicht so recht, was er zu seinem Vater sagen
sollte, als sie den sandigen Weg entlangschritten; dann unternahm er einen neuen Versuch, ihm die Erlaubnis abzutrotzen. »Julien ist mit dir gesegelt, als er sechzehn war, und das war sogar noch vor seinem Jahr beim Grafen! Warum kann ich dann nicht dieses Mal mitkommen?« 24 »Es geht nicht. Ich habe der Diakonissin versprochen, dich der Kirche zu übergeben. Nur deshalb hat sie mir damals auf Burg Lavas gestattet, dich als kleines Baby in Pflege zu nehmen.« »Aber wenn ich schon das Gelübde ablegen und den Rest meines Lebens hinter Klostermauern verbringen muß, warum kann ich dann nicht wenigstens einen einzigen Sommer lang mit dir gehen und die Welt sehen ? Ich möchte nicht wie Bruder Gilles -« »Bruder Gilles ist ein guter Mann«, erwiderte Henri scharf. »Ja, das ist er, aber er hat das Kloster nie wieder verlassen, seit er es im Alter von sieben Jahren betreten hat! Es ist nicht recht, daß du mich zu diesem Schicksal verdammst. Wenn ich wenigstens einen Sommer mit dir kommen könnte, hätte ich etwas zur Erinnerung.« »Bruder Gilles und die anderen Mönche sind sehr zufrieden.« »Ich bin nicht Bruder Gilles!« »Wir haben bereits darüber gesprochen, Alain. Du bist seit langem der Kirche versprochen und jetzt mündig. Alles wird genau so geschehen, wie Unser Herr und Unsere Herrin es bestimmt haben. Es ist nicht an uns, ihr Urteil anzuzweifeln.« Henri verzog den Mund auf eine Weise, die jede weitere Diskussion ausschloß; Alain wußte, sein Vater würde nicht weiter darüber reden. Wutentbrannt stürmte er weiter; da er größere Schritte als sein Vater machte, ging er ihm bald etwas voraus, was nicht sehr höflich war. Nur einen Sommer! Einen einzigen Sommer, in dem er etwas von der Welt sehen konnte und die Möglichkeit hatte, unbekannte Gestade zu erforschen, weit entfernte Häfen anzusteuern, mit Menschen anderer Städte und Länder zu sprechen und jenes fremde, ferne Land zu bereisen, von dem die Diakonissin in den Predigten über die 25 heiligen Brüder sprach - das Land jener Wanderpriester, die den barbarischen Ländern das Heilige Wort der Einigkeit gebracht hatten. War das zuviel verlangt? Er schlüpfte durch das Tor des Palisadenzauns, hinter dem das Vieh eingepfercht war, und als er das Langhaus von Tante Bei erreicht hatte, war er ziemlich übler Laune. Tante Bei stand im Garten und betrachtete die frisch gepflanzte Petersilie und den Meerrettich. Sie richtete sich auf, musterte ihn abschätzend und schüttelte den Kopf. »Vor der Feier muß noch Wasser geholt werden«, sagte sie. »Julien ist heute dran.« »Julien flickt die Segel. Und ich warne dich, Junge, fang nicht an, mir zu widersprechen. Und streite nicht mit deinem Vater. Du weißt, er ist der starrsinnigste Mann im ganzen Dorf.« »Er ist nicht mein Vater!« rief Alain. Dafür erhielt er eine Ohrfeige, hinter der die Kraft von dreißig Jahren Brotkneten und Holzhacken steckte. Der kräftige Schlag färbte seine Wange rot und brachte ihn zum Schweigen. »Sprich nie wieder so von dem Mann, der dich aufgezogen hat. Und jetzt geh.« Er zog ab; niemand traute sich, Bei zu widersprechen, der älteren Schwester des Kaufmanns Henri, Mutter von acht Kindern, von denen fünf noch lebten. Schweigend nahm er am abendlichen Festmahl teil, und schweigend ging er auch zur Kirche. Es war Vollmond, und das helle Licht strömte durch die neuen Glasfenster, die die Bewohner von Osna für ihre Kirche gekauft hatten. Mond und Kerzen spendeten genügend Licht, um die weißgetünchten Holzwände zu erhellen, auf denen riesengroße Bilder Episoden aus dem Leben des heiligen Daisan und Taten der glorreichen Heiligen und Märtyrer erzählten. 26 Die Diakonissin hob ihre Hände zur Lobpreisung und begann, die Liturgie zu singen. »Geheiligt ist das Land Unserer Herrin und Unseres Herrn und der Heiligen Botschaft, wie sie sich offenbart im Kreis der Einigkeit, jetzt und für immer und in alle Ewigkeit.« »Amen«, murmelte er gemeinsam mit der Versammlung. »Kyrie Eleison.« Herr erbarme dich. Er faltete die Hände und versuchte sich zu konzentrieren. Die Diakonissin schritt jetzt in der Kirche die Stationen ab, die symbolisch für das Leben und das geistliche Amt des heiligen Daisan waren; auf diese Weise brachte sie den Gläubigen die Heilige Botschaft, die ihm durch die Gnade des Herrn und der Herrin zuteil geworden war. »Kyrie Eleison.« Herrin erbarme dich. Die in kräftigen Farben bemalten Bilder leuchteten hell im Fackellicht. Auf diesem hier war der heilige Daisan am Feuer zu sehen, wo das erste Mal die Vision vom Kreis der Einigkeit über ihn gekommen war. Und das dort zeigte den heiligen Daisan zusammen mit seinen Anhängern, wie er sich weigerte, vor der dariyanischen Kaiserin Thaissania niederzuknien und ihr zu huldigen, Ihr Mit Der Maske. Da waren die sieben Wunder, jedes einzelne liebevoll mit vielen Einzelheiten dargestellt. Und schließlich war der Leichnam des heiligen Daisan am Herdfeuer zu sehen, von wo aus sein Geist die sieben Sphären empor bis in die Kammer des Lichts gesogen wurde, während seine große Schülerin unten weinte und ihre Tränen den heiligen Kelch füllten.
Doch für Alain, der da in der Mitternachtsmesse saß, lauerten andere, geisterhaftere Gestalten hinter den erleuchteten Mauern; Gestalten, deren Umrisse mit feinem Gold verziert waren, deren Augen wie Juwelen glänzten und deren Gegenwart wie Feuer in seiner Seele brannte. Die Eroberung der alten Stadt Dariya durch räuberische 27 Reiter: In leuchtenden Bronzerüstungen und mit erhobenen Speeren und Schilden fochten die letzten Verteidiger einen hoffnungslosen Kampf, aber sie fochten ihn mit der Kraft und Ehre jener Männer, die sich vor einem ehrlosen Feind nicht verbeugten. Das waren ganz und gar nicht die Bilder der Kirche, sondern Geschichten über das strahlende Leben alter Krieger. Sie verfolgten ihn. Der schicksalhafte Kampf bei Auxelles, wo Taillefers Neffe und seine Männer ihr Leben ließen - dadurch aber das junge Reich vor dem Einmarsch der Heiden bewahrten. »... bitten wir um gutes Wetter, um eine reiche Ernte und um Frieden. Lasset uns beten.« Der glorreiche Sieg von König Henry I. von Wendar gegen qumanische Eindringlinge, die über den Fluß Eldar kamen; sein Enkel, der Bastard Conrad der Drache, führte die Reiterei direkt in die Mitte der schrecklichen qumanischen Reiterhorden, zerschmetterte deren Linie und trieb die Qumaner in kleinen Häufchen zurück in ihre eigenen Lande, jagte die Fliehenden wie wilde Tiere. »Geheiligt sind die Trauernden, denn ihnen wird Trost widerfahren. Geheiligt sind die Barmherzigen, denn ihnen wird Barmherzigkeit gewährt. Geheiligt sind die im Herzen Reinen, denn sie werden mit der Heiligen Botschaft auf den Lippen sprechen.« Der letzte Ritt von König Ludowig von Varre, erst fünfzehn fahre alt, doch unerschrocken, als sich Piratenschiffe der Nordküste seines Königreiches näherten. In der Schlacht von Nysa fand er den Tod, wenn auch niemand zu sagen wußte, wessen Hand den entscheidenden Hieb geführt hatte. War es die eines Piratenfürsten gewesen oder die eines Verräters, der den Plänen des neuen Königs von Wendar diente, eines Kö28 nigs, der durch Ludowigs Tod auch zum König von Varre werden würde? Statt der Diakonissin zu lauschen, hörte Alain das Klingeln des Pferdegeschirrs, das Klirren der Schwerter, das Knattern der Banner im Wind, die süße Kraft der verbündeten Soldaten, wenn sie mit einem Kyrie Eleison auf den Lippen in den Kampf ritten. »Denn du bist die Gnade, und dir gebührt der Ruhm, und auch der Mutter, dem Vater und der Heiligen Botschaft, die im Himmel verkündet wird, jetzt und für immer und in alle Ewigkeit.« »Amen«, fiel er rasch mit ein, als die Versammlung zu einem letzten Ausruf die Stimme erhob. »Gehen wir in Frieden, im Namen Unseres Herrn und Unserer Herrin. Habet Erbarmen mit uns.« »Habet Erbarmen mit uns«, echote sein Vater. Seine Stimme klang so weich wie das Rascheln der Blätter auf dem Dach. Er legte einen Arm um Alain, als sie die Kirche verließen und beim Licht einer Fackel zurück zum Langhaus gingen. »Alles geschieht so, wie es geschehen muß«, sagte er, und Allain spürte, daß dies das letzte Wort war, das Henri in dieser Angelegenheit jemals sagen würde. Die Entscheidung war schon vor langer Zeit gefallen: einer für die See, einer für die Kirche. »Wie war meine Mutter?« wollte Alain plötzlich wissen. »Sie war wunderschön«, sagte Henri. Alain spürte die Trauer in der rauhen Stimme seines Vaters. Er wagte nicht, weitere Fragen zu stellen, aus Angst, die Wunde weiter aufzureißen. So traten sie ein und tranken eine letzte Tasse heißen Wein miteinander. Bei Anbruch des Tages begleitete Alain sie zum 29 Strand hinunter und verabschiedete sich von ihnen; er rollte das Boot von den Stämmen und schob es in die Wellen. Sie verstauten die Ladung. Sein Cousin Julien war bleich vor Aufregung; er war zwar bereits einmal mitgefahren, aber nur zu einem nahe gelegenen Hafen in Varre. Niemals war er für einen ganzen Sommer in den Süden gereist. »Mache deiner Familie alle Ehre«, mahnte Henri mit einem Blick auf Alain. Dann gab er Tante Bei einen Kuß und stieg als letzter in das Boot. Die Ruderer legten sich in die Riemen, und Julien machte sich am Rahsegel zu schaffen. Noch lange, nachdem die anderen längst wieder auf dem Weg zurück zum Dorf waren, stand Alain am Strand. Er stand da und schaute auf das graublaue Wasser, bis von dem Segel nichts mehr zu sehen war. Schließlich drehte er sich um; er wußte, daß Tante Bei Arbeit für ihn hatte. Schweren Herzens schritt er zurück zum Dorf. 2 Wie dunkle Gipfel erhoben sich die Inseln von Osna-Sund aus dem schmalen Dunststreifen am Horizont weit draußen auf der See. Alain blieb stehen und blickte über die Bucht hinweg zu ihnen, die Hand schützend über die Augen gelegt. Das Wasser glitzerte wie Metall, und die See lag still und ruhig da. Vom Kamm des Drachenrückens aus schienen sich die Wellen unter der glühenden Sonne zu glätten. Hier oben war nicht ein einziger Windhauch zu spüren, doch von weit draußen, jenseits der Inseln, trieb eine tiefhängende Wolkenbank
auf das Land zu. Es würde Regen geben. Einen kurzen Augenblick lang blitzte im Sonnenlicht ein 30 Stück weißes Segeltuch auf; es war nur ein sehr kleines Stück und verschwand gleich wieder im Horizont aus Wolken und grauer Wasserfläche. Vielleicht war es das Boot seines Vaters, das sich zu dieser Zeit zwischen den Inseln hindurchschlängeln mußte. Mit einem tiefen Seufzer wandte Alain den Blick vom Wasser ab. Er versuchte den an einem Seil festgebundenen Esel hinter sich herzuziehen, doch der ließ nur zögernd vom Grasen ab. Endlich gelang es ihm, und sie folgten weiter dem Weg, der über den Kamm des Drachenrückens zum Kloster führte. Mit jedem Schritt wirbelten sie Sand auf. Tief unter ihnen rauschte die Brandung. Der kurvenreiche Pfad führte jetzt zum Drachenschwanz hinab, wo das Kloster lag, und schon bald konnte Alain einen Blick auf die Gebäude erhaschen, die um die Kirche und den einzigen Turm herumstanden. Es war indes nur ein kurzer Blick, denn bald darauf entzog sich das Kloster wieder seinem Blick, als sich der Pfad an der landeinwärts gelegenen Gratseite zwischen verstreuten Felsbrocken hindurch weiter hinabwand, bis er sich, mittlerweile nur noch lehmig, schließlich durch einen stillen Wald schlängelte. Der Weg führte auf eine Lichtung, und viel zu schnell danach trat Alain durch die geöffneten Tore des Klosters, das von St. Eusebe an für den Rest seines Lebens sein Heim sein würde. Oh, Herr und Herrin! Bestimmt war sein Gesicht flammend rot, ließ seine Schuld für alle sichtbar werden: Der Junge, der den Vater und die Mutter des Lebens liebte und dennoch tief in seinem Innern dagegen aufbegehrte, in ihren Dienst zu treten. Beschämt starrte er auf seine Füße, als er um die Nebengebäude herumschritt und schließlich die Schreibstube erreichte. Bruder Gilles wartete auf ihn, auf einen Gehstock gestützt und geduldig wie immer. 31 »Du bringst den Kerzenzehnten vom Dorf«, meinte der alte Mönch anerkennend. »Oh, und wie ich sehe, auch einen Krug Öl.« Alain lud vorsichtig die Körbe ab, die mit Gurten zu beiden Seiten des Esels befestigt waren. Er legte die in dicke Tücher gehüllten Kerzen vorsichtig auf die Fliesen der Schreibstube. Bruder Gilles stieß die Tür auf. Obwohl die wenigen kleinen Fenster geöffnet und die Läden draußen gegen die Mauer geklappt waren, gewährten sie den Mönchen, die an den Pulten in der Mitte des Raumes Meßbücher und Lesungen abschrieben, nur wenig Licht. »Der Ertrag der letzten Woche war schlecht«, erklärte Alain, als er den Krug mit dem Öl hochhob. »Tante Bei hat versprochen, nach Herrintag zwei weitere Krüge zu schicken.« »Sie ist wirklich sehr großzügig. Der Herr und die Herrin werden sie für ihren Dienst belohnen. Du kannst das Öl in die Sakristei tragen.« »Ja, Bruder.« »Ich werde mit dir gehen.« Sie traten wieder ins Freie und gingen ein Stück um die Kirche herum; an der anderen Seite wurde der Weg durch jene Mauern begrenzt, hinter denen sich die Novizenunterkünfte befanden. Schon bald würde er dort all seine Tage und Nächte verbringen. »Etwas bedrückt dich, mein Sohn«, sagte Bruder Gilles sanft, während er neben Alain herhinkte. Alain wurde rot; er fürchtete, ihm die Wahrheit zu sagen, fürchtete, die Vereinbarung zu entehren, die längst zwischen dem Kloster und seinem Vater und seiner Tante getroffen worden war. Bruder Gilles seufzte leise. »Du bist für die Kirche bestimmt, mein Junge, ob du willst oder nicht. Ich nehme an, du 32 hast zu viel von den großen Heldentaten der Krieger von Kaiser Taillefer gehört?« Alain errötete noch stärker, er antwortete jedoch immer noch nicht. Es war ihm unerträglich, Bruder Gilles zu belügen; er hatte ihn immer so freundlich behandelt, als wäre er ein Mitglied seiner Familie. War es denn zuviel verlangt, daß er nur ein einziges Mal nach Medemelacha reisen wollte, zu den Häfen im Süden oder gar ins Königreich Salia? Um mit eigenen Augen die seltsamen und wundervollen Dinge zu sehen, von denen die Kaufleute sprachen, die jedes Jahr im Sommer mit ihren Schiffen den Sund von Osna verließen ? Alle Kaufleute erzählten solch spannende Geschichten, außer sein Vater natürlich, der etwa so gesprächig war wie ein Felsbrocken. Allein die Vorstellung! Er könnte zum Kampf gerüsteten Männern mit der Standarte des salianischen Königs begegnen. Er könnte Hessi-Händler beobachten, Männer aus einem so weit entfernten Land, daß keiner der Kaufleute aus Osna jemals ihre Städte besucht hatte, Männer mit ungewöhnlich dunkler Hautfarbe und ebensolchen Haaren, mit runden, spitz zulaufenden Kopfbedeckungen, die sie selbst dann trugen, wenn sie sich innerhalb des Hauses aufhielten. Es hieß, daß sie zu einem anderen Gott beteten, nicht zu dem Herrn und der Herrin der Einigkeit. Er könnte mit Händlern von der Insel Alba sprechen, in deren tiefen Wäldern angeblich noch immer die Verlorenen umherirrten, den Blicken der Menschen entzogen. Oder er könnte von den Abenteuern der Wanderpriester hören, die sich erneut in barbarische Lande wagten, um jenen Menschen, die außerhalb des Lichts des Heiligen Kreises der Einigkeit lebten, die Botschaft des heiligen Daisan und der Kirche der Einigkeiten zu bringen.
Jedes Jahr im Sommer gab es einen großen Jahrmarkt in Medemelacha, wo alles nur Erdenkliche gekauft und verkauft 33 werden konnte. Da gab es Sklaven aus den Ländern weit im Süden, wo die Sonne so heiß brannte wie der Feuerofen eines Schmiedes (so behaupteten es zumindest die Kaufleute) und ihre Haut dunkel färbte; andere aus den Eislanden waren dagegen so blaß, daß man fast durch sie hindurchsehen konnte. Es gab junge Basilisken in mit Tüchern verhängten Käfigen, Kobold-Kinder aus dem Harenz-Gebirge, die zu Rattenfängern ausgebildet worden waren, Seidenballen aus Arethusa, Cloisonne-Verschlüsse in der Form von Wolfsköpfen, gold und grün und blau, zur Verzierung von Gürteln und Fibeln, mit denen die Edlen ihre Umhänge befestigten. Es gab wundervoll geschmiedete Schwerter. Krüge aus weißem Ton mit Zierleisten bemalt. Bernstein. Engelstränen wie Perlen aus Glas. Splitter aus Drachenfeuer, das zu Obsidian erstarrt war. »Du bist abwesend, Alain.« Er riß sich zusammen, sich plötzlich bewußt, daß er wie ein Narr zehn Schritte von der Tür entfernt stand, die in das Vestibül und dann zu der Sakristei führte, wo die heiligen Gefäße und Gewänder für die Kirche aufbewahrt wurden. Bruder Gilles tätschelte milde lächelnd seinen Arm. »Du solltest akzeptieren, was Unser Herr und Unsere Herrin für dich entschieden haben, mein Sohn. Denn Sie haben entschieden. Dir bleibt nur übrig zu verstehen, was Sie von dir verlangen, und Ihnen zu gehorchen.« Alain neigte den Kopf. »Das werde ich, Bruder.« Er trug den Krug mit dem Öl hinein und übergab ihn einem der stummen Gehilfen. Als er wieder nach draußen trat, vernahm er Pferdegetrappel und den fröhlichen Lärm von Reitern, die nicht wie die meisten Mönche durch ein Schweigegelübde gebunden waren. Vater Richander, Bruder Gilles und der für den Haushalt des Klosters verantwortliche Kellermeister standen vor der Kirche 34 und sprachen mit einigen Besuchern. Die Fremden trugen auffallende Tuniken und Hüte, die mit roten Borten und blauen Diamanten besetzt waren. Die Gruppe bestand aus einer Diakonissin und einem Mönch in groben, braunen Gewändern, einer Frau mit einem pelzbesetzten Umhang, zwei gutgekleideten Männern und einem halben Dutzend Fußsoldaten in Ledertuniken. Er durfte gar nicht daran denken, wie es wäre, frei zu sein und von hier wegreiten zu können, weit weg von diesem Kloster, dem Dorf und vor allem weit weg von dem großen Drachenrücken-Kamm, der seine Welt begrenzte! Er schlich näher heran, um etwas hören zu können. »Der übliche Zehnte schließt auch den einjährigen Dienst von fünf jungen, gesunden Menschen ein, nicht wahr, Meistrin Dhuoda?« Vater Richander richtete die Frage an die Frau in dem pelzgesäumten Umhang. »Wenn Ihr mehr verlangt, werden die Dorfbewohner sich gezwungen sehen, einige der Diener und Dienerinnen zu schicken, die hier angestellt sind, und das würde uns vor eine schwierige Situation stellen. Gerade jetzt, wo die Aussaat bevorsteht.« Dhuodas Gesicht hatte etwas Hochmütiges, wenngleich dies durch den ernsten Ausdruck etwas gemildert wurde. »Das ist wahr, Vater, doch die Überfälle entlang der Küste haben in diesem Jahr zugenommen, und Graf Lavastin muß sein Heer verstärken.« Graf Lavastin! Meistrin Dhuoda war seine Kastellanin; Alain erkannte sie jetzt, als sie sich in seine Richtung wandte und ihren Soldaten ein Zeichen gab. Er hatte immer gehofft, wenn er schon nicht mit seinem Vater segeln konnte, wenigstens in den Dienst von Graf Lavastins Heer gerufen zu werden, und sei es auch nur für ein Jahr. Doch es sollte wohl nicht sein. Und Alain wußte auch, warum. Jeder wußte, warum. Die Kirche war genau der richtige Ort für das Kind, das der Kauf35 mann Henri als sein eigenes aufgezogen hatte, von dem aber alle wußten, daß es in Wirklichkeit das uneheliche Kind einer Hure war. »Gott sei mit Euch, Meisterin«, sagte Vater Richander, als die Kastellanin und die Diakonissin wieder ihre Pferde bestiegen. Die Soldaten machten sich zum Abmarsch bereit. Bruder Gilles humpelte rasch zu Alain. »Wenn du etwas Gesellschaft auf deinem Weg haben möchtest, kannst du mit ihnen gehen«, meinte er. »Du wirst früh genug zu uns zurückkehren.« »Das werde ich.« Er folgte den Fußsoldaten. Kastellanin Dhuoda beugte sich leicht zur Diakonissin hinüber und sprach mit ihr; sie schien nicht einmal zu bemerken, daß er da war und hinter den anderen hertrottete. Niemand schien ihn zu bemerken. Sie passierten die Klostertore und machten sich an den langen Aufstieg auf den Berg. In der Kirche stimmten die Mönche den Gesang zur None an; die Stimmen des Chors begleiteten sie, solange sie auf die Bäume zumarschierten, dann war nur noch Wald rings um sie. Alain war es gewohnt zu laufen, doch Graf Lavastins Soldaten stöhnten unzufrieden. »Es sind immer noch die Klöster des Königs«, meinte ein besonders junger. »Des Königs von Wendar, meinst du wohl. Das ist nicht unser König, selbst wenn er den Thron für sich
beansprucht.« »Ha! Selbstsüchtige Bastarde, das sind sie! Sie haben lediglich Angst, das Heer des Grafen könnte ihnen ihre Diener wegnehmen. Um sich nicht selbst die Hände mit gewöhnlicher Arbeit schmutzig machen zu müssen, schätze ich.« »Still, Herik. Sprich nicht so von den heiligen Brüdern.« Der junge Herik grunzte gereizt. »Glaubst du etwa, dieser 36 Abt denkt auch nur einen einzigen Augenblick darüber nach, ob das Heer zur Bekämpfung von Plünderern ausgehoben wird oder aber zur Unterstützung von Sabellas Revolte?« »Still, du Idiot«, blaffte der ältere Mann mit einem Blick zurück. Alain senkte rasch den Kopf und bemühte sich um einen harmlosen Gesichtsausdruck. Natürlich hatten sie ihn bemerkt. Sie hielten ihn nur einfach nicht für wichtig genug, um ihm auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Doch nicht einmal in Varre würde jemand im Beisein einer fremden Person von einer Rebellion gegen König Henry sprechen, wenn die Loyalität dieser Person nicht genau geklärt war. Den Rest des Weges trotteten sie schweigend dahin. Alain dachte über die Dauer der Gebete nach, die schon bald seinen Tag bestimmen würden. Es dauerte von der None bis Vesper, den Drachenrücken zu erklimmen, darauf entlang und schließlich die langen Serpentinen den Drachenkopf hinab bis nach Osna zu marschieren. Als der kleine Trupp endlich das Langhaus seiner Tante Bei erreicht hatte, war er naßgeschwitzt. Kastellanin Dhuoda wurde natürlich erwartet. Sie erschien einmal im Jahr in dem wohlhabenden Dorf und trieb die Abgaben ein, die Graf Lavastin zustanden. Gewöhnlich kehrten mit ihr jene jungen Frauen und Männer zurück, die das vergangene Jahr im Dienst des Grafen verbracht hatten. Im Laufe der Zeit war St. Eusebe der Tag geworden, an dem jemand eine Ausbildung begann oder die im Jahr zuvor Aufgenommenen zurückgebracht wurden. Doch in diesem Jahr war Dhuoda allein gekommen, abgesehen von ihrem Gefolge. Alain stand beim Herdfeuer und ließ die Kleider von der Hitze der Flammen trocknen; er beobachtete die Begrüßungszeremonie am einen Ende der Halle, während am anderen seine Geschwister und die Bediensteten seiner Tante den Tisch deck37 ten, an dem das Festmahl stattfinden würde. An beiden Seiten entlang der langen Halle saßen die jüngsten Kinder auf Kisten oder lagen zusammengekauert in Betten, um nicht zu stören. Das Baby begann zu schreien. Alain ging zur Wiege und nahm es hoch; sofort war es still, steckte einen Finger in den Mund und saugte daran, während es mit vollkommener Gleichgültigkeit die Szenerie betrachtete. Dieses Kind war so mutterlos wie er; seine Mutter war während der Geburt gestorben. Doch es gab keinen Zweifel daran, daß Alains Cousin Julien der Vater war, denn Julien und die junge Frau hatten bereits vor der Dorfdiakonissin ihren Wunsch erklärt, heiraten zu dürfen. Da Tante Bels Tochter Stancy gerade ein Kind nährte und Milch übrig hatte, hatte Bei das Baby in ihrem Haus aufgenommen. Als es an der Zeit war, das Essen zu servieren, reichte er das Baby einem seiner jüngeren Cousins. Daß Tante Bei, die zu den reichsten Bewohnern dieses Dorfes zählte, Kastellanin Dhuoda von ihren eigenen Kindern bedienen ließ, zeugte von deren Wichtigkeit. Alain war für das Nachgießen des Biers zuständig; so konnte er einen großen Teil der Unterhaltung verfolgen, die zwischen der Kastellanin und jenen Dorfbewohnern stattfand, die wichtig genug waren, um mit Graf Lavastins Gesandten an einem Tisch zu sitzen. »Graf Lavastin sah sich gezwungen, die jungen Menschen, die Ihr letztes Jahr zu uns schicktet, ein weiteres Jahr in seinen Diensten zu behalten«, erklärte Dhuoda ruhig und gelassen, obwohl die meisten sie mit unverhohlener Verärgerung ansahen. »Ich habe fest damit gerechnet, daß mein Sohn mir bei der nächsten Ernte hilft!« protestierte einer, und ein anderer meinte: »Ich brauche meine Tochter zum Weben in meinem eigenen Haushalt; außerdem stecken wir mitten in den Vorbereitungen zu ihrer Verlobung.« 38 »Wir leben in unruhigen Zeiten. Es gab Überfälle entlang der Küste. Wir können niemanden von denen entbehren, die bereits auf Burg Lavas sind. Darüber hinaus brauchen wir noch weitere kampffähige Männer. Das Kloster bei Comeng wurde niedergebrannt -« Hier hielt die Kastellanin inne und musterte die Gesichter der Zuhörenden; die meisten sahen angespannt aus. »Ja, leider werden die Plünderer immer dreister. Sie sind eine schreckliche Gefahr für alle, die an der See leben.« Sie machte Alain ein Zeichen. »Noch etwas Bier.« Während er nachgoß, wandte sie sich an Tante Bei. »Ein gutaussehender Bursche. Einer von Euren?« »Er ist mein Neffe«, sagte Tante Bei kühl. »Sein Vater versprach ihn der Kirche. Er beginnt das Noviziat an St. Eusebe.« »Ich bin überrascht, daß Ihr das Kloster des Königs mit einem solch gutgewachsenen Burschen versorgen wollt.« »Die Kirche dient Unserem Herrn und Unserer Herrin. Was in der Welt vor sich geht, betrifft sie nicht«, entgegnete Tante Bei. Dhuoda lächelte freundlich, doch Alain zuckte unwillkürlich zusammen; er hielt ihren Gesichtsausdruck für hochmütig. »Was in der Welt vor sich geht, betrifft sie genauso wie uns alle, Meistrin. Aber lassen wir das. Ich
will Euch nicht dazu verleiten, einen Schwur zu brechen.« Die Unterhaltung wandte sich angenehmeren Themen zu, der Ernte des letzten Herbstes, den frischgeprägten Skeattas mit dem Bild des verhaßten Königs Henry, dem Handel mit dem südlichen Hafen Medemelacha, Gerüchten über Sturmpeitscher - Wettermagier, die angeblich Hagel- und Eisstürme entlang der Grenze zwischen Wendar und Varre heraufbeschworen hatten. Alain stand im Schatten und lauschte, während der Abend sich hinzog; nur zum Nachfüllen der Becher trat er hin und 39 wieder in den Lichtschein der um den Tisch aufgestellten Lampen. Dhuodas Diakonissin war glücklicherweise eine Frau von hoher Bildung und besonders an alten Geschichten interessiert. Zu Alains Überraschung erklärte sie sich bereit, ein Gedicht vorzutragen. In jenen Tagen als Die Verlorenen herrschten, Und diese Lande in den Händen derer lagen, die aus Engeln und Menschenfrauen Geboren waren. Trat einer von ihnen vor und herrschte. Als Kaiser über Menschen und Elfen. Große Fähigkeiten er konnte binden und weben den Gesang der Macht Zauberei Er hatte sie In jenen Tagen erschien ein Drache Und allen Landen brachte er Verwüstung. nannte er sein eigen, Von den Sternen zog er zu sich herab, nennen wir diese Künste, von seiner Mutter gelernt. im sonnigen Frühling aus dem Norden, am Rande der See Doch dann erschien der Kaiser selbst, um den Kampf gegen ihn aufzunehmen, und obwohl er dabei tödlich verletzt wurde, gelang es ihm noch, mit letzter Kraft einen Bann zu sprechen, der das Wesen in Stein verwandelte. Und hier lag der Drache nun und umschloß, als Drachenrücken allgemein bekannt, den Sund von Osna. Alain beobachtete die Gäste: die hochmütige Kastellanin, 40 ihre Begleiter, die gebildete Diakonissin und den jungen Bruder, ein Mann, der das Gelübde gegenüber dem Orden der Wanderpriester abgelegt hatte und nicht gegenüber einem Kloster, das einen Menschen für den Rest seines Lebens hinter klösterlichen Mauern begrub. Wenn er nur zur Burg Lavas reisen könnte, nur ein einziges Mal, wie sein Vater es vor ihm getan hatte! Wenn er nur ein einziges Jahr in den Dienst des Grafen treten könnte. Sein Vater war siebzehn Jahre zuvor dort gewesen und hatte ein Jahr dem älteren Graf Lavastin gedient, wie es Brauch war, doch bei seiner Rückkehr hatte er ein Kind in den Armen getragen, und sein Herz war voller Trauer gewesen. Er hatte, sehr zum Mißfallen seiner älteren Schwester, niemals geheiratet, sondern seine ganze Liebe der See zugewandt; jetzt war er mehr auf Reisen als daheim. Bei hatte das Kind erzogen, denn sie hatte ein großzügiges Herz, und das Kind war gesund und kräftig gewesen. Wie mochte es da aussehen, wo er geboren worden war? Seine Mutter war drei Tage nach seiner Geburt gestorben, zumindest hatte sein Vater das immer behauptet. Und doch, vielleicht erinnerte sich jemand an sie. Alain hielt nur mühsam die Tränen zurück. Er würde es niemals erfahren. Morgen, an St. Eusebe, würde er Osna verlassen und eine Nachtwache vor den Toren des Klosters halten, wie es Tradition war für jene Bekehrten, die als Erwachsene oder gerade erst mündig Gewordene in den Dienst des Herrn und der Herrin traten. Und am Tag darauf würde er sein Gelübde ablegen und hinter den Klostermauern verschwinden. Für immer. »Was ist los, Alain?« fragte seine Cousine Stancy und stellte sich neben ihn. Sie fuhr mit den Fingern leicht über seine Wange. »Weine, wenn du mußt, aber gehe mit einem reinen Herzen. Denke daran, wieviel Gutes du deiner Familie mit dei41 nen Gebeten bringen kannst. Oder erinnere dich, daß du schreiben und lesen lernen wirst und eines Tages vielleicht genauso gebildet sein wirst wie diese Diakonissin hier. Dann kannst du überall hin reisen -« »Aber nur in meiner Vorstellung«, sagte er bitter. »Oh, mein Kleiner, ich weiß, wie du dich fühlst. Doch dies ist die Bürde, die dir auferlegt wurde. Du kannst sie genausogut mit Freude tragen.« Sie hatte natürlich recht. Sie gab ihm einen liebevollen Kuß und verschwand im hinteren Teil der Halle, um neues Öl für die Lampen zu holen. 3 Es war eine klare und schöne Morgendämmerung am Tag vor St. Eusebe. Die stoffbespannten Türen quietschten und klapperten den ganzen Morgen in einer leichten Frühlingsbrise. Rote, mit dem Kreis der Einigkeit bemalte Banner flatterten von den Häusern, die den Dorfplatz umgaben. Die Dorfbewohner strömten zusammen, und Kastellanin Dhuoda begann die Abgaben einzutreiben. Bottiche mit Honig. Bernsteinfarbenes Bier, klar oder trüb. Eine Kuh oder fünf Hammel. Gänse. Käse. Viehfutter. Geräucherter Lachs und Aal. Tante Bei bezahlte, anstelle von Öl und Bier, mit fünf Broschen, die Alains Vater aus dem Süden mitgebracht hatte. Ein Bauer gab seinen Sohn für fünf Jahre in den Dienst des Grafen, um nicht seine zwei besten Milchkühe opfern zu müssen. Ein Ehepaar zahlte mit einer jungen Sklavin, die von Salia in den Norden gebracht worden war und die sie jetzt nicht mehr ernähren konnten. Dhuoda musterte sie mit prüfendem Blick, befand sie für gut und akzeptierte. Die alte Garia, deren fünf 42 erwachsene Töchter ebensogut weben konnten wie sie, präsentierte wie jedes Jahr vorzüglich gewebtes Tuch, das Dhuoda mit sichtlicher Freude entgegennahm. Wenige zahlten mit Münzen, und noch weniger mußten die
Bezahlung schuldig bleiben, denn Osna war ein wohlhabender Ort, und den Bewohnern hier ging es, wie Alain von seinem Vater wußte, wirklich gut. Den ganzen Morgen zog sich dieses Treiben hin, sogar weit über den Mittag hinaus, denn erst dann kamen die Leute von den umliegenden Höfen herbei, um der Kastellanin Respekt zu zollen und ebenfalls Pachtkosten oder Steuern zu übergeben. Am späten Nachmittag verabschiedete sich Alain von seiner Tante, indem er vor ihr niederkniete und die traditionellen Worte sprach: »Tante, es ist Brauch, daß ein Bekehrter eine Nacht an den Toren wacht und so seinem Wunsch Ausdruck verleiht, in den Dienst Unseres Herrn und Unserer Herrin zu treten.« »Geh mit meinem Segen, Kind, und mit dem Segen deines Vaters.« Sie drückte ihm einen dicken Kuß auf die Stirn. Er erhob sich und sagte auch den übrigen Familienmitgliedern Lebewohl. Drei von Tante Bels Kindern waren jetzt erwachsen und hatten selbst Kinder, daher war es kein kurzer Abschied. Zum Schluß gab er dem Baby einen Kuß, umarmte seine Tante ein letztes Mal und schritt mit bebenden Schultern davon. Inzwischen war der Wind stärker geworden, und die Türen klapperten unaufhörlich. Es begann zu nieseln. Als Alain einen Blick zurückwarf, sah er Kastellanin Dhuoda hastig den Tisch in eines der Häuser am Dorfplatz schaffen, um das Geschäft unter einem schützenden Dach zu Ende zu führen. Der Regen nahm zu, während er an den Viehpferchen am Rande des Dorfes vorbeiging und mit weit ausholenden Schritten den dreistündigen Marsch zum Kloster begann. 43 Auch der Wind nahm noch zu, je weiter sich der Pfad auf den Kamm zuschlängelte. Vom Regen aufgeweichter Schlamm klebte an seinen weichen Lederschuhen, und die Nässe drang durch die Nähte hindurch. Sein kleines Bündel war längst zu einer schweren Last geworden, als er den Grat des Drachenrückens endlich erreicht hatte. Er befand sich mitten in einem Sturm. Er war vollkommen allein; tief unter ihm lag die weite Bucht voller aufschäumender Gischt. Ringsum erstreckten sich bewaldete Hügel. Von hier aus konnte er weder das Dorf noch das Kloster sehen. Alain mußte sich mit aller Kraft gegen den Wind stemmen, um vorwärts zu kommen. Das Schiff, das er gestern gesehen hatte, kam ihm kurz in den Sinn. War es auf offener See vom Sturm überrascht worden, oder hatte es sich in eine der vielen Buchten zurückziehen können? Als er sich umdrehte und einen neugierigen Blick auf die See warf, stockte ihm der Atem. Verwundert blieb er stehen. Der Sturm näherte sich mit ungeheurer Geschwindigkeit. Niemals zuvor hatte er so etwas gesehen. Die halbe Bucht war verschwunden, vollkommen unsichtbar geworden. Eine deutlich abgegrenzte Nebelbank jagte auf ihn zu, gefolgt von einem dichten Vorhang aus dunklen Wolken, die alles einhüllten, was unter ihnen lag. Augenblicke später war er ringsum von Nebel umgeben und konnte keine drei Schritte weit sehen. Er kauerte sich hin, bevor der erste kräftige Windstoß ihn traf, drehte sich mit dem Rücken zur See und senkte den Kopf. Der Sturm brüllte, als wäre der Drache unter seinem steinernen Rücken zum Leben erwacht. Selbst in der Hocke zwang ihn die Wucht der Böen auf die Knie. Schwarze, wirbelnde Wolken umkreisten ihn. Es regnete in Strömen, und von einem Atemzug zum nächsten war er bis auf die Haut durchnäßt. 44 Das war kein natürlicher Regen. Noch während er dies dachte, versiegte der Regen schlagartig. Nur der Wind ließ nicht nach. Sicherlich war dies die Strafe, weil er das Versprechen, durch das er in den Dienst des Herrn und der Herrin trat, tief in seinem Innern gebrochen hatte. Oder es war eine Prüfung. Mühsam rappelte er sich auf und stellte sich wieder dem Sturm entgegen. Er würde dieses Kloster erreichen, auch gegen seine innersten Wünsche. Er würde seinen Vater und seine Tante nicht beschämen. Der Wind zerrte an seinen Haaren, brannte in den Augen. Obwohl naß von der schäumenden Gischt und dem kalten Regen, fühlten sich die Lippen von den harten Böen ausgetrocknet an. Der Nebel lichtete sich. Ein unwirklicher Schimmer glühte in einiger Entfernung auf dem Weg, der über den Drachenkamm führte. Die Erscheinung hatte etwas Unirdisches und kam näher, dabei den dichten Nebel auseinandertreibend ... aber nur den, der sie unmittelbar umgab. Es war, als würde er durch einen seltsamen Tunnel blicken, so rasch schlössen sich Sturm und Nebel wieder hinter dem Licht. Es roch nach Frühlingsblumen und nach dem frischen Blut auf einem Schlachtfeld. Eine Reiterin in einer leuchtenden Rüstung näherte sich. Sie lenkte ihr Pferd gemächlich vorwärts, anscheinend unberührt von dem tosenden Sturm. Alain dachte kurz daran wegzulaufen, doch so schnell, wie der Gedanke gekommen war, war er auch schon wieder verschwunden. Denn er konnte die Reiterin einfach nur anstarren. Das Pferd war wunderschön, so weiß wie frisch gefallener Schnee. Der Anblick blendete ihn fast, und die Frau Selbst wenn er es versucht hätte, er hätte sich nicht bewegen können. Sie zügelte ihr Pferd neben ihm. Sie war mittleren Al45 ters und hatte Narben im Gesicht und an den Händen; die Schuhe waren abgetragen und matschverschmiert, und der Kettenpanzer war hier und da mit neuen, glänzenden Eisenringen versehen. Ein langes Schwert hing in einer Lederscheide. Ein abgenutzter, runder Schild war am Sattel befestigt und hing auf der Höhe ihrer Knie. Sie verlagerte ein wenig ihr Gewicht, um ihn zu mustern. Es war totenstill. Drei Schritte entfernt von ihnen tobte der
Sturm. Ihr Blick wirkte zugleich verloren und durchdringend. Die Farbe ihrer Augen war nicht auszumachen; ihm schienen sie so schwarz wie ein Fluch. Er starrte sie an, und eine kalte Hand aus Furcht krallte sich um sein Herz. »Was verlangst du von mir für deine Bereitschaft, in den Krieg zu ziehen?« fragte sie. Ihre Lippen bewegten sich bei den Worten, doch in seinem Kopf hallten unzählige Echos ihrer Stimme, die tief und dunkel wie eine Kirchenglocke war. Unsicher, was er tun sollte, kniete er nieder. Er bemühte sich, ihrem Blick standzuhalten; möglicherweise würde sich selbst ein bloßes Augenzwinkern als folgenschwer erweisen. »Herrin.« So voll ihre Stimme tönte, so heiser war die seine. Er versuchte es noch einmal. »Ich bin der Kirche versprochen.« »Nicht in deinem Herzen«, sagte sie. Sie zog das Schwert. Was immer er auch erwartet hatte, weder zuckten Flammen von der Klinge, noch leuchtete oder blitzte sie. Sie war nichts anderes als einfaches Metall - hartes, gutes Metall, zum Töten geschmiedet. Sie schwang das Schwert in hohem Bogen über seinem Kopf, bis es auf den Weg deutete, den sie gekommen war. Plötzlich hatte er das Gefühl, als würde die Zeit stillstehen. Durch einen langen Tunnel sah er mit Adlerblick das Kloster; etwas, das von hier aus eigentlich unmöglich war. Die in Reih und Glied angeordneten Gebäude, die Mauer drumherum: 46 Von seinem erhöhten Standort aus glaubte er einen Augenblick, einen zweiten Grundriß unter den Klostergebäuden erkennen zu können, etwas Uraltes, Beunruhigendes. Doch sein Blick wanderte weiter, glitt tiefer und tiefer, bis er schließlich an zwei Booten hängenblieb, die auf den Strand gezogen wurden; sie spuckten Wesen mit seltsamen, scharfgeschnittenen Gesichtszügen und einer ungewöhnlichen Hautfarbe aus - das konnten unmöglich Menschen sein. Die Wesen waren bis zur Taille nackt, mit Narben übersät und in grellen Farben bemalt. Sie trugen Äxte und Speere und Köcher voller Pfeile mit Steinspitzen, und ihre Haut hatte einen schuppigen, metallischen Glanz. Wilde Hunde umringten sie, ein Haufen gewaltiger, häßlicher Bestien, die noch weniger Erbarmen kannten als ihre Herren. Sie verwüsteten alles, was ihnen in die Quere kam, steckten die Reetdächer der umliegenden Gebäude in Brand, erschlugen die Mönche. Sein Blick wanderte in die Kapelle. Er erkannte Bruder Gilles mit seinen silbergrauen Haaren; er wirkte ziemlich zerbrechlich, wie er so vor dem Altar kniete und betete, das geliebte Buch der Einigkeiten fest umklammert. Das Buch war der große Schatz des Klosters. Ein weißhaariger Barbar durchbohrte den alten Mann hinterrücks und entwand den sterbenden Händen das kostbare Stück; dann riß er das mit Blattgold und Juwelen versehene Deckblatt heraus und verstreute die Pergamentblätter wie Abfall auf Bruder Gilles blutendem Leichnam. »Noch bist du nicht durch einen eigenen Eid gebunden«, sprach die Frau. Bei ihren Worten fand Alain sich abrupt auf dem Kamm wieder. Um ihn herum tobte der Sturm. »Ich muß gehen!« rief er. Angetrieben von dem tiefen Gefühl, Bruder Gilles retten zu müssen, wollte er sich schon aufmachen. 47 Sie hielt ihn mit der flachen Schwertseite zurück. »Für sie ist es zu spät. Aber sieh das hier.« Und sie zeigte mit ihrem Schwert in Richtung des Dorfes. Lichter. Vor Feuchtigkeit triefende rote Banner klatschten gegen Dachvorsprünge. Die Türen und Fenster der meisten Häuser waren verschlossen, mit Ausnahme des Hauses von Tante Bei. Sie stand auf der Türschwelle und starrte in die Richtung, in die er verschwunden war; sie wirkte einsam und bitter vor Sorge. Stancy spielte am Tisch Schach mit Agnes, ihrer jüngsten Schwester, und nahm gerade mit dem weißen Drachen die rote Burg ein. Die anderen Kinder spielten am Feuer Rundhölzerwerfen, und das Baby schlief in der Wiege. Das Feuer knackte und prasselte, heiß und voller Qualm. Die Hitze trieb Alain Tränen in die Augen, und im nächsten Augenblick wurde er auch schon zurück in die beißende Kälte und den scharfen Wind gerissen. Auf dem Strand unterhalb des Dorfes legte ein langes, schmales Boot an. Oh Herr und Herrin! Es waren noch mehr! Sie strömten scharenweise aus dem Boot, wild bemalt, die Waffen bereit. Nebelschwaden wirbelten vor seinen Augen; er wischte sie beiseite. Tränen rannen über sein Gesicht. »Es ist zu spät.« Er wandte sich zu ihr um; gelassen wie der Tod saß sie auf ihrem weißen Pferd. »Warum zeigt Ihr mir das?« Sie lächelte. Sie war von einer fürchterlichen Schönheit, gezeichnet von Entbehrungen, Schmerzen und dem wilden Irrsinn des Kampfes. »Diene mir«, sagte sie. »Diene mir, Alain Henrisson, und ich werde dieses Dorf verschonen.« »Wie könnt Ihr das?« Er schnappte nach Luft, als er an den ermordeten Bruder Gilles dachte, das in Flammen stehende Kloster, die wilden Kreaturen, die den Strand hinaufdrängten, auf die Häuser seiner Familie und ihrer Nachbarn zu. »Diene mir«, sagte sie. 48 Alain sank auf die Knie. Trug der Wind den Schrei des Säuglings heran? »Ich schwöre es.« »Steh auf.«
Er stand auf. Der kalte Stahl ihres Schwertes lag erst auf seiner rechten Schulter, dann auf seiner linken, und schließlich ließ sie die flache Seite der Klinge auf seinem Kopf ruhen; die schmerzliche Kühle schien ihm zugleich jede Wärme zu entziehen und ihn zu verbrennen. »Wer seid Ihr?« flüsterte er. Das Schwert wurde weggezogen, und mit der Klinge verschwanden die widersprüchlichen Empfindungen, so wie im Tode alle Schmerzen verschwanden. Ihre Antwort ertönte, um sofort in dem heulenden Wind unterzugehen. »Ich bin die Herrin der Schlachten. Behalte dies als ein Zeichen von mir.« Und schon war sie verschwunden. Ein gleißendes Licht blendete seine Augen, und ein tiefer Schmerz drang bis in sein Herz. Die dunklen Wolken schwollen an und hüllten ihn ein. In weiter Ferne hörte er noch einen rauhen, vergnügten Schlachtruf, dann verlor er das Bewußtsein. Er erwachte schlagartig und setzte sich voller Furcht auf. Es war der Morgen von St. Eusebe, ein heller, schöner und klarer Frühlingstag ohne die Spur einer Wolke am Himmel. Ein verheißungsvoller Tag. Sanfte Wellen kräuselten sich in der Bucht unter ihm. Das satte, alte Grün der Bäume säumte das blaue Himmelsrund. Er fluchte, schüttelte die Benommenheit ab und stand auf. Dann sah er auf dem Pfad eine winzige, blutrote Rose liegen. Sie funkelte wie ein Juwel, und als er nach ihr griff, fühlten sich ihre Blütenblätter so zart an wie die der ersten Frühlingsblume. Er griff fester zu und stach sich an einem Dorn; ein Blutstropfen erschien auf der Haut. 49 »Tante Bei«, murmelte er. »Stancy.« Das Baby. Er klemmte den Rosenstengel hinter seinen Gürtel und rannte den ganzen Weg zurück nach Osna. Ein paar Leute starrten ihn an, als er nach Luft ringend auf dem Dorfplatz stehenblieb. Tante Bei erspähte ihn, und ihr wachsweißes Gesicht färbte sich sofort tiefrot. Sie eilte zu ihm und riß ihn stürmisch in die Arme. »Alain! Oh, mein Kind, ich dachte schon, wir hätten dich verloren.« »Seid ihr alle hier? Geht es euch gut? Wo ist Stancy -?« »In der Werkstatt. Mein armer Junge, komm rein, komm rein.« Er ließ sich widerstandslos in das Langhaus führen und setzte sich an den Tisch, während sie einen Krug warmer Ziegenmilch vor ihn hinstellte. »Herr und Herrin.« Sie wischte sich eine Träne aus dem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht. »Ich dachte, du wärst dort gewesen. Unserem Herrn und Unserer Herrin sei Dank.« Sie schlug das Kreiszeichen der Einigkeit, vom Hals zum Herzen und zurück. »Wie konntest du ihnen entkommen? Als der alte Gilles uns die Nachricht brachte -« Er verspürte einen Anflug von Hoffnung und Erleichterung. »Bruder Gilles?« »Nein, mein Junge. Der Fischer-Gilles. Bruder Gilles hat die Schiffe gar nicht gesehen, so schnell ging alles, als sie mit diesem verfluchten Sturm hier auftauchten und wieder verschwanden. Das ganze Kloster haben sie niedergebrannt und alle Mönche niedergemetzelt, wo sie sie gerade fanden. Keiner hat überlebt. Doch aus irgendeinem Grunde, der Segen Unseres Herrn und Unserer Herrin sei mit uns, blieben wir verschont. Wir haben von ihnen weder etwas gesehen noch gehört. Uns geht es gut, und ich bin überzeugt, daß Henri bereits weit im Süden ist. Sie aber kamen vom Norden.« 50 »Ich bin gar nicht bis zum Kloster gekommen«, begann er mit flüsternder Stimme, doch dann drängte sich ihm der Anblick der bemalten Männer auf, wie sie ihre Schiffe unterhalb des Dorfes auf den Strand zogen, nachdem sie im Kloster alles niedergebrannt und niedergemetzelt hatten, was ihnen in den Weg gekommen war. Er brachte es nicht über sich, von seiner Vision zu sprechen - wenn es denn eine gewesen war. »Ich würde nicht ausschließen«, fuhr Tante Bei mit leiser Stimme fort, »daß das Schicksal der Mönche eine Strafe Unseres Herrn und Unserer Herrin war, weil sie sich gegen die stellten, die eigentlich als Königin herrschen sollte. Doch wir sollten nicht schlecht über die Toten sprechen. Einige Männer aus dem Dorf kümmern sich bereits darum, daß sie ein ordentliches Begräbnis erhalten.« »Ich muß etwas überprüfen.« Alain stand auf. Tante Bei blickte ihn fragend an, doch es blieb ihr keine Zeit, die Frage zu stellen, denn schon war er aus der Tür. Er rannte hinunter zum Strand, wo die Boote der fremden Fischer und Kaufleute lagen, die nach Osna gekommen waren, um Handel zu treiben, oder vor dem Sturm Schutz gesucht hatten. Er mußte ein gutes Stück unterhalb des Kamms entlanggehen, bis er auf eine lange, tiefe Furche im Sand stieß. Hier war das flache Boot an Land gezogen worden. Fußspuren, die die Flut noch nicht völlig verwischt hatte, führten zunächst bergauf, dann kreuz und quer. Ein kleiner Blutfleck färbte den Sand, und nicht weit davon fand er den Abdruck eines Hufeisens. Es blieb den ganzen Morgen über schön, als Alain den Kamm emporstieg. Vom Drachenrücken aus war kein einziges Schiff auf der glatten, undurchdringlichen Oberfläche der See oder am weiter entfernten blaugrauen Horizont zu erkennen. Er folgte dem Pfad, bis er das weiter unten liegende Kloster sehen 51 konnte. Es lag in Schutt und Asche. Ein paar Geier zogen am Himmel ihre Kreise. Auf der Nordseite des Kirchturms war ein Loch gegraben worden; von so weit oben wirkte es wie ein dunkler Schlund. Männer waren damit beschäftigt, die Leichen in das Grab zu werfen. Er rannte jetzt, doch als er die Ruinen des Klosters erreicht hatte, las Kastellanin Dhuoda bereits die Messe für die Toten, und die Männer aus dem Dorf schaufelten die
Gräber zu. »Du da, Junge«, sagte Kastellanin Dhuoda plötzlich, und er fuhr zusammen. Er hatte sie gar nicht gesehen. »Du bist doch der Junge, der heute das Noviziat beginnen sollte, nicht? Bist du in einem brauchbaren Alter? Sechzehn? Ja, und du bist ein großer, kräftiger Junge, wie ich sehe.« Unter ihren Blicken fühlte er sich wie ein Pferd auf dem Marktplatz oder wie ein Sklave aus dem Norden, der zur Versteigerung feilgeboten wurde. »Hier gibt es für dich nichts mehr zu tun, und Graf Lavastin braucht noch mehr starke Arme, wie du ja selbst sehen kannst. Es sind schlimme Zeiten. Ich werde mit deiner Tante sprechen, aber es ist auch ohne ihre Einwilligung mein Recht, dich für den Dienst beim Grafen auszuwählen. Du wirst morgen mit uns weiterziehen.« Er wußte darauf nichts zu sagen. Einerseits war er überglücklich über die Gelegenheit, weggehen zu können, andererseits fürchtete er, daß sein inniger Wunsch nach Freiheit den Mönchen den Tod gebracht hatte. Doch wie sein Vater sagen würde, war es wohl auch eine Form von Selbstüberschätzung zu glauben, daß seine eigennützigen, banalen Wünsche einen ebenso großen Einfluß auf die Welt haben könnten wie der Wille Gottes. Es waren die gottlosen Barbaren, die für diese Grausamkeit verantwortlich waren; er hatte damit nichts zu tun. 52 Dhuoda betrachtete ihn ungeduldig; sie wartete auf eine Antwort. Er nickte, und sie entließ ihn, wandte sich noch im selben Moment von ihm ab und trat zur Diakonissin, die die hastige Messe beendet hatte. Alains Hand fuhr an den Gürtel, und plötzlich erinnerte er sich an die Rose. Sie war nicht abgebrochen. Sie war auch nicht verwelkt. Sie war so vollkommen wie eine knospende Rose, die er gerade erst von einem Strauch gepflückt hatte. Auf dem Heimweg nach Osna hielt er sie die ganze Zeit in der Hand, und auch jetzt veränderte sie sich nicht. Am nächsten Morgen band er die Rose vorsichtig an einen dünnen Lederriemen, den er sich um den Hals hängte, und steckte sie zwischen Hemd und Tunika, wo keiner sie sehen konnte. Er trug noch ein dickeres Band mit dem hölzernen Kreis der Einigkeit, ein Geschenk von Tante Bei zur Erinnerung daran, daß sein Vater ihn der Kirche versprochen hatte. Nachdem sie sich in herzzerreißender Weise voneinander verabschiedet hatten, warf er sich sein Bündel über den Rücken und folgte Kastellanin Dhuoda und ihrem Gefolge aus dem Dorf hinaus - in die Welt, die dahinter lag. II Das Buch der Geheimnisse
1 Im nördlichsten Teil der Nordmark von Wendar befand sich eine Ansammlung von Weilern, die unter dem Namen Friedleben bekannt waren. Die Leute in dieser Gegend sprachen einen Dialekt des Wendischen, der durch merkwürdige Begriffe und eine ungewöhnliche Aussprache gekennzeichnet war. Voller Unbehagen pflegten Wanderprediger zu bemerken, daß in den aus Holz errichteten Kirchen Unseres Herrn und Unserer Herrin nicht nur der Kreis der Einigkeit einen besonderen Platz einnahm, sondern auch ein beängstigend heidnisch aussehender Baum. Die Bischöfin von Friedleben richtete ihr Augenmerk jedoch auf andere Dinge; sie konzentrierte sich ganz auf die von Jahr zu Jahr häufiger werdenden Überfälle entlang der Küste. Allerdings stellte sie es besonders empfindlichen Kirchenbrüdern frei, Berichte über diese heidnischen Praktiken in den Süden zu senden. 54 Diese Berichte blieben gewöhnlich ohne jede Wirkung, und es geschah rein gar nichts. Friedleben lag zu weit im Norden, war zu dünn besiedelt und bei weitem nicht wohlhabend genug, um die Aufmerksamkeit des Königs oder der Skopos auf sich zu ziehen. Die Bewohner sprachen leise und kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten, verhielten sich jedoch aufgeschlossen gegenüber jenen Menschen, die gelegentlich aus anderen Landen an ihre Ufer gespült wurden. Derweil blieb es der Bischöfin überlassen, sich der wenigen Kirchen, die unter ihren Fittichen standen und die durch heidnische Riten befleckt wurden, anzunehmen. Misch dich da nicht ein, lautete die Überzeugung der Leute, und das sagten sie immer wieder. Und so mochten jene Menschen, die von anderen Orten kamen, hier für eine Weile Frieden finden. Doch ob dem wirklich so war, hing auch davon ab, vor wem sie davonliefen und wie weit ihre Feinde bereit waren, sie zu verfolgen. »Sieh,«, sagte Pa, »dort hinter den Bäumen im Westen geht der Rosenstern unter. Bei den alten babaharshanischen Magiern war er bekannt als Zuhia, Sonne der Nacht, Weiser und Gelehrter. Was weißt du über ihn?« »Die dariyanischen Astronomen nannten den Rosenstern Aturna, den Roten Weisen. Aturna, der nicht so stark
wie der Blutstern leuchtet, ist einer der Wandelsterne, auch bekannt als die Unberechenbaren oder die Planeten. Er regiert die siebte Sphäre, die oben an das Gestirn der Fixsterne grenzt, hinter dem sich die Kammer des Lichts befindet, und unten an die sechste Sphäre, die vom Planeten Mok regiert wird. Aturna braucht achtundzwanzig Jahre, um die Bahn der zwölf Häuser der Nacht entlang zuwandern.« 55 Sie standen auf einer Lichtung, die auf einer Seite von Bäumen, auf der anderen von den felsigen Ausläufern des Hügels über ihnen begrenzt war. Das Gras, das jetzt im Frühling rasch wuchs, reichte ihnen bereits bis zu den Knien. Hinter ihnen stand auf einer eingeebneten Erdterrasse ein kleines Haus; bis auf den schwachen, rötlichen Feuerschein, der durch das Fenster und die offene Tür nach draußen fiel, lag es völlig im Dunkeln. Die Nacht eignete sich hervorragend, um die Sterne zu betrachten: Nicht eine einzige Wolke war am Himmel zu sehen. »Nenne mir die sieben Sphären entsprechend ihrer Reihenfolge«, sagte Pa. »Die der Erde am nächsten gelegene Sphäre ist die des Mondes. Die zweite ist die des Planeten Erekes und die dritte die des Planeten Somorhas, auch bekannt als die Herrin des Lichts. Die vierte ist die Sphäre der Sonne. Dann kommt die fünfte, über die der Planet Jedu, der Engel des Krieges, gebietet. Die sechste Sphäre wird von Mok regiert und die siebte und letzte von Aturna. Zwischen Aturna und der Kammer des Lichts befindet sich das Feld der Sterne, jeder einzelne ein loderndes Feuer.« »Und was ist mit den sieben Leitern, mit deren Hilfe die Gelehrten zu Weisheit und Meisterschaft gelangen können, entsprechend den sieben Sphären?« Er drehte das Buch in seinen Händen, öffnete es jedoch nicht. An einem Seil über seiner Schulter hingen drei Rebhühner, die Liath geschossen hatte. Sie waren auf die Jagd gegangen und erst spät zurückgekehrt, doch da sie Buch und Astrolabium immer - immer - bei sich trugen, konnten sie den Himmel überall betrachten, egal, wo sie sich befanden. Liath zögerte; sie rückte Bogen und Köcher auf dem Rücken zurecht. Das, was ihr Vater erzählte, war noch neu für sie. Pa 56 betrachtete mit ihr die Fix- und Wandelsterne, seit sie alt genug gewesen war, um mit dem Finger zum Himmel zu deuten. Doch erst im letzten Monat hatte er plötzlich begonnen, ihr von den geheimnisvollen Überlieferungen der Weisen zu erzählen. Im letzten Monat, an St. Oya, hatte er sich - mit einer Plötzlichkeit, als hätten die voranschreitenden Tage auf der Erde und das sich drehende Rad der Sterne in den Himmelssphären einen unerwarteten Satz nach vorn gemacht - daran erinnert, daß sie am Tag des Frühlingsäquinoktiums, dem ersten Tag im neuen Jahr, sechzehn Jahre alt werden würde. Der Festtag von St. Oya, einer Heiligen der Geheimnisse und Mysterien, war ein vielversprechender Tag für ein Mädchen, das die erste Blutung bekam, und sie war mit Pa hinunter in die Dorfschenke gegangen, um das Ereignis nach altem Brauch zu feiern. Liath hatte das Fest und die Lieder genossen, sich jedoch, abgesehen von den Vorgängen in ihrem Körper, nicht anders gefühlt als sonst. Doch ihr Vater behandelte sie seither anders: Er ließ sie in einer Geschwindigkeit vorlesen und vortragen und auswendig lernen, als würde man unaufhörlich Holz in ein Feuer werfen und erwarten, daß es immer noch heller und heißer brannte. Und nach ihren Berechnungen all der Tage und Jahre, die sie bei Pa gelernt hatte, war gestern der erste Tag des neuen Jahres gewesen. Sie war sechzehn geworden. Und als sie mit ihrem Vater zur Feier des Mariannatages dem kirchlichen Namen des Frühlingsäquinoktiums - zur Dorfkirche gegangen war, hatte sie nicht mehr länger als Mädchen auf den Kinderbänken gesessen, sondern bei den anderen Frauen. »Liath?« Pa wartete. Sie kaute nachdenklich auf der Unterlippe, denn sie wollte ihm eine vollkommen richtige Antwort geben; sie haßte es, 57 ihn zu enttäuschen. Sie atmete tief ein und sprach mit dem leichten Singsang, in den sie immer verfiel, wenn sie zum ersten Mal etwas wiedergab, das ihr Vater sie erst vor kurzem gelehrt hatte. »Über diese Leiter steigt der Weise empor: Zuerst zur Rose, deren Berührung heilend ist. Dann zum Schwert, das uns Stärke verleiht. Die dritte Sprosse ist der Becher des grenzenlosen Wassers. Die vierte der Feuerring des Schmiedes. Der Thron der Tugenden folgt als fünfte. Das Zepter der Weisheit ist die sechste. Auf der höchsten Sprosse suche die Sternenkrone, Und das Lied der Macht ist offenbart.« »Sehr gut, Liath. Heute werden wir weiter an den Messungen der Ekliptik arbeiten. Wo ist das Astrolabium?« Das Instrument hing am Ring senkrecht von ihrem Daumen herab. Sie streckte den Arm vor und seufzte mit einem Blick auf den zarten Sternenhaufen, der die »Krone« genannt wurde und jetzt dem westlichen Horizont zustrebte. In dieser Nacht war der Himmel so klar, daß sie vielleicht das siebte »Juwel« in der Sternenkrone sehen konnte. Gewöhnlich waren nur sechs zu erkennen, doch ihre Augen waren so scharf, daß sie manchmal auch das siebte ausmachen konnte. Sie war gerade dabei, die Höhe auszurechnen und das Rete, die durchbrochene Messingscheibe, zu drehen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Eine Eule
schwang sich von einem Baum am Rande der Lichtung in die Lüfte. Liath folgte dem Vogel mit den Blicken, wie er immer höher glitt, die Flügel blasse Schemen im Licht der Sterne und des Halbmondes. Und dort, tief im Osten 58 »Sieh nur, Pa! Nein, hier. Im Drachen. Ich habe diesen Stern noch nie gesehen, und es ist keiner von den Planeten. Alle anderen Sterne sind dort, wo sie hingehören.« Er blinzelte in den Himmel. Seine Augen waren längst nicht mehr so scharf wie ihre, doch dann sah auch er es: Da war ein zusätzlicher Stern in jener Konstellation, die der Drache genannt wurde, das Sechste Haus des Großen Kreises - der Weltendrache, der die Himmelssphären zusammenhielt. Er war von mittelmäßiger Leuchtkraft, obwohl es Liath schien, als würde er noch während des Betrachtens heller. Das von ihm ausgehende Licht flackerte, wie wenn der Stern Blitze aussandte. »Beim Blute der Herrin«, fluchte Pa. Er zitterte, obwohl es für eine Frühlingsnacht ziemlich warm war. Ein weißer Schatten schwebte an ihnen vorbei. Kaum zehn Schritte von ihnen entfernt stürzte sich die Eule herab, und als sie sich wieder in die Höhe schwang, hielt sie etwas Kleines, wild um sich Schlagendes in den Krallen. »So stürzt sich das Größere auf das Kleinere. Gehen wir hinein, Tochter.« »Aber Pa, sollten wir nicht seine Position berechnen? Ihn beobachten? Es muß ein Zeichen des Himmels sein. Vielleicht ist er ein Engel, der in die unteren Sphären hinabgestiegen ist!« »Nein, Kind!« Er zog den Umhang fester um sich und wandte den Blick nachdenklich vom Himmel ab. Seine Schultern bebten. »Wir müssen ins Haus gehen.« Liath schluckte eine Erwiderung hinunter; sie umklammerte das Astrolabium und folgte ihm geduldig ins Haus. Es war viel zu warm hier drinnen, da das Feuer noch immer loderte. Doch das Feuer loderte unablässig, denn Pa fror häufig. Sie erinnerte sich an die Zeit, als sie noch ein kleines Mädchen war. Pa konnte mit einer einzigen Handbewegung Schmetter59 linge in allen Regenbogenfarben hervorzaubern, die sie dann im Kräutergarten jagte. All das - wenn es wirklich echte Erinnerungen und nicht durch eigene Wünsche hervorgebrachte Illusionen waren - war mit ihrer Mutter gestorben. Ihr waren nur die Erinnerungen geblieben - und die wurden immer verschwommener, je mehr Jahre vergingen und je weiter sie reisten, auf See, über die Berge, durch neue Lande und fremde Städte. Daran erinnerte sie sich - und an ein unaufhörlich brennendes Feuer. Er verriegelte die Tür hinter sich und beugte sich plötzlich vornüber; ein Hustenanfall schüttelte ihn. Als er sich wieder erholt hatte, legte er das Buch auf den Tisch und warf den Umhang auf die Bank. Dann goß er sich ein Bier ein. »Pa«, sagte sie. Sie haßte es, ihn so zu sehen, doch er nahm nur noch einen weiteren Schluck. Zu ihrem großen Entsetzen zitterten seine Hände. »Pa, setz dich hin«. »Er setzte sich. Sie legte das Astrolabium ins Regal, stellte Bogen und Köcher in die Ecke und hängte die Rebhühner an die Dachsparren. Nachdem sie ein Holzscheit ins Feuer geworfen hatte, wandte sie sich um und betrachtete ihren Vater. Bei jeder Bewegung quietschten die Dielen unter ihren Füßen. Es war ein sehr einfach eingerichteter Raum. Sie erinnerte sich an Zimmer, die üppiger ausgestattet waren, doch das lag weit zurück. Wandteppiche, geschnitzte Bänke, ein richtiger Stuhl, ein langer Flur und Wein, der aus einem Krug serviert wurde. Sie hatten dieses Haus selbst gebaut, den Keller ausgegraben, Pfosten in die Erde getrieben, Bretter aus Baumstämmen gesägt und über den Keller gelegt, die Wände mit Schlamm und Stroh abgedichtet. Abgesehen von dem Tisch und der Bank, die gleichzeitig als Kleiderkiste diente, gab es nur noch das Bett ihres Vaters in der dunkelsten Ecke und ihren einzigen Luxus - ein Walnußregal, dessen 60 Holz so lange poliert worden war, bis es glänzte, und dessen Oberfläche mit Schnitzereien von wilden Bestien verziert war, die sich an den Seitenwänden hinabschlängelten. Pa hustete und blätterte in dem Buch; er suchte nach einer bestimmten Stelle im eng geschriebenen Text. Als Liath, um ihm zu helfen, zu ihm trat und dabei am Fenster vorbeikam, warf sie einen Blick hinaus durch die geöffneten Läden und die dünne, bis zur Durchsichtigkeit feingeriebene Haut, die über die Öffnung gespannt war. Sie sah ein schwaches Licht, das näher kam, dem ausgetretenen Pfad vom Dorf herauf folgte. »Es kommt jemand«, sagte sie, schon auf dem Weg zur Tür. »Nicht öffnen!« Seine Stimme traf sie wie ein Schlag, und wie vom Donner gerührt fuhr sie zusammen. »Was ist los? Stimmt etwas nicht?« Sie starrte ihn an, erschreckt von seinem plötzlichen und so greifbaren Entsetzen. »War dieser neue Stern ein Omen? Hast du über seine Ankunft etwas gelesen? Steht in dem Buch etwas über ihn?« Niemals nannten sie dessen Titel. Es gab Wörter, die bargen die Gefahr, daß sie laut ausgesprochen die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Er schlug das Buch zu und preßte es gegen seine Brust. Dann sprang er auf, griff nach dem Bogen in der Ecke und schritt mit Buch und Bogen bewaffnet hinüber zum Fenster. Plötzlich entspannte er sich, und sein Gesicht hellte sich auf. »Es ist nur Frater Hugh.« Jetzt war sie es, die zitterte. »Laß ihn nicht herein, Pa.«
»Sei nicht so hart, mein Kind. Frater Hugh ist ein guter Mann, der ganz für Unsere Herrin und Unseren Herrn lebt.« »Für sich selbst, meinst du wohl. »Liath! Wie kannst du nur so etwas sagen! Er möchte nur Anweisungen erhalten. Er ist genauso neugierig wie du. Kannst du ihm das vorwerfen?« 61 »Gib mir einfach das Buch, Pa«, entgegnete sie etwas freundlicher, damit er es ihr gab. Was sie inzwischen über Hugh wußte, war zu gefährlich, um es Pa zu erzählen. Doch ihr Vater zögerte. Vier andere Bücher standen im Regal in der Ecke, jedes eine kleine Kostbarkeit: Die enzyklopädische Geschichte der Dariyaner und Die Taten von St. Thekla von Polyxene, die Enzyklopädie der Pflanzen von Theophrastos von Eresos und die Abhandlung Von den Träumen von Artemisia. Diese Bücher enthielten freilich nichts von jenem verbotenen Wissen, das die Kirche anläßlich des Konzils von Narvone einhundert Jahre mit einem Bann belegt hatte. »Möglicherweise kann er uns helfen, Liath.« Pa war plötzlich ernst. »Wir sind nun schon so lange auf der Flucht. Wir brauchen einen Verbündeten, der die großen Mächte begreift, die ihre Netze um uns spinnen. Jemanden, der uns im Kampf gegen sie unterstützt -« Sie schnappte sich das Buch und kletterte die Leiter zum Dachboden hinauf. Von ihrem versteckten Platz unter dem schrägen Dach aus konnte sie die Hälfte des Raums überblicken und mühelos alles verstehen, was unten gesprochen wurde. Sie warf sich auf die Strohmatte und deckte sich zu. »Sag ihm, ich schlafe schon.« Pa murmelte eine unverständliche Antwort, doch sie wußte, daß er niemals widersprach, wenn sie einmal eine Entscheidung getroffen hatte. Er schloß die Läden, stellte den Bogen zurück in die Ecke und öffnete die Tür, um Frater Hugh zu empfangen. »Grüße, mein Freund!« rief er. Er klang beinahe fröhlich, denn er mochte Hugh. »Seid Ihr gekommen, um den Nachthimmel mit mir zu beobachten?« »Leider nicht, Freund Bernard. Ich bin zufällig hier vorbeigekommen -« 62 Ich bin zufällig hier vorbeigekommen. Alles Lügen, die er in einer honigsüßen Stimme verpackte. »- weil ich zum Hof des alten Johannes muß. Ich soll seine Frau mit den letzten Sterbesakramenten versehen, möge ihre Seele sich in Frieden zur Kammer erheben. Meistrin Birta bat mich, Euch diesen Brief zu übergeben.« »Einen Brief« Liath hörte, wie ihrem Vater bei diesem Wort beinahe die Stimme versagte. Seit acht Jahren wanderte er nun umher, und niemals hatten sie einen Menschen getroffen, den Pa noch aus seinem früheren Leben kannte. Niemals hatte er eine Nachricht erhalten, geschweige denn einen Brief. »Oh, Heilige Herrin«, murmelte er heiser. »Ich bin schon zu lange hier.« »Wie bitte?« fragte Frater Hugh. Das Licht seiner Lampe fiel durch das Fenster ins Innere und erhellte auch das Antlitz ihres Vaters, der auf der Türschwelle stand. »Ihr seht krank aus, mein Freund. Kann ich Euch helfen?« Pa zögerte erneut, und sie hielt die Luft an, doch nach einem Blick zum Dachboden schüttelte er langsam den Kopf. »Es gibt nichts, das Ihr tun könntet. Doch ich danke Euch.« Er griff nach dem Brief. Liath fuhr mit dem Finger über den Buchrücken, spürte die dicken Buchstaben auf dem Leder. Das Buch der Geheimnisse. Würde er Frater Hugh hereinbitten? Pa war so einsam, und er hatte Angst. »Wollt Ihr mir nicht etwas Gesellschaft leisten? Die Nacht ist so ruhig, und ich fürchte, sie wird auch lang werden.« Sie drückte sich noch weiter in die Schatten. Eine lange Pause entstand, während Hugh nachdachte. Sie spürte sein Verlangen beinahe so intensiv, wie sie die Gegenwart des Feuers spürte - seinen Wunsch, einzutreten und Pa dazu zu bringen, ihm immer mehr zu vertrauen, bis er ihm schließlich alles anvertraute. Doch dann wäre alles verloren. 63 »Leider nicht, ich habe heute nacht noch andere Pflichten zu erfüllen«, antwortete Hugh schließlich, ohne jedoch zu gehen. Das Licht ergoß sich zitternd in alle vier Ecken des Raums, als würde es etwas suchen. »Eurer Tochter geht es gut, nehme ich an?« Wie süß seine Stimme klang. »Ja, es geht ihr gut. Ich vertraue darauf, daß sich Unsere Herrin und Unser Herr ihrer annehmen, sollte mir einmal etwas zustoßen.« Hugh lachte leise auf, und Liath versuchte sich noch tiefer in die Schatten zu pressen, als würde ihr dieses Versteck Schutz bieten. »Ich versichere Euch, sie werden es, Freund Bernard. Ich gebe Euch mein Wort darauf. Ihr solltet ausruhen. Ihr seht blaß aus.« »Eure Anteilnahme macht mir Mut, Freund.« Liath konnte sehen, wie Pa den Mund zu jenem kleinen Lächeln verzog, mit dem er andere Leute zu beschwichtigen pflegte. Sie wußte, es war nicht aufrichtig - nicht wegen Hugh, sondern wegen des Briefes, wegen der Eule und dem Athar, dem merkwürdigen neuen Stern am Firmament. »Dann wünsche ich Euch noch einen gesegneten Abend, Freund Bernard. Auf Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen.« So gingen sie auseinander. Der Lichtschein entfernte sich auf dem Pfad zurück zum Dorf, möglicherweise zum Hof des alten Johannes. Sicherlich hatte Frater Hugh keinen Grund, etwas so Ernstes zum Gegenstand einer Ausrede zu machen. Doch ganz sicher war er nicht »zufällig vorbeigekommen«.
»Er ist ein netter Mann«, sagte Pa. »Komm runter, Liath.« »Nein«, sagte sie. »Was ist, wenn er noch draußen herumstreicht?« »Kind!« Früher oder später würde sie es sagen müssen, wenn auch 64 nicht die ganze Wahrheit. »Er sieht mich an, Pa. Mit diesem ganz besonderen Blick.« Sein Atem zischte hörbar vor Ärger. »Ist meine Tochter so eitel, daß sie einem Mann, dessen Herz der Kirche geweiht ist, unterstellt, sie mehr zu begehren als Unsere Herrin?« Beschämt verbarg sie ihr Gesicht im Schatten, obwohl er sie ohnehin nicht sehen konnte. War sie so eitel? Nein, sie wußte, es war keine Eitelkeit. Aber acht Jahre auf der Flucht hatten ihre Instinkte geschärft. Ich bin zufällig vorbeigekommen. Hugh kam häufig zu ihrem Haus und leistete Pa Gesellschaft; die beiden Männer unterhielten sich über Religion und die Schriften der Alten, und jetzt, da sie sich sechs Monate kannten, hatten sie vorsichtig begonnen, über die verborgenen Künste der Zauberei zu reden - natürlich nur als bloßes Gedankenspiel. Natürlich. »Begreifst du denn nicht, Pa?« Sie suchte nach Worten, nach einem Weg, es ihm verständlich zu machen, ohne ihm das zu sagen, was sie so sicher ruinieren würde, wie es zwei Jahre zuvor in Autun geschehen war. »Hugh sucht nicht deine Freundschaft. Er will nur dein Wissen über Zauberei.« Hugh kam oft, doch seit St. Oya hatte er angefangen, auch dann »zufällig vorbeizukommen«, wenn er genau wußte, daß Pa fort war, um eine Besorgung zu machen oder als Tagelöhner zu arbeiten - obwohl sein Gesundheitszustand sich verschlimmert hatte und er für solche Arbeiten eigentlich nicht mehr stark genug war. Liath hätte diese Arbeiten übernommen, doch Pa pflegte immer zu sagen: »Jemand muß bei dem Buch bleiben.« Und er wollte nicht, daß sie allein draußen war. »Ich bin gerade hier vorbeigekommen, Liath. Hat dir schon jemand gesagt, wie schön du bist? Du bist jetzt eine Frau. Dein 65 Vater muß sich überlegen, was aus dir werden soll - und aus dem, was er dir beigebracht hat, und all dem, was du über ihn und seine Reisen und seine Vergangenheit weißt. Ich kann dich beschützen ... dich und das Buch.« Und er hatte ihre Lippen berührt, als wollte er ihr Leben einhauchen Natürlich war es obszön, wenn ein frommer Bruder der Kirche einem unschuldigen Mädchen von nicht einmal sechzehn Jahren einen solchen Antrag machte. Nur eine Närrin hätte seinen Ton und den Ausdruck in seinem Gesicht mißverstanden. Liath hatte Hugh niemals besonders gemocht, aber diese Sache hatte sie fürchterlich erschreckt und ihr Angst eingeflößt, denn Hugh hatte das Vertrauen ihres Vaters in einer Weise verraten, die Liath ihm niemals wirklich offenbaren konnte. Wenn sie es Pa erzählte und er ihr glaubte, würde er Frater Hugh anklagen, vielleicht sogar versuchen, ihn niederzuschlagen. Zwei Jahre zuvor war in Autun etwas Ähnliches geschehen. Pa war in seiner ungestümen Art auf einen Händler losgegangen, der ihm einen Vertrag angeboten hatte, durch den er sich Liath als Konkubine sichern wollte. Als Folge davon war er von den Wachen aus der Stadt geprügelt worden. Wenn er jedoch Frater Hugh anklagte oder angriff, würde er sich einen mächtigen Feind schaffen. Hughs Mutter war eine Markgräfin, eine der großen Fürstinnen des Landes, wie Hugh nicht müde wurde zu betonen. Sie und Pa dagegen besaßen überhaupt keine Verwandten, die sie beschützen konnten. Und wenn sie Pa von dem Vorfall erzählte und er ihr nicht glaubte, dann ... o Herrin. Pa war ihr ein und alles. Sie konnte ein solches Risiko nicht eingehen. »Pa?« Während ihres langen Schweigens hatte er nicht geantwortet. »Pa?« Als ein schmerzerfülltes Stöhnen und das schwache Knistern von Pergament zu ihr heraufdrang, stürzte sie die Leiter 66 halb rutschend, halb springend hinab. Pa zerknüllte gerade den Brief und warf ihn ins Feuer. Die Flammen loderten auf, sprühten Funken. Sie machte einen Satz nach vorn, griff bereits zu -da wischte er ihre Hand mit einem kräftigen Schlag beiseite. »Laß es!« Er sah blaß aus und schwitzte. »Wenn du irgend etwas berührst, das sie berührt haben, haben sie eine weitere Verbindung zu dir.« Er sank auf die Bank zurück und ließ den Kopf in die aufgestützte Hand sinken. »Wir müssen morgen weiterziehen, Liath.« »Weiterziehen?« »Sie werden uns nicht in Ruhe lassen.« »Wer denn, Pa? Vor wem laufen wir davon? Warum erzählst du es mir nicht endlich?« »Weil nur deine Unwissenheit dich schützen kann. Sie haben die Macht, zu suchen und zu finden, doch ich habe dein Innerstes vor ihnen verschlossen.« Immerzu sagte er das gleiche. Später. Wenn du stärker bist. »Wenn wir noch in der Morgendämmerung aufbrechen, haben wir zumindest ein paar Tage Vorsprung. Wir hätten nicht so lange hierbleiben sollen.« Sie waren so lange hiergeblieben, weil sie ihn darum gebeten hatte. Denn zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Freunde gefunden. Sie stand in der Mitte ihres kleinen Hauses, und ihr Kopf stieß beinahe an die rauhen
Holzbretter des Dachbodens. Pa war nur ein Schatten im Feuerschein, halb aufgesogen von der Düsternis, doch sie konnte ihn auch im Halbdunkel klar erkennen. Es war immer eine Art Witz zwischen ihnen gewesen: Salamander-Augen, benannt nach den kleinen Geistern, die das Feuer bewohnten. Liath erinnerte sich daran, sie gesehen zu haben, viele Jahre bevor ihre Mutter gestorben war, und ihre Gestalten waren so flüssig gewesen wie Wasser, die Augen wie Blitze aus blauem Feuer. Jetzt nicht mehr. Wie sehr sie auch blinzelte, wie lang sie es 67 auch versuchte, sie sah im Herdfeuer nur Flammen auf und ab tanzen und an dem Holz fressen, bis es wie rotglühende Kohle brannte, schließlich als Asche zu Boden sank und eine dunkle Schicht bildete. »Sie ist noch nicht stark genug«, flüsterte er in die aufgestützte Hand. »Ich bin stark, Pa. Du weißt das.« »Geh ins Bett, Kind. Behalte das Buch bei dir. Wir packen morgen rasch zusammen, was wir brauchen, und verschwinden.« Sie schluckte ihre Tränen hinunter. Sie würden weggehen und zwei Jahre Zufriedenheit hinter sich lassen. Dies war ein schöner Ort, oder er war es vielmehr bis letzten Herbst gewesen - bis Frater Hugh gekommen war. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie ihre Freunde zurücklassen mußte: Zwei Freunde - allein die Vorstellung! - hatten ihr so nahegestanden, als wären sie ihre Familie gewesen - eine Familie, die sie niemals gehabt hatte. Sie hatte nur ihren Vater. Doch sie würden gehen. Was immer Pa weitertrieb, zog auch sie mit. Sie würde ihn niemals allein gehen lassen. »Es tut mir leid, Liath. Ich bin ein armseliger Vater. Ich habe meine Sache nicht sehr gut gemacht. Ich hätte -« Er schüttelte den Kopf. »Blindheit hat mich schwach gemacht.« »Sag das nicht, Pa, niemals!« Sie kniete sich neben ihn und umarmte ihn. Er war in den letzten zwei Jahren so schnell gealtert, seit er in Autun verprügelt worden war. Seine Haare, die einmal braun gewesen waren, waren jetzt grau. Er ging vornübergebeugt, als würde er eine unsichtbare Bürde tragen, während er früher aufrecht und kräftig ausgeschritten war. Er trank genug Bier für vier Männer, als wollte er sich ertränken, nur daß sie nicht genügend Geld dafür hatten. Es gab an einem solch einsamen Ort nicht genug Arbeit für einen Mann, der 68 bei der Feldarbeit nicht mehr angenommen wurde und dessen einzige Fähigkeiten darin bestanden, Hexenzeichen gegen Füchse zu ziehen, die um Hühnerställe herumschlichen, oder auf Pergament und Baumrinden für die Dorfbewohner Botschaften an ihre viele Wegstunden entfernt lebenden Verwandten zu schreiben. »Geh ins Bett, Tochter«, wiederholte er. »Wir müssen früh aufbrechen.« Weil sie darauf nichts mehr zu sagen wußte, gab sie ihm einen Kuß auf die Wange und stand auf. Sie starrte einen Augenblick in die Flammen und suchte nach dem Pergament, doch es war bereits zu Asche verbrannt. Sie hörte ihren Vater schwer aufseufzen und überließ ihn sich selbst - sie würde seine Gedanken ohnehin niemals ergründen können. Als sie wieder auf dem Dachboden war, zog sie sich bis aufs Hemd aus und schlüpfte unter die Decken, das Buch fest an sich gepreßt. Sie sah die Schatten der Flammen auf den Dachvorsprüngen tanzen, und das sanfte Knistern des Feuers lullte sie ein. Sie hörte ihren Vater noch etwas Bier nachschenken, hörte ihn trinken. Es war so ruhig. So ruhig. »Traue niemandem«, murmelte er, beim Ausatmen den Namen ihrer Mutter flüsternd: »Anne.« In vielen Nächten hatte sie gehört, wie er den Namen ihrer Mutter sagte, einfach so. Noch acht Jahre nach ihrem Tod wirkte sein Kummer so schmerzhaft wie eine frische Wunde. Werde ich mich jemals jemandem so nahe fühlen? überlegte sie. Doch der Tanz der Schatten, die raschelnden Bewegungen, die ihr Vater verursachte, das sanfte Säuseln, mit dem der Wind über das steile Dach strich, das entfernte Wispern der Bäume, das alles zusammen lastete schwer auf ihr und lullte sie immer mehr ein. Sie war so müde. Was war das für ein 69 fremder Stern, der im Drachen zum Leben erwacht war? War es ein Engel? Ein Dämon der oberen Sphären? Sie schlief ein. Und träumte. Feuer. Sie träumte oft vom Feuer, einem reinigenden, willkommenen Feuer. Geister verbrennen in der Luft, mit Flügeln aus Flammen, die Augen funkelnd wie Messerschneiden. Hinter ihnen erhebt sich eine Wand aus Feuer in der schwarzen Nacht, doch das ist nichts, vor dem man Angst haben müßte. Tritt man hindurch, liegt eine neue Welt dahinter. In weiter Ferne ertönt eine Trommel wie ein Herzschlag, und das Pfeifen einer Flöte erhebt sich in die Lüfte, vom Wind getragen wie ein Vogel. Flügel ließen sich auf dem Dachvorsprung nieder. Eine Wolke aus weißem Schnee wehte durch den Rauchabzug, obwohl es nicht Winter war. Schlafend und wachsam, zum Schweigen verdammt. Wach, aber unfähig, sich zu rühren, also immer noch schlafend. Die Dunkelheit drückte sie nieder wie ein riesiges Gewicht. Glocken im Wind. War die Frau des alten Johannes in der Nacht in ein anderes Leben hinübergegangen? Galten die Glocken ihrem
Aufstieg zur Kammer des Lichts? Für jede Sphäre ein eigener Glockenschlag und die letzten drei für das Halleluja der Engel, die ihre Stimme erhoben, um die neue Verwandte willkommen zu heißen. Doch es waren keine Glocken, sondern Worte, die die Luft zerrissen. Zwei harte Schläge ertönten, wie gegen Holz. Wenn sie nur etwas sehen könnte, sie sehen könnte, aber sie konnte sich nicht bewegen, wagte nicht, sich zu rühren. Sie mußte in ihrem Versteck bleiben. Pa hatte es ihr immer wieder eingeschärft. 70 »Deine armseligen Pfeile werden dir nicht helfen«, sprach die Glockenstimme. Sie wußte nicht, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte. »Wo ist sie?« Liath spürte, wie die Stimme sie berührte, als würde etwas Altes, Modriges über ihre Haut streichen. »Nirgendwo, wo ihr sie finden könnt«, keuchte Pa ganz außer Atem, als wäre er schnell gerannt. Sie versuchte sich zu bewegen, und Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn. Aber es war nur ein Traum, oder nicht? Plötzlich flackerten die Flammen auf, schössen kurz und grell empor, Funken stoben; danach war alles dunkel und still. Sie schlief. Und erwachte. Es war die Stunde vor der Morgendämmerung, und das Licht war kaum mehr als ein Hauch von Grau. Sie rührte sich, das Buch fest an sich gedrückt, die Hände verschränkt, noch immer schlaftrunken. Etwas stimmte nicht. Pa war auf der Bank eingeschlafen, die Arme lagen auf dem Tisch, der Kopf hing in einem merkwürdigen Winkel herab. Sein Bogen lag mit eingehängter Sehne neben der Bank auf dem Boden. Völlig durchgefroren kletterte Liath die Leiter hinunter. Pa schlief nicht. Die Läden waren verriegelt. Die Tür war verriegelt. Seit acht Jahren brannte ununterbrochen ein Herdfeuer, wo sie auch waren. Jetzt war die Feuerstelle kalt. Und da, als wäre jemand direkt dem Herdfeuer entstiegen, war ein schmaler Fußabdruck, mit grauer Asche bedeckt. Zwei von Pas Pfeilen steckten im Holz neben dem Herdfeuer. Und auf dem Tisch, neben Pas rechter Hand, lag eine weiße Feder - hell glänzend, wie sie noch nie zuvor eine gesehen hatte. 71 Wind pfiff durch den Rauchabzug und bewegte die Feder, strich über den Fußabdruck und verwischte die Ränder, bis keine Spur mehr zurückblieb. Sie griff nach der Feder ... Laß es! Sie riß den Kopf zurück, als hätte ihr Vater sie geschlagen. Wenn du irgend etwas berührst, das sie berührt haben »Wo ist sie?« hatte die Stimme gefragt. Und Pa hatte sich geweigert, eine Antwort zu geben. Sie starrte auf seinen Leichnam. Er sah so alt aus, als würde seine sterbliche Gestalt beim leisesten Windhauch zu Asche zerfallen. Traue niemandem. Als erstes versteckte sie das Buch. 2 Das Geräusch langsam fallender Wassertropfen riß Liath aus einem unruhigen Schlaf. »Pa?« Einen Augenblick lang glaubte sie, der Trog hinter dem Haus hätte wieder ein Leck. Dann öffnete sie die Augen und erinnerte sich. Pa war tot. Man hatte ihn umgebracht. Durch den schmalen Fensterschlitz hoch oben in der Mauer fiel nur ein schwacher Lichtstreifen in ihre dunkle Zelle, und der wurde auch noch vom Steinboden verschluckt, so wie ausgedörrte Pflanzen das Wasser aufsaugten. Das langsame Tröpfeln hörte nicht auf. Liath setzte sich hin. Schmutz klebte an ihrer Tunika, doch sie fühlte sich zu müde, um ihn abzuwischen. Ihr Gesicht schmerzte noch immer von den Schlägen, die Frater Hugh ihr verabreicht hatte. Sie betastete ihre rechte 72 Wange und zuckte zusammen. Ja, sie war verletzt. Ihr linker Arm tat weh, doch vermutlich war er nicht gebrochen. Sie gönnte sich ein schwaches Lächeln: eine kleine Selbstaufmunterung. Sie kämpfte sich langsam auf die Knie. Ein schneidender Schmerz schoß ihr durch den Kopf, und für eine Sekunde befand sie sich wieder in ihrem kleinen Haus. Sie kniete auf der Bank neben Pas Leiche, die zu erstarren schien, noch während sie sie ansah. Dann wurde die Tür aufgestoßen, und der Luftzug wehte die weiße Feder gegen ihre bloße Haut. Als würde ein Messer in ihre Schläfe getrieben, so sehr schmerzte ihr Schädel. Eine Stimme erklang in weiter Ferne, kaum klarer als das Rauschen der Brandung an einem felsigen Ufer... Sie preßte die Handflächen gegen den Kopf und schloß die Augen, als könnte sie so die Bilder abwehren. Langsam verebbte der Schmerz und mit ihm die Vision. Sie tastete mit einer Hand nach der Mauer und kämpfte sich auf die Beine. Einen Augenblick blieb sie so stehen, versuchte, ihre Kräfte einzuschätzen. Das Tröpfeln kam aus der entgegengesetzten Ecke des Raums, kräftig und von beeindruckender
Gleichmäßigkeit. Eine schmutzige Pfütze hatte sich an dieser Stelle gebildet. Sie erinnerte sich nicht mehr genau daran, wie sie hergekommen war, doch sie ging davon aus, daß es der Keller des Gemeindehauses war; nicht einmal Hugh konnte Liudolf, den Schultheiß, dazu bringen, sie in die Kirchengruft zu sperren. Diese Gewißheit und das tröpfelnde Wasser bedeuteten, daß sie sich unterhalb der Schweineställe und damit nur fünf Schritte entfernt vom Waldesrand befand. Wenn das Fenster nur nicht so schmal wäre - noch dazu mit vier dicken Eisenstäben vergittert! Ein leises Zischen drang durch das Fenster, scharf und ängstlich zugleich. »Liath? Bist du da?« 73 »Hanna?« Ihr Herz raste plötzlich vor Hoffnung. »Hast du das Buch gefunden?« Ein erleichterter Seufzer erklang, gefolgt von einem kurzen Schweigen. Dann sprach Hanna weiter. »Ja. Unter den Dielen, genau wie du gesagt hast. Und ich habe es da vergraben, wo du es wolltest.« »Unserer Herrin sei Dank«, murmelte Liath. Hanna beachtete das kurze Stoßgebet nicht. »Wir haben nicht genug Geld, um die Schulden zu bezahlen. Und auch nicht ...« Sie zögerte. »Auch nicht für den ... Preis für dich. Die Versteigerung findet morgen statt. Es tut mir leid.« Liath ging zum Fenster und griff mit ihren schmutzigen Händen nach den Gitterstäben. Sie blinzelte ins Sonnenlicht und konnte Hannas Gesicht nur undeutlich erkennen. »Aber was ist mit Pas vier Büchern? Sie werden einen guten Preis erzielen. Sie allein sind soviel wert wie zwei Pferde.« »Hat der Schultheiß es dir nicht gesagt? Frater Hugh hat sie beschlagnahmt; er behauptet, sie sind Eigentum der Kirche. Sie werden nicht verkauft.« »Beim Blute der Herrin«, fluchte Liath, doch die bittere Wut, die sie erfüllte, verstärkte nur ihre Schmerzen. Warum hatte Pa ihm bloß vertraut? »Es tut mir leid -« begann Hanna von neuem. »Es muß dir nicht leid tun. Was hättest du schon machen können?« »Wenn Inga bei ihrer Hochzeitsfeier nicht so selbstsüchtig gewesen wäre, hätten wir jetzt wenigstens den Preis für dich zahlen können -« »Es ist nicht Ingas Fehler. Frater Hugh wird die Schulden meines Vaters begleichen, also hätte es ohnehin keine Rolle gespielt.« »Aber wie konnte dein Pa in gerade mal zwei Jahren so viele 74 Schulden machen, Liath? Du hast niemals etwas davon gesagt. Die ganze Zeit über ...« Hannas Stimme wurde noch leiser. Liath konnte jetzt ihre Mundpartie erkennen, dann griff Hanna durch die Gitterstäbe hindurch nach ihren Händen. »Meine Mutter sagt, daß er die Schulden nicht auf normale Weise angehäuft haben kann.« Hannas Hand fühlte sich warm an, und Liath erwiderte den Druck. Mein Vater war ein Zauberer. Natürlich hat er sie nicht auf normale Weise angehäuft. Doch das konnte sie nicht laut sagen, nicht einmal gegenüber ihrer engsten Freundin. Alle im Dorf hatten geglaubt, daß Meister Bernard ein verstoßener Priester war - ein Mann, der das Kloster hatte verlassen müssen, weil er sein Gelübde gegenüber Unserer Herrin und Unserem Herrn entehrt hatte, indem er eine Frau geschwängert hatte. Ein Geistlicher konnte schreiben. Ein Geistlicher verstand etwas von Kräutern und Zauberei, wußte sie als Mittel gegen die Pest, bei verschiedenen Krankheiten oder weit schlimmeren Übeln einzusetzen. Pa hatte ihnen diesen Glauben niemals genommen, was es den Dorfbewohnern ermöglicht hatte, ihn frei von jeder Angst in ihrer Gemeinschaft aufzunehmen. Ein gefallener Mönch war ein Mann, der Schande auf sich geladen hatte, aber kein gefährlicher. Nur Frater Hugh war argwöhnisch gewesen. Nur er hatte sich Pas Vertrauen erschlichen. Im Gang jenseits der Tür erklangen Schritte. Sie hörte unterdrückte Stimmen. »Hanna. Du mußt jetzt gehen.« »Aber Liath -« »Es kommt jemand.« »Mutter wird dir etwas zum Essen bringen. Ich komme heute nacht wieder.« Ein Schlüssel drehte sich knarrend im Schloß. Die Ketten klirrten leise. 75 Der Schatten am Fenster verschwand, und Liath drehte sich um. Langsam und knirschend öffnete sich die Tür. Liath wich zurück, drängte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Sie reckte trotzig das Kinn in die Höhe. Drei Personen standen in der Tür. Zwei von ihnen traten ein: Frater Hugh und Liudolf, der Schultheiß. Hugh trug eine Kerze. Damit man sein gutaussehendes Gesicht besser sehen kann, dachte Liath kalt. »Wo ist das Buch?« forderte Hugh ohne Umschweife. Seine Stimme klang arrogant und kühl, sie paßte so gar nicht zu dem honigsüßen Ton, mit dem er sich bei ihrem Vater eingeschmeichelt hatte. »Möglicherweise hast du es dir ja nach einer Nacht hier unten überlegt und sagst es mir?« »Frater«, mischte sich der Schultheiß ein. »Ihr habt die Befragung des Mädchens bereits beendet, denke ich. Ich bin zufrieden, daß sie mit dem Tod ihres Vaters nichts zu tun hat.« Liudolf hatte ein Rechnungsbuch unter seinen Ellbogen geklemmt. »Also, Mädchen«, wandte er sich an Liath, »ich habe die Schulden und den Besitz deines Vaters zusammengezählt, und Frater Hugh hat hier, auf diesen Seiten, alles niedergeschrieben. Ich werde es dir jetzt vortragen.«
Hugh starrte sie an. Liath hielt die Augen fest auf den alten Schultheiß gerichtet, spürte aber dennoch seinen Blick. Vier Bücher hatte er in dem Haus gefunden; vier Bücher hatte er gestohlen, was immer er auch von »Eigentum der Kirche« sagen mochte. Und er wußte, daß es ein fünftes Buch gab - eins, das sie versteckt hatte. Liudolf trug die Berechnungen laut, ohne jeden Blick auf das Pergament vor, denn er konnte nicht lesen. Aber er hatte ein gutes Gedächtnis. Die Schuldenliste war beträchtlich, die des Besitzes im Vergleich dazu kurz: ein Bogen, ein Köcher und vierzehn Pfeile; Tusche und Schabmesser und Pergament; 76 eine Silberskeatta, die während der Herrschaft von Kaiser Taillefer geprägt worden war; ein Kochtopf, eine Schüssel, zwei Löffel und ein Messer; ein Schleifstein; zwei Hemden und eine wollene Tunika; ein Wollmantel, dessen Saum mit Kaninchenfell besetzt war; eine bronzene Brosche; Hosen, Schuhe; ein Bett, ein Tisch, eine Bank, ein Regal und eine Kupferschüssel; zwei Wolldecken; ein halbes Faß Bier, Honig, geräuchertes Fleisch und drei Specksteingefäße, eines mit Salz gefüllt und zwei mit Weizenmehl; zwei Hennen; zwei Schweine; und eine Tochter. »Im Alter von fünfzehn Jahren«, endete Liudolf. »Ich wurde vor vier Tagen sechzehn, am Mariannatag.« »Ist das wahr?« fragte Liudolf interessiert. »Das verändert die Sachlage. Es stellt sich also nicht mehr die Frage nach dem Preis deiner Auslösung. Als mündige Erwachsene mußt du für sämtliche Schulden deines Vaters aufkommen - es sei denn, es gibt noch andere Verwandte.« »Keine, von denen ich wüßte.« Er seufzte und nickte. »Das heißt, wer deine Schulden bezahlt, erkauft damit deine Freiheit.« »Da waren Bücher«, sagte sie rasch und vermied es, Hugh dabei anzusehen. »Mein Vater besaß vier Bücher und ein ...« Sie mußte vorsichtig sein. »Und ein Messinggerät, mit dem er die Zeit bestimmte.« »Diese Gegenstände wurden von der Kirche beschlagnahmt.« »Aber sie hätten genug eingebracht, um die Schulden meines Vaters zu begleichen!« »Es tut mir leid, Kind.« Es klang endgültig. Sie wußte sofort, daß es zwecklos war, ihm zu widersprechen. Warum sollte er ihr auch zuhören, einem alleinstehenden Mädchen ohne Hab und Gut, ohne irgendeinen Menschen, der seine schüt77 zende Hand über sie hielt? »Hier, du mußt ein Zeichen auf der Seite machen, auf der all dies steht, und damit bezeugen, daß ich, nach deinem Wissensstand, alles korrekt ausgerechnet habe.« Sie nahm den Stift und balancierte das aufgeschlagene Buch in der linken Hand. Hugh beobachtete sie gespannt, doch bedächtig setzte sie ein unbeholfenes »X« unter die letzten Schriftzeichen. Sie gab dem Schultheiß das Buch zurück, und er ließ einen schnalzenden Ton hören, denn er bedauerte ihre Notlage aufrichtig; dann seufzte er wieder und kratzte sich am Kopf. »Die Versteigerung findet morgen statt, Kind.« Liudolf warf einen Blick auf Hugh; er wußte genauso wie Liath, daß niemand außer dem Frater in der Lage war, den gesamten Preis zu zahlen - besonders jetzt, da er ihr auch noch die Bücher genommen hatte. Und es hatte auch den Anschein, als wäre Hugh ohnehin der einzige, der sie kaufen wollte. Der alte Graf Harl hatte zwar das nötige Geld und sogar ein paar Sklaven, doch er hielt sich gewöhnlich aus den Angelegenheiten des Dorfes heraus - bis auf das eine Mal, als er Hannas Mutter als Amme für seine Kinder angestellt hatte. »Ich bitte um Entschuldigung«, erklang die Stimme einer Frau von der Tür her. »Darf ich jetzt reinkommen?« »Gewiß. Wir sind fertig.« Liudolf trat zurück. Hugh starrte Liath an, ohne sich zu rühren. »Frater«, drängte Liudolf sanft. »Wir haben bis morgen noch einiges zu erledigen, nicht wahr?« »Ich kriege das Buch«, murmelte Hugh. Er ging hinaus, die Kerze noch in den Händen. Meistrin Birta, die Wirtin der Dorfschenke, trat aus dem düsteren Schatten. Sie hielt einen Krug in den Händen und ein Päckchen, das in ein Stück Stoff eingeschlagen war. »Hier, 78 Liath. Ich habe gehört, daß du gestern weder etwas gegessen noch getrunken hast.« »Ich hatte ein wenig Wein.« Liath nahm den Krug. Ihre Hände zitterten, als sie ihn auf den Boden stellte und einen Laib Brot und ein Stück Ziegenkäse aus dem Päckchen wickelte. »Oh, ich danke Euch, Meistrin Birta. Jetzt erst merke ich, wie hungrig ich bin.« Birta warf einen Blick zurück in den feuchten Flur, wo die beiden Männer auf sie warteten. »Ich sorge dafür, daß du auch morgen früh etwas zu essen bekommst.« Sie erhob leicht die Stimme. Wie mutig, dachte Liath. »Es ist nicht recht, dich hungern zu lassen, ungeachtet aller Umstände.« Sie trat einen Schritt auf Liath zu und senkte ihre Stimme jetzt so sehr, daß sie kaum mehr als ein Flüstern war. »Wenn es uns möglich gewesen wäre, Kind, hätten wir zumindest die Summe für dich gezahlt. Wir hätten dich gut behandelt. Doch wir mußten bereits die Abgaben für dieses Jahr leisten, und mit Ingas Hochzeitsfeier im letzten Herbst...« »Bitte nicht«, sagte Liath hastig. Sie war peinlich berührt. »Ich weiß, Ihr habt getan, was in Eurer Macht stand. Doch Pa hat sich niemals darum gekümmert, wie teuer es war -« Sie brach ab, sich der Stille im Flur bewußt; Hugh würde begierig jedes einzelne ihrer Worte aufsaugen. »- so zu leben, wie er es tat. Er liebte Eure Schenke und verbrachte manch schönen Abend mit Eurem Mann.« »Ja, Kind«, erwiderte Birta rasch; sie verstand Liaths Wink. »Ich lasse dich jetzt allein. Sie erlauben mir nicht,
dir eine Decke zu bringen, aber ich verlasse mich darauf, daß Unsere Herrin und Unser Herr für eine warme Nacht sorgen.« Sie gab Liath einen Kuß auf die Stirn und ging hinaus. Die Tür schloß sich hinter ihr mit einem knarrenden Geräusch. Liath war wieder allein. Zuerst widmete sie sich 79 dem Essen; sie aß alles auf, trank jedoch nur wenig. Dann schritt sie auf und ab. Beim Gehen konnte sie besser nachdenken, selbst wenn es nur fünf Schritte geradeaus waren, eine Kehrtwende und wieder fünf Schritte geradeaus. Doch wie oft sie auch in der Zelle auf und ab ging, sie konnte dem, was Pa ihr hinterlassen hatte, nicht entkommen. Pa war tot. Morgen würde zur Tilgung seiner Schulden erst sein Hab und Gut verkauft werden, dann sie selbst. Morgen würde sie ihre Freiheit verlieren. Doch sie besaß Pas Schatz, Das Buch der Geheimnisse, und so lange sie das hatte, besaß sie zumindest noch ein gewisses Maß an innerer Freiheit. Sie hockte sich in eine Ecke und zog die Knie an die Brust. Ein schwacher Trost. Sie ließ das Kinn auf die Knie sinken und schloß die Augen. Einmal, als sie glaubte, eine leise Stimme ihren Namen rufen zu hören, fuhr sie zusammen. Doch die Stimme rief nicht wieder. Liath rieb sich die Augen und kauerte sich gegen die Kälte noch mehr zusammen. Zitternd fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Ermordet. Wer immer ihn verfolgt haben mochte, hatte ihn schließlich eingeholt. Wann hatte er seine magischen Fähigkeiten verloren? Oder waren es die ihrer Mutter gewesen, mit deren Hilfe er Schmetterlinge herbeigezaubert hatte, um einem kleinen Mädchen die einsamen Tage zu vertreiben? »Sie haben sie getötet, Liath«, hatte er an jenem Tag vor acht Jahren zu ihr gesagt. »Sie haben Anne getötet und ihre Fähigkeiten geraubt, um sie selbst benutzen zu können. Wir müssen fliehen. Sie dürfen uns niemals finden.« Ihre Mutter. Ihr Gesicht tauchte in den Erinnerungen des Traums auf, die Haare so hell wie Stroh, die Haut so blaß, als hätte niemals ein Sonnenstrahl sie berührt, obwohl sie stundenlang in der Sonne im Garten gesessen und in die Ferne ge80 blickt hatte. Liath hatte sich manchmal zu ihr gesetzt und sie betrachtet; sie hatte dann hin und wieder an ihrer eigenen Haut gerubbelt, um den Dreck abzureiben, doch der Dreck löste sich nicht, denn er war festgebrannt, als wäre sie in einem Ofen geformt und ihre Haut goldbraun gebacken worden, bevor sie das Licht der Welt erblickt hatte. Als sie das kleine Bauernhaus und den Garten, in dem ihre Mutter gestorben war, verlassen und die lange, endlose Reise angetreten hatten, hatte sie begonnen, ihre Hautfarbe schätzen zu lernen - selbst in der größten Hitze im Sommer bekam sie nie einen Sonnenbrand. Zuerst hatte sie gedacht, ihr Vater schützte sie mit Hilfe seiner Magie, denn er hatte schwer damit zu kämpfen. Doch dann, als sie begriff, daß ihr Pa gar keine wirkliche Magie, keine Zauberei beherrschte, abgesehen von irgendwelchen Tricks und einfachen Mittelchen, abgesehen von seinem enzyklopädischen Wissen, glaubte sie, daß möglicherweise ihre eigenen Zauberkräfte sie schützten, im verborgenen darauf wartend, daß sie alt und stark genug wäre, damit sie sich zeigen konnten. Doch Pa hatte wieder und wieder betont, daß sie sich keine Hoffnungen auf diese Gabe machen sollte. Und wirklich, welche kleinen, zerbrechlichen Zaubersprüche er auch angewandt hatte, niemals hatten sie auch nur die leisesten Auswirkungen auf sie gehabt. Hatte er mit Hilfe seiner Zauberkräfte eine Tür verschlossen, konnte sie sie öffnen, als hätte der Zauber niemals gewirkt, während Hanna, wenn sie vorbeigekommen war, sich über die geschlossene Tür gewundert hatte. Sie war unempfänglich gegenüber Magie, hatte Pa immer behauptet, so ähnlich wie Stumme, die nicht sprechen konnten. Wie Taube andere sprechen sehen, ohne sie zu hören. Einmal hatte Pa sie dabei ertappt, wie sie laut eine Feuerbeschwörung aus dem Buch aufgesagt hatte. Es war nichts ge81 schehen, doch er war so böse geworden, daß sie in jener Nacht zur Strafe hatte im Schweinestall schlafen müssen. Allerdings hatten ihr die Schweine nichts ausgemacht. »Liath.« Sie erwachte mit einem Ruck, erhob sich und tastete sich zum Fenster. Doch da draußen war niemand. Nur der Wind wisperte in den Bäumen. Nichts rührte sich. Sie bebte, rieb mit den Händen über die Arme. Ihr war nicht richtig kalt; sie fröstelte eher aus Angst. Egal, wieviel sie auch umhergewandert waren, wie sehr sie von einem Tag auf den anderen gelebt hatten - bereit, beim kleinsten Zeichen einer aus geheimnisvollen Tönen zusammengesetzten Melodie, die nur ihr Vater kannte, weiterzuziehen -, er war immer bei ihr gewesen. Hatte auf sie aufgepaßt, egal, was er sonst noch gewesen oder nicht gewesen sein mochte. Hatte sie geliebt. Sie wischte sich eine Träne von der Wange. »Ich liebe dich, Pa«, flüsterte sie in die kühle Nachtluft, doch es kam keine Antwort. Schultheiß Liudolf begleitete sie am nächsten Morgen zum Dorf platz. Das gesamte Dorf war anwesend und auch einige weiter entfernt wohnenden Bauern, die von der Versteigerung gehört hatten und eigens dafür hergekommen waren. Vor der Schenke standen Bänke und Stühle. Liath konnte es Meistrin Birta und Meister Hansal nicht verübeln, daß sie ihren Vorteil aus der unerwarteten Gelegenheit ziehen und ihre Einnahmen aufstocken wollten. Das Angebot des Schultheiß, sich hinzusetzen, lehnte sie ab. Frater Hugh stand schweigend da, während der Schultheiß die aufgelisteten Gegenstände verkaufte, einen nach dem anderen. Denn wie seltsam Pa auch gewesen sein mochte, er hatte immer geholfen, wenn ein Mann
82 oder eine Frau an seiner Tür erschienen waren und es in seiner Macht stand, und ganz sicher war Liath jetzt auch deshalb so arm, weil ihr Vater viel Geld ausgegeben hatte, um anderen helfen zu können - ohne es zurückzuverlangen. Doch obwohl die Beliebtheit ihres Vaters zu hohen Verkaufssummen führte, blieben immer noch ungedeckte Schulden übrig, als alle seine weltlichen Güter verkauft waren. Liudolf stieß mit leichtem Kopfnicken einen seiner großen Seufzer aus, dann schaute er sie an. Die ganze Menge schaute sie an. Im Eingang zur Schenke stand Hanna und starrte zu ihr herüber; ihr Gesicht spiegelte eine Mischung aus Kummer und Wut. Aber sie weinte nicht, nicht Hanna. Eine plötzliche Bewegung sorgte am anderen Ende des Platzes für Aufregung; ein Reiter erschien. Hugh riß den Kopf herum, und der Ausdruck von Verärgerung verzerrte sein schönes Gesicht. »Ivar!« schrie Hanna. Sie rannte los und hielt das Pferd an den Zügeln, während Ivar abstieg. Sie standen zu weit von Liath entfernt, und so konnte sie nicht hören, was die beiden besprachen; sie sah aber, daß Hanna schnell redete und wild gestikulierte. Ivar schüttelte den Kopf. Hanna fügte noch etwas hinzu, etwas Leidenschaftliches, doch Ivar schüttelte erneut den Kopf. Er führte das Pferd über den Platz, Hanna wich nicht von seiner Seite und redete ohne Unterlaß auf ihn ein, bis er schließlich vor dem Schultheiß stehenblieb. Liudolf wölbte die Brauen. »Junker Ivar«, sagte er höflich. »Seid Ihr hier, um im Namen Eures Vaters ein Angebot zu machen?« Ivar warf einen raschen, beinahe verstohlenen Blick auf Liath. Sie und Hanna sahen mit ihren sechzehn Jahren längst nicht mehr aus wie die Mädchen, mit denen er vor zwei Jahren 83 Freundschaft geschlossen hatte, sondern wie Frauen. Ivar hingegen hatte noch immer viel Jungenhaftes an sich und jene unbeholfene Anmut, der er wohl bald entwachsen würde. »Nein«, antwortete er so leise, daß sie es kaum verstehen konnte. Hugh lächelte zufrieden. »Ich habe von Meister Bernards Tod gehört«, fuhr Ivar fort. Er wandte sich um und sah Hugh an. »Ich bin gekommen, um dafür zu sorgen, daß ... daß Liath gut behandelt wird.« Er sagte dies mit einem gewissen Nachdruck, doch als Drohung oder gar Versprechen war es gegenüber Hughs maßlosem Selbstvertrauen nur von geringer Bedeutung. Hugh war mindestens acht Jahre älter als Ivar und besaß jene natürliche Anmut, die dann entsteht, wenn sich die Seele eines Tyrannen mit der Arroganz eines gutaussehenden Mannes verbindet. Und wenn auch Hughs Vater von niedrigem Stand sein mochte - zumindest behauptete das Birta -, war doch seine Mutter eine Markgräfin, die um einige Stufen höher stand als Graf Harl. Bastard oder nicht, Hugh war für größere Dinge ausersehen, und die riesigen Kirchengüter, die ihm seine Mutter und Großmutter übertragen hatten, waren nur der Anfang. Wenn ein Mann auch eher selten in die Rolle des Verwalters von Kircheneigentum schlüpfte - denn wie der Herr sich um die umherziehenden Schafe kümmerte, sorgte sich die Herrin um das Herdfeuer -, war es dennoch nicht ganz unbekannt, besonders dann nicht, wenn es sich um Klöster handelte, die große Gebiete beherrschten. Zumindest hatte Birta dies behauptet, als Frater Hugh im letzten Jahr als Wanderprediger nach Friedleben gekommen war, um sich den hier lebenden Menschen zu widmen. Und Birta war in Friedleben die zuverlässigste Quelle, wenn es um Neuigkeiten, Klatsch und Erzählungen ging. 84 »Schultheiß«, sagte Hugh mit ruhiger, gelangweilter Miene. »Können wir fortfahren? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.« Ivar verzog das Gesicht; er errötete und ballte eine Faust. Hanna griff nach seiner Hand und zog ihn zurück zur Schenke. Alle konnten sehen, daß er sich widerstandslos wegführen ließ, und so war das Bedürfnis der Menge nach einem Schauspiel bereits befriedigt. Liudolf seufzte abermals; er machte bewußt eine Schau daraus, die Münzen und Tauschgegenstände zusammenzuzählen, die der Verkauf von Pas Besitz erbracht hatte. »Wieviel bleibt übrig?« wollte Hugh wissen. »Zwei Goldnomias oder so viele Skeattas, wie diesem Wert entsprechen.« »Es ist eine Schande«, murmelte jemand in der Menge. »Der Preis der Bücher«, flüsterte Liath. Ohne mit der Wimper zu zucken, reichte Hugh dem Schultheiß zwei Münzen. Sie versuchte, einen Blick auf sie zu erhaschen, doch rasch schlössen sich Liudolfs Hände um die Münzen; sein Gesicht zeigte Verblüffung, und Liath fragte sich, ob er wohl schon einmal eine Nomia gesehen hatte. Hugh wandte sich an Liath. »Kommst du mit? Oder muß ich dich hinter mir herschleifen?« Pa hatte immer wieder betont, sie sollte die anderen in dem Glauben lassen, sie wüßte mehr als sie. Liath blickte zu Hanna und Ivar, die zusammen bei der Schenkentür standen und sie beobachteten. Hannas Gesicht war blaß, Ivars gerötet. Liath nickte ihnen kurz zu; sie hoffte, Ruhe auszustrahlen und begann, auf die Kirche zuzumarschieren, die weiter unten an der vom Dorfplatz wegführenden Straße lag. Ihre Bereitwilligkeit überraschte Hugh, und er mußte sich beeilen, sie einzuholen, was sie mit einer gewissen Befriedigung erfüllte. 85 Er packte sie fest am Unterarm, und sie marschierten aus dem Dorf bis zu der Kapelle, traten ein und schritten das Längsschiff entlang in das Labyrinth der dahinter liegenden Räume. Den ganzen Weg gingen sie so, bis zu
der kleinen Kammer, in der sein Bett stand. »Hier.« Er hielt sie noch immer fest. Der Raum war sogar noch üppiger eingerichtet, als Liath erwartet hatte. Frater Robert, der vor Hugh hier als Verwalter gelebt hatte, hatte auf einem Feldbett im Längsschiff geschlafen. In der Kammer befanden sich ein schön geschnitzter Tisch mit Stuhl und eine Holztruhe mit Einlegearbeiten aus leuchtenden Edelsteinen und Emaille. Auf dem Tisch lagen Pergament, drei Federn und ein mit einem Stöpsel versehenes Tintenfläschchen. Ein dicker Teppich mit achtzackigen Sternen bedeckte den Boden; er wirkte teuer. Liath erkannte das Muster, es war ein arethusanisches Zeichen, doch sie hütete sich, es Hugh merken zu lassen. Federdecke und Kopfkissen lagen hoch aufgebauscht auf dem Bett. »Hier wirst du schlafen«, sagte er. »Niemals.« »Dann im Schweinestall.« »Mit Freuden, solange die Schweine mich vor Euch bewahren.« Er schlug zu. Ihre Haut brannte noch, als er sie gewaltsam an sich heranzog und auf den Mund küßte. Es gelang ihr, eine Hand zwischen sich und ihn zu schieben und Abstand zwischen ihnen zu schaffen. Er lachte auf, wild und etwas atemlos. »Du Närrin. Meine Mutter hat mir die Abtei von Fiersbarg versprochen, sobald der alte Abt gestorben ist. Mit der Abtei habe ich Zugang zur Rundreise des Königs, wenn ich will. Und in zwei oder fünf Jahren ist der Presbyterstab in meinen Händen, und ich gehöre zu denen, die die Skopos beraten. Du mußt mir nur das Buch 86 geben und mir zeigen, was dein Vater dich gelehrt hat, dann gibt es nichts, was wir beide nicht erreichen könnten.« »Ihr habt Euch die Bücher bereits selbst genommen. Ihr habt sie gestohlen. Damit hätte ich die Schulden bezahlen können und wäre jetzt frei.« Sein Gesichtsausdruck jagte ihr einen Schauer über den Rücken. »Du wirst niemals frei sein, Liath. Wo ist das andere Buch?« »Ihr habt Pa getötet.« Er lachte. »Das habe ich natürlich nicht getan. Er ist an Herzversagen gestorben, genau wie Schultheiß Liudolf gesagt hat. Wenn du einen anderen Verdacht hast, meine Schöne, solltest du ihn vielleicht mir anvertrauen. Noch einen Sommer, und dein Vater hätte mich sowieso ins Vertrauen gezogen. Du weißt, daß das wahr ist.« Es stimmte. Pa war einsam gewesen, und Hugh, was immer er sonst noch war, konnte sehr charmant sein. Pa hatte ihn gemocht, seine schnelle Auffassungsgabe, seine Neugier, selbst seine Arroganz, denn Hugh hatte die sonderbare Angewohnheit, Pa zu behandeln als wäre er von gleichem Stand. Und genau das schien Pa erwartet zu haben. »Pa hat niemals ein Gespür für Freunde gehabt«, wagte sie zu sagen, um die aufwühlenden Gedanken abzuschütteln. »Ich weiß, daß du mich nie gemocht hast, Liath, aber ich verstehe nicht, warum. Ich habe dir nie etwas getan.« Er legte ihr zwei Finger unters Kinn und hob ihren Kopf, so daß sie gezwungen war, ihn anzusehen. »Tatsächlich gibt es in diesem Dorf, ja in diesem ganzen, langweiligen Ödland keine andere Frau, der ich jemals mein Bett anbieten würde - und ich habe mit einer Herzogin geschlafen und eine Königin zurückgewiesen. Wenn ich erst Abt von Fiersbarg bin, kannst du dein eigenes Haus haben, deine eigenen Bediensteten, ein Pferd. Was 87 immer du willst. Und ich habe nicht vor, mein ganzes Leben in Fiersbarg zu verbringen. Ich habe Pläne.« »Wenn Ihr Pläne habt, können es nur verräterische sein.« Sie entwand sich seinem Griff. »König Henry und die Skopos haben Zauberei niemals toleriert. Nur Prinzessin Sabella heißt Ketzer in ihrer Gesellschaft willkommen.« »Wie wenig du doch von der Kirche weißt, meine Schöne. Zauberei ist nicht Ketzerei. Tatsächlich geht die Skopos gewöhnlich härter gegen die Ketzerei als die Zauberei vor. Zauberei ist von der Kirche nur dann verboten, wenn sie nicht unter Aufsicht der Skopos ausgeführt wird. Ich frage mich, was dein Pa dir beigebracht hat. Du würdest überrascht sein, wenn du wüßtest, wie tolerant König Henry und die edle Prinzessin sein können, wenn die Mittel nur ihren Zielen dienen. Wo hast du das Buch versteckt?« Sie wich zur Tür zurück und enthielt sich einer Antwort. Er lächelte. »Ich bin geduldig, Liath. Herrin und Herr, was haben deine Eltern sich nur dabei gedacht, ihrem Kind einen alten arethusanischen Namen zu geben? Liathano. Ein alter Name, voller Erinnerungen an Zauberei. Zumindest das hat dein Pa mir verraten.« »Als er zuviel getrunken hatte.« »Wird es dadurch weniger wahr?« Sie schwieg. »Wo ist das Buch, Liath?« Als sie immer noch nicht sprach, schüttelte er den Kopf, weiterhin ein Lächeln auf den Lippen. »Ich habe Geduld. Was wird es also sein? Mein Bett oder der Schweinestall?« »Der Schweinestall.« Im Bruchteil einer Sekunde hatte er ihr Handgelenk gepackt und schlug ihr hart ins Gesicht. Dann schlang er seine Arme fest um sie und fuhr mit den Fingern ihren Rücken entlang. Sein Atem verteilte sich heiß auf ihrem Nacken. Sie stand starr und steif da, doch als er begann, sie in Richtung des Bettes zu drängen, wehrte sie sich. Sie konnte ihm ein Bein stellen und ihn zum Stolpern bringen. Sie fielen hin, und sie machte sich frei, wollte schon aufstehen. Er lachte
und riß sie so hart zurück, daß sie sich auf dem Steinboden die Knie aufschlug. Der Schmerz raubte ihr beinah den Atem. Dann ließ er sie los und stand auf. Er keuchte schwer. Er verbeugte sich in sehr formeller, höfischer Manier und reichte ihr die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. »Du kommst freiwillig in mein Bett oder gar nicht.« Er zog ein Stück weißen Stoff aus seinem Gürtel hervor, wischte ihre Hand damit ab und neigte sich dann herab, um ihr einen Handkuß zu geben. »Meine Dame«, sagte er. Sie war zu benommen, um seinem Ton entnehmen zu können, ob es spöttisch oder ernst gemeint war. Seine goldfarbenen Haare streiften ihre Hand, und er richtete sich wieder auf. »Sie ist dunkel und schön, diese Tochter von Sais, berührt vom Atem der Sonne. Wende deine Augen von mir ab; sie leuchten so hell wie der Morgenstern.« Sie wischte ihre Hand hinter ihrem Rücken an der Tunika ab. »Also gut. Du wirst die Schweine und Hühner füttern, diesen Raum wischen, mir das Bad bereiten und dann Meistrin Birta erzählen, daß sie mir fortan nicht mehr zweimal täglich eine Mahlzeit bereiten und bringen lassen muß. Du kannst doch kochen, nehme ich an?« »Ich kann kochen. Darf ich jetzt gehen?« Er trat zur Seite, so daß sie gehen konnte, doch sie hatte gerade den schmalen Flur erreicht, als er ihren Namen rief. »Liath.« Sie wandte sich um; er stand im Türrahmen. Selbst im Zwielicht dieses kleinen Labyrinths aus Räumen schien er mit seinen goldenen Haaren, der glatten Leinenrobe und sei89 ner schönen, sauberen Haut zu strahlen, als er sie beobachtete. »Möglicherweise hältst du es tatsächlich den ganzen Sommer im Schweinestall aus, doch ich glaube kaum, daß du es auch noch mögen wirst, wenn erst einmal der Winter mit seiner Kälte angebrochen ist.« Wie weit würde sie kommen, wenn sie versuchte wegzulaufen? Ein nutzloser Gedanke. Sie würde nicht weit kommen, und selbst wenn sie es schaffte, ihm zu entrinnen, hatte sie nichts, um überleben zu können. Sie hatte in den acht Jahren ihrer Flucht gesehen, daß es weit schlimmere Umstände gab als diese. Hugh kicherte; er hielt ihr Schweigen für eine Antwort. »Sag Meistrin Birta, sie soll eine Rechnung für alle Nahrungsmittel und Güter machen, die du bei ihr kaufst. Ich werde jeden Herrintag bezahlen. Ach, und ich erwarte gute Mahlzeiten. Du wirst zusammen mit mir essen. Jetzt geh.« Sie ging. Als sie nach draußen trat, um die Tiere zu füttern, die in dem Stall entlang der Lagerräume untergebracht waren, sah sie draußen zwischen den Bäumen einen Reiter. Es war Ivar. Er bewegte sich, als er sie sah. Sie winkte ihn verzweifelt weg. Denn auf dem Federbett in Frater Hughs Zimmer hatte sie noch etwas gesehen - ein schönes, langes Schwert mit vergoldetem Heft in einer roten Lederscheide. Das Schwert eines Edelmannes. Sie zweifelte nicht daran, daß Hugh es zu führen wußte und auch nicht zögern würde, es sogar gegen den Sohn des hier herrschenden Grafen anzuwenden. Ivar zügelte sein Pferd und blieb aufrecht sitzen; er beobachtete sie, während sie arbeitete. Nach einer Weile ging sie hinein. Als sie mit zwei Eimern an einer Stange über den Schultern wieder herauskam, war Ivar verschwunden. III Schatten aus der Vergangenheit
1 Die Reise von Osna zur Burg Lavas dauerte gewöhnlich fünf Tage, wie Alain vom befehlshabenden Feldwebel erfahren hatte. In diesem Frühling jedoch waren es fünfzehn, denn die Kastellanin ließ in jedem Dorf und in jedem Weiler halt machen, um Steuern und Pacht einzutreiben oder junge Menschen für den Dienst im kommenden Jahr mitzunehmen. So trafen sie genau an St. Marcia auf der Burg ein. Alain staunte nicht schlecht beim Anblick der Festung. Ein hoher Palisadenwall zog sich um die Burg des Grafen, während ein anderer, kleinerer die auf einer Anhöhe errichtete Holzhalle mit dem Burghof und dem Steinturm umgab. Das Dorf breitete sich jenseits des äußeren Walls aus; es erstreckte sich bis hinunter zu den Ufern eines träge dahinfließenden Flusses. Ihm blieb nicht viel Zeit zum Staunen. Rasch wurden er und die anderen in den gewaltigen äußeren Hof der Festung getrie91 ben, wo sie sich in mehreren Reihen hintereinander aufstellen und darauf warten mußten, daß die Kastellanin und ihre Begleiter einen Tisch aufgebaut hatten und die Neuankömmlinge einzeln zu sich kommen ließen. Alain fand sich in einer Gruppe aus jungen Männern wieder, und schon bald stand er Feldwebel Fall gegenüber. »Kannst du reiten? Hast du schon einmal einen Speer geführt? Vielleicht mit Pferden gearbeitet? Nein, natürlich nicht.« Der kräftige Mann winkte schon den nächsten zu sich.
»Aber -« begann Alain verzweifelt. Hatte die Herrin der Schlachten ihm nicht verheißen, daß er die Kriegskunst erlernen würde? »Weiter, weiter! Wir haben keine Zeit, neue Rekruten auszubilden, nicht jetzt. Graf Lavastin ist bereits den Aikha auf den Fersen, und wir folgen in zwanzig Tagen mit einer zweiten Streitmacht. Geh in eine andere Gruppe und verschwende nicht länger meine Zeit, Junge.« Derart in die Schranken verwiesen, schloß Alain sich einer anderen Gruppe an. Diesmal war es eine aus Frauen und Männern gemischte; Burschen seines Alters waren darin und noch nicht ganz zu Frauen gereifte Mädchen. Schließlich kam er an die Reihe, und Kastellanin Dhuoda stellte ihm einige Fragen. Er hörte kaum seine eigenen Antworten. Obwohl ein sauberes Leinentuch ihre Haare bedeckte, lugten immer wieder einige Haarsträhnen hervor, strubbelige, rötliche Locken, die sich an Stirn und Ohren kringelten. »Was für ein Akzent!« sagte sie zu dem jungen Geistlichen in einer schlichten, braunen Robe, der neben ihr saß und die Liste für Graf Lavastin ergänzte. »Nun, Junge, Meister Rodlin kann dich im Stall gebrauchen. Wer kommt als nächstes?« »Aber Bruder Gilles hat mir die Buchstaben beigebracht. Ich kann sie alle ordentlich schreiben.« 92 Der Frater schaute interessiert auf. Etwas Wildes lag in seinem Blick, wie bei einem Falken. »Kannst du lesen?« wollte er wissen. »Nein ... ich kann noch nicht lesen, aber ich bin sicher, ich könnte es mit den Geistlichen lernen. Ich kann zählen -« Der Frater schaute bereits weg, richtete sein Augenmerk auf die nächste Person in der Reihe. Alain wandte sich verzweifelt wieder an Kastellanin Dhuoda. Das alles entwickelte sich ganz und gar nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. »Sicher erinnert Ihr Euch an meine Tante Bei, die sagte, daß ich als -« »Weiter!« sagte Dhuoda. Eine junge Frau trat vor und nahm Alains Platz ein, und so hatte er keine andere Wahl, als zu tun, was man von ihm verlangte. Er fand die Ställe und wurde sofort mit einer Arbeit betraut, die jeder Idiot hätte erledigen können: Er mußte einen Wagen mit Dung füllen und auf die Felder bringen. Seine einzige Gesellschaft bei dieser Aufgabe war ein Schwachsinniger namens Simplizius, ein klapperdürrer Junge, der ungefähr in seinem Alter sein mochte, fürchterliche O-Beine und noch dazu einen mißgestalteten Kiefer hatte, der es ihm unmöglich machte, richtig zu sprechen. Er war unberechenbar und neigte dazu, die Wolken anzustarren oder den Esel zu streicheln, statt seine Arbeit zu erledigen. Doch Alain brachte es nicht übers Herz, mit dem armen Kerl böse zu sein. »Ich sehe, du kommst gut zurecht mit unserem Simplizius«, sagte Meister Rodlin an diesem Abend, als die beiden Jungen Käse, Brot und eine Zwiebel zum Essen erhalten hatten. »Du kannst den Dachboden mit ihm teilen. Aber paß auf, daß die neuen Jungen ihn nicht zu sehr aufziehen. Er ist ein harmloses Bürschchen, und die Tiere vertrauen ihm, denn ich schätze, sie wissen, daß er genauso dumm ist wie sie.« Simplizius gab ein seltsam schniefendes Geräusch von sich 93 und sammelte die Brotkrumen vom Boden auf. Mit diesem Schatz in den Händen ging er nach draußen und stand da, die offene Hand weit von sich gestreckt, den Blick gen Himmel gerichtet, während er unruhig vor und zurück wippte. Meister Rodlin murmelte etwas, nicht ganz ohne Mitleid. »Er glaubt, die Vögel kommen und fressen ihm aus der Hand«, erklärte er. »Aber Diakonissin Waldrada sagt, es ist unsere Pflicht als gute Daisaniter, daß wir die Schwachen beschützen. Und der Junge wurde hier, im Schatten der Festung, geboren. Seine Mutter starb während der schweren Geburt, und das Kind wäre wohl besser auch gestorben, das armselige Geschöpf.« »Ich bin hier geboren«, sagte Alain. »Auf Burg Lavas, meine ich.« Rodlin blickte plötzlich viel interessierter drein. »Wer war deine Mutter?« »Das weiß ich nicht.« »Aha«, meinte Rodlin wissend. »Du bist ein Pflegekind, nicht wahr? An einem Ort wie diesem gibt es immer eine Frau oder zwei, die nicht zugeben können, wessen Kind sie geboren haben, und es daher weggeben müssen.« »Sie hat mich nicht weggegeben. Sie ist während der Geburt gestorben.« »Hatte sie keine Familie? Was ist mit deinem Vater?« Alain senkte den Kopf, als er sah, daß der interessierte Ausdruck auf Meister Rodlins Gesicht einem schwachen, gleichgültigen Lächeln wich: Er hatte in ihm den unerwünschten Bastard irgendeiner Hure erkannt. »Also weiter«, fuhr der Stallmeister fort. »Ihr arbeitet in den Ställen. Nur geht nicht zu den Zwingern.« »Es sind doch gar keine Hunde darin.« »Es werden welche dasein, wenn Graf Lavastin zurückkehrt. 94 Und sie werden dich auf der Stelle töten, Junge. Vergiß das niemals und gewöhne dir bloß nicht an, dort vorbeizugehen - zu deinem eigenen Besten. Siehst du diese Narbe?« Er deutete auf eine zackige, weiße Narbe, die von einem Ohr bis zur Schulter führte. »Das waren die Hunde, und sie haben mir noch viel mehr angetan. Halte dich von ihnen fern, und dir wird nichts passieren.« »Warum hält sich der Graf so bösartige Hunde?« fragte Alain, aber Rodlin war schon aufgestanden, um sich wichtigeren Pflichten zu widmen, statt mit einem mutterlosen Stallburschen ein Schwätzchen zu halten.
Simplizius trat herein, die Brotkrumen noch immer in der Hand. Er blickte ziemlich niedergeschlagen drein. Alain schneuzte sich die Nase und wischte sich den Heustaub von den Lippen. »Ich nehme nicht an, daß du mir etwas über die Hunde sagen kannst«, sagte Alain. »Och«, sagte Simplizius. »Unne ach Immel gän.« Alain lächelte den Schwachsinnigen traurig an. Aber war es nicht lediglich Selbstmitleid, wenn er diesen halbwüchsigen Jungen bedauerte, der nicht länger ein Kind war und doch niemals in der Lage sein würde, ein wirklicher Mann zu werden? In Osna war er Bels Neffe gewesen, und das hatte eine ganze Menge bedeutet. Hier war er nur irgendein Dorfjunge vom Land, der weder mit dem Schwert umgehen konnte, noch sonst irgendeine besondere Fähigkeit besaß, der auch keine Familie hatte, die ihm zu Hilfe kam. So hatten sie ihn zum Stallburschen gemacht und ihm aufgetragen, Dung zu schaufeln. Doch er hatte noch immer seinen Verstand und seine Kraft und einen gesunden Körper. »Komm«, sagte er zu Simplizius. Er packte den Schwachsinnigen am Ellenbogen und führte ihn nach draußen in die Dämmerung. Ein Ring aus Schatten lag jetzt um den Steinturm, 95 und die letzten Sonnenstrahlen schienen auf das Banner über dem Palisadentor: zwei schwarze Hunde auf einem silbernen Feld - das Wappen der Grafen von Lavas. »Öffne deine Hand. Hier, ich lege meine darum. Jetzt müssen wir nur noch stillstehen ...« Und so standen sie da, während die Dämmerung sich herabsenkte und die Tiere im Stall scharrten und stampften. Auf dem äußeren Hof kehrte Ruhe ein. Ein Spatz flog aus dem Zwielicht auf sie zu und ließ sich auf Alains Zeigefinger nieder, der zwischen den kleineren von Simplizius hervorlugte. Er pickte nach einem Krumen. Simplizius jauchzte vor Vergnügen, und der Vogel flatterte davon. »Schsch«, machte Alain. »Du mußt ganz leise sein.« Wieder warteten sie, und schon bald kam ein neuer Spatz, und dann ein dritter. Sie alle fraßen die Krumen aus der Hand des Schwachsinnigen, der vor Freude still in sich hineinweinte. Meister Rodlin verhielt sich gleichgültig gegenüber Alain, solange er tat, was ihm befohlen wurde. Tatsächlich verhielten sich alle gleichgültig ihm gegenüber, in diesem ersten Monat, in dem Feldwebel Fall mit den neuen Soldaten Übungen machte. Alain sah zu, wie die anderen Jungen kleine Streitereien anzettelten, die sich zu Faustkämpfen und einmal auch zu einer Messerstecherei entwickelten. Er sah, peinlich berührt und doch von schändlicher Neugier getrieben, den jungen Soldaten dabei zu, wie sie mit den Dienstmädchen anbändelten und zusammen mit ihnen in einer dunklen Ecke des Dachbodens verschwanden. Eingehend beobachtete er die erfahreneren Männer dabei, wie sie ihre Waffen vorbereiteten und ihre Fähigkeiten im Kämpfen verbesserten. An St. Kristina, dem Tag der heiligen Märtyrerin der Stadt Gent, traf eine Berittene in den Farben der Adler des Königs 96 ein, um dem Grafen eine Nachricht zu überbringen. Während des Abendessens bemerkte Alain, der an den Tischen der Geringeren saß, wie sich die Unterhaltung zwischen dem Adler und der Kastellanin am oberen Tisch in einen Streit verwandelte. »Es handelt sich nicht um eine Bitte«, sagte der Adler mit offensichtlichem Unwillen. »König Henry erwartet von Graf Lavastin, daß er sich seiner Rundreise anschließt. Wollt Ihr etwa sagen, daß der Graf sich weigert?« »Ich sage lediglich«, erwiderte Dhuoda in aller Ruhe, »daß ich Feldwebel Fall eine Botschaft für den Grafen mitgeben werde, wenn er in zwei Tagen mit seiner Kompanie ausrückt. Ich bin sicher, Graf Lavastin wird so schnell wie möglich entsprechende Handlungen einleiten, wenn er am Ende des Sommers zurückkehrt.« »König Henry würde es als ein Zeichen der Loyalität des Grafen werten, wenn Ihr den Feldwebel und seine Kompanie zusammen mit mir zu ihm zurückschickt.« »Das ist eine Entscheidung, die allein der Graf treffen kann.« Dhuoda ließ mit einer knappen Handbewegung noch mehr Bier bringen, und Alain begriff, daß nur den wirklich willkommenen Besuchern Wein ausgeschenkt wurde - was dieser Adler ganz bestimmt nicht war. »Die Aikha haben in diesem Frühling bereits ein Kloster und zwei Dörfer niedergebrannt. Der Graf braucht jeden Mann, um sie zurückzuschlagen und sein Land zu beschützen. Doch natürlich werde ich in der Nachricht an den Grafen all das berücksichtigen, was Ihr mir erklärt habt.« Alle - und ganz besonders der Adler - wußten, daß Dhuodas Antwort formal einwandfrei sein mochte, aber dennoch ein Ausweichen bedeutete. Am nächsten Tag reiste der Adler mit verärgerter Miene ab. 97 Einen Tag später rückte auch Feldwebel Fall mit seiner Kompanie aus. Die übrigen Pferde und das Vieh wurden auf die Sommerweiden geschafft - bis auf ein paar Arbeitspferde, die Esel sowie ein altes Schlachtroß und eine lahme Kuh, die noch Milch geben konnte. Die meisten Leute im Dorf arbeiteten auf den Feldern, kümmerten sich um ihre Gemüsegärten oder sammelten Früchte in den Wäldern jenseits des Ackerlandes. Die wenigen auf der Burg zurückbleibenden Bediensteten machten sich so eifrig an die Arbeit, daß ihnen in den langen, angenehmen Abendstunden viel Zeit zum Trinken und Würfeln blieb. Niemand bemerkte Alain; niemand kümmerte sich darum, ob und wie er seine Arbeit machte. Jede Nacht, wenn er neben Simplizius auf dem Dachboden über den Ställen lag, berührte er den hölzernen Kreis der Einheit, den
Tante Bei ihm mitgegeben hatte, zog dann die Schnur mit der Rose heraus und befühlte die weichen Blütenblätter. Die Vision, die er vom Drachenrücken oberhalb des Osna-Sunds gesehen hatte, schien jetzt weit, weit weg zu sein. Wäre da nicht die blutrote Rose gewesen, die er als Halskette unter seinem Hemd trug und die weder welkte, noch verkümmerte, er hätte das Ganze für eine aus Sturm und Kummer geborene Illusion gehalten. Ein ruhiger Monat verstrich. Alain, der von einem Seefahrer geschult worden war, beobachtete den Himmel, sooft er wolkenlos war; und so verging der eine Vollmond, und der nächste kam und verging. Simplizius führte ihn zu hellen, tief im Wald versteckten Lichtungen und zeigte ihm Beerenbüsche, an denen die besten Früchte reiften. Er stieß auf einen Pfad, der noch weiter in die Berge hinaufführte, doch der Schwachsinnige bekam es mit der Angst und zerrte ihn weg. Alain befragte Meister Rodlin nach alten Waldwegen, doch der Stallmeister erwiderte nur, daß alte Ruinen in den Bergen 98 dahinter lägen und daß bereits mehr als nur ein dummer Junge sich das Bein oder den Arm bei dem Versuch gebrochen hatte, die bröckligen Wände zu erklimmen. Auf jeden Fall handelte es sich auch hier, wie bei den Hundezwingern, um etwas, dem sogar der Schwachsinnige auswich. Jetzt, da der größte Teil der Ställe leer stand, bekam Alain all die niederen Arbeiten zugeteilt, die keiner tun wollte. Immer öfter vertrieb er sich die Zeit damit, im leeren Stall auf die Schaufel gelehnt ins Nichts zu starren. Jener Augenblick auf dem Drachenrücken, als die Herrin der Schlachten ihn mit dem furchterregenden Schwert bedacht hatte, schien jetzt wie ein Traum. Wie konnte er zu etwas Besonderem auserwählt sein? Es sei denn, das Putzen von Latrinen war etwas Besonderes. »Oh. Hier ist er ja«, erklang eine weibliche Stimme. Die Feststellung wurde von einem Kichern begleitet. Alain wirbelte herum. Zwei der Küchenmädchen standen in der Stalltür, die der frischen Luft wegen geöffnet war. Ein heller Lichtschein umgab sie, beleuchtete auch einen feinen Staubregen, der auf ihre zerzausten Haare herabschwebte. Heu rieselte vom Dachboden herunter und fiel in die leeren Eimer in ihren Händen. Eines der Mädchen nieste. Das andere kicherte erneut. Alain errötete, doch fest entschlossen ging er weiter auf die Tür zu. Es widerstrebte ihm, sich von zwei Dienstmädchen, die nicht älter waren als er, einschüchtern zu lassen - Mädchen zudem, die ihn niemals auch nur eines zweiten Blickes gewürdigt hätten, wären außer ihm, dem alten Raimond und dem schwachsinnigen Simplizius noch andere Männer zugegen gewesen. Das blauäugige Mädchen schob ihre Schultern leicht nach vorn, als er vorbeiging - weit genug, daß ihr Kleid verrutschte und ein verführerisches Fleckchen Haut preisgab. 99 Er stolperte auf ebenem Boden. »Heißt du nicht Alain?« fragte Blauauge. Sie wollten ihn nur necken. Er wußte es. Und doch mußte er stehenbleiben. »Ja.« Er spürte, daß er noch immer rot war. »Hast du von den Ruinen dort hinten auf dem Berg gehört?« fragte Blauauge, während sie sich wieder gerade hinstellte. Ihre Freundin, deren Augen von einem unbeschreiblichen Haselnußbraun waren, kicherte wieder, dann schob sie eine Hand vor den Mund, um ihre schiefen Zähne zu verbergen. »Ich habe davon gehört«, sagte Alain vorsichtig. »Witti, das traust du dich nicht!« gluckste die Freundin mit einem unterdrückten Kichern. Blauauge warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Ich bin nicht diejenige, die sich nicht traut.« Sie sah Alain wieder an. »Woher kommst du?« »Aus Osna«, sagte er stolz, doch sie schauten ihn nur verständnislos an; von einem solchen Ort hatten sie noch niemals gehört. »Er heißt auch Drachenrücken, wegen des großen Kamms, der -« Aus irgendeinem Grund brachen bei diesen Worten beide Mädchen in wildes Gelächter aus, so als hätte er etwas Anrüchiges gesagt. »Drachenrücken heißt es jetzt?« fragte Blauauge schließlich. Sie war die Hübschere der beiden, obwohl sie eine offene Wunde an der Lippe hatte und ihre Haare so schmutzig waren, daß die Farbe nicht mehr zu erkennen war. »Ich werde heute abend bei Sonnenuntergang zu den Ruinen gehen. Es heißt, daß in der Mittsommernacht die Geister der Dämonen umherwandeln!« Sie zwinkerte Alain mit ihren blauen Augen zu, legte die Hände an die Hüften und stieß sie mit einem leichten Ruck herausfordernd ein Stück in seine Richtung. Er wußte, 100 daß er wieder errötete, wie sehr er sich auch dagegen wehrte. Witti war eines von den Mädchen, die die Soldaten mit auf den Heuboden nahmen. Bis zu diesem Tag hatte sie noch nie Zeit oder Augen für ihn gehabt. Er holte tief Luft. »Diakonissin Waldrada sagte in der Predigt, daß diese Ruinen weder von Teufeln noch Dämonen errichtet worden wären. Sie sagte, es wären die Menschen aus dem alten dariyanischen Kaiserreich gewesen, vor langer Zeit, noch bevor Kaiser Taillefer über all diese Länder herrschte. Menschen wie wir. Oder vielleicht Elfen.« »Oh, was für ein gebildeter, junger Mann er ist! Was war dein Vater? Der Abt der >Drachenrücken-Abtei< beim Drachenrücken mit einem süßen, unschuldigen Dorfmädchen?« Sie lachte, und auch Schiefzahn lachte.
»Mein Vater ist ein Händler und ein guter, ehrenvoller Mann! Er leistete seinen Dienst beim alten Grafen. Und die Brüder des Drachenschwanz-Klosters sind tot, sie wurden bei einem Überfall der Aikha in diesem Frühling ermordet. Die Herrin verschmäht all jene, die über das Unglück anderer spotten !« »Huh«, sagte Schiefzahn verächtlich. »Du klingst ja selbst wie ein Geistlicher. Wahrscheinlich hältst du dich für zu gut für uns, was? Ich gehe, Witti.« Mit einer schwungvollen Bewegung beförderte sie die Eimer nach draußen und verschwand in Richtung des Brunnens. Witti blieb noch. »Ich gehe trotzdem da hoch.« Sie folgte ihrer Freundin, blieb jedoch noch einmal stehen und warf ihm einen schelmischen Blick über die Schulter zu. »Wenn du mutig bist, kannst du mich da treffen. Vielleicht zeige ich dir was, das du noch nie gesehen hast.« Dann drehte sie sich wieder zu Schiefzahn um. »Warte auf mich!« Das Ausgraben der Latrinen war eine derart widerliche Ar101 beit, daß er richtig erleichtert war, als Meister Rodlin ihn zu sich rief. Feldwebel Fall war mit einer Kompanie Soldaten zur Festung zurückgekehrt, und Alain half beim Ausladen der Wagen. Dann wusch er sich das Gesicht und die Hände und spülte die Schuhe ab, bevor er zum Essen ging. Kastellanin Dhuoda war nach Osten geritten, um die Braut von Lavastins Cousin nach Burg Lavas zu begleiten, wo sie den Rest ihrer Schwangerschaft verbringen sollte. Wegen der großen Sommerhitze und weil der Graf nicht anwesend war, hatte die Köchin zwei Bänke und Tische hinter der Küche aufgestellt. Den einen Tisch nahmen die Soldaten ganz für sich in Anspruch; sie rühmten sich ihrer großen Heldentaten und verzehrten mit gleich großer Begeisterung die Mahlzeit aus Weizenbrot, Erbsenbrei, geröstetem Fisch und Beeren. Feldwebel Fall saß am Kopfende; er ließ sie gewähren. Simplizius hatte allein am Ende des anderen Tisches Platz genommen. Wären die Soldaten nicht so sehr mit Witti, Schiefzahn und einer anderen, schwarzhaarigen Frau beschäftigt gewesen, sie hätten ihn vermutlich weggejagt. Alain ließ sich neben dem Schwachsinnigen nieder und wurde dafür mit einem Lächeln und einem seiner unverständlichen Sätze belohnt. »Und dann«, fuhr Feldwebel Fall damit fort, von den Neuigkeiten zu berichten. Er hatte eine Narbe auf der linken Wange, die noch nicht dagewesen war, als sie ausgerückt waren. »Und dann fordert uns der Graf auf, nach Osten zu reiten, um dort auf die Rundreise des Königs zu stoßen -« »Nein!« rief Alma, die Köchin. »Sagt, daß es nicht so ist! Graf Lavastin hat sich entschieden, Henry die Treue zu schwören?« Alain hielt den Atem an. Obwohl er seinen Erbsenbrei noch nicht einmal zur Hälfte aufgegessen hatte, legte er den Löffel hin, um besser zuhören zu können. 102 »Ich denke nicht«, sagte der Feldwebel. »Ich denke, er wollte Henry nur um Hilfe bitten, weil diese Überfälle so schlimm geworden sind. Doch soweit kam es gar nicht. Denn ein Bursche aus dem Westen tauchte bei uns auf und erklärte, daß die Aikha schon wieder zugeschlagen hätten.« Alma rieb sich das Kinn. »Aber sie haben bereits beide Klöster an der Küste niedergebrannt, wie wir hörten. Ich dachte immer, da unten gäbe es sonst nichts, was wohlhabend genug wäre, um ihr Interesse zu wecken.« »Nicht entlang der Küste, aber wenn sie ein Stück den Mese hinaufsegeln, kommen sie an St. Synodius vorbei, einem Stiftskloster vom Großvater des Grafen. Und dann finden sie auch den Weg nach Burg Lavas.« »Als ich noch ein junger Bursche war«, sagte der alte Raimond mit seiner typisch mißmutigen Stimme, »haben wir die Gesetze der Kirche befolgt. Unser Glaube genügte, um diese Barbaren von Varre fernzuhalten.« Wie zur Betonung knallte er den Zinnbecher auf den Tisch. »Bevor Henry einen Thron bestieg, der ihm nicht zustand. Als ich ein Junge war, plünderten und verwüsteten die Aikha das Gebiet östlich und nördlich von Salia. Selbst hierhin flüchteten einige Salianer vor ihnen.« Raimond war so alt, daß er völlig kahl war, und sein Bart bestand nur noch aus einzelnen Strähnen. »Das war, als Taillefers letzte Tochter noch lebte. Doch obwohl sie Bischof in war, gelang es weder ihren Gebeten noch den Truppen des salianischen Königs, die Aikha zu vertreiben. Am Ende mußten sie sie bezahlen.« Er gluckste leise, befriedigt über die Festeilung, daß der Herr und die Herrin die Salianer nicht mochten. »Es waren harte Zeiten, das kann ich sagen.« Einer der jungen Soldaten lachte. »Woher willst du wohl etwas über die Vorgänge in Salia wissen, wenn du niemals einen Fuß auf Land gesetzt hast, das nicht zur Burg Lavas gehört?« 103 Er schnaubte zufrieden über seine Erwiderung und rief nach mehr Bier. Feldwebel Fall gab ihm einen Schlag auf den Kopf. »Untersteh dich, Herik! Du respektierst den alten Mann, verstanden? Es würde mich wundern, wenn du so lange am Leben bleibst wie er!« Die anderen Soldaten kicherten. »Auch mein alter Onkel sagte, daß der salianische König die Aikha bezahlen mußte, damit sie wieder verschwanden, und daß sie erst gingen, nachdem sie das Land geplündert hatten. Nun« - er wandte sich jetzt an die Köchin - »ich weiß nicht, was es mit Prinzessin Sabella und ihrem Banner oder der Rundreise des Königs auf sich hat. Ich weiß nur, daß wir auf Befehl des Grafen ausgesandt wurden, Bischöfin Thierra zu bitten, Kirchengold zu spenden, denn wir brauchen mehr Waffen und andere Vorräte. Es gab in diesem Jahr zu viele Überfälle der Aikha. Graf Lavastin benötigt Hilfe.« Witti blieb beim Feldwebel stehen; nah genug, daß ihre Kleider seine berührten und leicht raschelten. »Stimmt
es, daß die Aikha von Drachen abstammen? Daß sie Schuppen haben wie eine Schlange? Und Klauen?« Alain schauderte. Wittis Interesse war beinah obszön. »Ich habe was viel Schlimmeres gehört«, sagte der Feldwebel und legte eine Hand auf ihre Hüfte. »Falls du den Mut besitzt, es zu hören.« »Aber sicher!« Er grinste. »Also schön. Man sagte mir einmal, die Aikha wären durch verbotene Magie und einen Fluch entstanden. Ein großer Drache war getötet worden, so hieß es, und als er starb, sprach er einen Fluch über all diejenigen aus, die seinen Körper entweihen würden. Doch die Frauen aus dem Dorf hatten zu viele Geschichten von der großen Macht des Drachenherzens gehört - einer Macht, mit der sie jeden Mann betören 104 konnten. Also schlitzten sie den Körper des Drachen auf, schnitten das blutige, dampfende Herz heraus und teilten es untereinander.« »Sie haben es gegessen?« Witti zog ein säuerliches Gesicht; sie wand sich aus der scheinbar zufälligen Umarmung des Feldwebels. »Sie haben es gegessen, Stück für Stück. Und schon bald waren die Frauen schwanger, und am Tag der Geburt brachten sie Ungeheuer zur Welt!« Seine Zuhörerschaft war mucksmäuschenstill, und alle zuckten bei dem Wort »Ungeheuer« zusammen. Der Feldwebel gluckste; er war zufrieden mit dem Erfolg seiner Geschichte. »Also diese gräßlichen Kinder sind dann angeblich in den Norden geflüchtet und niemals wieder aufgetaucht. Bis diese Wesen, die wir Aikha nennen, zu plündern begannen.« »Ich habe einen toten Aikha gesehen.« Raimond schien von der Geschichte unbeeindruckt. »Er hatte keine Klauen, aber seine Haut war fest wie Leder und glänzte wie poliertes Gold.« Der junge Herik kicherte wieder. »Wie poliertes Gold! Das waren wohl eher Rüstungen, die sie den Salianern gestohlen hatten. Ich hörte, sie rauben Frauen, und wofür sollten sie die wohl brauchen ...« - hier hielt er einen Augenblick inne, und seine Blicke wanderten frech an Witti auf und ab - »... wenn sie selbst die Brut von Drachen sind? Nein, es sind ganz gewöhnliche Menschen wie du und ich.« »Ach ja«, meinte Witti so verächtlich wie möglich. »Und ich nehme an, du glaubst auch, daß die Ruinen in den Bergen von Menschen wie du und ich stammen und nicht von Dämonen und Teufeln und anderen unheiligen Kreaturen?« »Sei still, Witti«, befahl Alma energisch. Herik lachte, ebenso wie einige seiner Kameraden. Der Feldwebel lachte nicht. »Du hast die Aikha noch nicht gesehen, 105 Herik«, meinte er, »sonst würdest du nicht darüber lachen. Und es ist auch nicht klug, über etwas zu lachen, das von Kreaturen, die wir nicht kennen, auf dieser Welt zurückgelassen wurde.« Ein unbehagliches Schweigen ergriff die älteren Männer und Frauen, eine angespannte Wachsamkeit, die an den jungen Soldaten unbemerkt vorüberging. »Wenn man in der Mittsommernacht zu den Ruinen geht, kann man die Geister von denen sehen, die sie erbaut haben«, fuhr Witti trotzig fort. »Jedenfalls habe ich das gehört.« »Ich gehe mit dir«, meinte Herik. Er stupste seine nächsten Kameraden an und zwinkerte ihnen zu. »Nur um zu sehen, was es da zu sehen gibt.« Sie kicherten und prusteten. »Du würdest keine Witze darüber machen«, bestärkte Raimond die harten Worte des Feldwebels, »wenn du selbst dagewesen wärst. Ja, ich erinnere mich noch genau. Vor langen Jahren ging ein Mädchen in der Mittsommernacht hinauf. Es war eine Wette.« Er sah Witti plötzlich scharf an. »Gegen Morgengrauen kehrte sie zurück, halbwahnsinnig vor Angst und schwanger, wie wir nach einiger Zeit herausfanden. Sie starb mit dem Kind im Leib - dem Kind jenes Wesens, das da oben herumgeistert, was immer es auch sein mag!« Mit zitternden Händen griff er nach seinem Becher und knallte ihn auf den Tisch. »Ach so!« spottete Herik. »Dann hat sie Simplizius hier zur Welt gebracht?« »Nein, und du solltest nicht darüber lachen, Junge. Einer der Männer vom Land hat das Kind mitgenommen.« »Und jetzt erzähle ich dir mal was, junger Herik«, schaltete sich Alma ein; sie sprach mit der überzeugten Stimme einer Person, die sich ihrer Domäne sicher war. »Es ist nur zu wahr, was Raimond sagt. Es ist noch nicht allzu lange her, und ich habe sie gekannt. Wir waren damals beide noch Mädchen. Sie 106 war ein hübsches, zierliches Mädchen mit schwarzen Haaren. Ihre Eltern waren Salianer, die vor den Überfällen der Aikha geflohen waren. Sie ging zu den Ruinen, obwohl jeder sie davor gewarnt hatte, und sie erzählte mir -« Sie senkte ihre rauhe Stimme, bis sie nur noch ein Flüstern war, und jetzt lösten sich vereinzelte Unterhaltungen am anderen Ende des Tisches auf wie Schneeflocken im Feuer - alle wollten wissen, wie es weiterging. »Sie sagte mir, daß der Geist eines Elfenprinzen, eines der Verlorenen, zu ihr gekommen wäre und mit ihr geschlafen hätte, mitten im Altarhaus, und daß sie sein Kind unter dem Herzen trug.« Niemand, nicht einmal Herik, rührte sich. »Doch der Herr und die Herrin gestatten uns Sterblichen den Kontakt mit den Verlorenen nicht, denn sie sind Ungläubige. So mußte sie den Preis zahlen. Drei Tage nach der Geburt des Kindes war sie tot.« Alain starrte die Köchin an. Feldwebel Fall hatte eine Geschichte erzählt, um Witti zu ängstigen und zu verblüffen. Die hier war anders. Sicher erzählte die Köchin die Wahrheit. Sie war so alt wie seine Mutter. Er hatte schwarze Haare, und seine Gesichtszüge waren schärfer geschnitten und hatten etwas Fremdländisches;
zumindest hatten das in Osna immer alle behauptet. Was, wenn diese schwarzhaarige salianische Frau seine Mutter war und der Geist in der Ruine sein wirklicher Vater? Ein Verlorener! Würde das nicht erklären, weshalb die Herrin der Schlachten zu ihm gekommen war? Er hatte sich immer irgendwie anders gefühlt - und oft wurde betont, daß die Elfen eigentlich Dämonen waren, denn im Gegensatz zu den Menschen starben sie nicht nach einer natürlichen Anzahl von Jahren, und sollten sie durch Zufall oder Gewalt doch den Tod finden, so gab es für sie keine Zuflucht in der Kammer des Lichts, denn sie waren verdammt, in alle Ewigkeit auf dieser Welt als Geister umherzuirren. 107 »Ich gehe trotzdem«, sagte Witti störrisch. »Ich begleite dich«, bemerkte Herik mit einem anzüglichen Grinsen. »Das wirst du nicht!« sagte der Feldwebel, »und zwar, weil ich es dir befehle. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir brechen morgen früh im Morgengrauen zu Bischöfin Thierra auf.« »Keiner von euch hat genügend Mut«, erklärte Witti mit einer verächtlichen Kopfbewegung. »Ich werde gehen«, sagte Alain und zuckte überrascht zusammen, als er seine Stimme laut durch den schläfrigen Sommernachmittag hallen hörte, der in einen unendlich langen, hellen Abend überzugehen schien. Alle starrten ihn an. Die meisten Soldaten lachten; sie musterten ihn - den einzigen, der Simplizius Gesellschaft leistete. Er war beinahe genauso dreckig. Der alte Raimond grunzte, sagte aber nichts. »Wer ist dieser Grünschnabel?« wollte Herik wissen. »Gerade mal alt genug, um ein paar Barthaare zu haben, hat er ansonsten nichts von einem Mann! Abgesehen von der Hoffnung, mal einer zu werden!« Er kicherte über seinen eigenen Witz, auch wenn keiner mitlachte. »Er ist der Stallbursche«, sagte die Köchin nicht unfreundlich. Jetzt, da er die Aufmerksamkeit erst einmal auf sich gezogen hatte, merkte Alain, daß ihm das gar nicht gefiel. Zu sehr hatte er sich daran gewöhnt, unbemerkt zu bleiben. Er senkte den Blick und starrte wie gebannt auf den Tisch. »Er ist der einzige, der mutig genug ist, um zu gehen!« sagte Witti. »Herik!« Der Feldwebel blickte verärgert drein. »Wenn du es wagst, dich wie ein Dummkopf zu verhalten, lasse ich dich 108 morgen auspeitschen. Hier, Mädchen. Ich habe eine bessere Idee, wie du dich heute nacht amüsieren kannst.« Alain schaute auf und sah, wie der Feldwebel das Mädchen näher zu sich heranzog, doch Witti war jetzt stur und stieß ihn weg. »Ihr könnt ruhig alle lachen, aber ich gehe trotzdem.« Herik stand auf. »Ich lasse doch nicht einen dahergelaufenen Stallburschen -« »Herik, du setzt dich hin, oder ich lasse dich gleich hier auspeitschen!« Herik schwankte zwischen angetrunkenem Stolz und der Furcht vor Demütigung. Dann setzte er sich wieder hin. Simplizius rülpste vernehmlich, und als alle lachten, blinzelte er gutmütig in ihre erwartungsvollen Gesichter. Feldwebel Fall begann wieder von den Überfällen der Aikha zu erzählen und von den Plänen des Grafen, die Ländereien und Dörfer entlang der Küste zu schützen. Es gelang Alain, sich ohne große Mühe davonzustehlen, sobald der Feldwebel ganz in die Ausführungen über das zuletzt gebrandschatzte Dorf vertieft war und von Gerüchten sprach, denen zufolge ein Frauenkloster viel weiter östlich - schon jenseits der Grenze, in Wendar - von den Aikha überfallen worden war. Er hatte gehört, daß sämtliche Nonnen und Laienschwestern vergewaltigt und ermordet worden waren, abgesehen von der alten Äbtissin; ihr hatten die Aikha zunächst die Füße verstümmelt und ihr dann die Freiheit geschenkt und gestattet, den langen, schmerzhaften Weg zum nächsten Dorf zurückzulegen. Endlich brach die Dämmerung herein, und langsam erschien eine Handvoll Sterne am dunkler werdenden Himmel. Es mußte wahr sein! Nur wenn er die Ruinen in einer Nacht besuchte, in der möglicherweise die Geister der alten Erbauer zurückkehrten, würde er die Wahrheit erfahren. 109 Er zog sein sauberes Hemd an - Tante Bei war viel zu stolz, um ihn nur mit einem einzigen Hemd wegzuschicken - und streifte die alte Leinentunika darüber. Nach einigem Zögern griff er sich eine Laterne. Dann nahm er einen soliden Stock aus dem Stall und schlug den Weg ein, der sich zunächst um den Erdwall und die vier Holztürme der Festung herumwand und dann zwischen den bewaldeten Hügeln dahinter verschwand. Von Witti sah und hörte er nichts. Er war allein, nur die Geräusche der Nachttiere begleiteten ihn - der Ruf einer Eule, heftiges Flügelschlagen, ein schriller Schrei, dann plötzlich ein aufgeregtes Rascheln im Unterholz. Es war Neumond und schrecklich dunkel, und dennoch strahlten die Sterne beinahe unheimlich. Schließlich hatten sich seine Augen den Lichtverhältnissen angepaßt. Er traute sich noch nicht, die Laterne zu benutzen; das Öl war zu kostbar. Es war ein ziemlich langer Weg, erst den Berg hinauf und dann in einem Bogen in den viel stärker verwilderten Wald dahinter. Als er auf dem Pfad beinahe die Stelle erreicht hatte, wo die Bäume der Lichtung mit den Ruinen Platz machten, stand der im Osten aufgehende helle, rote Stern - das Schlangenauge bereits hoch am Himmel. Unter den letzten Bäumen blieb Alain stehen. Der Wald endete hier schlagartig, und dicke, alte Bäume säumten in einer merkwürdig geraden Linie die Lichtung. Kein einziger Schößling wuchs auf der Wiese dahinter. Obwohl
es unzählige Jahre gedauert haben mußte, bis die alten Gebäude dieses Stadium des Zerfalls erreicht hatten - seit vielen Generationen, lange vor der Zeit von Kaiser Taillefer, selbst noch vor der Zeit, da der heilige Daisan auf der Erde wandelte und den Gläubigen seine Botschaft brachte -, hatte der Wald noch immer nicht Besitz von den Ruinen ergriffen. Hier war etwas Unnatürliches am Werk. 110 Und ganz plötzlich spürte er, daß die Steine seine Anwesenheit wahrnahmen. Eine äußere Steinmauer verlief im Kreis um die im Innern liegenden Ruinen. Dahinter erhob sich die zerklüftete Kuppe des Hügels, die Hänge vereinzelt von Bäumen gesäumt. Hier war es sehr viel stiller als im Wald. Noch während er hinüberstarrte, huschte ein Schatten empor und verschwand in den Bäumen. Er umklammerte den Stock fester und schritt vorsichtig über den unebenen Weg auf ein Loch in der Mauer zu. Es sah aus wie eine Ausfallpforte oder ein Bediensteteneingang, oder es mußte etwas noch Unheimlicheres, den Menschen noch Unbekannteres gewesen sein. Jetzt blockierten zum Teil von der Mauer heruntergefallene Steine den Eingang. Möglicherweise war das Loch einst von einer Tür verschlossen worden, doch es war keine da. Er kletterte vorsichtig über die Steinbrocken, hielt oben inne und starrte in das Gemäuer. Von den Steinen ging ein Licht aus, ein schwaches Glimmen, ähnlich dem Phosphoreszieren der Gischt und der Algen in dem Wasser von Osna-Sund. Und auch die Sterne schienen noch immer unnatürlich hell. Er kannte ihre Konstellationen, denn sein Vater mußte als Kaufmann ein guter Seefahrer sein und hatte sie ihm beigebracht. Einige von ihnen glitzerten tatsächlich in einem unheimlichen Glanz, als würde eine unsichtbare Macht grellere Feuer aus ihren Tiefen hervorrufen. In der Ruine gab es mehr Schatten zu sehen, als eigentlich dasein sollten. Einige von ihnen bedeckten den Boden sogar in so merkwürdiger Form, daß sie unmöglich von den halbzerfallenen Mauern stammen konnten. Die Luft regte sich, erzitterte, ein schwaches Geräusch ... Er erstarrte vor Schreck. Ein lautloser Schatten glitt mit ausgebreiteten Schwingen über die Ruinen, und er entspannte sich. Es war nur eine Eule. 111 Lange blieb er vorsichtig auf einem Steinblock stehen und starrte einfach nur auf das, was er sah. Es war keine gute Nacht, die Ruinen zu betreten. Das wußte er jetzt. Und doch mußte er das Altarhaus sehen, um herauszufinden, ob es eine Verbindung gab, ob die Stimme des Blutes ihn rufen würde. Er zündete die Laterne an, und als das Licht aufflackerte, mußte er blinzeln und den Blick abwenden. Er machte einen Schritt nach vorn, und plötzlich bewegten sich die Schatten auf dem Boden und den Mauern. Da begriff er, was er sah. Es waren die Schatten dessen, was gewesen war, nicht die Schatten der Ruinen, die jetzt vor ihm lagen. Im schwachen Licht der Laterne und der glimmenden Steine zeigten sich die Schatten längst zerfallener Gebäude, so wie sie einst dagestanden hatten, vollkommen und unzerstört. Das filigrane Geflecht aus Bögen und Säulen und stolzen Mauern, dessen Schatten sich auf unmögliche Weise auf dem Boden ausbreiteten, stammte vom Geist der alten Festung, die in der Mittsommernacht erneut zum Leben erwachte. Es waren fünf Gebäude: eines im Westen, eines im Süden, eines im Osten, eines im Norden und ein rundes in der Mitte. Arkaden verbanden sie miteinander. Ein Zweig knackte irgendwo im Wald hinter ihm. Er preßte sich gegen den Stein und schaute zurück. Nichts und niemand war am Waldrand zu sehen. Doch etwas war seltsam: Die Schatten der äußeren Mauer, die den Bäumen am nächsten war, waren die Schatten einer halbzerfallenen Mauer - einer Mauer also, die durch den Lauf der Zeit und die Hände des Herrn und der Herrin zerstört worden war. Die Verzauberung, wenn es denn eine war, galt folglich nur innerhalb der Ruinen. Er glitt von dem Felsblock herunter und betrat langsam die alte Festung. Er wich den Schatten des nicht wirklich existie112 renden Gemäuers aus und sah sofort, daß die Steine im Innern der Ruine wesentlich feiner bearbeitet waren als die der äußeren Mauer - ähnlich, wie das Roß des Grafen den alten Maulesel übertraf, der für ihn und Simplizius den Karren mit dem Dung auf die Felder schleppte. Gras sproß aus den Ritzen im Boden. Er kniete nieder und fuhr mit den Fingern über einen der Steine. Seine Oberfläche war so glatt, daß es kaum das Werk von Menschen sein konnte. Die Mauer des nächststehenden Gebäudes, durchgehend aus pechschwarzem Stein, reichte ihm nur bis zur Taille. Er untersuchte sie beim Licht seiner Laterne etwas genauer. Sie war mit Reliefs verziert, die Gestalten mit den Körpern von Frauen und den Köpfen von Falken, Schlangen und Wölfen zeigten; ihre Augen glühten wie funkelnde Edelsteine. Hinter der Mauer, am Ende der Allee, war das Gebäude in der Mitte zu sehen; es schillerte irritierend. Es sah aus, als würde das weiße Gestein, aus dem es gebaut war, bis in den Himmel ragen und die Konstellationen berühren - das Schwert, den Stab, den Becher, selbst die Königin, deren Bogen auf den Drachen gerichtet war - und mit unsichtbaren Fäden ihr Licht nach unten herabziehen, um es dann als Lumineszenz zurückzuwerfen. Rund und weiß. Dieses Gebäude mußte das Altarhaus sein. Ein Schatten bewegte sich, löste sich am anderen Ende von der Mauer. Alain sprang hastig auf, dann erschauderte er, plötzlich unfähig, sich zu bewegen. Es war nicht Witti. Es war ein Geist in der Gestalt eines Mannes, der auf das Altarhaus zuging.
Doch war es nicht die Gestalt eines Mannes. Groß und schlank war er, ja, aber es lag etwas unerklärlich Fremdes in der Anmut, mit der er einherschritt, in dem seltsamen Schnitt seiner Kleider. Die Gestalt blieb am Eingang zum Altarhaus stehen, drehte sich langsam um und ließ den Blick über die Rui113 nen schweifen. Zuerst schien sie über Alain hinwegzusehen, als wäre sie unfähig, ihn wahrzunehmen. Es war eine wunderbare, beunruhigende Harmonie um ihn, der teils Geist und teils wirklich war. Er war sehr dunkel, doch trotzdem konnte Alain seine Gesichtszüge deutlich erkennen: ein schmales Gesicht, eher bronzefarben als nordisch blaß, und unergründlich tiefe, alte Augen unter einem Schopf von schwarzen Haaren. Schwarze Haare. Auch Alain hatte schwarze Haare. Der Mann war glattrasiert oder gänzlich ohne Bart, obwohl es Alain schleierhaft blieb, wie ein Mann wirklich ein Mann genannt werden konnte, wenn er keinen Bart hatte. Es sei denn, er war gar kein richtiger Menschenmann. Er trug einen schön gearbeiteten Brustharnisch aus Metall, der mit ineinander verschlungenen Kreaturen verziert war; diese Verzierung setzte sich auf den Lederfransen fort, die bis zur Mitte seiner Oberschenkel reichten. Darunter trug er eine schlichte Leinentunika, und ein weißer Umhang hing über seinem linken Arm. Er suchte nach jemandem. Oder er traf jemanden. Alain hörte das leise Geräusch zaghafter Schritte. Rechts von sich erkannte er durch eine Bresche in den Ruinen den verschwommenen Schatten eines Mädchens. Doch es lag eine bleierne, irdische Schwere um sie, die sie sofort als menschlich verriet, genau wie auch ihn. Sie sah sich um und starrte in die Richtung des Geistes, doch sie schien ihn gar nicht wahrzunehmen; dann entdeckte sie Alain. Oder wenigstens seine Lampe. »Alain?« fragte sie mit leiser, unsicherer Stimme. »Bist du das?« Alain trat einen Schritt vor. Auch der Geist trat einen Schritt vor, wie ein Spiegel, und ihre Blicke trafen sich. Schwindel ergriff ihn. Weit entfernte, lodernde Flammen 114 röhrten in seinen Ohren. Der dicke, ölige Geruch von Qualm stach in seine Nase. »Wo ist Liathano hingegangen?« Der Geist hatte jetzt eine gefährlich aussehende Lanze in der Hand, doch er hielt sie aufrecht, ohne Alain damit zu bedrohen. »Ich - ich weiß es nicht«, stammelte Alain. Er konnte seinen Blick nicht von den Augen des Geistes abwenden. Sie strahlten, wie das Altarhaus, wie die herrlichen Körperkonturen des Geistes, mehr golden als weiß. Er hörte wildes Pferdegetrappel hinter sich, weit entfernte Schreie, den schwachen Klang eines Kriegshorns im Wind. »Du bist nicht von unserem Blut«, sagte der Geist plötzlich und hob herausfordernd die Lanze. »Und doch, wie könntest du sonst hier sein? Wie heißt du? Wer ist deine Mutter? Wie bist du hierhergekommen?« Obwohl er den Blick nicht von der Gestalt abwenden konnte, sah Alain aus dem Augenwinkel die geisterhaften Gebäude. Erhaben und herrlich standen sie da und auch erstaunlich anmutig, trotz ihrer massiven Steinstruktur. Doch selbst jetzt tauchten die Flammen sie in ein mattes Rot. Sie brannten. Brannten lichterloh. Der Wind wehte den Rauch des Feuers herbei, trieb ihm den dicken, öligen Gestank ins Gesicht. Er hustete. Ein verlorener Prinz, wirklich. Denn jetzt begriff Alain, was da geschah, was er sah: Es war die Zerstörung dieser Festung. Die Geräusche der Schlacht rückten unaufhaltsam näher: Sie waren die schreckliche Melodie des Schicksals. »Ich heiße Alain«, erklärte er in dem verzweifelten Bemühen zu helfen, obwohl er wußte, daß diese Festung bereits verdammt war. Was konnte er nur tun ? Wer war Liathano ? War dieser Schatten sein wirklicher Vater? »Ich weiß nicht, wie ich hierherkam. Ich weiß nicht, wer meine Mutter ist.« 115 »Du bist ein Mensch«, sagte der Prinz, und seine Augen weiteten sich in vornehmem Erstaunen, »und doch gezeichnet. Wenn wir nur Zeit hätten, dieses Rätsel zu lösen.« Doch dann reckte er das Kinn und wandte den Blick von Alain ab, als hätte er jemanden seinen Namen rufen hören. Eine Stimme schrie gellend vor Entsetzen. Es verschlug Alain den Atem, und er riß eine Hand empor, preßte sie gegen die pochenden Schläfen. »Du bist es wirklich, Alain!« Trotz seiner hämmernden Kopfschmerzen hörte er, wie sie über die zerborstenen Steine zu ihm stolperte. »Hast du es gesehen? Hast du es gehört?« Sie warf sich in seine Arme. Er taumelte unter dem Ansturm ihrer Angst zurück und ließ die Laterne fallen. Sie verlosch. »Sie waren schwarz und rasten über den Himmel wie die Hunde des Grafen, und sie fauchten vor Hunger! Sie hätten uns verschlungen, wenn sie uns zu fassen bekommen hätten!« Die Hitze ihres Körpers, der sich an ihn preßte, vertrieb den Nebel aus seinem Kopf. Er schob sie von sich, obwohl sie weiter von roten Augen und sechsbeinigen Hunden faselte, hob die Laterne auf und rannte zum Altarhaus. Doch der Geist war verschwunden. »Geh nicht da rein!« schrie sie, als Alain über die leere Türschwelle schritt. Doch im Innern war nichts, nichts außer dem Schimmer der verfallenen Steinwände, und in der Mitte der Kammer, auf der Erde, befand sich ein eiförmiger Stein aus hellem Marmor - ein Altar, wie die Köchin sagen würde. Nichts außer Gras und einem einzigen dürren Busch, dessen wächserne Blätter eine klebrige Spur an seinen Fingern hinterließen. Von draußen hörte er Wittis Schluchzen, dann ihre schwächer werdenden Schritte, als sie die Allee zurückrannte. 116
Er setzte sich auf den Altarstein. Diese Festung war vor unsagbar langer Zeit einmal ein glanzvoller, strahlender Außenposten des alten Kaiserreiches Dariya gewesen; er konnte sich noch nicht einmal annähernd vorstellen, wie lang das zurücklag, er wußte lediglich, daß die Verlorenen viel länger lebten als die Menschen. Und am Ende war sie doch zugrunde gegangen, war niedergebrannt, während der verlorene Prinz nach Liathano gesucht hatte und Pferde in einer von den Flammen rotglühenden Nacht davon galoppierten. Der schimmernde Stein verblaßte zu einem matten Schatten. Die Sterne verloren ihren wunderbaren Glanz und zogen auf ihrer endlosen Reise weiter nach Westen. Alain befühlte mit einer Hand sein Gesicht und stellte fest, daß seine Augen tränennaß waren. Ein Schatten huschte über ihn hinweg, aber es war nur eine Eule, die in der Nacht auf Jagd ging. 2 Der Sommer verging. Alain hatte nicht den Mut, in die Ruinen zurückzukehren; er wußte, er würde sie nur leer vorfinden. Dort gab es keine Antwort für ihn. Witti sprach nicht mehr mit ihm; er wußte, wenn er sie ansah und daran dachte, wie sie ihn umarmt hatte, wie sie sich an ihn geklammert hatte, daß sie mit den anderen über ihn tuschelte. Verbittert ging er den anderen aus dem Weg. Die Ruhe der langen Sommerabende wurde nicht weiter von anderen merkwürdigen Ereignissen gestört. Der Weizen wurde geerntet. Der Hafer war beinahe reif. Kastellanin Dhuoda kehrte mit Aldegund, der fünfzehnjährigen Frau von 117 Lavastins Cousin Jeoffrey, zur Festung zurück. Die junge Frau war von der Reise und ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft zutiefst erschöpft, als sie auf Lavas ankam. Ein Wanderarbeiter, der zur Herbsternte nach Lavas gekommen war, hatte einen Monat zuvor in Osna haltgemacht; er berichtete, daß es Tante Bei und ihrer Familie gutging und er drei Tage lang Arbeit von ihr erhalten hatte; er hatte für sie Mühlsteine vom Steinbruch zu ihrer Werkstatt geschleppt. Am Festtag zu Ehren von St. Tiana der Fröhlichen, der heiligen Märtyrerin von Bens, erschien ein berittener Bote bei ihnen. Alain schaute von der Arbeit auf; er stand gerade an der Scheune und war damit beschäftigt, gebündeltes Heu von der zweiten Ernte aufzustapeln. Der Mann trug einen schmutzigen, ehemals weißen Stofffetzen um den Kopf, der das rechte Auge und das rechte Ohr bedeckte. Altes, getrocknetes Blut hatte das Tuch braun gefärbt. Seine Kleidung war abgetragen und mit den Resten von anderen Hosen und Tuniken ausgebessert. Er hinkte, als er vor der Halle vom Pferd stieg, und es dauerte etwas, bis Alain begriff, daß es Herik war, der noch im Hochsommer solch ein forscher, junger Soldat gewesen war. Seine ganze Erscheinung hatte jetzt etwas sehr viel Ruhigeres, Gedämpfteres. Alain lehnte sich an den niedrigen Zaun vor der offenen Seite der Scheune und lauschte, wie Herik mit lebhafter, durchdringender Stimme Kastellanin Dhuoda und dem Geistlichen, der ihr wie ein Schatten nicht von der Seite wich, Bericht erstattete. Andere Leute von der Burg strömten zusammen, um die neue Kunde zu vernehmen. »Der Feldzug ist für diesen Sommer beendet. Die Lage hat sich geändert. Die Aikha sind zurück nach Norden gesegelt, um den Winter in ihren eigenen Häfen zu verbringen. Während der Fahrt richteten sie immer wieder Verwüstungen 118 am Ufer an. Doch drei Schiffe wurden schließlich auf der Vennu eingeschlossen, als die Flut zurückging. Die Aikha errichteten sofort einen Wall, doch der Graf betete zu Unserem Herrn und Unserer Herrin und ließ angreifen. Wir erstürmten den Wall!« Er schlug sich mit der Faust gegen die Handfläche und grinste zum ersten Mal. »Selbst ihre Hunde wichen vor uns zurück, und die sind sogar noch schärfer als ihre Herren, denn sie zerfetzen alles, was ihnen in die Quere kommt.« Seine Zuhörer murmelten anerkennend bei diesen grausigen Einzelheiten. Er fuhr fort: »Aber dieses Mal schlachteten wir die Aikha ab wie Schafe, obwohl ihre Haut wirklich so fest und hart ist wie Leder. Sie glänzt, als würden diese Wesen aus dem Ofen eines Schmiedes stammen statt von einer normalen Frau wie der Rest von uns. Einige versuchten zu fliehen, doch spätestens, als die Flut anstieg, waren sie dran, zusammen mit ihren widerlichen Hunden!« »Sie sollen Gestaltwandler sein, heißt es«, sagte die Köchin. Almas Position war wichtig genug, daß sie es wagen konnte, sich einzumischen. »Halb Fisch.« Herik zuckte mit den Achseln. Der kurz aufflackernde Triumph in seinen Augen war wieder verloschen; jetzt wirkte er nur noch müde. »Sie ertrinken genauso wie wir. Falls einer von ihnen wegschwimmen konnte, nun, ich habe keinen entkommen sehen. Wir haben einen von ihnen gefangengenommen, einen Prinzen. Der Cousin des Grafen wollte ihn töten lassen, aber Lavastin war klug und meinte, daß es besser sei, wenn wir seiner Familie gegenüber etwas in der Hand haben, das sie eintauschen wollen, statt etwas, das sie rächen wollen. Sie bringen den Barbaren in einem Käfig hierher. Der Graf hat seine Hunde an die Gitterstäbe gekettet, so kann keiner rein und der Barbar nicht raus.« Er zitterte und machte den Einheitskreis auf seiner Brust. 119 Kastellanin Dhuoda ließ ihren Blick über den Burghof schweifen; sie prägte sich die Leute ein, die neugierig herumstanden, statt zu arbeiten. »Wann wird der Graf eintreffen?« »In fünf Tagen. Sie waren dicht hinter mir. Der Sommer war lang, und es hat viele Kämpfe gegeben. Wir alle wollen so schnell wie möglich nach Hause.«
»Dann geht mit der Köchin, sie wird Euch etwas zu essen geben.« Dhuoda nickte Alma kurz zu, die daraufhin in die Küche eilte. »Danach kehrt Ihr zu mir zurück - wie heißt Ihr doch gleich? Ihr müßt mir noch genauer Bericht erstatten.« Ihr Blick streifte erneut die Anwesenden. Alain sah von seinem Versteck aus, wie die anderen eilig zu ihrer Arbeit zurückkehrten. Er blieb, wo er war. Während der Hof sich leerte, forderte Dhuoda den Boten mit einer kurzen Handbewegung auf, noch einen Augenblick zu warten. »Hat der Graf sich irgendwie dazu geäußert, wo er den Aikha-Prinzen unterbringen will? In einem der Turmzimmer?« »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen«, antwortete Herik mit gesenktem Kopf. Alain war überrascht, wie sehr der junge Soldat sich seit dem Sommer verändert hatte. »Ich glaube, er will ihn zusammen mit den schwarzen Hunden einsperren. Ich hörte ihn sagen, daß er sich sonst niemals darauf verlassen kann, daß der Aikha nicht doch auf irgendeine unnatürliche Weise fliehen kann.« Der Gesichtsausdruck der Kastellanin blieb weiterhin gelassen, doch der Frater schlug das Kreiszeichen vor seiner Brust, wie um ein böses Omen abzuwenden. »Das ist alles«, sagte Dhuoda. »Ihr könnt jetzt gehen.« Herik nickte gehorsam und humpelte in Richtung Küche davon. Dhuoda und der Frater gingen zum Tor zurück. Alain, der 120 sich rasch in den Schatten der Scheunenwand drückte, hörte im Vorbeigehen ihre Stimmen. »Ist es wahr,«, wollte der Frater wissen, »daß die schwarzen Hunde Graf Lavastins Frau und Tochter getötet haben? Daß sie die lebendigen Beweise eines Paktes sind, den sein Großvater mit unheiligen Teufeln geschlossen hat, und daß der Graf sie nur deshalb bei sich behält?« »Ich werde das nur einmal sagen«, erklärte Dhuoda. Alain konnte ihre Stimme nur mit größter Mühe verstehen. »Von solchen Dingen zu sprechen, Frater Agius, ist Eurem guten Ruf ebensowenig förderlich, wie vor der Skopos Eure ketzerischen Ansichten zu diskutieren.« »Aber glaubt Ihr denn, daß es stimmt?« fragte Agius. »Was stimmt, ist, daß die ersten Hunde sowie sämtliche ihrer Abkömmlinge nur dem rechtmäßigen Grafen von Lavas gehorchen. Niemand weiß, woher sie kommen, nur, daß sie ein Geschenk einer salianischen Bischöfin waren -« Sie gingen weiter, und jetzt konnte Alain nichts mehr verstehen. Jeder sagte, daß die schwarzen Hunde Graf Lavastin überallhin begleiteten. Niemand sonst wußte mit ihnen umzugehen, und es war bekannt, daß sie mehr als nur einen Menschen auf der Burg angefallen hatten. Nicht einmal Meister Rodlin, der Stallmeister, war in der Lage, sie zu beherrschen. »Pferde«, sagte Simplizius. Eigentlich sagte er es nicht, sondern machte statt dessen ein Geräusch, von dem Alain wußte, daß es Pferde bedeuten sollte - er warf den Kopf zurück und scharrte mit dem Fuß. Dann schnüffelte er in der Luft, als könnte er ihr Kommen riechen. Vielleicht konnte er das sogar. Die Köchin nannte ihn manchmal einen Wechselbalg, und tatsächlich pflegte er eine besondere Leidenschaft zu Tieren, wie man es den Kindern der 121 Kobolde nachsagte - auch wenn er wie ein Mensch aussah. Andere sagten, daß die Tiere - Gottes unschuldige Geschöpfe - den Schwachsinnigen angeblich als einen der ihren erkannten, einen, der ebenso unschuldig war wie sie. Ungeduldig schoß Simplizius nach draußen. Alain ließ sich nicht beirren und ölte den Harnisch weiter ein, den er in der Hand hielt. Acht Tage waren vergangen, seit Herik zum Gut gekommen war und sie über die bevorstehende Rückkehr des Grafen informiert hatte. Alain konnte auch noch etwas länger warten, bis er ihn sah. Aber der Graf hatte sich einen außergewöhnlich vielversprechenden Tag für seine Rückkehr ausgesucht: Beim morgendlichen Gottesdienst in der Kapelle hatte die Diakonissin daran erinnert, daß dies der Tag des heiligen Lavrentius war, dem diese Kapelle gewidmet war. Burg Lavas stand unter dem Schutz des heiligen Lavrentius. In der Kapelle gab es eine Reliquie aus Elfenbein, in der einige Gebeine des heiligen Märtyrers enthalten waren sowie ein Stück des Ledergürtels, mit dem er auf das Rad gebunden worden war, an dem er gegen Ende des dariyanischen Kaiserreiches den Märtyrertod gefunden hatte. Doch der Gedanke an das Rad erinnerte Alain an die Sterne, die unaufhörlich ihre Runden über den Himmel zogen. Er dachte an die Mittsommernacht und die Vision, die er gesehen hatte, an Wittis ablehnende Haltung danach. Er seufzte. Nun, Tante Bei würde ihm sagen, daß eine Magd wie Witti es ohnehin niemals wert war, daß er sich nach ihr verzehrte. Und sie würde ihn schonungslos daran erinnern, daß er der Kirche versprochen war und damit auch dem Zölibat. Doch er konnte die Gedanken an Witti nicht verdrängen, selbst wenn er wußte, daß Tante Bei recht hatte. Als er schließlich den fertigen Harnisch über einen Pflock hängte und zur Stalltür ging, sah er die Wache winken, als 122 hätte sie in der Ferne etwas entdeckt; dann wandte sie sich mit lauter Stimme an die Versammelten im Hof. »Sie sind da! Der Graf kommt!« Die Menge verfiel in hektische Betriebsamkeit.
Alain und Simplizius fanden Unterschlupf in einer Ecke der Ställe. Von hier aus sahen sie die Truppe durch das Tor reiten, an ihrer Spitze ein Edelmann - offensichtlich Graf Lavastin. Der Graf ritt einen rötlichbraunen Wallach. Sein Cousin Jeoffrey ritt neben ihm auf einem Rotschimmel; seine herrliche Rüstung sprach für seinen hohen Rang. Bei ihnen war ein junger Mann, der einen Umhang mit dem Abzeichen der Adler des Königs trug. Dann waren da noch der Hauptmann des Grafen, zwei Geistliche und ein Dutzend berittener Soldaten, die Alain nicht erkannte. Hinter den Reitern marschierten, angeführt von Feldwebel Fall, die Fußsoldaten, und nach ihnen kamen die Wagen und Packesel, die eine Menge Staub aufwirbelten. Der Graf führte seinen Wallach bis zu den Stufen vor der Halle. Dort warteten Kastellanin Dhuoda mit ihrem Gefolge und Aldegund, Jeoffreys junge, hochschwangere Braut. Sobald der Graf abgestiegen war, rannte Simplizius etwas leichtsinnig nach vorn; unruhig hüpfte er von einem Bein aufs andere, während der Graf dem Hauptmann die Zügel reichte und dann die Frauen begrüßte. Der Hauptmann gestattete Simplizius mit einem leichten Kopfnicken, ihn zu begleiten, als er den Wallach zu den Ställen führte. Dann plötzlich rissen die Pferde im Hof die Köpfe zurück und scharrten unruhig mit den Hufen. Einer der Geistlichen wurde gar von seinem Pferd abgeworfen, und Jeoffrey fluchte und brachte seine Stute nur mit einiger Anstrengung dazu stillzustehen. Lediglich der Wallach, den Simplizius mit den Händen berührte, verhielt sich ruhig. Ein lautes Geheul zerriß 123 die Luft, begleitet von wildem Gebell und gräßlichem Knurren. Graf Lavastin löste sich von den Frauen und eilte die Stufen hinunter. Ein von acht Ochsen gezogener Wagen rollte jetzt durch das Tor. Ein stämmiger Mann führte den Leitochsen, der ein gutes Stück vom Wagen entfernt war. Sechs schwarze Hunde stürzten geifernd hervor und versuchten die Soldaten und andere Anwesende zu erreichen, die schreiend zurückwichen. Doch so sehr die Hunde auch kläfften, sie wurden von schweren, am Untergestell des Wagens angebrachten Ketten zurückgehalten. Auf dem Wagengestell erhob sich ein Kreuz aus dicken Hölzern. An diesem Kreuz hing ... Kein Mensch. Wie alle anderen zuckte auch Alain zurück, doch mehr wegen dem Anblick des Gefangenen als wegen dem der wilden Hunde. Ein Aikha-Prinz. Feldwebel Falls Geschichte vom Drachenherzen und dem Fluch schien plötzlich noch viel glaubwürdiger. Alain hatte Kreaturen wie diese schon zuvor gesehen: die angemalten Bestien, die den zerbrechlichen, sanften Bruder Gilles und die anderen Mönche im Kloster am Drachenschwanz getötet hatten. Grell leuchtende Spiralen prangten auf dem Gesicht und der Brust dieser Kreatur. Harte, weiße Klauen ragten aus den Handrücken hervor. Die Kreatur hatte am rechten Arm ein Armband aus bearbeitetem Gold und am linken zwei wie Schlangen miteinander verschlungene aus Bronze. Außerdem trug er vor Dreck und Matsch steif gewordene Hosen und einen ausnehmend schönen Gürtel, der aus winzigen vergoldeten Kettengliedern mit feinziselierten Einlegearbeiten aus Emaille bestand; er war um seine schmale Taille geschlungen und hing über die Hüften herab. Der Oberkörper 124 war nackt, und die Bemalung verlieh seiner Haut den Anschein von kupfernen Schuppen. Trotz seines wilden Aussehens hatte er ganz die hochmütige Haltung eines Prinzen, schwarze Schlitzaugen und struppige, weiße Haare, die zu einem dicken Zopf zusammengebunden waren und ihm bis zur Taille reichten. Die dünnen Lippen waren in einer Art zurückgezogen, die mehr an das Zähneblecken von Hunden als an ein Lächeln erinnerte. Winzige Juwelen glänzten auf seinen Zähnen und gaben seinem Grinsen etwas unerwartet Leuchtendes. Der Aikha-Prinz war mit Ketten um Knöchel und Handgelenke am Kreuz festgebunden. Als der Wagen mit einem Ruck zum Stehen kam, hielt er geschickt das Gleichgewicht. Die Hunde bellten wütend, drängten sich um den Wagen, schnappten in ihrer Raserei sogar nacheinander. Niemand traute sich näher an sie heran. Der AikhaPrinz starrte trotzig auf den Burghof. Natürlich wichen alle vor ihm zurück, und selbst ein paar Soldaten traten einige Schritte beiseite, wie er so zwischen ihnen stand - angekettet, aber mit stolzer Miene. Lavastin wandte sich wieder an Dhuoda. Der Aikha-Prinz warf den Kopf zurück und heulte auf. Die Hunde spielten verrückt. Sie zerrten rasend an ihren Ketten und übertönten selbst das schreckliche Geheul des Aikha mit ihrem kakophonischen Gebell. Sie waren schwarz wie die Nacht, ganz und gar furchterregende Kreaturen. Mit einem berstenden Krachen brach ein Teil der Seitenwand des Wagens auseinander. Zwei Hunde stürzten vor. Einer von ihnen konnte sich vollständig vom Wagen befreien und preschte vor, stürzte sich sogleich auf den nächstbesten Soldaten. Er riß den Mann zu Boden und schnappte nach seiner Kehle. Einen Augenblick standen die Umstehenden wie er125 starrt da. Dann kamen die Schreie. Die Menge stob auseinander, als der Hund, eine Blutspur und den noch immer zuckenden Körper hinter sich herziehend, zum Grafen raste. Panik brach aus und verwandelte den Hof in ein absolutes Chaos. Der andere Hund hatte nicht freikommen können. Er bellte hilflos hinter seinem Kameraden her; dann, als er mit dem Ende der Kette die Grenzen seiner Freiheit erreicht hatte, brach er in wildes Geheul aus, wirbelte herum und
sprang auf den Wagen, um den Gefangenen anzugreifen. Eine unglaublich lange Zeit, so schien es Alain, bemerkte niemand, daß der Aikha-Prinz angefallen wurde unfähig, sich selbst zu verteidigen. Soldaten kümmerten sich um ihren gefallenen Kameraden, und der stämmige Ochsenführer zerrte immer wieder am Kopf des Leitochsen, doch ohne Erfolg. Alain stieß sich von der Wand ab. Er hatte das Gefühl, als befände er sich plötzlich in einer Welt, die seltsam unberührt von der rasenden Hektik im Hof schien: Da war nur er - und der Aikha-Prinz und der wilde Hund. Alain erreichte den Wagen. Er ging in die Knie, griff nach den Hinterbeinen des Hundes und zog mit aller Kraft daran. Ein Schrei durchzuckte ihn. Er taumelte zurück und fiel zu Boden. Der Hund landete mit voller Wucht auf ihm. Einen Augenblick war Alain wie benommen. Der Hund grub seine Pfoten in Alains Tunika, wollte ihm die Haut in Fetzen reißen. Ein tiefes Knurren klang aus seiner Kehle. Alain starrte in die wütenden Augen, die so dunkel und unergründlich waren wie Bernstein. Noch ein Knurren. Er begriff, daß er sich in Reichweite eines anderen angeketteten Hundes befand. Speichel tropfte auf sein Gesicht, und er sah gefletschte Zähne über sich. Dieser mächtige Kiefer würde sein Gesicht zerfetzen. In weiter Ferne lachte ein Mann, wie ein Echo. 126 Da er ohnehin zum Sterben verdammt war, sagte er mit fester, aber ruhiger Stimme das erste, was ihm in den Sinn kam. »Sitz.« Der Hund ließ sich keuchend auf die Hinterbeine nieder und drückte Alain mit seinem Gewicht so hart gegen den Boden, daß sich kleine Steinchen schmerzhaft in seine Haut bohrten. Speichel tropfte von den Reißzähnen auf Alains Tunika. Auch der andere Hund kam näher, stieß ihn mit der Schnauze an und leckte ihm über das Gesicht. Plötzlich schauten beide Hunde auf und knurrten die Soldaten an, die sich mit Speeren in den Händen genähert hatten, aber aus Angst einigen Abstand hielten. Hinter ihnen stöhnte und schrie ein Mann vor Schmerzen auf. Ein anderer gab mit knapper Stimme Befehle, doch aus irgendeinem Grund konnte Alain die Wörter nicht unterscheiden. Sein Blick wanderte über den breiten, schwarzen Rücken des auf ihm hockenden Hundes, höher und immer höher, bis zum Gesicht des Aikha-Prinzen. Die Augen des Wilden waren so schwarz wie Obsidian. Befremdlich genug, grinste der Prinz zu ihm herab. Seine Zähne waren so scharf wie die der Hunde. Eins der Hosenbeine war zerrissen, und Blut sickerte durch den zerrissenen Stoff- zähflüssig wie das eines Menschen, aber mit einem Grünstich. Falls die Wunde ihm Schmerzen verursachte, zeigte der Aikha es jedenfalls nicht. Der Hund, der soeben noch auf Alain gesessen hatte, machte plötzlich einen Satz nach vorn, durchbrach den Schutzring aus gesenkten Speeren und schlug seine Zähne in den Arm eines Soldaten. Die Gruppe stob augenblicklich auseinander, und die Soldaten flüchteten. Mit einem Schmerzensschrei riß der Soldat seinen Arm aus dem Kiefer des Hundes und taumelte zurück. Der andere, noch angekettete Hund 127 sprang laut aufheulend so weit wie möglich auf die Soldaten zu, dann trapste er zufrieden zurück und ließ sich auf Alains Beinen nieder. »Zurück! Bringt die Männer in die Krankenbaracke und den Wagen in den Zwinger. Los, Mann, bring die Ochsen auf Trab. Halt, warte. Laß den Jungen aufstehen.« Graf Lavastin erschien jetzt in Alains Blickfeld - an seiner Seite ein schwarzer, keuchender Hund, der die Schnauze gegen seine Handfläche preßte. Der Aikha-Prinz richtete seinen Blick jetzt auf den Grafen. »Kummer! Auf, Junge!« Der Hund blieb genüßlich auf Alains Beinen liegen. »Auf!« Der Ton des Grafen stellte unmißverständlich klar, daß er keinen Ungehorsam von seinen Untergebenen duldete. Kummer rappelte sich langsam auf und versuchte mit einem flüchtigen Ruck an der Kette, seinen Herrn zu erreichen, dann gab er es auf. »Steh auf!« sagte der Graf. Plötzlich begriff Alain, daß Graf Lavastin ihn meinte. Er stand etwas umständlich auf und hatte kaum Zeit, den Weg freizugeben, als der Fahrer schon die Ochsen antrieb und der Wagen über den Hof holperte. Alain ließ den eindringlichen Blick des Grafen über sich ergehen. Der Graf war ein zierlicher Mann, kleiner als Alain. Aber er ließ nicht mit sich spaßen. Eine Weile musterte er Alain, dann schweifte sein Blick zur Seite, schien auf die Suche nach wichtigeren Dingen zu gehen. Die beiden übel zugerichteten Soldaten wurden beiseite geschafft. Jeoffrey und die beiden Geistlichen näherten sich, warteten jedoch in gebührendem Abstand. Die Hunde, die ihre Ohren gegen Lavastins Hände rieben, knurrten, doch es schien Alain, als klänge dieses Knurren jetzt wesentlich gehorsamer und weniger bedrohlich. 128 »Bring auch Rage zum Zwinger.« Der Graf griff nach der abgerissenen Kette der Hündin und reichte sie Alain ohne weitere Umschweife. Die Eisenglieder fühlten sich kalt und rauh in seinen Händen an. Lavastin wandte sich ab und schritt zu Jeoffrey hinüber; dann, als wäre nichts geschehen, kehrte er zur Kastellanin zurück und verschwand mit ihr in der Halle.
Alain starrte auf Rage hinab. Sie schnüffelte an Alains Füßen, dann an seinen Knien. Schließlich nahm sie leise jaulend Alains Hand in die Schnauze und umklammerte sie sanft. Inzwischen war er zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit all jener geworden, die den Hof nicht fluchtartig verlassen hatten, sondern in Türeingängen und hinter Zäunen in Deckung gegangen waren oder sich eilig bewaffnet hatten - und sei es mit einer Mistgabel. Rage wedelte mit dem Schwanz, ließ ihn kräftig gegen Alains Oberschenkel schnellen. Behutsam zog er seine Hand aus ihrem Maul. Rote Abdrücke waren dort, wo die Zähne sich in sein Fleisch gegraben hatten, aber die Haut war unverletzt. Alain hielt die Kette noch etwas strammer und holte tief Luft. »Komm, mein Mädchen.« Er rechnete im stillen mit dem Widerstand der Hündin, als er sich in Bewegung setzte. Doch Rage trottete gehorsam neben ihm her; nur, wenn jemand ihr zu nahe kommen wollte, bleckte sie knurrend die Zähne. Frater Agius stand auf den Stufen und betrachtete das Paar gedankenverloren; er schlug das Kreiszeichen auf der Brust. Alain erschauderte. Es war wie in den ersten Minuten in jener Mittsommernacht in den alten Ruinen, als er begriffen hatte, daß er auf seltsame Weise aus der wirklichen, vertrauten Welt herausgetreten war. Schlimm genug, daß alle ihn anstarrten und noch tagelang von dem Zwischenfall reden würden - aber daß Agius ihn auch noch zeichnen mußte ... Alain hatte sich niemals Gedanken über den kämpferischen 129 Glanz gemacht, der in den Augen von Frater Agius lag und so ganz anders war als die friedliche Gelassenheit, die Bruder Gilles ausgeströmt hatte. Er ging um eine Ecke der Halle herum und führte die Hündin an einer kleinen Gruppe von Soldaten vorbei, die sofort zur Seite traten, obwohl sie nicht einmal sehr nah standen. Auch sie schlugen das Kreiszeichen über der Brust, als wollten sie ein Übel abwenden. Er hörte sie tuscheln. »Das ist unheimlich, wirklich.« »Nicht einmal Meister Rodlin hat die Hunde unter Kontrolle. Keiner außer dem Grafen kann das, höchstens sein Erbe, wenn er einen hätte.« »Ich hätte ja gedacht, daß er sie töten lassen würde, nach all dem, was sie seinem Kind angetan haben -« »Still. Sprich nicht davon.« »Es ist unheilig. Das Blut des Teufels. Mein Vater sagte, daß die Hunde nur den Grafen oder seinen Erben anerkennen oder die, in denen sie das Blut des Teufels riechen. Die Hunde stammen nämlich von den Elfen.« Alain starrte beharrlich zu Boden und tat so, als hörte er die Worte nicht. Wildes Gebell lenkte ihn ab. Er trat durch einen Palisadenzaun und kam zu einer niedrigen Einfriedung, dem Zwinger. Die Hunde, die noch am Wagen festgebunden waren, scharrten so stürmisch mit den Pfoten auf dem Boden, daß Erde aufgewirbelt wurde. Sie zerrten an den Ketten und schnappten nach Meister Rodlin und seinen beiden Helfern, deren Arme und Beine zum Schutz gepolstert waren. Der Aikha-Prinz, aus dessen aufgerissenem Bein noch immer Blut tropfte, betrachtete das Schauspiel mit kühler Verachtung. »Geh.« Alain versuchte, so etwas wie Autorität in seine Stimme zu legen, als er den Hund zum Tor der Einfriedung 130 drängte. Der Wagen war noch nicht ganz drin, obwohl der Ochse bereits abgespannt und weggeführt worden war, und Rage versuchte, Alain in die falsche Richtung zu ziehen, begierig darauf, sich in einen Kampf zu stürzen. Die Soldaten waren Alain gefolgt. Offensichtlich waren sie als Wachen des Aikha-Prinzen abgestellt, aber wohl mehr an Rodlin und seinen Helfern interessiert, die sich bemühten, die Hunde von den Ketten zu befreien und in den Zwinger zu verfrachten, ohne in Stücke gerissen zu werden. Alain seufzte und zog die undankbare Hündin zum Tor. »Geh schon! Rein mit dir!« Rage trat hinein; sie winselte wie zur Entschuldigung. Alain eilte zum Wagen zurück. Kummer hatte das Bein eines der Helfer zu fassen bekommen und machte sich an der Polsterung zu schaffen, um das darunter liegende weiche Fleisch zu zerfetzen. »Laß das! Sitz!« Alain packte das Halsband des Hundes. Kummer jaulte auf, setzte sich dann jedoch schlagartig hin und ließ von dem Bein ab. Der Mann humpelte außer Reichweite, wo er sich umständlich niederließ. Meister Rodlin und der andere Helfer verzogen sich ebenfalls rasch und beäugten Alain und die Hunde aus sicherer Entfernung. Vor ihm hatten sie ebensoviel Angst wie vor den Hunden. O Herr und Herrin, womit hatte er das verdient? »Komm schon, Junge«, wandte er sich an Kummer. »Rein mit dir.« Er führte Kummer und die anderen vier Tiere nacheinander in die Einfriedung. Vier weitere waren bereits angekettet; sie waren in einem anderen Käfig hergebracht worden. Alain ging mit den Tieren in eine Ecke, wo er sie mit Worten und - ein einziges Mal nur seiner Hand im Zaum hielt. Währenddessen rollten die reichlich nervösen Soldaten den Wagen herein und stellten den Aikha-Prinzen mitsamt Kreuz in einem Unterstand auf, der an drei Seiten von einem Holz131 gitter umgeben war; Kastellanin Dhuoda hatte ihn mitten im Zwinger errichten lassen. Selbst wenn es dem Prinzen irgendwie gelingen sollte, sich von den Ketten und aus dem Käfig zu befreien, hätte er es immer noch mit den Hunden zu tun. »Jemand sollte sich die Wunde ansehen«, meinte Meister Rodlin mit einem Blick auf den Prinzen. Er stand auf
der hohen Plattform, die auf Stelzen am Rand der Einzäunung für die Wachen errichtet worden war. »Aber ich würde vermuten, daß er genauso wild darauf ist wie die Hunde, den Heiler anzufallen.« Der Prinz betrachtete sie. Blut tropfte noch immer aus der Wunde, aber er schien es nicht zu bemerken. Ein Geistlicher erschien und warf einen nervösen Blick durch das Tor des Zwingers, beäugte zunächst die Hunde, dann den Aikha-Prinzen. »Meister Rodlin. Ich bitte um Entschuldigung, Meister«, rief er schließlich, als er den Mann hoch über sich entdeckt hatte. »Der Graf wünscht Euch und den Jungen zu sprechen.« »Welchen Jungen?« fragte Meister Rodlin. Mit einem Mal blickten alle, mit etwas Verzögerung auch Meister Rodlin, auf Alain. Und dann richtete auch der Aikha-Prinz seinen Blick auf den Jungen. Alain zuckte zusammen. Rage und Kummer saßen zu seinen Füßen und knurrten. »Raus jetzt, alle«, befahl Rodlin. Die Hast, mit der die Soldaten und Hundeführer sich zurückzogen, ließ ein verächtliches Grinsen auf den Lippen des Prinzen erscheinen, ein wildes Zähneblecken. »Komm mit, Alain.« Rodlin verschwand einen Augenblick, als er die Stufen hinunter auf die andere Seite der Einfriedung schritt. Alain ließ die Hunde frei. Sofort schössen sie davon und rasten wild kläffend im Zwinger hin und her. Rage und Kummer folgten ihm bis zum Tor, doch er rieb nur ihre großen Köpfe und versprach, bald wiederzukom132 men. Dann schlüpfte er durch das Tor und schloß es von außen. Die Hundeführer verriegelten es sorgfältig. »Komm«, sagte Rodlin kurz angebunden. Schweigend schritten sie nebeneinander zur Halle, in einigem Abstand zu dem vor ihnen hertrippelnden Geistlichen. Alain war niemals weiter als bis zur großen Halle gekommen, in der gegessen wurde. Rodlin führte ihn jetzt durch eine Tür zu einem winzigen Hof mit farbenprächtigen, wohlriechenden Kräutern und Blumen, dann eine Wendeltreppe im Steinturm hinauf bis zu einer runden Kammer. Sie war weiß getüncht, und ein wunderschön bemaltes Glasfenster mit dem Martyrium des heiligen Lavrentius ließ das helle Sonnenlicht herein. Erstaunlicherweise gab es ein zweites Fenster, allerdings ohne Glas; die Läden waren weit aufgestoßen, um ebenfalls Licht und frische Luft hereinzulassen. Graf Lavastin saß hinter einem Tisch, neben ihm Kastellanin Dhuoda, sein Cousin Jeoffrey, Frater Agius und der Hauptmann der Wache. Graf Lavastin blickte von einigen Dokumenten auf, als Rodlin und Alain den Raum betraten. Der Geistliche nahm seinen Platz neben Jeoffrey ein. Rodlin ließ sich in knapper, aber deutlicher Ehrerbietung auf ein Knie nieder, und Alain tat es ihm leicht zitternd gleich. Doch Lavastin schaute weg und wandte sich zunächst wieder den Dokumenten zu. »Ich glaube, wir sind die Bedrohung für diesen Sommer los«, meinte er an Jeoffrey gerichtet. »Ich brauche Euch und Eure Soldaten nicht mehr. Ihr könnt auf den Besitz Eurer Frau zurückkehren, wann immer Ihr bereit dazu seid.« »Jawohl, Cousin.« Jeoffrey nickte. Obwohl er einen guten Kopf größer und auch um einiges kräftiger war, schien Jeoffrey tiefe Ehrfurcht vor seinem älteren Cousin zu haben. »Wir hoffen jedoch, daß Ihr unsere Anwesenheit noch ein oder zwei 133 Monate erdulden werdet. Meine teure Aldegund ist jung, und es ist ihre erste Niederkunft. Es wäre besser -« »Ja doch!« Lavastin klopfte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch. »Natürlich müßt Ihr nicht abreisen, bevor Aldegund das Kind geboren hat und beide kräftig genug sind, um eine fünftägige Reise zu überstehen.« Seine Lippen verzogen sich zu einer dünnen Linie - es sollte wohl so etwas wie ein Lächeln sein. »Schließlich wird dieses Kind eines Tages, sofern Gott ihm Leben und Gesundheit schenkt, zum Erben meines Landes werden, nicht wahr?« »Falls Ihr nicht wieder heiratet«, entgegnete Jeoffrey ernst. Doch sogar Alain wußte, daß selbst ein freundlicher, wenig ehrgeiziger Mann wie Jeoffrey zielstrebige Pläne für seine Kinder hegen konnte. Und die Ländereien um Burg Lavas waren beträchtlich. Graf Lavastin machte plötzlich ein Zeichen, als wollte er sich gegen das Böse schützen oder gegen ein schlechtes Omen. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Jeoffrey rasch. »Ich wollte nicht -« »Ist schon in Ordnung«, sagte Lavastin. Alains Knie begann angesichts seiner ungewohnten Lage zu schmerzen. Er versuchte das Gewicht etwas zu verlagern Blitzschnell hatte er Lavastins Blick auf sich gezogen. »Meister Rodlin. Ist das der Junge? Wie heißt er?« »Alain, Herr.« Lavastin musterte Alain. Aus der Nähe und ohne Kettenpanzer wirkte der Graf noch zierlicher. Er hatte ein schmales Gesicht, und seine Haare waren von einem unbeschreiblichen Braun, doch die Farbe seiner Augen war ein klares Blau. »Wer sind deine Eltern?« fragte er. »Aus welchem Dorf kommst du?« »Ich bin der Sohn von Henri, Herr«, brachte Alain mühsam 134 hervor. Er konnte kaum glauben, daß er mit einem großen Edlen sprach. »Ich habe meine Mutter niemals kennengelernt. Ich komme aus Osna, das beim Drachenrücken -« »Ja. Das Kloster dort wurde zu Beginn des Frühjahrs niedergebrannt. Eine Stiftung des Königs.« Er hielt inne, und Alain fragte sich, ob er wohl glücklich oder unglücklich darüber war, daß ein königliches Stiftskloster niedergebrannt worden war. »Osna ist auch ein wichtiger Hafen, einer der großen Handelsplätze. Wußtest du
das?« »Mein Vater ist ein Kaufmann, Herr. Meine Tante ist eine wohlhabende Bürgerin von Osna; sie verwaltet all das, was er heimbringt, und sorgt für die Waren, die er verkaufen kann, hauptsächlich Mühlsteine, die in der Werkstatt hergestellt werden.« »Hast du schon vorher mit Hunden zu tun gehabt?« »Nein, Herr.« »Du bist in der Mittsommernacht zu den alten Ruinen gegangen. Hast du dort etwas gesehen?« Eine beiläufige Frage, wie es schien. Alain traute sich weder den Blick vom Grafen abzuwenden, noch ihn allzu intensiv anzusehen. Er kämpfte einen Augenblick mit sich, versuchte seine Gedanken zu ordnen und zu entscheiden, was er sagen sollte. »Nun?« verlangte Lavastin, der ganz offensichtlich wenig Lust hatte, Geduld für andere aufzubringen. Sollte er seine Vision zugeben? Was konnten sie ihm schon zur Last legen ? Er spürte den Blick von Frater Agius auf sich, lauernd, prüfend. Hexerei? Verbotene Zauberei? Eine Verbindung zum Teufel? Oder sollte er die Vision ganz leugnen und sein Seelenheil wegen dieser Lüge in Gefahr bringen ? Lavastin stand auf. »Also hast du etwas gesehen.« Er schritt zum geöffneten Fenster und starrte auf den Wald und die Hü135 gel dahinter. »Meister Rodlin, Ihr werdet diesen jungen Mann zu Eurem Stellvertreter machen. Er soll Euch bei der Versorgung der Hunde helfen.« Enttäuscht beugte Alain erneut das Knie, als auch Rodlin sich nochmals verbeugte und sich bereit machte, das Zimmer zu verlassen. Schließlich war es immer noch besser, als Latrinen zu putzen. Der Graf wandte sich vom Fenster ab und musterte Alain einen Augenblick prüfend. »Und du meldest dich bei Feldwebel Fall. Er wird dich zum Soldaten ausbilden.« Während Alain noch mit offenem Mund dastand - zu verblüfft, um auf angemessene Weise zu antworten -, schritt der Graf wieder zum Tisch und setzte sich. »Frater Agius, sagt Diakonissin Waldrada, daß ich sie vor dem Abendessen sprechen will.« Der Frater nickte und verließ nach einem durchdringenden Blick auf Alain die Kammer. »Hauptmann.« Lavastin wandte seine Aufmerksamkeit jetzt von Alain ab, als wäre er gar nicht mehr da. »Wir werden in diesem Herbst an den Ufern der Vennu Zäune errichten. Ich werde dafür besondere Abgaben erheben. Wenn wir sie in dieser Weise aufstellen -« Rodlin berührte Alain am Ellbogen. »Komm.« Alain fuhr zusammen; er wandte sich um und ging mit Rodlin zur Tür. Doch sein Blick blieb bei den zwei Wandteppichen zu beiden Seiten der Tür hängen. Auf dem einen war das Wappen von Lavas abgebildet: zwei schwarze Hunde auf einem silbernen Feld. Der andere zeigte etwas, das Alain jetzt wie gebannt anstarrte. Ein Prinz reitet mit seinem Gefolge durch einen dunklen Wald. In der lerne erhebt sich ein Berg, dessen rauchgraue, dunstige Spitzen sich dem düsteren Himmel entgegenrecken. Vom Sattel des Prinzen hängt ein Schild: eine rote Rose vor einem schwarzen Hintergrund. 136 Rodlin faßte ihn am Arm und zog ihn aus der Kammer, während hinter ihnen Graf Lavastin mit seinem Hauptmann, seinem Cousin und den anderen Pläne für den Herbst und Winter besprach, etwa die Einführung eines neuen, schwereren Pfluges, mit dem man neue Felder im Waldgebiet würde roden können. Eine rote Rose auf einem Schild. Natürlich war die Vision wirklich gewesen. Er mußte nur Geduld haben. Als Alain im Burghof auf Rodlin wartete, der sich mit Feldwebel Fall besprach, ließ er seine Finger über die Tunika gleiten. Einige jüngere Soldaten hielten sich im Hof auf, und da sie nichts Besseres zu tun hatten, starrten sie ihn leise tuschelnd an. Selbst durch seine Kleidung hindurch fühlte sich die Rose warm an - ganz, als wüßte sie und wäre zufrieden, daß er jetzt zum Soldaten ausgebildet werden sollte. Obwohl es ein warmer Tag war, überlief ihn ein Schauer. Er fühlte sich, als wäre er gesegnet, schließlich war sein innigster Wunsch in Erfüllung gegangen. Doch er fragte sich auch, ob es wirklich gut war, die Aufmerksamkeit einer solchen Macht auf sich gezogen zu haben - denn er wußte nicht: War sie nun eine auf der Erde wandelnde tote Heilige oder der Engel des Krieges, der aus den Sphären der Sterne herabgestiegen war, um den Helden auszuwählen ... oder das nächste Opfer? IV Das Schatzhaus
1 Was sie am meisten an Hugh haßte, war die Art, wie er sie unaufhörlich beobachtete. Er wartete. Es kostete sie große Anstrengung, auf jedes Wort, jede Handlung zu achten, den ganzen Tag hindurch pausenlos wachsam zu sein. Er wartete. Früher oder später würde sie sich verraten.
Am schlimmsten war es am frühen Abend, wenn sie die Arbeit beendet hatte; zumindest in der Zeit zwischen Non und Vesper, bevor sie sich schlafen legte, hätte sie Ruhe vor ihm haben sollen. Sie hätte den Himmel betrachten und sich den Erinnerungen an ihren Vater hingeben können, doch gewöhnlich blieb Hugh bis spät in die Nacht draußen auf einem Stuhl sitzen und beobachtete sie, wartete darauf, daß sie sich irgendwie verriet. Ihr einziger Schutz bestand darin, so zu tun, als wüßte sie von nichts: Pa hatte ihr keinerlei Geheimnisse anvertraut, we138 der über die Himmelssphären noch andere. So schwieg sie, wenn sie Hugh mit dem Astrolabium in den Händen draußen sitzen sah. Er drehte das Gerät unschlüssig in den Händen, spielte an der um das Zentrum drehbaren Alhidade und fuhr mit den Fingern über die durchbrochenen Scheiben; er hatte offensichtlich nicht den Hauch einer Ahnung, wie er es auch nur dazu benutzen konnte, die Zeit abzulesen. Es verblüffte sie, daß Hugh, dieser eigentlich gebildete Kirchenmann, den Athar nicht bemerkte - jene Erscheinung, die im Sternbild des Drachen mittlerweile so hell leuchtete wie ein Viertelmond. Und es erschreckte sie auch. Niemals zuvor war ihr in den Sinn gekommen, wie verboten das Wissen über die Sterne wirklich sein mußte, jenes Wissen, das sie von klein auf von ihrem Vater gelernt hatte, mit der Selbstverständlichkeit, mit der eine Ente das Schwimmen lernte. »Zauberer und Seefahrer«, hatte ihr Vater immer gesagt, »studieren den Himmel aus einer Notwendigkeit heraus.« Hin und wieder, wenn sie sich allein glaubte, versuchte sie, den Himmel zu beobachten. Pa hatte seine Beobachtungen in winziger, präziser Schrift auf die Seitenränder des Buches der Geheimnisse geschrieben, und sie hatte sie in ihre Gedanken übertragen müssen. »Denn es steht geschrieben in den Erinnerungen der Alisa von Jarrow: >Das Wissen ist ein Schatzhaus und das Herz seine innerste Kammer.< Mache aus deinem Gedächtnis eine große Stadt, Liath, und verzeichne ihre Straßen, als würdest du in deinem eigenen Körper Spazierengehen. Es ist eine geheime Stadt, die nur dir gehört; du mußt die Erinnerungen, an die du dich erinnern willst, ablegen, indem du jedem Ding ein wiedererkennbares Siegel gibst, ein Bild oder eine Beschreibung. Jedes Teil soll seinen rechtmäßigen Platz entsprechend der rechtmäßigen Anordnung erhalten. Das wird dich reicher 139 machen als jeden König. Wissen ist ein unbestechlicher Schatz, der niemals seinen strahlenden Glanz verliert.« So hatte sie ihr Gedächtnis im Laufe der Jahre unter großen Anstrengungen zu einer imaginären Stadt ausgebaut, und zwar mit einer solchen Vollkommenheit, daß sie mit geschlossenen Augen hindurchschreiten konnte, als würde sie wirklich existieren: In einem großen See ruht eine vollkommen runde Insel, die sich sanft aus dem Wasser erhebt und zu einem kleinen, kreisförmigen Plateau aufsteigt. Es gibt sieben Ebenen umgeben von je einer Mauer, jede in einer anderen Farbe. Innerhalb der innersten und höchsten Mauer oben auf dem Plateau befindet sich ein Platz mit vier Gebäuden - je eins im Norden, Osten, Süden und Westen. In der Mitte steht ein Steinturm. Das Observatorium, ein runder Marmorbau, ist am nördlichsten Punkt der Nordsüdachse zu sehen, mit Blick auf den Nordstern Kokab und jene Konstellation, die als Wächter bekannt ist. Wenn sie nun in diesen Sommernächten draußen auf dem Hof zwischen Kapelle und Schweinestall stand und gen Himmel schaute, prägte sie sich das Bild dieses Observatoriums ein - die kreisförmige Mauer, die Visiersteine und -löcher, die Säule in der Mitte. Sie stellte sich die zwölf Bögen vor, die die zwölf Häuser des Zodiaks symbolisierten, die man auch die Häuser der Nacht nannte - oder den Weltdrachen, der die Himmelsphären verbindet. Im Haus des Drachen legte sie einen Seestern ab, wie sie einmal einen im Wattenmeer an der andallanischen Küste gesehen hatte. Dieser Seestern mit seinen sechs Armen glühte in einem ebenso hellen und gleißenden Licht wie die Erscheinung. Sie setzte ihn bei fünfzehn Grad auf dem geschwungenen Bogen im Drachen ab, um sich so immer genau daran er140 innern zu können, wo in der Konstellation er sich befunden hatte. Um ihn herum befestigte sie erfundene Siegel, damit sie niemals die Position der Sonne, des Mondes und all der anderen Planeten vergaß. Und in fünf oder zwanzig Jahren, wenn sie dann noch lebte, konnte sie vielleicht anderen Mathematiki - Zauberern, die sich im Wissen über die Sterne geübt hatten - präzise erklären, wo und wann diese Erscheinung zum ersten Mal aufgeleuchtet hatte. Doch der Sommer verging, und dreieinhalb Monate nach seinem ersten Erscheinen verblaßte der Stern, und das funkelnde Licht verschwand. Sie konnte ihn noch immer sehen; er hatte sich in die Reihe der anderen eingefügt, die zusammen die Konstellation des Drachen bildeten, aber jetzt war er nur noch ein gewöhnlicher Stern. Vielleicht wurden so Engel geboren: Erst kündete ein außergewöhnliches Leuchten von ihrer Geburt, dann folgte, das Werk Unserer Herrin und Unseres Herrn, ein langanhaltendes, gleichmäßiges Glühen. Vielleicht war er auch nur ein Komet, wie die Mathematiki gerne jene Sterne mit einem Schweif nannten, die manchmal die Sphäre der Sonne durchkreuzten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie nicht gewußt, wie sehr sie tief in ihrem Innern doch noch gehofft hatte, daß ihr Vater nicht wirklich tot war, sondern auf wundersame Weise zurückkehren und sie retten würde. Der fremde
Stern war in jener Nacht erschienen, da ihr Vater gestorben war, beinahe als wäre er ein Todesbote; zumindest hatte ihr Vater das wohl geglaubt, wie sie jetzt erkannte. Als der Athar verblaßte, schwand mit ihm auch jede Hoffnung. Er war tot, für immer fortgegangen, um die sieben Sphären zur Kammer des Lichts zu durchschreiten. Er würde nicht zurückkommen. Sie war allein. 141 2 Liath war gerade damit beschäftigt, Laub und Dung unter die Erde im Garten zu mischen, als Hugh aus dem Stall kam, die scheckige Stute am Zügel führend. Sie blickte ihn an, doch er schwieg, als würde er es genießen, ihr beim Arbeiten zuzuschauen. Als sie die Reihe beendet hatte, machte sie eine Pause, stützte sich auf die Schaufel und sah ihn an. Er lächelte selbstgefällig. »Ich werde zwölf Tage weg sein. Ich muß in den Norden, nach Frielas, reisen, um Neuigkeiten von der Bischöfin zu erfahren und mich um die Ländereien zu kümmern, die zwischen Friedleben und der Stadt liegen. Du kannst deine Mahlzeiten in der Schenke einnehmen, während ich weg bin. Aber am nächsten Herrintag wirst du wieder mit mir essen.« Liath gab mit einem kurzen Nicken ihre Zustimmung. Er war bereits sechs Wochen zuvor nach Frielas geritten und acht wunderbare Tage lang fortgeblieben. Ihr Gesichtsausdruck mußte sie verraten haben. Er ließ die Zügel der Stute los und trat zu ihr, strich ihr mit seiner ausnehmend sauberen, weißen Hand ein paar unordentliche Haarsträhnen aus der Stirn. Sie erstarrte förmlich und ließ es stumm über sich ergehen. »Also«, sagte er und ging zur Stute zurück. Er schwang sich mit jener lässigen Anmut hinauf, die von häufiger Übung zeugte, und musterte Liath noch einen Augenblick von seinem erhöhten Platz aus. »Nimm ein Bad. In der Truhe ist ein Unterkleid und ein wunderschönes langes Oberkleid. Ich möchte, daß du das trägst, wenn wir bei meiner Rückkehr zusammen speisen.« Er wendete das Pferd und ritt die Straße entlang nach Norden, in den Wald hinein. Es war ein seltsamer Anblick, denn über der Hose und der Tunika eines Edelmannes trug er 142 die schlichte braune Robe eines Fraters und hatte ein langes Schwert über den Rücken geschlungen. Liath beendete fünf weitere Reihen, bevor sie in die Küche ging, um sich Hände und Gesicht zu waschen. Das Wasser vom Brunnen wurde immer kälter, je mehr der Sommer in den Herbst überging. O ja, der Sommer war sehr schnell vergangen. Jetzt wurde es nachts bereits kühl. Letzte Nacht war sie Trotter sehr dankbar gewesen, als er sich gegen die Holzlatte gerollt hatte, die ihr trockenes Strohbett vom Schweinepferch trennte, und sie so gewärmt hatte. Sie seufzte und trocknete sich die Hände an der Tunika ab, dann schürte sie das Feuer, damit der Haferbrei in dem großen Kupfertopf weiter köchelte. Es war ein bißchen zu warm in der Küche, einem kleinen Gebäude, das nur einige Schritte von dem weitflächigen Labyrinth aus Kammern entfernt war, die im Laufe vieler Jahre immer weiter aus der Kapelle herausgewuchert waren. Der innerste Kern dieses Irrgartens war von einem Frater aus dem Königreich Aosta errichtet worden, hieß es. Da er an kalte Winter nicht gewöhnt gewesen war, hatte er das Holzgerüst versiegeln und abdichten lassen, so daß sich die Wärme im Gebäude stauen konnte. In diesem Sommer hatte sie es möglicherweise im Schweinestall angenehmer gehabt als Hugh in seiner Zelle. Sie schneuzte sich die Nase, wischte sich einen Strohhalm aus dem Gesicht und ging nach draußen. Die Sonne schien auf die in herbstlichen Farben schimmernden Laubbäume und ihre größeren immergrünen Gefährten. Hugh ritt häufig aus und machte seine Runden; er besuchte Kranke und Sterbende und all jene, die einfach die Gespräche und Gebete mit einem heiligen Mann genossen. Solche Rundgänge dauerten aber gewöhnlich nur einen Nachmittag, bestenfalls noch bis zum nächsten Morgen. Als er zum ersten Mal nach Frielas gereist 143 war, hatte sie nicht gewagt, irgendwohin zu gehen, irgend etwas zu tun, denn sie war die ganzen acht Tage lang überzeugt gewesen, daß er irgendwo, außer Sichtweite, darauf wartete, sie ertappen zu können. Doch Hugh hatte tatsächlich Pflichten zu erfüllen, und gewissenhaft übte er sie aus. Dieses Mal konnte sie es vielleicht riskieren, dorthin zu gehen, wo Hanna das Buch vergraben hatte. Sie dachte unaufhörlich an das Buch. Das konnte auch kaum anders sein, denn obwohl Hugh den ganzen langen Sommer kein einziges Mal davon gesprochen hatte, wußte sie, daß seine Gedanken pausenlos um das Buch kreisten. Sie erkannte es an der Art, wie er sie ansah, wie er in ihrer Anwesenheit andere Bücher anfaßte, als wollte er sie daran erinnern, was sie vor ihm verbarg. Auch Unfreie besitzen noch eine gewisse Freiheit. Hugh besaß ihren Körper. Doch ihre Gedanken oder ihre Seele besaß er nicht. Das Buch der Geheimnisse gehörte noch immer ihr. Sie durchstöberte die Lagerräume, bis sie ein Stück Wachstuch und die Handkelle gefunden hatte. Ein letzter Blick galt der nach Norden führenden Straße; dann wandte sie sich nach Westen, auf die bewaldeten Hügel zu. Das Wetter war schön an diesem frühen Herbsttag. Als sie die Kapelle mit dem Schweinestall, der Küche und dem Garten hinter sich gelassen hatte, fiel ein schweres Gewicht von ihr ab. Hughs bedrängende Gegenwart, alles, was sie an den Verlust ihrer Freiheit erinnerte, war während dieses kurzen Weges verschwunden. In dieser Stunde war sie kein angekettetes Mitglied der Unfreien. Pa wäre in Tränen ausgebrochen, hätte er sie so sehen können - in dem Bewußtsein, daß es seine eigene Dummheit gewesen war, die sie in die Sklaverei getrieben hatte. Armer Pa. Sie wischte eine Träne weg. Sie fühlte sich so einsam. Ein Vogel trällerte. Ein Eichhörnchen huschte über einen
144 Zweig. Herabgefallene Blätter dämpften ihre Schritte. Sie sang. Zuerst hörte sich ihre Stimme rauh und leise an, ja sogar zögerlich, doch dann war sie voller Selbstvertrauen. Sie sang ein altes Lied, das ihre Mutter sie gelehrt hatte; Worte, deren Bedeutung sie nicht verstand, deren außerordentlicher Klang sich mit der exotischen Melodie jedoch auf wundervolle Art verband. Sie verstand genug Dariyanisch, um zu erraten, daß es einen Zusammenhang zwischen diesen Worten und der Sprache jenes Kaiserreiches gab, das seit langem zu existieren aufgehört hatte, denn einige Kadenzen waren gleich. »Liath.« Sie blieb schlagartig stehen. »Hanna?« Hinter ihr raschelte ein Tier im Gebüsch. Doch als sie sich stürmisch umdrehte, war nichts zu sehen. Eine vom Wind geschaffene Illusion oder ihr Herzenswunsch. Eine schwache Erinnerung an die Stimme ihrer Mutter. Das war alles. Sie ging weiter. Sie erreichte die Lichtung, auf der die alte Eiche stand, und verharrte dort eine Zeitlang angestrengt lauschend. Ein Vogel pfiff, wiederholte immer wieder die gleiche, aus fünf Tönen bestehende Melodie. Aus der Ferne hörte sie jemanden kräftig und rhythmisch hacken; irgendwer war draußen im Wald und bearbeitete Holz. Sonst nichts. Sie war allein. Nach so langer Zeit war sie erstaunt darüber, wie lebendig sich das Buch in ihren Gedanken anfühlte, wie sehr sie die Seiten beim Umblättern spüren konnte, wie unterschiedlich sie sich anfühlten. Denn das Buch der Geheimnisse bestand eigentlich aus drei Büchern, die zu einem zusammengebunden waren. Das erste Buch war auf Pergament und in Dariyanisch verfaßt, der Sprache der Kirche und des alten Kaiserreiches, das weit im Süden in Darre entstanden war, wo jetzt die Skopos am 145 großen Herdfeuer Unserer Herrin herrschte. Bis auf die ersten drei Seiten war alles in der Schrift ihres Vaters geschrieben und zum Schluß auch in ihrer eigenen. Es war eine lange und eher verwirrende Zusammenstellung all des Wissens, das Pa, der Mathematikus, aufgeschnappt und wild durcheinandergewürfelt hatte, so als müßte er auch den kleinsten Hinweis aufschreiben, an den er sich noch erinnern konnte oder den er in irgendwelchen Bibliotheken hatte finden können. Obwohl sie nicht den ganzen Text auswendig gelernt hatte, kamen ihr einzelne Passagen wieder ins Gedächtnis; Zitate drängten sich in ihr Bewußtsein wie Fische an die Wasseroberfläche. »Astronomie beschäftigt sich mit den Umdrehungen der Himmelssphären, mit dem Auf- und Untergang der Konstellationen sowie ihren Bewegungen und Namen, mit den Bewegungen von Sonne und Mond, der Sterne und Planeten und schließlich mit den Gesetzen, denen all diese Bewegungen in all ihren Variationen gehorchen ... Die Mathematiki suchen selbst jenseits solcher Gesetze nach den Geheimnissen der Himmels Sphären, denn i bestimmte Bewegungen beschwören eine Macht, und die läßt sich für Zauberei nutzen ... So wird auch die Bewegung der See wunderbar durch die Umlaufbahn des Mondes bestimmt. Auf ewig sind sie Kameraden im Zu- und Abnehmen. Wenn man im Monat Novarium die Glocke für die Vigilien läutet, sobald Arktos aufgeht, sollte man dreißig Psalmen ohne Schwierigkeiten singen ... Man sollte sich nicht rasieren, wenn der Mond im Zeichen des Palken steht... So können, wenn Aturna und Erekes sich gegenüberstehen, die Dämonen der siebten Sphäre heruntergezogen werden 146 durch die zweite Sphäre, und falls gerade Vollmond ist, werden sie unter seinem Einfluß in die Bande deiner Beschwörungen gelockt...« Das dritte Buch war in der Art - nämlich auf Papier - und in der Sprache der Ungläubigen verfaßt, voller Schnörkel und Schleifen, die sich wie phantasievolle Vogelspuren ausnahmen. Dies war die große astronomische Abhandlung in Jinnisch, Über die Konfiguration der Welt, geschrieben von dem ungläubigen Gelehrten al-Hasan ibn al-Haithan al-Tulaytilah. Die Kopie stammte von den Schreibern des großen Meisters selbst, denn sie waren ihm begegnet, als sie sich mehr als zwei Jahre lang am Hof des Kalifen von Qurtubah im ungläubigen Königreich Andalla aufgehalten hatten. Das älteste und empfindlichste der Bücher, geschrieben auf vergilbtem und brüchigem Papyrus, war in der Mitte. In peinlich genauer Schrift standen da Wörter, deren Buchstaben Liath nicht kannte, doch der alte Text war mit Kommentaren in Arethusanisch versehen. Die Inhalte blieben ein Mysterium, denn auch Pa hatte den alten Text nicht lesen können, und obwohl er Arethusanisch verstand, war einfach nicht die Zeit gewesen, ihr eine neue und schwere Sprache beizubringen. Die Zeit, die ihnen zum Lernen zur Verfügung gestanden hatte, hatte er damit verbracht, bei ihr bereits vorhandene Fähigkeiten zu verbessern und zu schärfen: ihre Gedächtnisstadt, ihr Wissen über die Sterne, ihre Kenntnisse in Wendisch, Dariyanisch und Jinnisch. Ihr Vater hatte behauptet, daß sie als Kind Salianisch und Aostanisch gesprochen, es jedoch längst wieder vergessen hatte. »Es ist besser, drei Sprachen richtig zu beherrschen als ein halbes Dutzend schlecht«, hatte er immer gesagt. Der Vogel pfiff erneut. Nichts rührte sich, nur der Wind ra147 schelte in den Zweigen. Sie atmete tief ein, um sich selbst Mut zu machen, dann ging sie über die Lichtung zu
der alten Eiche und kniete sich hin. Ganz tief unten, zwischen aus dem Boden ragenden Wurzeln war eine kleine, halb mit Blättern und Geröll gefüllte Höhlung. Sie nahm die Kelle und legte den Hohlraum frei. Ein Zweig knackte hinter ihr. Vögel kreischten und schlugen wild mit den Flügeln, als sie von den Bäumen aufstoben und sich in den Schutz des Himmels erhoben. Stille. Sie blickte auf, aber es war zu spät. Was für eine Närrin sie doch gewesen war! Da stand Hugh am Rande der Lichtung und lächelte. Er kam langsam auf sie zu, genoß seinen Triumph sichtlich. Liath stellte sich aufrecht hin, einen Fuß auf jeder Seite der Grube. In nutzloser Verteidigung hob sie sogar die Kelle. Doch was würde eine Gartenkelle schon gegen einen Mann ausrichten, der im Kampf ausgebildet war und ein Schwert mit sich führte ? Kurz vor ihr blieb er stehen. »Grab es aus.« Er war sich wohl zu fein, um sich die Hände dreckig zu machen oder den feinen Saum seiner azurblauen Tunika zu beschmutzen - wo war nur das schlichte Gewand geblieben, das er als Frater trug? Sie warf die Kelle zu Boden. »Nein. Macht es doch selbst.« Er schlug sie so hart mit dem Handrücken, daß sie benommen zu Boden stürzte. Sie konnte die Arme nicht bewegen, auch nicht die Beine, aber sie hörte gedämpft das Geräusch, mit dem die Kelle immer wieder ins Erdreich fuhr, während er grub und die Erde auf eine Seite häufte. Hugh grunzte befriedigt. »Na also.« Sie holte tief Luft, atmete eine dünne Wolke aus feinem Staub ein und mußte husten. Aber sie konnte sich wieder bewegen. Er durfte das Buch nicht bekommen. Es war alles, was ihr geblieben war. Zitternd kämpfte sie sich hoch, doch als sie 148 hinblickte, sah sie nur, wie Hugh ein leeres Stück Stoff ausrollte. Er starrte auf den Fetzen in seinen Händen. Er war schmutzig von der feuchten Erde und den Blättern und wehte in der leichten Brise hin und her. Erschreckt krabbelte sie auf allen vieren zum Erdloch und durchwühlte die Erde verzweifelt mit den Händen. Doch das Loch war leer. »Es ist weg!« Sie sank vornüber und lehnte den Kopf gegen die Eiche. Weg. Irgendein Tier hatte es ausgegraben und in Stücke gerissen. Ein Kind auf der Suche nach Eiern hatte es gefunden und mit nach Hause genommen, um es dort zu verfeuern. Oh Herr und Herrin! Daß etwas so Kostbares auf so dumme Weise verloren gehen mußte. Wenn sie sich nur einen besseren Platz als Versteck ausgedacht hätte! Aber sie hatte nur einen kurzen Augenblick Zeit gehabt, Hanna um Hilfe zu bitten, bevor sie von Schultheiß Liudolf zur Verhandlung gezerrt worden war. Und die alte Eiche war ihr bevorzugter Treffpunkt gewesen. Vielleicht hatte Hanna ja das Buch gar nicht vergraben, sondern nur so getan? Vielleicht hatte Hanna es ja für sich behalten? Aber das war der Einfluß von Hugh. Wenn sie Hanna nicht mehr vertraute, konnte sie nichts und niemandem mehr trauen, nie mehr. »Verflucht«, sagte Hugh. »Eine schöne Scharade. Aber ich kriege das Buch, Liath. Ich habe mehr Geduld, als du dir vorstellen kannst.« Sie zog den Kopf ein, wartete auf den nächsten Schlag, aber er kam nicht. Sie hörte seine Schritte und sah ihn im Wald verschwinden, als sie sich umdrehte. Einen Augenblick später erhaschte sie zwischen den Bäumen hindurch einen Blick auf seine Stute, dann verklangen die Geräusche, die er beim Wegreiten verursachte. 149 Sie begann zu weinen, kniff dann jedoch die Augen fest zusammen. Sie würde sich nicht der Verzweiflung hingeben. Den ganzen Sommer hindurch hatte sie ausgeharrt. Wenn sie jetzt aufgab, könnte sie sich Hugh auch gleich ganz ausliefern. »Niemals«, sagte sie leise zu sich selbst. Sie wischte sich kräftig über die Augen, damit der Schmerz die Tränen auslöschte, dann ging sie zur Kapelle zurück. Zuerst mußte sie mit Hanna sprechen. Wie Pa immer gesagt hatte: »Immer einen Schritt nach dem anderen, damit du weißt, wohin du deinen Fuß als nächstes setzen mußt.« Sie wartete noch einen ganzen Tag, bevor sie zur Schenke ging. Meister Hansal stand draußen, er dichtete Löcher in der Holzwand ab. Als er sie sah, legte er seine Arbeit beiseite. »Meinen Gruß, Kind«, sagte er leicht gedehnt mit seiner schroffen Stimme. Er betrachtete sie näher. »Frater Hugh kam gestern hier vorbei und sagte, daß er für zwölf Tage nach Frielas reist, um die Bischöfin zu besuchen. Du kannst mit uns essen. Ich halte das für sehr großzügig.« Sehr großzügig. Liath berührte die Schläfe, wo Hugh sie geschlagen hatte. Sie schmerzte noch immer. »Guten Tag, Meister Hansal. Ist Hanna da?« »Ja, sie hilft ihrer Mutter. Ich bin sicher, sie kann einen Augenblick zu dir kommen, wenn du etwas Zeit hast.« »Danke.« Sie eilte hinein, erleichtert, von ihm wegzukommen. Meistrin Birta beugte sich über einen großen Herd und legte etwas abseits vom lodernden Feuer Steckrüben auf eine Reihe glühender Kohlen. Als sie fertig war, richtete sie sich auf. »Liath! Es freut mich, dich zu sehen, mein Kind. Frater Hugh war hier.« Liath blieb stehen. Wo war Hanna? »Meistrin Birta, auch ich grüße Euch.« 150 Birta schüttelte ihre Schürze aus. Sie roch nach Lauch. »Es geht mir gut, wirklich, Unserer Herrin und Unserem Herrn sei Dank. Und dir, Mädchen? Ich habe mir ernsthafte Sorgen um dich gemacht, als dein Vater starb. Doch der Frater ist sehr großzügig, ja sogar mehr als großzügig, würde ich sagen. Es gibt viele Freie, die härter
arbeiten müssen als du und nicht so gut leben und auch nicht viermal in der Woche Fleisch essen. Ich will damit nicht sagen, daß du das nicht verdient hast, Kind, wirklich nicht. Er ist kein schlechter Mann, dieser Frater. Ein Bastard vielleicht, ja, und stolz, aber er ist von edlem Blut, also war das zu erwarten. Ich habe niemals gehört, daß er seine Pflichten vernachlässigt hätte. Er hat weder Angst vor den Kranken, noch ist er sich zu schade, selbst die Geringsten unter uns zu besuchen. Der alten Martha vom Flußufer, die an den Blattern dahinsiechte, hat er zum Beispiel die Hände zum Segen aufgelegt, als sie ihn darum bat, und er hatte keine Angst, es zu tun.« »Martha starb.« »Nun, nun, Mädchen. Es mag dir nicht gefallen, und ich zweifle nicht daran, daß Hugh von dir etwas verlangt, das du ihm nicht geben willst.« Jetzt zögerte Birtha. »Er ist edel, und wir können uns nicht mit seinesgleichen anlegen. Als der alte Graf Harl damals, als er noch jünger war, zu mir kam und mir auftrug, den kleinen Ivar mit meiner Hanna zu nähren, hatte ich schon Angst, daß nicht genug Milch für beide dasein würde, aber ich tat, was mir befohlen wurde. Du mußt dasselbe tun. Es könnte dir weitaus schlimmer gehen.« Liath errötete; Hitze strömte in ihre Wangen, als hätte sie einen Schlag erhalten. »Er hat der Kirche einen Eid geschworen. Wie seine Brüder rasiert er sich den Bart, als Zeichen gegenüber Unserer Herrin, daß er nur Ihr dient.« Birta schnaubte. »Ich bin fest davon überzeugt, daß er nie151 mals heiraten und Ihr Mißfallen erregen wird - oder besser das der Skopos. Aber was hat das mit dir zu tun? Es gibt Leute, die sagen, daß ein bartloser Mann kein richtiger Mann ist und daß es sich bei den Kirchenmännern eigentlich nur um Männer handelt, die so tun, als wären sie Frauen. Aber es gibt nur selten einen Mann, auch nicht einen der Kirche, dessen Schritte auf der Erde keine Spuren hinterlassen. Können wir von ihnen verlangen, auf den Appetit zu verzichten, der Männern nun mal eigen ist?« Dann veränderte sich ihre Miene, als wäre ihr plötzlich ein anderer Gedanke gekommen. »Oder hast du gehofft, daß er seinen Schwur aufgeben würde, um dich zu heiraten?« »Niemals! Das habe ich nicht gesagt!« »Jetzt hör mir mal zu, Mädchen. Du und dein Vater, ihr seid von weit her in diese Gegend gekommen - bei deiner ungewöhnlichen Hautfarbe und dem Akzent und seiner vornehmen, gebildeten Art war das nicht schwer zu erkennen. Es ist offensichtlich, daß du keine von uns bist, nicht wie wir auf dem Lande aufgewachsen bist. Du stammst von einem anderen Ort, auch wenn ich nicht weiß, welcher das sein könnte. Ich habe nicht gehört, daß irgendwelche Verwandten gekommen wären, um dich zu retten, und du hast Schultheiß Liudolf selbst gesagt, daß du keine hast. Du bist zu hübsch und kannst nicht allein ohne den Schutz einer Familie leben. Frater Hugh kümmert sich um dich, wenn es ihm beliebt. Er kommt aus einer mächtigen Familie, seine Mutter ist eine Edle. Oh, Mädchen. Denk nach, bevor du die Gerechtigkeit anzweifelst. Denn es geht dir nicht schlecht bei ihm.« Liath war jetzt über alle Maßen erzürnt. »Er schlägt mich!« »Bei deinem Temperament wundert mich das gar nicht. Er hat dich gekauft. Was immer du vorher gewesen bist, was für eine Familie du zurückgelassen hast, wenn es denn eine gibt -jetzt bist du eine Sklavin. Seine Sklavin. Wenn du klug bist, 152 sorgst du dafür, daß er dich schätzen lernt. Und wenn du gehorsam bist und dich als nützlich erweist, wird er dir vielleicht eines Tages die Freiheit schenken. Doch bis dahin bist du von geringerem Rang als jeder noch so arme, freie Mensch, der in diesen Bergen seine Felder bestellt. Du bist ein stolzes Mädchen, und ich denke, du hast deine Situation noch nicht ganz begriffen.« Liath schluckte verschiedene zornige Erwiderungen hinunter. O Herrin, sprach Birta nicht die Wahrheit? Wut und Trauer und die aufrichtige Sorge, daß sie Hanna nicht sehen würde, wenn sie ihre Mutter verärgerte, spiegelten sich in ihrer Stimme, als sie schließlich eine Antwort herauspreßte. »Entschuldigt mein vorlautes Mundwerk. Ihr seid immer sehr gütig zu mir gewesen, Meistrin, und es tut mir leid, wenn ich unbesonnen und unhöflich gewesen bin.« Birta lachte gezwungen. »Du bist ein gutes Mädchen, Liath. Du mußt lernen, das Beste aus dem zu machen, was Unsere Herrin und Unser Herr dir zugedacht haben. Es gibt viele Mädchen in diesem Dorf, die deinem hübschen Frater mit sehnsüchtigen Blicken hinterher schauen. Denn obwohl uns die Kirche lehrt, daß Männer dem Zusammensein mit Frauen entsagen, wenn sie das Gelübde ablegen, gibt es doch nur selten einen Kirchenmann, der dies mit reinem Herzen bestätigen kann.« Liath hielt den Gedanken nicht aus, daß die Leute von ihr bereits als Hughs Mätresse sprachen. »Ich habe niemals -« Sie stolperte über ihre eigenen Worte, wütend und aufgeregt. »Und ich werde es auch niemals!« Meistrin Birta seufzte und lächelte traurig. Dann, zu Liaths großer Erleichterung, kam Hanna vom Stallhof. »Liath!« Hanna rannte auf sie zu, um sie zu umarmen, löste sich jedoch gleich wieder von ihr. »Du stinkst nach Schwei153 nen, Liath. Der Frater war hier, um zu sagen, daß er einige Zeit fort sein wird und - ist etwas nicht in Ordnung?« »Vielleicht gönnt ihr beiden euch ein bißchen warme Milch, und du nimmst Liath mit nach draußen.« Hanna blickte verblüfft drein. »Natürlich, Mama.« Sie griff nach Liaths Handgelenk und zog sie schnell aus dem Vorderzimmer hinaus. »Bevor sie ihre Meinung ändert.« Sie füllte zwei Becher mit Milch, während sie
weiterredete. »Sie ist niemals so großzügig, wenn es kein Geld bringt. Was ist geschehen?« »Sie hat mir nur erzählt, daß das ganze Dorf davon überzeugt ist, daß ich Hughs Mätresse bin, und es auch in Ordnung findet, und gerade hat sie erfahren, daß ich es weder bin, noch jemals sein werde.« »O je, komm erst mal nach draußen. Wir setzen uns auf die Bank.« Hanna führte Liath zum Hof. Ein Besen und eine Harke lehnten an der Hauswand, und ein großes Stück war bereits bearbeitet; gerade, dunkle Streifen markierten die geharkte, frische Erde. Die beiden Mädchen setzten sich auf eine in der Sonne stehende Bank. »Seit der Versteigerung hattest du keine Zeit mehr, einfach nur mit mir dazusitzen - außer in der Woche, als er nach Frielas ging und ich dich besucht habe. Ich habe gesehen, daß er dich nie aus den Augen läßt.« Hanna blickte zur Schenke und senkte die Stimme. »Willst du wirklich behaupten, daß er nicht mit dir das Bett teilt? Jeder hier weiß, daß er es vorhatte -« »Hanna!« Liath legte eine Hand auf Hannas Arm, um sie zum Schweigen zu bringen. »Was ist mit dem Buch geschehen?« »Das Buch?« Hannas Gesicht hellte sich auf. »Ich wußte, du würdest wahnsinnig werden. Sag mir jetzt nicht, daß du es gesucht hast!« 154 Liath ergriff Hannas Hände. Ihr Herz klopfte heftig. »Hast du es?« »Au! Laß mich los! Ja! Ich habe es dort vergraben, wo du gesagt hast, aber dann dachte ich, daß es wilden Tieren oder den Schweinen vom jungen Johann zum Opfer fallen könnte oder daß kleine Kinder auf der Suche nach Eiern es in die Finger kriegen könnten, und deshalb habe ich es weggeschafft. Wann bist du dagewesen?« »Gestern. Ich dachte, Hugh wäre fort.« »Du bist am gleichen Tag dorthin gegangen, an dem er abgereist ist? Er kam mir gleich etwas verärgert vor, als er hier vorbeikam. Du bist eine Närrin. Ich hätte dir sagen können, daß du einen Tag oder zwei warten sollst, um sicher zu sein, daß er weg ist. Wenn er das Buch so dringend will -« »Ich weiß, ich weiß. Ich habe nicht nachgedacht. Aber er war vorher schon mal weg, und ich dachte, es wäre ungefährlich. Ich muß es einfach sehen, Hanna.« Hanna blickte sich verstohlen um. Sie stand auf, ging zur Tür der Küche und warf einen kurzen Blick hinein, dann schaute sie in das Hinterzimmer der Schenke. Schließlich forderte sie Liath mit einer wortlosen Geste auf, ihr in den Stall zu folgen. Sie gingen ganz nach hinten, vorbei an einzelnen Pferchen und den Schafgehegen und dem Schweinetrog, bis sie an einer Stelle stehenblieben, wo Heu und Stroh vom Dachboden herunterrieselten und im Sonnenlicht tanzten, das durch die geöffneten Läden fiel. Oben auf dem Dachboden saß Hannas Bruder und ließ untätig die Beine baumeln. »Karl. Raus hier. Du mußt den Garten weiterharken,« »Das ist deine Arbeit!« »Nicht mehr, jetzt ist es deine. Nun geh schon!« Er zog eine Grimasse, grunzte Liath ein rasches »Hallo« 155 entgegen und kletterte über eine Seitenleiter ins Freie. Hanna wartete, bis er verschwunden war, dann kniete sie sich hin und löste unterhalb des Schweinetrogs ein paar Bodenbretter. Sie zog ein Päckchen hervor, das in altes, fleckiges Wachstuch eingewickelt war. Liath riß es Hanna aus den Händen. Mit zittrigen Händen machte sie sich daran, es auszupacken. Als sie es vollständig ausgewickelt hatte, strichen ihre Finger über die langen Metallverschlüsse, die das Buch zusammenhielten, über den dicken Ledereinband darunter, der vom Alter grau geworden war und im Sonnenlicht ein Spinnenwebmuster aus haarfeinen Rissen offenbarte. Sie fuhr mit einem Finger über den Buchrücken, befühlte die Messingrosen auf den Metallverschlüssen, las mit den Fingern die eingravierten dariyanischen Buchstaben: Das Buch der Geheimnisse. Ein Name, der das wahre Wesen der Bücher verschleierte, hatte Pa immer gesagt. Liath preßte das Buch gegen ihre Brust. Lange Zeit saß sie einfach nur schwer atmend, fast keuchend da, die Augen geschlossen. Schließlich öffnete sie sie wieder; Hanna starrte sie verwirrt an. »Ich dachte, es wäre weg.« Liath fing sich wieder. »Oh, ich danke dir, Hanna. Ich wußte, du würdest mich niemals im Stich lassen.« Sie umarmte sie, und das Buch zwischen ihnen knisterte; dann trat sie einen Schritt zurück. »Er glaubt, wenn er mich ins Bett kriegt, gebe ich ihm das Buch. Aber das werde ich niemals tun.« »Liath.« Hanna betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Das ist kein Kirchenbuch. Ich habe den Psalter gesehen, den Frater Hugh am Herrtag benutzt, und auch die Heiligen Verse, als die Diakonissin einmal hierherkam und die Messe las.« Sie zögerte, sah beunruhigt aus. Mit ihren blonden Zöpfen und den blauen Augen, die so hell leuchteten wie der klare Herbsthim156 mel, wirkte sie so arglos, wie es sich für die Tochter von Freien gehörte. Doch Liath wußte, daß mehr in ihr steckte, daß sie weit mehr nachdachte und begriff, als man bei ihr vermuten würde. Hanna hatte auch die Neigung ihrer Mutter zu einem sehr pragmatischen Verhalten geerbt. Und sie verriet niemals ein Geheimnis. »Liath. Ich weiß sehr gut, daß du lesen und schreiben kannst. Nicht nur, weil du Mutters Rechnungen korrigiert hast, sondern auch - nun - auch weil ich dich manchmal, wenn ich den kleinen Pfad zu euch heraufkam und du
mich noch nicht bemerkt hattest, in dem Buch habe schreiben sehen. Wenn du mir nicht vertraust, wem dann?« »Du hast recht. Ich habe jetzt niemanden mehr außer dir, Hanna.« »Ivar.« »Ivar ist noch ein Junge, er hat fünf ältere Geschwister, und sein Vater ist ein alter Bär.« »Ivar ist so alt wie wir -« »Er schaut niemals weiter als bis zu seiner Nasenspitze. Er handelt, noch bevor er denkt, und dann denkt er gar nicht mehr.« »Wie kannst du so etwas sagen? Er hat ein gutes Herz, und er ist nicht zu stolz, sich als mein Verwandter zu fühlen, obwohl er der Sohn des Grafen ist. Er hat sich niemals geschämt, daß er mein Milchbruder ist. Du hast gut reden. Selbst der alte Frater Robert, so streng und gläubig er sonst auch war, hielt sich eine Zeitlang eine Mätresse - die alte Martha -, und er war wohl derjenige, der ihr die Syphilis angehängt hat. Auch wenn die Mönche und Frater behaupten, daß sie sich ganz Unserer Herrin und Unserem Herrn hingeben, es gibt immer solche, die sich die Haare binden und sich rasieren und trotzdem den Glauben nicht bis in alle Einzelheiten befolgen. Hugh hat 157 jedoch niemals eine Frau aus diesem Dorf oder dem Umkreis angesehen, nicht einmal aus Ärger - höchstens, um ihr aufzutragen, sein Pferd zu tränken oder ihm Brot zu holen. Wir sind von zu geringem Rang, als daß er uns überhaupt wahrnimmt. Und doch muß er sich um uns alle kümmern. Viele wie Diakonissin Fortensia oder die Brüder am Schafskopf sind davon überzeugt, daß er wirklich Unserer Herrin und Unserem Herrn hingegeben ist. Bis auf die Art, wie er dich ansieht, Liath. Wenn er nur das Buch wollte, hätte er längst einen anderen Weg gefunden, es zu bekommen. Er würde sich niemals mit etwas aufhalten, das ihn nicht interessiert.« Liath war verblüfft über Hannas Tirade. »Hanna -« Ihr fehlten die Worte. »Hanna, ich -« Hanna wartete, und schließlich hatte Liath sich wieder gefangen. »Du würdest nicht wirklich wollen, daß Hugh ... daß er gerne ... daß er -« Sie brach ab. Der Gedanke ging über ihre Vorstellungskraft. »Aber du und Ivar -« »Ivar ist mein Ziehbruder. Natürlich habe ich ihn gern. Aber Ivar ist ein Junge. Hugh hingegen ist ein Mann. Hast du niemals bemerkt, wie sauber seine Hände sind, wie anders er riecht? Hast du niemals das feine Tuch seiner Kleider gesehen? Das Blau seiner Augen? Manchmal lächelt er sogar. Aber er weiß gar nicht, daß Leute wie ich existieren.« Liath war über Hannas Geständnis so schockiert, daß sie nicht wußte, was sie sagen sollte oder wie sie es sagen sollte. »Das habe ich nicht gewollt. Ich wollte niemals, daß er mich bemerkt.« Hanna seufzte. »Natürlich nicht. Das tust du nie. Ivar liebt dich, Liath, aber auch das hast du nie bemerkt. Ich hoffe, du wirst dich niemals in einen Mann verlieben, den du nicht haben kannst. Nun gut.« Sie kehrte ihre praktische Seite hervor. »Was willst du jetzt mit dem Buch machen?« 158 Sie hörten Meistrin Birta vom Hof her rufen. »Hanna! Ihr beide habt euch jetzt lange genug unterhalten. Es gibt Arbeit zu tun.« Liath umklammerte das Buch. Es war alles, was ihr von Pa geblieben war. Doch war es wirklich das einzige, was er ihr zurückgelassen hatte? Da war noch die Frage, was ihre Eltern ihr bei der Geburt vermacht hatten; die ganzen Jahre über war es verborgen gewesen. Doch sie hatte keinerlei Vorstellung, wo sie die Suche beginnen sollte. »Liath«, sagte Hanna mit einem Anflug leichter Verzweiflung. »Es wäre dumm, es mitzunehmen, wenn du nicht willst, daß der Frater es bekommt.« Widerstrebend gab Liath ihr das Buch und das Wachstuch zurück. Sie rieb die Hände fest aneinander und biß sich auf die Unterlippe, um Hanna nicht das Buch aus den Händen zu reißen, als diese es wieder einwickelte und zurück in die Lücke unter dem Schweinetrog schob. Doch sie beherrschte sich, und sie gingen an den Pferchen vorbei zurück. »Hanna«, sagte sie leise, als sie den Hof überquerten, wo Karl Blätter und Zweige zusammenharkte, die vom Wind in der vergangenen Nacht hergeweht worden waren. »Möglicherweise sieht er gut aus, ich weiß, aber du würdest ihn niemals wollen, wenn du wüßtest, wie er wirklich ist.« »Du bist meine Freundin. Das allein zählt.« Meistrin Birta kam ihnen an der Tür entgegen. »Willst du mit uns zu Abend essen, Liath?« Ihr Gesicht war voller Schweiß und Ruß, weil sie so nah am Herd gestanden hatte. »Gerne. Ich werde später wiederkommen.« Sie verabschiedete sich. Liath war so in Gedanken versunken, daß ihr der Weg zurück zur Kirche richtig schnell vorkam. Wie konnte Hanna nur so über Hugh denken ? Pa hatte immer behauptet, daß es 159 nicht gut war, einen Eid zu schwören, wenn man nicht wirklich vorhatte, ihn zu halten. Sie hatte Hugh vom ersten Augenblick an abgelehnt, als sie ihn an jenem Tag ein Jahr zuvor bei ihrem Haus gesehen hatte. Er hatte gesagt, er würde seine Runde machen und seine neuen Schützlinge besuchen, die Herde zusammenhalten, doch sie hatte instinktiv gespürt, daß er im Dorf etwas über Pa gehört hatte, dem er auf den Grund gehen wollte. Er hatte Pa vorsichtig, aber zielstrebig eingewickelt, und Pa war so einsam gewesen, hatte sich so sehr nach dem
Austausch mit einem gebildeten Mann gesehnt. Er war nicht mehr derselbe gewesen, seit seine geliebte Frau gestorben war; er hatte niemals mehr richtig für sich sorgen können. Zwei Jahre hatten sie in Andalla recht ordentlich gelebt, aber das hatte in einer einzigen schrecklichen Nacht ein Ende gefunden. In den vier Jahren danach waren sie arm und vorsichtig gewesen, und wenn Liath sich auch niemals etwas aus der zusätzlichen Arbeit gemacht hatte, so vermißte sie doch das Gefühl, daß es ihnen gutging. Oder wie Pa manchmal zu sagen pflegte, wenn er zuviel getrunken hatte: »Welcher Mann kann sich als einen Edlen bezeichnen, der kein Gefolge hat?« Sie wischte eine Träne weg. Weinen hatte damals nichts genützt, als ihre Mutter gestorben war. Sie hatten eingepackt, soviel sie tragen konnten, und waren mitten in der Nacht aus ihrem Haus geflohen. Weinen nützte auch jetzt nichts. Ein anderes Pferd stand neben Hughs kastanienbraunem Wallach: eine kleine, graue Stute. Liath fand Ivar in der Küche. »Liath!« Er umarmte sie. »Du stinkst nach den Ställen«, sagte er und lachte etwas befangen, dann schob er sie ein Stückchen von sich, als wäre es ihm peinlich, daß er sich diese Freiheit genommen hatte. Liath mußte lächeln. Ivar hatte solch ein sonniges Lächeln 160 und war so froh, sie zu sehen. Sie gab ihm einen Kuß auf die Wange, dann erröteten beide. »Ich habe nicht erwartet, dich hier zu sehen«, sagte sie rasch, um die unangenehme Stille zu überbrücken. Bedächtig legte er einen Holzscheit ins Feuer. »Ich sah Frater Hugh gestern nach Norden reiten. Ich dachte, du wärst vielleicht allein.« »Das bin ich. Ich bin zur Schenke gegangen.« Er blieb beim Feuer stehen, doch sein Blick wanderte zu ihr. Die Flammen beleuchteten sein rötlich-blondes Haar und gaben seinen blassen, sommersprossigen Wangen etwas Farbe. Seine Stimme war leise und ernst. »Komm mit mir. Jetzt. Heute. Du kannst hier nicht bleiben. Ich weiß, daß er dich -« Er stockte. »Ich nehme an, er mißhandelt dich. Ich habe ihn niemals gemocht. Allein der Gedanke, daß er sich für was Besseres als mein Vater hält und doch nur ein Bastard ist.« Da war es. Armer Ivar; er hatte schon immer gerne das Wild erlegt, noch bevor er den Bogen in der Hand hatte. »Wohin sollen wir denn gehen?« »Ich hörte, die Drachen kommen nach Frielas. Der Prinz selbst führt sie an. In diesem Frühjahr und Sommer muß es an der ganzen Küste Aikha-Überfälle gegeben haben. Die Bischöfin benachrichtigte König Henry, daß man welche am Schafskopf gesehen hat.« »Glaubst du wirklich, daß die Drachen mich aufnehmen würden? Du bist der Sohn eines Grafen, und du kannst kämpfen. Wenn dein Vater sich bei König Henry für dich verwendet, wird er dich nehmen. Aber ich habe nicht mehr als das gelernt, was mein Vater mir beigebracht hat, um mich auf unseren Reisen verteidigen zu können. Ich habe keine Familie, die sich für mich einsetzen kann. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, warum ich Lust haben sollte, den Drachen beizu161 treten, wo doch jeder weiß, daß sie in die schlimmsten Schlachten geschickt werden und das erste Dienstjahr häufig gar nicht überleben.« Ihre Worte trafen ihn, und er errötete. »Ich nehme an, Hughs Bett ist nicht ganz so ungemütlich, nicht wahr?« »Nimm das sofort zurück! Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen! Ich schlafe lieber bei den Schweinen als mit ihm!« Ihre Wut brach sich Bahn. Sie bebte am ganzen Körper. Ivar wurde so blaß, daß seine Sommersprossen noch deutlicher zu sehen waren, obwohl er direkt am Feuer stand. »Verzeih mir«, flüsterte er schließlich. »Es ist nur, daß ich -« Er brach ab. Sie war noch zu wütend, um sich für ihren Ausbruch entschuldigen zu können. »Aber was wirst du tun? Jetzt schläfst du noch bei den Schweinen. Glaubst du, daß er es dabei beläßt?« »Er ist ein Mann der Kirche. Du weißt, was sie schwören, wenn sie in den Orden aufgenommen werden.« Es klang selbst in ihren Ohren halbherzig. »Vielleicht verstehst du nicht, wie das läuft. Hugh wurde in die Kirche übernommen, gerade weil er ein Bastard ist. Mein eigener Vater hat eine Tochter, von wem auch immer, die jetzt Diakonissin südlich von Wisslar ist. Er muß sich noch entscheiden, wen von uns jüngeren Söhnen er der Kirche übergibt. Bevor ich geboren wurde, trat meine Schwester Rosvita erst als Nonne in den Orden, dann als Geistliche in die Königliche Schule ein. Es war niemals ihre eigene Entscheidung, auch wenn sie sie dankbar akzeptiert hat. Wie kommst du also auf die Idee, daß Hugh jemals aus freiem Willen in den Kirchendienst getreten ist oder jemals vorhat, sein ... Vergnügen aufzugeben?« Zehn Antworten schössen ihr durch den Kopf, doch es machte keinen Sinn, Worte auszusprechen, die bedeutungslos waren oder, weitaus schlimmer, Lügen. Sie konnte Ivar nicht 162 anlügen, nur um sich selbst nicht die Wahrheit eingestehen zu müssen. Sie schwieg. »Hör mir zu.« Vorsichtig, als nähere er sich einem verwundeten Tier, trat er zu ihr und nahm sanft ihre Hand. »Die Idee mit den Drachen war dumm, ich weiß. Doch Vater muß im nächsten Frühjahr Soldaten zu König Henry schicken, und höchstwahrscheinlich werde ich derjenige sein, der sie überbringt. Vielleicht ... nun, wenn
die Drachen wirklich nach Norden geritten sind, müssen auch einige Adler bei ihnen sein, um dem König Botschaften zu überbringen. Ich habe gehört, daß die Adler jede Person mit einem starken Willen aufnehmen, solange sie nur frei geboren ist. Und du bist frei geboren. Gero reitet morgen nach Frielas. Er soll versuchen, etwas herauszufinden.« »Aber du erzählst ihm nichts von deinem Plan?« Ivars Idee wurde um so schrecklicher, als sie spürte, daß wieder Hoffnung in ihr aufzukeimen begann. »Er wird etwas vermuten. Aber wir können Gero vertrauen. Er haßt Hugh noch mehr als du. Gero ist der Erbe meines Vaters, und Hugh hat ihn im letzten Frühling öffentlich beleidigt, als er ihn wie einen gewöhnlichen Töpferjungen behandelte.« Die Beleidigung schmerzte offensichtlich noch immer. Ivar errötete, und sein Tonfall wurde hitziger. »Mein Vater ist der Graf dieser Ländereien, nur liegen wir so weit nördlich, daß die Rundreise des Königs nie bis hierher gelangte und kein Kind unseres Geschlechts im Dienste des Königs stand, abgesehen von meiner Schwester als Geistliche und einem Großonkel, der als Drache bei der Schlacht von Lenzen starb. Doch Gero war gegenüber dem, was Frater Hugh gesagt hat, machtlos, weil er nicht seine Hand gegen einen Kirchenbruder erheben konnte.« Sie hörte ihm kaum zu. »Ich wollte immer eine Botin des Königs sein.« 163 »Aber die Adler reiten allein. Es ist sehr gefährlich, auch wenn sie das Siegel des Königs zu ihrem Schutz besitzen.« »Es wäre nicht so viel anders als das Leben, das Pa und ich geführt haben. Und ich wäre frei, Ivar. Ungebunden. Die Adler sind niemand anderem verpflichtet als dem König.« Sie schluckte ein trauriges Lachen hinunter. »Frei geboren oder nicht, sie könnten mich dennoch nicht aufnehmen. Ich bin nicht frei. Hugh hat mich für zwei Nomias gekauft. Ich hatte vor der Versteigerung noch nie in meinem Leben Nomias gesehen.« Ivar ließ ihre Hand los und begann, auf und ab zu schreiten. »Dein Vater besaß vier Bücher. Die müssen doch wenigstens einen Nomia wert sein.« »Hugh hat sie genommen, ohne jemals dafür zu bezahlen. Er sagte, sie gehören der Kirche. Er hat sie gestohlen.« Diesmal teilte Ivar ihre Entrüstung nicht. »Diakonissin Fortensia sagt, alle Bücher gehen an die Kirche. Wie auch immer, sie nützen dir ohnehin nichts, wenn du nicht lesen kannst, Liath.« Er blieb vor ihr stehen. »Versprich mir, daß du mit mir kommst, wenn ich einen Weg finde, dich hier herauszuholen.« Er sah so jung aus - ein Junge, der vorgab, ein Mann zu sein. Er hatte noch nicht einmal einen Bart. Liath fühlte sich unendlich viel älter und weiser, und sie fühlte sich so unsagbar müde vom Kampf gegen Hugh. Doch Hanna hatte das Buch in Sicherheit gebracht. Möglicherweise würde Ivar eine Möglichkeit zur Flucht finden. »Ich verspreche es dir. Danke.« Er wurde rot. Er beugte sich vor und küßte sie, doch er war noch unerfahren, und ihre Lippen trafen sich nicht richtig. Er errötete noch mehr und verschwand und ließ Liath allein in der Küche zurück. Sie fühlte sich überraschend gestärkt. Sie hatte das Buch 164 berührt. Wenn es im Westen Aikha-Überfälle gegeben hatte, würden die Adler vielleicht sogar jemanden wie sie nehmen, um ihre Reihen zu füllen. Vielleicht würde Graf Harl Freiwillige benötigen, um König Henry die geforderte Unterstützung gegen die Aikha zukommen zu lassen. Vielleicht würde es einen milden Winter geben. Sie konnte Hugh Widerstand leisten. Sie würde ihm Widerstand leisten. Die ersten fünf Tage gingen viel zu schnell vorüber. Sie war nervös, fürchtete sich davor, daß Hugh jeden Augenblick zurückkehren könnte, daß jedes Geräusch von seinen Schritten stammte. Doch er kam nicht. Sie schlief in der Küche, hielt sich in der Schenke auf und half Hanna bei der Arbeit. Einmal schlich sie sich sogar zu den Ställen und blätterte, bebend vor Angst, daß Hugh plötzlich wie aus dem Nichts neben ihr erscheinen würde, in ihrem geliebten Buch. Doch Hugh tauchte glücklicherweise nicht auf. Am Abend vor dem ersten Herrintag starrte sie in den dämmrigen Himmel und gestattete sich einen kurzen Augenblick der Zufriedenheit. Es war zwar kühl und bewölkt, und so konnte sie trotz Hughs Abwesenheit den Himmel nicht beobachten, aber es blieben ihr ja noch sieben Tage bis zu seiner Rückkehr. Sie bereitete sich ein Bad, schleppte Wasser herbei und erhitzte es. Wie aus weiter Ferne rief sie sich die alten dariyanischen Bäder der Villa in Erinnerung, in der sie mit Pa und ihrer Mutter gelebt hatte. Mit diesen Gedanken rekelte sie sich genüßlich in der Kupferwanne, den Kopf zurückgelehnt, so daß die Haare auf den Wellen schwammen, die ihre Bewegungen auslösten. Das leise fauchende Feuer überflutete sie mit Wärme. Sie hörte das Geräusch eines leichten Nieselregens. Nachdem sie sich ausgiebig eingeseift hatte, wusch sie jedes einzelne ihrer Kleidungsstücke - etwas, das sie nicht zu tun 165 wagte, wenn Hugh zugegen war - und hängte sie zum Trocknen über die Stühle vor dem Herdfeuer. Dann wickelte sie sich in eine Decke, zögerte einen Augenblick und ging schließlich entschlossen zu Hughs Zelle. Das Zimmer war kalt und leer. Leer. Sie schüttete einen Eimer heißer Kohlen in die Kohlenpfanne, und während sich der kleine Raum erwärmte, kniete sie sich auf den weichen Teppich und öffnete die Truhe. Eine kostbare Smaragd-Robe lag gefaltet obenauf, darunter waren drei feine Leinenunterkleider. Sie nahm eines heraus und zog es an. Der Stoff fühlte sich so weich auf ihrer Haut an! Sie seufzte vor Zufriedenheit und suchte weiter in der Truhe, bis sie auf kühle Seide stieß. Es handelte sich um die feine Tunika eines Mannes und das Oberkleid einer
Frau aus heller goldfarbener Seide. Sie starrte die Kleidungsstücke eine Weile bewundernd an. Waren es Geschenke seiner Mutter gewesen? Weshalb bewahrte er sie auf? Sie faltete sie wieder zusammen und legte sie zurück in die Truhe. Dann wühlte sie weiter ... Und fand Bücher. Die ersten vier erkannte sie sofort: die Bücher ihres Vaters. Sie tastete sich weiter hinab, suchte nach dem Astrolabium, doch es war weg. Hugh mußte es mitgenommen haben. Schließlich holte sie das fünfte Buch heraus. Es hatte einen ausgefransten Einband, war jedoch in Gold geprägt, und der Buchrücken war mit Perlen verziert, von denen einige fehlten. Sie öffnete es. Die Taten der Magier. Eine lange Zeit, beinahe eine Unendlichkeit, konnte sie die Hand nicht bewegen, nicht einmal, um mit den Fingern die Wörter zu berühren. Pa hatte ihr von diesem Buch erzählt. »Chaldeos war ein Minister der Kaiserin Thaissania, Sie Mit Der Maske. Auf ihren Befehl hin verfaßte er etwas für 166 ihre drei Kinder, damit sie die Magie verstehen lernten, mit der die Aoi ihr Reich regierten.« Schließlich gelang es ihr, die erste Seite aufzuschlagen. Auf jeder Seite waren drei schmale Spalten, jede fein säuberlich beschrieben. Die erste war in Dariyanisch, die zweite in der anmutigen, vogelspurenähnlichen Schrift des Jinnischen, und die dritte war in Arethusanisch. Bei einem Vergleich des Dariyanischen und Jinnischen erkannte sie, daß anscheinend in jeder Spalte das gleiche wie in den anderen stand - es waren Übersetzungen des gleichen Textes. Wenn sie die arethusanischen Buchstaben herausfand, indem sie sie mit den beiden anderen Sprachen verglich, war sie möglicherweise in der Lage, sie wie einen Kode zu entschlüsseln. Jetzt prasselte der Regen heftiger gegen die Läden. Ein Sturm kam auf. Es war noch kühler geworden, und die Kohlen waren niedergebrannt. Ihre Hände waren beinahe taub vor Kälte. Sie legte das Buch auf das Bett, wickelte sich in die Decke und eilte zur Küche zurück, um das Feuer zu schüren sowie eine Lampe und Nachschub für die Kohlenpfanne zu holen. Als sie wieder zurück in das Zimmer kam, wanderte ihr Blick vom Stuhl zum Federbett. Es war doch sicher nichts dabei, sich an diesem einen Nachmittag einen außergewöhnlichen Luxus zu gönnen, indem sie sich in das weiche und herrlich warme Bett legte und dort bis zum Einbruch der Dunkelheit las! Sie war unschlüssig. Es wirkte irgendwie unanständig, und doch schien das Buch, dessen erste Seite aufgeschlagen war, ihr zuzuwinken. Die Taten der Magier. Darin standen jene Geheimnisse, die ihr Vater erst einen Monat vor seinem Tod angefangen hatte, ihr beizubringen. Warum nicht? Warum nicht dieses eine Mal rücksichtslos sein? Sie machte es sich in dem wunderbar weichen Bett bequem und stützte sich zum Lesen auf einem Ellenbogen auf. 167 Und versank. Buch Eins. Über die Bahnen der Sterne und die Himmelssphären: in welcher Form sie nach Meinung der alten babaharshanischen Magier gebraucht werden können, um den Künsten mehr Macht zu verleihen. Dariyanisch verstand sie so gut, daß sie fast ausschließlich mit den Augen lesen konnte und die Wörter zwar mit den Lippen formte, aber nicht laut aussprach. Jinnisch zu lesen war da schon mühseliger, obwohl sie es einst fließend gesprochen hatte. Sie mußte jeden einzelnen Buchstaben laut aufsagen und die Wörter durch ihre Verbindung mühsam erschaffen. Doch zumindest war ihr ein großer Teil des Inhalts vertraut. Die Sterne folgten festen Bahnen, und der Polarstern Kokab war die Achse, um die sich das große Rad der Sterne in seiner unendlichen Runde drehte. Das kleinere Rad war bekannt als Zodiak, der Weltendrache, der die Himmelssphären zusammenhielt. Er bestand aus einem Kreis von Konstellationen, von denen jede eines der Häuser der Nacht darstellte und durch die sich die Sonne, der Mond und die als Planeten bekannten Wandelsterne hindurchbewegten. Die alten Magier von Babaharshan hatten dieses Wissen in tausendjähriger Beobachtung gewonnen und beherrschten die Zauberei, indem sie die Macht der Sterne und der zu- und abnehmenden Planeten für sich nutzten. Ein schlurfendes Geräusch. Dann ein leises Lachen. Durch und durch verblüfft, schnappte Liath nach Luft, blickte vom Buch auf - und erstarrte vor Schreck. Sie hatte keine Vorstellung, wie lange sie schon las oder wie lange er dastand und sie dabei beobachtete, wie sie Seite für Seite durchging und umblätterte, die schweren jinnischen Worte mit den Lippen nachbildete und laut aussprach. So hatte sie sich also verraten. Hugh trat in die Zelle. Er war müde von der Reise, und seine 168 Kleider waren naß; der Reiseumhang hing über der einen Schulter, die Kirchenrobe war mit Regentropfen übersät. Seine goldenen Haare waren zerzaust, und ein Schmutzfleck prangte an der blassen Wange. Er sah richtig zufrieden aus. »Was ist denn das?« fragte er. Sie konnte sich nicht vom Fleck rühren. Er nahm ihr das Buch aus den Händen und überflog die aufgeschlagenen Seiten. »Du kannst nicht nur lesen, du verstehst diesen erbaulichen Text sogar. Ich bin beeindruckt, wenn auch nicht völlig überrascht, daß du Dariyanisch kannst, selbst in dieser alten Form. Jinnisch verstehst du sicherlich nicht ganz so gut? Selbst ich mit meiner höfischen Erziehung kenne Jinnisch nicht, obwohl ich Arethusanisch so gut beherrsche wie Dariyanisch.« »Ihr könnt Arethusanisch?« entschlüpfte es ihr. Sie war so hin und her gerissen von dem unbändigen Wunsch zu wissen, daß sie sich vergaß. Dann hielt sie inne, griff nach ihrem abgetragenen Leinentuch und schlang es fest
um ihren Körper. Das leinene Unterkleid war viel zu dünn, um es als einziges zu tragen - vor ihm. Er lächelte. Er stellte das Buch wie beiläufig auf den Tisch, zog gemächlich die Handschuhe aus, indem er sie nach und nach von den Fingern zupfte. Er stützte die Hände auf dem Bett auf und beugte sich zu ihr herab, so daß sein Gesicht nur eine Handbreit von ihrem entfernt war. »Ich mag es, wenn deine Haare lose herabfallen.« Er fuhr mit einer Hand an ihrem Nacken entlang, dann vergruben sich seine Finger in ihren Haaren. »Und so sauber. Hast du deine Meinung geändert, meine Schöne?« Der Tonfall seiner Stimme war jetzt anders, merkwürdig rauh. »Nein.« Sie wandte den Kopf ab, entzog sich seiner Berührung und wartete auf den Schlag. Er richtete sich auf. »Ja, es ist ein bequemes Bett. Du wirst 169 es früh genug mit mir teilen. Ich möchte ein Bad. Du kannst das Unterkleid behalten, wenn du mir versprichst, es pfleglich zu behandeln. Schöne Kleidung ist zu kostbar, um nachlässig mit ihr umzugehen. Und das Essen wird heute stattfinden, nicht erst am Herrintag nächster Woche. Du wirst dazu das goldene Überkleid tragen.« Er blickte auf die geöffnete Truhe. »Das du ja bereits gefunden hast.« Er lächelte wieder. Liath konnte sich nicht vorstellen, was ihn in eine solch gute Stimmung versetzt hatte. »Du kannst noch viel schönere Dinge haben als diese hier, Liath. Der Abt von Fiersbarg ist endlich gestorben. Meine Mutter hat die Wahl seines Nachfolgers treulich überwacht. Wann wollen wir nach Süden reiten? Du wirst Fiersbarg mögen. Ich glaube, du wirst auch meine Mutter mögen. Sie ist in einem Kloster erzogen worden, also kann sie lesen, wenn auch nicht so gut wie du oder ich. Und ganz sicher kann sie kein Jinnisch lesen, das ja nicht in den Schulen der Kirche gelehrt wird.« Nach Süden reiten. Liath starrte ihn an. Sie hatte niemals daran gedacht, daß er sie von den letzten Menschen, die sie kannte und denen sie vertraute, wegschleppen könnte, weg von ihrer letzten Verbindung mit Pa. Wie konnte sie auf einer solchen Reise das Buch mitnehmen, ohne daß Hugh es fand? Es mußte ihm klar sein, daß sie es mitnehmen würde. In Fiersbarg kannte sie niemanden, sie würde ganz in seiner Gewalt sein. Hugh schaute sie an; er genoß ihr Unbehagen. »Nicht vor dem Frühjahr, denke ich. Es gibt keinen Grund zur Eile. Ich hasse es, so spät im Jahr zu reisen.« Sie sagte nichts, hielt nur krampfhaft das Tuch fest um ihren Körper geschlungen, als könnte es sie beschützen. »Müssen wir wirklich ein solches Schauspiel aufführen? Ich weiß, daß du gebildet bist. Du verrätst dich unaufhörlich, mit 170 Worten, mit deiner Art zu sprechen, mit dem Wissen, das du eigentlich nicht haben kannst. Es ödet mich an, Liath. Ich habe mich niemals so sehr gelangweilt wie in den letzten zwei Jahren, seit ich in diesen Bergen herumwandere und mich um meine Schäfchen kümmere. Ach, Liath, können wir nicht wenigstens einen Waffenstillstand schließen und uns so unterhalten, wie es unserem Bildungsstand angemessen ist? Ich möchte dir einen Handel vorschlagen.« Er hielt inne, ließ sie über die Aussicht eines großzügigen Angebots nachdenken. »Ich bringe dir Arethusanisch bei. Wenn du mir Jinnisch beibringst. Königin Sophia hatte sich zu ihren Lebzeiten sehr dafür eingesetzt, daß wir in der Königlichen Schule Arethusanisch lernten. Wie du sicher weißt, war sie die Nichte des arethusanischen Kaisers; Arnulf der Jüngere hatte sie als Braut für seinen Erben in dieses gottverlassene Land geholt. Auch unsere Lehrerin, die Klerikerin Monica, hielt es für angemessen, daß wir wenigen, die für ihren besonderen Unterricht ausgewählt worden waren, tatsächlich Arethusanisch lernten - es könnte ja einmal jemand von uns in die Situation kommen, Gesandte in dieses entfernte Land führen zu müssen. Doch als ich sie auch nur ein einziges Mal bat, uns auch Jinnisch beizubringen, wies sie mich rüde zurecht. >Das ist eine Sprache für Ungläubige und Zauberer, sagte sie. Was meinen Wunsch, es zu lernen, allerdings nur noch mehr beflügelte, auch wenn ich nie wieder mit ihr darüber gesprochen habe. Doch ich bin niemals einem Menschen begegnet, der diese Sprache beherrschte - bis ich deinen Vater traf. Und jetzt dich, mein Schatz. Also, was sagst du?« Irgend etwas war ganz und gar falsch, und Liath wußte es. So lange sie ihm nichts gab, befand sie sich vor ihm in Sicherheit. Aber ein kleiner Zweifel war in ihr aufgekeimt. Vielleicht schuldete sie ihm doch etwas Sympathie; ihm, den es von dort, 171 wo die Rundreise des Königs regelmäßig vorbeikam, in dieses Hinterland verschlagen hatte, wo er so ganz ohne seinesgleichen war. Kein Wunder, daß er sich zu Pa hingezogen gefühlt hatte. Und wenn sie Arethusanisch lernte, würde sie die ältesten Texte im Buch der Geheimnisse lesen können. Vielleicht konnte sie sogar die unbekannte Sprache in der alten Handschrift entziffern ... »Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd, mit leiser Stimme. Er lächelte. Sofort wußte sie, daß sie etwas Wichtiges verloren hatte, daß er diese Schlacht gewonnen hatte und dabei war, den gesamten Kampf für sich zu entscheiden. Sie glitt aus dem Bett, drückte sich soweit weg wie möglich von ihm an der Wand entlang und lief aus der Zelle zur Küche, um sich hinter harter Arbeit zu verstecken. Hinter ihr hörte sie ihn ein Lied anstimmen. »Die Herrin ist herrlich in Ihrer Schönheit. Der Herr ist mächtig mit Seinem Schwert. Gesegnet sind wir, Ihre Kinder. Ehre, Ehre überall, wo Ihre Blicke ruhn. Ehre auch an Ihrem Feuer.«
Er hatte eine wundervolle Stimme. 3 An dem Morgen, als es den ersten richtigen Frost gab, erwachte Liath aus einem unruhigen Schlaf. Ihr Körper schmerzte beim Aufstehen. Sie schlurfte - fest in ein Leinen172 tuch gewickelt - zum Holzstapel. Jede Bewegung, jede Berührung tat weh. Eine dünne Eisschicht bedeckte das Holz, und sie mußte sich auf die ausgetrockneten Lippen beißen, um beim Lösen der Holzscheite nicht vor Schmerz aufzuschreien. Sie kämpfte gegen den Türriegel an, bevor sie in die Küche gelangte. Der Temperaturwechsel traf sie wie ein Schock und schmerzte beinahe noch mehr als die Kälte. Sie schürte das Feuer und blieb einen Augenblick bibbernd und hustend davor stehen. Nach einer Weile bückte sie sich, um die Schöpfkelle mit warmem Wasser zu füllen und einen Schluck zu trinken. Das Wasser rann ihre Kehle hinab, wärmte sie von innen. Sie schaute sich um, obwohl sicherlich niemand sonst hier war, dann hielt sie ihre Hände in den Wasserkessel und stand einfach nur da, während sie langsam auftauten. Das Feuer prasselte und loderte so dicht an ihrem Gesicht, daß es auf der Haut prickelte, doch sie kümmerte sich nicht darum. Sie hörte etwas - eine Stimme, Schritte -, riß schuldbewußt die Hände aus dem Kessel und machte sich an dem Roggenmehl zu schaffen, das sie für Pfannkuchen brauchte. Hugh erschien in der Tür. »Es ist kalt. Es ist verdammt kalt, und ich hasse Kälte! Ich hasse dieses eingefrorene Ödland, und ich habe verdammt noch mal keine Lust, den Winter hier zu verbringen. Wir hätten letzten Monat nach Süden reisen sollen, gleich, als ich die Nachricht erhielt. Jetzt ist es zu spät.« Er durchquerte den Raum und zwang sie mit einem harten Griff unter das Kinn, ihm in die Augen zu blicken. »Du siehst fürchterlich aus. Du siehst aus wie ein verfluchtes Mädchen vom Lande, das den ganzen Tag draußen auf dem Feld die Arbeit eines Mannes tut, so rauh ist deine Haut. Und deine Nase läuft. Geh und sieh zu, daß es in meinem Zimmer warm wird. Bring mir das Frühstück. Und dann verschwinde. Ich kann deinen Anblick nicht ertragen.« 173 Er versetzte ihr einen Schlag auf die Wange. Es brannte stärker als sonst, denn die Haut war kalt. Sie zuckte zurück und versuchte die Tränen zu unterdrücken. In seiner Zelle war es sogar noch wärmer als in der Küche. Sie schaufelte glühende Kohlen in die Kohlenpfanne und hockte sich daneben, saugte die Wärme auf. Auf dem Tisch lag ein einzelnes, ordentlich ausgeschnittenes Stück Pergament; oben standen Worte in schöner, anmutiger Handschrift, noch frisch und feucht. Sie reckte den Hals, um die Worte zu entziffern. »Raus! Raus hier!« Hugh stand hinter ihr und schlug ihr beiläufig auf den Hinterkopf. »Du bist dreckig! Verschwinde!« Sie floh zurück in die Küche. Dort verzögerte sie die Arbeit, so gut es ging, als sie Haferbrei und Pfannkuchen zubereitete. Schließlich brachte sie ihm das Frühstück. Doch sie konnte die Arbeit nicht unbegrenzt in die Länge ziehen; schon bald würde er aus seiner Zelle kommen und sie nach draußen ins Freie schicken. Sie klemmte die Hände unter die Achselhöhlen und marschierte forsch zur Schenke. Sie mußte ohnehin Fleisch bei Meistrin Birta besorgen. Das war Grund genug. Doch sie war kaum dort angelangt, hatte gerade Zeit gehabt, sich ein paar Herzschläge lang am Feuer zu wärmen und dabei einen Reisenden zu beobachten, der ein paar Schritte von ihr allein eine Mahlzeit zu sich nahm, als Hugh durch die Vordertür preschte. Er mußte nicht einmal etwas sagen. Sie wäre lieber gestorben, als daß sie eine Szene gemacht hätte. Meistrin Birta kam mit dem Fleisch aus der Küche; da es die Portion für den Frater war, hatte sie es bereits vorbereitet und verpackt. Sie begrüßte Hugh, doch er antwortete nur einsilbig. Hanna tauchte aus dem hinteren Raum auf; sie sah, wie Liath das Fleisch entgegennahm und sich dann zur Tür begab. Hugh folgte im Abstand von zwei Schritten, als würde er sie vor sich hertreiben. 174 Der Reisende blickte auf. Er war grauhaarig, ein wettergegerbter Mann mit einem fellbesetzten Reiseumhang. Er betrachtete die Szene interessiert. Liath spürte seinen Blick auf ihrem Rücken, als sie die Schenke verließ. Draußen schlug Hugh zu. Immerhin trug er Handschuhe, daher brannte der Schlag nicht ganz so sehr. »Habe ich dir erlaubt hierher zugehen?« »Ich mußte das Fleisch hole ...« Er schlug sie erneut. Unfähig, sich zu verteidigen, bedeckte sie die Wange mit einer Hand. Herrin, wie das schmerzte. Sie nahm eine schwache Bewegung aus der Schenke wahr; jemand beobachtete sie. »Du wirst mich um Erlaubnis fragen. Immer. Egal, wohin du gehst. Warte.« Hugh ging wieder hinein. Liath wartete. Hanna schlich sich von der Seite der Schenke zu ihr heran. »Liath -« Die Tür öffnete sich, und Hugh trat wieder heraus; hinter ihm folgte Meistrin Birta, als wäre sie seine Dienerin. »Natürlich, Frater«, sagte sie, die Hände über der Brust gefaltet, der Gesichtsausdruck so fröhlich wie der einer hölzernen Statue. »In Zukunft wird mein Sohn Karl alles bringen.« Sie warf Hanna einen eindringlichen Blick zu, so daß diese sich wieder um die Ecke der Schenke verzog. »Komm, Liath.« Hugh griff mit Fingern, die so scharf wie Krallen waren, nach ihrem Ellenbogen und schleppte sie mit sich. Sie schüttelte den Arm ab und ging allein. Er schwieg während des gesamten Rückwegs, sprach auch den restlichen Tag nicht mehr mit ihr. Dafür verfolgte er jede ihrer Bewegungen und schlug sie bei dem leisesten Verdacht, sie könnte sich ausruhen oder versuchen, der Kälte zu entfliehen.
Sie schlief unruhig in dieser Nacht. Am nächsten Tag war es das gleiche und auch am übernächsten und an dem danach, bis 175 die Tage zu einem einzigen, dichten Nebel aus Kälte verschmolzen. Sie verlor jedes Gefühl für Zeit. Es blieb weiter kalt, doch es war noch nicht wirklich frostig. Sie verlegte ihr schmutziges Strohlager zwischen die Schweine. Trotter mochte sie am liebsten; sie durfte sich gegen seinen Rücken legen, was ihr das Schlafen erleichterte. Einmal, als sie die Pferde striegelte, hörte sie von draußen Hannas Stimme. Sie rannte zur Tür. Dort stand Hugh; er warf Hanna einen Blick voller kalter Verachtung zu. »Dein kleiner Bruder soll die Sachen bringen, niemand sonst«, sagte er. »So habe ich es mit deiner Mutter vereinbart.« »Ich bitte um Verzeihung, Frater, aber wenn ich nur einen Augenblick mit Liath -« »Ich habe gesagt, du sollst gehen.« Hanna wandte sich um und sah Liath. »Willst du mich herausfordern, Mädchen?« fragte Hugh. Es blieb Hanna nichts anderes übrig, als wieder zu gehen. »Zurück an die Arbeit!« herrschte Hugh Liath an. Sie schlüpfte wieder in den Stall zurück; ihr blieb nicht einmal der Trost, Hanna weggehen zu sehen. Eines Tages, noch früh am Morgen, erschien Ivar auf seiner Stute. Er hatte sich in einen riesigen, fellbesetzten Umhang gewickelt, doch sein Gesicht war vor Kälte und Anspannung tief rot. Sie war gerade dabei, Holz zu hacken, und hielt inne, als sie ihn sah. Sie hatte so lange kein vertrautes Gesicht mehr gesehen, daß sie zuerst zu träumen glaubte. »Liath.« Er sprach leise und schnell. »Komm mit. Ich habe einen Plan. Gero hilft mir, dich zu verstecken, und dann werden wir -« Er hob den Kopf und lauschte. Hugh rief von drinnen nach ihr. 176 Sie rannte zu Ivar, griff nach seiner Hand und sprang etwas unbeholfen bäuchlings auf den Pferderücken, schwang dann das Bein ganz hinüber. Ivar wendete das Pferd und gab ihm einen kräftigen Tritt in die Lenden. Es war eine kräftige Stute, die den Eindruck erweckte, als würde sie sie beide tragen können, auch wenn sie keine andere Gangart als einen holprigen Trab zustande brachte. Sie hatten den Weg zum Anwesen seines Vaters beinahe hinter sich gebracht, als Hugh sie auf seinem kastanienbraunen Wallach einholte. Er stellte sich der erschöpften Stute in den Weg und zog sein Schwert. »Bist du bewaffnet, Junge, oder doch klüger als ich dachte?« Ivar trug nur einen Dolch. Er zügelte das Pferd. »Liath, steig ab«, befahl Hugh. Liath stieg ab. »Liath«, protestierte Ivar. »Du kannst doch nicht einfach -« »Ich bin noch nicht fertig mit dir«, sagte Hugh zu Ivar. »Du kannst entweder mit mir kommen und deinen Fall dem Grafen Harl selbst vortragen, oder ich werde ihm von deiner Dummheit berichten. Mir ist es gleich. Liath, du gehst neben meinem Pferd her.« Sie schritt voran, den Kopf gesenkt. Zumindest wurde ihr beim Gehen etwas wärmer. Einmal stolperte sie, aber nicht aus Müdigkeit, sondern aus schierer Verzweiflung. Sie konnte nicht hinsehen, als sie den Graben überquerten und durch den Palisadenzaun in den großen, offenen Hof von Graf Harls Burg kamen. Sie starrte auf ihre Füße, auf Hughs Füße, folgte seinen Schritten den breiten Weg entlang bis zur Halle des Grafen, dann die Steintreppe hinauf bis zu seinen Gemächern. Sie hörte Stimmen, hörte ihren Namen, Ivars Namen. Sie konnte es nicht ertragen, in ihre neugierigen Gesichter zu blicken. 177 Eine Kastellanin führte sie eilig in Harls Privatzimmer. Der alte Graf lag noch im Bett, in unzählige Decken gehüllt. Ein geschorener und glattrasierter Geistlicher schrieb nach seinem Diktat auf ein Pergament. Oh, es war so warm in diesem Raum! Liath schob sich langsam zum Feuer, doch Hugh packte sie am Arm und zerrte sie zurück zu sich, wo ein kühlerer Luftzug herrschte. »Graf Harl.« Er nickte ihm kurz angebunden zu. Es war eine meisterhafte Zurschaustellung seiner Arroganz, und wenn Liath ihn nicht so gehaßt hätte, hätte sie seine verblüffende Eitelkeit bewundern können: daß er, nichts weiter als ein Bastard, einen rechtmäßigen Grafen zu jemandem herabwürdigte, der ihm gesellschaftlich unterlegen war. Doch seine Mutter war eine Markgräfin, und seine Familie war sehr viel mächtiger als die von Harl. »Euer Bürschchen hier hat gerade versucht, meine Sklavin zu stehlen.« Liath warf Ivar, der an der Tür stand, vorsichtig einen Blick zu. Sein Gesicht war puterrot und tränenverschmiert. Es war nicht recht, daß er für den Versuch, ihr zu helfen, so gedemütigt wurde. Doch sie wagte nicht zu sprechen. Harl rieb sich den grauen Bart und betrachtete Hugh mit offensichtlichem Mißfallen. Ein Mann, dem Zeichen auf seiner Wange nach zu urteilen ein Unfreier, brach die Stille, als er frische Kohlen nachlegte. Liath wandte ihren Blick wieder von Ivar ab. Harl ignorierte den Sklaven und sah seinen Sohn an. »Ist das wahr, Ivar?« »Ich habe Silber gespart, noch nicht genug, aber ... aber andere haben mir angeboten, bei der Summe zu helfen.
Um ihren Preis zu bezahlen.« »Sie steht nicht zum Verkauf«, sagte Hugh ruhig. »Und es wird auch keine Freilassungsurkunde geben außer der, die ich mit eigener Hand ausstelle.« 178 »Du hast meine Frage nicht beantwortet, Ivar.« Ivar warf Liath einen glühenden Blick zu, dann senkte er den Kopf. »Ja, mein Herr.« Harl seufzte tief und wandte sich wieder an Hugh. »Was wünscht Ihr?« »Ich wünsche nichts als Euer Versprechen, daß so etwas nicht wieder geschieht.« Hoffnung flackerte in ihr auf. War es möglich, daß Hugh tatsächlich fürchtete, Ivar könnte einen Weg finden, sie zu befreien? Alle wußten, daß Graf Harl den Frater nicht mochte. »Also gut«, sagte Harl. Er sah aus, als würde er Maden in einem Stück Fleisch begutachten. »Es wird nicht wieder geschehen.« »Welche Sicherheit gebt Ihr mir dafür?« Graf Harl hatte inzwischen die gleiche Gesichtsfarbe wie sein Sohn: Röte überzog seine zerfurchte Haut. »Zweifelt Ihr an meinem Wort?« fragte er leise. Der Ton seiner Stimme ließ Liath erschaudern. Es war eine Sache, das Mißfallen dieses Mannes zu erregen, ganz gewiß jedoch etwas anderes, seine Feindschaft auf sich zu ziehen. Hugh zeigte ein Lächeln; es war widerlich und unaufrichtig und um so schlimmer, als es seiner Schönheit keinen Abbruch tat. »Natürlich nicht, Graf Harl. Ich würde niemals Eure Ehre in Frage stellen. Aber Euer Sohn ist jung und ungestüm. Und mein Eigentum ist sehr wertvoll für mich.« Zum ersten Mal sah Harl Liath direkt an, und zwar so rasch und hart, daß sie seinem Blick nicht ausweichen konnte. Er prüfte sie - die Zähne, das Gesicht, den Körperbau, ihre Jugend und Stärke -, doch ob er ihren Wert nun bestätigte oder nicht, war nicht zu erkennen. Schließlich wandte er sich wieder an Hugh. »Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, Frater. Euer Ei179 gentum wird vor meinem Sohn in Sicherheit sein. Meine erste Frau brachte vor vielen Jahren während eines Sturms in einem Kloster in Quedlingham ein Kind zur Welt, und schon seit langem hege ich den Wunsch, ihnen auf irgendeine Weise meinen Dank auszusprechen. Ich werde Ivar als Mönch dorthin schicken. Er wird Euch nicht länger belästigen.« Liath stockte der Atem. Ivar wurde blaß. Hughs Lippen verzogen sich, aber nicht zu einem Lächeln, sondern zu einem Ausdruck höchster Befriedigung. Es wirkte beinahe obszön. »Und jetzt geht«, sagte Harl barsch. »Wenn ich bitten darf. Ich habe viel zu erledigen. Ivar! Du bleibst hier.« Ivar warf ihr einen letzten, verzweifelten Blick zu, als Hugh sie vor sich hinaustrieb. Ein Soldat begleitete sie den Hügel hinunter zum Palisadenzaun, wo Hughs Wallach in der Obhut eines Stalljungen wartete. »Du reitest mit mir«, sagte Hugh. »Eher gehe ich zu Fuß.« Er versetzte ihr mit voller Wucht einen Schlag gegen den Kopf, und nur ihrem Instinkt hatte sie es zu verdanken, daß sie sich rechtzeitig ducken konnte und der Schlag sie nur streifte. »Du reitest.« Er stieg auf und wartete, die Zügel des Wallachs fest in den Händen, bis sie schließlich eine Hand ausstreckte und hinter ihm Platz nahm. Der Ritt zurück war lang, und es war still. Aber Hugh war warm. In dieser Nacht brach der Winter richtig herein. Es war kalt, bitterkalt. Sie konnte nicht schlafen. Zitternd lag sie im Stall bei den Schweinen und stand mitten in der Nacht auf, um sich die Füße zu wärmen; die ganze Nacht ging sie auf und ab, bis der Morgen anbrach. Während der Arbeit war sie so müde, daß er sie einmal dabei erwischte, wie sie im Stehen schlief. Vielleicht auch zweimal. Ihre Schultern und ihr Kopf waren 180 von seinen Schlägen so blau, daß es auf einmal mehr oder weniger nicht ankam. Am nächsten Abend zogen Wolken auf, und mit ihnen kam der Schnee. Das stellte eine gewisse Erleichterung dar, denn wenn es jetzt auch feuchter war, so doch auch wärmer. Aber die ganze nächste Woche, während Schnee den Boden bedeckte, war der Himmel klar. Tagsüber war es fürchterlich kalt, und obwohl sie jeden Fetzen Stoff trug, den sie besaß, zitterte sie unaufhörlich. Am Abend war ihr Körper taub vor Kälte. Es tat weh. Trotz ihrer Erschöpfung versuchte sie sich unablässig zu bewegen, selbst in der Küche; sie stampfte mit den Füßen auf, wiegte sich hin und her, damit Wärme in ihre kalten Knochen drang. Niemals wieder würde ihr richtig warm werden. Die Kälte war ein ewiger Schmerz, der sie von innen zerfraß. Bei Einbruch der Dämmerung pflegte er sie aus der warmen Küche zu werfen. Dann schlurfte sie zu den Ställen - längst besaß sie nicht mehr die Kraft, die Füße zu heben - und ließ sich neben Trotter nieder. Doch auch so dicht bei den Schweinen war es noch kalt. Sie wiegte sich vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück, bis der Rhythmus des Wiegens sie in eine tiefe Benommenheit lullte. Es war so kalt. Sie wußte, daß sie sterben würde, wenn sie weiter hier draußen blieb. Nicht in dieser Nacht, aber in einer anderen, vielleicht morgen oder übermorgen oder noch einen Tag später. Sie fragte sich, ob es ihr etwas ausmachte. Und, o Herrin, mit einem Mal erkannte sie, und sie erschrak zutiefst bei der Erkenntnis, daß es ihr sehr wohl etwas ausmachte. Wie ein winziges, verhaßtes Feuer brannte er tief in ihrem Innern, dieser Wille zu leben. »Ich will nicht sterben«, flüsterte sie. Ihre Lippen waren von der Kälte zu ausgetrocknet, zu zersprungen und
steifgefroren, als daß sie noch Worte hätten formen können. Krampfartige 181 Zuckungen überkamen sie. O Herrin, nicht einmal dafür hatte sie noch Energie - nicht einmal Tränen hatte sie. Sie würde sterben, und doch wehrte sie sich dagegen. Als sie das Licht sah, begriff sie zunächst nicht, was es war. War es der Athar, die Erscheinung, die vom Himmel herabgestiegen war? Es flackerte und schwankte hin und her, bis sie zu träumen glaubte oder dachte, sie hätte Visionen. Doch mit dem Licht kam auch ein bißchen Wärme, als es vor ihrem verschwommenen Blick anhielt. Es war eine Lampe. »Liath.« Seine Stimme klang weich. »Komm jetzt herein, Liath.« Es klang, als würde er ein Kind liebkosen oder einen verwundeten Hund. »Komm jetzt herein.« Ihr ganzer Körper bebte und zuckte. Sanft legte er eine Hand auf ihre Schulter, um sie zu beruhigen. »Liath«, sagte er immer noch mit beruhigender, tröstender Stimme, »komm herein.« Dann zog er seine Hand zurück. Und wartete. Zehn anstrengende Atemzüge lang verharrte sie, lag einfach nur da: ein, aus, ein, aus. Sie war taub vor Kälte. Es tat so weh; der Schmerz drang bis tief in ihr Innerstes. Alles war besser als das. Sie kämpfte sich auf die Beine, und sobald er sah, daß sie versuchte aufzustehen, half er ihr. Aber nicht mehr als das: Niemals drängte er sie, sondern führte sie nur, sobald ihre Füße erst einmal auf eigenen Wunsch den Weg zur Küche eingeschlagen hatten. Es war herrlich, wunderbar warm. Dampf wirbelte auf, oder zumindest schien es ihr so, bis sie sah, daß er ein Bad vorbereitet hatte, daß er eigenhändig Wasser geholt und es erhitzt hatte. Die Wanne stand vor dem lodernden Feuer. Sie stand einfach nur da, während er ihr aus den schmutzigen Kleidern half, vorsichtig jedes einzelne Teil entfernte. Er war sehr genau, behielt seine Handschuhe an, doch als sie nackt vor ihm 182 stand, zog er sie aus und krempelte die Ärmel hoch, um ihr in das warme Wasser zu helfen. Die Wärme tat weh, prickelte, als würden hundert winzige Nadeln auf einmal in sie hineingestochen. Sie weinte, doch es flössen keine Tränen. Er rieb ihre Haut mit einer harten Bürste ab, scheuerte so heftig, daß es sogar noch mehr schmerzte. Sie hatte nicht die Kraft, dagegen aufzubegehren. Mit dem Schmerz kam die Wärme und durchdrang ihre Haut. Hitze strömte vom Feuer herüber. Das heiße Wasser schien in ihren Körper einzudringen. In bestimmten Abständen stand er auf und holte mehr heißes Wasser vom Kessel; zweimal verschwand er mit den Eimern nach draußen und holte frisches Wasser, das so kalt war, daß es zischte, als er es in den riesigen Kessel füllte. Er nahm ein sauberes, weiches Tuch und wusch sie, ihre Haare, ihr Gesicht, ihre Hände, Brust und Bauch, ihre Hüften und Oberschenkel, ihre Waden und Füße. Während er sie wusch, sang er leise, sang mit seiner herrlichen Stimme eine verschlungene Melodie, nur Töne, keine Wörter. Mit der Wärme überkam sie Mattigkeit. Aber ihre Glieder waren noch immer taub. Er hob sie aus der Wanne, trocknete sie mit einem weichen Tuch ab. Dann wickelte er sie in ein samtweiches Laken und trat einen Schritt zurück. Er sagte nichts. Er sah sie einfach nur an. Er lächelte nicht, runzelte auch nicht die Stirn. Er hatte eigentlich gar keinen Ausdruck im Gesicht, zumindest keinen, den sie deuten konnte. Aber sie hatte den Augenblick längst verstreichen lassen, da sie noch zurück in den Schweinestall hätte gehen können. Wie Pa immer gesagt hatte: »Es macht keinen Sinn, einen Eid zu schwören, wenn man nicht wirklich vorhat, ihn zu halten.« 183 Sie drehte sich um und schritt den engen Flur entlang zu seiner Zelle. Zwei Lampen brannten. Die Kohlenpfanne glühte vor Hitze. Das dariyanische Buch mit den Übungen zur Magie lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Sie warf nicht einmal einen Blick darauf, sondern ging direkt zum Bett und setzte sich auf die Kante. Er folgte ihr, schloß die Tür hinter sich, lehnte sich dagegen und starrte Liath an. Seine Ärmel waren noch hochgekrempelt und entblößten die blassen, muskulösen Unterarme mit dem feinen Flaum aus hellen Haaren. »Wirst du mir Jinnisch beibringen?« fragte er. Seine Stimme war so weich wie zuvor, und die Frage schien eher von Neugier zu zeugen als von der Gewißheit, daß er den Kampf zu seinen Gunsten entschieden hatte. Sie nickte. Das war alles. Nichts weiter. »Gut«, sagte er. Dann war er still. Sie blickte schließlich auf, denn sein Schweigen war sonderbar. Er musterte sie. Sein Gesichtsausdruck war um so beunruhigender, als nackte Gier darin lag. »Du weißt nicht einmal, was du bist, nicht wahr?« fragte er. »Ein Schatzhaus, wie es im heiligen Buch geschrieben steht. >Meine Braut ist ein verschlossener Garten, ein verriegeltes Schatzhaus. Ich bin in den Garten gekommen, meine Braut, und habe den Honig gegessen. Ich habe den Wein getrunken. Eßt, Freunde, und trinkt, bis ihr trunken seid vor Liebe.Du, die du in meinem Garten sitzt, meine Braut, laß mich auch deine Stimme hören.Andere< bedeutet, obwohl Prinz Henry, so wie er damals war, das Rätsel niemals verstanden zu haben scheint. Meine alte Amme war eine von denen, die bei der Geburt anwesend waren, denn sie brauchten viele Zeugen, da dieses Kind Henrys Zeugungsfähigkeit beweisen sollte. Und das hat meine Amme mir erzählt: daß Alia auf die Nachgeburt und das Kind und das damit nun einmal verbundene Blut geblickt und gesagt hätte: >Das sind blutige Felder, zu denen ich gebracht wurde. Nehmt das weg.< So wurde er Sanglant gerufen, denn das war der Name, den sie von ihr hörten.« Sein Ton veränderte sich, und er heftete seinen Blick jetzt hart auf Liath. »Liath. Von jetzt an wirst du mit mir reiten, wenn ich weg muß. Du kannst doch reiten, oder?« Sie nickte stumm. »Dann komm.« »Aber es ist so kalt draußen.« »Du kommst mit. Sofort.« Sie stand auf. 196 5 Ohne auch nur noch einen einzigen Blick auf Hanna zu werfen, ohne sie überhaupt noch wahrzunehmen, schritt Liath den Mittelgang so steif entlang, als würden ihre Beine von Marionettenfäden bewegt, vorbei an Hugh und hinaus aus der Kapelle. In dem Augenblick, da sie außer Sichtweite war, schaute Hugh zum ersten Mal Hanna an, schien sie jetzt erst richtig wahrzunehmen. Er musterte sie, als wollte er herausfinden, ob sie eine Bedrohung für ihn darstellen könnte. Dann verdrängte er sie mit einer unbewußten, mißbilligenden Kopfbewegung aus seinen Gedanken und folgte Liath.
»Närrin«, stieß Hanna atemlos hervor, als sie seine Gestalt in der noch unbeleuchteten düsteren Kirche verschwinden sah. Und doch, wie konnte sie ihn ansehen und dann ohne Abscheu mit dem jungen Johann mit seinem Narbengesicht, den schmutzigen Fingernägeln und der schweren, bedächtigen Sprechweise das Hochzeitsbett teilen? »Närrin«, wiederholte sie, nur um sicherzustellen, daß sie auch verstand, was sie war. Befriedigt kniete sie auf dem gepolsterten Kissen, auf dem Liath gekniet hatte, das noch warm von der Kohlenpfanne war. Und sie dachte nach, lange und angestrengt, über das, was sie gerade gesehen hatte. Als sie die Kapelle verließ, schlug sie nicht den Weg zur Schenke ein, sondern begann den längeren Marsch zu Graf Harls Landsitz. Möglicherweise, mit etwas Glück, konnte sie ihm die Erlaubnis abringen, daß sie sich mit Ivar treffen durfte, wo immer er ihn bis zum Frühling, wenn es nach Quedlingham gehen sollte, auch verbarg. Bei all seiner Verbitterung - denn alle wußten inzwischen, daß das Mädchen aus 197 dem Süden die Konkubine des Fraters war -, besaß sie Hunderte von Mitteln, um ihn zu zwingen, eine Nachricht mit nach Süden zu nehmen, wenn er aufbrach. Dieser Mann, der vor drei Monaten durch die Stadt gekommen war, hatte weder besondere Kleidung noch irgendein Abzeichen getragen, an dem er irgendwie zu erkennen gewesen wäre. Doch spät in der Nacht, als sie das Feuer schürte, hatte sie gesehen, wie er etwas auf Pergament schrieb. Einen Brief vielleicht, obwohl er sicherlich kein Kirchenmann war, denn er trug einen Bart. Und welcher Soldat konnte schon schreiben? Sie war näher herangeschlichen, hatte versucht, einen Blick auf das Pergament zu erhaschen, und mit viel Glück und Zufall hatte sie gesehen, wie er ein Symbol auf den unteren Rand des Blattes malte. Zwar mochte sie des Lesens unkundig sein, aber als Tochter des Schenkenwirts kannte sie viele Symbole. Und dieses hier kannte sie gut, obwohl die Bewohner von Friedleben, so weit nördlich, es selten genug zu Gesicht bekamen. Es war das Symbol der Adler des Königs. V Das innere Herz
1 »Denn im Heiligen Buch steht geschrieben«, predigte Frater Agius, »daß unsere Leiden die Buße für unsere Sünden sind.« Was auch stimmte, dachte Alain, als er sich zum Schlußgebet erhob. Niemals zuvor hatte er sich so glücklich gefühlt, aber niemals zuvor auch so erbärmlich wie in dem vergangenen halben Jahr, seit der Herbst in den Winter übergegangen war, der sich jetzt, mit beginnender Schneeschmelze, zum Frühling wandelte - so wie alles Leben dem Kreis der Einigkeit folgte und sich in einem ewigen Kreislauf befand. Er lernte mit Waffen umzugehen wie die Soldaten aus alten Erzählungen; es war genau das, was ihm in der Vision auf dem Drachenrücken versprochen worden war und was er sich sehnlichst gewünscht hatte. Doch die anderen Männer und Frauen auf der Burg mieden ihn, abgesehen von Simplizius - zum Teil wegen der Hunde, zum Teil aber auch, weil er sich tief in seinem Innern 199 dagegen gesträubt hatte, in den Dienst des Herrn und der Herrin zu treten, obwohl sein Vater ihn bereits der Kirche versprochen hatte. »Gebet den Segen«, sprach die Versammlung geschlossen. Agius erhob die Hände gen Himmel. Seine Stimme war kräftig, genau richtig für die langen Predigten, mit denen er die Bewohner von Burg Lavas unterhalten mußte, seit Diakonissin Waldrada so starkes Lungenfieber hatte, daß sie nicht mehr als ein leises Flüstern hervorbringen konnte. »Möge der heilige Daisan, der jetzt am Busen Unserer Mutter weilt, Gnade mit uns haben und uns erlösen. Mögen auch die anderen sich bei der Mutter und dem Vater des Lebens für uns einsetzen: die heilige Cecilia, die an diesem Tag besonders verehrt wird, der heilige Lavrentius, dessen Gebeine diese Kirche weihen, dementia die Zweite, die Mutter unter den Heiligen und Skopos in Darre, sowie all die anderen Heiligen. Denn Sie sind barmherzig und lieben die Menschen. Amen.« Alain wartete mit den übrigen, bis Graf Lavastin und seine Familie die Kirche verlassen hatten. Dann berührte er Simplizius sanft am Ellenbogen, doch der Junge starrte abwesend auf das große Kirchenfenster, das in schillernden Farben leuchtete, rot und gold, azur und smaragdgrün. Er hatte den Kopf merkwürdig zu einer Seite geneigt, so daß er mehr dem Kind eines Kobolds ähnelte als dem Sohn einer menschlichen Mutter. Es war immer etwas Todgeweihtes um ihn, etwas Verwachsenes. Jetzt strömten die anderen Kirchgänger nach draußen. Alain zupfte etwas stärker an Simplizius' Arm, und jetzt zuckte der Junge zusammen, blickte sich hastig um und machte sich an seinem Gürtel zu schaffen. Er brachte einen dreckigen Stoffetzen zum Vorschein, in dem ein Stück Käse und eine Zwiebel eingewickelt waren. Eifrig humpelte er an Alain vorbei, auf das Vestibül und die Türen zu. 200
Alain folgte ihm rasch. »Simplizius«, rief er so leise wie möglich. »Das darfst du nicht, es ist verboten.« »Mein Freund.« Alain fuhr herum. Frater Agius schaute ihn vom Altar aus an. Sein wacher Blick machte Alain nervös, und es schien ihm, daß der Kirchenmann seit dem Zwischenfall mit den Hunden viel zu häufig so eigenartig aussah. Er nickte. »Kastellanin Dhuoda sagte mir, daß du eigentlich für die Kirche bestimmt warst.« »Ja, Bruder.« Alain hielt den Blick gesenkt. »Ich sollte in das Kloster am Drachenschwanz eintreten.« »Ein Kloster des Königs, nicht wahr?« »Ja, Bruder.« »Haben die Aikha es nicht bis auf die Grundmauern niedergebrannt und die Mönche getötet?« »Ja, Bruder.« »Dennoch warst du vor vier Monaten rasch bereit, den gefangenen Aikha vor weiteren Verletzungen zu bewahren, nicht wahr?« »Ja, Bruder.« »Weshalb?« »Die Herrin lehrt uns, gütig zu sein, Bruder.« Seine Antwort kam rasch, in der verzweifelten Hoffnung, daß Frater Agius diese Befragung beenden würde und er hinausgehen könnte, bevor man Simplizius entdeckte. »Empfindest du denn gar keinen Haß gegenüber dem Aikha? Er war möglicherweise daran beteiligt, als die Männer ermordet wurden, die beinahe deine Brüder geworden wären. Könnte es sein, mein Freund, daß du der Kirche gegen deinen Willen versprochen worden bist?« Alain errötete und hielt den Kopf gesenkt; er antwortete nicht. 201 »Wer sind deine Eltern?« Agius verließ jetzt das Podest und kam durch den Mittelgang auf Alain zu. Der Geruch von feuchter Wolle und den Gewürzen des Heiligen Wassers stieg Alain in die Nase - und der anhaltende Duft von Rosenöl. Agius' Hände waren braun gefleckt und voller Schwielen; es waren die Hände eines Mannes, der an körperliche Arbeit gewöhnt war. Und doch verriet sein Akzent ihn als einen Mann von hoher Geburt. »Ich weiß nicht, wer meine Mutter war, Frater Agius. Henri von Osna, Sohn von Adelheid, hat mich aufgenommen. Er ist der Vater, den ich kenne. Meine Familie lebt in Osna: meine Tante Bei, Henris Schwester mit ihren Kindern, die mich als ihren Cousin betrachten. Dort bin ich aufgewachsen.« »Bei und Henri? Benannt nach Henry mit >y< und Sabella, nehme ich an, aber mit einem Hauch Salianisch. Doch du bist ein Ziehkind?« Agius hatte einen scharfen Verstand; er besaß die Fähigkeit, rasch das Wesentliche zu erkennen. Zumindest war das Alains große Sorge. »Ja, Bruder.« »Die Leute hier sagen, daß der alte Graf Lavastin, der Großvater des gegenwärtigen Grafen, einen Pakt mit den Teufeln schloß, um diese Hunde zu bekommen.« Alain zuckte zusammen; er wünschte, er wäre nicht so aufgefallen. »Es heißt auch, daß bei diesem Handel Blut gefordert und Blut versprochen wurde und daß die Hunde nur dem Grafen oder seinem Erben gehorchen würden, jemandem von gleichem Blut und Geschlecht. Ich habe Kastellanin Dhuoda gefragt, ob du möglicherweise der Bastard von Graf Lavastin sein könntest. Ich bin die Berichte durchgegangen, und nach meinen Berechnungen müßte er dich genau um die Zeit gezeugt haben, da er mit jener Frau verlobt wurde, die er später heiratete. Doch zu einem solch heiklen Zeitpunkt wäre es peinlich gewesen, einen 202 unehelichen Sohn von einem gewöhnlichen Mädchen zu haben, so schön sie auch gewesen sein mag, nicht wahr? Viele solcher Bastarde werden der Kirche übergeben, damit sie der Familie aus dem Weg sind.« Etwas in seiner Stimme ließ Alain aufhorchen, und er blickte Agius an. »Sprecht Ihr von Euch? Seid Ihr ein Bastard, der gegen seinen Willen der Kirche übergeben wurde?« brach es aus ihm heraus. Agius lächelte nicht. »Nein, ich bin nicht ... Ich trat gegen den Willen meiner Eltern in die Kirche ein. Ich war mit einer Frau verlobt, die ich nicht heiraten wollte. Für meine Familie wäre es eine gute Heirat gewesen, aber nicht für mich, denn ich hatte mich in meinem Herzen bereits -«, hier brach er ab und fuhr erst nach einer kleinen Pause fort, »- Unserer Segensreichen Herrin verschworen.« Er legte eine Hand auf seine Brust. »Die Herrin segnete mein Anliegen. Ich hatte einen Bruder, der ein Jahr jünger war als ich und viel besser aussah; er war einer solchen Vermählung durchaus zugeneigt, und gemeinsam überzeugten wir meine Verlobte davon, daß er die bessere Wahl wäre. So legte ich mit achtzehn Jahren das Gelübde ab, und mein Bruder heiratete kurze Zeit danach. Er ist inzwischen tot; er fiel in einem von König Henrys Kriegen.« Er sprach dies ruhig aus, doch Alain meinte erkennen zu können, daß in seinen Augen Wut aufblitzte und sein Mund vor Verbitterung zuckte. »Doch du siehst gar nicht so aus. Andererseits ist das Blut der Mutter in ihrem Kind meist stärker als das des Vaters.« Es dauerte einige Zeit, bis Alain verstand. Du siehst gar nicht so aus wie Graf Lavastin. Das war es, was Bruder Agius meinte. »Was spielt es schon für eine Rolle, ob ich Graf Lavastins Sohn bin?« fragte er ein wenig verärgert, daß Henri so schnell beiseite geschoben wurde. »Ich wurde von anderen 203 großgezogen. Selbst wenn es stimmt, hat er mich doch damals loswerden wollen.« »Du glaubst doch nicht wirklich, daß es damit getan wäre, nicht wahr? Viele edle Herren und Frauen gewähren
den Bastarden, die sie gezeugt oder geboren haben, ihre Gunst, verschaffen ihnen manchmal sogar Wohlstand. Wenn dein Herz tatsächlich der Kirche geweiht ist, mußt du immer daran denken, wie du Unserer Herrin und dem heiligen Daisan dienen könntest. Der Sohn einer Edelfrau kann der Kirche Wohlstand und Ländereien bringen, der Sohn eines Edelmannes ein Kloster stiften, oder seine Eltern können, wenn sie ihn sehr lieben, eine Einrichtung gründen, in der sie ihn unterbringen.« »Auch wenn es wahr wäre«, flüsterte Alain, »bin ich doch jetzt nichts weiter als der Sohn eines Kaufmanns. Niemals könnte ich so etwas beweisen.« Selbst wenn er wünschte, daß es wahr wäre. Denn das Kind von Edelleuten, selbst wenn es sich um einen Bastard handelte, durfte durchaus berechtigte Hoffnungen hegen, eines Tages in die Dienste des Königs treten zu können, Ländereien zu erben, die es gestatteten, eigene Truppen zu führen oder zumindest in die Elitekavallerie des Königs aufgenommen zu werden - die Drachen. »Ich habe die Berichte über die Geburten in dem Jahr studiert, in dem du offensichtlich geboren bist. Nur drei von den Kindern kann ich nicht einordnen, weil sie namenlos blieben. Die anderen starben als Kleinkinder und stiegen in die Kammer des Lichts auf, und ihr Tod wurde im Kirchenregister vermerkt, oder ich habe sie auf andere Weise gefunden und sie munter und gesund mit eigenen Augen gesehen. Von jenen dreien war eines ein Mädchen, das von einem rechtmäßig verheirateten Paar stammte und bald danach mit seinen Eltern verschwand. Bei den anderen beiden steht lediglich fest, daß sie von unverheirateten Frauen geboren wurden, deren Namen 204 nicht verzeichnet sind, wenngleich zumindest eine von ihnen zur Buße ihrer Sünden eine Strafe erhielt. Die Diakonissin, die in jenen Tagen zuständig war, ist zwar mittlerweile tot, aber Alma hat ein außerordentlich gutes Gedächtnis für solche Dinge. Sie hat mir felsenfest versichert, daß in jenem Jahr kein anderes Kind geboren und weggegeben wurde. Und sie kann sich auch nicht an ein Findelkind erinnern, das vor den Toren der Kirche abgelegt worden wäre.« Alain versuchte sich vorzustellen, daß Graf Lavastin ihn als seinen unehelichen Sohn anerkannte, ihn als Kind von seinem Blut in einen neuen, höheren Rang erhob. Doch vor seinem geistigen Auge erschien nur das traurige Gesicht seines Vaters, in Erinnerungen an die Frau versunken, die Alains Mutter gewesen war. Eine Frau, die Henri geliebt hatte. »Hast du nichts dazu zu sagen? Du bist doch ein zielstrebiger Junge, oder nicht?« »Das Kind des edlen Herrn Jeoffrey, das Mädchen, das Edelfrau Aldegund im Herbst geboren hat, wird die Erbin von Graf Lavastin sein. Ich habe gehört, wie sie davon sprachen.« »Wenn sie überlebt. Und wenn es keinen geeigneteren Kandidaten gibt. Edelfrau Aldegund hat wendische Verwandte. Das ist Grenzland, ja, aber die Leute hier würden ein Kind mit varrischem Blut bevorzugen. Unehelich oder nicht.« »Es gibt keinen Beweis«, wiederholte Alain. Er fühlte sich furchtbar unwohl angesichts der Hartnäckigkeit, die Agius an den Tag legte. Konnte der Frater ihn nicht einfach in Ruhe lassen? »Ich habe niemals irgendwen sagen hören, daß der Graf ein Kind mit einer Dienerin hatte. Sicher würde es darüber Gerüchte geben, wenn es allgemein bekannt wäre. Graf Lavastin hatte einen Erben, aber das Kind ist tot, nicht wahr? Sicher wird er wieder heiraten.« »Möglicherweise. Niemand spricht heute noch über diese 205 unglückseligen Geschehnisse; wenn sie erwähnt werden, dann nur als schrecklicher Unfall. Nun gut. Zweifellos wird Graf Lavastin die Umstände deiner Geburt näher untersuchen, wenn er es wünscht. Es geht mich im Grunde auch nichts an. Er gehört nicht zu meiner Familie, und ich bin ohnehin der Kirche verschworen, nicht mehr von Bedeutung für die Belange dieser Welt.« Seine Stimme wurde schroff; plötzlich schienen andere Dinge seine Gedanken in Beschlag zu nehmen. »Ich werde mit Meister Rodlin und Feldwebel Fall reden. Ich möchte, daß du jeden Tag eine Stunde zu mir kommst. Ich kann nicht vergessen, daß du noch immer der Kirche versprochen bist. Ich werde dich im Lesen und Schreiben unterrichten, wie es sich gehört.« Er drehte sich brüsk um, kniete nieder und begann zu beten. Alain ging so lautlos wie möglich den Mittelgang entlang. Sobald er das Vestibül erreicht hatte, schoß er nach draußen. Zu spät! Da lag der verdammte Beweis, direkt neben ihr. In Sackleinen gekleidet, die Haare mit Asche beschmiert, hockte Witti weinend auf dem kalten Boden neben der Kirchentür. Wie bereits seit zehn Tagen, seit der Hauptmann sie mit dem jungen Herik in den Ställen dabei erwischt hatte, wie sie sich vergnügten. Es hatte noch andere Zeugen gegeben, und so hatte er keine andere Wahl gehabt, als von ihnen zu verlangen, öffentlich ihre Schuld zu bekennen. Frater Agius hatte verlangt, daß die Sünder ihre volle Strafe abbüßen müßten, doch der Hauptmann hatte Herik zurück in sein eigenes Dorf geschickt, wo die dortige Diakonissin möglicherweise mehr Gnade walten lassen würde. So weinte Witti also, und ihre blauen Augen waren längst nicht mehr schön, sondern ganz geschwollen von Tränen, und die Wangen waren spröde von der Kälte, die Hände rot und rissig. Simplizius hatte den Käse und die Zwiebel so hingelegt, daß sie für alle sichtbar waren. Es war ein Angebot für Witti, 206 denn soweit er verstand, durfte sie außer Wasser und Brot nichts zu sich nehmen. Er hatte sich hinter einer Ecke der Kirche versteckt, und als er Alain sah, kam er hervorgeschossen. Seine Worte klangen weniger wie die eines
menschlichen Wesens als vielmehr wie die Grunzlaute und das Geschrei wilder Waldtiere. Witti schluchzte vor Scham. Einige der Soldaten, die in einiger Entfernung vorbeikamen, drehten sich nach ihr um. Alain machte einen Satz nach vorn und schob den schmutzigen Stoffetzen mit dem verbotenen Schatz unter ihr Sackleinen. Sie schluckte die Tränen hinunter. Ihre Hand krampfte sich um das Päckchen. »Hast du das für mich geholt?« flüsterte sie. »Es ist eine Sünde, die Bürde einer Strafe zu erleichtern, denn du hast nicht die Befugnis einer Diakonissin oder eines Fraters, das Urteil eines sündigen Menschen zu mildern.« »Es ist nur eine geringere Sünde«, erwiderte Alain rasch. Er konnte nicht anders, als Mitleid für sie zu empfinden. Simplizius grunzte aufgeregt neben ihm. »Und ich war es auch gar nicht. Es war Simplizius -« Sie sah Alain mit ihren blauen Augen an. »Ich werde es nicht vergessen«, sagte sie, aber zu Alain, nicht zu Simplizius. Der Schwachsinnige neigte seinen Kopf zur Seite und sah sie an. Er versuchte zu sprechen. »Wiigii.« Sie erschauderte und zuckte vor ihm zurück. Er hatte nur versucht, ihren Namen auszusprechen. Frater Agius erschien an der Tür. »Freunde.« Er trat zu ihnen. »Mitleid ist eine Tugend, aber die Strafe reinigt die Seele. Dafür, daß du mit dieser Büßerin gesprochen hast, Alain, wirst du am nächsten Herrintag fasten und über die Bedeutung der Lektion nachdenken, die ich dir heute erteilt habe. Möge die Herrin Erbarmen mit deiner Seele haben. Amen. Und jetzt komm. Ich möchte mit Meister Rodlin und Feldwebel Fall sprechen.« 207 Wie alle anderen ignorierte auch Agius den Schwachsinnigen. Alain blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Was konnte er auch schon für Witti tun? Seit der Rückkehr des Grafen und dem Zwischenfall mit den Hunden hatte sie ihn gemieden wie alle anderen, und dennoch schmerzte es ihn, sie als solch jammerndes Häufchen Elend vor der Kirche auf der Erde liegen zu sehen. Diakonissin Waldrada war niemals so hartherzig gewesen. Das Beste jedoch, was man von Frater Agius sagen konnte, war, daß er allen mit gleicher Härte begegnete, auch sich selbst. Simplizius blieb noch eine Zeitlang bei Witti, doch als sie noch immer mit keiner Geste zu verstehen gab, daß sie ihn bemerkte, verlor er schließlich den Mut und sauste hinter Alain her. Er war genauso treu wie die Hunde, wurde aber wesentlich schlechter behandelt. Er bekam niemals Fleisch, nicht einmal an Festtagen, denn solch schmackhafte Nahrung galt bei einem Schwachsinnigen als Verschwendung. Er hatte nicht nur ein merkwürdiges Gesicht, sondern war auch noch dürr und klein, und seine krummen Beine verliehen seinem Gang immer etwas seltsam Rollendes. Selbst die furchterregenden Hunde, die nach allen anderen schnappten und jeden zu beißen versuchten, behandelten Simplizius mit Zurückhaltung, obwohl er sie natürlich nicht unter Kontrolle halten konnte. Alain bedauerte ihn und tat, was er konnte, um ihn vor den Spötteleien und Grausamkeiten der anderen jungen Frauen und Männer zu schützen. Frater Agius marschierte schnell, und Alain mußte fast rennen, um mit ihm Schritt zu halten. Schon bald hatten sie die Soldaten eingeholt, die auf dem Rückweg zur Burg waren. Wäre Alain allein gewesen, hätten ihn die Soldaten ausgelacht, oder sie hätten ihm dumme Sprüche an den Kopf geworfen; etwas, mit dem er gelernt hatte umzugehen, denn inzwischen 208 begriff er es als eine Strafe, die er ohne Klagen erdulden mußte, so wie Witti draußen vor der Kirche saß. Jetzt jedoch, da er unter dem Schutz von Frater Agius stand, sahen sie ihn nur an und tuschelten miteinander. Sie fanden Meister Rodlin und Feldwebel Fall im Burghof. Alles war so vorbereitet, wie Frater Agius es gewünscht hatte. »Nun«, grunzte Feldwebel Fall, nachdem Agius gegangen war. »Du scharst ja seltsame Wohltäter um dich, mein Junge.« Er wechselte einen Blick mit Meister Rodlin, der mit gefalteten Händen reglos neben ihm stand. Alain brannte förmlich darauf, von diesen beiden, die schon lange in Lavastins Diensten standen, zu erfahren, ob sie ihn für den Bastard des Grafen hielten. Aber er traute sich nicht zu fragen. Als Feldwebel Fall die jungen Männer, die er zu Fußsoldaten ausbildete, hinaus ins freie Gelände führte, war auch Alain dabei, wie er den ganzen Winter über dabeigewesen war. In diesem Jahr hatte es nicht viel Schnee gegeben, und obwohl die Messe von St. Herodia als Zeichen für die Schneeschmelze noch nicht gefeiert worden war, hatte der winterliche Wind die Felder bereits leergefegt. So standen sie auf einem flachen, ebenen Grund, der sich hervorragend für Waffenübungen eignete. Alain tat so, als würde er nicht bemerken, daß die anderen jungen Männer ihn härter als nötig mit den gepolsterten Speerspitzen trafen, daß sie ihm die gepanzerten Oberarme an den Kopf schlugen oder ihn innerhalb der Formation dorthin drängten, wo die Gefahr am größten war. Jeder einzelne blaue Fleck härtete ihn nur noch mehr ab. Feldwebel Fall nickte ernst und erklärte, wenn auch nur ein einziges Mal, daß er sich bei den Übungen gut mache. Einmal hatten sie die Aufgabe, als Treiber an einer Beizjagd des Grafen teilzunehmen. Alain mußte freilich in der Nähe der 209 Hunde bleiben und darauf achten, daß sie nicht die Reiter anfielen. Im Wald hinter den alten Ruinen brachten sie schließlich einen Eber zu Fall, und der Todesstoß gebührte dem jungen Sohn von Jeoffrey, dem Kind seiner ersten Frau. Eine Stunde täglich saß Alain bei Frater Agius; eifrig wiederholte er die Buchstaben und arbeitete daran, die
Passagen des Heiligen Buches auswendig zu lernen. An den Abenden saß er in der Halle und aß und trank und ließ dabei heimlich Simplizius kleine Stücke vom Fisch zukommen. Er lauschte den Liedern der Poeten und den Melodien der Musikanten, sah den Schauspielern zu, die den Grafen, seine Familie und die Gäste mit ihren derben Spaßen unterhielten. Und schließlich huschte er zu seiner Pritsche im Zwinger, verkroch sich unter der dicken Wolldecke, die Tante Bei ihm durch einen Wanderarbeiter im Herbst hatte bringen lassen. Nur im Zwinger, allein mit den Hunden, fand er Frieden - bei den Hunden und dem im Käfig eingesperrten Aikha-Prinzen. Die Kreatur hatte den kalten Winter anscheinend ohne jeden Schaden oder auch nur Unbehagen überstanden. Der Aikha-Prinz faszinierte Alain. Er war ein Tier, eine wilde Bestie, und in der ersten Woche seiner Gefangenschaft hatte er beinahe einem der Hundeführer, der ihm das Essen gebracht hatte und ihm dabei zu nahe gekommen war, die Kehle zerfleischt. Der Mann war zwar nicht gestorben, würde aber nie wieder sprechen können. Anscheinend respektierte der Prinz nur die Hunde, vermutlich, da sie ihm in ihrer wilden Wut ähnlich waren. Es gehörte zu Alains Aufgaben, ihm zweimal am Tag das Essen zu bringen, einmal gegen Mittag und einmal am Abend. Alain hatte immer die knurrenden Hunde dabei, wenn er ihm eine Schüssel mit Fleisch und Haferschleim brachte - das war die einzige Nahrung, die der Aikha zu sich nahm -, dann eine 210 seiner Hände losband und außer Reichweite trat, während der Prinz aß. Das war das Merkwürdige. Der Prinz hatte höchst pingelige Angewohnheiten, was das Essen und die Pflege seines Körpers betraf. Er verschlang das Fleisch nicht einfach, obwohl er bei den kleinen Portionen, die der Graf ihm zukommen ließ, immerzu hungrig sein mußte. Nein, er aß ausgesprochen elegant und akkurat, hatte sogar bessere Manieren als die meisten Edlen, die am Tisch des Grafen saßen. Wenn er sich erleichtern mußte (was, wie Alain vermutete, weit seltener geschah als bei jedem Menschen), tat er das immer an der gleichen Stelle, in der hintersten Ecke des Käfigs, so weit er mit den Ketten kommen konnte. Alain hatte schließlich Mitleid mit ihm und säuberte diese Ecke jeden Jedutag, da kein anderer Mann sich in die Nähe des Käfigs traute. Der Prinz beobachtete ihn dabei, aber selbst wenn seine Hand zum Essen frei war, versuchte er nicht, ihn anzugreifen. Vielleicht tat er es nur deshalb nicht, weil Alain immer die Hunde mit in den Käfig nahm, die sicherlich so furchterregend und gefährlich waren wie der Prinz mit seinen Klauen und Kupferschuppen. Vielleicht, so hatte er einst Meister Rodlin flüstern hören, erkannte dieser Aikha-Teufel auch, daß Alain von einem nichtmenschlichen Vater gezeugt worden war. Doch Rodlin behandelte Alain gerecht; im Gegensatz zu Simplizius und den anderen Jungen, die unter ihm dienten, wurde er nie geschlagen, wenn er einen Fehler gemacht oder die Arbeit nicht schnell genug erledigt hatte. Doch wie konnte er das Kind einer menschlichen Frau und der geisterhaften Erscheinung eines Elfenprinzen sein, wenn er in Wirklichkeit der Bastard von Graf Lavastin und einem Dienstmädchen war? Wie ein Büßer erduldete der Aikha-Prinz die Gefangenschaft den ganzen Winter über ohne Murren und Klagen. 211 Das Fest von St. Herodia kam und ging, und Mariannatag rückte näher, der erste Tag im Frühling und Beginn des neuen Jahres; nach Schätzung von Frater Agius war es das sieben-hundertachtundzwanzigste Jahr nach Verkündung der Göttlichen Botschaft durch Daisan, der auch der Verkünder genannt wurde. Ein Fremder erschien auf der Burg und wurde in das private Gemach des Grafen geleitet; zwei Stunden später kam er wieder heraus und ritt auf einem frischen Pferd in südlicher Richtung davon. Sofort setzte das Getuschel ein. »Ist es wahr? Wird Prinzessin Sabella kommen?« »Hat der Graf vor, sich an ihrer Rebellion zu beteiligen? Ihr als Vasall die Treue zu schwören?« »Werden wir gegen den König in den Krieg ziehen?« »Nicht gegen unseren König. Henry ist nicht der rechtmäßige König von Varre, nur von Wendar. Sein Großvater hat den Thron von Varre für seine eigenen Kinder an sich gerissen.« Alain nahm allen Mut zusammen, und an St. Rozina, eine Woche vor Mariannatag, stellte er Frater Agius zwei Fragen. »Ich bitte um Vergebung, Bruder, aber werde ich in mein Dorf zurückkehren, wenn mein Jahr vorüber ist?« »Dein Jahr?« Agius war geistesabwesend. Er blätterte im Heiligen Buch, blickte aber nicht auf die Seiten. »Mein Dienstjahr. In vierzehn Tagen ist St. Eusebe.« Agius runzelte die Stirn. »Wenn du zurückkehren willst, mußt du mit Kastellanin Dhuoda sprechen. Das fällt in ihren Bereich, nicht in meinen. Sicherlich würde eine solche Entscheidung auch in den Händen deiner Tante liegen. Aber ich glaube nicht, daß Graf Lavastin in diesem Jahr auf einen seiner Soldaten verzichten kann.« »Ich möchte gar nicht zurück, noch nicht«, sagte Alain ha212 stig, um nicht mißverstanden zu werden. Er wollte ja bleiben; er war noch nicht bereit, nach Osna zurückzukehren. Aber ließ er nicht seinen Vater und seine Tante im Stich, wenn er so lange hierblieb, während sie doch zu Hause sicherlich seine Arbeitskraft gebrauchen konnten? Aber sie würden ihn nur in ein anderes Kloster schicken. Agius sah ihn neugierig an. Alain stellte die andere Frage: »Stimmt es, daß Prinzessin Sabella herkommt?«
»Es stimmt«, antwortete Agius. »Aber wir sind nicht darauf vorbereitet -« Er schluckte den Rest des Satzes hinunter. Agius war zu beschäftigt; er hatte ein Messer in der Hand und bearbeitete den Lampendocht, und vermutlich waren die Worte nicht einmal richtig zu ihm durchgedrungen. Beim Blute der Herrin! Eine Prinzessin aus dem königlichen Haus von Wendar und Varre kam hierher, zur Burg Lavas! An diesem Abend erhob sich Graf Lavastin während des Essens in der Halle. Seine Rede war kurz und ohne Umschweife. »Ich habe eine Nachricht von Ihrer Höchsten Exzellenz Sabella, Tochter Arnulfs des Jüngeren, des Königs von Wendar, und der Königin Berengaria von Varre, deren Namen wir in unseren Gebeten würdigen. Sie entbietet uns ihre Grüße und erklärt, daß sie in zehn Tagen mit ihrem Gatten, Prinz Berengar von Varre, und ihrer Tochter Tallia sowie ihrem Gefolge auf Burg Lavas eintreffen wird.« Alma tobte, als sie wieder in ihrem Reich war. »Zehn Tage! Ihr Jungen müßt jedes Schwein und jedes Schaf aus den umliegenden Dörfern herbeischaffen. Wir brauchen mindestens fünfhundert. Wo sollen wir um diese Jahreszeit genug Wein und Bier herbekommen? Und Korn. Hühner! Fünf Wagenladungen mit Rüben, wenn es überhaupt noch welche in den Kellern gibt. Strengt euch an!« 213 Kastellanin Dhuoda und ihre Gehilfen durchkämmten das umliegende Land; sie bemühten sich zehn Tage lang nach Kräften, Alma mit weiteren Nahrungsmitteln zu versorgen und auch mit zusätzlichem Dienstpersonal. Alain arbeitete von früh bis spät, schleppte Holzstämme herbei und errichtete daraus vorübergehende Unterkünfte. Es war keine Zeit mehr für Waffenübungen, und es gab auch keinen Unterricht bei Frater Agius. Seltsamerweise vermißte er das zweite so sehr wie das erste. Als an Penitir die Morgendämmerung einsetzte und die Kirchenglocken läuteten, war das für die Gläubigen die Aufforderung zum Tag der Reue und Buße. Alain erhob sich; er fütterte die Hunde und befeuchtete seine Kehle mit frischem Regenwasser aus dem Wasserfaß. Vom Palisadenzaun aus konnte er die Straße sehen, die sich durch das Tal hindurch zur Kirche von Lavas wand. Es waren bereits Leute unterwegs zur Kirche, einige rutschten auf ihren Knien, andere gingen tiefgebeugt, der Rest hatte die Hände vor der Brust gefaltet. Frater Agius würde die Morgenmesse halten, denn Diakonissin Waldrada war noch immer zu krank, um predigen zu können. Wie die Stallburschen und Viehhirten mußte er sich erst um seine Schützlinge kümmern, bevor er beten konnte. Auch der heilige Daisan hatte bereits geweint, gebetet und Buße getan für die Sünden der Gläubigen, deren Hirte er war, bevor er Erlösung von der Erde finden konnte und durch Sieben Sphären zum Herzen des Herrn und der Herrin aufgestiegen war. Alain spürte, daß ihn jemand beobachtete, und drehte sich um. Der Aikha-Prinz starrte ihn an. Seine Haare, die so weiß wie Elfenbein waren, zeichneten sich als blasse Linie gegen die dunklen Gitterstäbe seines Käfigs ab. Schlief er jemals? Alain begann zu glauben, daß er es nicht tat. 214 Meister Rodlin hatte ihm keine konkreten Anweisungen für den Prinzen gegeben. Alle fasteten an Penitir. Aber hatte sich der Aikha-Prinz nicht falschen Göttern verschworen? Alain beschloß, daß es barmherziger wäre, ihm Essen zu geben. So brachte er dem Prinzen seine übliche Ration, und während er aß, erzählte Alain ihm mit ruhiger Stimme - denn er wollte ihn nicht erschrecken - vom heiligen Daisan und dem Heiligen Kreis der Einigkeit. Schließlich konnte man allen Kreaturen das Licht der Gläubigen bringen. Waren nicht auch die Kobolde aus dem Harenz-Gebirge durch die eifrigen Bemühungen von St. Martus und seiner Schwester, der heiligen Märtyrerin St. Plazidana, zum Glauben bekehrt worden? »An diesem Tag erinnern wir uns an unsere Sünden«, sagte er. Seine Stimme klang fremd in der kühlen, stillen Morgendämmerung, beinahe körperlos, als wenn jemand anderer sprechen würde. Die Hunde knurrten leise, während sie auf ihren Knochen herumkauten, so als würden sie Widerspruch gegen das erheben, was er gesagt hatte. Der Prinz aß vollkommen geräuschlos. »Und dann beten und fasten wir sieben Tage lang, genau wie der heilige Daisan am Herdfeuer in Sa'i's, der heiligen Stadt. Diese sieben Tage nennen wir die Ekstasis. Und während seiner Verzückung, während er betend die Erlösung für all diejenigen suchte, die möglicherweise in das Licht des Kreises der Einigkeit kommen könnten, stieg seine Seele durch die sieben Sphären empor und trat schließlich am Morgen des siebten Tages in die Kammer des Lichts. Und durch die Gnade Unseres Herrn und Unserer Herrin fand er sogleich Aufnahme im Himmel. Es steht geschrieben in den Taten von St. Thekla, die bezeugt hat, daß die Kirche vollkommen erhellt war vom Licht der Gnade Gottes und daß sie von seinem Leuchten noch sieben mal sieben Tage danach geblendet war. Doch der heilige Daisan war in die Kammer des Lichts überge215 gangen. An diesem Tag, den wir Translatus nennen, wird gefeiert und gejubelt, denn so werden wir alle Gnade finden in der Güte Unseres Herrn und Unserer Herrin.« Wie die Hunde schien auch der Prinz das Fleisch roh zu bevorzugen, und er aß alles, auch die Knochen. Jetzt hob er den Kopf und schmeckte mit seiner schmalen Zunge die Luft. Aus der Nähe schimmerte seine Haut in einem sanften Rotbraun, beinahe wie bei einer Schlange. Sein Schweiß und seine Haut rochen anders als bei einem Menschen, eher nach muffiger Erde in einem tiefen Grabgewölbe.
Und dann sprach er. »Elen.« Alain sprang vor Schreck zwei Schritte zurück. Dann trat er wieder vor und band die freie Hand des AikhaPrinzen wieder fest, so daß er nur noch seinen Kopf bewegen konnte. »Elen«, sagte der Prinz, die Augen fest auf Alain gerichtet, und reckte das Kinn. Seine Stimme hatte den weichen Klang einer Flöte. Er versucht auf mich zu zeigen, begriff Alain und erschauderte. Elen. »Mein Name ist Alain«, sagte er zögernd, nicht sicher, ob er die Absicht des Aikha richtig erraten hatte. »Ich bin Alain, der Sohn von Henri. Hast du einen Namen?« Er ahmte die Geste des Prinzen nach. »Hast du einen Namen?« Der Aikha bleckte die Zähne, aber Alain konnte nicht erkennen, ob er ihm mit der Grimasse Furcht einflößen wollte oder ob es der Versuch eines Lächelns war. »Henry. König.« Alain schluckte eine längere Erklärung hinunter. »König Henry herrscht in Wendar und Varre. Wie ist dein Name? Wer herrscht in dem Land, aus dem du kommst?« »Blutherz. König der Seefahrer. Ich auch Sohn. Sohn von Blutherz.« Der Sohn des Aikha-Königs! War es wirklich das, was der 216 Prinz sagte? Außer tiefem Erstaunen spürte er auch den Drang, lauthals aufzulachen: Der Aikha-Prinz hielt ihn, Alain, für den Sohn von König Henry! Noch bevor Alain antworten konnte, ließen die Hunde von den Knochen ab und stürzten zum Tor der Einfriedung. Der Aikha-Prinz riß seinen Kopf zurück und stimmte in das durchdringende Geheul der Hunde ein. Alain hielt sich die Ohren zu und stürzte aus dem Käfig; dann schlug er die Tür hinter sich zu und verriegelte sie. Was für ein Lärm! Die Hunde jaulten und kläfften wie verrückt. Er rannte zur Leiter, kletterte hinauf und sah von dort oben, was die Tiere und der Aikha bereits gerochen und gehört hatten. Dort unten marschierte die prachtvollste Prozession, die er jemals gesehen hatte. Etwa fünfzig Reiter kamen die Straße entlang, begleitet von einer großen Anzahl von Bediensteten und anderen, die zu Fuß gingen. Banner und Fahnen wehten im Wind, leuchteten in der Sonne, die das Tal mit ihrem Licht überflutete. Dann kamen Karren und Wagen, die meisten in hellen, leuchtenden Farben, und ganz zum Schluß folgten schließlich die Viehhirten und die zusätzlichen Pferde, außerdem einige unbeschreibliche Kreaturen sowie ein großer, verhüllter Käfig. Sofort kletterte Alain an der anderen Seite des Palisadenzauns hinunter und sprang auf den Boden. Er rannte. In seinem ganzen Leben hatte er niemals so etwas gesehen, niemals auch nur erwartet, so etwas jemals sehen zu dürfen: den Zug eines Prinzen oder einer Prinzessin. Er erreichte die Burgtore gerade rechtzeitig, um sich in eine kleinere Prozession einreihen zu können. An der Spitze schritt Graf Lavastin mit seinem Gefolge; er trug eine schlichte Tunika und einfache Strümpfe, wie es sich für den Tag der Buße gehörte. Er und sein Gefolge näherten sich zu Fuß der großen Kavalkade von Prinzessin Sa217 bella, und sie trafen vor der Kirche aufeinander, wo sich bereits einige Leute eingefunden hatten. Alain schnappte beim Anblick der schön gekleideten Edelleute und ihrer prächtigen Pferde nach Luft. In ihre Tuniken und die anderen Gewänder waren Goldfäden eingewebt. Sogar eine Bischöfin war bei ihnen; ihre weiße Robe war mit Goldpaspelierungen verziert, und ihr Maultier hatte einen wunderschönen Sattel voller Perlen und Silber. Doch das Atemberaubendste überhaupt war Prinzessin Sabella. Alain erkannte sie sofort, denn sie trug ein Golddiadem auf der Stirn und einen wunderschönen goldenen Halsreif. Sie war in eine reichlich mit Goldfäden durchwirkte Tunika gekleidet, die von einem mit Edelsteinen besetzten Gürtel zusammengehalten wurde, und ihre Beine trugen goldene Schnürungen. An dem Gürtel hing ein Schwert mit einem prächtigen Heft voller Goldeinlegearbeiten. Es war seltsam, aber nicht ungewöhnlich für eine Frau, ein Schwert zu tragen, und doch erschauderte Alain und fragte sich, wie der Graf wohl darauf reagieren würde. Eine Frau von ihrem Rang trug nur dann ein Schwert, wenn sie selbst - anstelle eines Familienmitglieds ein Heer anführen wollte. Ihr Gesicht war streng, die Haare waren straff zurückgebunden und mit goldenen und silbernen Schleifen verziert, aber wie bei einem Soldaten ohne Kopfbedeckung. Sie erinnerte ihn sofort an die Herrin der Schlachten, die er in der Vision beinahe ein Jahr zuvor gesehen hatte. Graf Lavastin begrüßte sie in der vorgeschriebenen, formellen Weise, half ihr jedoch nicht beim Absteigen. So mußte einer ihrer Vasallen ihr die Steigbügel halten, als sie sich vom Pferd schwang. Dann stieg auch ihr Gatte ab - ein dicklicher Mann, der sich nur durch den goldenen Halsreif von den anderen unterschied. Da eine ganze Reihe Mädchen Schals tru218 gen, sah sich Alain außerstande, Tallia - Sabellas Tochter - von den anderen zu unterscheiden. Er schlich sich leise zu den Kirchentüren, wo er auf Witti stieß, die wieder ihre gewöhnliche Position als Büßerin eingenommen hatte. Die Bischöfin führte die Gruppe zu den Türen, den Amtsstab in der Hand. Frater Agius war herausgekommen und kniete zum Gruß am Portal. »Wo ist Eure Diakonissin?« wollte die Bischöfin wissen. »Diakonissin Waldrada ist am Lungenfieber erkrankt, Euer Gnaden«, sagte Lavastin. »Sie hat sich noch nicht genug erholt, um die Messe halten zu können.«
»So gehorchen wir den Befehlen Unserer Herrin und Unseres Herrn. Wenn es auch nicht dem Brauch entspricht, kann mir dieser Kirchenbruder heute zur Seite stehen, zusammen mit meinen Geistlichen und Diakonissinnen.« Als sie beinahe am Portal angelangt war, dicht gefolgt von den Edelleuten, erblickte sie die im Staub kniende Witti. Sie deutete mit dem Stab auf das Mädchen. »Wer ist diese Büßerin, die mit ascheverschmierten Haaren zu Füßen der anderen kniet?« Alain, der dicht hinter ihr stand, sah Wittis Schultern bei den Worten der Bischöfin erbeben. Er wollte zu ihr eilen, wollte sie trösten und ihr versichern, daß diese Bischöfin mit dem freundlichen Gesicht und der sanften, wenn auch befehlsgewohnten Art sicherlich nicht härter sein konnte als Frater Agius. Er machte sogar bereits einen Schritt nach vorn, wurde aber durch den Klang von Agius' harter Stimme zurückgehalten. »Diese Büßerin hat sich zur Sünde der Unzucht bekannt, Euer Gnaden. Sie bereut ihre Sünde und verbringt jetzt die vorgeschriebenen hundert Tage vor der Kirche, damit alle sehen und hören, wie sie Unsere barmherzige Herrin anruft.« 219 »Armes Mädchen«, sagte die Bischöfin. Sie war eine alte Frau mit weißen Haaren, wirkte aber noch sehr kräftig. Ihre Wangen waren rosig, und augenscheinlich war sie bei guter Gesundheit. »Sollten wir an diesem Tag der Buße nicht auch barmherzig sein?« Sie trat vor und reichte Witti die Hand, doch die starrte sie nur an; vor Schreck stockte ihr der Atem. Die Menge tuschelte indessen angesichts der Milde, die diese große Bischöfin, eine Edle von hohem Rang, zeigte. »Komm, mein Kind, meinte die Bischöfin sanft. »Du mußt in das Haus Unserer Herrin und Unseres Herrn treten und von deinen Sünden befreit werden.« Witti brach in lautes Schluchzen aus, doch schließlich streckte sie die rissige, schwielige Hand aus, und die Bischöfin nahm sie in ihre eigene weiße und saubere und half ihr auf. Mit dem Mädchen an ihrer Seite führte sie die Prozession in die Kirche. Agius kniete noch immer. Er senkte den Kopf und verbarg sein Gesicht, und so konnte Alain nicht erkennen, ob er wütend oder beschämt war. 2 Als Soldat in Ausbildung war es Alain gestattet, in der großen Halle an den Hohen Tischen zu bedienen. Dhuoda erinnerte sich rasch daran, daß sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, als er am Tisch seiner Tante in Osna bedient hatte. »Dein Benehmen ist vorzüglich«, erklärte sie. »Du kannst an den Hohen Tischen beim Servieren des Weins helfen.« Natürlich durfte er die Becher des Grafen, der Prinzessin Sabella oder einer der anderen hohen Persönlichkeiten nicht 220 selbst füllen; dafür hatten sie ihre eigenen Bediensteten. Doch er erhielt die wichtige Aufgabe, hinter dem Tisch zu stehen und darauf zu achten, daß die Krüge dieser Diener und Dienerinnen niemals leer waren. Weil es während der Heiligen Woche üblich war, wenig zu essen und zu trinken - oder gar zu fasten, wie Frater Agius es tat -, hatte Alain viel Zeit, einfach nur herumzustehen und zuzuhören. Und das tat er auch. »Ich bin der Graf eines Grenzlandes, Hoheit. Meine Ländereien liegen in beiden Königreichen.« »Und doch gehört der größte Teil Eures Besitzes zu Varre, nicht wahr? Ihr seid mit meinem Gatten Prinz Berengar verwandt und somit ein entfernter Verwandter der Krone von Varre.« »Die jetzt in den Händen von König Henry liegt.« Graf Lavastin hielt seine Zunge so sehr im Zaum, daß es Alain unmöglich war zu sagen, ob er Prinzessin Sabella oder König Henry unterstützte. Oder ob er sich überhaupt für eine Seite entschieden hatte. »Wohin sie nicht gehört. Ich und meine Tochter sind die letzten lebenden Erben des königlichen Hauses von Varre. Ich bin das einzige lebende Kind von Arnulf und Berengaria, deren Namen ich täglich in meine Gebete einschließe.« »König Henry ist ebenfalls das Kind von Arnulf.« »Von einer Mutter, die nicht einmal kraft ihrer eigenen Stellung Königin wurde, sondern nur durch die Heirat mit Arnulf. Ich bin die rechtmäßige Königin, Graf Lavastin, und sobald ich mit Hilfe meiner treuen Anhängerschaft den mir zustehenden Thron bestiegen habe, werde ich meine Tochter Tallia als Königin auf den Thron von Varre setzen und sie mit einem Mann von edlem Geblüt vermählen; es wird einer von denen sein, die mich unterstützt haben. So wird Varre als eigenständiges Königreich wiederhergestellt werden - unabhängig von Wendar 221 und dem regierenden Monarchen in Wendar nicht länger in steuerlicher und sonstiger Hinsicht verpflichtet.« Alain stockte der Atem, als er Sabella so offen sprechen hörte. Graf Lavastin besaß anscheinend ein unerschöpfliches Maß an Gelassenheit, denn kein noch so kleines Zucken seiner Mundwinkel zeugte von irgendwelchen Gefühlen. »Das sind rebellische Worte gegen König Henry, Hoheit. Immerhin erhielt er den Segen der Skopos in Darre sowie der Versammlung der Bischöfinnen und Presbyter von Autun. Henry wurde ausdrücklich von Eurem
Vater, Arnulf dem Jüngeren, zum Erben bestimmt. Und habt Ihr nicht vor sieben Jahren vor Bischöfin Antonia von Mainni geschworen, Euch mit Eurem Bruder auszusöhnen?« »Was ich damals auch getan habe. Ich war jünger, meine Tochter noch nicht bei voller Gesundheit. Doch nach jahrelangen Gebeten und dank der weisen Beratung durch Bischöfin Antonia und der ernsthaften Unterstützung durch Rodulf, den Herzog von Varingia, und Conrad den Schwarzen, dem Herzog von Wayland, habe ich beschlossen, mein Anliegen weiter zu verfolgen. Sprechen wir offen miteinander, Graf Lavastin. Ich suche auch Eure Unterstützung.« Sabella hatte eine verbindliche, beinahe monotone Stimme, doch tiefe Falten in ihrem Gesicht - Zeichen lang anhaltender Verärgerung - straften ihre scheinbare Gelassenheit Lügen. »Eine solche Entscheidung kann ich nicht leichtfertig treffen«, sagte Lavastin. Er warf einen Blick auf Alain, als hätte er gewußt, daß der Junge die ganze Zeit lauschte; dann lenkte er die Unterhaltung unauffällig auf die Aikha-Überfälle vom vergangenen Sommer, auf den Gefangenen, den er in der Schlacht an der Vennu gemacht hatte. Alain stand wie gebannt da, verwundert über die Wahrnehmungsfähigkeit des Grafen. Dann verlangte einer von Sabellas 222 Geistlichen nach mehr Wein und erlöste ihn aus seiner Starre. Alain riß sich zusammen und beeilte sich, den wundervoll gearbeiteten Glaskrug aufzufüllen. Eine kleine Weile war er beschäftigt. In der Küche, wo er seinen eigenen Keramikkrug aus großen Fässern aus dem Keller nachfüllte, fand gerade eine andere Unterhaltung statt. »Ich habe gehört, daß fünfzig Schweine allein für die Bestie in dem verhängten Käfig bestimmt sind«, sagte einer der Gehilfen der Köchin. »Still jetzt«, erwiderte Alma. »Wir brauchen dein Geschwätz nicht. Geh wieder an die Arbeit.« »Ich habe sie schnüffeln und mit den Zähnen klicken hören, und einem der Hundeführer fehlt eine Hand. Ich wette, die wurde abgebissen.« »Es ist ein Ungeheuer!« »Nein, nur ein Leopard. Das hat einer der Diener hinten bei den Wagen gesagt.« »Hat er es jemals mit eigenen Augen gesehen? Warum müssen sie den Käfig immerzu verhängen? Warum müssen sie es außerhalb der Burg im Wald verstecken? Es ist ein Basilisk, sage ich. Ein einziger Blick genügt, und du bist zu Stein erstarrt.« »Jetzt ist aber Schluß damit!« herrschte Alma sie entschlossen an. Dann warf sie Alain einen scharfen Blick zu. »Du da, ist es nicht deine Aufgabe, in der Halle Wein nachzuschenken?« Er eilte zurück in die Halle, goß Wein nach, holte mehr und hatte wieder eine Zeitlang nichts zu tun. Ein Ungeheuer in einem verhüllten Käfig! Er war sich nicht ganz sicher, was ein Leopard war. So etwas Ähnliches wie ein Basilisk vielleicht? Als er das nächste Mal auf dem Weg zum Platz des Grafen war, blieb er durch Zufall auf der Höhe von Bischöfin Antonia 223 stehen. Neben ihr saß ein bleiches, stilles Mädchen - Tallia, wie Alain inzwischen erfahren hatte, die Tochter von Sabella und Berengar. Alain musterte sie verstohlen. Sie war kein Mädchen mehr, aber auch noch keine richtige Frau. Sie hatte ein blasses Gesicht und sah weder ihrer Mutter noch ihrem Vater besonders ähnlich. Ihre Haare waren unter einem schönen Leinenschal verborgen, der sie jedoch noch blasser machte, da auf einem weizenfarbenen Untergrund goldene Löwen abgebildet waren. Der goldene Halsreif war so dick und schwer, daß er sie eher zu erdrücken als zu schmücken schien. Der Fisch - natürlich beachteten die Edlen den Bußtag, indem sie auf Fleisch verzichteten - und das Gemüse lagen unberührt auf ihrem Teller. Sie aß nur Brot, nahm aber auf Drängen der Bischöfin, die sich besorgt um sie kümmerte, mit Wasser verdünnten Wein zu sich, wie er zumindest zweimal hatte sehen können. Prinz Berengar weiter unten am Tisch aß und trank mit sichtlichem Genuß. Schließlich beugte sich die blasse Tallia zur Bischöfin hinüber. »Warum nur kann mein Vater die Heilige Woche nicht in gottgewollter Weise befolgen, Euer Gnaden?« Liebevoll tätschelte die Bischöfin ihre Hand. »Daran dürft Ihr Euch niemals stören, mein Kind. Wir alle müssen die Bürde akzeptieren, die Unsere Herrin und Unser Herr uns auferlegt haben.« »Mein Vater ist ein Idiot«, murmelte Tallia und errötete. »Nein, Kind, sag nicht so etwas. Er ist ein Einfaltspinsel, doch steht nicht im Heiligen Buch geschrieben, daß >die schlichte Seele Gott am nächsten ist