John F. Deane
Im Namen des Wolfes
Roman
Aus dem Englischen
von Hans-Christian Oeser
Rotbuch Verlag
Die Übers...
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John F. Deane
Im Namen des Wolfes
Roman
Aus dem Englischen
von Hans-Christian Oeser
Rotbuch Verlag
Die Übersetzung wurde durch Ireland Literature Exchange/
Idirmhalartan Litriocht Eireann, Dublin, Irland, gefördert.
Der Übersetzer dankt dem British Centre for Literary
Translation in Norwich, England, für ein
Aufenthaltsstipendium.
Die Verszitate stammen aus »Lenore« von Edgar Allan Poe.
Übersetzt von Hans Wollschläger. In: Werke, Bd. 4.
Herausgegeben von Kuno Schuhmann. Walter, Olten 1973,
sowie aus Der Rabe von Edgar Allan Poe.
Neu übersetzt von Christa Schuenke.
Gedicht & Essay. Englisch & Deutsch
© Europäische Verlagsanstalt / Rotbuch Verlag,
Hamburg 2001
Originaltitel: In the Name of the Wolfe
zuerst erschienen bei The Blackstaff Press, Belfast 1999
©John F. Deane 1999
Umschlaggestaltung: + malsy, Bremen
unter Verwendung eines Fotos von Olaf Irlenkäuser
Herstellung: Das Herstellungsbüro, Hamburg
Satz: H & G Herstellung, Hamburg
Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 3-434-53060-6
Informationen zu unseren Verlagsprogrammen finden Sie im Internet unter
www.europaeische-verlagsanstalt.de
bzw.
www.rotbuch.de
In einem Dorf im äußersten Westen Irlands ereignen sich mysteriöse Vorfälle. Auf dem Hausberg ist eine böse Macht zu spüren. Zugleich wird die junge Party, die zusammen mit ihrer depressiven Mutter und ihrem Vater, einem prahlerischen, aber herzensguten Trinker, im Mittelpunkt des Romans steht, von schrecklichen Schmerzen, Angstzuständen und Erscheinungen geplagt. Am Ende brennen die Bewohner den gesamten Berg ab, nicht ahnend, dass Patty sich dort in einer Höhle ihrem Schicksal ergibt. Nichts für zarte Gemüter, doch durch die bilderreiche Sprache, die intensiven Landschaftsbeschreibungen sowie die ausgeprägte Darstellung der Charaktere und die anspruchsvollen Passagen der Offenlegung der Psyche Pattys kein gewöhnlicher Gruselroman. Auch bleibt bis zum Schluss offen, ob es sich tatsächlich um übernatürliche „böse Mächte“ oder um Unfälle, Raubtiere, Krankheiten, den Einfluss des Whiskeys und des Aberglaubens handelt. Der 1. ins Deutsche übersetzte Roman des irischen Autors ist ungewöhnlich und spannend.
Eins
Sie erwachte aus einem Alptraum, ihr Körper war schweißgebadet, ihr Atem ging schwer. In der Mitte des Krankenzimmers brannte eine trübe Nachtleuchte, die über den Betten der unruhigen Patientinnen einen gelblichen Nebel verbreitete. Sie zögerte, lauschte, ob die fernen Rufe, die sie geweckt hatten, sich wiederholen würden, doch das einzige Geräusch, das von draußen hereindrang, kam von den Schwestern, die sich auf den Korridoren, auf ihren Nachtstationen, miteinander unterhielten. Wieder beschlich sie Angst – sie setzte sich im Bett auf und versuchte, sie zu bezwingen. Sie durfte nicht aufschreien, sie würde die anderen wecken, es würde Theater geben, die Schwestern würden mit ihr schimpfen und auf ihrem Krankenblatt einen Eintrag für die Ärzte vornehmen. Ein schwarzes Kreuz. Am Fußende ihres Bettes würden sie mißbilligend »Na, na, na!« sagen und einander konsultieren, die makellosen Hände in den Taschen makelloser weißer Kittel. Sie schlüpfte aus dem Bett und hörte das Patsch-patsch patsch ihrer bloßen Füße auf dem Linoleum, als sie zu dem großen Fenster hinüberging. Sie sah sich näherkommen, eine ausgemergelte Gestalt, klein und gebrechlich, ihr früher dichtes Haar war inzwischen licht geworden und fast ergraut, darunter schimmerte der Schädel hervor. Hinter ihrem fahlen Spiegelbild herrschte Dunkel. Beinahe schon, beinahe konnte sie durch ihren Körper hindurch in die Finsternis dahinter spähen. Sie umfaßte ihr Gesicht mit den Händen, drückte es gegen die Fensterscheibe und versuchte, die Spiegelung des
Zimmers hinter sich zu verdecken. Dort draußen, in dieser Schwärze, wartete auf sie die Freiheit… Und dann wußte sie, wußte mit einer jähen Klarheit, die ihr beinahe ein lautes Lachen entlockt hätte, was sie zu tun hatte. Es war so einfach, warum hatte sie es nicht schon viel früher gewußt, als sie noch kräftiger war und besser gerüstet? Sie wandte sich um – und fing den grauenerregenden Blick einer alten Frau auf, die sie aus dem Bett in der Ecke anstarrte, aus Augen, die von unablässigem Schmerz feucht und gerötet waren. Die reisigdürren Finger preßten ein Laken an das verhutzelte Kinn, der hohle Mund stand zu einem komplizenhaften halben Grinsen offen. Einen Moment lang schien das schmale Gesicht vor lauter Bosheit zu strahlen, und der Mund öffnete sich weit, als wollte er rufen, doch plötzlich erlosch aller Anschein von Begreifen wieder, und die Alte drehte sich um und zog sich zurück in ihre Höhle des Gleichmuts. Sie ging wieder zum Bett und zog ihre Pantoffeln und ihren Morgenrock an. Sie schaute hinaus auf den Gang. Auch hier ließen trübe Nachtleuchten die Welt zu einem schemenhaften Tunnel werden. Das Schwesternzimmer lag weiter hinten im Gang, und seine helle Beleuchtung warf eine Schlinge über Boden und Wände. Eine große, runde elektrische Uhr hing da, der Sekundenzeiger rückte lautlos vor. Wenn sie herausfänden, daß sie nicht in ihrem Bett lag, würden sie sie hart anfassen, ihre schweren Leiber unter dem steifen Weiß der Trachten würden sie überwältigen, und sie würde wieder spüren, wie spröde ihre Knochen geworden waren, wie leicht ihre Haut unter den scharfen Klingen ihrer Hände aufriß. Rasch ging sie aus dem Krankenzimmer, wandte sich von der Nachtstation fort und betrat den Marmorfußboden des Treppenhauses. Schon war sie außer Atem. Und fror. Von dort, wo sie stand, führte eine dunkle Treppe hinab. Diesen Weg
würde sie nicht nehmen. Zu viele Türen. Vor ihr gähnte der offene Schlund des Fahrstuhls. Als sie einstieg, schaltete sich die Beleuchtung ein. Seufzend schlossen sich die Türen. Sie drückte auf den Abwärtspfeil. Auf der Höhe ihres Gesichts war ein kleiner Spiegel angebracht, und plötzlich war diese winzige, eingekapselte Welt die hellste, in der sie sich seit langem aufgehalten hatte. Wann hatte sie zum letzten Mal Lippenstift getragen oder den Duft von Parfüm auf ihrem Körper gespürt? Der Fahrstuhl hielt an. Die Türen glitten auf. Leise. Erdgeschoß. Zuviel Zeit hatte sie dort oben verbracht, zu weit war sie entfernt gewesen von der Ebenerde. Das Licht war jetzt weich und einladend. Dicht an die Wand gedrückt, schob sie sich den Korridor entlang zum großen Eingangsportal. Andere Türen, geschlossen und bedrohlich wirkend, ließen Hörsäle, Operationssäle, Labors vermuten. Klackend schoben sich hinter ihr die Türen des Fahrstuhls zu. Erschreckten sie. Sie fror sehr, das Blut in ihrem Körper war seiner Aufgabe nicht gewachsen. Aus dem Fenster der Nachtportiersloge nahe dem Portal fiel ein stärkerer Lichtschein. Eine kleine Tür in der Wand neben ihr stand leicht offen. Behutsam drückte sie sie auf. Im schwachen Licht der Korridorbeleuchtung erkannte sie einen Aluminiumeimer, Aufnehmer, Overalls, Überschuhe. Ungeduldig zog sie einen dunkelblauen Overall über – er roch nach Bohnerwachs und Reinigungsmittel, nach der normalen, lebendigen Welt. Der Welt des Klatsches, der Geschäftigkeit und Hektik. Die Überschuhe, groß und glänzend schwarz, trug sie in den Händen. Jetzt fühlte sie sich warm. Beinahe glücklich? Hinter der dicken Glaswand saß ein älterer Mann, er hatte die Augen geschlossen, der Kopf war ihm auf die Brust gesunken. Hinter ihm die Telefonanlage. Jeden Augenblick konnten die Lämpchen aufblinken, eine Glocke schrillen. Mit ihrem
geringen Gewicht drückte sie sich gegen das hohe, hölzerne Eingangsportal. Es war unverriegelt. Ihr Gott war mit ihr. Sie stand auf der Freitreppe. Von drinnen folgte ihr ein schwaches Licht hinaus und gewährte ein kleines Dreieck Helligkeit, in dem sie sich auf den Weg machen konnte. In der Auffahrt unten, zwischen den Bäumen, stand eine Straßenlaterne. Schon rannte sie die glatte, geteerte Auffahrt hinunter. Sie trug noch immer die Überschuhe in den Händen, die Pantoffeln schlappten lose an den Füßen, so daß sie beinahe gestolpert wäre. Mit dem Fuß stieß sie gegen einen Stein und schrie auf, erstickte den Schrei jedoch rasch. Sie stellte sich in den Schatten, eine Silhouette unter anderen, und wartete. Das große Portal hinter ihr war zugefallen. Ein geschlossener Rachen. Stumm. Teilnahmslos. Wieder dunkel. Sie zog die Überschuhe über die Pantoffeln und bewegte sich, diesmal langsamer, am Rand der Sträucher entlang. Die Bäume waren ihr wohlgesinnt, wisperten ihr Mut zu. Und dann erblickte sie das Tor, die hohen Säulen mit den kleinen Laternen – dahinter wartete die Erlösung, warteten Freiheit und Hoffnung. Einen Augenblick lang wandte sie sich um und warf noch einmal einen Blick auf das massige Gebäude, es war wie ein Drache, die kaum sichtbaren Fenster hier und da wie Schuppen auf der Flanke des Drachens. Sie lachte; sie war nicht zu Stein oder zu einer Salzsäule erstarrt. Ihr fiel der offene Mund der Frau im Bett ein, und sie schauderte; doch ließ sie das Krankenzimmer des Blutes und jene, welche von dem Geblüt geboren, hinter sich. Bedächtig trat sie hinaus auf die Straße.
Zwei
Noch immer herrschte Krieg in der Welt. Ende 1941 quälte sich nach Geleitflugaufgaben über dem Atlantik ein schwer beschädigter Focke-Wulf-Bomber zu seinem Stützpunkt in Norwegen. Unterwegs mußte er seine Bombenlast abwerfen. Sie fiel auf die Nordküste der Insel und explodierte an den Hängen des Berges. Die Explosionen rissen tonnenweise Fels und Lehm aus dem Berg und legten die schwarzen inneren Gesteinsschichten bloß, die sich vor Jahrtausenden geformt hatten. Die Flanke des Berges ging in Flammen auf, und das Feuer loderte stundenlang lichterloh, dankbar, als habe etwas Grausiges darauf gewartet, daß ein solches Feuer, solche Asche auferstehe wie der Phönix. Tagelang, so daß es fast den Anschein hatte, als würde sich die Welt nie mehr davon erholen. Erdrutsche und Bergschlipfe nahmen kein Ende; Felsen, Steine und Geröll stürzten in die Wogen, Rinnsale von Mergel und Schiefer folgten, Windstöße lösten weitere Erdrutsche aus, bis großflächige Verwerfungen freigelegt waren. Erst nach Wochen schien der Berghang wieder zur Ruhe kommen zu wollen. Auf den ungeschützten Leiten, wo nur Gemsen und streunende Schafe Fuß fassen konnten, waren hier und da die grinsende Fratze eines Metallstücks, die gezackten Kanten und ausgebrannten schwarzen Hülsen der Bomben zu sehen. Bei Tage stießen verstörte Seevögel – Möwen, Lummen, Eissturmvögel – herab und versuchten kreischend, sich an den neuen Felsgesimsen festzukrallen. Die Winterwinde klammerten sich mit langen, abgebrochenen Nägeln an die rauhen Flächen. Die große Wunde in der Bergflanke war den
Salzwinden ausgesetzt, verätzt, geschwärzt; und die Insel zitterte vor Schmerzen. Dies waren Kriegsjahre. Wolfsrudel, auf der Jagd nach leichter Beute, durchstreiften weiter die reichen Gewässer des Atlantiks. Admiral Dönitz, Befehlshaber einer mächtigen UBoot-Flotte, war ebenso gefürchtet, wie die Menschen in unbedeutenderen Zeiten den Wolf von Gubbio gefürchtet hatten. Handelsschiffe, ob unter Geleitschutz oder nicht, fielen den wildernden Rudeln wie hilflose Lämmer zum Opfer. Aus den Tiefen des Ozeans stiegen stumm, herzlos, voller Geifer Wolfsrudel auf, sie erbarmungslos zu verschlingen, und der Atlantik wurde zu einem Meer des Argwohns, der Furcht und des Gemetzels. Wölfe. Oder vielmehr Haie. Haie. Denn der Wolf ist eine Kreatur der Erde, der Berghänge und Wälder, der Steppen und Prärien, der Zeit und der Stille außer Reichweite, eine Kreatur des menschlichen Herzens.
Am 23. Februar 1943 landete in Purteen Harbour ein Kanonenboot der Kriegsmarine, das ein paar klapprige Trawler beiseite schob, um am inneren Kai anzulegen. Auf See wüteten orkanartige Winde, an der Westküste tobten Stürme. Felsen und Klippen waren tückisch, griffen wie lange Arme unvermutet weit aus, tauchten aus der Brandung auf und versanken wieder mit kehligem Gelächter. Die Deutschen machten fest, froh darüber, der Metzelei für eine Weile entronnen zu sein. Einige Angehörige der Schiffsbesatzung behielten die Zugänge zu dem winzigen Hafen länger als eine Stunde im Auge. Die übrigen schliefen. Ein paar Disteln stemmten sich gegen den Wind; ein Esel bewegte ganz nach den wechselnden
Launen des Regens schwankend seinen Rumpf, dumpf triefend schulterte er die Last des Tages. Im Stacheldrahtzaun verfingen sich kleine Wimpel Schafswolle, die in der Brise flatterten. Am späten Vormittag schien grau eine schüchterne Sonne am grauen Horizont. Drei bewaffnete Matrosen gingen vorsichtig die unbefestigte Straße hinauf, die zum Dorf führte. Und dort, am Ende der Straße, stand Captain Cyril Thornton O’Higgins, sie zu begrüßen. Groß, feist und bolzengerade stand er in seiner osterglockengelben Windjacke wie eine Vision vor ihnen. Die wenigen Haarsträhnen auf seinem fast kahlen Schädel wehten wie trunken. Er glaubte, Zugvögel wie den wandernden Albatros vor sich zu haben, von launischen Windböen über dem Atlantik von ihrem Kurs abgebracht. Zögernd richteten sie ihre Gewehre auf ihn. Er schob die Waffen verächtlich zur Seite. In der Linken hielt der Captain seine Dienstmütze, auf deren Schirm mit Goldfäden ein Anker aufgestickt war. Er hatte sie in einem Tuchgeschäft in Schottland erstanden. Unter seiner Windjacke trug er eine echte Aran-Strickjacke, seine großen, grünen Watstiefel waren kurz oberhalb der Knie umgestülpt. Er war von zu Hause geflüchtet, hatte am Hafen unter den Schätzen der Kaianlagen herumhantiert und so sein Anrecht geltend gemacht, sich Hafenmeister zu nennen. Als weiterer Vorwand hatte ihm der Regen gedient. Er hatte Zuflucht in der Atlantic Bar gesucht, durch deren staubige Fenster er das von Waffen starrende Schiff hatte einlaufen und anlegen sehen, und als er nicht gleich ein Lebenszeichen entdeckte, hatte er den fälligen Höflichkeitsbesuch anmahnen wollen. Er war kein Dummkopf, dieser Captain Cyril Thornton O’Higgins! »Gutenacht! Gutenacht!« brüllte er ihnen zu. Er streckte die Rechte zum Gruße aus, ergriff die Hand des ersten Matrosen
und schüttelte sie kräftig. Dann drückte er dem zweiten verwunderten Deutschen die Hand und wiederholte seine dem Sprachführer entnommene Floskel. Schließlich packte er den Kommandanten an den Schultern und fuhr fort, sich durch die Wendungen durchzufinden, die er gelernt hatte. »Itch!« sagte er und wies auf seine Brust. »Itch, Captain Cyril Thornton O’Higgins. Captain! Cap-i-tan! Itch.« Er setzte seine Mütze auf und deutete auf den Anker. Er lächelte und nickte dem verdutzten Würdenträger zu, dann zeigte er auf die Brust des Deutschen und fragte: »Du? Admiral Doughnuts? Nitcht? Nitcht?« Der Deutsche grinste und schüttelte den Kopf. Ein butterblumengelbes Licht der Erleichterung war in seinem Kopf erblüht. »Nein! Nein! Nein!« Der Captain nahm seinen Arm und nötigte ihn den Feldweg zur Atlantic Bar hinauf. Dabei brachte er auf eine leicht verschwörerische Weise seine Redewendungen an. In flüssigem Deutsch teilte er dem Kommandanten mit, daß das Wetter in Hannover besser ist, daß es im Badezimmer meiner Mutter kein Warmwasser gibt, daß die Stadt Berlin nicht am Rhein liegt und daß die Bäume in Bayern sehr hoch wachsen. Um die Wirkung seiner Worte abzuschätzen, blieb er stehen. Die Deutschen schienen gerührt; sie nickten anerkennend. Und dann drückten sich alle durch die Eingangstür in das höhlenartige Dunkel der Atlantic Bar. »Bier!« schrie der Captain. Der trübe Schankraum roch nach Lachen verschütteten Stouts und Whiskeys. Die Deutschen saßen auf einer langen Holzbank an der Wand; der Zementfußboden war alles andere als eben; auf den Regalen hinter der Theke aus dunklem Holz standen ganze Batterien von Whiskey-, Gin- und Bierflaschen, es gab Tabak, Tee, Streichhölzer und Nägel, und an einem
Haken in der Ecke hing ein großer Schinken. Der Captain brachte ihnen Porter, und sie tranken, gierig und laut schlürfend, aus der Flasche. Dann sprach der Captain sie auf englisch an. An die Theke gelehnt, stand er da, eine Flasche in der Hand. »Kreuzmast!« prahlte er. »Achterdeck. Fockmastsegel. Fregatte. Klüver. Bilge. Brigantine. Dhau. Schaluppe. Krähennest. Rahnock. Jolle.« Die Wörter kamen ihm eins nach dem anderen über die Lippen, langsam, beharrlich, wie große, goldene Dublonen. Die Deutschen nahmen es beeindruckt hin. »More«, sagte der Kommandant plötzlich. Der Captain war entzückt. Er begann von neuem: »Achterdeck, Masttopp, Schornstein, Deck…« »Nein! Nein! Bier, more Bier!« Der Captain hielt inne. Er dachte nach. »Money? Haben – du – money? Haben du – cash – zu haben?« »Money?« fragte ein Matrose den anderen. »Cash?« »Geld, ah! Geld! Ja, ja, money.« Der Kommandant griff in seine Rocktasche und zog eine mit Fotos und Banknoten prall gefüllte Tasche heraus. »Reichsmark!« verkündete er voller Stolz und hielt dem Captain einen der Geldscheine hin. Der Captain nahm ihn und befingerte ihn argwöhnisch. »Ja, ja, und was für money! Hier nicht zu gebrauchen, würde ich sagen, was meinst du, Tony?« Und er reichte den Schein dem Barmann. »Load o’ dried-out shite, that!« urteilte Tony und lächelte seinen Gästen zu. »Shite, ja, shite!« pflichtete einer der Deutschen ihm fröhlich bei. »Trotzdem, Tony«, nahm der Captain den Faden wieder auf, »vielleicht sollten wir unsere sauberen Früchtchen hier bei Laune halten.« Er sprach schnell, hin und wieder wandte er sich lächelnd an die Eindringlinge. »Schließlich wollen wir
nicht, daß sie herkommen und uns Scherereien machen, nicht wahr? Dann kommen als nächstes die Engländer angewieselt, und wir haben’s mit einem ausgewachsenen Krieg zu tun. Nimm die Scheiße und sei dankbar. Gib ihnen einfach noch ein paar Flaschen. Mann, nun mach schon! Wir werden Helden sein! Patrioten! Wie Pearse und Plunkett und die andern Jungs. Für ein paar Flaschen Stout!« Es wurden noch mehr Flaschen hervorgeholt und die Gewehre unter der Bank abgelegt. Der Captain begann zu singen: What are the wild waves say – ay – ing, Sister, the whole da – hay long? Die Deutschen stimmten Kriegslieder an. Dabei standen sie stramm und salutierten vor dem rosa-weißen Schinken. Doch schon bald hatte der Porter das Niemandsland ihrer Gemüter durchweicht, sie setzten sich wieder und überließen sich einem rührseligen Tannenbaumlied. Nicht lange danach flossen die Tränen, und sie zogen Fotos hervor, über denen sie ins Träumen gerieten. Nach einer Stunde befand der Kommandant, daß sie besser wieder zu ihrem Schiff zurückgingen. Wieder fischte er mehrere Geldscheine heraus, mit denen er vor dem Captain herumwedelte. »More Guinness!« rief er. »More! Für unsere Kameraden!« Der Captain zögerte. More? Tony duckte sich hinter seine Theke. Der Kommandant schien zu begreifen. »You like cowboyz?« »Cowboys?« »Yes, yes! The boy von cows. Ja. Cow – boy!« »Ja, ja, ich mag Cowboys.«
Der Kommandant griente. Daraufhin nahm er seine Pistole heraus, und das Herz des Captain begann zu flattern. Es war eine Luger, handlich, tödlich. Der Deutsche leerte eine vollkommen runde silberne Kugel auf seinen Handteller. »Ein bullet!« gab er bekannt. »Silber. Von American cowboyz! Von Wild Bill Hickcock!« Er hielt dem Captain die Kugel hin. Der gab sie an Tony hinter der Theke weiter. Tony murmelte: »Cowshite!« und lächelte dem Deutschen zuliebe sein angespanntes Lächeln. Sie holten einen Kasten mit Flaschen hinter der Theke hervor und überreichten ihn den Matrosen. Es erhob sich ein deutsches Freudengeheul, und durch einen leuchtenderen Nachmittag trat die Invasionsarmee den Rückzug zu ihrem Boot an. Unter der Bank in der Atlantic Bar ließen sie die beiden Mausergewehre K98 zurück, ihre noch nie abgefeuerten Dienstwaffen. Der Captain sah ihnen nach. Auf seinem feisten, rot anlaufenden Gesicht lag ein zufriedenes Grinsen. »Na, Tony, auch wenn’s uns ein paar Schillinge gekostet hat, dafür haben wir unser Land vor einer machtvollen Invasion gerettet!« »Wir?« erwiderte Tony. »Wir? Schließlich sind sie mit meinem Guinness abgezogen. Diese Breitärsche! Die Lappen hier sind doch nichts als Scheiße. Die reinste ausgedörrte Kuhscheiße!« Er hielt die deutschen Banknoten gegen das Licht, das durchs Fenster einfiel. »Kuhscheiße! Kackmist von einer Bande von Cowboys!« Er klebte die Scheine an die Wand hinter der Theke, neben den erblindeten Spiegel. Gesprächsstoff für kommende Jahrzehnte; der Stoff, aus dem die Mythen und Legenden sind. Die silberne Kugel ließ er mit einem Ausdruck äußerster Geringschätzung in eine Tabakdose für Falschmünzen fallen, die er zwischen den Wiskeyflaschen aufbewahrte.
Vorsichtig hob der Captain die beiden Gewehre auf. »Eins für dich, Tony, und eins für mich.« Als der Captain im Abenddunkel zum Hafen hinabschlenderte, war er in aufgeräumter Stimmung. Das Kanonenboot dümpelte auf einer sanft wogenden See vor sich hin. Aus seinem Inneren drangen der Lärm eines Gelages, weitere Tannenbaumlieder auf deutsch, das Geklirr von Flaschen, das durch die Abendstille klang wie Glocken von hochgelegenen Weiden, wo in einem grünen Paradies farbenfrohe Blumen blühen. In dieser kleinen Welt herrschte Friede. Über dem Horizont trieb wie eine freundliche Wachgaleone der Mond; die Nacht würde trocken und windstill sein. Der Captain zog seine Hosen hoch und stieß einen Seufzer der Genugtuung aus. Bei Tagesanbruch, das wußte er, läge Purteen Harbour wieder verlassen da.
Nora Corrigan fragte sich oft, wie es dazu gekommen war, daß sie Cyril Thornton O’Higgins geheiratet hatte. In den ersten Jahren hatte er gearbeitet – etwas nicht allzu Strapaziöses in der Hutfabrik. Montag morgens war er in aller Frühe mit dem Bus aufgebrochen und Freitag abends spät heimgekommen. Oh ja, er war ein schöner Mann gewesen, war es immer noch, auf eine zappelige, fischähnliche Art. Und all seine Großmannssucht, all seine Prahlerei hatten ihre Neugier geweckt. Sie hatte dahintersteigen, das ruhige Herz dieses Mannes anrühren wollen. Und auch Mitleid hatte sie mit ihm gehabt, wegen seines Namens. »Cyril.« Gefolgt von einer Pause, dann: »Thornton!« Mit Nachdruck. Gefolgt von einer weiteren Pause. »O’Higgins!« Danach verneigte er sich immer: »Cyril Thornton O’Higgins, zu Diensten.« Sie hatten sich bei einem geselligen Beisammensein im Schulhaus kennengelernt. Nora liebte Geselligkeit; den
Plausch, die Kameradschaft unter den Mädchen, wie sie kicherten und intrigierten, wie sie es genossen, den Burschen zuzusehen und aus dem Weg zu gehen, wie sie sich gegenseitig auf den Stil der Hosenträger und Pullover, die Länge der Hosenbeine, die unbewußt modische Gangart der jungen Inselfischer aufmerksam machten. Auch tanzte sie gern, obwohl die meisten Jungen des Ortes ungefüge, schwerfällige Stümper waren, die den Kopf hängen ließen. Vogel Strauße. Bullen. Quallen. Nur Cyril nicht – der bewegte sich mit einer Anmut, die an einen beleibteren Errol Flynn erinnerte. Cyril forderte Nora nie auf; vielleicht war sie ihm zu unabhängig, stand gesellschaftlich zu weit über ihm – eine Anwaltstochter und ein Hutfabrikarbeiter. Das ging nicht an; nicht im gewöhnlichen Verlauf eines gewöhnlichen, vorhersagbaren Lebens. Jetzt saß Nora traumverloren am Ufer des Sees. Sie wußte, daß Cyril sich irgendwo auf der anderen Seite der Insel, am Hafen, herumtrieb. Bestimmt faulenzte er, putzte sich heraus, dozierte. Nora hatte die Bettlaken aus dem Haus dabei, die sie in einem großen Emaillezuber einweichte. Zwar war das Seewasser braun, doch wusch es die Laken sauber und verlieh ihnen eine Geschmeidigkeit, die der Haut schmeichelte wie Wollgras den Fingerspitzen. Bald würde sie den Zuber von neuem füllen, Seife hinzugeben und auf den Laken herumstampfen. Die kühle Liebkosung des Wassers um ihre Fußknöchel, das Kitzeln der Seifenblasen an ihrem Schienbein, das Quatschen und Glucksen der Laken, die rhythmische Bewegung, die sie hervorrief – wie bei einem langsamen Tanz, bei dem die Welt ringsum ihr Partner war –, all das half ihr dabei, dem Augenblick und der Langeweile ihres Alltags zu entfliehen. Der Nachmittag war still; auf dem Moor und den niederen Hängen der Hügel lag Friede, schwebte der Duft der Heide, schwankten sanft die Spitzen der Königsfarne; dieses
eine Mal wenigstens war die Welt wirklich gegenwärtig und ihr zugetan. Eines Abends schließlich war sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, auf Cyril Thorton O’Higgins zugegangen und hatte ihn aufgefordert. Sie hatte die tiefe Kluft zur anderen Seite des Saals überwunden, wo die Männer standen. Unter den erschrockenen Augen der anderen jungen Frauen. So etwas gehörte sich nicht, so etwas tat man einfach nicht. Er hatte dagestanden und sie angeglotzt. Wie betäubt. Bis sie seine Hand nahm und ihn sanft auf den Boden der Welt hinauszog. Eine kleine Revolution war geschehen. Sie tanzte gut, und plötzlich gaben seine Beine unter ihm nach. Er stolperte, taumelte, rutschte; fast war das Parkett der aufkeimenden Liebe zu glatt für ihn. Sie setzten sich und begannen ein Gespräch. Er konnte es nicht erwarten, Nora von seiner Mutter zu erzählen. »Weißt du, sie starb«, sagte er, »als ich erst fünf war. Sie hatte Tbc. Alle waren zum Leichenschmaus bei uns im Haus und beachteten mich nicht weiter. Ich ging ins Badezimmer und stöberte herum. Da sah ich eine Flasche. Ich dachte, es wäre eine Art Limonade, setzte sie an den Mund und wollte eben trinken, als eine gutgekleidete junge Frau die Treppe heraufkam, durch die offene Tür des Badezimmers stürzte und mir die Flasche aus der Hand schlug. Dann verschwand sie wieder genauso plötzlich, wie sie gekommen war, ohne ein Wort zu sagen. Und ich weiß, bis zum heutigen Tage habe ich nicht den geringsten Zweifel daran, daß diese Frau und keine andere meine Mutter war. Und weißt du, was sich in der Flasche befand? Lysol. Genau. Lysol. Tödliches Zeug!« Er hielte inne und wartete ihre Reaktion ab. Es schien sich um eine Prüfung, eine Einführung, eine Frage zu handeln. Sie streckte die Hand aus und berührte ihn sanft an der Schulter. Da lächelte er ihr zu und lud sie ein, mit ihm nach Westport ins
Kino zu gehen; sie war nur ganz selten im Kino gewesen; sie nahm die Einladung an, sie war gefangen! Während der strahlenden Zeit der jungen Liebe, als sie rituelle Balztänze umeinander aufführten, war das Leben exotisch und kostbar, und alle Spuren ihrer Depression verflogen; sie hatte das Gefühl, als trete sie hinter jener dicken Glaswand hervor, die sich noch stets zwischen sie und den Frieden und das Glück geschoben hatte, als falle die widerwärtige Schwere in ihrem Wesen wie ein böser Geist, der in ihren Knochen gehaust hatte, von ihr ab. Damals war sie schön, lebhaft, jugendlich, ganz unversehrt gewesen. Als könne die Liebe alles besiegen, selbst jene unsichtbaren, ungreifbaren Kräfte, welche die Seele des Menschen in quälender Abhängigkeit von ihren Gesetzen halten. Einmal hatte sie ihn zu sich nach Hause eingeladen. Cyril war von der vergleichsweisen Pracht im Hause der Corrigans zutiefst beeindruckt gewesen und hatte in einfältigem Schweigen dagesessen, während Noras Eltern plauderten und Tee tranken. Aus lauter Verlegenheit baten sie Nora, Cyril etwas auf dem Klavier vorzuspielen. Schüchtern stimmte sie das Gebet einer Jungfrau an. Plötzlich nahm Cyril zwei der großen silbernen Suppenlöffel von der Anrichte, wo sie seit Jahren zwischen unbenutzten Terrinen und Humpen Wache gehalten hatten; ein breites Lächeln auf dem Gesicht, stellte er sich neben Nora und schlug auf dem polierten Holz des Klaviers mit den Löffeln den Takt. Nora hatte ihren Spaß an der Freude und Behaglichkeit, die das Klappern der Löffel in dem muffigen, alten Haus auslöste, und bemerkte die vielen kleinen Dellen, die er dem Klavier zugefügt hatte, erst hinterher. Mrs. Corrigan aber war verärgert und wies Cyril auf die Schadstellen hin, die er verursacht hatte. Dies hatte für Nora den Ausschlag gegeben; als sie sah, wie verletzt er war,
gelobte sie sich selbst an Ort und Stelle, ihn zu heiraten, falls er um ihre Hand anhielte. Nora betrachtete die sanft gekräuselte Oberfläche des Sees. Das Wasser zwischen den Torfhügeln war dunkel, der Grund weich und schwarz und trügerisch. Die alten Leute raunten, der See sei bodenlos, und durch den dicken, saugenden Schlamm sinke man immer tiefer hinab. Und aus diesem Schlamm, erzählten die Alten weiter, steige das riesige Ottertier hervor, ein über alle Maßen entsetzliches Ungeheuer, das sämtliche Buben und Mädchen verschlinge, die so töricht seien, sich in einem Boot oder auf einem Floß auf den See hinauszuwagen. Das Leben der Kinder war vollgestopft mit unausdenklich grimmigen Monstern. Sie seufzte und trat in den großen Zuber mit den Laken. Sie würde eine Weile stampfen, das Wasser abermals auswechseln und dann von neuem stampfen. Sie würde die Laken draußen auf den Felsen am Seeufer ausbreiten, wo sie im Wind und an der Sonne trocknen würden. Wie die Untiefen ihres Herzens den Untiefen des Sees glichen! Ach, stiege doch das Monster aus jenen Untiefen in ihr auf und ließe sich erlegen und vernichten! Aber so einfach war die Sache nicht, das wußte sie nur zu gut. Es ist eine Frage der Nerven, beharrte Cyril, der Nerven, das ist alles, und ein bißchen Glück in deinem Leben wird dich schon davon kurieren. Bei diesen Worten hatte sie ein Licht in ihre Seele eingelassen. Sie hatte ihr Leben neben das seine gebettet, auf jene kleine Hoffnung, als die Hoffnung noch ein winziger cremefarbener Schößling war, ehe der heiße Atem der Sonne oder die reißenden Nägel des Windes sie berührten. Sie breitete die Laken auf den Felsen aus; in der Brise blähten sie sich sanft. Um sie niederzuhalten, legte sie an den Rändern Steine auf. Das Wasser am Seeufer kräuselte sich golden. Vor ihr dehnte sich still und warm der Nachmittag. Sie fröstelte.
Bill Cassidy, Apotheker, und sein Freund Don Nealon, Kaufmann, stiegen die südöstliche Flanke des Berges hinauf. Es war Anfang März 1945. Cassidy, ein hochgewachsener, hagerer Mann, dessen Gesicht die Farbe feuchten Salzes hatte, begann bereits zu altern. Schwermütig stand er in seinem Laden hinter dem Tresen; kein begeisterter Verkäufer. Aber er war großzügig, verteilte unter den Kindern, die in seinen Laden kamen, freigebig Zuckerstangen, erließ Rechnungen, von denen er glaubte, daß seine Kunden sie nur mit Mühe begleichen konnten. Seine Hände waren wie Geierkrallen, doch wenn er den Kätzchen, die er gerne hielt, den Nacken streichelte, schnurrten sie vor Behagen. Dichte, graue Brauen überschatteten scharfe, aber gütige Augen. Nealon, ein aus eigener Kraft emporgekommener Draufgänger, war ein dicker, zufriedener Sechzigjähriger, dessen weißes Haar ihn auf Geschäftsversammlungen und Festveranstaltungen im Westen aus der Menge heraushob. Sein größtes Vergnügen bestand darin, sich nach einer herzhaften Mahlzeit in seinem Stuhl zurückzulehnen und die Hände auf dem kugelrunden Bauch zu falten, auf seinen Erfolg zu paffen und joviale Rauchkringel in die Luft zu blasen. Er hatte große, rote Fäuste mit kräftigen, deutlich ausgebildeten Fingern, die mit Vorliebe eine Zigarre rollten und den sanften Druck des Abzugshahns verspürten. Zum Schutz gegen den scharfen, beißenden Wind hatten beide Männer warme Jagdkleidung angezogen. Sie trugen Schrotflinten und Patronengurte, die sich über der Brust kreuzten und um die Hüfte festgeschnallt waren. Jäger. Aus Spaß an der Freude. Leise kletterten sie in Windrichtung der erhofften Beute. Ihre Watstiefel versanken in den winternassen, windversengten Gräsern. In den höheren Berglagen wehte ein bitterkalter Wind
und peitschte ihnen ins Gesicht. Der Himmel war grau und schwer wie Metall. Ihre Mienen waren hellwach, und in Erwartung des Abschusses glänzten ihre Augen. Sie gelangten zum niedrigeren Kamm auf der Ostseite, und vor ihnen erstreckte sich die weite Fläche des Atlantiks. Zu ihrer Linken ragten hohe Klippen auf, das vernarbte Angesicht des Berges. Voller Staunen über die erhabene Pracht dieses Anblicks hatte sich der Apotheker wieder aufgerichtet. Plötzlich erstarrte er. »Was war das, Don?« flüsterte er. »Was war was, Bill?« erwiderte der Kaufmann. »Ich habe nichts gehört.« »Eine Art Geheul oder Gebell, in der Ferne, irgendwo dort oben in der Felswand.« Sie blieben stehen und horchten. Es war nichts zu hören. Bill zuckte die Achseln. Langsam erstiegen sie den Hang des Klippenrands. Zu ihrer Rechten fiel der Berg über Felsen und Klippen steil zum Meer hin ab. Sie waren Fliegen, winzige Geschöpfe, die auf dem Antlitz einer ungeheuren Schöpfung krabbelten. Sie kauerten nieder, damit sie ihre Beute nicht mit einer allzu offensichtlichen Bewegung in unerreichbare Schlupfwinkel verscheuchten. Auf den sanfteren Hängen der Berglehne zu ihrer Linken zitterten Heidekraut und Farnwedel im immerwährenden Wind. Sie sahen Schafe, die sich schutzsuchend unter ausgehöhlten, überhängenden Lehmböschungen zusammendrängten. Darüber ragten in einer mystischen Höhe von siebenhundert Metern über dem Meeresspiegel die mächtigen Klippen auf. Einmal strauchelte Bill, und einen kurzen Augenblick lang stand sein Leben auf des Messers Schneide. Unter seinem Fuß löste sich ein kleiner Steinregen und polterte über die Klippe in die Tiefe. Mit der linken Hand griff er nach den
widerspenstigen Gräsern. Panischer Schrecken durchfuhr ihn. Er richtete sich auf und atmete tief durch. »Menschenskinder noch mal, Bill!« zischte Don ihn an. Überrascht sah Bill auf. Das Gesicht des Älteren war rot vor Wut. »Nur zu! Brüll ruhig! Hau auf die Pauke! Soll etwa gleich die ganze Welt mitkriegen, daß wir hier sind?« Bill gab keine Antwort. So hatte er seinen Freund noch nie erlebt. Einen Augenblick funkelten die beiden Männer einander böse an. Feinde. Dann drehte Don sich um, und sie setzten ihre Kletterpartie fort. Sie gelangten zu einer Anhöhe, von der aus sie die beängstigende Felswand fast ganz überblicken konnten. Wie das Ende der Welt ragte sie vor und über ihnen empor; große, feuchte Giebelwände aus schwarzem Fels, hier und da mageres Moos und Gras, das schmale Vorsprünge aus Geschiebelehm gefunden hatte, auf denen es wachsen konnte. Schwer atmend hielten sie an. Eine Zeitlang suchten sie schweigend das Gelände vor ihnen ab. Es regte sich nichts. Doch dann umklammerte Don den Arm seines Kameraden so fest, daß es weh tat. Und da hörte auch Bill ihn: einen langgezogenen, leisen Klagelaut, der irgendwo von der Felswand zu ihnen drang. Langsam verhallte der Laut, ein mählich ersterbendes Echo. »Klingt fast wie ein Mensch«, flüsterte Don. Mit einem Mal kamen ihnen die Berglagen, die Gewalt der Klippen und des Ozeans unermeßlich einsam, leer und bedrohlich vor. Dons Hand schien jetzt nach Trost greifen zu wollen. Bill spürte, wie ihn Entsetzen beschlich, es überlief ihn eiskalt, und er zitterte heftig. Dann hörten sie es wieder, jenes widerhallende Wehklagen, das menschlich und unmenschlich zugleich klang, unendlich fern und doch nahe. Bill löste sich
aus Dons Umklammerung und begann den Weg zurückzugehen, den sie heraufgekommen waren. »Warte, Bill, so warte doch. Sei doch nicht so ein gottverdammter Idiot!« Dons Stimme war von Haß erfüllt. Verlegen wandte Bill sich um, aber er war wütend. »Nun hör mir mal gut zu, Don«, redete er auf ihn ein. »Du brauchst deinen Zorn nicht an mir auszulassen. Und mich schon gar nicht einen Idioten zu nennen. Ich gebe gerne zu, daß der Laut mich verunsichert hat. Das ist alles. Ich hab’s nicht nötig, mich von Leuten wie dir beschimpfen zu lassen!« »Dann laß uns nachsehen, was es ist, statt kehrtzumachen und davonzurennen wie beschissene Feiglinge.« Don versuchte, ruhig und vernünftig zu bleiben, doch hob er seine Flinte und legte den Sicherungshebel um. Er sah zur Felswand hin. »Jedenfalls ist es kein Schaf, und eine Gemse auch nicht.« »Es könnte ein Adler sein oder ein Tier, das Schmerzen hat…« Von einem Gesims über ihnen kam etwas auf sie zugerast; es schien der nackten Felswand entstiegen, als wäre es aus der düsteren Macht der Klippe geboren. Hastig und ohne auf die Richtung zu achten, kam es auf sie zugesprungen. Sie erkannten sofort, daß es eine Gemse war, groß und hager in ihrem grauen Fell. Sie hatte einen kurzen Bart und schön geschwungene große Hörner, die wie gezackte Zwillingssäbel aufragten. Trittsicher sauste sie, Geröll über die Felswand spritzend, mit großer Geschwindigkeit geradewegs auf die Stelle zu, wo die Männer standen. Nach dem ersten Schock ihres Anblicks hob Don seine Flinte und nahm Ziel. Das Tier ließ sich nicht schrecken in seinem ungestümen Lauf. Don zauderte, er war sich nicht sicher, wie er auf diesen Ansturm über steil abfallende Gesimse reagieren sollte. »Schieß! Schieß!« drängte ihn Bill.
Es war zu spät. Die beiden Männer konnten gerade noch auf die grasbewachsene Stelle zu ihrer Linken springen, als das Tier auch schon mit schreckgeweiteten Augen an ihnen vorüberjagte und mit seinen ledrigen Hufen Steine und Kiesel losriß. Es verschwand hinter den Felsen unter ihnen. Einige Augenblicke lang verfolgten sie seinen Lauf, hörten die fallenden Steine und Kiesel, das verklingende Getrappel seiner Hufe. Don rappelte sich aus dem Gras auf. Er hatte seine Flinte fallenlassen und war der Länge nach hingestürzt. Er war naß und wirkte verängstigt. Er drehte sich um. Bill stand mit erhobenem Gewehr über ihm und zielte auf seine Brust. In sein Gesicht war Haß gemeißelt. »Du verfluchter Idiot!« schrie Bill. »Beinahe hättest du uns beide auf dem Gewissen. Warum hast du nicht geschossen?« Don ballte die Fäuste. Seine erste Regung war, sich auf den anderen zu stürzen und ihn zu Boden zu werfen, bevor er abdrückte. Einen Augenblick lang standen sie einander gegenüber. Doch dann vernahmen sie den Laut von neuem, einen langgezogenen jammernden Klagelaut, der langsam anschwoll und dann unvermittelt abbrach. Als wäre er von einem Messer durchtrennt worden. Diesmal schien er näher, lauter, von einem Felsvorsprung über ihnen zu kommen. »Heiliger Strohsack!« sagte Bill. »Was ist nur mit mir los? Tut mir leid, Don, tut mir leid, ich wollte nicht auf dich zielen.« Auch Dons Wut war verraucht. »Machen wir, daß wir von hier fortkommen«, sagte er. Ein paar Sekunden lang blieben sie, starr vor Furcht, stehen. Es war still, bis auf das schroffe Atmen des Windes und das kehlige Stöhnen der See weit unter ihnen. Langsam, behutsam kletterten sie denselben Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. In der Felswand war nichts zu sehen, keine Regung,
keine Bewegung. Da machten sie kehrt und fingen rutschend und schlitternd an zu rennen. Neben ihnen hämmerte ihre Furcht.
Als die ungeheuren Schauder des Krieges endlich abgeklungen waren und über der Welt ein nervöser Frieden lag, entfloh Cyril Thornton O’Higgins einmal mehr der Beengtheit seiner Insel und fand eine Anstellung bei Maclean & Sons, Bootsbauern in Mallaig im Nordwesten des schottischen Hochlands. In einem kleinen Haus auf Cullinair Hill, einer langen Straße, die in einem spitzen Winkel vom Meeresufer geradewegs in den Himmel führte, fand er ein möbliertes Zimmer. Seiner Wirtin, Mrs. Dunbar, imponierte es, daß für eine Weile ein richtiger Captain in ihrem Haus wohnen sollte, doch blieb ihr nicht viel Zeit, ihren redseligen Gast ins Herz zu schließen. Als sich nach vier Wochen herausstellte, daß er vom Bootsbau nicht die leiseste Ahnung hatte, wurde er entlassen. Aber da war er der täglichen Kletterei ohnehin überdrüssig: Zu jedem Mittagsmahl, vor jedem Abendessen und erneut nach seinem abendlichen Besuch im All and Sundry mußte er sich den Cullinair Hill hinaufmühen. Soeben war er in das Büro am dunklen Ende des Hofes bestellt und von seiner Entlassung unterrichtet worden, als ein Bote mit einem Telegramm für ihn eintraf. Das Telegramm half dem Captain die Würde wahren. Noras Gesellschaft auch nur für eine halbe Saison entronnen zu sein, war eine beachtliche Leistung in seinem Leben, und die Flucht nach Schottland – das Heu war eingebracht, die Torfsoden sicher im Schuppen verstaut – dünkte ihn eine einmalige Gelegenheit. Seinen letzten Abend verbrachte der Captain unter Auslassung des Abendessens im All and Sundry. Hier verbreitete er die Neuigkeit und zeigte sich spendabel. Die
Single Malts gingen auf seine Rechnung. Das Telegramm war die tröstliche Herabkunft des Heiligen Geistes: Er habe einen Sohn namens Paddy und müsse sie verlassen, um seinen Vaterpflichten nachzukommen. So traurig und betrübt er auch sei, er müsse zu Weib und Sohn. Während der Captain von seinen Abenteuern auf stürmischer See vor der Westküste prahlte und erzählte, wie er, ganz auf sich gestellt, eine deutsche Invasion Englands über die unteren Felder vereitelt habe, tranken sie auf seine Kosten Bull’s Blood, Sheep Dip und Holy Dew. Der Captain war der Held des Abends, und in dankbarer Anerkennung seiner Verdienste um die freie Welt wurden die Whiskeys nunmehr ihm ausgegeben. Er weinte vor Stolz und Dankbarkeit und empfand, wie furchtbar es war, solch wunderbare Gastgeber und Gefährten verlassen zu müssen. Aber hatte er nicht einen Sohn! Und er versprach den Männern von Mallaig, einen furchtlosen Menschen aus ihm zu machen, mutig und freigebig wie er selbst, er werde Führer seines Landes werden, ein Lachs unter lauter Sandaalen, ein Mann unter Hasenfüßen, eine Eiche unter Dornengestrüpp! Als der Captain allein zu seiner Bude wankte und mit äußerstem Widerwillen abbog, um ein letztes Mal Cullinair Hill zu ersteigen, lobte er Gottes geschicktes Arrangement der Gestirne; um das Sternenzelt besser bewundern zu können, lehnte er sich zurück – und fand sich rittlings auf dem nassen Boden wieder. Er pinkelte an einen Baum und sagte allen aufrechten Männern eine blendende Zukunft voraus. Mit dem Gesicht stieß er gegen eine runde Briefkastensäule und entschuldigte sich aus vollem Herzen bei dem nachsichtig grinsenden Maul. Wenn doch nur meine Nora so lächeln könnte, lieber Freund, was für ein großer Segen wäre das! Aber so lächelt sie nun einmal nicht, sie nicht, oh nein, Sir, sie nicht, sie hat den Schatten, wissen Sie, diesen verdammten, elenden Kerl von
einem Schatten, den man nicht aus ihr herausholen kann, und dann schreit und schwankt sie, packt mein Hosenbein und wünscht, sie wäre tot, oder schlimmer noch, lieber Freund, schlimmer noch. Aber jetzt habe ich einen Sohn, aus diesen meinen Lenden, einen Sohn, wenn ich’s Ihnen doch sage, sein Name ist Paddy, sehen Sie, hier steht’s, im Telegramm, sehen Sie, Pat, in großen und klaren Lettern, und er wird ihr guttun, denn seit ich meinen Samen in ihren Schoß gepflanzt habe, ist sie gesund und munter. Ja, ich, ihr unvergleichlicher Captain Cyril Thornton O’Higgins, lieber Freund, lieber, lieber Freund. Der Captain umarmte den Briefkasten, blies ihm seinen heißen Alkoholdunst ins Gesicht, sank langsam vor ihm zu Boden und schlief den Schlaf des Gerechten.
Patrick Lawrence Dineen – bekannt unter den Kosenamen »Puddings«, »Pat Larry« und »The Reek« – besaß einen kleinen Lebensmittelladen auf einer Landzunge auf der falschen Seite der Insel. Es war eine von Kaninchen, Stechginster, Fuchsien und einer Handvoll Cottages besiedelte Gegend. In diesem abgelegenen Winkel der Welt ließen sich keine großartigen Geschäfte machen, so daß Pat Larry Puddings The Reek sein Geschäft aus dem Winkel in die Welt hinausverlegte. Pat Larry war von großer Gestalt, hatte ein rundes Gesicht und Arme mächtig wie Findlinge. Seine blauen Augen blickten mit einer Mischung aus Selbstrechtfertigung und Sehnsucht in die Welt. Um in diese Welt vorzudringen, hatte er sich einen hohen Lieferwagen gekauft und mit Regalen und Schränken versehen; darin verstaute er seine Lebensmittel, seine Teekiste, seine Säcke mit Zucker, Weizen- und Roggenmehl, seine Waage, seine Dosen, Tüten und Gläser. Er war stolz auf seinen Wagen – verkörperte er doch seinen Fortschritt von dem
Eselskarren, auf dem er seine Vorstöße ins Innere der Insel begonnen hatte, in ein neues Zeitalter. Auf die hohe Stirnseite des Lieferwagens hatte er die Worte HIER KOMMT DINEEN – DER BRINGT’S gemalt. Dienstags und freitags überließ Pat Larry seinen Laden der süßen, kurzsichtigen Obhut seiner Nichte Nellie »The Gate« O’Hara, einer hochgewachsenen, aber gebeugten Jungfer, die hinter dem hohen Zaun der Hoffnung doch noch ihre Seelenruhe gefunden hatte, und fuhr auf einer sorgfältig ausgearbeiteten Route, die ihn über große und kleine Landstraßen führte, zu den Vorder- und Hintereingängen der Inselbewohner, betätigte die Hupe und lieferte, verkaufte oder tauschte auch seine kostbare Ware. Eines Montagabends belud Pat Larry wie gewöhnlich seinen Wagen, um alles für einen frühen Aufbruch am nächsten Morgen zu richten. Die wiederaufgefüllte Teekiste. Ein Sack Weißmehl. Seine braunen Papiertüten. Seine Schöpfkelle. Ein großer Sack Zucker. Der Abend war still und warm. Nachdem er alles gestemmt und gewuchtet hatte, setzte er sich heftig schnaufend auf die niedrige Steinmauer auf der anderen Seite der Auffahrt, die zu seinem Haus führte. Er konnte das sanfte Gemurmel des Meeres hinter der Landspitze hören; eine Feldlerche erfüllte die gläserne Glocke des Himmels mit ihrer Wassermusik. Die alten Fuchsien, von den vorherrschenden Winden zu dürren, krummen Formen verbogen, atmeten unbeschwert. Pat Larry dachte an die Lehrgänge in der Männermission, die am Samstag abend begannen; ein Jesuit aus der Gardiner Street sollte sie abhalten. Ein Jesuit aus Dublin! Das war doch mal was! Der hatte bestimmt Neuigkeiten für sie, hier auf dem letzten Außenposten vor dem Himmelszelt. Neuigkeiten über das Herz des Menschen, Neuigkeiten über das gütige und milde Herz Gottes. Pat Larry nahm sich vor, jeden Abend zur Kirche und an beiden
Samstagen zur Beichte zu gehen. Der arme Father Crowe; er würde dem Jesuiten hinterherstolpern, dichtauf, wie eine Mantelmöwe dem Trawler in den Hafen folgt. Pat Larry würde es gefallen, wenn Father Crowes fette Seele, aus der, unausrottbar und hartnäckig wie Unkraut, zusammen mit einer Million Staubblumen Scham und Trauer wuchsen, einmal gehörig durchgeschüttelt würde. Er seufzte; er hatte mit Problemen zu kämpfen, hier am Rand der Welt, weitab von den Strömungen, die das Leben in der Hauptstadt sprudelnd vorantrieben. Gerne hätte er seinem Laden und seinem Heim etwas mehr Glanz verliehen – ein paar Vorhänge, neue Dachrinnen. Doch trotz seiner fürsorglichen Natur und seines bescheidenen Wohlstands sprang keine Frau auf ihn an; war er nicht Puddings, war er nicht The Reek, ein Mastschwein, ein Teerfaß, ein Wal? Diesmal aber würde er dem Jesuiten von seinen kläglichen Sünden im einsamen Dunkel seines Hauses berichten, Sünde um Sünde um Sünde, gefolgt von Reue und Ekel und Scham, und am nächsten Abend wieder dasselbe – und am nächsten – und am nächsten. Er könnte dem Jesuiten davon erzählen, er könnte ihn um Hilfe angehen, für einen Jesuiten aus Dublin wäre er ein Unbekannter, bald würde der Priester wieder in die Stadt zurückfahren, und Pat Larry würde ihn nie wieder zu Gesicht bekommen. Heute war Maud Tuohy, die junge, hübsche, muntere kleine Maud mit ihren blitzenden Augen und ihrem offenen, ehrlichen Gesicht, das wie eine Sonne durch den Regen schien, am frühen Nachmittag an seinem Geschäft vorbeigeradelt, und als sich ihr Rock unglücklich am Sattel verhedderte, hatte er die weiche, weiße Haut ihres Schenkels gesehen. Die Erinnerung daran würde ihm Schwierigkeiten machen, wenn er allein im Dunkeln vor dem Radio säße und darauf wartete, zu Bett zu gehen. Der flüchtige Anblick ihrer Haut. Er wußte,
heute nacht würde er in sich wieder dieselbe Abscheu und Verzweiflung darüber verspüren, daß er diesseits des Himmels – oder der Hölle – nie, nie, nie den Geschmack eines Frauenleibs kosten würde. Plötzlich aufgewühlt, hievte sich Pat Larry von der Mauer und schlug die großen Hecktüren des Lieferwagens zu. Der Knall echote wütend durch den Abendfrieden. Dann ging er, so schnell seine rundliche Gestalt es ihm erlaubte, zum Ufer hinab, wo die Strömung mit einem leisen, bedrohlich tierischen Knurren vorüberfloß. Eine Weile sah er über das Wasser hinweg zum sich verdüsternden Horizont. An stillen Abenden hob zuweilen ein Seehund den Kopf aus seiner Salzwasserwelt und sah zu Pat herüber, und Pat starrte verwundert zurück; beide Geschöpfe einander unkundig, zwei Welten, die sich einen Augenblick berührten und ebenso rasch auseinanderzitterten. An diesem Abend gab es keinen Kontakt mit jener anderen Welt, und als er wieder den Feldweg hinaufging und die Mücken an seinem Körper nippten, sah er bereits Mauds weiß leuchtenden Schenkel vor sich, wie eine Laterne schien er ins Dunkel seines Hirns; er wußte, daß er abermals besiegt war, daß er, bevor er Schlaf finden konnte… Unter dem Gewicht des Trübsinns sackte seine große Körpermasse in sich zusammen. Vor der Welt dort draußen schloß er die Ladentür.
Am Morgen bereitete sich Pat Larry sein dienstägliches Frühstück zu: drei Scheiben Speck, drei Würstchen, ein paar in Fett gebratene Schnitten Brot und einige dicke Scheiben von May M’Namaras leckerer Hausmacherblutwurst. Und Tee. Becher um Becher heißen Tees, verstärkt mit mehreren Löffeln Zucker. Um halb zehn würde Nellie kommen. Um zehn Uhr würde er sich auf den Weg machen. Auf seine Lieferrunde.
Er trat hinaus in den frischen, klaren Sonnenschein, postierte sich einmal mehr in der Welt des Handelns, tauchte ein in die Normalität des Lichts nach der körnigen Umarmung der Finsternis. Manchmal vermeinte Pat, das Unstoffliche der Nacht in den Adern zu haben, doch bei Sonnenlicht blühte er auf wie ein riesiger Dschungellotos. Er zögerte. Die Luft kam ihm sonderbar vor. Es herrschte eine silbrige Spannung im Licht, in der stillen Luft lastete eine Schwere, die keinen Frieden verhieß. Plötzlich spürte er, wie sein Hinterkopf erkaltete, als würde er aus dem Dunkel, aus dem er soeben getreten war, beobachtet. Rasch wandte er sich um. Doch da war nur die offene Ladentür und am Ende des Ladens die Tür zu seiner Küche. Und Stille. Und Leere. In der Luft hing noch der kräftige Bratpfannengeruch. Die knorrigen Zweige der Fuchsien auf der anderen Straßenseite waren zu kahl, als daß sie etwas Wichtiges hätten verdecken können. Doch sein unbehagliches Gefühl dauerte fort. Auf dem Feldweg war keine Sterbensseele zu erblicken. Langsam ging er zur Längsseite des Hauses. Die großen Hecktüren seines Lieferwagens standen offen. Auf dem sandigen Fußboden lagen die Krusten und Krumen seiner Vorräte verstreut. Der rechte Hinterreifen war zerfetzt, die Luft entwichen. Der Lieferwagen stand unnatürlich schräg. Es war eine Szene geringfügiger, aber irritierender Verwüstung. Pat stand wie angewurzelt davor, von einem rasch in ihm aufbrandenden Schreck befallen. Und dann stieg ihm allmählich ein fauliger Geruch in die Nase, ein Geruch nach Verwesung, nach Blut, Kot, Urin; er schien von dem Lieferwagen und den verstreuten Lebensmitteln auszugehen. Er ballte die Fäuste, straffte seinen großen Körper und stieß einen langgedehnten Schrei der Niedergeschlagenheit aus. Wie ein wildes Tier schüttelte er vor ungläubiger Wut den Kopf. Es war, als habe plötzlich die Erde vor ihm gebebt und eine
entscheidende Verwerfungslinie enthüllt. Die Möglichkeiten der Gnade waren ihm entzogen worden. Er bildete sich ein, von den Mauern und Hecken des Vorlands hinter dem Haus ein Antwortgebrüll zu hören. Ein frühmorgendliches Echo, dachte er und beachtete es nicht weiter. Er hielt sich die Hand vor Nase und Mund, ging zum Wagen und spähte hinein. Aus den Regalen und Schränken war alles herausgezerrt und auf die Ladefläche des Lieferwagens oder auf den Fußboden geschleudert worden. Obstdosen waren aufgebrochen, ihr Inhalt verschwunden. Über allem lag eine dicke Staubschicht aus Zucker, Mehl und Tee. Die Teekiste war zertrümmert. Er war entsetzt über diese sichtbare Form der Gewalt. Der Gestank im Wagen war fast unerträglich. Pat Larry taumelte hinaus in den besudelten Morgen und blieb, die Hände vors Gesicht geschlagen, eine Weile stehen. Er war in seinem Lebensnerv getroffen, die Welt hatte sich verfinstert. An der Hausecke stand Nellie, die schlichte, reizlose Nellie, entgeistert. Noch nie war die Insel von so etwas heimgesucht worden. »Es ist das Ende der Welt, Pat Larry«, gab sie in ängstlichem Flüsterton von sich. Als Wachtmeister Vinnie Scollon, ein in der zähen Schwerfälligkeit zwischen Jugend und Mittelalter gefangener Mann, eintraf, lehnte er sein großes Raleigh-Fahrrad an die Hauswand; ohne ein Wort zu verlieren, besah er sich die Verheerung um den Lieferwagen herum, bückte sich aber zuerst, um die Klammern von seinen Hosenbeinen abzunehmen. Er hängte sie an die Lenkstange seines Fahrrads, zog seine Dienstmütze ab und legte sie auf den Sattel. Pat Larry saß auf der Steinmauer auf der anderen Straßenseite. Nellie stand in der schwarzen Ladentür. Gebeugt. Wie gewöhnlich.
»Pat!« Vinnies Gruß war vorsichtig, matt und nüchtern. Der Wachtmeister ging auf den Lieferwagen zu und zog ein Notizheft und einen Füllfederhalter aus der Brusttasche. Müde ließ sich Pat Larry von der Mauer gleiten. Vinnie runzelte die Stirn. »Starker Geruch«, bemerkte er. »Scheißgestank! Schreib’s auf, Vinnie!« entgegnete Pat. »Die Schweine waren entweder dreckig, vollgekotzt oder mit Scheiße beschmiert, oder alles drei!« Vinnie nickte Nellie, die sich sogleich in den Laden zurückzog, gravitätisch zu. Er machte sich einige Notizen und blickte sich unter den zerplatzten Dosen und Packungen um, die über den Boden verstreut lagen. »Anscheinend haben sie die Blechdosen aufgebrochen«, bemerkte er. »Was meinst du, wie haben sie das fertiggebracht?« Er hob eine der Büchsen auf, eine Dose mit Früchtecocktail. Sie war in der Mitte zusammengedrückt, und in die Seitenwand war ein Loch gerissen. »Läßt an ein Tier denken«, brummte er. Pat Larry zögerte. »Ein Tier würde doch nicht die Hecktüren des Lieferwagens aufkriegen, Vinnie.« Vinnie warf einen Blick auf die Tür, dann ins Wageninnere. Eine Zeitlang starrte er in das Halbdunkel und sammelte sich. »Die ist aufgebrochen worden. Aufgebrochen. Mutwillig zerstört, anders kann man das nicht nennen. Mutwillig zerstört. War Geld im Wagen, Pat?« Pat kletterte hinein und ging sofort auf eine kleine hölzerne Tabakkiste auf dem Boden zu. Sie war zerbrochen, enthielt aber immer noch ein paar Kupfermünzen, einige Zweischillingstücke und einen orange-gelben Zehnschillingschein. Er hielt die Kiste dem Wachtmeister hin. »Also kein Diebstahl«, sagte Vinnie und schrieb in seinem Notizbuch. Er blickte zu Pat auf. »Tiere«, verkündete er. Er begann den Fußboden um den Lieferwagen herum zu
untersuchen. Er war sandig und weich. An einer Stelle ließ er sich auf alle viere nieder. »Zeig mir mal deine Stiefelsohlen, Pat.« Pat Larry drehte sich um und hob dem Wachtmeister die Sohle eines seiner großen Stiefel entgegen. »Sind das dieselben, die du gestern angehabt hast?« »Dieselben. Die einzigen, Vinnie.« »Auffälliges Muster, Pat. Das gleiche wie hier.« Wieder hielt er inne. Er rieb sich fest die Nase und kniete nieder, als sei er vor dem Mysterium ins Gebet versunken. Dann zog er seine Schlußfolgerungen. »Ich hab’s. Also. Da hast du’s. Es gibt sie, Pat, es gibt sie.« Einen Augenblick lang musterte er den fülligen Ladenbesitzer mit Argwohn. Pat Larry ballte die Fäuste, als er die Andeutung in den Augen des anderen sah. Erst da bemerkte der Wachtmeister das Rad. Unbeholfen rappelte er sich auf und untersuchte sorgfältig den Reifen. Er war völlig zerfetzt. An einer Stelle war eine große Lücke in Mantel und Schlauch gerissen. Vinnie stand wieder auf. »Das war kein Mensch«, verkündete er. »Nichts Natürliches. In Stücke gerissen, der zähe Gummi. Nicht zerschnitten. Zerrissen. Wie mit einer großen Zange. Wie mit Fängen.« Daraufhin lachte er nervös über seine eigenen Worte. Pat Larry schüttelte den Kopf. »Und der Gestank«, fuhr Vinnie fort, »stammt auch nicht von Menschen, das ist weder Alkohol noch Kotze und auch kein Kot. Das ist der Gestank von Tieren, ein tierischer Gestank. Ein Mensch und ein Tier. Gemeinsam. Haben das verbrochen, würde ich sagen.« Er trug Pat auf, ein Verzeichnis der Schäden aufzustellen, das Hinterrad auszuwechseln und den zerschlissenen Mantel und Schlauch aufs Polizeirevier zu bringen. Dann wickelte er zwei
Dosen und ein Stück der zertrümmerten Teekiste in einen Fetzen Sackleinen und befestigte sie auf dem Gepäckträger seines Fahrrads. Als er sich bückte, um seine Hosenklammern wieder anzubringen, sagte er: »Du solltest lieber gründlich saubermachen, Pat. Und an deiner Stelle würde ich den Wagen auswaschen und jeden Winkel desinfizieren, von innen und von außen. Putzmittel. Eimerweise. Was anderes hilft nicht. Ein Tier. Ein reißender Hund oder so was. Tollwut. Wer weiß? Wiedersehen, Nellie« – er rief den Gruß ins Dunkel des Ladens –, »wiedersehen, Pat. Ich melde mich!« Gemächlich schob er sein Rad auf den Feldweg und stieg auf. Pat Larry blieb eine Weile stehen und sah ihm nach, wie er den Weg hinunterrollte. Allmählich verklang das leise Ticken des Fahrrads in der Luft des späten Vormittags. Achtsam wie ein Kaninchen, das aus dem Eingang seines Baus lugt, trat Nellie wieder in die Tür und strich mit untätigen Händen über den Stoff ihrer dunkelblauen Schürze.
Dotie O’Grady von der Post erfuhr als erste, daß Nora O’Higgins drauf und dran war, ein Kind zu gebären. Am Telefon klang Noras Stimme atemlos, aber gefaßt. Dotie drehte umgehend die Kurbel ihres Apparats und rief Mrs. Tuohy an. »Oh, Mrs. Tuohy, wissen Sie was? Nora O’Higgins steht kurz vor der Niederkunft, aber er selbst ist doch in Schottland, und ich habe keine Möglichkeit, Pat Larry zu erreichen, es sei denn über Maud.« »Mrs. O’Grady«, ertönte am anderen Ende der Leitung die Stimme der Vernunft. »Wenn ich Sie recht verstehe, brauchen Sie meine Maud, damit sie nach Schottland fährt, um den Captain zu holen?«
»Nein, nein, nein, Mrs. Tuohy, Maud muß auf der Stelle, wenn nicht noch früher, losgehen und Pat Larry mit seinem Wagen holen, damit er Nora O’Higgins ins Krankenhaus bringen kann. Und zwar schnell, wenn kein Tonfall eintreten soll.« »Kein Tonfall, Mrs. O’Grady? Oder kein Notfall?« »Beides, Mrs. Tuohy, um Himmels willen, beides!« Pat Larry war zu Hause, als Maud in seinen Laden kam, um den Fall zu erklären. Vor Maud stand der rundliche Mann sprachlos da, seine Hände wurden zu zwei großen, trägen Schinken, und sein Herz schlug so schnell, daß ihm das Blut in Hals und Wangen stieg. Als er begriffen hatte, worum man ihn bat, handelte er sofort. Er setzte seinen neu ausgestatteten Lieferwagen zurück auf den Feldweg. Vor dem Haus der O’Higgins an der Kreuzung hielt er an und half Nora auf den hohen Sitz neben sich; er fuhr, als balanciere er auf dem Wagendach eine Untertasse mit Wasser, und streckte den rechten Ellbogen aus dem geöffneten Fenster. Der Lieferwagen roch nach Desinfektionsmittel und Teeblättern. Als sie weniger als eine halbe Stunde vom Krankenhaus entfernt waren, bat Nora ihn, den Wagen anzuhalten. An dieser Stelle wimmelte die Straße von Schlaglöchern, und trotz all seiner Umsicht wurde der Lieferwagen durchgerüttelt und -geschüttelt; sie sagte, das Kind bestehe darauf, nicht länger warten zu müssen. Sie bat Pat, einen halbstündigen Spaziergang durchs Moor zu machen, während sie sich zwischen den Säcken mit Zucker und den Kisten mit Spirituosen, der Waage, den Lebensmitteln in ihren Packungen und Dosen auf der Ladefläche niederlegen wolle. Und so ging Pat Larry, während der Lieferwagen auf einem von Torferde geschwärzten Flecken am Straßenrand stand, langsam davon, über die Böschung auf ein weiches Kissen aus Heide und Torf, mit denen die langen Ausläufer der Nephin
Mountains begannen. Die Sonne stand tief am Himmel; die Welt war in einen sanften, goldenen Schimmer getaucht. Pat fiel auf, daß die linke Seite des Lieferwagens etwas niedriger war als die rechte, da die Straße sich zum Graben hin neigte. In der Ferne ragte wie ein großer Segen die große Pyramide des Croagh Patrick auf, auf ihrer Spitze war der winzige Höcker des Kirchleins zu erkennen. »Es wird ein Junge werden.« Pat Larry, der all die Zeichen deutete, war sich sicher. »Und sie wird ihn nach mir und nach dem Berg benennen!« Heide und Moor und Abendstille. Nicht ein Windhauch, nicht ein Laut von Vogel, Tier oder Mensch. Im Nachsinnen über das Wunder, das es vorstellte, hörte das rastlose Herz des Universums einen Augenblick lang zu schlagen auf. Pat Larry fand einen niedrigen Stechginsterstrauch und ließ sich auf einem moosigen Erdklumpen dahinter nieder. Von der Straße aus war er nicht zu sehen, doch durch die Dornen hindurch konnte er den Wagen im Auge behalten. Keine Regung. Kein Laut. Er hatte mit Schreien gerechnet, mit einem heftigen Schaukeln des Wagens; es geschah schließlich eine Art Wunder, etwas Weltbewegendes, die Ankunft eines neuen Lebens auf Erden. Aber da war nichts. Er holte seine Taschenuhr hervor. Zwanzig Minuten waren schon vorbei. Ihm wurde kühl. Nirgendwo ein Haus zu sehen, kein Verkehr auf der Straße, nicht einmal das spuckende Geräusch eines Fahrrads in der Ferne. Nachdenklich lehnte Pat Larry sich vor und stützte die Arme auf die Knie. Dies könnte der Uranfang der Welt sein, grübelte er, Leere, Stille, Ferne – und sein Wagen. Sein Liefer- und Entbindungswagen. An diesem Abend schien die gesamte Schöpfung wohlzuwollen, als wäre nie die große Schwäre der Erbsünde auf der weichen Haut der Menschheit aufgebrochen.
Die Wagentür öffnete sich, und da stand Nora und winkte. In ihren Armen trug sie ein Bündel, ein neues Lebewesen, das in einen von Pat Larrys Mehlsäcken eingehüllt war. Das Kind gab keinen Ton von sich; die Zeit stand still, und die Welt hatte sich vermehrt. Pat war überwältigt. Ohne ein Wort nahm er Noras Hand und küßte sie sanft. Nora war blaß und schweißbedeckt. Er half ihr wieder in den Wagen und machte es ihr so bequem, wie es irgend ging. Besorgt um den heiseren Motorlärm, als geschähe dem Augenblick ein großes Unrecht, ließ er den Wagen an und lenkte ihn auf die mit Schlaglöchern übersäte Straße. Schweigend fuhr er Mutter und Tochter zum Krankenhaus. Nora lehnte sich wortlos gegen die Teekiste und wiegte in ihren Armen leise das Kind. Nachdem Pat Larry die beiden der Obhut einer Krankenschwester anvertraut hatte, eilte er davon, um ein Telegramm an Captain Cyril Thornton O’Higgins aufzugeben: »EINE GEBURT. LIEFERUNG IN EINWANDFREIEM ZUSTAND. PAT.« Er besah sich die Worte; das reichte nicht, und so fügte er hinzu: »GLÜCKWUNSCH. DINEEN.« Bei der Niederkunft hatte es nur einen kleinen Anlaß zur Sorge gegeben. Das Kind, ein Mädchen, war anmutig zwischen den erhobenen Knien seiner Mutter zur Welt gekommen und nach seiner langen Reise auf einen Hirsesack gebettet worden, der zu seiner Begrüßung auf dem Boden lag. Da der Wagen jedoch so schräg zur Welt stand, war das Neugeborene an seiner Nabelschnur langsam, leise davongerollt und erst bei den Lebensmitteln, die auf der linken Seite des Wagens aufgestapelt waren, zum Stillstand gelangt; ganz sachte hatte es mit dem weichen Köpfchen eine große Dose Zuckerrübensirup berührt, und die Nabelschnur, über die es noch mit dem Leben der Mutter verbunden war, hatte sanft an seinem Körper gezerrt. Kaum der Rede wert, lediglich eine
gelinde Demütigung, von der das Kind überhaupt nichts mitbekam. Doch in den folgenden Jahren bediente sich der Captain des Details zur Erklärung der ganzen Angelegenheit. Pat Larry kam aus dem Postamt und sah mit ungeheurer Genugtuung zu der Aufschrift auf der hohen Stirnseite seines Lieferwagens auf: HIER KOMMT DINEEN – DER BRINGT’S.
Als der Captain an der Kreuzung vor seinem Haus aus dem Bus stieg, hatte er in seinem Koffer die kleinsten, niedlichsten Fußballstiefelchen bei sich, die man sich vorstellen kann; er hatte eine Trommel mit zwei Trommelstöcken, auf deren Zylinder exotisch bemalte Indianer einen Kriegstanz aufführten; er hatte einen Ledergürtel, auf den ein kleines ledernes Holster mit einem modischen Patronenrahmen aufgenäht war, und einen Trommelrevolver mit Silbergriff und mehreren Rollen Zündplättchen, die richtig knallten. Für Nora hatte er einen schottischen Hochlandschal erstanden, der, wie ihm versichert worden war, Sarah Jane Emer Mac Taggart vom Clan der Mac Taggarts auf den Äußeren Hebriden höchstpersönlich gehört hatte. Vom Dach des Busses wurde ihm sein Koffer gereicht. »Ich habe einen Sohn, Willie, weißt du, und sein Name ist Patrick«, vertraute er Willie Quinn, dem jungen Busfahrer, an, als dieser vom Dach des Busses herabkletterte. »Pat, wenn du willst. Aber wir werden ja sehen. Vielleicht ist er größer als ein bloßer Pat, wenn man mich anschaut! Oder vielleicht hat er, ganz wie ich, einen Sinn für Spaß und Vergnügen, dann wird man ihn Paddy nennen. Oder aber er ist, wieder ganz wie meine Wenigkeit, der lernbeflissene, intellektuelle Typ, verstehst du, dann wird er darauf beharren, daß man ihn Patrick nennt. Es wird sich zeigen, Willie, es wird sich zeigen.«
Der Captain hatte die Brust vorgewölbt und den Mund weit aufgerissen. Jeden Moment, dachte Willie, wird er krähen wie ein aufgeplusterter Hahn. Doch der Captain drehte sich zu seinem Haustor um, richtete sich tapfer auf und trat ein, um sich von seinem strammen Söhnchen begrüßen zu lassen und selbiges auf Erden willkommen zu heißen. Nora durchlebte gerade eine ihrer besseren Phasen. Sie war froh, ihre Hausarbeiten verrichten zu können und dabei nur ihren Säugling zur Gesellschaft zu haben. Sie besaß ein aus Korb geflochtenes altes Tragebettchen, in dem sie das Kind überallhin mitnahm. Wenn sie die lange, sandige Straße zum Geschäft hinuntergehen wollte, bettete sie es in den Kinderwagen mit den großen Rädern um. Pat Larry in seinem Laden strahlte mit ganz besonderer Freude, beugte seinen massigen Körper mit größter Behutsamkeit über den Kinderwagen und kraulte, den roten Zeigefinger ausgestreckt, mit seiner riesigen Pranke das Kind sanft unterm Kinn. »Ei, mein kleines Mädelchen«, lachte er in sich hinein. »Ei, mein kleines Mädelchen.« Nora hatte beschlossen, die Kleine Patricia zu nennen, und den ganzen Tag flüsterte und summte sie ihr etwas vor. In Abwesenheit des Captains war die kleine Hütte an der Kreuzung ein Palast gewesen, dessen Friede kaum je gestört wurde, in dem die Hausarbeiten leichtfielen; Noras Körper schwebte geradezu über Garten, Hof und Straße. Patricia war ein pflegeleichtes Kind und schlief bereits einen großen Teil der Nacht; alles stand zum besten. Noch nie war es ihr in jeder Hinsicht so gut gegangen. Des Captains plötzlicher Überfall durch die Hintertür war für Nora wie ein Nackenschlag. Sie hatte ihn nicht vor dem Frühjahr zurückerwartet, wenn er genügend Geld beisammen hätte, um sie durchs Jahr zu bringen. Und nun war er hier, groß und lärmend, und füllte mit seinem Gepolter das ganze Haus.
Wie Nora zu sagen pflegte, öffnete der Captain eine Tür nicht, sondern fiel mit ihr ins Haus; und sogleich kühlte das Feuer in dem alten Küchenherd ein wenig ab, die Lampe vor dem HerzJesu-Bild flackerte und trübte sich, die Küche verdüsterte sich, da die Vorhänge sich enger zuzuziehen schienen, und als die Katze Truelove vom Hocker zu springen versuchte, schlug sie sich das Kinn auf und machte unter gräßlichem Kreischen einen Salto rückwärts unter den Tisch, doch bevor sie sich erholen und entwischen konnte, schlug die Vordertür zu. »Bin wieder da!« brüllte der Captain. In genau diesem Augenblick setzte der Schmerz in Noras Hinterkopf ein, ein dumpfes Pochen, wie der tiefe Beginn eines langgezogenen, stetig ansteigenden Schreis. Sie erstarrte und fühlte, wie Groll über die Störung in ihr aufbrandete. Sie beugte sich gerade über die Spüle und wusch Windeln. Sie schüttelte das Wasser von den Händen und griff nach dem Handtuch, bevor sie sich umdrehte. Sich sammelte. Aus der Luft Kraft sammelte. Patricia in ihrem Körbchen hatte heftig zu weinen begonnen, und Nora eilte sofort zu ihr hin. »Bin wieder da«, wiederholte der Captain leiser. »Sch, Liebling, sch, ist ja gut, ist ja gut.« Nora hob das Baby aus dem Körbchen und preßte es fest, vielleicht zu fest, an ihre Brust. Dort hielt sie es einige Augenblicke, nur noch einige wenige Augenblicke länger, ehe der Captain auf die Erfüllung seiner Ansprüche pochte. Das Kind weinte noch lauter, und Nora wiegte es heftiger; der Captain stellte seine Taschen und seinen Koffer ab und schloß sanft die Tür hinter sich. Dann setzte er sich auf den Sims unter dem Seitenfenster und wartete ab. Nora und das Kind wiegten sich in einem abklingenden Sturm, und er war vergessen. »Ist ja gut, mein Kindchen, ist ja gut, mein Kindchen, ist ja gut.«
Allmählich legte sich das Weinen, aus dem »Sch!« wurde ein Taubengurren, und in die Küche kehrte wieder Ruhe ein. Schließlich erinnerte sich Nora an den Captain und lächelte. Sie trug das Kind zu ihm und setzte sich neben ihn auf den Sims. Ruhiger geworden, küßten sie einander sanft auf die Lippen, und sie flüsterte: »Du bist aber früh zurück, sei mir willkommen.« Sie schob dem Baby den Rand des Mützchens aus dem Gesicht und lockerte sein Deckchen. Das Kind war fast schon wieder eingeschlafen, sein ängstlich-erregtes Schluchzen war nur noch ein Zittern unter den Pausbäckchen und für den Augenblick in Schach gehalten unter den geschlossenen Lidern. »Mein Gott, ist er hübsch!« flüsterte der Captain. Widerstrebend reichte Nora ihm das Bündel, und er hielt es ausgestreckt wie ein Tablett mit Kristallgläsern in den Händen. »Nein, nein, halt du ihn nur«, sagte er. »Ich habe Angst, daß ich ihn zerbreche oder fallenlasse.« Nora nahm das Bündel wieder an sich. »Es ist ein Mädchen«, wisperte sie. »Unser süßes, kleines Mädelchen.« Der Captain war wie vom Schlag getroffen. Aber vielleicht wollte sie ihn ja nur an der Nase herumführen. Er besah sich das Kind abermals. Eindeutig ein Junge, vielleicht ein bißchen klein geraten, aber ein Junge. »Nora, Nora, Nora, es ist ein Junge, und sein Name ist Patrick. Paddy. Pat Larry hat mir in seinem Telegramm den Namen mitgeteilt.« Wortlos legte Nora das Kind in sein Körbchen, lüpfte das lange weiße Hemdchen und legte die Leinenwindel und die riesige rosafarbene Sicherheitsnadel frei. Sie löste die Nadel und schlug vorsichtig die Zipfel der Windel zurück. Der Captain stammelte: »Mein Gott, mein Gott! Es ist wirklich ein Mädchen, ach, das arme, arme Geschöpf!«
Dann fing er langsam zu lachen an. Er ging zu seinem Koffer und holte den Revolver, das Holster, die Trommel und die Trommelstöcke hervor. Da stand er nun, hielt sie in den Händen, und der kleine Junge, dem sie zugedacht waren, tat einen niedrigen Luftsprung, stieß einen Jubelruf und ein Gelächter aus und entschwand für immer aus dieser Welt. Rasch trat Nora auf den Captain zu und umschlang seine faßdicke Hüfte. Sie liebte ihn, o Gott ja, sie liebte ihn. Sie hob ihr Gesicht an seines und wollte so fest geküßt und umarmt werden, daß es schmerzte, glücklich, daß sie endlich ein Haus hatten, das mit Freude angefüllt war, daß ein junges Mädchen ihr ernstes Leben mit seinem herrlich jungen Dasein umgab und alle drei zu einem intimen, heilen Ganzen verband.
Über der Insel lag tiefe Dunkelheit. Sich drehende Winde fegten durch das Kiefernwäldchen, das dem Haus Schutz bot. Der Waldboden war weich von den vermoderten und vermodernden Kiefernnadeln vieler Jahre. In kleinen, blassen Kolonien wuchsen Giftpilze, und im Dunkel krochen feuchte Schlingpflanzen. Die Nachtlampe, die im hinteren Schlafzimmer des Hauses brannte, warf einen schmalen Streifen kränklichen Gelbs auf die Wand des Kieferngehölzes. In den Bäumen rüttelte klagend der Wind. Das Kind schlief, an seiner Seite Nora. Sie ahnte die unermeßliche Kuppel der Nacht dort draußen und wußte, daß sich hinter den benennbaren Geräuschen des Windes der gewaltige Ozean erstreckte, der sich hob und senkte, während er seine andere, seine Meereswelt nährte. Auch der unendlichen Schwärze des Alls, das sich – über allem, was sie kannte und was erkennbar war – für immer ausdehnte in die Mysterien Unendlichkeit, Ewigkeit und Gott, war sie sich bewußt. Sie erinnerte sich an die Zeit, als sie die Hand auf
ihren geschwollenen Bauch gelegt und die Finger gespreizt hatte, als wolle sie das in ihr heranwachsende Kind vor der Last des Universums und dem Auge Gottes schützen. Jetzt saß sie beruhigt auf der Bettkante und bog wie zur Erinnerung an die wiegende Bewegung, mit der sie das Kind an sich gedrückt hatte, bevor es einschlief, ihren Körper langsam hin und her. Draußen, hinter dem Kieferngehölz, schlich etwas durch die Dunkelheit und war selber so dunkel, daß es sich nicht abhob gegen die Nacht. Über die weiche, saugende Oberfläche des Moores rückte es näher. Im Seufzen des Nachtwinds war sein rauher Atem nicht zu hören, seine wuchtige, bedrohliche Gestalt verlor sich zwischen den Höckern und Huckeln des Erdbodens. Entschlossen bewegte es sich voran, floß wie Wasser über den Graben am anderen Ende des Kiefernwäldchens und schritt jetzt über den weichen Humus des Waldbodens. Tiere sahen das Wesen vorübergehen und retteten sich sofort in ihre sicheren, dunklen Verstecke. Der vielfältige Geruch nach verwesendem Holz und vermoderndem Gestrüpp wich einem durchdringenderen Gestank, alt, brandig und säuerlich, wie aus dem tiefsten Innern der sterbenden Erde. Das Wesen verhoffte. Das Kind in seiner Wiege regte sich nicht. Vom Rand der Dunkelheit am Ende der Waldung starrte das Wesen unverwandt auf den gelben Lichtstrahl. Auch die Augen des Wesens waren gelb, waren weit und feucht und konzentriert. Das Wesen stand vollkommen still, eins mit Bäumen und Gesträuch. Nur der Gestank seiner Gegenwart drang durch die Nacht. Es stand und starrte und harrte. Nora in ihrem Zimmer hörte in weiter Ferne das Heulen eines Hundes. Sie streckte die Hand aus und faßte nach der Korbweide der Wiege. Geräuschlos bewegte das Kind den Mund, wie um zu nuckeln, und atmete laut durch die Nase. Es regte sich unmerklich, dann verfiel es in einen tieferen Schlaf.
Nora fühlte, wie es sie hoch oben an ihrem Rückgrat kalt überlief. Sie wickelte die Decke fester um sich. Die Flammenzunge in der Lampe flackerte einen Augenblick, und die Schatten an der Wand erzitterten. Als sie merkte, daß die Vorhänge nicht ganz geschlossen waren, erhob sie sich zaudernd. Das Geräusch der protestierenden Matratzenfedern erschreckte sie. Sie ging zum Fenster. Bevor sie die Vorhänge zuzog, hielt sie sie in der Hand und sah hinaus. Sie konnte nichts erkennen, nichts als Schwärze. Sie fröstelte. Rasch schloß sie die Vorhänge. Plötzlich wünschte sie sich, der Captain wäre heute nacht zu Hause geblieben. Sie lauschte. Nur der Wind, der die Winkel des Hauses vermaß. Aber jetzt war ihr kalt, sehr kalt, und das Kind in der Wiege wälzte sich unruhig hin und her. Sie beugte sich über sie und betrachtete sie. Patricias Augen waren kaum geöffnet, ihr Blick leer, doch langsam wandte ihr Kopf sich Nora zu. Dankbar hob diese sie heraus, ohne sie aus ihren Decken auszuwickeln, und setzte sich wieder mit ihr aufs Bett. Sie flüsterte mit ihr und berührte mit den Lippen ihre Stirn. Dann knöpfte sie ihre Bluse auf und führte ihre Brustwarze in den Mund des Säuglings. Das Wesen draußen in der Waldung rührte sich. Aus dem Fenster fiel kein Licht. Sein tiefes, wütendes Knurren wurde heftiger. Hoch oben im Gezweig eines Baumes regte sich ein Nachtvogel. Und plötzlich heulte das Wesen aus seiner Dunkelheit hervor, ein einziger langgezogener, tiefer Laut, der auch das Stöhnen des Windes hätte sein können, doch dauerte er fort und steigerte sich mählich von der Tonhöhe eines Tieres zum durchdringenden Schrei eines Menschen; dann brach er unvermittelt ab. Was Nora in ihrem Zimmer hörte, war ein Stöhnen, ein schauriger Ruf wie von einem Menschen, flehend, verführerisch, bezaubernd, und der gierige Mund an ihrer Brust
hatte aufgehört zu saugen, hatte eine Pause eingelegt, als habe auch der Säugling den Laut erkannt. Vor Entsetzen hatte Noras Körper sich verkrampft, und ein kalter Schauder durchlief sie. Als das Geheul verstummte, blickte sie wie gehetzt zu den Vorhängen. Kein Laut. Keine Regung. Und dann machte sich der winzige Mund wieder an ihrer Brust zu schaffen, und die Äuglein waren vor Behagen fest geschlossen. Als der Captain nach Hause kam, war es Mitternacht. Er war in seiner bevorzugten Verfassung: kurz vor dem Vollrausch, wenn Wohlwollen waltet, wenn die Zukunft glänzend ist, wenn Pläne geschmiedet, Versprechen gegeben werden und alles mehr als möglich erscheint. Er traf seine Frau und seine Tochter im Dunkel der Schlafkammer an; tröstlich aneinandergeschmiegt, lagen sie ausgestreckt auf dem großen Bett. Im Flur zündete er eine Kerze an und trug sie ins Zimmer; vom Fußende des Bettes nahm er eine Decke und breitete sie behutsam über Nora aus. Als er bemerkte, daß der Docht in der alten Öllampe niedergebrannt war, legte er die Finger an die Lippen und beschwor die Welt, zu verstummen. Dann hob er das Baby auf und legte es mit unendlicher Zärtlichkeit wieder in sein Bettchen. Er stahl sich aus dem Schlafzimmer und stieg die Treppe hinauf zur Dachkammer. Es war kalt dort oben, aber er hatte ja seinen Mantel an. Er stellte die Kerze aufs Fensterbrett, zog die Schuhe aus, legte sich vollbekleidet aufs Bett und zog sich eine Decke über die Knie. Er zog einen halb ausgetrunkenen Flachmann mit Whiskey aus der Tasche, nahm einen Schluck, seufzte befriedigt auf und stellte die Flasche neben die Kerze aufs Fensterbrett. Welch eine Freude, Mutter und Tochter, zusammengerollt in Wärme und Frieden. Er legte sich aufs Kopfkissen zurück und schloß die Augen. Das Leben war schön. Er war glücklich. Alles war gut.
Mit Patricia, dem Namen, konnte der Captain leben. Er verkündete, daß er in Ordnung sei, und beschloß, sie Patty zu rufen. Das kam der Sache doch schon nahe, recht nahe. Außerdem bestand er auf dem Namen Lenore, denn ein Kind mußte einen richtigen Namen haben, einen Namen, der, wenn man ihn aussprach, im Mund herumrollte wie ein glatter Kieselstein, einen Namen, der das Mädchen über das Marschland der Insel erhob und ihren Geist zu den abenteuerreichen Möglichkeiten des Lebens anregte. Und dann würde er den Namen Izabel hinzufügen, seiner wohlhabenden Schwester zuliebe, die in dem Dorf Rathmines allein in einem großen Haus lebte, einem Haus, vollgestellt mit allem möglichen Plunder, mit Schonerdeckchen und Spitze, Ölgemälden, Kamingittern und Himmelbetten, Feuerböcken, Porzellan und Löffeln mit den Häuptern der Apostel, einem Rollschreibtisch, Silber und Glas und Uhren und Gold, Zinn und Chippendale und Chinatellern, Glasvitrinen, angefüllt mit den zerbrechlichsten Figuren, so daß man Angst hatte zu niesen, damit sie nicht zu Staub zerfielen. Denn so träumte der Captain von all den Dingen, die das Häuschen an der Kreuzung nicht aufwies. Izabel würde sich freuen; es würde das arme Kind nichts kosten. Es würde ein Testament geben… Patricia Lenore Izabel O’Higgins. Jawohl! Er würde Izabel auf der Stelle schreiben und sie zur Kindstaufe einladen. Und dann wäre alles gut, so gut, wie die Welt es erlaubte. Nora erschrak, fügte sich aber. Maggie »Muttons« O’Driscoll, die Haushälterin des Priesters, war mollig vom Hals bis zu den Knöcheln. Nur ihre Füße und ihre Ohren waren schmal, zart, ja zierlich. Jeden Abend badete sie ihre Füße eine halbe Stunde lang in einer Wanne mit siedend heißem Wasser, in dem sie Borpulver aufgelöst hatte.
Im Wasser wackelte sie mit den Zehen; sie schürzte den Rocksaum oberhalb der Knie, ausgesprochenen Klippen, stützte die Fäuste auf die Schenkel und schwelgte. Die Sorgen von Alltag und Gemeinde fielen zusammen mit dem Ächzen und Stöhnen ihres schweren Leibes von ihr ab ins Wasser. Dann trocknete sie ihre Füße, bestäubte sie mit Babypuder, zog die Hausschuhe an, öffnete die Hintertür der Pfarrei und schüttete das Wasser in die Rhododendronsträucher. Sie nahm Streichholz und Watte zur Hand und säuberte sich die Ohren mit Vaselineöl. Um im Leben ihr Gleichgewicht zu bewahren. Um besser die Musik des Seins zu hören. Denn es gab keine Frau in der Welt, die so ausgeglichen war wie Maggie, und keine Frau, die ein so scharfes Gehör besaß. Eine Weile lauschte sie an Father Crowes Tür; wenn alles still war, klopfte sie leise an, murmelte Gute Nacht und nahm die gemurmelte Antwort entgegen; demnach war alles in Ordnung, alles dort drinnen war in bester Ordnung; und sie legte sich ins Bett und hatte Träume, wie nur Engel sie träumen. Montags und freitags und an gewissen Samstagen des Jahres wagte Maggie sich bis zu Casimir Conlons Fleischerladen vor. Maggie konnte sich in Casimir, der selbst ein Mensch von einigem Leibesumfang war, gut einfühlen; er war gebaut wie ein Torpfeiler und litt wie Maggie unter einer gewissen Anfälligkeit der Füße. Casimirs Gesicht war rund, seine dicken Backen rot wie in Essig eingelegte Rote Beete. Auf seinem Gesicht standen kleine Schweißperlen, die sich in dem Tal unterhalb seines Adamsapfels sammelten und dann hinabtropften in das Gestrüpp auf seiner Brust. Manchmal wischte sich Casimir mit dem Rücken seines Handgelenks über die Stirn und schleuderte den Dunst der Schweißtröpfchen auf den großen Holzklotz, an dem er arbeitete. So salzte er seine Schlachtbank. So würzte er das Fleisch.
Casimir lebte mit seiner Mutter zusammen, die aus Gründen, die sich im Dunkel der Vergangenheit verloren, von aller Welt nur »Pee-Wee« genannt wurde. Inzwischen war sie in den Achtzigern und verbrachte ihre Tage und Nächte im »Zimmer hinten zu«, einer Schlafkammer hinter Conlons Laden, zu der man über eine fensterlose Diele und durch eine kuhfladenbraun gestrichene Tür gelangte. Dort wohnte sie im heißen, überlaufenen Dorf ihres Bettes, zusammengeschrumpft, verhutzelt und verbittert, stopfte ihr überquellendes Gebetbuch mit Seelenbildchen voll, weidete sich an jedem neuen Namen, jedem neuen Gesicht und tat anschließend Buße, indem sie die Gebete sprach und die Ablässe einheimste, die auf jeder Karte angegeben waren. Maggie kam an der geöffneten Tür von Conlons Schuppen, besser bekannt unter dem Namen »Schlachthaus«, vorbei. Ein Schaf war an den Sprunggelenken aufgehängt, in eine Wanne aus weißem Emaille tropfte plop, plop, plip-plop das Blut. Der Kadaver drehte sich langsam an einem Seil, bis dieses sich spannte, dann hielt er inne und begann sich langsam in der entgegengesetzten Richtung zu drehen. Einen Augenblick lang sah Maggie ihm zu, in Bann geschlagen von den Gesetzen der Natur. Auf einer Bank an der Seite des Schuppens lag Casimirs Handwerkszeug: Messer, Scheren, Metallsäge, Seile. Maggie schauderte. Plop, plink, plip-plopppppop. Trotzdem, dachte sie, die Menschen müssen was zu essen haben, und selbst Hochwürden genießt seine Blutwürste. Die Ladentür ging auf einen großen, kalten Raum, der nach Norden lag und stets nur von einer einzigen kahlen Glühbirne erhellt wurde. Von der Decke hingen fettige, braune Papierstreifen, die mit Fliegenleichen übersät waren. Als Tresen benutzte Casimir einen riesigen Holzklotz, der auf dicke Holzbeine aufmontiert war. Mit den Jahren war der Klotz in der Mitte hohl, vom vielen Blut und brühheißen
Wasser weich und vom Hacken, Sägen und Säbeln, das er über sich hatte ergehen lassen müssen, rauh geworden. Hinter Casimir stand ein Kiefernholztisch an der Wand, der mit einem blau-weißkarierten Wachstuch bedeckt war. Hier stellte er auf Tabletts die Fleischstücke zur Schau, die er vorbereitet hatte: die Koteletts, Nackenstücke, Lebern, Herzen… »Aaah, Maggie!« brüllte er. »Sie sind’s?« »Mr. Conlon, wie geht’s uns heute? Und wie der armen, alten Pee-Wee?« »Beschtens, beschtens, beschtens! Kerngesund und pudelwohl. Betet hinten zu wie gewöhnlich, obwohl, neulich hat sie einen so argen Angschtanfall gehabt, daß sie ihre Gebete verdoppelt hat, das arme Hascherl.« »Einen Angstanfall, Mr. Conlon? Was für einen Angstanfall?« Verschwörerisch bückte Casimir sich über seine Hackbank. Das geronnene Blut an seiner verschmierten Schürze rieb sanft an dem Lammfleisch, das er gerade zerlegte. (Maggie weichte Casimirs Fleisch stets in kaltem Salzwasser ein, bevor sie es kochte.) »Die Banshee«, flüsterte er. »Die Banshee. Beide haben wir sie gehört. Kein Zweifel, überhaupt kein Zweifel.« »Ach woher, Casimir! Wenn Sie in die Kirche gehen würden wie alle anderen auch, wüßten Sie, daß das alles reiner Aberglaube ist.« »Schschsch«, flüsterte er, den Blick auf die braune Tür gerichtet, und legte den Zeigefinger an die Lippen. »Sie glaubt doch, daß ich in die Kirche gehen tu, das verschafft mir sonntags ein paar friedliche Stunden. Sie hat sie im Zimmer hinten zu gehört, und wenn sie bei Kräften war, würd sie am Altargitter hängen, bis selbscht Father Crowe sie nicht mehr wegkriegen tät, so eine Heidenangscht hat sie bekommen. Sie weiß, verstehen Sie, sie weiß einfach, daß es die Banshee war
und nichts anderes. Dabei ischt sie eine Chrischtin so gut wie jede andere auch. Da haben Sie’s. Und ich, ich hab sie auch gehört und bin kein weicher Gips, auf dem jeder seinen Sohlenabdruck hinterläscht. Keine Frage. Tja, Maggie, da haben Sie’s.« Aus dem Zimmer hinten zu kam ein durchdringender schriller Schrei. Maggie fuhr zusammen. Nicht eine Silbe dieses entsetzlichen Gekreisches konnte sie verstehen. Doch Casimir verdrehte die Augen zur Decke und brüllte zurück: »S’ischt nur Father Crowes Maggie, Mama, s’ischt nur Father Crowes Maggie.« »Ich nehme vier von Ihren feinsten Schnitzeln, Casimir, ein schönes Nackenstück und ein paar Koteletts. Für Hochwürden will ich den allerbesten Irish Stew kochen.« Casimir machte sich an seinem Tisch zu schaffen. »Ein klagender Laut, Maggie, vor ein paar Tagen, mitten in der Nacht, ein langgezogenes, tiefes Wimmern, das sich steigerte, steigerte, zu einem Heulen steigerte und dann wieder abfiel, abfiel, zu einem Wimmern abfiel« – Casimirs Stimme hob und senkte sich dramatisch, während er erzählte –, »das immer weiterging, so wie man den Wind zwischen Böen hört, dann wieder von neuem ein Wimmern, Heulen und Wimmern, daß sich einem die Haare auf der Bruscht aufrichten wie ein Stacheldrahtzaun. Wenn Sie meine Ausdrucksweise entschuldigen wollen, Maggie. Hier habe ich die schönschte Hammelkeule für Sie, wetten, daß der Teufel selbscht seine Hörner dafür hergeben tät, ganz zu schweigen von Father Crowe, der bestimmt wie ein Wolf danach lechzen wird.« »Bitte nur Ihr bestes Nackenstück, Mr. Conlon, und für mich können Sie noch ein schönes Stück Leber dazutun. Und noch ein bißchen Schmalz, so ist’s recht.« Wieder kam aus dem Zimmer hinten zu der durchdringende Schrei. Wieder konnte Maggie kein einziges Wort ausmachen.
»Klingt ja fast wie die Banshee selbst, Casimir, wenn Sie’s mir nicht krummnehmen.« »Aber woher, Maggie, Sie wissen doch, was ich mit ihr durchmache. Die alte Kruschte! Sie brennt mir noch Herz und Leber aus dem Leib! Warten Sie ein Momentchen, Maggie, ihre Nieren machen ihr wieder zu schaffen. Ich muß sie aus dem Bett heben. Bin gleich wieder da. Dann schlage ich Ihnen Ihre Einkäufe ein.« Casimir rieb sich die Hände an der Schürze ab und steuerte durch die Diele auf die braune Tür zu. Maggie erschauderte. Über die zerhackte Schräge der Fleischbank floß ein dünnes Rinnsal schwarzen Blutes. An der Stelle, wo es unten auf den Betonfußboden tropfte und eine Lache bildete, tat sich ein fetter, schwarzer Käfer daran gütlich. Maggie hastete zur Ladentür, schaute über die Felder zum Meer hinaus und versuchte, nicht daran zu denken, was in dem Zimmer hinten zu vor sich ging. Sie konnte das Haus von Nora O’Higgins und dem Captain sehen, das Kiefernwäldchen, das auf der Nordseite einen Windschirm bildete, den holprigen Feldweg, der durch die Wiesen zum See führte. Hinter den Hecken und Feldern, den niedrigen, mit Farn und Ginster bedeckten Hügeln konnte sie das Dorf mit seinem winzigen Hafen erkennen; von dort, wo sie stand, wirkte das Meer ruhig und schön. Sauber. Rein. Dahinter die pflaumen- und rosinenfarbenen Berge des Festlands. Maggie hörte, wie Casimir die Tür wieder öffnete; eine flache Schale in der Hand, kam er heraus, ging durch seinen Laden und zu einer Seitentür hinaus. Aus dem Hahn an der Seite des Schlachthauses hörte sie Wasser plätschern. Sie hörte, wie Casimir durch den Laden zurückging, und aus dem Zimmer hinten zu hörte sie ein Murren und Quengeln. Die braune Tür schloß sich wieder. Maggie hüstelte taktvoll in ihre
Faust und wandte sich wieder zum Laden. Casimir wischte sich die Hände an seiner Schürze ab. »Sie möchte wissen, wer in den letzten zwei, drei Tagen gestorben ist, Maggie.« »Niemand ist gestorben, Mr. Conlon, aber im Haus des Captains ist ein neues Leben zur Welt gekommen. Nora Corrigan hat ein prächtiges Mädelchen geboren. Da haben Sie’s, Sie mit Ihrer Banshee.« Casimir stand mit aufgerissenem Mund da. »Ach, das arme Kind, mehr kann ich dazu nicht sagen«, murmelte er. »Das arme Kind, hineingeboren in den Klageruf der Banshee. Wissen Sie, Maggie« – und er beugte sich wieder über das Fleisch –, »ich hab nicht die geringschte Mühe, ein Blackfaced Scotch vom Boden bis zur Decke hochzustemmen, aber bei Mama hinten zu, da breche ich mir fascht das Rückgrat, wenn ich ihren Arsch anheben will, dabei ischt sie nicht größer als ein Schafsköttel!« »Mr. Conlon, bitte! Meine Ohren, Mann, meine Ohren. Mir klingen die Ohren, Mann, sie schallen mir schon. Scotch, das ist wohl ein Whiskey, oder?« »Ach, Maggie, das kommt davon, wenn man sich mit Gott und Prieschtern einläscht, Sie können ja nicht mal Fett von Schmalz unterscheiden. Das Black-faced Scotch ischt eine Schafrasse. Wie das Cheviot-, das Welsh- und das KerrySchaf. Das Black-face hat Hörner, sein Haar ischt wie das von Mama hinten zu, und wie sie ischt es ein bißchen wild, deswegen lascht es sich auch nicht so gut mäschten. So, bitte recht sehr.« Er klatschte ihre Besorgungen auf einen Bogen braunes Packpapier, rollte ihn zusammen, schlug die Enden um und verschnürte das Ganze mit Bindfaden. »Was zu essen für ihn und für Sie, ich nehme an, wie gewöhnlich auf Rechnung des Papschtes?«
»Sehr liebenswürdig, Mr. Conlon. Und wenn Sie an Sonn und Feiertagen zur Kirche gingen, vielleicht ein-, zweimal zur Segnung kämen und Ihren Frieden mit Gott machen würden, wäre Ihre Mutter glücklich.« – Maggie ließ rasch den Blick im Laden umherschweifen. – »Ihre heilige Seele wäre rein, sauber und strahlend hell, und die Banshee und all die anderen Dinge, an deren Existenz Sie in Ihrer Finsternis glauben, hätten nicht mehr Gewalt über Sie als der Wind.« Als Maggie, das braune Paket unter den Arm geklemmt, aus dem Laden trat, war sie ein großer, würdevoller Fleischkloß. Casimir Conlon sah ihr nach und versuchte, sich Größe und Form dieses Hinterteils vorzustellen und wie sie wohl nackt aussähe. Er setzte ein breites Grinsen auf; die arme Muttons, dachte er, die arme Muttons O’Driscoll, sie wird nie einen Mann abkriegen, nicht mit einer solchen Körperfülle und einem Prieschter, der über jede ihrer Bewegungen wacht. Die arme Maggie Muttons, die arme, einsame Menschenseele – und er wischte sich eine dichte Schweißschicht von der Stirn und sprenkelte sie über seine Schlachtbank.
Izabel Ingrid O’Higgins tat nichts lieber, als möglichst viel Aufhebens um ihre Person zu machen. Drei Tage vor der Taufe des Säuglings Izabel nahm sie den Zug nach Westport, doch weiter kam sie nicht. Es gab keine Zugverbindung zu der Insel. Sie weigerte sich, mit dem Bus zu reisen; so ein Gedränge, sagte sie, so ein altersschwacher Motor, solche Abgase, solch verschwitzte Gestalten um sie herum, und dann war sie sich nie sicher, wo genau sie auszusteigen hatte. Hinzu kam, daß ihr beim Anblick der Farbe Grün immer etwas schlecht wurde, und der Bus – mein Gott, wo hatten sie nur diesen Grünton her? Verwelkter Kohl, das war’s, das Grün eines verwelkten Kohlkopfs.
Der Captain mußte sich ein Telegramm gefallen lassen. »GESTRANDET IN WESTPORT STOP RETTUNG ERBETEN STOP IZABEL STOP.« Als Adresse war das Bahnhofshotel angegeben. Es war Abend. Die Geduld des Captains war strapaziert. Er radelte bis zum Laden von Larry »The Reek« und versprach diesem eine großzügige Entschädigung. Pat holte seinen Lieferwagen heraus, und sie brachen auf. Als sie im Bahnhofshotel eintrafen, war es bereits nach zehn. Izabel saß allein in der Salonbar, umgeben von Gepäckhügeln. Sie hatte sich mit süßem Sherry gestärkt und war ausnahmsweise einmal ausgelassener Stimmung. »Cyril, Liebling!« begrüßte sie ihren Bruder und versuchte, ihn zu umhalsen. Dabei stieß sie mit den Knien gegen den niedrigen Tisch vor ihr und stürzte das Sherryglas um. Schwerfällig ließ sie sich wieder in ihren Stuhl plumpsen. »Hoppla!« sagte sie, hielt eine Hand an ihr gepudertes Gesicht und lachte Pat zu. »Ach du liebes bißchen, ich bin völlig erschlagen!« Pat Larry wußte nicht, was er mit seinen Händen anstellen sollte, und seine Augen huschten in der ganzen Bar umher, ohne sich an irgend etwas festhaken zu können. Dann entdeckte er Izabels Truhe und Koffer, und seine Sorgen waren vergessen. »Gehören die Ihnen, Ma’am?« Ohne eine Antwort abzuwarten, begann er sie zum Lieferwagen hinauszuschleppen. Der Captain nahm die vor sich hinmurmelnde Izabel am Arm und führte sie, nachdem sie sich mit viel Theater und Trara vergewissert hatte, daß nichts vergessen worden war, hinaus ins Freie. Bald waren sie auf der Heimfahrt durch die sich trübende Nacht. Izabel schlief, auf dieselben Säcke gebettet, die Nora einige Zeit zuvor benutzt hatte, während der Captain und Pat Larry sich leise unterhielten.
Izabel war klein und sah verhärmt und zänkisch aus. Ihr Pelzmantel hing schlaff an ihr herab, ihre hochhackigen Schuhe lagen wie kleine gestrandete Boote auf der Ladefläche des Lieferwagens. Sie atmete unregelmäßig und zuckte im Schlaf wie eine träumende Katze. »Izabel muß man einiges nachsehen«, sagte der Captain mit plötzlichem Wohlwollen. »Ihr Leben, Pat, ist alles andere als glatt verlaufen.« Izabel war eine Schönheit gewesen, hatte ihre Schönheit jedoch hinter einer alles durchdringenden Hoffart weggeschlossen. Schönheit, Pat, ist ein unverdientes Geschenk, erklärte der Captain, das man freigebig mit allen teilen muß. Auch klug war sie gewesen, und vor einer schönen Frau, die sowohl klug wie hoffärtig ist, fürchten sich die Männer. Sie hatte eine Geringschätzung für alles Männliche entwickelt, die sich allmählich auf sämtliche Freundinnen erstreckte, die so töricht waren, einem Mann auch nur einen Blick zuzuwerfen. Als sie einundzwanzig war, hatte sich Izabel die meisten Optionen bereits verbaut. Sie verbrachte ihre Tage zu Hause, las und grübelte, verachtete Hausarbeit, Tanzveranstaltungen des Schützenvereins, Gesellschaften, Strandfeste und strafte jeden jungen Mann, der ihr zufällig unter die schönen Augen trat, mit vernichtenden Blicken. In einer Zeit, da eine Badewanne nur mit Seewasser gefüllt werden konnte, das man in großen, schwarzen Kesseln auf dem Herd erhitzte, nahm sie jeden Tag ein Bad. Sie studierte Make-up – künstliche wie natürliche Cremes, Lotions und Salben –, sie studierte die Zeitungsinserate und ließ sich des langen und breiten über die neuesten Fabrikate, Destillate und Präparate aus, die zur Erhaltung ewiger Jugend und Schönheit angezeigt wurden. »Aber wozu nur, Pat, wozu?« fragte der Captain. »Sie hat die Liebe ja doch nicht eingelassen, jede Ritze, jedes Schlüsselloch
war verbarrikadiert. Liebe, Pat, Liebe ist etwas, das für Izabel immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben wird.« Izabel Ingrid O’Higgins, so meinte er, schüttelte ihre Locken gegen die Welt, hielt ihren schönen Körper kerzengerade und zog sich in einen süßen, vagen Traum von sich selbst zurück. »Was für ein Schock, Pat, was für ein Rätsel, als Izabel im Frühjahr ‘41 bekanntgab, sie wolle nach England gehen, um sich freiwillig als Krankenschwester zur Armee zu melden. Gesagt, getan. Sie ließ sich auf keine Erklärungen ein, wollte auf keine Einwände hören, sondern packte ihre Toilettenartikel und verschwand im Mahlstrom des Krieges. Es kam keine Karte, kein Brief, kein Telegramm; es war, als habe sie auf dieser Erde weder Freunde noch Bekannte, Pat, und niemand hörte je ein Sterbenswort von ihr, jahrelang wußten wir nicht einmal, ob sie noch lebte oder tot war.« Doch hier nun war sie, vor der Zeit alt geworden, als ob die Jahre, die sie abzuwehren gehofft hatte, sich ihrer nur um so stärker bemächtigten; sie war verschrumpelt, verschroben, besäuselt, wurde von Rathmines über Westport und in Pat Larrys Lieferwagen zugestellt und im Haus des Captains in der Dachkammer untergebracht. Das Mansardenzimmer mit Blick über die Felder aufs Meer war komfortabel, malerisch. Denn Izabel wollte unter keinen Umständen im Erdgeschoß wohnen. Bei dem bloßen Gedanken an Kakerlaken fiel sie in einen Dämmerzustand entsetzlichster Qualen. Diese Räuber, die nachts hervorgekrochen kamen und lautlos über den Fußboden krabbelten. Aufgelegt zu Gott weiß welchen Dummheiten, Träger Gott weiß welch gräßlicher Krankheiten. Selbst oben in ihrer Dachkammer bestreute sie den Fußboden entlang den Scheuerleisten, an Stuhlbeinen und Bettpfosten mit DDT. Das weiße, stark riechende Pulver stellte einen Bunker dar, in dem sie die Stellung halten konnte.
Izabel verbrachte die Vormittage zurückgezogen in ihrer Kammer, an den Nachmittagen hantierte sie in dem kleinen Wohnzimmer herum, aus dem sie hin und wieder verschwand, um sich umzuziehen, in der Fensternische zu sitzen und aufs Meer hinauszustarren. Dem Neugeborenen, dessen rechtzeitiges Herauspurzeln aus dem Dunkel der Ewigkeit der Grund für ihre Einladung war, schenkte sie keinerlei Beachtung. Wenn sie von Zimmer zu Zimmer schwebte, summte sie unablässig vor sich hin und hielt in der Rechten stets ein Taschentuch aus Spitze, das sie zu Nase und Mund führte. Sie summte Melodien, die, wie der Captain mutmaßte, in den Jahren beliebt gewesen sein mußten, als sie auf dem Floß ihrer Träume trieb; doch so wie sich glatter Mergel in all seinen Farben schließlich zu einem stumpfen, grauen Mischmasch vermengt, war von Weise, Taktart oder Melodie längst keine erkennbare Spur mehr geblieben. Izabel seufzte und wandte den Blick von der Welt ins ausdruckslose Gesicht der Zeit.
Drei
Wenn sie weit genug käme, bevor man sie vermißte, würde man sie vielleicht doch nicht einfangen und wieder zurückschaffen. In der Ferne warfen die Straßenlaternen der Stadt einen schwachen, trüben, aber warmen Glutschein in den Himmel. Sie erfühlte die Straße mehr, als daß sie sie sah, und mußte langsam gehen. Durch die dünnen Pantoffeln und Überschuhe spürte sie die scharfen Steine am Straßenrand unter ihren Füßen; dahinter befand sich ein grasbewachsener Seitenstreifen. Sie ging weiter und tastete nach dem Schotterrand und nach dem Gras; sie wußte nicht, ob sich dahinter ein Graben, ein Zaun oder ein Feld verbarg. Ihr war kalt. Sie wedelte mit den Armen und versuchte, schneller auszuschreiten. Sie geriet außer Atem und mußte stehenbleiben, sich, die Hände auf den Knien, vorbeugen, einatmen, ausatmen… »Bleib ganz ruhig, ruhig, vor allem sei ruhig, ruhig, ruhig.« Sie sprach die Worte ins Dunkel, sie fielen zu ihren Füßen nieder und huschten davon wie aufgeschreckte Käfer. Sie rührte sich wieder und ließ die Kälte, ließ die Mattigkeit in ihr Herz dringen, ging langsam weiter, langsam, aber mit stetem Schwung. Nur einmal in dieser schier endlosen Zeit der Finsternis fuhr ein Fahrzeug an ihr vorüber. Es kam ihr entgegen und hielt auf die Stadt zu. Es jagte ihr keine Angst ein; sie wußte seinen Namen, Auto, kam damit zurecht. Zuerst die Scheinwerfer, ein umherirrendes, nebelhaftes Weiß in der Ferne, wie ein Gespenst, das zwischen den Hügeln umging. Dann die beiden weißen Lichtkegel. Sie schienen auf und verschwanden wieder hinter einem Hügel, hinter Bäumen. Und plötzlich tauchte der
Wagen vor ihr auf, kam wie ein Spuk um eine Biegung gerast, als habe er darauf gelauert, sie anzufallen. In dem grellen Scheinwerferlicht konnte sie nichts erkennen. Damit das Licht sie nicht blendete, beschirmte sie mit der Hand die Augen. Das Auto bremste kurz ab, sie hörte den Motor stottern, sie wußte, daß sie dem Fahrer zu dieser sonderbaren Stunde wie ein Phantom vorkommen mußte. Der Wagen fuhr an ihr vorbei, der Fahrer, was immer er vorhatte, hatte sich entschieden. Sie blickte den roten Rücklichtern nach, sah, wie die Scheinwerfer die Bäume, die Büsche, die Straße erleuchteten, dann war der Wagen verschwunden und ließ sie mit einem stärkeren Gefühl der Einsamkeit und Stille, einem geschärfteren Bewußtsein für das eigene angestrengte Atmen zurück. Der Fahrer würde sich an einen Geist, eine verlorene Seele erinnern, die das Zwischenreich durchwanderte. Stundenlang schien sie sich dahinzuschleppen, doch der Tag wollte noch immer nicht anbrechen. Sie mußte oft stehenbleiben, um zu verschnaufen, die Nähe des Grabens oder der Böschung machte sie nervös, sie war auf der Hut vor dem Verlauf der Straße, die abknickte und sich neigte, als dränge auch sie danach, sie abzuwerfen. Als sich endlich das erste schwache Morgengrauen am Horizont zeigte, wußte sie, daß sie in die richtige Richtung lief. Nach Westen. Nach Hause. Der Freiheit entgegen. Auf der weiten Fläche eines Gewässers schimmerte Licht. Zuerst bemerkte sie es nur als ein schwaches Glimmen, eine Andeutung, fast eine Ahnung von Licht. Doch dann hörte sie es – das schläfrige Plätschern von Wasser gegen ein Ufer. Dort würde es Felsen geben. Sträucher. Unterschlupf. Sie könnte rasten. Ehe sie sich’s versah, hatte ein weiterer Wagen die Kuppe erreicht und hielt plötzlich auf sie zu. Sofort wurde sie des häßlichen Blaulichts gewahr, das stumm auf seinem Dach
rotierte. In der beginnenden Morgendämmerung blickten auch die Scheinwerfer drohend. Sie stieß einen Angstschrei aus und sprang hastig in das Dunkel, das seitlich von ihr wartete. Ungestüm nach einem Halt tastend, stürzte sie eine Kieselböschung hinab und fühlte, wie die schroffe Oberfläche an ihrem Körper kratzte; sie blieb auf etwas Weichem liegen, Gras, Moos oder Farn, und sofort griff die Feuchtigkeit nach ihr, war kalt und klamm auf ihrer Haut. Ihr Handgelenk tat weh, in ihrem Herzen hämmerte Furcht. Sie lag still. Langsam fuhr der Wagen auf der Straße über ihr vorbei. Sie wußte, das war der Feind, lauernd, auf der Jagd, sie kannte den Strahl seines blauen Auges, der die Welt ringsum durchbohrte. Sie lag still. Wie tot. Wieder senkte sich Schweigen herab, um sich her hörte sie das Gurgeln des Wassergrabens. Sie blieb liegen. Schluchzend. Wie sich das Herz in seinem Versteck nach Ruhe sehnt, nach Befreiung aus den Fängen der Bestien, die es quälen! Wie gut es täte, dahinzuschmelzen, aufzugehen wie Wasser in Wasser, Atem in Luft! Die Kälte schmerzte. Rutschend und schlitternd kroch sie aus dem Graben, der Krankenhausoverall klebte an ihr und behinderte sie. Sie kam wieder auf die Straße. Es war kein Licht mehr zu sehen. Der Feind war abgeschlagen. Zum zweiten Mal. Doch nur vorübergehend. Auf der anderen Straßenseite konnte sie im Licht der beginnenden Morgendämmerung jetzt die schemenhafte Gestalt eines langgestreckten, niedrigen Hauses ausmachen. Der See lag in ihrem Rücken. Sie überquerte die Straße, wobei sie auf dem Schotter so leise auftrat, wie sie konnte. Sie kam zu einem Torpfeiler, es gab einen Viehrost, sie trat über ihn hinweg in eine Auffahrt. Vor dem Haus wuchsen Büsche, Sträucher; vor einer Garagentür wartete ein Auto; in der Dunkelheit wirkte der Bungalow wie ein Sarg, groß, beängstigend und reglos wie der Tod. Sie ging um die Garage
herum. Der Kies unter ihren Füßen schien zu zischen und zu speien. Wenn da jetzt ein Hund war… Ihr Gott war mit ihr. Dort stand ein Schuppen. Hinter dem Haus war eine Wäscheleine gespannt. Jeans. Unterwäsche. Eine Bluse. Ein Handtuch. Andere Dinge, Sammelstücke für die Lebenden, die Unversehrten. Vorsichtig nahm sie herunter, was sie benötigte. Die Kleider waren feucht. Von dem bißchen Körperwärme, das sie noch besaß, würden sie trocknen. Und war es nicht ohnehin gleichgültig? Behutsam schob sie den Riegel an der Schuppentür zurück. Als er quietschte, erstarrte sie. Vielleicht durchkreischte ein ferner Wildvogel jemandes Traum in dem schlafenden Haus. Sie verspürte keine Schuldgefühle. Sie war darauf angewiesen, ihr Leben hing davon ab. Sie fand auch ein Paar Gummistiefel. An der Wand hingen eine Öljacke und eine kleinere aus Plastik, mit Kapuze. Sie nahm die kleinere und die Gummistiefel an sich und trat hinaus. Bald würde sich die Helle eines Tages in Freiheit über dem Land ausbreiten. Am Seeufer wusch sie sich, ihr nackter weißer Körper war kaum mehr als ein Schatten, der sich aus dem Morgendunst schälte. Das Wasser war kalt, klar, erfrischend; sie rieb sich, so gut sie konnte, trocken und zog die ausgeborgten Kleider über. Es waren Kinderkleider, aber auch sie war klein, kleiner und dünner noch als viele Kinder. Ringsum standen Gruppen von Weiden und gespenstische Fuchsiensträucher Wache, ebenso dumm und stumm wie die Frauen, mit denen sie das Krankenzimmer geteilt hatte. Als das Licht zunahm, setzte sie sich auf einen Fels und sah dem sanften Wellenschlag des Sees zu. Aus dem Wasser blickte ihr das eigene Gesicht entgegen. Eine Lilie. Verletzlich. Narziß, flüsterte sie sich zu und lächelte. In dem seichten Wasser um sie her standen Büschel schlanken Schilfrohrs und gaben schwache Klagelaute von sich. Narziß, sprach sie laut
zum Schilfrohr, und dieses flüsterte ihr den Namen wieder zu. Echo, sagte sie. Narziß, flüsterte es zurück. Wie gern würde ich für immer solche Musik machen, dachte sie und freute sich an der weichen, silbrigen Gegenwart. Sie schaute sich um, am Seeufer entlang, wo sie das Dach des Bungalows über die Büsche ragen sah, freundlich jetzt im heller werdenden Licht. Sie griff nach dem langen, glatten Halm eines Rohrs und ließ ihre Hand sanft daran hinaufgleiten. Einen Augenblick verweilten ihre Finger auf der weichen, samtigen Rispe. »Du und ich, wir werden immer so reden«, murmelte sie. Das Schilfrohr schwankte. Sie wickelte die rote Plastikjacke fester um sich und wandte sich, noch immer fröstelnd, wieder der Straße zu.
Vier
Casimir Conlon kam aus dem rückwärtigen Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Seine Mutter hatte wieder einmal darauf gedrungen, daß er Maggie O’Driscoll den Hof mache, bevor er so unnütz werde wie ein Karren ohne Deichsel. »Geh ein paar Jahre mit ihr aus«, jammerte die Alte aus der heißen Wildnis ihres Bettes. »Nimm sie mit an den See, nimm sie mit auf Spaziergänge in den Hügeln, geh mit ihr tanzen, geh mit ihr auf einen Ceili, irgend etwas. Aber führe sie aus! Wenn ich nicht mehr bin, kannst du sie heiraten und hierherbringen. Aber wohlgemerkt, nicht vorher! Ich könnte es nicht ertragen, daß ihresgleichen bei mir herumschnüffelt, während ich hier auf meinem Schmerzensbett liege.« Casimir stürmte durch die Seitentür des Ladens hinaus auf seinen Hof. Von wegen Maggie heiraten. Er wußte, er selbst war auch nicht gerade ein Clark Gable, aber er hatte im Leben mehr verdient als eine Maggie »Muttons« O’Driscoll. Oh ja, sie war fleischig, ja doch, war rund und glatt und rosig wie ein Tamworth-Schwein. Und zweifellos würde ihr Fleisch wie das Fleisch eines Tamworth-Schweins schmecken und sich ebenso anfühlen. Aber Casimir Conlon war ein mächtiges Trumm von einem Mannsbild und würde es für die nächsten vierzig Jahre bleiben. Er hatte Zeit, Zeit, auf ein zierliches Mädchen mit weißer Haut zu warten, das sich für seine Erfahrung und seine Kraft begeisterte. Wenn seine Mutter nicht größere Stücke auf ihn hielt, dann konnte sie in ihr Bett scheißen. Casimir bereute den Gedanken sofort. Und in genau diesem Augenblick sah er, daß die Tür zu seinem Schlachthaus weit offenstand. Er erinnerte sich, daß er sie kaum zehn Minuten
vorher geschlossen hatte, kurz bevor er hineingegangen war, um nach Pee-Wee zu sehen. An diesem Morgen hatte er ein ganz besonderes Schaf geschlachtet, sein erstes großes Roscommon-Schaf, das dank der Kreuzung mit einem Leicester-Schaf noch veredelt war. Von dem Ergebnis war er äußerst angetan – ein Schaf von höchster Qualität, das die Winde und die mageren Gräser der Berghänge verkraftete. Und vom Vortag hatte er ein Black-faced Scotch von den Dachbalken hängen, das darauf wartete, hereingebracht und zerlegt zu werden. Er spähte durch die Tür seines Schuppens. Beide seine Schafe waren verschwunden. Sein erster Gedanke war, daß Gott ihn strafe, weil er davon träumte, eine junge Frau von schöner Gestalt zu finden, mit der er sich paaren konnte, und weil er die Haushälterin eines Gottesmannes beleidigt und danach ignoriert hatte. Dann verfluchte er sich wegen des Gedankens: Er glaubte nicht an Gott. Irgendwelche Viechskerle aus dem Ort mußten seine Schafe weggekarrt haben. Eine dünne Blutspur führte quer über den Hof zum Zaun. Die Kerle mußten die Viecher über den Zaun gehievt haben. Wie hatten sie das bewerkstelligt? Beschädigt war der Zaun anscheinend nicht. Hier und da waren Klumpen grauweißer Wolle hängengeblieben, die wie Wollgrasbüschel aussahen. Er pfiff seinen Hund Fluther von seiner Schlafstelle auf einem Sack neben der Hintertür des Hauses herbei und ließ ihn das Blut auf dem Hof schnuppern. Dann kletterte Casimir schwerfällig über den Zaun, und Fluther raste über die Allmende aufs Moorland und zu den niedrigen Hügeln vor dem Berg. Über dieses Gelände können sie nicht weit gekommen sein, murmelte Casimir und spuckte grimmig auf den Boden. Zwischen Gras- und Heidepolstern fand er Blutstropfen. Der Hund nahm rasch die Spur auf. Casimir rechnete damit, daß er jeden Augenblick zum Dorf hin
abschwenken würde, doch der Hund hielt schnurgerade auf die Hügel zu. Casimir stand vor einem Rätsel; wie konnten sie, noch dazu so schnell, wegschleppen, was ihn zwei Tage Arbeit gekostet hätte? In dem weichen Boden waren tiefe Spuren zu sehen, es mochten Stiefelabdrücke sein oder die Fährten dahingeschleifter oder herabbaumelnder Tiere. Sie gelangten zu dem steinigeren Boden des Berghangs. Der Hund bremste seinen aufgeregten Lauf nicht ab. Die Schnauze dicht am Erdboden, den Schwanz steil aufgestellt, gab er kurze, scharfe Jaultöne von sich, knurrte und bellte. Casimir fluchte und schnaufte vor lauter Anstrengung, Schritt zu halten. Bald tauchte eine kleine Steinhütte vor ihm auf, die vor Jahren von Garnelenfischern benutzt worden war. Es war ein altes Gemäuer, eine Giebelwand fehlte ganz, die andere ging aufs Landesinnere und wies noch in groben Umrissen eine Fensteröffnung auf. Die Seitenmauern waren eingestürzt. Die Steine lagen verstreut, halb verdeckt von Gras und Heide. Es war ein Unterschlupf für die Schafe auf den niedrigeren Berghängen. Knurrend verschwand der Hund um die Mauerecke. Casimir bückte sich und nahm einen Stein in die Faust; er wartete auf das Zähnefletschen des Hundes, rechnete damit, seine Beute aus ihrem Versteck hervorstürzen zu sehen. Himmel! Denen würde er das Fell versohlen, denen würde er das letzte Fleisch von ihren stinkenden Leichnamen reißen! Als er zur Hütte kam, herrschte ein wüster Wirrwarr. Der Hund schnüffelte an den äußeren Rändern der Ruine. Auf dem festgetretenen Erdboden gab es Spuren von Wolle und Blut, als ob die Schafe zerstückelt und an Ort und Stelle vertilgt worden seien. Überall lagen winzige rote Fleischbrocken herum. Es gab einen bis auf den Knochen abgenagten Schädel, an dem nur noch Knorpel und Wollfetzen klebten, aber daß der Schädel selbst wie durch die Gewalt eines übermächtigen
Rachens in zwei Teile zerbrochen war jagte Casimir den größten Schrecken ein. Er schauderte angesichts dieser Zerstörung seines Eigentums, sein starker Körper war drauf und dran, vor Wut zu zerschmelzen, aus Angst vor der Raserei dieses Gemetzels zu zerfließen. Über die eingefallene Mauer blickte er zum Berg hinauf; da waren nur der Wind und die kahlen, fröstelnden Hänge. Dann betrachtete er wieder den harten Erdboden und suchte nach Fußabdrücken. Es gab viele undeutliche Spuren eines hastigen, schlitternden Durcheinanders. Könnte es eine Meute Hunde gewesen sein? Die hätte er bellen hören, sie hätten überall auf der Berglehne sehr viel mehr Fetzen und Knorpel von ihrer Beute zurückgelassen. Hier gab es wenig Handfestes, woran er sich halten konnte. Zögernd ging er weiter die Flanken des Berges hinauf. Sein Zorn ließ rasch nach und wich Argwohn und Vorsicht. Er war allein hier oben, und in seiner Nähe trieb sich etwas Wildes, Wütiges herum. Casimir spürte, wie ihn eine kalte Flutwelle überkam. Fluther beobachtete ihn wachsam und harrte weiterer Befehle. Um sie her und über ihnen gab es nur das öde Gelände einer unbeseelten Landschaft, die sich bis in die höheren Berglagen erstreckte. Rasch wandte Casimir sich um, halb rechnete er damit, auf etwas Entsetzliches zu treffen, das nur darauf wartete, ihn niederzustrecken. Aber da war nichts. Der Hund jaulte auf, erschrocken über die jähe Bewegung. Der große Mann ertappte sich dabei, wie er »Jesses! Jesses! Jesses!« murmelte, und in seiner tiefsten Seele mußte er sich eingestehen, daß es sich um ein Gebet handelte. Einige Augenblicke stand er starr wie der Wurzelstock einer Mooreiche. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Er beobachtete den Hund, der jetzt gleichgültig dabeistand, als sei das Ganze nichts als ein fesselndes Spiel gewesen. Aus der
Gleichgültigkeit des Hundes schöpfte er etwas Mut und machte sich unverzüglich wieder auf den Heimweg. 1941 hatte sich Izabel Ingrid O’Higgins bei den Behörden in London gemeldet. Sie wurde Krankenschwester und tat in Frankreich und Italien Dienst. Sie befand sich an Bord eines Schiffes im Mittelmeer, als dieses torpediert wurde. Fast alle kamen dabei um. Tagelang trieb sie im Meer und konnte sich nur mit dem Reifen eines Jeeps über Wasser halten. Den restlichen Krieg verbrachte sie in Zeltlazaretten in Nordafrika. Dort bekam sie alles mit: die körperlichen und seelischen Schmerzen, die der Mensch dem Menschen zufügen kann, die abgetrennten Gliedmaßen und zerschmetterten Gesichter, die zertrümmerten Knochen, die Versehrten Herzen – doch in all den Schreckensjahren arbeitete sie unermüdlich und ohne zu klagen. Wegen ihrer Tante kam Patricia Lenore Izabel O’Higgins zu spät zur eigenen Taufe. Father Crowe hatte eine Zeitlang geduldig gewartet, war in der Sakristei auf und ab geschritten, dann war er hinausgegangen und hatte mehrere Male die Kirche umrundet. Er war wieder ins Pfarrhaus gegangen und hatte Weisung hinterlassen, ihn zu holen, falls sie innerhalb der nächsten Stunde eintreffen sollten. Danach müsse er mit Dr. Weir eine Runde Golf spielen – schließlich könne er den guten Doktor nicht am windigen Rand des Golfplatzes warten lassen. Izabel hatte es nicht vermocht, ihren schmalen Kinderkörper in das rote Kleid zu zwängen, das sie eigens zu diesem Anlaß mitgebracht hatte. Nora, die nach oben beordert worden war, hatte an Kleid und Paßform nichts auzusetzen gehabt und war auf der Stelle entlassen worden, während Izabel umständlich wieder in ihre Reisekleider stieg. Patricia Lenore Izabel schlief friedlich. Schließlich brüllte der Captain, in Panik geraten, zur Treppe hinauf, daß man augenblicklich aus dem Haus gehen wolle und daß sie sich gefälligst in irgendeinen alten Woll
oder Baumwollfummel werfen und nicht vor dem ganzen Land ein solches Theater aufführen solle. Dieser Gefühlsausbruch löste in der armen Izabel, die, als sie wieder mit dem Captain zu sprechen geruhte, verkündete, daß sie sich von der Unwissenheit und Beschränktheit der Bauernschaft der Insel als ganzer gedemütigt fühle, einen ziemlich heftigen Anfall an Frostigkeit aus. Am späten Nachmittag ließ sie sich zum Bahnhof bringen, die Stunden dazwischen nutzte sie, um sich in einen transportfähigen Zustand zu versetzen. Während der Fahrt richtete sie nicht ein Wort an Pat Larry – trotz seiner stockenden Versuche, den Eisberg ihrer Gegenwart zu durchlöchern. Am Bahnhof jedoch entlohnte sie ihn reichlich für die Reise und bedachte ihn mit einer Sonderzuwendung von fünf Schillingen – für seine Höflichkeit und Rücksichtnahme, wie sie aus ihrer großen, großen Höhe herabmurmelte. Noch Jahre danach schrieb Izabel Ingrid O’Higgins ihrem Bruder, dem Captain, nicht. Sie redete auch nicht mit ihm, außer wenn sie, einmal im Jahr, anrief und darauf beharrte, mit der kleinen Izabel und nur mit ihr zu sprechen. »Ist das bei Mrs. und Mrs. O’Higgins?« »Ja, Cyril am Apparat.« »Dürfte ich bitte mit der kleinen Izabel sprechen?« »Bist du’s, Izabel? Wie schön, von dir zu hören. Wie geht’s dir?« »Bitte, ist die kleine Izabel da? Ich möchte gerne mit ihr sprechen.« »Dann bleib mal einen Moment dran. Patty ist jetzt sechs. Ich gehe sie holen.« Das war’s aber auch schon. Patty blieb mit ihrer Tante in Verbindung, sandte ihr Briefe auf ausgefallenem Papier in farbigen Umschlägen, auf denen Häschen, Teddys, Elefantenbabys aufgedruckt waren. Die einzige
Dankesbezeigung war der jährliche Anruf, bisweilen kurz vor Weihnachten, doch niemals vorhersagbar. »Wie geht’s dir, Izabel?« »Hallo, Tantchen Izabel. Mir geht’s sehr gut, danke, und dir?« »Danke, Izabel, für deine Briefe und Postkarten.« »Oh, keine Ursache. Hast du je…?« »Ich schicke dir bald etwas für dich, Izabel. Du mußt mir schreiben und mir Bescheid sagen, ob es wohlbehalten angekommen ist. Wirst du das tun?« »Aber natürlich, Tantchen. Du bist sehr lieb. Aber du brauchst dir wirklich keine Umstände zu machen…« »Nun gut, Izabel. Auf Wiedersehen.« Kein Paket von Tantchen Izabel traf jemals ein, und so konnte sie auch niemals Dank abstatten. Jahrelang stellte sich das junge Mädchen in prächtig gestreiftes und kariertes Buntpapier eingewickelte und mit gelben und blauen Bändern verschnürte Schachteln und Päckchen vor, die sich alle in irgendeiner Kleinstadt zwischen der Insel und der Hauptstadt auf einem Postamt oder einem Bahnhof stapelten und dort verschimmelten. Am Abend der Kindstaufe versammelte sich eine kleine Gemeinde im Hause der O’Higgins, und der Captain, nach der Entlassung seiner, wie er es nannte, verwöhnten und ichbezogenen Schwester wieder Herr über seine Burg, schwoll zu seiner Vaterrolle an. Er verbreitete sich über die Namen, die er für seine liebliche Tochter gewählt hatte, und rezitierte mit dramatischer, klangvoller Stimme das Gedicht von Edgar Allan Poe, das ihn dazu inspiriert habe:
Ah, eine goldene Schale brach! –
der Geist ist für immer entschwunden!
Laßt schlagen, ach! die Stunde der Schmach,
da der Styx dies Opfer gefunden:
– Hast, Guy de Vere, keine Träne du mehr? – dein Blick ist ohne Flor!
Sieh! auf der Bahre, starr und hehr,
da liegt dein Lieb, Lenor’!
Laß lesen für sie die Liturgie –
den Grabgesang ihr singen! –
der königlichsten Toten, die
so jung der Tod könnt’ zwingen –
die doppelt tot, darum daß sie
so jung der Tod könnt’ zwingen.
Aus der Zimmerecke, in der Nora saß, ließ sich während dieses Vortrags ein Murren vernehmen. Doch der Captain beachtete sie nicht weiter, sondern stand da, ein Glas Whiskey in der Rechten, den linken Ellbogen elegant und poetisch auf den hohen Kaminsims gestützt, und genoß seine Position. Schurken! ihr liebtet nur ihren Besitz,
und verhaßt war euch ihr Stolz;
und ihr segnetet, als sie dann traf der Blitz
der Krankheit, das Sargesholz: –
wie soll denn gelesen das Ritual
das Requiem werden gesungen –
von euern Augen, so böse und kahl
von euern verleumdrischen Zungen,
die schuldig warn an der Unschuld Fall,
die der Tod, und so jung noch, bezwungen?
Der Captain hielt inne, setzte eine düstere Miene auf, schüttelte das schöne Haupt und nahm, um den Augenblick zu besiegeln, einen tiefen Schluck von seinem Whiskey. Peccavimus; doch rase nicht so! aber laß einen Sabbathsang zu Gott hinaufgehn so feierlich, daß der Toten nicht werde bang! Die süße Lenor’, mit ihr verlor deine Hoffnung all ihren Schimmer; du sehnst dich blind nach dem teuren Kind, das deine Braut nun nimmer – nach ihr, der Schönsten und Freundlichsten schier, die getroffen von rohem Geschick hier liegt, das Leben im gelben Haar, doch nicht mehr im starren Blick, das Leben so klar noch immer im Haar, doch Tod auf ihrem Blick. Wieder war Noras brummelnde Stimme zu hören, Wörter wie elend, düster, bedrückend und pessimistisch – doch der Captain leitete gerade zu seinem Lieblingswort über, und nichts in der Welt konnte den Wasserfall seines Vortrags aufhalten. »Fort!« Der Captain legte eine Kunstpause ein. Lächelte. Hob von neuem an. Fort! – fort! zu Freunden von Feinden ist der gekränkte Geist geschieden – von der Hölle zu einem erhabenen Stand hoch droben im Himmelsfrieden – von Zagen und Klagen zu goldenen Tagen im ewigen Himmelsfrieden:
– nein, laßt den Schall der Glocken all,
daß nicht verdüstert werde die heitere Seel’
vom Klang so scheel
aus der Höllentiefe der Erde! Und ich –
heut weicht der Schmerz mir leicht: –
kein Grablied will ich klagen –
es soll ihre Bahn ein beschwingter Päan
begleiten aus alten Tagen!
Die letzte Strophe war der krönende Abschluß. Der Captain trat vom Kamin mitten auf den Vorleger und hob beide Hände zur Decke. Dabei verschüttete er einen feuchten Nebel goldener Flüssigkeit auf den Fußboden. Während die letzten Zeilen melodisch von seinen Lippen träufelten, verneigte er sich tief. Als Beifall geklatscht wurde, lächelte er allen zu und hob ein weiteres Mal das Glas, um auf die Gesundheit, ein langes Leben und das Glück seines Töchterchens Patricia Lenore Izabel anzustoßen.
Father Crowe und Dr. Weir kletterten das Tal hinauf. Es hatte Gerede, Gerüchte, Besorgnisse gegeben. Der Priester war noch optimistisch und inbrünstig, der Arzt rückhaltlos und großherzig. Es war ein schöner Tag, der Himmel kaum von Wolken berührt, die Brise in der Hitze des Anstiegs erfrischend. Unter ihnen konnten sie das klare Wasser der geschützten Bucht sehen, auf den Wellen ein paar Currachs, die auf der Jagd nach Riesenhaien waren. Die langgestreckte Talenge war feucht und duftete süß. Vergnügt schritten sie aus. »Das Böse weilt schon seit Adam und Eva unter uns, Jim«, sagte der Priester gerade. Father Crowe war ein großer Mann, sein schwarzes Haar hatte er wie das eines Kindes gekämmt, sein kräftiges Kinn war entschlossen, Satan zu widerstehen.
»Der Makel sitzt tief und unausrottbar in uns allen. Das Böse ist Teil unserer Natur, Mann, und ausmerzen kann es nur die Hand Gottes. Genau darum geht’s ja auch bei Christi Tod. Genau darum geht’s auch bei Christi Weiterleben in der Kirche.« Nachdenklich stapfte der Arzt neben ihm weiter. Sie kamen an einer alten Wachstation vorbei, die vor dem Ansturm des Atlantikwindes bereits verfiel. Sie sprangen über einen kleinen Bach. Der Arzt war klein und wirkte asketisch, fahrig, als wäre er ungehalten über den Ablauf der Zeit. Strähnen seines schütteren blonden Haars wehten ihm ins aufmerksame, strahlende Gesicht. Die beiden schwitzten bereits in der Nachtmittagshitze. Father Crowe blieb stehen und stützte sich mit der rechten Hand auf einen großen Felsen. »Ein Altar aus der Zeit der antikatholischen Strafgesetzgebung, Jim«, erklärte er, »jahrhundertelang als geheime Versammlungsstätte zum Lesen der Messe benutzt. Ein idealer Zufluchtsort, dieses Tal, zu jener Zeit über Land fast nicht zu erreichen. Die Menschen strömten zu Hunderten hierher, in Currachs oder indem sie sich hier über die Abhänge quälten. Wunderbare Jahre des Glaubens. In Zeiten der Verfolgung ist unser Glaube stets aufgeblüht.« »Glaube!« versetzte der Arzt. »Ich wünschte, ich hätte einen solchen Glauben. Ich bin der Überzeugung, daß das ganze Gewicht der Vergangenheit auf uns lastet, Donal, das ganze Gewicht der Kriege und Verfolgungen, die Schmerzens- und Verzweiflungsschreie sämtlicher Jahre. Wie eine Seuche liegt es in der Luft. Verdichtet sich mit jedem Jahrhundert, da Generation um Generation zu der großen Summe des Schreckens, dessen der Mensch sich schuldig gemacht hat, ihre eigenen Schrecknisse hinzufügt. Ein Miasma. Mit diesem
Gerede von Adam machen wir es uns allzu leicht. Nicht unsere Schuld. Adams Schuld. Zu leicht, viel zu leicht.« Father Crowe lachte. »An einem herrlichen Nachmittag wie heute möchte man kaum glauben, daß die Luft erfüllt ist von Schlechtigkeit. Schau nur die Klarheit des Himmels, die Schönheit der Heide, ein wolkenloser Tag.« Der Arzt wandte sich um und sah das Tal hinunter zur Bucht. Er konnte weit übers Meer hinausblicken, über einen glitzernden Ozean, über Inseln und Riffe bis hin zum Croagh Patrick und den Bergen Connemaras. Die Welt erschimmerte in silbriger Schönheit. Er lachte in sich hinein. »Laß uns weiterklettern, sparen wir unsere Worte, um mehr Kraft zu haben.« Sie gelangten zum Talschluß und betraten ein flaches Areal feuchten Moorlands. Aus Angst, der weiche, nasse Boden könnte sie in die Tiefe ziehen, traten sie behutsam auf. Eine Weile gingen sie schweigend weiter. Plötzlich hielt der Arzt an. Dann sagte er: »Ist dir schon aufgefallen, daß überhaupt keine Schafe zu sehen sind? Seit wir aufgebrochen sind, haben wir nicht ein einziges Schaf zu Gesicht bekommen.« Der Priester blieb stehen und blickte sich auf den Hängen um. Keine Regung. Kein Lebenszeichen. »Ja, das ist sonderbar«, pflichtete er bei. »Vielleicht haben sie, geängstigt von der Vorstellung, was oben auf den Weiden passiert ist, ihre Schafe alle auf die Felder beim Dorf geschafft. Vielleicht hängt über diesem alten Tal dein Miasma des Bösen, Jim. Man kann schon auf Gedanken kommen. Als gäbe es hier ein Phantom, feindselig, bedrohlich. Fremd.« »Komm schon, wagen wir den richtigen Aufstieg, ehe wir es mit der Angst zu tun kriegen und umkehren. Aber dir zufolge tragen wir das Böse ja in uns, so daß wir ihm ohnehin nicht entrinnen können.«
»Es gibt immer noch die Macht des Exorzismus«, bemerkte der Priester. »Ich habe die Sache gründlich studiert, Jim, und bin fasziniert davon. Wenn der Priester lauter genug ist, kann er die Macht Gottes anrufen, daß sie in ihn eintrete, und dann kann er diese Macht auf die arme leidende Seele lenken und sie von dem Übel erlösen, das sie befallen hat. Es ist unsere Art, das göttliche Wirken auf die Angelegenheiten der Menschen zu übertragen. Eine wundersame Sache, eine große Gnade, aber auch eine seltene.« »Ich glaube an die Medizin, Donal, an die Medizin. Heute kann man die meisten Krankheiten behandeln, kann kurieren, rezeptieren, operieren. Ich verspreche dir, wenn ich mal nicht mehr weiter weiß, komme ich zu dir und verordne meinen Patienten deinen Exorzismus.« Sie kletterten am Rand der hohen Klippen entlang, die schroff und steil in die oberen Berglagen führten. Obwohl es ein windstiller Tag war, sahen sie unter sich die wilden Peitschenhiebe des Ozeans gegen die Felsen. Sie stiegen höher und höher. Beide Männer verstummten, so sehr strengte die Kletterpartie sie an. Der Ausblick aufs Meer war atemberaubend, der Hochmut der Bergwände beunruhigend. Sie mußten oft stehenbleiben, um zu verschnaufen. Dr. Weir zeigte auf eine große Wunde in den Felswänden unter ihnen und zu ihrer Rechten. »Sieht mir aus wie ein großer Erdrutsch oder eine Art Explosion. Vielleicht ist ja doch was dran an dem Gerede über ein Flugzeug während des Krieges. Und durch den Bergschlipf hat sich unten im Meer eine Art Insel geformt. Sieh nur!« Tief unten brandeten die Wogen gegen die Felsen und den herabgestürzten Lehm. Auf den tanzenden und sich brechenden Wellen glitzerte wunderbar die Sonne. Nicht eine Möwe, nicht ein Raben- oder Eissturmvogel war zu sehen oder
zu hören. Die Stille unter dem Lärmen von Wind und Meer wog so schwer, daß sie zu schmerzen begann. »Irgendwie fühle ich mich geradezu bedrückt, Jim. Selbst eine Art Wut scheint sich aus der Luft auf mich gelegt zu haben. Ich weiß nicht, was es ist. Alles ist so leer, voll böser Omen.« Der Arzt nickte bedächtig. Er betrachtete den Priester. Dann suchte er rasch die Hänge über ihnen und die Klippen unter ihnen ab. Er runzelte die Stirn und stand unvermittelt auf. »Ich fühle es auch, Donal. Eine Art richtungsloser Zorn steigt in mir auf. Man fühlt sich, als würde man ohne jeden Grund etwas Verhängnisvolles anrichten. Es ist wirklich und doch völlig unbestimmt…« Plötzlich brach er ab. Als ob sich etwas bewegt hätte, stürzten ganz in der Nähe rechts von ihnen Schieferstücke über die Felsenwand. Sie erstarrten, als sie das leise Gepolter von Lehm und Steinen hörten. Der Arzt streckte dem Priester die Hand entgegen. »Machen wir, das wir von hier verschwinden«, flüsterte er. Father Crowe kletterte weiter den Klippenrand hinauf zu der Stelle, wo sie den Steinschlag gesehen hatten. »Irgendein Tier, das ist alles. Eine Gemse oder ein Schaf…« Er kam zu dem schmalen Felsvorsprung, der ihnen die Sicht auf das Gelände dahinter verstellt hatte. Da war nichts. Vor ihnen dehnten sich Klippen und Hänge, stumm, schön und totenstill. Ihm war kalt. Er drehte sich zum Arzt um und machte ein grimmiges Gesicht. »Ich sollte beten, Jim, ich sollte etwas tun, um das Böse, was immer es ist, zu vertreiben, aber ich fühle mich vollkommen außerstande zu beten, als sei plötzlich etwas zwischen mich und die Sonne getreten, zwischen mich und das, woran ich glaube.« Der Arzt lachte gezwungen. »Weißt du was, Donal? Ich glaube, wir beide werden hier oben noch leicht verrückt.
Vielleicht können wir ein andermal wieder zu diesem Flecken hinaufklettern, und zwar aus der anderen Richtung, dann können wir die ganze Klippe und die Berglehnen übersehen. Vielleicht könnten wir bewaffnet wiederkommen. Aber, um Gottes willen, laß uns gehen. Jetzt.« Eilends begann er, den Klippenrand wieder hinunterzuklettern, er wartete kaum ab, ob der Priester ihm folgte. Father Crowe zögerte einen Augenblick länger. Er blickte über die weite Leere der Berghänge. Irgend etwas war da. Dessen war er sicher. Er wußte, daß er beobachtet wurde. Aus mißgünstigen Augen. Er erschauerte. Dann machte er kehrt und folgte seinem Freund hinab auf den Boden der Welt. Als sie älter wurde, entzog sich Patty mehr und mehr der düsteren Gesellschaft ihrer Mutter. Sie ließ den Hof des Hauses hinter sich und folgte einem Feldweg vorbei am Gemüsegarten und den Torfstichen bis zum See. Dort war ein Winkel, wo das Land des Captains endete und das der Nachbarn begann; ein halb verfallener Stacheldrahtzaun, dessen Betonpfosten in den Fels eingelassen waren, führte etwa drei Meter weit in den See hinaus, so daß ein winziger Hafen entstanden war, geschützt und warm. Patty setzte sich auf einen der herabgestürzten Felsen und schleuderte Kiesel in den See. Ein Klumpen hohen Riedgrases wuchs ins Wasser hinaus und wankte und schwankte unmerklich im Wind. In den Untiefen nahe ihrem Sitzplatz wuchsen Binsen, die ihre langen, grünen Arme über der Wasseroberfläche treiben ließen. Geistesabwesend starrte sie über den See auf das braune und violette Ödland der Hügel, die, furchig, hübsch und unfruchtbar, vom entgegengesetzten Ufer anstiegen. Es war eine wüste, baumlose Landschaft, aber ihr gefiel sie. Ruhig saß sie da und war so sehr in die Landschaft vertieft, daß sie beinahe ein Teil davon wurde. Einmal blickte sie auf und sah einen Fuchs, der sie beobachtete. Wachsam stand er da
und wandte ihr den ganzen Körper in seinem sanften, orangenen Farbkleid zu; seine Rute, weich und zart wie ein Atemhauch, hatte er aufgestellt und die rechte Vorderpfote erhoben. Einen langen Augenblick sahen sie einander an, seine großen, braunen Augen waren unerschrocken, und ihr Herz schlug vor Freude schneller. Sie wagte kaum zu atmen, war eins mit seiner Vorsicht, seinem Schweigen, seiner herausfordernden Klugheit, einen Moment lang eins mit seinem Dasein inmitten der Höcker und Mulden des Heidelands. Sie schien in ihm, in seiner stummen Pose, noch etwas anderes zu verspüren, als habe er die Kluft zwischen ihren getrennten Existenzweisen überbrückt und zu ihr gesprochen. Eine geflüsterte Warnung, vorgebracht aus freundschaftlicher Fürsorge. Ungesagte Worte, eine wortlose Stimme. Etwas darüber, sich vor der Welt in acht zu nehmen, über Sorge, auch über Schmerz, über ferne Stätten, wo das Leid heimlich aufkommt und lautlos erduldet wird, inmitten des Wassers, das von den Heidewurzeln tropfte, inmitten der Düfte feuchter Torfwände und Farnwedel. Etwas über die Wunden, die man ins besänftigende Dunkel einer unterirdischen Höhle trägt. Dann lief der Fuchs genauso unvermutet weiter, ohne Eile, ohne Laut, durchquerte das Torf und die Quecken, bewegte sich auf eine Art, wie Wasser fließt, in das unkultivierte Moorland hinter ihr. Sie seufzte zufrieden und lächelte in sich hinein.
»Tiere können doch sprechen, Mama?« Nora saß am großen Fenster, die Hände müßig in den Schoß gelegt. »Nur im Märchen, Liebling.« »Wie der Wolf in der Geschichte vom Rotkäppchen?« »Wie der Wolf.«
»Aber können andere Tiere nicht sprechen? Zum Beispiel der Fuchs?« »Nein, Liebling, nur im Märchen. Tiere können nicht sprechen.« »Und sind die Märchen wahr, Mama?« Nora drehte sich um und betrachtete ihre Tochter. Manchmal ging ihr noch das Herz auf, wenn sie sie sah. Manchmal sang die schiere Unschuld und Offenheit des Kindes der Frau laut zu. Nora streckte die Hände aus und zog das Mädchen an sich, preßte sie an ihre Brüste. Sie suchte Trost, eine kleine Bestätigung. Patty schnappte nach Luft. »Oh, Entschuldigung, Schatz, Mama wollte dir nicht weh tun. Es ist nur – ich liebe dich so sehr, so sehr.« Patty schürzte die Lippen und schlang die Hände um den Hals ihrer Mutter. Sie war die anstrengende, zuweilen überwältigende Liebebedürftigkeit ihrer Mutter gewohnt. »Sind die Märchen wahr, Mama?« »Eigentlich nicht, Schatz, eigentlich sind sie nicht wahr, aber in einem anderen Sinn sind sie es wohl. Sie sind wahr, weil sie etwas Wahres ausdrücken, etwas Wirkliches, das hinter der Geschichte vorgeht.« Patty erwiderte nichts. Sie gab ihrer Mutter einen sanften Klaps auf den Nacken und machte sich von ihr los. »Mama, manchmal habe ich dieses Kopfweh…«, setzte sie an. Die Vögel, die zwischen dem Röhricht auf den See hinausschossen, erregten oft Pattys Aufmerksamkeit. Sie waren klein, einige hatten schmale, schwarze Köpfchen wie Sperlinge und einen weißen Hals; andere waren von einem stumpfen Braun mit schmalen schwarzen Streifen. Immer hatten sie zu tun, flogen hastig über das Schilf hinaus aufs Wasser, dann über die Fläche des Torfmoors hinweg, um die Sträucher herum und wieder zurück. Das leise Ziep-ziep-ziep ihres Rufes war wie ein flüchtiger Kratzer auf der gläsernen
Oberfläche des Tages, und manchmal machten sie ein klirrendes Geräusch, als klimperten sie irgendwo tief unten in der Kehle mit Schlüsseln. Ihre Geschäftigkeit füllte den Tag mit Leben und unterstrich die Stille, die Patty so gern um sich herum verspürte. Manchmal glitt auch eine Ralle von irgendwo unter der Uferböschung auf den See hinaus und flog grunzend und quiekend umher, ehe sie wieder zu ihrer geheimen Vorratskammer, ihrem Nest zurückkehrte. Eines Tages saß sie, schon älter, am See und sah zu, wie das Wasser plätschernd ans Ufer schlug. Durch die Finger der rechten Hand ließ sie müßig Sand ins Wasser zurückrieseln. Sie wußte, daß sich der Captain am Hafen aufhielt und erst zur Gebetsstunde wieder zurückkommen würde. Ihre Mutter saß wie immer im Wohnzimmer und hatte gegen das Nachmittagslicht die Vorhänge zugezogen; Patty wußte, daß sie dort drinnen oft vor sich hinweinte, ein trockenes Weinen, ein tränenloses Schluchzen. Das Mädchen verstand nicht, weshalb Nora so oft allein im Dunkeln saß und schluchzte. Dabei war es ein so schöner Tag, warm und windstill, und die violetten Blüten der Rhododendronsträucher hatten sich weit der Sonne geöffnet. Plötzlich blickte Patty hoch. Ihr fiel die durchdringende Stille auf, die aus dem Tag um sie her angeschwollen zu sein schien. Sie bemerkte, daß die kleinen Vögel nirgendwo zu sehen, keine Vogellaute zu hören waren. Mit leisem Unbehagen sah sie sich um. Die Welt war leer, das braune Heideland dehnte sich endlos vor ihr aus. Nur das leise plätschernde Wasser des Sees vermochte sie noch zu beruhigen. Sie umkrampfte die kleine Handvoll Sand und rührte sich nicht. Dann hörte sie ihn, einen Laut, der hinter den unsichtbaren Vorhängen der Luft hervorzukommen, im Gefüge der Hügel auf der anderen Seite des Sees zu hängen und aus den Bergflanken in die Stille des Tages aufzusteigen schien. Es war
ein langgezogener Ruf, wie von einem Tier in weiter, weiter Ferne. Er war so verhalten, so fern, daß Patty sich nicht einmal sicher sein konnte, ob sie ihn auch wirklich vernahm, ob er nicht einfach der Widerhall der Stille des Tages war, die im Blut ihres Hirns nachwirkte. Aber er flößte ihr eine Heidenangst ein, so lange hielt er an, ehe er in den Hügeln langsam wieder verklang. Sie erhob sich und schaute über das Wasser des Sees. Sie hörte ihn nicht mehr. Nur noch Stille. Plötzlich verspürte sie einen Stich in der rechten Hand und mußte aufschreien. Sie machte die Hand weit auf, und der Sand rieselte heraus und machte ein leise plätscherndes Geräusch im Wasser. Sie hielt die Hand vors Gesicht, um sie zu betrachten; alle ihre Finger bis auf den Daumen waren steif geworden, sie konnte sie nicht bewegen, sie waren gekrümmt, mißgestaltet, weiß, unter der Haut traten deutlich die Knöchel hervor. Sie schrie vor Schmerz und rannte über den Feldweg nach Hause. Im Rennen legte sich der Schmerz, und ihre steif gewordenen Finger entkrampften sich. Am Abend erzählte sie dem Captain von dem langgezogenen Ruf, den der Berg von sich gegeben, von dem Schmerz, der ihre Finger verkrampft und gelähmt hatte. Er hielt ihre Hand und betrachtete sie; er sah nichts. Nur die kleine, zierliche, hübsche Hand eines jungen, jungen Mädchens. »Das muß ein Krampf gewesen sein vom kalten Seewasser«, beruhigte er sie. »Nur ein Krampf, das ist alles.« »Und die Kopfschmerzen, die ich bekomme, Dodgie?« »Ich verspreche dir, wegen der Kopfschmerzen werde ich Dr. Weir rufen. Vielleicht bist du zuviel in der Sonne.« »Und war der Laut, den ich gehört habe, ein wirklicher Laut?« »Ich weiß nicht, Liebling, vielleicht hast du Johnny Trawlies Jagdhund gehört, der über sein hohes Alter jammert. Oder
vielleicht hast du ihn dir nur eingebildet. Könntest du ihn dir eingebildet haben?« »Du meinst, er war, wie die Märchen, nicht wirklich, Dodgie?« »Vielleicht hat es ihn ja gegeben, Liebling, aber dann findet sich bestimmt eine gute Erklärung dafür. Eine gute Erklärung.«
Der Captain blickte über den Rand der Mole ins Wasser hinab. Der Ozean war klar und blau, und auf dem sandigen Grund konnte er den Kadaver eines Hundshais sehen, der träge in der Dünung trieb. Ein häßlicher Fisch, dachte er, fettleibig, von einem fahlen Grau; er versucht, ein mörderischer Hai zu sein in einer Welt, die viel zu groß für ihn ist. Tut vornehm, ein Tyrann unter Sprotten. Und jetzt sie ihn dir an, im Tode noch verspottet von ebenjenem Element, in dem er gelebt und gejagt hat. Und was, fragte er sich, fängt der Ozean mit seinem unendlichen Strom von Kadavern an? Nimmt er sie in sich auf, so wie die Erde die ihren? Um sie wieder auszuspeien in Form von Trillionen von Fischrogen? Zum Ausschlüpfen, zur Auferstehung, zur Jagd, zum Abschlachten, zum Füttern, zum Tod? Dann schwebte ihm aus irgendeinem Grund das Bild seiner Tochter Patty vor, Patty, klein und unschuldig und doch so allein in der Welt. Wenn Nora doch nur kräftiger wäre, dachte er, dann könnten wir – ein Sohn, also, ein Sohn, das wäre doch was? Etwas für sie alle, für ihn, für Nora, für Patty. Der Captain beobachtete den großen, schwarzen Leib eines Riesenhais, der langsam die Aufschleppe hochgewinscht wurde. Die Motorwinden tuckerten mühsam, husteten und stotterten und bliesen Rauch in die Luft über der Mole. Die gewaltigen Stahltrossen spannten sich und schlugen schwirrend gegen den Beton. Ein Riesenhai, groß wie ein
Halbdecker, häßlich und traurig, zerstört von den Harpunen der Menschen. »Ein Prachtstück«, sagte einer der Männer, die neben dem Captain warteten. Die Männer hatten sich ihre ältesten Kleidungsstücke angezogen und schwere Gummischürzen umgebunden, von den Watstiefeln schwitzten sie am ganzen Körper. Bald würden sie auf dem entblößten Fleisch des Leviathans herumlaufen, auf seinem Blut und seinen Innereien ausglitschen, seine Körperteile zerhacken und in verschiedenen Ecken der Schuppen aufhängen. »Ein wahrer Riese, Eamonn«, erwiderte der Captain. »Der wird uns ein Weilchen länger Arbeit verschaffen. Man muß staunen über das Meer, daß es solche Ungeheuer ausspuckt«, fügte er hinzu. »Aber ein harmloses Ungeheuer«, sagte Eamonn. »Es heißt, der würde keiner Garnele was zuleide tun, nur das Plankton durch sein Maul einsaugen.« »Er hat ein Maul so groß wie Father Crowe«, bemerkte der Captain, »nur daß Father Crowe mehr Flüssigkeit ausstößt als der Hai. Aber schau dir die Größe dieses Scheusals an! Erinnert mich an das deutsche Schiff, das im Krieg an dieser Stelle vor Anker gegangen ist, und die ganze Mannschaft kam die Straße heraufgestürmt, bis ich und Tony sie wieder vertrieben haben.« »Die deutschen Schlägertypen waren ein ganzes Stück gefährlicher als dieser Hai, Captain«, sagte Eamonn taktvoll. Er machte eine Pause. »Und was hältst du von dem anderen Monster, von dem Moormenschen? Ich sehe, daß Vinnie Scollon herumläuft und alle Welt fragt, wem oben auf dem Berg Schafe abhanden gekommen sind. Man könnte schwören, daß er langsam selber an den Moormenschen glaubt.« »An den Moormenschen, Eamonn?«
»An den Moormenschen, so tun sie ihn nennen, eine Art Yeti. Aber keiner hat ihn je gesehen, oder es, oder was immer.« »Alles Unsinn, Unsinn, die Ausgeburt einer überreizten Phantasie. Das ist alles.« »Trotzdem, ich weiß nicht, so manch einer hat oben auf den hinteren Hängen Schafe eingebüßt, die sich nie wieder eingefunden haben, und hier und da gibt’s welche, die haben die zerfleischten Überreste von Schafen gesehen, vielleicht einen Schädel oder ein Häufchen Knochen.« »Krähen, Eamonn, die Nebelkrähe. Ein wahrer Teufel, die Nebelkrähe. Oder vielleicht eine Rotte Mantelmöwen. Und oben auf den Hängen hat es Steinadler gegeben, von denen weiß man, daß sie mitunter ein ausgewachsenes Schaf verschleppen.« »Ja, aber die haben nur das Fleisch gefressen, nur das Fleisch. Knochen und Wolle haben sie zurückgelassen. Anders als jetzt. Was immer da oben vor sich geht, das ganze Schaf ist verschwunden, Schädel und Knochen und Wolle und alles, jedes Fitzelchen.« Der Captain sah ihn an. Eamonn war ein ernster Mann mittleren Alters, das Gesicht vom Wind braun wie Baumrinde. Er stand da und stützte sich auf den großen eisernen Haken, mit dem er bald Teile des zitternden Haifleischs auf die Ladefläche des Lastwagens schleudern würde. Bald würde der Laster losfahren, sich auf den Weg quer durch die Insel zur Fabrik machen und in der Luft einen scharfen, ekelerregenden Gestank nach Haifischfleisch zurücklassen. »Scheint, das Vieh, wenn’s wirklich da oben ist, hat Bocksprünge von den Hügeln herunter gemacht, bis hin zu Casimir Conlons Schuppen, und das ist nicht allzuweit von dir entfernt, Captain. Es soll einige von den Schafen verschleppt haben, die Casimir schon geschlachtet hatte.«
»Ja, ich hab davon gehört, Eamonn. Aber er scheint zu glauben, daß es ein paar junge Burschen aus der Gegend waren, die sich einen Spaß machen und ihm einen Streich spielen wollten.« »Die Leute kriegen’s mit der Angst zu tun, Captain, das kann ich dir sagen, mit der Angst. Was immer es ist, Vogel, Viech oder Moormensch, es richtet dort oben in den Hügeln verheerenden Schaden an, und es wird nicht für immer in den Hügeln bleiben, sondern herunterkommen und auf Raub ausgehen; und bald, Captain, wart’s nur ab, bald werden die Männer da oben überhaupt nicht mehr grasen lassen, da oben auf den Hängen.« Das Knirschen und Wimmern der Winden war verstummt. Der mächtige Kadaver lag oben auf der Mole, neben den wartenden Schuppen. Männer mit langen Sicheln hatten begonnen, auf die Finnen und den Schwanz einzuhacken; andere fuhren mit ihren Klingen die schwarz glitzernde Haut entlang und gruben tiefe Furchen in das feste Fleisch. Bald würde die Haut sich in ein stumpfes Grau verwandeln, das gewellte weiße Fleisch gelb wie saure Sahne werden, der Gestank würde die Luft um die Mole verpesten und den Männern in die Nase stechen. Die Betontanks würden sich mit Lebertran füllen. Der Schmelzofen sich an Knochen und Gedärmen gütlich tun. Zusammen gingen die beiden Männer langsam auf die Tierleiche zu. Die Männer, die sich schon an die Arbeit gemacht hatten, schrien und brüllten dringlich, entschlossen. »Aber mir scheint, er hat recht«, sagte Eamonn. »Father Crowe, meine ich. Mitten wir im Nebel sind mit dem Tod umfangen. Der Nebel des Lebens, Captain, wenn wir kaum die eigene Hand vor unseren Augen sehen können. Ein wahres Wort, gilt auch für ihn, würde ich meinen.«
»Mitten wir im Leben sind…«, berichtigte ihn der Captain halbherzig. »Mitten wir im Leben.« »Ja, ja, der Nebel«, sagte Eamonn. »Der Nebel des Lebens. Das Leben ist so eine Frage, eine schwierige, schwierige Frage. Ohne Antwort, Captain, ohne Antwort.« Da er auf Eamonns Worte nichts zu entgegnen wußte, wandte sich der Captain mit einer Grimasse des Abscheus seiner Aufgabe zu.
Fünf
Wie sie so westwärts durch den Morgen stapfte, zerbrechlich wie Porzellan, die Kleider scheckig, die Gummistiefel klobig, hätte sie auch wieder Kind sein können. Aus ihrem Schmerz und ihrer Müdigkeit schöpfte sie dennoch die Kraft, sich selber anzutreiben. Von einem Telefonmast am Straßenrand zum nächsten laufen; ein Weilchen ausruhen; dann zum nächsten Mast weitergehen; wieder rasten. Langsam, so langsam. Und doch ging sie voller Zuversicht, kannte sie doch ihr Ziel, war sich ihrer selbst sicher, wußte, daß sie den Mut, die Gnade finden würde, die vonnöten war, all dies durchzustehen. War sie jetzt nicht Maria, die mit ihrer frohen Botschaft zu Elisabeth eilte? Ein weiter Gang auf das Gebirge, da sie schwanger war mit Zukunft. In den kurzen Augenblicken, wenn sie sich keuchend neben einem Mast ausruhte, konnte sie sogar frohlocken über diese Vorstellung. Ringsumher stieg der Tag empor, silbrig, kalt und lastend. Doch ihr, in ihrer Hast, war bereits heiß. Die Kleider waren an ihrem Leib getrocknet, die rote Plastikjacke hatte sie zusammengerollt und trug sie unterm Arm. Sie wußte, wenn ein Morgen so hell wie dieser graute, würde sich der Himmel rasch bewölken, und es würde Regen geben. Selbst hier, in diesem dürren Land. Juda, nicht wahr? Das Hügelland. Sie verspürte einen jähen Schmerz und griff sich an den Bauch. Er war doch wohl nicht schon gehüpft in ihrem Leibe? Oder doch? Vor wie langer Zeit? Seit dem… seit… seit wann? Sie blieb stehen und blickte über die matte, geteerte Straße vor ihr. Dies war nicht Juda. Sie war närrisch. Nichts war in ihrem Leib. Hunger vielleicht, das war alles. Sie hatte nichts
gegessen. Bis auf ein paar verspätete Brombeeren, die wie kleine schwarze Sterne am grünen Himmel einer Hecke geleuchtet hatten. Nichts außer Brombeeren seit dem faden, schwabbeligen Fraß vom Vorabend. Pochiertes Ei. Mehr lauwarmes Wasser denn Ei. Aber es würde reichen, sie am Leben zu erhalten. Für heute. Ihr Hunger war jetzt nicht diese Art Hunger. Diesmal nicht. Und niemals wieder. Sie schauderte. Und ging weiter. Beruhigte sich. Sie mußte gelassen bleiben. Und sie mußte ihren Verstand rein halten. Wachsam. Zielbewußt. Um den Maulbeerbaum zu finden, den Maulbeerbaum, den Maulbeerbaum, sich unter ihn zu stellen und zu seinen Früchten von Schnee aufzuschauen. Sie würde warten, ohne Angst vor wilden Tieren, Löwen, Tigern oder Bären, ja, ohne Angst vor Wölfen, sie würde warten, und er würde kommen, sie würde ihre Arme um ihn schlingen, ihm all seine Treulosigkeit verzeihen, denn er war jung und gutwillig, vielleicht hatte er der Versuchung nachgegeben, war schwach. Sie liebte ihn noch immer, liebte ihn noch mehr gerade wegen seine Schwäche, wegen seines kleinen Menschenlebens, das doch nur versuchte, sein eigenes Gewicht sicher durch die Welt zu tragen. Joshua? Thisbe? Josh. So hieß er, Josh. Sie würde seinen Tod verhindern. Es würde kein Blut fließen, das die Schneefrüchte rot verfärbte. Und dann könnten sie sich zusammen niederlegen, hier und jetzt, Seite an Seite, in dieselbe Gruft. Aus ihren Träumen drang ein fernes Motorengeräusch zu ihr. Ängstlich, fast panisch sah sie sich um. Zu ihrer Linken standen Büsche. Sie zwängte sich hindurch. Wie Lebewesen rissen sie an ihren Kleidern. An ihrer Haut. Sie mußte daran denken, wie die Löwin das Leben der armen Thisbe ruiniert hatte. Aus dem Gebüsch sah sie hinaus in den Morgen. Ein Autobus kam auf sie zu, der Motorlärm schrill in der Morgenluft. Am Himmel stieg die Sonne höher. Der rot und
weiß gestrichene Bus war voller Menschen, die alle nach ihr Ausschau hielten, um sie zu ergreifen, sie zurückzubringen zu Schmerz und Erniedrigung. Aber sie würden sie nicht sehen. Sie schob sich tiefer in die Höhle des Gebüschs. Als ihr Vater plötzlich den Einfall hatte, Gärtner zu werden, hatte ihre Mutter etwas von Tagedieben dahergebrummelt, von all den Morgen Land, die sich nach richtigen Nutzpflanzen sehnten, nach Kartoffeln, Kohl, Karotten und Erbsen, doch er hatte sich Bücher und Kataloge kommen lassen und beschlossen, Reihe um Reihe riesiger Sonnenblumen zu pflanzen. Was für eine wunderbare Idee! Reihe um Reihe riesiger Sonnenblumen. Größer als sie selbst, hatten sie ihre wundersamen Gesichter zu ihr herabgeneigt, und sie hatte zu ihnen hinaufgelacht, in ihre wissenden Augen. Doch jetzt konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, ob der Garten jemals angelegt worden war, ob sie wirklich darin herumgelaufen war, ob sie je im goldenen Licht der Sonnenblumen gelebt hatte. Der Bus fuhr vorbei, sie konnte die angespannten, überanstrengten Gesichter sehen; sie nahmen sie nicht wahr, sie waren damit beschäftigt, in die falsche Richtung zu schauen. Nach vorn zu schauen oder mit trüben, blicklosen Augen in ihr eigenes Leben zu schauen. Die Straße erzitterte, als der Bus vorüberdonnerte, dann war er verschwunden. Sie wartete, bis Stille einkehrte. Dann trat sie wieder hinaus auf die Straße. Von Mast zu Mast. Jedesmal rastete sie ein wenig länger als zuvor. Dann war sie zu müde, um sich vor Autos oder Bussen zu verstecken. Und durstig. Die Sonne brannte herab. All der Sand. Allüberall. Und Eidechsen glitten hurtig wie Gedanken über ihre Haut. Ringsum nur Dürre. Irgendwo über ihr setzte ein schrilles Sirren ein. Und die warmen Winde wehten ihr nur Sand ins Gesicht. Sie kniff die Augen zu. Fest. Wenn sie
wenigstens weinen könnte. Sand und Grus aus den Augen spülen könnte. Aus der Seele. Aber sie konnte nicht weinen. Sie war tränenlos. Leer. Sie schüttelte rasch den Kopf und schlug die Augen auf. Setzte sich auf einen Stein am Straßenrand, um sich auszuruhen. Hinter ihr – auf der anderen Straßenseite, jenseits der Täler – ragte wie eine Wohltat die große Pyramidenform eines Berges über der Landschaft auf. Croagh Patrick. Heide, Moor und Stille. Kein Lufthauch, kein Laut von Vogel, Tier oder Mensch. Dies mochte der Urbeginn der Welt sein, dachte sie, oder ihr Ende. Die ganze Schöpfung war wohlwollend, als habe sich die große Krankheit zum Tode niemals festgesetzt im Fleisch der Menschheit. Stille. Ferne. Ruhe. Einen langen Augenblick, einen langen, köstlichen Augenblick lang empfand sie etwas, das Seelenfrieden nahekam. Doch dann vernahm sie das leise Surren eines Motors. Etwas kam die Straße entlang, auf sie zu. Sie schloß die Augen. Sie hatte weder die Zeit noch die Kraft, sich zu verstecken. Sie konnte hören, wie das Fahrzeug abbremste und unweit von ihr am Straßenrand anhielt. Ihr Körper sank in sich zusammen. Jetzt wußte sie, was die Wendung Wenn einem der Mut sinkt bedeutete. Sie wußte, daß sie gleich eine Tür aufgehen hören würde. Schritte. Schwere Schritte. Sie würden näherkommen, dorthin, wo sie saß. Ihr ganzer Körper schwankte in Erwartung der Gefangennahme. Sie schauderte zurück. Sie würde sich in ihrem Innern verbergen, in ihrem Geist, wo sie Zuflucht vor der Welt finden würde. Sie zog sich zurück von der Straße, vom Tag, von der Zeit. Zog sich tiefer in ihre Körperschwere zurück. Hinab ins beruhigende Dunkel einer unterirdischen Höhle. Hinab. Tiefer. Bevor die Hand sie anrühren konnte.
Sechs
Aus dem Fenster fiel Licht auf den unebenen Boden des Hofes. Die Nacht war still, kalt und finster. Drinnen war Patty wie immer vor ihrem Bett niedergekniet und hatte ihr Gebet gesprochen: Abends, will ich schlafen gehn, vierzehn Engel um mich stehn: zwei zu meinen Häupten, zwei zu meinen Füßen, zwei zu meiner Rechten, zwei zu meiner Linken, zweie, die mich decken, zweie, die mich wecken, zweie, die mich weisen zu Himmels Paradeisen. Der Captain war nicht nach Hause gekommen. Patty lag ruhig da, wegen seiner Abwesenheit überkam sie ein Gefühl der Trauer. Heute nacht würde er sehr spät nach Hause kommen, und sehr betrunken. Vielleicht würde er aber auch gar nicht nach Hause kommen, sondern tagelang fortbleiben, dann wäre Nora erschöpft, aber erleichtert. Patty war immer dann am angespanntesten, wenn er gar nicht auftauchte und sie nicht wußte, wann er nach Hause kommen oder in welchem Zustand er sich befinden würde, wenn er es tat. Jetzt gingen ihr die Worte im Kopf herum, wieder und wieder, ohne Unterlaß: die mich decken, die mich wecken, die mich weisen zu Himmels Paradeisen, die mich decken, wecken, weisen, Paradeisen,
weckenweisen, deckendeisen. Nora saß immer noch im Wohnzimmer; dort, im Dunkeln, würde sie bleiben, bis sie sicher war, daß der Captain nicht nach Hause käme, dann würde sie ermattet zu Bett gehen. Patty griff nach der Lampe und löschte das Licht. Sofort legte sich tiefes Dunkel über das Zimmer, auch wenn das Licht in ihren Augen immer noch funkelte und tanzte. Sie rollte sich im Bett zusammen. Eine Weile lange konnte sie nicht einmal versuchen einzuschlafen, sondern horchte gespannt auf die Schritte des Captains draußen auf der Straße oder auf ein aggressiv gegröltes Lied. Dann würde sie das Quietschen des geöffneten Gatters hören und das Klirren des zugeschobenen Riegels. Von da an, das wußte sie, würde der Captain sich bemühen, leise aufzutreten, sich zu beruhigen und sich gegen die Depression, das Schweigen, die stillen Vorwürfe Noras zu wappnen, die im Dunkel auf ihn wartete. Heute nacht jedoch vernahm Patty keines dieser Geräusche. Langsam sank sie in den Schlaf. Ein schwaches Rascheln aus dem Kiefernwäldchen riß sie aus dem Schlaf. Das Schweigen im Zimmer war ein summendes Schweigen. Sie schlug die Augen auf – es war fast pechschwarz. Sie setzte sich im Bett auf und lauschte. Eine Zeitlang hörte sie nichts. Dann ertönte wieder jenes Rascheln, als schleiche jemand heimlich durchs Gehölz. Sie überlegte, ob es der Captain sein könnte, der sich unbemerkt ins Haus zu stehlen versuchte. Das sähe ihm nicht ähnlich. Sie schlüpfte aus dem Bett und zog die Vorhänge ein wenig zurück. Von einem Mond, den sie nicht sehen konnte, kam eine schwache Lichtspur. Die Umrisse der Bäume hoben sich undeutlich gegen die Dunkelheit ab. In den EscalloniaBüschen hinter der Begrenzung des Wäldchens vermeinte sie, eine Bewegung wahrzunehmen. Sie war sich nicht sicher.
Alles war still. Eine Weile blieb sie stehen und spähte hinaus. Doch bald schon merkte sie, daß ihr kalt wurde. Sie ließ die Vorhänge zufallen und ging rasch wieder auf ihr Bett zu. Plötzlich schrie sie auf: Im Nacken verspürte sie einen Schmerz, einen jähen Stich, ebenso tückisch wie der Krampf, der sie am See befallen hatte. Unter dem Ansturm fiel sie vornüber aufs Bett und blieb leise schluchzend liegen. Daraufhin schien der Schmerz rasch in die Schulterblätter hinabzuwandern. Sie richtete den Oberkörper auf und versuchte, Linderung zu finden. Der Schmerz klang ebenso schnell ab, wie er gekommen war, sie zitterte und weinte leise in ihre Hände hinein. Unbeholfen und behutsam stieg sie wieder ins Bett. Nach langer Zeit schlief sie endlich ein, aber es war ein unruhiger Schlaf, in dem sie sich hin und her wälzte. Im Tiefschlaf trat sie mit bloßen Füßen auf eine Straße hinaus, die mit Nägeln und Scherben gepflastert war, und irgend jemand, vielleicht der Captain, vielleicht Nora, irgendjemand rief, winkte und nickte ihr verzweifelt und eindringlich zu, spornte sie an. Sie trat auf die Scherben und Nägel, die ihre Fußsohlen durchbohrten. Doch die Rufe hielten an, die Hand winkte, das ausdruckslose Gesicht flehte. Mit einem Ruck wachte sie auf. Ein Schmerz durchschnitt ihr den Kopf. Sie schlug die Augen auf, und als der Schmerz auf sie einstach, schien die Dunkelheit zinnoberrote Blitze auf sie loszulassen. Sie atmete schwer und gab sich Mühe, die Ruhe zu bewahren. Nicht aufzuschreien. Wieder richtete sie sich im Bett auf und hielt den Kopf in den Händen; vor ihrem Leiden schloß sie die Augen. Der scharfe Schmerz ließ nach und wurde zu einem dumpf pochenden Weh. Sie war überzeugt, wieder dasselbe scharrende Geräusch zu hören, als bewege sich jemand durch die Kiefernnadeln auf dem Waldboden. Sie
fragte sich, ob der Captain zu Hause sei, ob sie zu ihm gehen könne. Als sie vor ihrem Fenster ein schwaches Stöhnen hörte, verkrampfte sich ihr ganzer Körper vor Angst, und mit weit aufgerissenen Augen versuchte sie, das Dunkel zu durchdringen. Es war ein Tierlaut, dachte sie, das Stöhnen eines Tieres, das Schmerzen hatte. Das Stöhnen verstummte. Sie lauschte. Dann kam das Geräusch schneller Atemzüge, ein Seufzen, ein Schluchzen, fast menschlich. Ferne Laute, nahe, wirkliche Laute, und doch Einbildung. Jemand mußte sich verletzt haben und konnte nicht um Hilfe rufen, befand sie. Der Captain? Ein Reisender? Wieder Schweigen. Und die ganze Zeit über pochte dieses dumpfe Weh in ihrem Kopf. Obwohl sie Angst hatte, stand sie auf und näherte sich vorsichtig den Vorhängen. In der Dunkelheit konnte sie nichts erkennen. Es herrschte Stille, bis auf eine sanfte nächtliche Brise, die leise durch die Baumwipfel strich. Sie wartete. Allmählich wich der Schmerz von ihr, wie ein Nebeldunst, der vor dem Morgengrauen aufsteigt. Eine Minute. Zwei. Fünf. Sie hörte nichts. Sie wurde wieder schläfrig. Leise ließ sie die Vorhänge zufallen. Sie ging wieder zu Bett. Sie schlief.
Als sie dem Captain davon erzählte, lachte er sie aus. »Warst du das, Dodgie, der sich nach Hause geschlichen hat?« »Ich? Wann hätte ich mich jemals nach Hause geschlichen?« »Was war es denn dann, Dodgie, vielleicht hat sich jemand weh getan?« »Vielleicht ein Kater, der nach einem Weibchen maunzt?« sagte er. Sie wußte, das war kein Kater gewesen.
»Vielleicht eine Eule, manchmal fliegen die Eulen nachts durch die Bäume und rufen. Machen seltsame Geräusche.« Er ging mit ihr durch das schmale hölzerne Gatter, trat unter die wunderbaren Bäume. Der Duft des Harzes in der Mittagshitze war betäubend. Alles war still, der dämmrige Friede war ungestört. Sie suchten in der Nähe der Büsche gegenüber Pattys Fenster, doch da war nichts, nichts als die Blätter und Kiefernnadeln, die sie im Vorübergehen selber aufscharrten. Sanft zauste er ihr das Haar. »Die Welt ist sonderbar«, sagte er ihr. »Es gibt Tiere, Vögel, alle möglichen Wesen, die nur des Nachts leben und jagen. Sie jagen und töten. Vielleicht kreischt ihre Beute auf, Patty, vielleicht sind sie von der Jagd erschöpft und keuchen. In einer ruhigen Nacht hört man überhaupt nichts, und doch nimmt das Jagen und Töten seinen Fortgang. So etwas wirst du gehört haben, etwas ganz Einfaches. Ich werde Dr. Weir kommen lassen, daß er dich wegen der Kopfschmerzen untersucht, die du immer hast.« Unbesänftigt verließ sie das Wäldchen, schloß das kleine hölzerne Gatter und ging langsam, nachdenklich davon. Sie wußte, daß ihre Mutter manchmal hier spazierenging, die waldige Düsternis einatmete, das fahle Licht genoß und den Duft der Fäulnis, der von der feuchten Erde aufstieg. »Aber nein, Liebling«, sagte sie. »Im Dunkel der Nacht würde ich dort niemals hingehen. Niemals.« Nora harkte die Asche des Kochherds zusammen. Es war heiß und stickig in der Küche, und Patty betrachtete den über den Herd gekrümmten Rücken ihrer Mutter. Dann begab diese sich auf alle viere und wischte seufzend auf. Asche, Saubermachen, Alltagstrott; Holz, zu Flammen, zu Asche, zu Erde, zu Holz, zu… »Warum bist du immer so traurig, Mama?«
Nora stand langsam auf und sah sie an. Sie zögerte einen Augenblick. Dann wischte sie sich die Hände an der Schürze ab. »Es ist etwas in meinem Kopf«, sagte sie leise. »Etwas, das keinen wirklichen Grund hat. Es gibt Dinge in unserem Leben, die wir nicht richtig benennen können, Liebling, aber das heißt nicht, daß es sie nicht gibt. Mein Leiden hat eine Art Namen. Es ist eine Depression. Und ich kann sie nicht abschütteln. Sie ist wie – Wolken. Düstere Wolken, die einen zu Boden drücken. Dodgie nennt es Nerven. Dr. Weir verabreicht mir Tabletten, aber die machen mich nur noch benommener, so daß ich die ganze Zeit schlafen will. Und ich will nicht ins Krankenhaus, man würde mich wochenlang, vielleicht monatelang dabehalten. Und selbst dann könnten sie mich nicht davon befreien.« Sie streckte die Hände aus und zog ihre Tochter näher an sich heran. »Du wirst bestimmt nicht zulassen, daß sie mich in eine Anstalt stecken, nicht wahr, mein Herz? Versprich mir das. Versprich es mir!« Sie zog Pattys Kopf an ihre Brüste und blickte über sie hinweg zum Fenster und zur Waldung dahinter. »Das bißchen Glück, das ich empfinde, ist hier bei dir und Dodgie, in diesem Haus und meiner Liebe zu dir. Das dürfen sie mir nicht wegnehmen. Es ist alles, was ich habe. Es ist das einzige. Du wirst es bestimmt nicht zulassen, mein Herz, nicht wahr?« Patty weinte leise an der Brust ihrer Mutter. »Ich verspreche es, Mama, ich verspreche es«, flüsterte sie.
In dieser Nacht konnte Patty nicht schlafen. Es war warm, und eine sanfte Brise wehte durch die Dunkelheit. Am Himmel standen Sterne. Sie hörte, wie ihre Mutter durch die Diele auf ihr Zimmer ging. Sie hörte, wie sich die Tür öffnete und hinter ihr schloß. Patty blieb liegen und stellte sich die Schluchzer
ihrer Mutter in dieser Kammer vor, ihre Hilflosigkeit, das Gewicht der Traurigkeit, das auf ihr lastete. Bald darauf hörte sie, wie der Captain zur Haustür ging und sie verriegelte, sie hörte, wie er leise zur Hintertür ging; sie hörte die dumpfen Schläge der eisernen Riegel. Sie hörte ihn die Treppe zu seiner schmalen Dachkammer hinaufsteigen. Nora und der Captain schliefen nicht mehr zusammen. Durch die Vorhangspalte gegenüber Pattys Bett fiel ein schmaler Streifen weizengelben Lichts und erfaßte die gegenüberliegende Wand. Sie starrte ihn an, untätig. Sie fragte sich, ob sie jemals wieder schlafen werde. Dann drehte sie sich aus irgendeinem Grund um und blickte zu den Vorhängen. Am Fenster war etwas und beobachtete sie. Sie war davon überzeugt, die Umrisse eines Kopfes zu sehen, zwei Augen, die sie aus dem Dunkel anstarrten, große Augen, grau oder schwarz, erinnerte sie sich später, dachte aber, daß auch ein Hauch Hellgrün von ihnen ausging. Eine Sekunde lang starrte sie zurück in diese Augen, dann schrie sie und schrie, die Augen geschlossen und die Hände an den Kopf gepreßt. Stundenlang glaubte sie, so zu schreien, ehe die Tür aufflog und Nora hereingerannt kam und das Licht anknipste. Patty saß im Bett und zeigte auf das Fenster. »Sch, sch, sch!« flüsterte Nora und nahm sie in die Arme. Der Captain kam in seinem Morgenmantel herein. Patty schluchzte hysterisch und vergrub das Gesicht im Busen ihrer Mutter. »Sie sagt, sie hätte im Fenster ein Gesicht gesehen, das sie angestarrt hat«, erklärte ihm Nora ruhig. Der Captain riß die Vorhänge auf. Da war nichts, nichts Sichtbares außer dem Spiegelbild des hellerleuchteten Zimmers. Er eilte nach draußen; sie hörten, wie er die Hintertür entriegelte, sie hörten, wie er auf dem Kies des Hofs
unter dem Fenster herumlief. Dann kam er wieder ins Haus und verriegelte hinter sich die Tür. »Muß ein Alptraum gewesen sein, Lämmchen«, sagte er, als er wieder ins Zimmer trat. Patty sah zu ihm auf. Nora streichelte ihr übers Haar und flüsterte ihr sachte zu. Ihr Gesicht war bleich und tränennaß. »Das hast du dir eingebildet oder geträumt, das ist alles«, fuhr er fort. »Da draußen ist niemand. Das Hoftor ist geschlossen, das Gatter zum Wald ist geschlossen. Das Fenster liegt hoch. Jemand hätte auf etwas draufklettern müssen, um hereinzuschauen. Es gibt keine Spuren. Da draußen ist nichts.« Patty starrte ihn, immer noch zitternd, an. Sie sagte nichts. Nora legte sie wieder ins Bett. »Manchmal«, flüsterte Patty, »haben Dinge keinen Namen, aber das heißt nicht, daß es sie nicht gibt.« »Ich schlafe heute nacht bei dir, Liebling«, sagte Nora. »Zusammen werden wir einschlafen. Zusammen sind wir sicher, ganz sicher.« Patty schloß die Augen. Ihr Körper schauderte immer noch vor Entsetzen, ihr Gesicht auf dem Kopfkissen sah klein und blaß und hilflos aus. Der Captain schüttelte langsam den Kopf. Vom Leben, von seiner Grausamkeit gegen jene, die am sanftesten, seiner Roheit gegen jene, die am bedürftigsten sind, fühlte er sich gekränkt. Angesichts der beiden leidenden Geschöpfe in seiner Obhut, dieser beiden Menschen, die er auf Erden am liebsten hatte, fühlte er sich hilflos.
Es war früh am Abend. Der Captain stand an der Kreuzung und hielt Ausschau nach dem Bus. Izabel hatte aus Dublin eines ihre kryptischen Telegramme geschickt: »ANVERTRAUT ABENDBUS STOP STOP STOP.« Er war daraus nicht schlau
geworden. Nachdem er Nora und Patty zu Rate gezogen hatte, mutmaßte er, daß eines von Izabels berühmten Weihnachtspäckchen während der Sommermonate Gestalt annehmen würde und daß sie den Abendbus anhalten und es entgegennehmen sollten. Anvertraut. Als der Tag dem Abend wich, war im ganzen Haus ein gewisses Zittern der Erregung zu verspüren. Der Bus erschien über einer etwa drei Kilometer entfernten Hügelkuppe. Er würde ins Tal hinunterfahren und aus den Blicken verschwinden. Dann würde man ihn wieder hören, wie er sich den Hügel zur Kreuzung hinaufquälte, und sein Stöhnen würde eine ungeheure Anstrengung verraten. Wenn er wieder auftauchte, wäre er weniger als einen halben Kilometer entfernt, sein grünes Gehäuse würde von Wellen der Auswanderung und der Heimkehr erzählen, von Markttagen und Pilgerfahrten, von alten Männern, die nüchtern abreisten und berauscht von dem, was sie in der kilometerweit entfernten Stadt vorgefunden hatten, zurückkehrten. Der Captain hob die linke Hand in die Höhe, und der Bus hielt vor ihm an. Er nickte Peter Lyons, dem Fahrer, der verschwitzt und abgekämpft hinter dem Steuerrad saß, aufmunternd zu. Peter grinste den Captain an, und dieser richtete sich an der spröden Schnur seiner Würde auf. Wem wurde da aus dem Bus geholfen? Izabel! »Heilige Mutter meines göttlichen Jesus!« murmelte der Captain. Izabel stand auf dem feuchten, grasbewachsenen Randstreifen, besorgt, weil ihre Füße beinahe mit dem Schlamm in Berührung kamen. Der hemdsärmelige Schaffner, Willie Quinn, grinste ebenfalls, sprang aus dem Bus und verschwand hinter ihm. Während Izabel und der Captain einander über eine weite Entfernung hinweg anstarrten, begann er, die Leiter zum Dachgepäckträger hinaufzuklettern. Nach
einigen Augenblicken kam er wieder hinter dem Bus hervor, tippte grüßend an seine Stirn, zwinkerte dem Captain zu und murmelte: »Captain! Gottlob ein schöner Abend!« Dann hüpfte er fröhlich wieder in den Bus zurück. »Heilige Mutter meines göttlichen Christus, schütze uns!« In vollständigem Schweigen hielten Bruder und Schwester voneinander Abstand. Es war ein Duell, ebenso haßerfüllt wie jene auf Pistolen, die früher unter Bäumen ausgetragen wurden, in den entlegensten Winkeln der Erde, heimlich im Morgengrauen. Ihre Augen verschossen Blicke des Mißtrauens, der Feindschaft, ja, des Hasses; ihre Körper bogen sich voneinander weg, ohne sich von der Stelle zu rühren; das Schweigen zwischen ihnen war tödlich wie Klingen. »Ich bin’s, Cyril. Izabel.« »Ich habe nicht angenommen, daß du die Jungfrau Maria bist!« Sie lächelte ein aus den Tiefen ihrer schwachen Kräfte heraufgezwungenes hartes Lächeln. Sie war kleiner denn je, abgemagert, und versank in einem beigen Kostüm, das ihr weit über die Knie reichte; auf ihrem Kopf saß keck ein schwarzer, pelzbesetzter Hut. Sie war stark geschminkt, mit Gesichtspuder und Lippenstift, der viel zu stark leuchtete für ihr blasses Gesicht. Sie setzte ihre beste Waffe ein. Sie drehte den Kopf zu ihren beiden Koffern und nickte. »Wärst du wohl so freundlich und würdest sie mir hineintragen, Cyril?« »Ach, dann bleibst du also über Nacht, Izabel?« Wieder lächelte sie. »Ich dachte, ich könnte eine Weile dableiben und mich um meine kleine Izabel kümmern.« Der Captain zuckte zusammen. »Nora und ich sind durchaus in der Lage, uns um Patty zu kümmern, danke vielmals. Aber wo du nun schon so weit gereist bist, kannst du gerne die Nacht über bleiben.«
Sie zögerte. Sie wußte eine schlagfertige Antwort. Aber sie hielt sie zurück. Wieder dehnte sich das Schweigen zwischen ihnen wie ein Ballon. Dann gab sie ihm nach, schien zu erschlaffen, schwach und schrumpelig zu werden. Der Captain sah, daß die Cremes und Puder, von denen ihr Gesicht bedeckt war, hier und da richtiggehende Raine bildeten. Der schwarze Pelzhut drückte auf ihr graues, schütteres Haar. Als der Captain ihre Verbitterung über das Leben in der Luft verspürte, wußte er einen Augenblick lang, daß sie ihm eigentlich leid tun müßte, vorzeitig gealtert und gebrechlich, wie sie war. Er war stämmig, rotgesichtig, ein Mann von Welt, ein Mann von Einfluß, der in seinem Haus, in seinem Heim Seligkeit fand. Er sagte nichts, sondern bewegte sich langsam auf ihre Koffer zu. Sie fing an, unmelodisch vor sich hin zu summen, und der Klang tat dem Captain sofort in den Ohren weh. Sie ging vor ihm aufs Haus zu. »Wie geht’s Noreen?« fragte sie ihn über die Schulter hinweg. Er ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Er hob die Koffer an. Sie waren schwer. »Hast du Pflastersteine von Dublins Straßen gemopst, Izabel?« Wie sie so vor ihm dahinschritt, war ihr Rücken gekrümmt. Plötzlich erinnerte sie ihn an einen Schneider, einen Weberknecht im Spätsommer, der sich verzweifelt an eine rauhe Mauerwand klammert und seine letzten erbärmlichen Momente verzittert. Könnte er freundlich zu ihr sein? Könnte er sie dulden, und sei es nur für eine Weile? Sie gab keine Erklärung ab. Sie quartierten sie in der Dachkammer ein. Schwerfällig, unter Protesten, zog der Captain wieder in Noras Zimmer um. Er jammerte und murrte. Sie stand im Gang vor dem Zimmer und zerknüllte ein weißes Spitzentaschentuch zwischen den Händen. Und summte. »Wirst du lange bleiben?« fragte er sie aufgebracht.
»Kommt ganz darauf an, lieber Cyril«, antwortete sie und lächelte leise vor sich hin. Als er endlich fertig war, öffnete sie einen ihrer Koffer und reichte ihm eine Dose DDT. »Streust du das bitte auf die Dielen, Cyril«, bat sie ihn, »und auf den Treppenabsatz. Ich weiß, daß dieses Haus für Kakerlaken das gefundene Fressen ist.« Nora in der Küche stöhnte und versank immer tiefer in dem weichen Schlamm ihres Lebens. Nur Patty blieb in ihrer Gegenwart gelassen, als wüßte sie etwas. Sie war jetzt dreizehn, hübsch, zierlich, ihre Brüste begannen bereits ihre Kleider auszufüllen, ihre Augen waren still und tief, wie Wasser in einer Mulde. Anderntags sandte Nora ihre Tochter zu Conlon, um Lammkoteletts einzukaufen. »Schön dicke Lammkoteletts, Liebling.« »Aber Izabel ißt doch gar kein Fleisch, Mama, schon gar nicht Conlons Hammelfleisch.« Nora lächelte ihr nur zu und sagte nichts. Casimir saß auf einem niedrigen Hocker vor seinem Laden, seine gebrochen weiße Schürze umbauschte ihn. Er las den Independent, Kip Kirby den Meisterdetektiv, Curly Wee und Gussie Goose. Der Reiz der einfachen Reime. Die gewinnenden Bilder. Pelz- und Federnland. »Und wie geht’s meiner kleinen Patty O’Higgins heute?« »Gut, Mr. Conlon, sehr gut, danke.« Casimir sah zu, wie sie den ausgetretenen Boden überquerte. Er bemerkte die jungen Brüste, die Form ihrer Fesseln. Er stülpte die Lippen vor und faltete seine Zeitung zusammen. »Tante Izabel ist bei uns gelandet, Mr. Conlon«, gab sie von sich, um ihn abzulenken. »Und wir hätten gern ein paar von Ihren besten Lammkoteletts, bitte.«
»Ach so, deine Tante Izabel?« Casimir war interessiert. Er betrat sein schummriges Geschäft. Patty sah zu der kuhfladenbraunen Tür hin. »Wie geht es PeeWee, Mr. Conlon?« »Stark wie ein galoppierendes Pferd, die alte Schlampe«, flüsterte er ihr zu, wobei er seine Nase mit der Fingerspitze berührte. »Die wird ewig leben, die alte Kuh.« »Was denn nun, Mr. Conlon, ist sie ein Pferd oder eine Kuh? Sie sollten sich entscheiden.« Aus der Höhle hinten kam das unvermeidliche, unverständliche Gekreische. Casimir, jeder Zoll ein Heiliger, verdrehte die Augen zur Decke. »S’ischt Patty O’Higgins, sie kommt wegen Koteletts«, brüllte er. In dem Zimmer hinten zu kehrte Schweigen ein. »Jetzt wird sie mich ausquetschen«, führt Casimir leise fort, während er mit dem großen Hackbeil auf das Fleisch einhieb. »Also. Deine Tante Izabel. Wie lange wird sie denn nun bleiben?« »Ich weiß es wirklich nicht, Mr. Conlon.« »Gibt’s einen Jahrestag, eine Hochzeit oder dergleichen?« »Nichts dergleichen, Mr. Conlon. Es ist nur ein Besuch.« Casimir wischte sich die Hände an der Schürze ab. Er wickelte die Koteletts in braunes Papier ein. »Sie ischt sehr wohlhabend, höre ich, eure Izabel?« »Sehr wohlhabend, Mr. Conlon. Ein Haus in Dublin, vollgestopft mit Gold.« Er sah sie an. »Dublin. Ja.« Er klang unschlüssig. »Trotzdem, ich glaube, nach ein, zwei Jahren hat man sich an die Großstadt gewöhnt, meinscht nicht auch, Patty?« »Wenn man Schafe über Berghänge gejagt hat, braucht’s womöglich ein Dutzend Jahre, Mr. Conlon.«
Als sie aus dem Laden ging, wußte sie, daß Casimir bereits durch die Diele auf die kuhfladenbraune Tür zueilte.
Sie saßen zu Tisch. Patty war ganz aufgekratzt. Izabel hatte sich, das Taschentuch in der Hand, zurückgelehnt und war auf alles gefaßt. Der Captain saß am Kopfende des Tisches. Wartete. Izabel schniefte. »Würdest du Noreen sagen, daß ich nur eine kleine Scheibe Toast möchte, Izabel, Liebling«, sagte sie. »Aber, aber, Izabel«, schaltete sich der Captain ein. »Heute haben wir die schönsten Scheiben vom Hinterteil eines toten Schafes. Von Casimir Conlons Feinstem. Zerlegt und tranchiert von seiner schönen Hand. Davon mußt du kosten. Du mußt bei Kräften bleiben, solange du bei uns wohnst, weißt du?« Izabel warf Patty einen Blick zu. Sie schniefte erneut. »Du weißt doch, daß ich kein Fleisch esse, Cyril. Und deine Bergschafe sind sowieso viel zu zäh für mich.« Nora kam aus der Küche und stellte eine Schüssel mit Kartoffeln auf den Tisch. Sie dampften wunderbar, die Pellen hingen lose herab und entblößten das schöne, weiße Fleisch. Nora kam wieder und setzte erst dem Captain, dann Izabel einen Teller vor. Auf jedem Teller lag ein großes Kotelett, um dessen Rand eine große Portion gelblich-weißen Fetts wabbelte. Mit Grünkohl… Izabel führte ihr Taschentuch zur Nase. Sie zögerte. Dann wandte sie sich an Patty. »Izabel, Liebling, vielleicht bringst du mir nach dem Essen eine Scheibe Toast mit Butter aufs Zimmer?« Patty nickte niedergeschlagen. Izabel erhob sich umständlich, trat zurück und schob ihren Stuhl unter den Tisch. »Cyril wird mein Stück Fleisch
bestimmt zu seinem tun.« Sie sprach verhalten und ging langsam aus dem Zimmer. Sie schlug die Tür nicht zu. Der Captain grinste. Sie hörten, wie sie die Treppe hinauf auf ihr Zimmer ging. Der Captain griff über den Tisch nach Izabels Teller. »Das ist nicht recht, Dodgie«, sagte Patty leise. »Hach! Einfach bei uns zu landen ohne jede Vorankündigung. Ohne auch nur anzufragen. Und eine Hand so lang wie die nächste, und so reich wie Rockefeller!« »Es ist nicht recht, das ist alles, es ist einfach nicht recht.« Er spießte das zusätzliche Kotelett mit der Gabel auf und zog es auf seinen Teller, wie man einen gefangenen Fisch an Land zieht.
Izabel mußte den Tisch noch einmal beim Abendessen durchstehen. Sie saßen an ihren Plätzen, eingehüllt von einem Nebeldunst aus angespanntem Schweigen. Izabel stocherte an einer Schnitte selbstgebackenen Brots mit Brombeermarmelade herum. Sie hob die Augen nicht vom Teller. Den Rand ihrer Teetasse wischte sie mit ihrem Taschentuch ab; dann nahm sie vorsichtig einen winzigen Schluck zu sich. Nora war verärgert. »Ich habe die Tasse gespült, Izabel!« »Daran habe ich keinen Zweifel, Noreen. Nicht den geringsten Zweifel.« Ärgerlicher denn je schlug Nora erneut zu. »Ich höre, Casimir Conlon hat ein Auge auf dich geworfen, Izabel. Na, wäre das nicht eine gute Partie?« Es entstand eine lange Pause. Die Luft erstarrte zu Glas. »Ein Mann ist eine Bestie und eine Memme«, erwiderte Izabel, wobei sie kaum mehr als flüsterte.
»Casimir hat ein wunderbares Rasierwasser«, stimmte der Captain ein. »Ein Gemisch aus frischem Fleisch, parfümiert mit Innereien.« Izabel ließ ihre Brotschnitte auf den Teller fallen. Sie öffnete den Mund, um zu sprechen. »Ihr seid ekelhaft!« Es war Patty, die mit den Händen auf den Tisch schlug. Sie war den Tränen nähe. »Ihr seid gemein, alle beide, gemein. Ich habe nur gesagt, daß sich Casimir nach Tante Izabel erkundigt hat. Das ist alles. Sonst nichts. Nichts!« »Sch, Kind, sch, es macht nichts.« Izabel beugte sich lächelnd zu ihr. Dann wiederholte sie leise: »Es macht wirklich nichts.« Izabel wandte sich dem beschämten Paar zu und sprach mit fester Stimme: »Ich bin in dieses Haus gekommen, um herauszufinden, was es mit all den Schmerzen und Beschwerden auf sich hat, unter denen Izabel leidet. Sie hat mir davon geschrieben. Ich möchte wissen, ob ich helfen kann.« Nora warf ihrer Tochter einen Blick zu, vor Verzweiflung war ihr Gesicht aschfahl. »Dr. Weir sagt, sie hat leichte Arthritis.« Nora sprach mit bedrückter und unsicherer Stimme und legte das ganze Gewicht von Kummer und Ungewißheit in ihre Worte. »Ich kenne euren Dr. Weir sehr gut, Noreen. Er ist ein Narr. Das Kind ist kaum dreizehn. Sie kann keine Arthritis haben. Und die Krankheit liegt nicht in der Familie.« Patty saß ruhig, mit gesenktem Kopf, da. »Es tut mir leid, Izabel«, murmelte der Captain. »Es tut mir leid. Aber wir haben uns ihretwegen Sorgen gemacht. Der Arzt ist viele Male gekommen. Er sagt, daß sie auch ein bißchen Rheuma hat. Beide zusammen verursachen Gelenk- und Muskelschmerzen und Kopfweh. Er sagt, wir müssen sie aufpäppeln. Ihre Gesundheit festigen. Ihr reichlich Vitamin C
geben. Sonnenschein. Eisen. Und er hat ihr ein schmerzbetäubendes Mittel verschrieben.« »Danke, Cyril, danke.« Izabel war beruhigt und führte das Kommando. Sie richtete sich gerade auf und schien an Körpergröße gewonnen zu haben. Ihre Stimme war fest. Ihr von Schminke befreites Gesicht, obwohl tief zerfurcht und sehr blaß, schien eine Erinnerung an ihre frühere Schönheit auszustrahlen. »Zu meiner Zeit habe ich mehr Leiden gesehen«, brachte sie vor, »als einem Menschen guttut. Ich habe Kinder gekannt, die unter verschiedenen Formen rheumatischer Arthritis litten. Unter keinen Umständen dürft ihr sie zu lange an der Sonne lassen. Ihr müßt ihre Augen schützen, versteht ihr? Ihre Augen.« »Ihre Augen?« fragte Nora zweifelnd. »Ja, Nora, ihre Augen. Und ihr müßt aufhören, ihr Gehirn mit all diesen albernen Geschichten vollzustopfen. Sie hat eine lebhafte Phantasie, eure Tochter, wißt ihr? Ihr dürft ihr den Kopf nicht mit Unsinn füllen.« »Mit Unsinn?« fragte Nora zweifelnd. »Nora, du bist ja ein richtiges Echo hier im Zimmer. Ja, mit Unsinn, genau das habe ich gesagt. Märchen von Wölfen, Hexen, Zaubersprüchen. Du bringst sie noch dazu, Geräusche zu hören, Teufel zu sehen und die ganze Nacht wach zu bleiben. Kein Wunder, daß das Kind Kopfweh hat.« Der Captain sah zu seiner Tochter. Sie weinte lautlos, und Izabel hatte ihr sanft die rechte Hand auf die Schulter gelegt. »Ich kenne eine sehr gute Ärztin«, fuhr Izabel fort. »In Dublin. Ich schlage vor, daß ich Izabel mitnehme und sie gründlich untersuchen lasse. Ein zweiter Befund kann nicht schaden. Ich traue eurem Dr. Weir nicht. Euerm Quacksalber. Von wegen Eisen. Womöglich noch Rhabarber und Brennesseln. Quacksalber. Und Fleisch. Ich glaube, euer
ungenießbares Fleisch fügt dem Kind ungeheuren Schaden zu.« Sie drückte sanft Pattys Schulter. Nora und der Captain schwiegen überwältigt und verwirrt. »Also abgemacht«, fuhr sie fort. »Izabel kommt am Montag mit mir. Zweifellos werdet ihr zwei froh sein, mich loszuwerden. Eine Woche lang kann sie die Schule getrost versäumen. Ich bin sicher, was sie in der Dorfschule lernt, kann sie, wenn sie wieder zu Hause ist, innerhalb von fünf Minuten nachholen. Die Ferien werden ihr guttun. Und ich werde euch telegrafieren, wann ihr sie wieder vom Zug abholen könnt.« Die Mahlzeit ging in fast völligem Schweigen vonstatten. Nora aber hatte das Gefühl, als sei ihr eine Bürde von den Schultern genommen worden, und sie lächelte Patty über den Tisch hinweg zu. Izabel begann mit einigem Appetit zu essen. »Ich trinke gern noch eine Tasse von dem herrlichen Tee, Nora«, sagte sie sodann und träufelte die Worte in die neue Rezeptur. Der Captain aß schweigend weiter, als gehöre er der Welt, die seine Schwester und seine Tochter bewohnten, überhaupt nicht mehr an. Patty lächelte leise in sich hinein und warf ihrer Tante bewundernde Blicke zu.
Dr. Weir klopfte behutsam an die Hintertür. Dann öffnete er, ohne abzuwarten. Nora saß am Küchenherd. Sie hatte angefangen, Schwarz zu tragen, als habe sie sich dafür entschieden, eine alte Frau zu sein. Über ihrem Kleid trug sie eine mit winzigen gelben Sternen übersäte dunkelblaue Schürze; in der Hand hielt sie einen großen hölzernen Schöpflöffel. Der Küchenherd war erloschen. Nora betrachtete ihn geistesabwesend. Sie hantierte mit dem hölzernen Löffel in
der Luft herum, als verrühre sie etwas. Sie schien den Arzt nicht zu bemerken, als er eintrat. Er blieb einen Moment stehen und beobachtete sie. »Hallo, Nora«, sagte er. Sie fuhr zusammen. Der Löffel fiel ihr aus der Hand. Mit hölzerner Wut stieß er klappernd gegen die Herdplatte. Nora schlug die Hände vors Gesicht, als wolle sie schreien. Als sie sich zu ihm wandte, war ihr Gesicht kreideweiß und starr. »Dr. Weir. Willkommen. Ich wollte gerade etwas zubereiten… Ich wollte eben… Gibt’s was Besonderes? Oder ist es nur ein Höflichkeitsbesuch?« »Fehlt Ihnen etwas, Nora?« »Nein, nein, es geht mir gut.« Sie rieb heftig die Hände an ihrer Schürze. Sie ließ den Schöpflöffel auf dem Boden liegen, wo er hingefallen war. Sie begann die Schürze aufzubinden. Ihre Hände wollten ihr nicht gehorchen, und sie zog den Knoten nur noch fester. Sie lächelte töricht, und Dr. Weir trat auf sie zu, um ihr zu helfen. Ihm fiel auf, daß sie noch immer jung war, noch immer hübsch, auf eine traurige, wehmütige Art beinahe schön zu nennen. »Vor ein paar Tagen erhielt ich einen Anruf«, sagte er vorsichtig. »Von eurer Izabel in Dublin. Sie bat mich, heute abend vorbeizukommen. Sagte, sie würde ein paar Tage bei euch wohnen. Weißt du, worum es geht, Nora?« Sie antwortete nicht. Einen Augenblick lang sah sie ihm ins Gesicht, ihr Mund stand offen, als fürchte sie sich davor, was herauskommen mochte, falls sie sprach. Dann brachte sie ihn durch die Küche und die Diele ins Wohnzimmer. Patty saß am Klavier und schlug lustlos diese oder jene Taste an, die Töne klangen wie Regentropfen, die auf Wasserpfützen fallen, das Echo einer nie geschriebenen Musik. Izabel stand gebrechlich und gebeugt am Fenster und blickte hinaus auf den Garten. Sie
stand vollkommen reglos. Der Captain erhob sich von seinem Sessel und begrüßte den Arzt herzlich. Es war dämmrig und trübe im Zimmer, und es herrschte beklommene, lähmende Stille. »Hallo, Miss O’Higgins.« Der Arzt ging geradewegs auf Izabel zu und schüttelte ihr die Hand. In dem schwachen Licht, das aus der Welt draußen einfiel, sahen sie aus wie zwei kleine, unbewaffnete Krieger vor der Gewalt eines mächtigen Alls. Nora murmelte etwas von einer Tasse Tee und zog sich zurück. Sie setzen sich, und Patty gesellte sich zu ihnen, so daß sie um den leeren Kamin einen kleinen Halbkreis bildeten. Es war ein warmer Abend, träge und still. Verlegen tauschten sie einige dahingesagte Artigkeiten aus. Doch selbst diese verloren sich bald. Der Arzt erklärte, Izabel habe ihn von Dublin aus angerufen, und er habe gesagt, er könne Pattys Fall nicht am Telefon erörtern. Und nein, er habe durchaus nichts dagegen einzuwenden, daß Izabel sie zu einer weiteren Untersuchung nach Dublin mitnehme. Er sprach von Arthritis, Eisenmangel, Pubertät, Rheuma. Nora trug ein Tablett mit Tee und Keksen herein. Sie saßen weiterhin beisammen, und wie ein vertrautes Tier ließ sich ein warmes Dunkel zwischen ihnen nieder. »Und was halten Sie von all dem Unsinn, Dr. Weir?« fragte Izabel schließlich. »Von gerissenen Schafen, Geheul und dergleichen? Es scheint die Phantasie der kleinen Izabel geschürt zu haben und bereitet ihr Kopfweh.« Wieder herrschte eine Weile Schweigen. Verwirrt saßen sie da, wie Gespenster in einem gespenstischen Universum. »Ja, irgend etwas richtet in den Hügeln oben Unheil an«, sagte der Arzt leise. »Ich war mit Donal Crowe dort oben, mit Father Crowe, und beide haben wir etwas gespürt, ohne etwas
zu sehen. Außer einem plötzlichen Steinschlag, als habe sich am Berghang etwas geregt.« »Und was haben Sie gespürt, Herr Doktor?« Sie stellte die Frage nur mit einem leisen Hauch von Sarkasmus. »Den Moormenschen!« warf der Captain lachend ein. »Cyril, bitte schweig. Ich spreche mit Dr. Weir.« »Nun.« Der Arzt zögerte. Patty saß mit zusammengedrücktem Körper dicht neben Izabel. Sie schlang ihre Hand durch Izabels Arm. Izabel ergriff ihre Hand. Im Dunkeln bemerkte es niemand. »Fast alle Männer haben dort oben im Laufe der Jahre Schafe eingebüßt, Miss O’Higgins. Und einige behaupten, daß die Zahl der Gemsen im selben Zeitraum zurückgegangen sei. Es hat einen unerklärlichen Raubüberfall auf Pat Larrys Lieferwagen gegeben, das ist wohlgemerkt näher an den Häusern als die Berghänge, und Casimir Conlon behauptet, aus seinem Schlachthaus seien ihm einige Schafe entwendet worden, das ist noch näher.« »Nichts als Diebe und Räuber«, schnaubte Izabel verächtlich. »Vielleicht, Miss O’Higgins, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.« Der Arzt ließ seine Worte unentschieden im Raume stehen. »Und seltsame Geräusche?« bohrte Izabel weiter. »Die kleine Izabel erzählt mir, sie hätte welche gehört und andere auch, und sie ist beunruhigt, wissen Sie? Ist irgendjemand der Sache nachgegangen?« »Wachtmeister Vinnie Scollon hat Zeugenaussagen eingeholt. Ich glaube, er hat auch die Hänge abgesucht, ohne Erfolg. Es ist eine wilde, öde Gegend dort oben, Miss O’Higgins, und sehr weitläufig, die Winde sind scharf, der Boden tückisch, die Klippen lebensgefährlich. In den Felsen gibt es verborgene Höhlen und tiefe Löcher. Jemand könnte abstürzen und für immer verschollen sein. Und auch die Nebel
senken sich plötzlich auf die Hänge herab. Man kann sich da oben nicht allzu lange aufhalten, wissen Sie, besonders nicht allein.« »Über Ihr eigenes Erlebnis wollen Sie sich wohl ausschweigen, Dr. Weir?« »Nun ja, Donal Crowe und ich, wir haben nichts gefunden, nur etwas gespürt, also können wir keinen richtigen Kommentar abgeben.« »Aber wovon reden wir denn nun, Dr. Weir?« beharrte Izabel. »Handelt es sich bei den räuberischen Wesen um Menschen oder Tiere, oder sind es die albernen Hirngespinste einer Handvoll Inselbauern?« »Einen Apotheker und einen Kaufmann können Sie nicht als Inselbauern bezeichnen, Miss O’Higgins. Und mich und Father Crowe auch nicht, will ich hoffen. Sowohl der Apotheker wie der Kaufmann behaupten, sie hätten da oben beinahe den Verstand verloren. Gesehen haben sie allerdings nichts. Sie sagen, sie hätten wohl etwas gehört, eine Art tierisches Geheul, so haben sie’s beschrieben.« Er zauderte. »Wie ein Wolf, haben sie gesagt.« Das Wort fiel mit einem kalten, frostigen Gewicht in das Dunkel des Zimmers. »Hierzulande gibt es schon seit Jahrhunderten keine Wölfe mehr, Dr. Weir, und ich bin mir ziemlich sicher, daß Ihr Apotheker und Ihr Kaufmann den Laut eines Wolfes selbst dann nicht erkennen würden, wenn sie einen hörten. Was für eine Idiotie! Es müßte doch dort oben wilde Hunde geben, meinen Sie nicht? Hat man Spuren gefunden?« »Keine eindeutigen Spuren, Izabel«, äußerte sich der Captain. »Selbst auf dem weichen Moorboden haben sich keine Fährten ergeben, jedenfalls keine Fährten, die sich eindeutig als die eines bestimmten Lebewesens postulieren lassen.«
»Dann eben Vögel«, fuhr Izabel fort. »Bussarde oder Habichte oder Adler. Vom Steinadler weiß man, daß er Säugetiere verschleppt. Aber wenn da überhaupt irgend etwas ist, dann glaube ich noch am ehesten an eine Meute wilder Hunde. Ihre Inselköter, die sich untereinander vermehren. Die wild und wütig geworden sind. Vielleicht sogar tollwütig. Und ausgehungert. So ungefähr.« »Tollwütige, wilde Hunde, Diebe und Räuber, Bussarde…«, brummte der Arzt. »Was immer es ist, es ist überaus seltsam.« Sie verstummten. Im Zimmer war es inzwischen fast vollkommen dunkel. Patty ergriff Izabels Arm. »Es ist nicht gut, daß die kleine Izabel so etwas zu hören bekommt.« Izabel war unnachgiebig. »Sie ist jung und empfänglich, und sie hat angefangen, sich Dinge einzubilden; in einer Atmosphäre des Argwohns und der Unbestimmtheit werden Katzen, Eulen und dergleichen zu wilden, grimmigen Bestien. Und wenn man nicht bei Kräften ist, ist man leicht verstört.« Plötzlich stand Nora auf und schaltete das Licht ein. Die anderen schraken auf. »Es ist Zeit, daß Patty ins Bett geht«, sagte Nora. »Morgen noch die Frühmesse, dann müssen wir ihre Sachen packen, damit für Dublin alles fertig ist. Sie fährt am Montag, zusammen mit Izabel, Herr Doktor. Es ist wichtig, daß sie fährt. Und wir alle sind Izabel sehr dankbar. Zumindest der Tapetenwechsel wird ihr guttun.« Nach Mitternacht klopfte es leise an Izabels Tür. Sie saß, den Morgenrock eng um sich gehüllt, im Erkerfenster und sah hinaus auf eine Landschaft, die im Mondschein wunderbar nackt wirkte. Das Klopfen war so verhalten, daß sie zunächst nicht sicher war, ob sie richtig gehört hatte. Dann klopfte es abermals. Diesmal dringlicher. Leise rief sie: »Komm herein, Izabel, komm herein.«
Patty öffnete die Tür, als verübe sie ein Verbrechen. Sie war im Nachthemd, ihre Füße waren bloß, ihre langes, schwarzes Haar hing ihr lose ins Gesicht. Zuerst sah sie ihre Tante nicht und blieb in der halbgeöffneten Tür stehen, verloren in einer dämmrigen und undeutlichen Landschaft. »Hierher, Liebling«, flüsterte Izabel. Das Zimmer leuchtete im Mondlicht. In ihrem weißen Nachthemd war Patty ein kleiner, zaudernder Geist. Leise schloß sie die Tür hinter sich und bewegte sich lautlos durch das Zimmer auf ihre Tante zu. Izabels Morgenrock, groß und aristokratisch – kaffeefarbene Blumen auf einem cremefarbenen Untergrund –, wirkte an dieser gebrechlichen, alten Frau albern. »Kannst du auch nicht schlafen, Tantchen Izabel?« Ein schmaler, knochiger Arm faßte nach dem Mädchen und zog sie in die Fensternische. Patty setzte sich zu Izabels Füßen auf den Boden. Die ältere Frau spielte zärtlich, ganz zärtlich mit ihrem Haar. Erinnerte sich. »Ich schlafe nicht sehr viel, Liebling. Ich werde langsam alt, weißt du? Ziemlich alt. Und je weniger Zeit im Leben man hast, desto weniger Zeit will man verschlafen. Verstehst du? Und du? Freust du dich auf Dublin?« »Ja, ich bin ganz aufgeregt. Und auch voller Angst. Was wird geschehen, Tantchen Izabel? Werde ich sterben?« »Natürlich „wirst du nicht sterben, du Dummerchen.« Es trat Schweigen ein. Die ältere Frau verströmte einen feinen Duft nach Lavendel und abgestandenem Tee, und in dem jungen Mädchen zu ihren Füßen breitete sich ein Gefühl des Friedens aus. Die Landschaft vor ihnen war in ein sattes Buttermilchweiß getaucht, im Glanz waren Feld und Baumhecke und geduckte Cottages zu erkennen, und weiter dahinter der Silberstreifen des Mondes auf dem Meer.
»Ich will nicht sterben, Tante Izabel. Ich habe Angst vor dem Sterben.« »Du darfst nicht vom Sterben reden, Kind. In Dublin werden wir schon eine Lösung finden, paß nur auf.« Wieder trat Schweigen ein. Die ältere Frau strich dem jungen Mädchen übers Haar. »Ich weiß noch«, sagte Izabel mit tiefer, ganz verhaltener Stimme, »ich weiß noch, vor langer Zeit, als ich noch jünger war, da starb alles rings um mich her. Im Krieg, weißt du? Als Männer einander gedankenlos töteten. Bestien. Irgendwo über der Wüste war ein Mann abgeschossen und ins Krankenhaus geschafft worden, wo ich ihn pflegte. Ich pflegte ihn Tag für Tag für Tag, und als er genesen war, ging er zurück, um weiterzufliegen. Aber er sagte mir etwas, das ich nie vergessen habe. Er war kleingewachsen, Brite, sehr ruhig. Auf seine Weise ein Dichter. Er fliege für sein Leben gern, erzählte er mir immer. Wenn ihre Luftgefechte vorüber waren und er seine Bomben abgeworfen hatte und nach Hause flog, flog er immer ganz allein, so weit und so hoch er konnte. Dann flog er höher, immer höher, immer höher zu den Füßen Gottes hin. Er sagte, er fliege hinaus in eine türkisfarbene Welt, rein und blau, so klar und vollkommen, daß das Blau beinahe silbern sei und das Weiß beinahe golden. Teppich Gottes nannte er es. Teppich Gottes. Die Wolken lagen immer weit unter ihm, sahen weich und flaumig aus und trieben gelassen weiter, so als könne man auf sie herabfallen und für immer in ihrer Umarmung ruhen. Und dann schaltete er stets den Motor aus und ließ sein Flugzeug lautlos durch diese wundersame Welt gleiten, immer weitergleiten. Bald darauf kam das Flugzeug im Sturzflug wieder auf die Wolken zugeschossen, und er jauchzte vor Freude, wenn er plötzlich wieder aus den Wolken auftauchte, und zu seinen Füßen lag die Welt, ein bunter Flickenteppich, so schön, daß es ihm
Tränen in die Augen trieb. Und erst dann ließ er den Motor wieder an und hoffte, diesen Flugzustand beenden zu können. Doch eines Tages konnte er ihn nicht beenden«, fuhr Izabel fort. »Eines Tages, so erfuhr ich Monate danach, verschwand er über den Wolken und ward nie mehr gesehen, als sei er so hoch geflogen, daß die Engel sich seiner erbarmten und den Himmel einen winzigen Spaltbreit öffneten, damit er hineinfliegen könne. Und mir hatte er immer gesagt, er wisse, was es mit dem Sterben auf sich habe, wenn er lautlos durch den blauen Äther über den Wolken gleite, es sei, als trete man aus dem Flugzeug auf luftige Pfade und schreite langsam und friedlich in das Wunder all der ungetrübten Schönheit. Durch den kleinen Spalt im Himmelstor. Und genau das tat er auch, da bin ich mir sicher, so ist er gestorben, im Einklang mit dem Himmel, im Einklang mit der blauen und vollkommenen Welt, die er dort oben vorfand, hoch über allem, was an der Menschheit bestialisch und abscheulich ist. Wunderbar, wunderbar.« Patty lauschte der leisen, fast flüsternden Stimme und war gefesselt. »Das ist aber eine merkwürdige Geschichte, Tantchen Izabel. Du kennst bestimmt eine Menge wunderbarer Geschichten.« »Ich habe Erinnerungen, viele, viele Erinnerungen. Und mein Schweigen. Mein Schweigen werde ich mir stets bewahren. Aber eines Tages, eines Tages werde ich mit dir sprechen.« Und sie drückte ihre Hand sanft auf den Kopf des jungen Mädchens unter ihr. Eine Weile herrschte wieder Schweigen zwischen ihnen. »Was meinen sie damit, daß sich in den Hügeln oben ein Wesen herumtreibt, Tante Izabel?« »Es sind törichte Menschen, Kind, törichte Menschen. Ihre Schafe kommen ihnen abhanden, weil sie nicht landwirtschaften können, es gibt dort oben wilde Hunde oder
Bussarde, oder die Tiere stürzen über die Klippen. Aber sie brauchen einen Sündenbock, jemanden, dem sie die Schuld zuschieben können, denn der Mensch will nicht in seine Seele schauen und die eigene Tierähnlichkeit wahrnehmen. Der Mensch ist ein Tier, ein jämmerliches, aasfressendes Tier, aber er will nichts davon wissen. Sie wollen ihre Torheit einem anderen anhängen. Dann versuchen sie, ihrer Torheit und ihren Ängsten einen Namen zu geben, damit sie sie verabscheuen können, und nennen sie Krieg, nennen sie Moormensch, Bestie oder Wolf.« »Und die Rufe, die ich gehört habe, Tante Izabel, was ist mit denen?« »Psst, Kind, psst, es gibt keine Rufe. Oder aber, wenn du wirklich etwas hörst, dann ist es irgendwelches armes Nachtgetier, eine Eule, ein Fuchs, wer weiß?« »Könnte es ein Wolf sein, Tante Izabel?« »Es gibt keine Wölfe in Irland, schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Der arme Wolf ist eine Kreatur der Nacht und wilder Gegenden, und die Menschen haben ihn noch nie verstanden. Sie haben ihn zur Strecke gebracht und ausgerottet. Es gibt hier keine Wölfe mehr, Kind. Es gibt keine Wölfe mehr.« »Oder Geister, Tantchen Izabel, manchmal fühlt es sich so an, als würden wir von Geistern heimgesucht.« Die ältere Frau lachte nicht. »Auf gewisse Weise werden wir alle heimgesucht, Izabel, wir alle. Wir alle haben unsere Geister. Als ich in Afrika war, habe ich viele Wölfe gesehen. Sie hatten weiß Gott genug zu verschlingen! Aber ich habe sie bewundern gelernt. Ihre Zusammengehörigkeit. Wie sie stets in völliger Eintracht vorgingen, einer mit den anderen. Ein Rudel. Mit eigenen Regeln und Loyalitäten, gegen die kein Mitglied des Rudels je verstieß. Eines Nachts, ich weiß es noch genau, war ich noch sehr spät wach, wie jetzt, Liebling, wie jetzt, und bin bis zur Begrenzung unseres Camps gelaufen. Ich
konnte nicht so gut schlafen, es gab da einen Mann, den ich pflegte… Wie auch immer, ich stieß auf ein Rudel Wölfe, herrliche, grau-weiße Geschöpfe, groß und geräuschlos, wachsam, Herren über ihre Welt. Dort am äußersten Rand der Nacht, als wären sie Teil der Dunkelheit und zugleich Teil des Morgengrauens. Sie erblickten mich, aber ich hatte keine Furcht. Ich stand still und beobachtete sie. Wir beobachteten uns wechselseitig, starrten einander lange an. Sie fürchteten mich nicht, und ich wußte, daß ich nicht ihre Beute war. Dann, wie auf ein Zeichen hin, machten sie alle zusammen kehrt und zogen sich wieder in die Dunkelheit zurück, einander schöne und stumme Gefährten. Sie bewegten sich, wie Wasser sich bewegt, flossen beinahe, so wie Wasser über den Erdboden fließt, flüssig, wie Schatten. Sie bewegten sich voran, fort von mir, und weißt du was? Als sie mich zurückließen, fühlte ich mich verlassen, einsam, verloren, allein. Einen langen Augenblick wollte ich einer von ihnen sein. Aber sie ließen mich allein in einer Welt zurück, die erfüllt war von Haß, Gewalt und Grausamkeit. Ach, mein Kind, das Leiden, das ich miterlebt habe. Männer, die einander zerfleischen, einander sinnlos vernichten, morden, und wozu? Eigentlich wußte es keiner von ihnen. Gemetzel um des Gemetzels willen. Der Mensch sollte keine Angst vor dem Wolf haben, es ist der Wolf, der sich vor der Menschheit fürchtet. Wir sind die Geschöpfe, die gejagt und vom Erdboden vertilgt werden müßten. Wir sind der Fluch Gottes auf Erden.« Das Zimmer füllte sich mit Schweigen. Langsam schloß das junge Mädchen die Augen, ihr Kopf lehnte gegen die Knie der Frau. Izabel saß lange da, lauschte auf den ruhiger und regelmäßiger werdenden Atem des Mädchens, berührte ihr
Haar, berührte die Haut auf ihrem Nacken. Plötzlich war draußen ein schwacher Tierlaut zu hören. Patty war hellwach. »Hast du das gehört, Tantchen Izabel?« »Ich hab’s gehört, Liebling, ich hab’s gehört.« Izabel saß aufrecht in ihrem Stuhl und blickte in die Nacht hinaus. Die Stille wurde nicht durchbrochen. Nichts regte sich. Doch schon bald ertönte der Laut von neuem, ein leiser Klagelaut, der fast so musikalisch klang wie eine tiefe Cellosaite, verführerisch, volltönend, traurig. »Das ist bestimmt der Hund eines Nachbarn«, flüsterte Izabel, »vielleicht hat er sich verletzt, vielleicht heult er den Mond an.« Patty antwortete nicht. Die Welt draußen lag ruhig da, eine Mischung aus sanftem weißem Licht und Schatten. »So wie Wasser sich bewegt«, wisperte Patty, »so wie Schatten sich bewegen.« Und dann vernahmen sie ihn abermals, so leise und traurig, daß sie sich anstrengen mußten, ihn überhaupt zu hören. Und schon war er verhallt. »Ein wunderschöner Laut«, sagte Patty. »Aber er macht mir angst.« Izabel sagte nichts. Ihre Hand ruhte auf dem Kopf des Mädchens. Schon glaubte sie, daß Patty eingeschlafen sei. Der Atem des Kindes ging regelmäßig und schwer. Angestrengt starrte Izabel in die Finsternis hinaus. Alles war ruhig. Reglos. Die nächtliche Welt lag in Frieden da, ein stiller, dunkler Teich, eine mit Wasser gefüllte Mulde unter der kalten Gleichgültigkeit des Himmels. »Schau nur, Tantchen Izabel!« Der plötzliche Aufschrei des Mädchens erschreckte Izabel. Patty hielt der alten Frau ihre beiden Hände vors Gesicht. Die Finger waren angespannt, entstellt und verkrümmt, alt. Durch
die steingraue Haut schienen weiß die Knöchel. Izabel griff nach ihnen und hielt sie in ihren verschrumpelten, aber kräftigeren Händen, sie erkannte die Starre und den Schmerz in den Gliedern des Kindes. »Es tut weh, Tantchen Izabel, es tut weh«, schluchzte das junge Mädchen und schmiegte ihr Gesicht an die Knie der Frau.
Sie fasteten, von Samstag um Mitternacht bis Sonntag nach der Messe. Vor der Kommunion mit dem Herrn kam ihnen nicht ein Krümel über die Lippen, benetzte nicht ein Tropfen Flüssigkeit ihre Zunge. Ein reiner Körper und eine geläuterte Seele sollten den Schöpfer aller Reinheit und Wahrheit empfangen. Die besten Sonntagskleider waren nicht gut genug vor dem Herrn. Gemeinsam verließen sie um neun Uhr das Haus. Es war ein trüber und bewölkter Morgen, die Straße war noch naß von einem Regenguß vor Tagesanbruch. Patty war lebhafter und hüpfte vor ihnen die Straße entlang. »Man könnte annehmen, daß du es gar nicht erwarten kannst, von uns wegzukommen«, beschwerte sich Nora traurig. »Ich könnte es dir nicht einmal vorwerfen. Aber vielleicht werden wir heute alle zusammen fröhlich sein.« Nora ging mit Patty voraus. Es war fast windstill, aber die Luft war kühl und feucht. Izabel lief neben dem Captain und schritt forsch aus, seine Körperfülle paßte nicht zu der schmächtigen, äußerst steifen Gestalt seiner Schwester. Aus Sorge um sie ging er neben ihr auf der Straßenseite und achtete auf etwaige Autos, die sie passieren mochten. Einmal blieben sie stehen und warteten, bis der große Lieferwagen von Pat Larry »The Reek« Dineen vorübergerumpelt war. Er hupte, drei kurze, kummervoll schnaubende Signale, dann war er
auch schon an ihnen vorbei und ließ nur noch eine kleine Abgaswolke zurück, die die Straße entlangschwebte. Um Viertel nach neun begann die große Glocke in dem mit Schallfenstern versehenen Kirchturm zu läuten. Das laute, gebieterische Geläute wurde von der Trübe des Morgens halb verschluckt. Der Captain zog betont auffällig die Mütze und grüßte alle beim Namen. Die Männer hatten sich bereits vor der Kirche versammelt – durch einen gedrungenen Strebepfeiler vom Kirchhof abgeschirmt, standen sie an der Mauer. Sie hatten die Hände tief in den Taschen vergraben, traten von einem Bein aufs andere und unterhielten sich gedämpft. Hier würden sie stehenbleiben und rauchend die letzten Neuigkeiten austauschen, bis sie das Glockenzeichen zur Wandlung hörten. Dann würden sie sich in den hinteren Teil der Kirche drängen, sich in der Tür mit einem Knie auf ein Taschentuch oder eine Mütze knien und ihr Kinn mit großen, roten Händen zum Gebet anhalten. Wenn das Glöckchen zur Kommunion erklang, würden sie die Kirche wieder verlassen, mit denselben roten Händen hastig das Zeichen des Kreuzes über Stirn und Brust machen und einer nach dem anderen wieder ans Tageslicht treten. Sie würden sich wie das liebe Vieh an die Mauer drängen und sich Neckereien ausdenken, die jungen Frauen begutachten, wenn diese aus der Kirche kämen. Ein paar verlegene und peinliche Momente, ihrem Herrn geopfert. Izabel würdigte sie keines Blickes, sondern ging hochmütig an ihnen vorbei, während der Captain einen Moment stehenblieb, um sie zu begrüßen. Er zwinkerte den grinsenden Männern zu, die ihre Zigaretten in den kleinen, braunen Höhlen ihrer Hände verborgen hielten, und folgte seiner Familie in die Kirche. Izabel nahm Patty bei der Hand und führte sie durch den Mittelgang nach vorn, damit sie ihre Plätze in der allerersten Bankreihe einnähmen. Die Frauen
links, die Männer rechts. Nora machte eine Kniebeuge und setzte sich in die erste Reihe links. Sofort setzte sich Izabel, die immer noch Pattys Hand festhielt, in die erste Reihe rechts. Einen Augenblick lang schien sich die ganze Gemeinde dagegen zu sträuben, Augen sahen sich bedeutungsvoll an, Münder bewegten sich lautlos. Patty war niedergeschlagen, doch kniete sie still, mit gesenktem, aber wachsamem Blick, neben ihrer Tante nieder. Der Captain zwängte sich in eine Kirchenbank am hinteren Ende. Er würde sich bald wieder hinausstehlen und vor den Männern draußen spötteln und Witze reißen. Zur Kommunion würde er ans Altargitter treten und danach wieder seinen Platz in der Bank einnehmen, bevor die Frauen sich umwandten und die Kirche verließen. Männer zu Männern. Frauen zu Frauen. Zwischen ihnen der Marmorfußboden des Mittelgangs. Father Crowe spürte die einschüchternde Gegenwart Izabels sofort. Die Augen auf den Priester geheftet, den Mund leicht zusammengekniffen, kniete sie steif und starr in der ersten Reihe. Er war sich der Blicke, die sich in seinen Rücken bohrten, nur allzu bewußt, und ein-, zweimal stolperte er über seine lateinischen Wendungen. Als er sich umdrehte, um seine Gemeinde zu begrüßen, Dominus vobiscum, kam es ihm vor, als spräche er nur zu dieser herausfordernden Frau; es kam ihm vor, als könnte sie während seiner Predigt jeden Moment aufstehen und ihn zur Rede stellen. Er faßte sich kurz und hielt seinen Blick auf die Empore am anderen Ende der Kirche gerichtet. Als er die Hostien austeilte – der Meßdiener neben ihm bewegte sich geübt am Altargitter entlang –, fürchtete er sich vor diesen großen, klaren Augen, die ihn beobachteten, vor dem Mund, der darauf lauerte, ihm die Finger abzubeißen; doch als er bei ihr anlangte, hatte sie die Augen geschlossen und streckte kaum die Zungenspitze zwischen ihren
zusammengepreßten Lippen heraus, so daß er schon befürchtete, das Brot könne herunterfallen. Sie verharrte einen Augenblick mit geschlossenen Augen am Altargitter und ließ sich auch nicht durch die anderen Frauen aus der Ruhe bringen, die ungeduldig darauf warteten, daß sie an die Reihe kämen. Einen Moment lang vergaß Father Crowe weiterzugehen. Casimir Conlons Sonntagsanzug hing an ihm herab, wie ein Außenbordmotor von einem Fahrradsitz hängen würde. Sein Schlips, der von einem alarmierenden Pink war, hatte einen Dauerknoten und baumelte weit unter seinem geöffneten obersten Hemdknopf. Seine Haare, widerspenstig wie das Fell eines irischen Schäferhundes, waren sorgfältig mit Pomade zugekleistert. Wie die Männer in sich hineinglucksten, als sie ihn den Mittelgang der Kirche entlangschreiten sahen! Casimir Conlon trat vor Gott! Wie die Frauen lächelten und leichter die Last ihres katholischen Glaubens trugen, der es vermochte, einen großen Fisch wie Casimir Conlon zu ködern und ihn seinem Sündenmeer zu entreißen! Als die Familie aus der Kirche trat, wartete er auf sie. »Ahm, Miss O’Higgins, nicht wahr?« Mit wildem Lächeln und ausgestreckter Hand ging er auf Izabel zu. Izabel unterbrach ihre Morgenandacht und bot ihm eine zierliche behandschuhte Hand dar. Er schüttelte sie herzlich. »Casimir Conlon ischt der Name. Sie erinnern sich bestimmt? Sie haben sich immer gut mit meiner Mutter verstanden, Mrs. Conlon, die, wo sie Pee-Wee nennen. Sie hat mir Grüße aufgetragen. An Sie. Willkommen daheim, herzlich willkommen daheim.« Der Captain beäugte Casimir mißtrauisch. Er wartete auf eine schneidende und treffende Beleidigung seitens seiner Schwester, die dafür sorgen würde, daß sich dieser dreiste
Hund mit eingezogenem Schwanz nach Hause trollte. Aber Izabel lächelte nur und entzog ihm ihre Hand durchaus nicht. »Mr. Conlon«, legte sie dann los. »Ich höre, Sie haben Kenntnisse aus erster Hand über diesen wilden Hund, der sich oben in den Hügeln herumtreibt?« Casimir, dem schon die nächsten Bemerkungen zum Wetter auf den Lippen schwebten, war vor Verblüffung sprachlos. »Wilder Hund, Miss?« brachte er nach einer Weile hervor. »Ja, ja, ja, dieser wilde Hund, der offenbar Ihre Schafe reißt.« »Das ischt kein wilder Hund, Miss, da bin ich mir sicher. Das ischt kein wilder Hund. Das ischt was viel Größeres und Schrecklicheres als wie ein wilder Hund. Hat mir meine Schafe vor der Nase weggestohlen und mühelos über Moor und Feld geschleppt. Das ischt kein Hund nicht. Das da oben ischt was anderes, Miss, aber ich bin sicher, so genau wollen Sie das gar nicht wissen.« »Wollen Sie’s mir zeigen, Mr. Conlon, wollen Sie’s mir zeigen?« »Zeigen, Miss O’Higgins? Was zeigen, Ma’am?« »Ich möchte, daß Sie mich an die Stelle bringen, wo Sie diese Bestie zuletzt gesehen haben oder wo Sie glauben, daß sie sich aufhält. Wir müssen herausfinden, was es mit alledem auf sich hat.« Casimir blickte ratlos umher und sandte aus der großen Höhle seines Brustkorbs stumme Hilferufe aus. »Also, was ist, Mann? Wollen Sie’s mir nun zeigen, oder muß ich jemand anderen fragen?« In diesem Moment kam Pat Larry Dineen aus der Kirche. Er hatte sein Gebet verrichtet und seine Sorgen im Schoß des Herrn begraben. Auch er kam herbei, um die Besucherin zu begrüßen, und im Gegenzug wurde ihm dieselbe Frage zuteil. Es wurde ausgemacht, daß Pat Larry Casimir und Izabel bis zu den Ausläufern der Hügel fahren würde und dann so weit
den Schotterweg hinauf, wie sein alter Lieferwagen es eben schaffte. Dann würden alle drei bergauf steigen, solange die Klippen und Spalten Miss O’Higgins nicht gefährlich würden. Als der Captain von dem Unternehmen hörte, beharrte er darauf, sich ihnen anzuschließen. »Ich biete meinen Beistand an, immerhin habe ich dieses deutsche Schießgewehr, und man weiß ja nie, vielleicht kann man ein Gewehr da oben gut gebrauchen.« Nach kaum zwei Stunden – das sonntägliche Mittagessen war hastig hinuntergeschlungen worden – begannen die vier von Pat Larrys Lieferwagen aus mit dem Aufstieg. Izabel trug ein Paar Gummistiefel, die Nora gehörten. Sie war in einen Mantel gehüllt, den sie straff umgürtet hatte, und trug eine schwarze Pelzmütze und Handschuhe. So schritt sie furchtlos über das unwegige Terrain. Casimir Conlon hatte sich seiner Sonntagskleider entledigt und durfte sich wieder in seiner alten braunen Strickjacke und seiner Hose aus grober Serge wohl fühlen. Auch er hatte einen Mantel an, dessen Marineblau längst zu Grau verblaßt war. Pat Larry hatte ein Paar Gummistiefel über seine Sonntagshosen gezogen und eine große, weiße Strickjacke über sein Jackett geworfen. Der Captain trug über seinen Watstiefeln einen dunkelgrünen Jagdrock, eine ebenfalls dunkelgrüne Jagdmütze mit Ohrenklappen, die unter dem Kinn zugebunden war, und einen ledernen Patronengurt, der sich auf seinem mächtigen Brustkorb kreuzte. Das deutsche Gewehr hielt er vorschriftsgemäß mit dem Lauf nach unten. Der Aufstieg begann enthusiastisch. Der Tag war noch immer trüb und bedeckt, aber von dem leichten Lüftchen, das vor der Kirche geweht hatte, waren sie durch die Anhöhe hier oben abgeschirmt. Casimir ging ein wenig voraus, er kannte den Weg, war er doch seinen Schafen nachgeklettert. Pat Larry, der hinter ihm lief, war um das Wohlbefinden der Frau besorgt;
der Captain, eifrig, stark und stolz, bildete die Nachhut. Nur vereinzelt äußerten sie einen Satz, etwa um sich darauf aufmerksam zu machen, wie sich der Pfad im Moor verlor oder daß die Heide in atemberaubend voller Blüte stand, ein schmeichelnder Duft, der ihnen heimlich in die Nasen stieg. Der Himmel über ihnen war schwer und verhieß nichts Gutes; nichts war zu hören außer dem Atmen des Windes und dem fernen Gemurmel der See. Bald hatten sie die alte Steinhütte erreicht, an der Casimirs früherer Aufstieg geendet hatte. Da waren nur die herabgestürzten Steine, zwischen denen Brennesseln wuchsen. Von Schafen war weit und breit nichts zu sehen, kein einziges Tier bewegte sich auf den Berghängen. Schweigend liefen sie weiter. Izabel mühte sich, mit den kräftigen Männern Schritt zu halten. Nach einer halben Stunde blieb sie stehen, um zu verschnaufen. Sogleich war der Captain ängstlich-besorgt an ihrer Seite. »Mir fehlt durchaus nichts, Cyril, besten Dank, mir geht es ausgezeichnet. Ich bin schon auf Berge geklettert, weißt du, habe Meere und Wüsten durchquert. Mir ist nur eben ein wenig die Luft ausgegangen.« Sie hatte sich umgedreht und blickte über die Insel hinweg. Schon lag die Welt wie ein exotischer Teppich zu ihren Füßen. Sie atmete tief ein, inhalierte die scharfe Luft. Aufrecht stand sie da, die Gummistiefel an ihren Füßen waren zu groß. Ein paar Augenblicke lang verharrten sie alle reglos und schauten schweigend über die Insel, dann wandten sie sich um und setzten ihren Aufstieg fort. Sie überquerten einen Grat. Rechts unter ihnen sahen sie das Meer, grau und düster, aufgewühlt vom Wind. Als sie auf dem Grat anlangten, schlug ihnen der Wind ins Gesicht, und sie machten abermals halt, schauten sich um und lauschten. Vor
ihnen lag ein kleines, feuchtes, mit Binsen und Heidekraut bewachsenes Tal. Außer ihnen war hier oben keine Seele zu sehen, keine Vögel, keine Schafe, keine Gemsen. Nur der Wind schien hier zu hausen und ungehindert über die Bergwiesen zu streichen. Casimir kletterte weiter, den Rand des Tales hinauf den Hängen zu. Jetzt kämpften sich alle ab, der Captain schnaufte mehr als die anderen, Izabel lehnte sich in den Wind, als könne er ihren schmächtigen Körper emportragen. Sie kletterten vielleicht noch zehn Minuten, dann erreichten sie den nächsten Grat hoch über dem Tal. Plötzlich drehte Casimir sich um und nahm Izabels Arm. »Schauen Sie!« sagte er mit ausgestrecktem Arm. Auf der rechten Seite, am Fuß der fast schieren Hänge, war ein See, der unter dem Himmel vollkommen schwarz, wie gemalt dalag. Er war still und wunderschön, wie er da im Schatten der Berghöhen lag, das Ufer von Farn gesäumt, dazwischen vereinzelte weiße Felsblöcke und ein dünner Streifen Moor, der ihn von weiteren Klippen und vom Meer trennte. »Lake Nakeeroga!« verkündete Casimir stolz. Jetzt gelangten auch die anderen zum Grat, und sie alle blieben eine Zeitlang stehen und besahen sich die wilde Schönheit der Landschaft. Während sie so dastanden, bemerkten sie allmählich einen stechenden Geruch, der mit dem Wind von weither zu kommen schien. Izabel, penibel wie immer, bemerkte ihn als erste. Sie hielt sich ihr Taschentuch vors Gesicht, schüttelte den Kopf und kletterte weiter den Hang hinauf. »Herrgott, was für ein Gestank!« kommentierte Pat Larry. »Irgendwo muß ein toter und verweschter Kadaver liegen«, sagte Casimir.
Als sie sich umwandten, um der Frau zu folgen, und versuchten, einen schmalen Bach zu überqueren, prallte Casimir gegen Pat Larrys Rücken. Pats Fuß versank im weichen Untergrund, das Wasser ergoß sich über den Rand seiner Gummistiefel und schwappte um seine Füße. »Du saudummer Kerl«, schrie er Casimir an und ballte die Faust, um zuzuschlagen. »Ach, ischt doch deine eigene Schuld. Los, geh weiter, Herrgott noch mal!« kam die gezischte Antwort des Größeren. Einen Augenblick lang standen sie da und starrten sich haßerfüllt an, Pat im Wasser, die Fäuste geballt und kampfbereit, Casimir, ihn überragend, auf dem heidebestandenen Huckel. »Was in drei Teufels Namen soll ich eigentlich hier mit euch Holzköpfen?« rief der Captain aus. »Dabei könnte ich mit einem schönen Glas Whiskey in der Hand zu Hause sitzen. Statt mit zwei Streithammeln hier oben in Nässe und Kälte auf die Wolpertingerjagd zu gehen.« »Aha, dir geht’s natürlich nur ums Saufen«, entgegnete Pat Larry. »Vom Saufen brauchst du uns gar nicht erst zu erzählen. Paß nur auf, daß du uns nicht noch ersäufst, so wie ich in diesem blöden Bach, in den mich der verdammte Fleischer hier gestoßen hat!« Vornüber gebeugt, krabbelte er ans andere Ufer des Baches und versuchte, seinen schweren Gummistiefel aus dem Schlamm zu ziehen. Genau in diesem Augenblick stürzte sich Casimir mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Schmächtigeren, so daß alle beide in einem Knäuel von Armen, Beinen und Mänteln in den nassen Graben fielen. Pat Larry gab ein Wutgeheul von sich und holte zu einem wilden Schlag gegen den Fleischer aus. Doch Casimir hatte sich schon wieder aufgerappelt und stützte sich wie ein Sprungbereites Tier auf Hände und Knie. Die Faust sauste
durch die Luft, vorbei an Casimirs Gesicht, und Pat Larry fiel rücklings wieder in die Nässe. »Los, komm schon«, brüllte Casimir ihn an, »los, zeig mir, daß du ein Mann bischt.« Er stand, ein Kraft- und Muskelpaket, über Pat Larry gebeugt, und als der Kleinere jetzt versuchte aufzustehen, stieß er ihm das Knie in die Rippen. Pat Larry stöhnte auf und ging wieder zu Boden. »Steh auf, du dreckiger Gemüsehändler! Steh auf und stell dich! Himmel, den Abdruck meiner Faust wirscht du auf ewig in deinen Eingeweiden spüren.« Als Pat Larry zu seinem Gegner aufsah, verzog sich sein Gesicht zu einer haßerfüllten Grimasse. Er kauerte auf allen vieren, dann taumelte er zur Seite und stand auf. Die Fäuste angewinkelt wie ein Boxer, baute er sich vor dem Fleischer auf und tänzelte langsam um den größeren Mann herum. »So«, zischte er, »wollen wir doch mal sehen, was so ein Fleischer, der arme, hilflose Schafe in Stücke Scheiße zerlegt, ausrichten kann, wenn er sich einem richtigen Mann gegenübersieht. Du und dein vergammeltes Fleisch, ihr stinkt noch viel schlimmer als der Gestank, der hier in der Luft liegt.« »Schluß jetzt!« ertönte da der Ruf des Captains, der immer noch ein Stück weit hinter den beiden stand. Die beiden hielten inne und wandten sich zu ihm um. Zu ihrem Erstaunen sahen sie, daß er sein Gewehr angelegt hatte und auf sie zielte, wobei er den Lauf langsam und stetig erst auf den einen, dann auf den anderen richtete. »Bildet euch bloß nicht ein, daß ich es nicht benutzen würde. Ich kann euch sagen, ich würde es mit Freuden benutzen. Dem ersten, der eine Bewegung macht, schieße ich in die Eier, so wahr mir Gott helfe.«
Plötzlich hörten sie von oberhalb des Grats, näher bei ihnen, als ihnen lieb war, ein hohes Geheul. Unsicher traten sie von einem Fuß auf den anderen und drängten sich angstvoll aneinander. Der Laut war schauerlich, ein Gemisch aus Schmerz und Angst, doch als er allmählich verhallte, wohnte ihm fast etwas Triumphales inne. »Jesses« – das war Casimir –, »das ist der verfluchte Moormensch.« Langsam drehte der Captain den Gewehrlauf in die Richtung, aus der das Geheul gekommen war. Die drei standen da wie die Salzsäulen, unfähig, sich zu rühren. Der Gebirgskamm war leer. Ein Nebel war aufgekommen und hüllte sie unmerklich ein. »Wo ist eigentlich Izabel?« flüsterte Pat Larry. Plötzlich wurde ihnen bewußt, daß die Frau nirgends zu sehen war. Gleichzeitig wurde der Nebel um sie immer dichter, der ekelerregende Gestank, von dem die Luft erfüllt war, schien Teil des Dunstes zu sein, der sie umgab. Lange Zeit sagte keiner etwas. Langsam, aber sicher nahm der Nebel zu und hielt sie gefangen. Die Stille war übermächtig und erdrückend, durch den dichten Nebel drang nur das leise Stöhnen des Windes. »Wo ist Izabel?« flüsterte Pat noch einmal und rückte näher an den Captain heran. Der Captain senkte langsam sein Gewehr und blickte um sich, als sei er soeben aus einem Traum erwacht. »Jesus Christus – was um alles in der Welt geht hier vor?« Casimir drängte sich zu den beiden. Es herrschte Schweigen, eine Mischung aus Vorsicht und größter Verlegenheit. Inzwischen konnten sie in dem hin- und herfließenden Nebel nur noch wenige Meter weit sehen. Während sie so dastanden, hörten sie noch einmal das Tiergeheul, es klang, als werde es von dem Gestank getragen, der mit dem Nebel zog. Diesmal
schien es weiter entfernt und verlor sich in der Ferne. Es dauerte nur einen Moment, doch schwebte es auf und ab wie eine grausige, herzzerreißende Musik. Die drei Männer drängten sich noch dichter aneinander, bis ihre Körper sich berührten. Dann war es wieder still. Plötzlich schrie der Captain: »Izabel! Izabel!« Und dann, etwas leiser: »War das Izabel, die da gerufen hat? In diesem Nebel könnte sie über eine Klippe stürzen. Oder in ein Schlammloch fallen. Wir müssen sie finden. Bleibt jetzt nahe beieinander. Wir gehen auf dem Grat weiter.« Vorsichtig, fast wie Kinder, die sich aneinanderklammern, stiegen sie weiter die Kammlinie hinauf. Sie riefen ihren Namen, brüllten ihn aus tiefster Angst, schleuderten ihn hinaus in die gleichgültige Welt ringsum. Felsblöcke ragten wie mächtige Tiere aus dem Erdboden, aus den Schluchten und kleinen Tälern, die Heidewurzeln waren dick und knotig, Farnkraut verdeckte feuchte Lehmklumpen, Moose und Gräser waren unangenehm dicht, und hier und da gab es rauhes Dorngestrüpp, das mit langen, dünnen Armen nach ihnen griff. Fluchend stolperten sie weiter nach oben, ihre Herzen klopften, die Furcht hielt sie jetzt ebenso gefangen wie zuvor der Nebel. Als sie das Ende des Kamms erreichten, sahen sie, daß der Nebel sich wie eine Wolke auflöste. Allmählich verflüchtigte er sich, und der ihn begleitende Gestank verlor sich. Der Nebel verblaßte zu Schwaden, kleinen Streifen, dann war er verschwunden. Sie standen und warteten. Immer wieder riefen sie Izabels Namen, doch die hohen Bergwände warfen nur ein schwaches Echo zurück, bloß der sanfte Atemhauch von Wind und Nebel war zu hören. Der Himmel klarte rasch auf, und auf dem Meer tief unter ihnen konnten sie eine kleine Decke aus Sonnenschein sehen, die sich über die Wasserfläche legte. Sie warteten und riefen. Bald hatten sie freie Sicht in jede Himmelsrichtung. Von der Frau keine Spur. Der Captain war
verzweifelt und rannte mutlos den Kamm entlang, kletterte hierhin und dorthin und rief nach Izabel. Mehr als drei Stunden lang durchkämmten sie den Berghang nach ihr, wagten sich bis an den Rand der Klippen vor und spähten hinab. Izabel war spurlos verschwunden. Sie schien sich in Luft aufgelöst zu haben, so wie der Nebel sich aufgelöst hatte, so wie der fürchterliche Gestank aus dem Tal abgezogen war, das jetzt in verwirrter und verwirrender Ruhe dalag. Mehrere Tage lang durchstöberten Gruppen von Männern die Gegend nach Izabel. Ein Boot wurde ausgeschickt und kam den Klippen gefährlich nahe. Nirgendwo gab es ein Lebenszeichen, eine Spur von der Frau. Und der Berg blickte schweigend, ungerührt auf all ihre Bemühungen herab.
Sieben
Schritte. Schwere Schritte. Sie kamen näher, dorthin, wo sie saß. Ihr ganzer Körper schwankte in Erwartung der Gefangennahme. Sie zog sich zurück von der Straße, vom Tag, von der Zeit. Tiefer hinab in die Festung, die sie in ihrem Inneren errichtet hatte. Sie kannte ihre gewaltigen Ausmaße – die mächtigen Stockwerke über ihr, unter ihr Fluchten, Gänge, dunkle Gelasse mit verriegelten Türen. Eine innere Burg. Ein Seelenhaus. Als sie aufstand, hatte sie das Gefühl, schon immer unter der Last dieses Hauses gelitten zu haben. Sie wagte es nicht, die erste Treppe emporzusteigen, die breit genug war, daß sie sich auf jeder Stufe ausgestreckt hätte langlegen können. In sanfter Drehung verschwand sie im Dunkel über ihr. Bis auf das schwerfällige Ticken einer Standuhr in einem Alkoven unter der Treppe herrschte überall Stille. Es war eine unbehagliche Stille, um so mehr, als ihre eigenen Ängste und Zweifel, ihre Erschöpfung und ihr Durst in die Luft um sie her zu sprechen und zu flüstern schienen, so daß die Luft, in der sie stand, von den Schwingungen ihres Atems in Schwingungen versetzt wurde. Wie sehr das innere Leben eines Menschen von den Bedürfnissen seines Leibes behindert wird. Die Worte schienen aus dem Staub, der im fahlen Licht eines alten Fensters wirbelte, zu ihr zu dringen, als ob sämtliche Stäubchen sich vereinigt hätten, um diesen Satz zu bilden. Und doch wußte sie, daß sie ihn selbst geäußert hatte, aus dem Schatz an Weisheiten, welcher in der Burg lag, durch die sie sich bewegte.
Irgendwo weit hinter den Mauern und Gängen des großen Hauses schlug eine Tür zu. Sie schrak zusammen. Sie durfte hier drin nicht gefunden werden; sie durfte jetzt nicht gefangengesetzt werden. Heute steht ein Mensch an dieser Stelle, morgen ist er fort. Wie eine kleine Blüte an einem hohen, imposanten Kirschbaum. Wer wird es merken? Oder wen wird es kümmern? Rasch faßte sie einen Entschluß und öffnete in einer Ecke des großen getäfelten Saales eine kleine, unscheinbare Tür. Drinnen war es düster; rohe Betonstufen führten direkt nach unten und krümmten sich unter ihr weg. Handle jetzt, geliebte Seele, denn du weißt die Stunde nicht, in der du davon mußt. Sie trat in die Dunkelheit und schloß leise die Tür hinter sich. Lange blieb sie stehen und wartete darauf, daß das hölzerne Echo erstarb. Wartete darauf, daß ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Dann stieg sie nach unten, die erste Stufe hinab. Etwas hier kam ihr vertraut vor, die schlichten, stumpfen, weißgetünchten Wände, die in der Mitte ausgetretenen Betonstufen, das schwache, aber deutliche Licht, das von den nackten Glühbirnen an den weißgetünchten Wänden hätte kommen müssen; aber da waren gar keine Birnen, da war nur das Licht. Das Gefühl der Vertrautheit, so unbestimmt es war, beruhigte sie. Vorsichtig stieg sie hinab und hielt die Rechte so dicht an die Wand, daß sie sie manchmal berührte. Eine Zeitlang schraubten sich die Stufen sanft hinunter, die Luft wurde kühl, doch das Licht flackerte nicht. Sie war dankbar für die Stille, die hier herrschte, eine Stille, die sie kontrollieren konnte in dem Fall, daß sie das Geräusch ihrer Schuhe auf den Stufen unterband und den Atem anhielt. Du mußt jeden deiner Gedanken und jede deiner Handlungen in die richtige Perspektive rücken, als wäre dieser Tag dein
letzter. Stufe um Stufe, Schritt um Schritt. Hinab; hinab; hinab; regelmäßiger, gleichmäßiger Herzschlag. Schließlich kam sie auf ebener Erde an, ein kleines Gemach ohne Tür oder Fenster, doch selbst hierher schien das trübe Licht. Auch war es hier wärmer. Es gab keine Öffnung. Nur die Stufen hinauf zur Eingangshalle des großen Hauses. Es gab keine Möbel, der Estrich war sauber, frei von Staub, frei von den Leichen von Fliegen, Mäusen oder Käfern. Sauber. Leer. Weiß. Einmal, als ich meine Gebete verrichtete, sah ich mich allein in einem großen Feld stehen, und um mich herum war eine Menschenansammlung, die mich von allen Seiten umstand. Es kam mir vor, als trügen sie alle Waffen, mit denen sie mich angreifen würden: Lanzen, Schwerter, Dolche, Rapiere. Ich hatte keine Möglichkeit zu entkommen, ohne sofort mein Leben zu gefährden, und ich war ganz allein, es gab niemanden, der für mich Partei ergriffen hätte. Ich befand mich in furchtbarer geistlicher Not und wußte nicht, wohin mich wenden, als ich meine Augen zum Himmel erhob und meinen Christus erblickte – nicht im Himmelreich, sondern weit über mir am Himmelszelt. Er streckte Seine Hand aus, um mich zu retten, und ermutigte mich auf eine Weise, daß ich diese Menschen nicht mehr fürchtete, und ich wußte, daß sie mir nichts anhaben konnten, so sehr sie sich bemühten. Sie schüttelte den Kopf, um die Stimmen zu verscheuchen, die, wie sie wußte, nicht wirklich waren, nicht lebendiges Fleisch und Gewebe, sondern ihre eigene Stimme, ihre eigenen Erinnerungen. Hier auf dem festen Boden ihres Schweigens, ihrer Freiheit war sie geborgen und gelöst. Die Liebe hieß mich willkommen; doch meine Seele wich zurück, schuldig am Staub und an der Sünde. Die einzige Gefahr rührte jetzt von ihrer eigenen Seele her, und sie wußte, sollte der Satan selber kommen, so wäre er ein
Geschöpf ihres eigenen Lebens, nicht mehr und nicht weniger. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Estrich. Sehr bald schon ist das Ende deines Lebens nahe; darum mußt du den Zustand deiner Seele bedenken; denn wenn du heute nicht zu sterben bereit bist, wirst du morgen besser gerüstet sein? Morgen ist so unsicher wie dein Atem; wie kannst du dich an morgen klammern? Wenn es ihr gelänge, ihre Seele zu wappnen, könnte sie sich erheben und dem Tag gefaßt ins Auge sehen. Sie schloß die Augen. Ihr gesamter Körper schien von einer sanften Wärme durchflutet. Um sie eine Hülle des Friedens. Ihre Erschöpfung ließ nach. Ihr Körper fühlte sich gewichtlos wie eine Goldfinkfeder an. Sie öffnete die Hände, die auf ihren Knien ruhten, und hob die Handteller zum Himmel. Ja, alles ist gut, alles wird gut sein, alles, alles wird für immer gut sein. Da hörte sie, wie die Tür wieder zuschlug und schlurfend und schlitternd Schritte die Treppe herunterkamen, auf sie zu. Der Satan. Sie wußte es. Und atmete leicht. Furchtlos. Sie lächelte in ihr Dunkel hinein und wartete. Wer wird deiner gedenken, wenn du tot bist? Und wer für dich beten? Handle jetzt, geliebtes Herz. Denn du weißt nicht die Stunde deines Todes, noch kennst du deinen Zustand hinter der Pforte des Todes. Die Worte lagerten sich auf den Fußboden ihrer Burg, tröstliche, identifizierbare, erwiesene Worte. Die Schritte waren lauter geworden; dicht neben ihr hatten sie innegehalten. Dann hörte sie eine Stimme, die sie rief, rief, rief… Sie spürte, wie eine Hand ihre Schulter berührte. Sie seufzte. Wartete.
Acht
Joshua (Josh) MacLean wurde klar, daß er sich jeden weiteren Schlaf aus dem Kopf schlagen konnte. Er stand auf. Es war eine schlimme Nacht gewesen, so schlimm, daß sie ihm stets in Erinnerung bleiben würde. Das Glas Whiskey, das ihm allmählich zur Gewohnheit wurde, hatte ihm jenes Gefühl einer angenehmen Trägheit vermittelt, das eine Nacht des Vergessens verhieß. Jene vorteilhafte Mattigkeit war jedoch sehr schnell verflogen, weil er auf die Toilette mußte. Im Flur war es kalt gewesen, im Badezimmer noch kälter. Josh schloß das Fenster fest gegen die Kälte und gegen die weiße Dunkelheit, die draußen waberte. An den Badezimmerwänden krabbelten mehrere Mauerasseln, er schnippte eine nach der anderen auf den Boden und zertrat sie; bei jedem Tier, das unter seinem Fuß zerquetscht wurde, überlief ihn ein Schauder. Im Schlafzimmer war es am allerkältesten; das Doppelbett war zu groß, als daß es von einer einzigen Person erwärmt werden konnte, und gegen ein Uhr schlotterte er am ganzen Körper und war hellwach. Er stand auf und breitete seinen Mantel über das Bett. Langsam löste sich die Wärme aus der Nacht und durchdrang seinen Körper; er begann zu dösen. Ein leises Kratzen an der Wand weckte ihn wieder auf. Irgendwo regte sich eine Maus, die Geräusche, die sie machte, wurden von der Stille der Nacht nur noch verstärkt. Er versuchte, das Scharren und Schaben nicht zu beachten, aber es war ihm unmöglich; da lehnte er sich aus dem Bett, griff nach einem Pantoffel und warf ihn mit Wucht in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Einen kurzen Augenblick lang war
es still, dann begann das Scharren und Schaben von neuem. Josh richtete sich im Bett auf und drückte den Wintermantel an seine Brust; gab es überhaupt einen Gott, und wenn ja, wie konnte Er so rücksichtslos sein? Das raschelnde Geräusch hielt an. Er stand auf, zog den Mantel über seinen Pyjama und machte sich auf die Suche nach einer Mausefalle. Josh der Mausetöter. Mutiger als ein Huhn. Er befestigte ein Stück Hartkäse am Haken und stellte die Falle vor einen Spalt zwischen Wand und Fußboden. Dann legte er sich wieder ins Bett. Die Maus knisperte und knusperte eine Zeitlang weiter, als äße sie in ihrem Kämmerlein hinter der Wand Zeitungen; dann trat Stille ein. In Joshs Gehirn breitete sich eine dumpfe Benommenheit aus. Erst als die Falle zuschnappte, wurde er ruckartig wach, es klackte, es tat einen Schlag, und er hörte das Bumm-bumm bumm des winzigen Körpers auf dem Boden, dann war es ruhig, ganz ruhig. Im tiefschwarzen Teich dieser Nacht war jetzt nichts mehr zu hören als das Knistern des winterlichen Dunkels draußen und das Summen der Einsamkeit in seinem Schädel. Er machte sich Gedanken darüber, ob ihm die Maus wirklich in die Falle gegangen war, und falls ja, wo es sie erwischt hatte – an der Schnauze, an den Ohren, am Hals oder am Schwanz? Er überlegte, ob sie wohl gelitten habe; geschah ihr ganz recht, schließlich hatte sie ihn am Schlaf gehindert. Er stellte sich die schreckliche Jäheit der Falle vor, den Käse, die Versuchung, die eine seltene Köstlichkeit, ein Geschenk verheißen hatte, und dann – schwupp! Schmerz und Blut, Qual und Tod; der furchtbare Betrug, der Verrat, die Grausamkeit. Wie doch das ganze Leben ein Versprechen ist, das uns lockt, wozu? Schlächterei, Qual und Tod! Josh war wach, hellwach. Er stand wieder auf, zog sich den Mantel über, knipste das Licht an; unter der hölzernen Falle lag tatsächlich eine Maus.
Joshua drehte sie um; sauber hingekriegt! Er hob die Falle mitsamt dem Leichnam auf; der Schwanz hing herab und pendelte hin und her, als er sich bewegte; er ging in die Küche, öffnete den Herddeckel und ließ die tote Maus in das tote Feuer fallen. Am vorderen Ende der Falle befand sich ein Blutfleck; da ließ er auch die Vorrichtung in den Herd fallen. Wieder im Bett, spürte er die Kälte mehr denn je. Er zog sich Socken und einen Pullover an, setzte sich eine Weile in den Sessel und trank noch einen Whiskey. Dann legte er sich wieder ins Bett und versuchte es von neuem; er war ein fest vermummter Eskimo und fischte durch ein winziges Loch im Eis nach Schlaf. Er war Forscher und lag zusammengekauert in seinem Zelt, während die Himalaya-Winde wie eine Herde Schneemenschen über ihm heulten. Die Yeti. Wolfsrudel umschlichen den unerschrockensten aller Forscher. Der Ruf der Wildnis. All so etwas. Der Käse! Was war mit dem kleinen Stück Käse geschehen, das er in der Falle gelassen hatte? Die Frage machte ihm zu schaffen, und er konnte nicht verhindern, daß sie in seinem Kopf rumorte. Er fand das Stückchen Käse auf dem Fußboden nahe der Schlafzimmerwand, brachte es in die Küche und warf es Maus und Falle hinterher. Es war gerade vier Uhr. Er kochte Wasser und machte sich einen starken heißen Grog mit viel Zucker. Dann setzte er sich ins Bett, hielt das Glas vorsichtig in den Händen und trank schlückchenweise vor sich hin. Er empfand Selbstmitleid. Es ist traurig, wenn ein Mann allein schlafen muß. Bei dem Gedanken an den kommenden Tag wurde ihm jetzt schon angst und bange. Wie konnte er der aufgeweckten Fröhlichkeit der Kinder in seinem Klassenzimmer entgegentreten, ihren windgepeitschten Gesichtern, ihren erwartungsvollen Grüßen, ihrem Geschiebe und Gestoße, wenn sie ihm ihre kleinen Neuigkeiten darboten, ihre Zeichnungen,
ihre ausgemalten Bilder? Er würde müde sein, rasch gelangweilt, gereizt. So leicht könnte er ihre kleinen Freuden, ihre Erwartungen, ihre Unschuld zerstören. Sie wie Asseln unter seinen Stiefeln zertreten. Dreißig kleine Jungen waren in seiner Klasse, alle ohne Sünde, ihre erste Beichte stand ihnen erst in ein paar Monaten bevor, der Tag ihrer Erstkommunion mit Sonnenschein und Rhododendron war unfaßlich wie ein Traum. Und er hatte Patty versprochen, am Abend wieder mit ihr zum Amethyststeinbruch am Fuß des Berges hinauszufahren. Als er an seinem warmen Getränk nippte, setzte wiederum ein leises Scharren ein, aber ein andersgeartetes: an der dünnen Scheuerleiste seines Gehirns. Patty. Sie war jung, ja, und hübsch; und sie verbrachten schöne Stunden miteinander. Ja. Aber sie war nicht schön. Nicht – sexy. Und sie war so oft krank. Sie konnte schwierig sein, würde es sein… Und wenn das nun die Liebe war, wenn das nun sein Anteil sein sollte? Hatte er nichts Besseres verdient? War er nicht jung und rege? Er hatte Träume, die Welt war hell und weit, und es gab Orte, wo das Lied König war und das Leben reich und golden. Patty O’Higgins. Die Tochter des Captains. Abgestumpft und schon verwundet. Und am Ende einer holprigen Straße eine kleine Schule, deren Kinder, wie die vogelscheuchendürren Fuchsiensträucher an der Küste, glücklich waren, überhaupt zu existieren und das Kommen und Gehen der Jahreszeiten zu überleben. Ohne sie zu hinterfragen. Ohne Forderungen zu stellen. Auf und nieder hüpften sie wie alte Currachs auf dem immerselben alten Meer. Joshua wußte, daß er in diesem Augenblick zutiefst unglücklich war. Angespannt und in einer Falle gefangen, die er sich selbst gestellt hatte. Er schlief; endlich; unruhig. Es war nach vier Uhr dreißig.
Als sie sich am Abend trafen, war Patty wortkarg und distanziert. Josh war müde. Er holte sie mit seinem Auto ab, einem kleinen, gelben Käfer, auf den er sehr stolz war. Der Captain begrüßte ihn an der Haustür und bot ihm ein Glas Wein an. Nora saß in fast völliger Dunkelheit hinten im Wohnzimmer. Sie rief »Wiedersehen, Liebling«, als sie die Tür hinter ihrer Tochter zuschlagen hörte. Schweigend fuhr Josh über den Hügel zurück, dann die abschüssige Straße ins Dorf hinunter. Er schlug vor, im Village Inn einzukehren. Patty war einverstanden, wenn auch nicht begeistert; sie trank einen Wodka Orange; Josh trank ein Bier. Im Pub unterhielten sie sich kaum, einige wenige Bemerkungen über das Wetter, das Fischen, das Jahr. Der Schankraum war schummrig und verstaubt, der Wirt polierte gedankenverloren seine Gläser und war mit sich selbst beschäftigt, ein Mann saß allein an der Theke und hielt sich an seinem Glas fest. Patty war geistesabwesend und still. Hübsch, ja, wohlgeformt, aber schmächtig, mit den schönsten Augen, die er je gesehen hatte, groß, klar, braun, weit geöffnet. Einmal schmiegte sie sich an ihn an und hielt seinen Arm, er war überrascht und umfaßte sofort ihre Hände, sein Herz schlug schneller – aber, wie er erkannte, eher aus Mitgefühl denn aus Liebe. Sie fuhren weiter, zurück durch das nächste kleine Dorf und die neugebaute Straße hinauf zur Bucht. Hoch oben auf dem Kliff hielten sie an, schauten nach unten über die Bucht, wo das Wasser im späten Sonnenlicht glänzte. Dann fuhren sie weiter bis zum Steinbruch. Josh parkte das Auto an einer grasbewachsenen Böschung. Eine Weile stöberten und stocherten sie lustlos im Geröll herum. Sie fanden nichts. Im ganzen Steinbruch, unter Tonnen grauen, sandigen Schiefers und Gesteins, nicht einmal einen winzigen glitzernden
Edelstein. Patty war entmutigt, sie beklagte sich über die Kälte. Josh war ruhig, verschlossen, leidenschaftslos. Als dann ein leichter Regen fiel, der in geisterhaften Schwaden vom Berghang kam, stiegen sie wieder in den Wagen, blieben nebeneinander sitzen und blickten durch die Fensterscheiben, die schnell beschlugen. Patty kam es vor, als sei der langsam heranziehende Regendunst ein Geschenk des Himmels. Der sie vor der Welt beschützte. Der sie in dem Kokon des Kleinwagens einspann. Josh gähnte laut und lehnte sich unbequem auf seinem Sitz zurück. Aus der Düsternis und Stille des Abends wandte sich Patty schließlich zu ihm. »Josh«, sagte sie ganz ruhig. »Ich weiß, ich bin nicht die schönste Frau der Welt, auch nicht die lebhafteste und aufregendste; fühl dich frei, mich zu verlassen, wann immer du es wünschst.« Josh schaute sie an. Obwohl sie nur seine unausgesprochenen Gedanken beantwortet hatte, war er erstaunt und betrübt. Ihr traten Tränen in die Augen. Schnell streckte er die Hand nach ihr aus. »Niemals, Patty, niemals! Warum sagst du so etwas?« Sie zuckte mit den Schultern und lächelte ihn wehmütig an. »Mir geht es nicht gut, Josh, das weißt du, und manchmal denke ich, daß es mir nie wieder gut gehen wird. Ich möchte nicht, daß du das Gefühl hast, du müßtest dich an mich binden, nur weil du so nett warst, eine Zeitlang mit mir auszugehen. Ich mag dich sehr gern, Josh, aber da ist etwas – ich weiß nicht, etwas…« »Wie geht es Nora?« fragte Josh plötzlich. »Ihr geht es immer gleich, Josh, immer gleich. Und manchmal denke ich, daß es mir auch so ergehen wird, und der Gedanke, daß ich dir eine furchtbare Bürde auferlegt haben könnte, bringt mich um.« Josh protestierte lautstark, sein hübsches Gesicht bemühte sich wie von selbst, Mitgefühl zu zeigen.
»Falls ich jemals den Eindruck haben sollte, daß du nur Mitleid für mich empfindest, Josh, ich glaube, ich würde mich sofort von dir trennen. Mitleid würde ich von dir nicht ertragen, ich will kein Mitleid, verstehst du?« Er war außerstande zu antworten, und sie zog ihn von seinem Sitz zu sich herüber. Sie küßten sich, sanft, auf den Mund, und ihre schmalen Hände streichelten sein Haar. Dann legte er den Kopf an ihre Brüste, und sie liebkoste ihn in der beschlagenen kleinen Höhle des Autos, während die Welt draußen sich beklommen regte. Josh schloß die Augen und spürte, wie sich die Brüste der jungen Frau sachte hoben und senkten. Eine Zeitlang verharrten sie so, friedlich, vertraut, vereint. Zwei Tiere jung und unerprobt, deren Haut sich berührte. Dann sprach sie wieder, sehr sanft, zögernd. »Möchtest du meine Brüste berühren, Josh?« Mit einem Ruck richtete er sich auf. Erschrocken schaute er sie an. Sie lächelte ihm schüchtern zu, ihre Augen waren groß und klar, ihre Unterlippe zitterte leicht. Ihre Unschuld rief sofort Schuldgefühle in ihm wach, und er war froh, daß es im Auto dunkel war. Behutsam und unbeholfen führte er seine rechte Hand an ihre Bluse und berührte sie. Einen Augenblick drückte er mit der Hand gegen ihre linke Brust, sein Magen war trocken und angespannt, schon wurde sein Penis steif. Wieder schaute er ihr in die Augen. Sie hatte sie halb geschlossen, und auf ihrem Gesicht lag ein ruhiges Lächeln. »Die andere auch«, flüsterte sie. Sie atmete tief und seufzte genüßlich auf. Seine Hände bewegten sich mit unendlicher Vorsicht; er bemühte sich, die wachsende Erregung in sich zu unterdrücken. Er ahnte, daß es in dieser jungen Frau etwas gab, das das Beste in ihm hervorzulocken schien, eine Zärtlichkeit, ein Verlangen, Genuß zu bereiten und nicht zu verletzen. Auch er schloß die Augen und genoß den Augenblick, und als er sie
wieder öffnete, hielt sie den Blick auf ihn gerichtet, ihr Gesicht war wunderschön vor Freude. »Du hältst mich doch nicht für schlecht?« fragte sie ihn. »Aber nein«, sagte er, »überhaupt nicht. Du bist wunderbar. Wunderbar.« Einen Augenblick lang hob sein Leben sich ihr fürsorglich, liebevoll, ja sehnsüchtig entgegen. Auf der Heimfahrt sah Patty zu den nebelverhangenen Berglehnen auf. Sie erkannte Schafe, die sich gegen die Nässe aneinanderdrängten. »Wie ich sehe, grasen am Berghang wieder Schafe, Josh. Seit einiger Zeit ist es wieder ruhig.« »Ja«, antwortete er. »Es hat seit langem keinen Anlaß mehr zur Sorge gegeben.« Sie zögerte. »Ja, seit die arme, alte Izabel dort oben verschwunden ist«, sagte sie schließlich. »Als hätte ihr Verschwinden den Berg zufriedengestellt. Inzwischen ist es amtlich, Josh«, fügte sie traurig hinzu. »Ihre Sachen, du weißt, das Haus in Dublin, das alles, ihr Schrankkoffer. Anscheinend hat sie alles, was sie besaß, einem Wohltätigkeitsverein in Dublin überlassen. Eigentlich nur das Haus und die Möbel. Ich glaube nicht, daß sie viel besaß, trotz allem, was wir alle immer geglaubt haben. Aber den Koffer hat sie mir vermacht. Die arme, alte Izabel. Stell dir vor – der berühmte Schrankkoffer, jahrelang irgendwo eingelagert. Und jetzt soll er mir gehören. Irgendwie fühle ich mich für ihr Verschwinden verantwortlich. Selbst nach all diesen Jahren mache ich mir Vorwürfe. Aber die Schmerzen, Josh, habe ich mir nicht eingebildet. Die habe ich immer noch, nur kann ich jetzt etwas besser damit umgehen. Ich werde ein normales Leben führen, nicht wahr, Josh? Nicht wahr?« Er lehnte sich zu ihr und hielt ihre Hand. »Ja, Patty, natürlich. Natürlich wirst du ein normales Leben führen.«
Der Captain fühlte sich wohl. Sehr wohl. Er war ein Kampfhahn mit scharfen Spornen, der ganze Hof in seinem Glanze huldigte ihm. Er mußte etwas tun, etwas tun, um seine Lebenstüchtigkeit zu beweisen, etwas, worauf er selbst stolz sein konnte, etwas, worauf auch die arme Nora stolz sein konnte. Nora war im Krankenhaus. Um sich untersuchen zu lassen. Die arme Nora, wie sie litt! Er kaufte ihr eine Waschmaschine, eine neue. Und einen Herd. Schaffte das alte Vorkriegsmodell aus dem Haus. Stolz überwachte er die Männer, als sie ihn stemmten, schleppten und installierten. Patty strich die Küche in einem hellen, warmen Gelbton an. Der Captain holte die beiden Wollmatten aus dem Wohnzimmer und steckte sie in die Waschmaschine. Erwartungsvoll schaute er durchs Bullauge zu, wie sie schleuderte, stoppte und wieder schleuderte. Oh, er würde großartig dastehen, im angespannten Gesicht seiner Frau ein Freudenfeuer entzünden, wenn sie zur Tür hereinkäme. Er wurde ungeduldig. Die Matten schleuderten und schleuderten. Morgen würde sie nach Hause kommen. Der Tag neigte sich der Dunkelheit zu. Vielleicht würde es regnen. Wie in aller Welt sollte er sie jemals trocknen und in all ihrer Schönheit auf dem Wohnzimmerfußboden vor ihr ausbreiten können? »Es dauert etwa anderthalb Stunden, Dodgie.« Patty lachte ihn aus. »Im See hat Mama das immer in zwanzig Minuten geschafft.« »Also noch etwa eine halbe Stunde.« Er sah durch das Fenster zum Wald hin. »Dauert mir nicht zu lange, eine halbe Stunde zu warten.« Die ersten Regentropfen kitzelten die Außenseite des Fensters. Die Maschine surrte und schnurrte. Durch einen Schlauch spritzte sie Wasser in den Abfluß. Sie schleuderte
und schleuderte. Sie zitterte und tänzelte an ihrem Standort. Der Captain war erschrocken. Dann stoppte sie. Die Matten waren naß, als er sie aus der Trommel holte. Draußen regnete es in Strömen. Vor Enttäuschung fühlte sein Körper sich schwer an. Er würde sie im Schuppen draußen aufhängen in der Hoffnung, daß sie über Nacht trockneten. Als der Captain nach einem Plätzchen suchte, wo er die Matten aufhängen könnte, fiel ihm die alte Mangel ins Auge, die Nora vor Jahren benutzt hatte, um die Wäsche auszuwringen. Er hob und hievte sie aus all dem Gerumpel und stellte sie, ein Trojanisches Pferd, mitten auf den Fußboden. Sein Gott war ihm freundlich gesinnt. Wenn Nora heimkäme, wären die Sachen trocken. Er legte die erste dicke Matte auf eine Seite der Mangel und zog und zerrte ein Ende zwischen die zwei Rollen. Dann ergriff er die Kurbel und begann zu drehen. Widerstrebend rutschte die Matte in die Umklammerung der beiden Rollen, rutschte – und blieb stecken. Der Captain zerrte und zurrte, aber das Ding war zu dick, als daß es durchgepaßt hätte. Er versuchte, die Kurbel in die entgegengesetzte Richtung zu drehen. Die Matte rührte sich nicht von der Stelle. Über eine Stunde verbrachte er damit, zu ziehen, zu drehen und zu zerren; der Schweiß trat ihm auf die Stirn und floß in kleinen Strömen in das Unterholz seiner Brust. Wollfusseln lösten sich zwischen seinen Fingern. Er fing an zu fluchen. Da nahm er einen Schraubenzieher, öffnete die Seiten der alten Mangel, spreizte die beiden Rollen auseinander und entfernte die erschöpfte Matte. Er hielt sie vor sich hin; sie war ruiniert, die Wolle ölverschmiert, zerrissen, zerfetzt, zerschlissen, wie ein Schaf, das eine Stunde im Sturm gestanden hatte und dann in einen Graben gefallen war. Gab es denn keinen Gott? fragte der Captain die Wände seines
Schuppens, keine Gerechtigkeit, keine Fürsorge, keinen Frieden? Er trug die zweite Matte in die Küche zurück. Wenn er jetzt noch den alten Herd hätte, würde die Matte dank der beständigen leichten Hitze trocknen. Er schaltete den Backofen des neuen Gasherds an und legte die Matte hinein. Dann schloß er die Tür und trat zurück. Zehn Minuten, schätzte er, zehn Minuten würden hinreichen, sie so zu trocknen, daß er sie unters Bügeleisen legen konnte. Der Regen schlug und schrie gegen das Fenster. Bald nahm der Captain einen merkwürdigen, jedoch nicht unangenehmen Geruch in der Luft wahr. Dann kringelten sich kleine Rauchsignale aus dem Backofen. Er stürzte hin. Ein gebrochener Mann. Verraten und verkauft. Und hinten im Wohnzimmer konnte man die beiden hellen Flecken sehen, wo so viele Jahre lang die Matten gelegen hatten.
Josh stolzierte wie ein König in seinem winzigen Königreich umher. Seine Untertanen waren kleine Zehnjährige, zumeist lerneifrig, vor sich die ganze Welt. Die ganze Wissenschaft harrte ihrer, wie ein Baum, der voll reifer Äpfel hängt und nur darauf wartet, abgeerntet zu werden. Die Wände standen in voller Blüte – Bilder, Diagramme, Landkarten, Geschichten, Sprachen. Tiere. Der Elefant. Hannibal. Das Pferd. Der Trojanische Krieg. Auch Josh stand in voller Blüte. Liebestrunken. Männlich. Selbstbewußt. »Die Helden eines frühen Krieges, Jungs, stolz wie die Spanier! Äneas, Hektor, Paris, Troilos und all die anderen starken Krieger Griechenlands, sehr laut in der Versammlung, männlich, angriffslustig, hochgewachsen. Allesamt richtige
Männer, Muskelpakete, Draufgänger! Agamemnon, Nestor, Odysseus, Menelaos, die aus dem Fleisch des Krieges Ruhm sogen, Jungs, die an den Knochen der glücklosen Toten nagten und das Mark suchten.« Die Jungen schauten einander an, schnitten Grimassen, senkten die Köpfe. Erwachsene! Dingos. Dodos. Dromedare. Dachse. »Unsere lebenden Freunde, Jungs, das Tierreich. Ihre Welt benachbart, doch undurchdringlich. Verschieden. Anders.« Vögel. Der Brachvogel. Der Baumläufer. Die Bachstelze. Die Blaumeise. »Uns fremd, Jungs, Flug, uns versagt ohne den schwerfälligen Schub des Motors.« Der Wolf. Lupus. Romulus und Remus. Wolfshund. Wölfin. Hund. »Der Wolf. Canis lupus. Hund. Jagdhund. Ein wunderbares Tier. Verkannt. Ein Sündenbock. Sie sprechen vom Wolfshunger, vom bewundernden Wolfspfiff, vom Tier der Wüste und der Ödnis. Aber nein, Jungs, aber nein. Die zwölf Weihnachtstage, gesegnete Tage, sind die Wolfstage. Heilige Kreaturen, Jungs, verkannt und zur Strecke gebracht.« Eine Hand zeigte auf. »MacNamara?« »Die Menschen sagen, der Wolf ist der Hund des Teufels, Sir.« »Das sagen sie, MacNamara, ja, das sagen sie, weil sie den Wolf nicht verstehen. Schau dir mal all die Indianer an, die den Wolf liebten, ihn sogar anbeteten, alles herrliche Krieger, edle Charaktere, die für das Überleben ihrer Stämme kämpften. Kleiner Wolf, Cheyenne. Liegender Wolf, Kiowa. Verrückter Wolf, Seminole. Wolfswaise, Schwarzfuß. Wolfsgesicht, Apache. Seid ihr nicht fasziniert von den Namen, Jungs? Theriophobie, das ist ein Wort. Theriophobie. Angst vor dem
wilden Tier. Angst vor uns selbst, Angst vor dem Bösen in unseren Herzen.« Ratlose Gesichter. Bald darauf eine Hand. »Dempsey?« »Sir, hat ein Wolf die Schafe auf dem Berg gerissen?« »Ein Wolf, Dempsey? Nein, bei uns sind die Wölfe schon lange ausgerottet. Es gibt in Irland keine Wölfe mehr.« »War es dann ein Werwolf, Sir?« Josh zögerte und musterte das ernste Gesicht, fühlte die Spannung, die in der Luft lag, als die anderen Jungen alarmiert aufschauten. »Lykanthropie? Nein, Dempsey, nein. Lykanthropie. Wir alle sind Werwölfe, wir alle, wenn wir die Niedertracht kennen, die in unserem tiefsten Inneren wächst und schwelt, und dennoch nebeneinanderher gehen und leben. In den finsteren Zeiten haben sie Hexen, Zauberer, Werwölfe gejagt, weil die Zeiten finster waren. Jetzt leben wir in aufgeklärten Zeiten, wir wissen alles, wir sind keine Barbaren, wir…« »Was hat dann die Schafe getötet, Sir?« »Und Izabel O’Higgins?« Eine andere Stimme, beharrlich, nachdrücklich. »Wenn ich darauf eine Antwort wüßte, wäre ich dann nicht berühmt? Ich weiß es nicht, Jungs, ich weiß es nicht. Der armen Miss O’Higgins ist irgendein Mißgeschick widerfahren. Ein Loch, eine Grube, eine Klippe. Und die Schafe hat irgendeine Meute wilder Hunde gerissen. So heißt es jedenfalls. Wo waren wir noch stehengeblieben? Tiere, das Pferd. Hippus. Das Trojanische Pferd. Erinnert ihr euch? Das Shire-Pferd, das Clydesdale, der Klepper, das Shetlandpony, das Cleveland Bay…«
Es war tiefster Winter. Die Nächte waren lang, feucht und kalt. Nebelschwaden zogen schweigend, blind und unerbittlich wie Geister über die Insel. Und während sie vorüberzogen, faßten sie mit ihren langen, frostigen Fingern nach jedem Spalt, jedem Riß und jeder Ritze in den Gemäuern von Schuppen, Scheunen und Häusern, rückten wispernd in die wärmsten Ecken der Häuser vor, kratzten mit ihren Nägeln über die Haut der Lebenden und der Sterbenden. Casimir Conlon, mit den Jahren schwer und korpulent geworden, saß in der Küche, vor Langeweile war sein Kopf wie besoffen. Er hatte das Feuer ausgehen lassen, es war ein grauschwarzes Einerlei auf dem Rost, und das einzige Licht, das im Zimmer brannte, war die kleine Ewige Lampe unter dem Herz-Jesu-Bild. Casimirs Sehkraft hatte nachgelassen, weil er im Leben nichts Positives vor sich sah. Seine Seele war von der Einsamkeit bleiern geworden. Grus im Herzen. Nasser Sand im Hirn. Zurückgelehnt, die Beine ungelenk ausgestreckt, saß er auf seinem Holzstuhl, ohne sich und der Welt Beachtung zu schenken. Seine Gedanken trieben dahin, wie winzige Büschel Distelwolle über ein endloses Moor treiben. Seine Augen, blicklos auf die Wand vor ihm gerichtet, waren vor Langeweile glasig geworden. Bald würde er einschlafen, bald, wenn die Mattigkeit seines Körpers so stark geworden wäre, daß er sich gegen das Dunkel der Nacht nicht mehr aufrecht zu halten vermochte. Und plötzlich war er überzeugt, aus den dunklen Weiten der Nacht einen Laut zu hören. Obwohl Jahre dazwischenlagen, erkannte er ihn sofort und saß schaudernd in einer Dunkelheit, in der seine Angst pulste. Er umklammerte seine Knie. Seine Augen waren wieder wach. Und wild. Ein fernes, tiefes, unmenschliches Stöhnen. Oder vielleicht ein aufkommender Wind? Seine Hände lockerten ihre Umklammerung. Es mochte
das erste Aufheulen eines Mitternachtswindes sein. Angespannt hörte er hin. Der Laut ertönte abermals, nicht näher, aber höher, kurz, fast wie ein Schrei. Eine Totenklage. Fast wie ein Ruf. Ohne seinen Kopf zu bewegen, sah Casimir zum Lichtschalter neben der Tür. In der Dunkelheit des Zimmers war dieser kaum auszumachen. Er hatte Angst, sich zu bewegen, falls ihn aus der Finsternis plötzlich etwas ansprang, bevor er den Schalter erreichte. Er fürchtete sich davor, der Nacht seine Existenz preiszugeben. Wie erstarrt blieb er auf seinem Stuhl sitzen. Sein Herz pochte wie wild. Als sich die Küchentür öffnete, stand Casimir auf, als habe eine rostige Sprungfeder in seinem Inneren sich aufzurollen begonnen und zwinge ihn dazu, sich unwillkürlich aufzurichten. Sein Holzstuhl stürzte um und fiel laut klappernd auf die Küchenfliesen. Jeder Fluchtweg war ihm verbaut. Sein Körper war kalt, so kalt, als habe er tagelang unter der Erde gelegen. Erstarrt. Erfroren. Plötzlich sprang Casimir mit einem lauten Schrei auf und schaltete das Licht an. In der halb geöffneten Tür stand Pee-Wee, grau im Gesicht. Das grauweiße Haar, dünn, häßlich und ungekämmt, fiel ihr wie nasse Papierstreifen ins Gesicht. Ihr hellgrünes Nachthemd reichte bis auf den Boden und stand oben offen, so daß die verschrumpelte Haut ihres Halses entblößt war. Fünfzehn Jahre lang hatte sie ihr Bett nicht verlassen. »Hilf mir, Casimir«, rief sie mit schriller, zittriger Stimme. »Hilf mir. Die Banshee… Ich habe die Banshee gehört. Sie ruft nach mir. Die Banshee. Ich bin an der Reihe…« Wie versteinert stand Casimir mitten im Zimmer. Seine Mutter schien größer geworden zu sein, so als habe sie ihren Körper schon seit Jahren nicht mehr zu voller Größe gereckt. Mit offenem Mund stand er da, hob abwehrend die großen
Hände und wandte seinen Körper halb dem Gespenst, halb einem möglichen Fluchtweg zu. Die alte Frau blickte an diesem jämmerlichen Mann, der ihr im Wege stand, bereits vorbei, blickte in einen tiefen Abgrund, den nur sie sehen konnte und der sich endlich vor ihr aufgetan hatte. Der sie nach Jahren aus dem Bett, aus dem Zimmer genötigt hatte, zurück in eine Welt, in der das Leben weiterging. Sie sprach erneut, mit leiser, gebrochener Stimme, als spräche aus ihr bereits ein anderes Dasein. Sie streckte ihm die Hände entgegen und versuchte, in die Küche zu gelangen, in seine Gegenwart, ins Licht, doch das einzige, was sie zustande brachte, waren ruckartige Bewegungen ihrer Hüften und ihres Oberkörpers. »Hilf mir, um Gottes willen, hilf mir, kannst du mir nicht helfen?« Sie jammerte jetzt, jammerte. »Ich kann mich nicht bewegen. Ich bin hier festgewurzelt«, und wieder streckte sie die Arme nach ihm aus, streckte sie aus, und ihre Hände zitterten wie zerbrechliche Zweige in einem rauhen Wind. »Ich kann mich nicht bewegen, Casimir. Meine Hand, sie ist bedeckt mit Blättern, mit alten, braunen Blättern, in meinem Haar nisten Vögel, und sie hacken auf meinen Schädel ein. Sie sind schon in meinem Schädel, Casimir, hilf mir, hilf mir, hmiillllllf…« Ihre Stimme steigerte sich zu einem Heulen. Von neuem schrie sie »Casimir!«, ihr ganzer Körper schwankte und bebte und strebte zu ihm hin. Und dann war alles vorüber. Die Stimme versagte, das Zittern versiegte, ihre Augen waren aufgerissen, weit aufgerissen, und auch ihr Mund, alt und häßlich und ausgetrocknet, war aufgerissen. Sie war verstummt. Tot. Und stand doch. Wie ein Baum. Knorrig. Borkig. Tot. Casimir konnte nicht sagen, wie lange sie so dagestanden hatte. Auch er stand da, hilflos, zu Tode erschrocken. Erst
allmählich spürte er ihre Abwesenheit. Die Dunkelheit hinter den Wänden. Die Leere. Dann fiel die tote Frau langsam, ohne jedes Geräusch, steif und kerzengerade, auf den Küchenboden, und ihr Kopf schlug auf den harten Fliesen auf. Vor allem dieses Geräusch löste den Bann. Er schrie auf, ein Wutschrei gegen die Welt, die sein Leben diesem Anblick ausgesetzt hatte, ein Schreckensschrei in dem Bewußtsein, daß sich ihm angesichts der feindlichen Gegenwart des Todes die Haare sträubten, und dann sprang er hin, um das tote Gewicht seiner Mutter aufzuheben, als wäre sie ein Kleinkind, und trug sie durch die kurze Diele in ihr Zimmer. Er legte sie aufs Bett, verschränkte ihre Hände über ihrer Brust und schlang den Rosenkranz um ihre Finger. Seine eigenen Finger legte er auf ihre Augenlider und drückte sie zu. Er schloß ihren Mund und bettete ihren Kopf auf das Kissen, so daß ihr Kinn auf der Brust ruhte und ihr Mund verschlossen blieb. Mit ihren wenigen Haarsträhnen versuchte er, die violette Strieme auf ihrer Stirn zu verdecken. Er strich die Bettwäsche glatt, öffnete das kleine Fenster und zog die Vorhänge zu. Eine Weile lauschte er in der Erwartung, den langgezogenen Triumphschrei der Banshee zu hören. Aber er hörte nichts, nur das schwache Geflüster der vorbeiziehenden Winde. Er drehte ihren Spiegel zur Wand, sank neben dem Bett auf die Knie und suchte verzweifelt nach ein paar Worten, die als Gebet für sie, und für sich, durchgehen mochten.
In das Haus an der Kreuzung wurde ein Schrankkoffer geliefert. Patty ließ ihn sofort auf ihr Zimmer bringen. Da stand er nun, groß, kompakt und wirklich, alles, was von einem Leben übriggeblieben war, und nichts. Er war dunkelblau und mit Messingscharnieren, Messingstäben und
Schnappschlössern versehen. Zusammengehalten von den Stahl- und Spiralbändern einer Spinne. Eine Schatztruhe aus der Vergangenheit, aus der unwirklichen Welt der Abenteuergeschichten, der Kriege und Wunder. Sie blieb eine Weile auf dem Bett sitzen und schaute ihn an, als erwarte sie, daß er sprechen, sich bewegen oder sich ihr offenbaren würde, ohne daß sie Fragen stellen müßte. Die ausgedehnte morgendliche Leere nahm zu; irgendwo hinter dem Haus schlug ein Hund an, und als Antwort darauf schien die schwüle Luft zu erzittern. Der Moment war erfüllt von Abwesenheit, aufgeladen mit dem Namen Izabel; Izabel Ingrid O’Higgins. Patty blieb noch eine Weile sitzen, ihr Herz war erfüllt von Kummer und Erinnerungen. Als sie aufstand, quietschten die Matratzenfedern leicht. Sie nahm den Schlüssel aus dem Umschlag, der an der Seite des Koffers festgeklebt war, und steckte ihn ins Schloß. Er drehte sich mühelos, mit einem dankbaren Seufzer. Sie klappte den schweren Deckel auf. Auf einem Gewirr von Kleidern lag ein dicker, brauner, von Gummibändern zusammengehaltener Umschlag. Sie nahm ihn heraus und wägte ihn einen Augenblick neugierig in der Hand; dann legte sie ihn auf ihre Frisierkommode. Als sie die Kleider berührte, stand ihr das Bild von Dickens’ Miss Haversham vor Augen. Sie nahm eines nach dem anderen heraus, faltete sie auseinander und breitete sie auf dem Bett aus. Da waren Kleider und Unterröcke, altmodisch, gebrochen weiß, grau oder mattbeige, mit Spitzen und Filigran, kunstvollen Knopfund Bandverschlüssen. Sie rochen nach den Mottenkugeln, die zwischen ihnen gelegen hatten. Leicht beschmutzt. Zart. Unter den Kleidern gab es zwei schwere wollene Morgenmäntel; es gab Strickjacken und drei Paar Pantoffel. All dies legte sie bedächtig, mit ehrfürchtiger Behutsamkeit, auf ihr Bett. Irgendwo im Haus schlug, wie von Geisterhand,
eine Tür, und sie erschrak. Auf dem Grund des Koffers sah sie zusammengefaltete und säuberlich ausgelegte Laken, darauf in mehrere Lagen Zeitungspapier eingewickelte Gegenstände. Mit äußerster Vorsicht wickelte sie jedes Teil aus und stellte es auf den Boden, glättete das Papier, so gut sie konnte, und legte es auf den Teppich. Tassen. Untertassen. Teller. Eine Teekanne. Ein Krug. Eine Kaffeekanne. Besteck. Alles langweilig, uninteressant und alltäglich. Die ergründbaren Zufälle des Lebens. Kaum der Beachtung wert. Sie fragte sich, wozu dieser Aufwand, wozu waren alle diese langweiligen und uninteressanten Sachen verpackt worden? Eine kleine, braune Pappschachtel. Schuhe. Etwas Unterwäsche. Kopfkissenbezüge. Mit einem Gefühl tiefer Enttäuschung hob sie das letzte Laken vom Grund des Koffers. So, das war also alles. Die langweiligsten Sachen beiseite gelegt, für alle Fälle – für welchen Fall? Zur Seite gelegt und aufbewahrt und noch dafür bezahlt, als hätte sie in all den Zimmern und zwischen den Nippsachen in ihrem Haus in Dublin keinen Platz dafür gehabt. Zur Seite gelegt, für welchen Fall? Für den Fall eines Krieges? Exil? Flucht? Um ein neues Leben zu beginnen, mit wenigstens diesen Gegenständen als Stütze? All die Sachen schienen alt, zerbrechlich, ungesund, und Patty wußte, daß sie nie wieder verwendet würden. Sie legte einen Gegenstand nach dem anderen wieder in den Koffer zurück, die Laken, die Kleider, die Schuhe, die Zeitungen und das Seidenpapier, das kleine Heer der Mottenkugeln. Traurig klappte sie den Kofferdeckel zu. Sie hatte nicht gewußt, was sie gewärtigen sollte; so war, was sie jetzt empfand, nur unbestimmtes Mitgefühl; vielleicht hatte sie aus einer exotischen Einbildungskraft heraus auf Schätze gehofft, die Zauber und Geheimnis heraufbeschwören würden, oder vielleicht ferne Stätten, Träume. Doch alles, was hier vor ihr
lag, war Schwermut, Verfall, die tristen und faden Dinge eines tristen und faden Lebens. Sie trug das Besteck und die Tassen in die Küche und stellte sie auf der Anrichte ab. Vielleicht konnte sie sie verschenken. Falls sich jemand dafür interessierte. Fahrendes Volk. Bettler. Vielleicht sogar Kinder, die sie als Zielscheiben auf einer Mauer aufstellen würden. Einen Augenblick lang faßte sie nach den morgendlichen Sonnenstrahlen und beobachtete die Staubkörner im Sonnenlicht, das durch die Escalloniablätter hindurch auf den Boden fiel, dann ging sie langsam wieder in ihr Zimmer. Immerhin war da noch die kleine Pappschachtel. Und der braune Umschlag. Noch war nicht alles verloren. Sie entfernte das Klebeband von der Schachtel und öffnete sie. Sie war klein, kaum größer als eine Zigarettenschachtel; sie trug einen Poststempel: London, 29. März 1950. Name und Adresse waren abgerissen worden. Medaillen. Ein Stück Papier, auf dem stand: »Auf Anordnung des Militärrats beehrt sich der Unterstaatssekretär im Kriegsministerium, die beigefügten Auszeichnungen zu übersenden, die für Dienste während des Krieges von 1939-45 verliehen wurden. Mit den besten Empfehlungen.« Ein amtliches, unpersönliches Stück Papier, das bereits vergilbt und an den Kniffen durchgescheuert war. Patty drehte den Zettel um. Auf der Rückseite wurden die beigelegten Medaillen mitsamt Bändern beschrieben. Der Stern 1939-45, angelaufen und schwer, und das Band, drei gleichmäßige, senkrechte Streifen von Dunkelblau, Rot und Hellblau. »Dieses Band ist so zu tragen, daß der dunkelblaue Streifen am weitesten von der linken Schulter entfernt ist.« Der Afrika-Stern, das Band ein mattes Lederbraun, mit einem senkrechten roten Streifen in der Mitte und zwei schmaleren Streifen, einer dunkelblau und der andere hellblau. Der ItalienStern, die Verteidigungsmedaille, die Kriegsmedaille. Die
dazugehörigen Bänder. Ihr stummes Zeugnis. Patty überlegte, was sie Izabel wohl bedeutet hatten, wenn das alles war, was ihr von diesen Jahren geblieben war, wieviel Schmerz, Schrecken und Tod in diese kleinen Metallstücke eingeflossen war. Patty nahm jede Medaille in die Hand und legte die Bänder daneben. Dann nahm sie alle fünf und hielt sie fest, schloß die Augen und hörte die Gewehre, die Kanonen, die Rufe, die Schreie… Am Himmel dröhnten Flugzeuge, verbreiteten Schrecken. Das knirschende Vorrücken knochenzermalmender Panzer, der tödliche Finger, der zielte und Tod ausspie. Als sie gleich darauf die Augen wieder aufschlug, lagen die Medaillen ruhig da, schwer und alt und getrübt. Zeugen. Izabel inmitten dieses Schreckens. Patty seufzte, legte sie in die Schachtel zurück und stellte diese in die oberste Schublade ihrer Frisierkommode. Greifbare Erinnerungen eines Lebens. Tapferkeit. Mut. Dienst. Und Selbstaufopferung. Sie nahm den Umschlag zur Hand und entfernte ein Gummiband nach dem anderen. Sie zögerte, auch noch dieses letzte Päckchen zu öffnen. Es war ein dicker, einmal geknickter Umschlag. Dann aber machte sie ihn doch auf. Darin befand sich ein Bündel Briefe, das von einem weiteren Gummiband zusammengehalten wurde. Einem braunen. Mehrfach um die Briefe geschlungen. Feines Velinpapier, hellblau, prächtig. Der erste stammte vom September 1945, der letzte vom Juli 1946. Die Handschrift zuerst kräftig und schwungvoll, säuberlich und wunderbar leserlich, obwohl die schwarze Tinte bereits zu einem Dunkelgrau verblaßt war. Mit einem Gefühl freudiger Erwartung setzte sich Patty aufs Bett. Sie strich den ersten Brief glatt und begann zu lesen.
Luton, 18. September 1945 Meine liebste Izabel, so oft in diesen Tagen denke ich an Dich, an Deine feinen, zärtlichen Hände, Dein freundliches, schönes Gesicht, Deine Fürsorge, Deine Pflege. Die Schmerzen sind mir geblieben, wie Du es vorhergesagt hast. Sie treten periodisch auf, und ich sehe einen schwierigen Winter vor mir. Aber für mich war dieser schreckliche Krieg an dem Tag vorbei, als ich aufwachte und Du neben mir saßest. Denkst Du überhaupt noch an mich? Wirst Du an die Adresse schreiben, die ich Dir am Ende dieses Briefes nenne? Schreibe diskret, c/o Mrs. Branson. Sie kennt mich. Sie wird ebenfalls diskret sein. Juliet und die Kinder beengen mich. Körperlich. Räumlich. Du füllst meine Gedanken und meine Gefühle. Die Heimlichtuerei schmerzt mich, Izabel, sie strengt mich an… Ich schiebe meine Schmerzen und Leiden vor und habe ein Zimmer für mich, wo ich allein, getrennt von Juliet, schlafe. Ich bin ganz eins mit mir. Mir ganz im klaren darüber, wie mein Leben zu verlaufen hat. Ich werde wahrhaftig sein, Izabel, trotz allem, ich werde wahrhaftig sein und Dir treu, meine Liebste, bis wir wieder vereint sind. Bitte beklage Dich nicht und mache auch kein Aufhebens, wenn die kleine Sendung bei Dir ankommt. Nimm diese Dinge als Küsse, Umarmungen, Liebesbeweise, die viel größer wären, wenn ich nur für immer mit Dir Zusammensein könnte. Du würdest wirklich meinen Tod herbeiführen, wenn Du diese Sachen nicht annähmst und dich an ihnen erfreutest. Sie zumindest werden in Deiner Nähe sein. Ich umarme dich. Und das allein muß, für den Augenblick, meine Freude sein. Meine Liebe. Schreibe mir. G.
Patty suchte nach der Adresse, die in dem Brief versprochen worden war. Keine Spur davon. Sie legte den ersten Brief aufs Bett; das Papier des nächsten hatte eine feine cremefarbene Maserung, die Tinte war lavendelblau, der Brief sorgfältig gefaltet. Luton, 3. Oktober 1945 Liebling, Dein Brief heute hat mir solche Freude bereitet, daß nur die Engel, die die Auferstehung des Herrn erlebten, sie verstanden hätten! In der Schwermut und Düsternis meiner Tage eine lebenswichtige Blume! Dafür Dank! Du bist in meine Seele eingetreten und hast dort Wurzeln geschlagen, und Du bist zu einer großen, leidenschaftlichen Blume erblüht. Wie ein unverhoffter Lotos in der Wüste. Unserer Wüste, meine Liebe. Ich verzehre mich nach Dir. Ich erleide Todesqualen in meiner Sehnsucht nach Dir. Juliet hat angefangen, mir Predigten zu halten, Tag für Tag für Tag. Sie sagt, ich würde meine Schmerzen übertreiben und sie und die Kinder vernachlässigen. Sie hat natürlich recht, aber was soll ich tun? Wie kann ich Kerzen in der Dunkelheit betrachten, wenn die Sonne vor den Augen meiner Seele heller scheint als je zuvor? Jennie – Mrs. Branson – übergab mir kommentarlos Deinen Brief. Aber sie kennt mein Leben. Und ich konnte es nicht abwarten. Ich öffnete ihn vor ihr, meine Hände zitterten so sehr, daß der Umschlag vor mir auf den Boden fiel. Und mein Gesicht muß wie der Morgenstern geleuchtet haben, als ich dein Wort las: GELIEBTER. Als ich in Bouktoub-bel-Ouhran im Zelt lag, hast Du dieses Wort in meinen Fieberwahn hineingesprochen, und damals führte es mich aus der Hölle des Leidens in das Paradies der Hoffnung. Und jetzt geschieht das gleiche wieder. Danke für dieses
Geschenk, diesen Schatz. Ich hob den Umschlag mit ebensoviel Ehrfurcht auf, als wäre er ein Edelstein; Umschlag und Brief verwahre ich an meinem Herzen und werde es immer tun. Ich flehe Dich an, Liebste… Ich flehe Dich an. Kämpfe deswegen nicht mit mir. Ich würde mehr tun, selbst mein Leben hingeben, wenn uns das zusammenbrächte. Nein, ich habe Juliet nichts davon gesagt, niemandem etwas davon gesagt, und Jennie Branson hat sich einfach weggedreht und mir Zeit gelassen, wieder zu Atem zu kommen. Aber kann ich es aushalten? Kann ich mich noch länger verstellen? Ist es Dir oder Juliet gegenüber fair? Ist es fair mir gegenüber? Und muß nicht Gott selbst erkennen, daß Du und ich zusammengehören? Er wird mir alles verzeihen. Weil es Liebe ist. Liebe. Kämpfe deswegen nicht mit mir. Sag mir, daß Du zustimmen wirst, und sofort werde ich vortreten und meine Seele von ihren furchtbaren Fesseln befreien. Auch Juliet wird sich befreit fühlen. Und die Kinder. Antworte mir, Liebste, und sage ja. Bald, bald, bald. Daß ich zu Dir kommen kann. Mein Herzenswunsch. G. Patty starrte einen Moment aus dem Fenster, ohne auch nur das Geringste wahrzunehmen. Das verblaßte Stück Papier zitterte in ihrer Hand. Kostbar, lebendig, warm. Vorsichtig legte sie den Brief auf den ersten. Ehrfürchtig. Nun der dritte. Wieder blau, schwarze Tinte, die Schrift noch immer schön und kraftvoll.
Luton, 28. Oktober Liebste, schilt mich nicht wegen der Geschenke. Es sind nur meine Arme, die sich nach Dir ausstrecken, um Dich zu umarmen. Es sind meine Gedanken, die sich danach sehnen, bei Dir zu sein, in Deiner Gesellschaft. Ich bin reich, mehr als reich. Ich verdanke Dir mein Leben, mein Leben, und Du sollst für immer so leben, daß Du, wenn schon nicht von meinen Armen, so doch von meiner Fürsorge umgeben bist. Ich werde am 5. November in London sein. Um vier Uhr werde ich Dich sehen! Wie meine Seele und mein Körper vor Freude über diese Aussicht singen! Meine Liebe. All meine Liebe. G. Der nächste Brief, auf schlichtem, weißem, unliniertem Papier,
war beidseitig beschrieben, die Tinte hatte sich durchgedrückt,
und die Handschrift bewegte sich wie ein Flußlauf, flüssig,
aber ungleichmäßig, als wären die Dämme, die sie halten
sollten, gebrochen und hätten dem reißenden Strom erlaubt,
über die Ufer zu treten.
Hotel Clarissa, London, 6. November
Meine Liebste, Liebste, Liebste!
Deine Botschaft! Es war, als hätte ich festen Boden betreten,
der dann unter meinen Füßen explodierte. Als hätte ich den
ganzen Krieg noch einmal durchlebt. Nur schlimmer.
Was für Ängste Du hast, meine Allerliebste! Kannst Du sie nicht alle hinter Dir lassen? Was sind sie schon, verglichen mit der Liebe? Mit unserer Liebe? Allein die Liebe wird die Angst besiegen. Sie ist größer als alles, als Du, als ich, als wir beide. Die Liebe hat das Herz in mir zum Schlagen gebracht, und nur
die Liebe kann es wieder zur Ruhe bringen. Nachdem Du mir das Leben gerettet hast, willst Du mich nun töten? London, wie ich diese Stadt jetzt hasse: ihre Traurigkeit, ihre Trümmer, ihre gebrochenen Knochen, ihre Todesqualen nach all den Jahren der Bombenangriffe. Gestern noch war es ein himmlischer Garten für mich, gefüllt mit blühenden Pfaden und duftenden Lauben, gestern noch betrat ich die Stadt durch goldene Haine. Und jetzt, jetzt ist sie Staub und Verfall, ist Kloake und Stein, und ich kann’s nicht ertragen. Sechs Tage vor Weihnachten werde ich wieder hier sein. Diesmal, meine Allerliebste, Deine Skrupel und Dein Zaudern, Deine Ängste und Befürchtungen, bitte, BITTE! laß sie hinter Dir, nur ein einziges Mal, für einen Tag. Es wird Weihnachten sein, erstmals wieder ein freies Weihnachten, gemeinsam werden wir den Frieden feiern und die Freiheit, ein neues Jahr, die Zukunft. Denke nicht, daß ich zu blind bin, um Deine Ängste zu verstehen, denke das niemals, niemals. Aber unsere Liebe, unsere Liebe, muß das alles überwinden. Oh, laß das neue Jahr UNSER Jahr werden. Schreibe. Laß das neue Jahr… Die Worte endeten abrupt, wie ein Fluß über einer Klippe verschwindet. Patty war erregt. Der Brief zitterte heftig in ihrer Hand. Sie legte ihn zu den anderen und stand auf, um eine Weile im Zimmer umherzulaufen. Draußen drehte sich die Welt, wie sie sich immer dreht, unmerklich, unerbittlich, gleichgültig. Von irgendwo hinter dem Haus kam der ferne Klang von Gehämmer, aber dort, wo sie saß, hallte es sonderbar wider. Als wäre dieses Zimmer die wirkliche Welt und die Welt dort draußen, mitsamt ihren Hammerklängen, eine Geisterwelt. Doch rings um den Koffer in ihrem Zimmer schien solch eine Wolke der Traurigkeit und Leere, des Verlusts und der Zeitlosigkeit zu schweben, daß Patty zitterte, als habe sie Schüttelfrost. Sie fühlte sich außerstande
weiterzulesen. Der Zipfel einer Strickjacke, der aus dem Koffer heraushing, erfüllte sie mit Mitleid für das Leben, das Izabel gehabt hatte. Der Verlust. Die Ängste. Der bleibende Schmerz in ihrer Seele, der sie dazu gezwungen hatte, auf immer einsam zu leben, abgesondert, gemieden. Rasch überflog sie einige der Briefe und hob den letzten auf. Er trug keine Anschrift, kein Datum. Es war ein Stück Papier, das unsanft aus einem Schreibheft, einem Schulheft für Kinder, herausgerissen war, und die Schrift war fast wie die eines Kindes, liederlich, unzusammenhängend, wirr. Meine liebe Izabel, Du hast nicht geschrieben. Jetzt weiß ich, daß alles verloren ist. Ich habe mich an eine dumpfe Lethargie anhaltenden Schmerzes gewöhnt. Ich bedaure es, daß ich jemals aus meiner Ohnmacht aufgewacht bin und Dich fand. Ich bedaure es, daß ich überhaupt wieder ins Leben zurückgekehrt bin. Ein Tag scheint nicht mehr auf den anderen zu folgen, mein Leben versickert. An nichts um mich herum finde ich Interesse. Ich bedauere, daß ich vom Schlachtfeld errettet worden bin. Ich habe in einem schrecklicheren Krieg gelitten. Ich kann nicht länger an die Wahrheit der Liebe glauben. Ich kann kaum noch glauben, daß es Dich gibt, daß es Dich je gegeben hat, daß außer Schmerz je etwas existiert hat. Es gibt keinen Gott. Es gibt nur den Schmerz. Und doch habe ich die Liebe gekannt, und ich habe erfahren, wie das Leben hätte verlaufen können. Ich verstehe, glaube mir, ich verstehe wirklich. Ich kann Deine Ängste nicht akzeptieren, aber Du weißt, daß ich sie verstehe. Danke für Deine Worte, Deine Wünsche, Deinen Rat. Wir ziehen von hier fort und werden im September in Italien sein. Das Geschäft läuft jetzt auch ohne mich. Juliet ist überzeugt, daß meine Nerven während des Krieges stark mitgenommen wurden, und ist freundlicher zu mir geworden, als ich
vertragen kann. Meine Kinder behandeln mich mit Distanz, als ob ich irgendein Verrückter wäre, irgendein Fremder, mit dem sie nichts zu tun haben wollen. Ich habe die Waffen gestreckt, ich habe alle meine Träume aufgegeben. In Italien werde ich, das weiß ich, die Ruhe des Abends finden. Ich erwarte nichts mehr. Ich werde weniger hinnehmen. Wisse, daß ich Dich immer lieben werde. Immer. Liebe Du auch mich. Vielleicht gibt es eine bessere Welt. (Ich glaube, wir haben für eine solche Welt gekämpft.) Vielleicht werden wir uns in einer besseren Welt wiederbegegnen. Auf diese Möglichkeit, Gott steh mir bei, freue ich mich schon jetzt. Möge Dein Gott, liebe Izabel, freundlich zu Dir sein für die Opfer, die Du dargebracht hast. Stets der Deine. G. Die Briefe bildeten ein kleines Häufchen auf dem Federbett. Patty legte den letzten obenauf, nahm sie dann langsam alle in die Hand und steckte sie wieder in den Umschlag. Sie war in sich zusammengesunken. Wie nie zuvor war Izabel hier bei ihr im Zimmer anwesend. Patty war die einzige, der sie ihr Herz ausgeschüttet hatte, eine Welt der Liebe und der Leidenschaft, der Schmerzen und Träume, der Verdrängung und des Verlusts. Die große Wunde im menschlichen Herzen. Sie fühlte sich gedemütigt, aber auch darin bestärkt, ihrer eigenen Zukunft ins Auge zu sehen. Sie brachte den Captain dazu, den Koffer nach draußen zu tragen, zu dem Aschenhaufen hinter den Schuppen. In den Koffer, genau in die Mitte, zwischen all die Kleider, Laken und Kissenbezüge, hatte sie die Bündel zusammengerollter Zeitungen gelegt. Sie fand sie und das Seidenpapier, überschüttete sie mit Petroleum und zündete sie an. Dann legte sie die restlichen Kleider darauf und trat einen Schritt zurück.
Hastig verschlangen die Flammen alles, was von diesem Leben übriggeblieben war, zunächst lautlos. Gemächlich, fast widerstrebend stieg schwarzer und grauer Rauch in den Mittagshimmel auf. Als aber auch die Holzrahmen und die Leinwandseiten Feuer fingen, setzte ein lautes Knistern ein, wie hurtiges, wichtigtuendes Geplapper. Patty ging so nahe heran, wie sie konnte, und warf den großen, braunen Umschlag mit Izabels Briefen mitten ins Feuer. Einen Augenblick lang schien es mit einer strahlend hellen Flamme zu brennen. Bald konnte sie hinter den Koffer treten, und mit dem Griff einer Harke drückte sie den Deckel zu. Wieder stiegen Rauchschwaden auf, und dann geriet auch der Deckel in Brand. Kurz darauf stand, wie ein Skelett, nur noch der geschwärzte Metallrahmen in den Flammen, dem Rauch und den Funken. Und dann sackte auch dieser auf die kleine Matratze aus Asche; Patty bildete sich ein, daß er einen leisen Seufzer der Erleichterung ausstieß, als er in sich zusammensank. Alle paar Tage trieb der Bomber Tuite sein Vieh auf die unteren Weiden des Berges. Mike-Joe Tuite war ein kräftiger Mann, kräftig und langsam. Von den Heidewinden und von seinen tiefsten Gedanken war sein Gesicht gedunkelt. Wie seine schwerfälligen Kühe bewegte er sich mit ruckartigen, ungleichmäßigen Schritten; jeder Schritt war überlegt, als wolle der Bomber prüfen, ob er auch wirklich der Anstrengung wert sei, jeder Gruß auf dem Weg eine hingegrunzte Klage. Sein schwerer Stock prallte mit stumpfer Entschiedenheit auf die schmutzverkrusteten Hinterteile der Kühe. Das Haus des Bombers war ein Stall, wo er allein zwischen Geheimnissen wohnte, die kein Nachbar oder Inspektor je ergründet hatte. Wenn er am frühen Abend rauchend dasaß, wären seine Gedanken es wert gewesen, in ein System gebracht zu werden, mit dem sich der übereilte Optimismus
des 20. Jahrhunderts dämpfen ließ. Aber über die sechste Klasse der Grundschule war er nie hinausgekommen, und so bewegten sich seine Gedanken hierhin und dorthin, von den Winden verweht, die vom unbeständigen Ozean herkamen und in jede Richtung umsprangen. Prince, der Hund des Bombers, war wild, knurrte gern und fletschte gern die Zähne. Das treue Tier war des Bombers einziger verläßlicher Lebensgefährte. Der Hund (ein Auge braun und ein Auge grau), seine Handvoll Kühe und vor allem seine Schafe, die sich auf den oberen Hängen des Berges herumtrieben, machten das Leben von Mike-Joe »The Bomber« Tuite aus. Und an Winterabenden die schummrigeren Ecken des Pubs und das Gefühl der Erleichterung, wenn er fast betrunken war. Er schloß das Gatter zum unteren Feld und begann den langsamen Aufstieg zu den höher gelegenen Hängen. Durch die Zähne pfiff er den Hund herbei und lachte über die Freude des Tieres, als es über den sumpfigen Grund, die Moose, Quecken, Schlammlöcher und Grassoden, sprang. Der Bomber stapfte hinterdrein, seine Gummistiefel platschten und quatschten in der Nässe, und auf dem allzu weichen Boden war sein schwerer Stock ihm kaum eine Hilfe. Aber die Sonne schien hell, das Jahr war jung, in der klaren Luft hing die Schärfe des Lebens. Heute kletterte Bomber Tuite fast ohne zu denken; sein Gehirn war eine fast vollkommene tabula rasa, sein Körper auf den Boden, auf sein Atmen, auf den sichersten Weg konzentriert. Je höher er stieg, desto mehr breitete sich die Welt wie ein Wunder unter ihm aus; doch Bomber Tuite wandte sich nicht um; er war diesen Weg schon oft genug gegangen. Er hatte die Welt beobachtet und ihr einen festen Platz in seinem Kopf angewiesen, wo sie Seite an Seite mit dem Preis für ein »Gedeck«, dem Jammer der Toten und
Ungetauften, der Musik langer Sonnenuntergänge und dem Vorkommen eßbarer Blumen ruhte. Hoch oben zur Rechten konnte er seinen Hund sehen; Prince harrte schon ganz versessen seiner Aufgabe, er hatte das braune Auge auf sein Herrchen gerichtet und das blaßgraue auf den Berg. An einer Ecke der Berglehne, die die Atlantikwinde in eine kleine Torfwand gekerbt hatten, blieb Prince auf einmal stehen. Der Hund schnüffelte an einer Heidepflanze und legte die Ohren an. Er knurrte, ein leises, langes Knurren, und sein Rückenhaar schien sich aufzurichten. Dann nahm er, die Nase auf dem Boden, die Spur auf und machte sich, ohne zurückzuschauen, vorsichtig auf den Weg. »Bei Fuß, Prince! Prince!« rief der Bomber halbherzig, doch der Hund überhörte ihn. Der Bomber brüllte: »Prince! Komm her, du dreckiges Miststück!« Der Hund zögerte nicht einmal. Das war neu und wollte dem Bomber gar nicht gefallen; er ahnte, daß der Hund an diesem Tag eine ganz neue Erfahrung machen würde, hinter einer Ecke, wo er selbst sich nicht gerne hinwagte. Er pfiff dreimal, es war ein besonderer Pfiff, mit dem er den Hund sonst dazu brachte, seine Schafe zusammenzutreiben. Prince hatte weiterhin die Nase am Boden, sein Bauch berührte fast die Erde, er beschleunigte seinen Lauf und verschwand zwischen den höheren Kämmen und Felsbrocken. »Dieses verdammte Miststück von einem Köter«, murmelte der Bomber und fing an zu keuchen, als er versuchte, den Hund einzuholen. An dieser Stelle stieg die Bergflanke zu einem Kamm an, der auf der anderen Seite jäh zu einem Tal, den dunklen Gewässern eines Sees und einem schmalen Streifen Land abfiel, dahinter gab es ein steiles Gefälle zum Meer hin. Trotz Mike-Joes mehrfachem ärgerlichem Pfeifen blieb der Hund hinter dem Kamm verschwunden. Weiter oben, rechter Hand,
endete der Berg in einem flachen Gipfel; links ging es in sanften Wellen hinab, um dann wieder zu den höheren Berglagen aufzusteigen. »Dreckiges Mistvieh. Verfluchtes Dreckstück.« Der Bomber hörte ein wütendes Knurren, das plötzlich zu einem Fauchen anwuchs, und dann ein hohes Bellen, das fast sofort von dem schrecklichen Aufschrei eines Tieres abgeschnitten wurde. Dann trat Stille ein. Der Bomber hielt inne, zum ersten Mal durchfuhr ihn Angst. Furchtsam sah er sich um; die Welt ringsum war leer; es gab keine Vögel am Himmel, keine Nebelkrähen, keine Seemöwen, keine Wasserpieper. Alles war still, außer dem Wind, der um die Landspitze fegte und über das Heidekraut auf dem Bergkamm strich. Es fröstelte ihn, obwohl er vom Aufstieg schwitzte. Er wischte sich mit dem linken Handrücken über die Stirn. All das hat doch vor Jahren schon aufgehört, dachte er. Er pfiff erneut, einmal, scharf. Er ertappte sich dabei, daß er seinen schweren Stock inzwischen so hielt, wie man eine Waffe halten würde. Langsam stieg er weiter nach oben, auf den Grat zu. Als er auf dem Grat ankam, lagen die nordöstlichen Berghänge zu seinen Füßen, und im herrlichen Sonnenschein dehnte sich die Blacksod Bay bis zum silbrigen Schimmer des Horizonts. Der steile Abhang unter ihm war bis zum Rand einer senkrechten Klippe, die den See überragte, mit Reihen von Heidekraut, Gras und Farn bewachsen. Tief unten lag schwarz, still und schön der See. Dahinter konnte er die niedrigeren Klippen erkennen, sie fielen zum Strand ab, wo das Meer sich sanft brach. Hier oben, allein mit dem unsichtbaren Gott, im Angesicht fordernder, unerbittlicher Schönheit, hätte er ebensowohl der erste Mensch sein können, der sich durch die Anfänge der Schöpfung bewegte. »Scheißköter«, sagte der Bomber, obwohl der Hund spurlos verschwunden war. Er suchte die rauhen Berghänge zu seiner
Rechten ab, rief den Namen des Hundes, pfiff. Als er sich mühsam, mit äußerster Vorsicht, auf die Klippenspitze zubewegte, wuchs in ihm die Angst. Mit einer Hand umklammerte er die zähen Heidekrautstengel und die festen Grasbüschel, bis er über die Klippenspitze auf den See in der Tiefe hinabschauen konnte. Auf einem Felsvorsprung etwa sieben Meter unter sich erblickte er den auf Moosen und Farnkräutern liegenden Hund. Er rief ihm leise zu, doch das Tier regte sich nicht. Der Bomber schaute schnell nach oben, als habe er über sich einen Schatten verspürt, der ihn beobachtete. Aber er sah nichts. Seine Nackenhaut hatte sich abgekühlt. Er ließ seinen Stock an einem Felsen zurück und begann, seitlich zu dem Felsvorsprung unter ihm hinabzuklettern. Es war gefährlich, sein Leben hing davon ab, daß er langsame, genaue Schritte tat. Er murmelte vor sich hin, ganz auf seine Sicherheit konzentriert. Er preßte seinen kräftigen Körper gegen den Hang, der hier noch nicht senkecht abfiel. Die Erde war feucht, da der Hang auf dieser Seite kaum je von der Sonne beschienen wurde. Von Farnen und Moosen tropften kleine Rinnsale herab, aber der Boden war so fest, daß er nicht abrutschte. Er erreichte den Felsvorsprung. Der Hund sah merkwürdig zerquetscht aus. In dem Bomber stieg Schmerz hoch, und er streckte die Arme nach der schwarzen Gestalt aus, um sie zu berühren. Da sah er, daß der Kopf vom Hals abgetrennt war. Das Gras war von Blut getränkt. Die Flanke des Hundes war zerrissen, als sei sie mit einem scharfen Messer aufgeschlitzt worden, und weiß, rosa und violettfarben hingen die weichen Eingeweide heraus. Der Bomber schrie auf. Er klammerte sich am Hang fest, damit der entsetzliche Anblick ihn nicht in den Abgrund schleuderte. Wieder verspürte er an Hinterkopf und Nacken ein plötzliches Frösteln, und auf seinen Schultern lastete ein kaltes
Angstgefühl. Er schaute schnell nach oben, als fühle er am Berghang über sich die Macht eines Augenpaars, das sich auf ihn heftete. Er konnte nichts erkennen. Eine Weile lag er reglos am Berghang, sah sich um und atmete tief. Es rührte sich nichts. Nichts. Ohne sich klar zu werden, was er tat, schob er in einem jähen Wutanfall seinen rechten Fuß unter den kopflosen Leichnam des hingespreizt daliegenden Hundes und stieß ihn mit einem Ruck hinaus in die Luft. In nervenaufreibender Stille fiel er hinab, hinab, hinab, bis der Bomber hörte, wie der Körper weit unten am Rand des Sees auf felsigem Grund aufschlug. Jetzt mußte er wieder heil hinauf, gib acht, sagte er sich, gib jetzt acht, sei unendlich vorsichtig. Er umklammerte das Heidekraut, fand einen Halt, stieg Schritt für Schritt nach oben, konzentrierte sein ganzes Sein auf jede winzige Bewegung. Er kam zu dem Felsen, an dem er seinen Stock zurückgelassen hatte. Erst jetzt erfaßte ihn Panik, und ungeschickt, rutschend und schluchzend begann er zum Grat hinaufzuklettern. Weibisch. Er, Mike-Joe Tuite, sabbernd und weibisch. Seine Kleider waren naß und verschmiert, der Körper dieses kräftigen Mannes hob und senkte sich vor Schluchzen, sein großes, braungebranntes Gesicht zitterte vor Schreck. Er überquerte den Kamm und rannte den Hang hinunter, zurück zu den tiefer gelegenen Weiden und zum Dorf. Die warme Sonne schien wieder auf ihn herab. Der Anblick der geweißten Häuser des Dorfes beruhigte ihn. Er blieb stehen. Er kam sich töricht vor. »Verfluchte Scheiße!« sagte er laut. Und drehte sich zum Berg um. Die Welt war leer jetzt ohne seinen Hund, und er empfand echtes Leid und Erstaunen. Als die Sonne vorübergehend von Wolken verdeckt wurde, überlief ein dunkler Schauder die Bergflanke. Dann fiel ihm auf, daß er keines seiner Schafe dort
oben gesichtet hatte, und andere Schafe auch nicht. Nicht ein einziges. Weder an einem der Hänge noch im Tal dahinter noch unten am See. Fing es etwa schon wieder an? Die Bedrohung, die Angst, die Ungewißheit. Diesmal kehrte der Bomber fest entschlossen wieder zum Dorf um, abwechselnd lief und rannte er. Dabei schaute er mehrmals unbehaglich zum Berg hinauf, als werde er verfolgt, und umkrampfte seinen schweren Stock mit der geballten Faust wie eine Keule. Unbegreiflich, wie ein ganz gewöhnlicher Morgen – sanfter Sonnenschein, die Aussicht auf Regen, die Katze, die sich an der Mauer räkelt, Hühner, die leichtfüßig auf den Kieswegen umhertrippeln –, wie dieser ganz gewöhnliche Morgen plötzlich anschwellen kann, bis er in Scherben geht. Dabei war der Abend davor wie immer gewesen, das Feuer war in sich zusammengefallen, die Türen verriegelt und nachgeprüft, die Lichter nacheinander ausgeknipst; alle Geräusche – Türen, Wasserhähne, Toilettenspülung – wie gewohnt; wie sich dann Stille ausgebreitet hatte, Dunkelheit, wohltuender Schlaf. Doch ebenso unmerklich wie der genaue Augenblick, an dem sich Flut in Ebbe verwandelt, war eine Schwelle überschritten worden. Der Captain fand Nora zusammengekrümmt auf dem Boden der Spülküche liegen, kalt, reglos, mit dem Gesicht nach unten. Wie immer kam er summend und tappend die Treppe herunter. Er hatte sich gewaschen, angekleidet, erfrischt. Wie immer. Leichten Schrittes. Leichten Mutes. Er ging die Diele entlang und bewunderte wieder einmal das Licht, das durch die Fensterscheiben der Eingangstür einfiel und in bunten Rauten auf den Fliesen leuchtete. Er öffnete die Küchentür. Der Frühstückstisch war gedeckt, Tassen, Untertassen, Teller und Besteck für drei Personen. Die Stille des Frühstückszimmers. Die Sonnenstrahlen fielen schräg auf den Tisch. Neben der geschlossenen Tür zur Spülküche lag
einer von Noras Hausschuhen. Die Luft war von einem süßsauren Gasgeruch verpestet. In diesem nicht enden wollenden Augenblick wußte der Captain alles, was er über Nora wußte, mit absoluter Gewißheit. Er wußte um ihren Schmerz und ihre Verdüsterung, er ahnte, wie sich das fahle Grau ihres Lebens im Handumdrehen in ein unerträgliches Purpur verwandelte, er sah, wie ihre Hände, die sich verzweifelt an die Welt angeklammert hatten, sich plötzlich entkrampften und losließen. In diesem Augenblick starb, auf seine Art, auch der Captain. Schon wurde ihm übel, seine Lungen bäumten sich auf, sein ganzer Körper rebellierte. Er handelte rasch. Irgendwo in der undeutlichen Landschaft seiner Erinnerung sah er die Gestalt einer Frau vor sich. Klein und verloren stand er im Badezimmer und nahm eine Flasche mit einer limonadenähnlichen Flüssigkeit in die Hand, als die gutgekleidete junge Frau die Treppe heraufgerannt kam, durch die offene Tür des Badezimmers stürzte und ihm die Flasche aus der Hand schlug. Sie gegen die Kacheln schleuderte, wo sie mit einem lauten, durchdringenden Knall in tausend Scherben zersprang. Er riß die Tür zur Spülküche auf, daß sie gegen die Küchenwand schlug. Dann rannte er zum Fenster und öffnete es weit. In seinem Kummer bemerkte er einen Sperling, der an der Mauer des Kiefernwäldchens gegenüber ein Staubbad nahm. Es war eine Einzelheit, die sich für immer in sein Gedächtnis einbrannte, bis zu dem Tag, an dem auch die Geschichte des Captains zu Ende ging. Er stürzte zur Hintertür und riß auch diese auf. Ihm fiel auf, daß sie bereits entriegelt war. Dann schaltete er die Herdschalter aus und drehte den Hahn der Gasflasche zu. Alles zu spät, viel zu spät. Nora lag in ihrem Morgenrock auf dem Estrich, die Augen weit geöffnet, das Gesicht dem Tag zugewandt; eine Hand
ruhte neben ihrem Körper, die andere lag entspannt auf ihrer Brust. Der Captain fiel neben ihr auf die Knie und rief: »Nora, Nora, Nora, o meine geliebte kleine Nora, Nora, Nora, Nora«, nahm sie in die Arme und preßte ihren Kopf an seine Brust. Dann hielt er sie ein Stück weit von sich. Ihre Augen verletzten und ängstigten ihn, diese grauen Augen, weit geöffnet, mit glasigem, starrem Blick. Er versuchte, ihren Körper vom Estrich aufzuheben. Ach, wie schwer sie war, schwer vom unerträglichen Gewicht ihres Todes. Behutsam legte er sie wieder hin, faßte sie dann unter beide Arme und zog sie langsam von dem schwarzen Schlund der Backröhre mit ihrem fauligen Dunst fort, zog sie über die Schwelle der Spülküche zum Sofa. Das Geräusch, das ihr kleiner, aber entsetzlich schwerer Körper machte – der Morgenrock, der über den Boden schleifte, das Scheuern der verhornten Fersenhaut –, dieses Geräusch sollte ihn noch oft aus seinen Alpträumen in die Einsamkeit schweißgebadeten Erwachens katapultieren. Vorsichtig legte er sie aufs Sofa, bettete ihren Kopf auf die Lehne und ordnete ihren Morgenrock. Dann kniete er sich neben sie und versuchte zu beten. Patty hatte die unvermittelten Schreie ihres Vaters von ihrem Zimmer aus gehört. Sie drängten sich in ihren Halbschlaf wie die undeutlich erinnerten Rufe eines früheren Alptraums. Dann wurde es still, und wieder fragte sie sich, ob sie sich die Geräusche nur eingebildet hatte. Sie lag da und lauschte, bis die Stille unnatürlich wurde; wo blieben die Frühstücksgeräusche, die Stimme ihres Vaters, der sang oder scherzte? Sie stand auf, zog sich an und kam schnell die Diele entlanggelaufen. Ihr Vater murmelte vor sich hin und durchsuchte die Schubladen des Küchenschranks. Ein unangenehm süßlicher Geruch hing in der Luft.
»Was suchst du, Dodgie?« fragte sie ihn ruhig und erschrak, als er sich zu ihr umdrehte. Sein Gesicht war grau und gealtert, seine geröteten Augen starr. Mit zitternden Händen deutete er auf die Couch. An jenem Tag fand Patty eine Kraft und einen Mut, von denen sie bisher nichts geahnt hatte. Sie war sich derselben Gefaßtheit bewußt, die sie einst an ihrer alten Tante Izabel bewundert hatte; sie war sich auch bewußt, daß der Tag ein Leid anhäufte, das später, wenn diese Tage vergangen wären, um so schwerer auf ihr lasten würde. Dr. Weir traf ein. Die Leiche wurde ins Krankenhaus gebracht. Der Captain setzte sich in dem langen, engen Korridor auf eine Holzbank, und sie warteten. »Irgendwo muß doch ein Brief sein«, sagte er. »Ein Brief? Was für ein Brief?« »Nora hätte uns doch nicht einfach ohne Erklärung verlassen, es muß einen Brief geben.« Langsam verstand Patty, was er sagte. »Du meinst – sie wußte, daß sie sterben würde? Selbstmord?« Das Wort, geflüstert nur, wurde zu einem kleinen, flinken, stumpfköpfigen Nachtfalter, der sich in den langen Tunnel des Krankenhauskorridors verirrt hatte und, verzweifelt nach einem Fluchtweg suchend, gegen Türen und Fenster, gegen Marmorwände und hölzerne Zimmerdecken flog. Der Captain sah sie voller Mitgefühl an. »Nora hat sich das Leben genommen, Patty, sie hat es einfach nicht mehr ausgehalten. Ich glaube, Izabel ist in ihrem Leben herumgegeistert. Die Depression hat an ihr gezehrt. Ich wünschte, wir hätten den Gasherd nie ins Haus geschafft… aber er hat ihr weniger Arbeit gemacht – keine Asche, keine Schlepperei, kein Schmutz…« »Aber sie war doch nicht…«, setzte Patty an, »ich meine, es ging ihr doch gar nicht so schlecht. Und der Frühstückstisch,
alles wie immer gedeckt und gerichtet. Warum sollte sie für sich einen Platz decken, wenn sie sich das Leben nehmen wollte? Es war ein Unfall, Dodgie, vielleicht hat sie es erst gemerkt, als es zu spät war. Du hast doch selbst gesagt, daß sie ihren Knien eine Matte untergeschoben hatte, so als hätte sie den Herd saubermachen wollen. So etwas tut man doch nicht, wenn man sich umbringen will. Und sie hätte doch etwas geschrieben. Sie hätte…« Der Captain ließ den Kopf auf die Brust sinken. Seine Augen hatten ihren Glanz verloren, und sein ganzes Wesen war von innen heraus gealtert. Als sie den Leichnam schließlich wiedersahen, schmerzte es Patty, wie klein ihre Mutter war, daß sich ihre Haut blauviolett verfärbt hatte, daß ihr Leib so ganz anders aussah, daß seine vollkommene Reglosigkeit, die vollkommen stillen Finger, ein Affront gegen das Leben selbst war, eine Herabsetzung seiner Möglichkeiten. Und dennoch wohnte den Zügen ihrer Mutter hier in der gleichgültigen Anonymität von Wänden und Fußboden, von eisernem Bettgestell und gestärkten weißen Bettlaken eine Gelassenheit inne, die ihre Tochter nur noch mehr schmerzte.
Sie waren einander nahe, so nahe wie nie zuvor; näher noch als an jenen Abenden, wenn der Captain sich ihre Gebete angehört hatte, bevor sie ins Bett kroch und sich voller Erwartung auf eine seiner Gutenachtgeschichten warm einpackte. Eine Zeitlang hielt Pattys Stärke vor. Der Captain klammerte sich an sie, sie war seine Stütze. Einmal sah er, wie ihn aus der unergründlichen Tiefe der Nacht Izabels blickloses, weißes Gesicht durchs Fenster der Dachkammer anstarrte. Mit den Lippen formte er zum Fenster hin die Worte »Es tut mir leid«, sprach sie aber nicht aus.
Danach zog er aus der Dachkammer nach unten in Noras Zimmer. Er berührte ihre Puder, ihre Bürsten, ihre Parfüms und starrte tief in den Spiegel des Toilettentischs, als könne sie, wenn er nur angestrengt und lange genug hineinsähe, ihm dort erscheinen, ihn ansprechen und ihm eine einfache Erklärung, eine Antwort, Verzeihung bieten. Wie sehr er es bedauerte, daß er nie gelernt hatte, ihr seine Liebe mitzuteilen, die Worte, die Gesten, all die Kleinigkeiten, die notgetan hätten! Einmal war sie in der Diele an ihm vorbeigekommen. Heiter war sie von ihrem Schlafzimmer in die Küche gegangen und hatte einen Strauß goldfarbener Iris getragen, wilde Lebewesen, die friedlich in ihren Armen wippten. Sie bemerkte ihn nicht, wie er dastand und sie beobachtete, und aus Angst, sie zu stören, wagte er nicht, sie anzuhalten. Spätnachts hörte Patty ihn im Schlafzimmer vor sich hinweinen. Auch sie konnte nicht richtig schlafen; jedes Wort, jedes Vorkommnis in den Tagen vor Noras Tod ging ihr durch den Kopf; sie versuchte, sich an ihre Stimmungen zu erinnern, fahndete nach etwas, nach irgendeinem Hinweis, einem Zeichen, einer Warnung. Aber da war nichts, nichts außer einer großen, nackten Wand.
Einmal lagen sie, Patty und Josh, zusammen unter der hohen Kuppel eines Sommerhimmels. Es war ein Bett aus Heide, die winzigen, violetten Kelchblätter standen in voller Blüte, das Gras unter ihnen war weich und der Himmel so blau, daß Patty das Gefühl hatte, sie brauche sich nur auszustrecken und könne mit Kreide auf ihm schreiben. Sie waren einen schmalen Pfad hinaufgeklettert, auf eine Klippe, unter ihnen brauste das Meer, und vom fernen Strand echoten sommerliche Rufe, die schmutzigen Möwen flogen so hoch über ihnen, daß sie mit
durchscheinender Reinheit leuchteten. Sie genossen die Schönheit des Tages, geradeso als ruhten sie Seite an Seite in einem Winkel des Paradieses. Sie sehnten sich danach, einander zu berühren, taten es aber nicht. Neben ihnen stieß eine Alpendohle über den Rand der Klippe; die schwarzen Federn glänzten, der blutrote Schnabel und die scharlachroten Krallen waren deutlich zu sehen. Wortlose Zwiesprache. »An Tagen wie diesem«, murmelte Josh, »könnte man fast an das ewige Leben glauben.« Patty rückte dichter an ihn heran, ihre Hand lag leicht auf seiner Brust. »Aber das Fleisch ist verräterisch, Josh«, sagte sie, »verdächtig, keinem Gesetz unterworfen.« Überrascht sah er sie an. Ihr Gesicht näherte sich unvermutet seinem, und sie küßte ihn. Dann lehnte sie sich etwas zurück, stützte sich auf die Ellbogen und zupfte einen winzigen Stengel Heidekraut aus dem Boden. Die Traube lilaroter Blütenglocken war formvollendet. »Hör nur«, sagte sie, hielt ihm den Stengel ans Ohr und berührte ihn, »hörst du sie klingeln?« Er lachte froh und nahm sanft ihre Hand in die seine. Plötzlich hatte er ihr gegenüber Hemmungen. »Ich glaube, ich liebe dich, Patty«, sagte er leise. Die Worte erstaunten sie beide. Patty hielt still. In der Hand hatte sie den Heidestengel. Über ihnen schwang sich eine Alpendohle in die Lüfte, stieß herab, drehte Pirouetten – eine Akrobatin, deren Publikum die Welt, deren Zirkuszelt der Himmel war. Sie wandte sich ab, setzte sich aufrecht hin und faltete die Hände über den Knien. Sie blickte aufs Meer hinaus, vorbei an den Inseln, die sich als zerbrechliche blaue Formen am Horizont abzeichneten, als könne der geringste Windhauch sie wie Federn in die Luft heben und in neue Welten tragen.
Liebkosend, fragend strich eine Brise vorbei, streifte kaum ihr Gesicht. »Es tut mir leid«, sagte Josh. »Nein, nein, Josh«, sagte sie, immer noch in die Ferne blickend. »Es ist nur – es macht mir ein bißchen angst. Ich kriege es leicht mit der Angst zu tun. Ich glaube, ich liebe dich auch, aber ich fürchte mich…« Schnell richtete er sich neben ihr auf, streckte seinen linken Arm aus und zog sie an sich. »Manchmal«, sagte sie mit geschlossenen Augen, »manchmal höre ich Stimmen, schwache Echos in meinem Kopf, als wäre mein Verstand eine große Höhle und das Echo käme von irgendeinem Felsvorsprung oder einer Felsspalte aus ihrem Innern.« Er sah sie an, ihre Wimpern zitterten, sie wirkte so zerbrechlich – wie ein kleiner Vogel auf einem Felsgesims, der davonfliegen soll. »Angefangen hatte es vor vielen Jahren, Tierlaute, wie Rufe, wie das Geheul von Hunden in der Ferne, dieses schwermütige, einsame Geheul. Zuerst habe ich es nachts gehört, fast wie in einem Traum.« »Wir alle hören irgendwelche Dinge, Patty, manchmal im Traum, manchmal in der Erinnerung…« Ein schwacher Versuch angesichts ihres Körpers, der sich schwer an ihn anlehnte. »Das ist etwas anderes, Josh, das war zu der Zeit, als alle Angst hatten, wegen der Schafe – und wegen Izabel – damals. Und nach Izabel hörte es auf, so als hätte sie es mit sich genommen. Dann herrschte so lange Ruhe, wie der Kummer über Izabels Verschwinden anhielt, und die Welt schien wieder im Lot, sogar Dodgie war anders, und Mama schien erleichtert. Aber dann ging es wieder von vorne los, genauso wie zuvor,
Rufe, die von weit, weit her zu kommen schienen, und damit einhergehend die Schmerzen, das Kopfweh…« Langsam wiegten sich beide hin und her, langsam, langsam. Er fand keine Worte. Sie zog sich zurück und streckte ihm ihre rechte Hand hin. »Schau!« Sie sagte es ruhig, sie war den Anblick gewohnt. Ihre Hand war entstellt, unter der Haut zeichneten sich weiß-blau die Knöchel ab, die Finger hatten sich verkrümmt, gedehnt. Auch jetzt fand er keine Worte. Sie lächelte ihn an, und er wunderte sich über die Zuversicht in ihrem Blick. »Manchmal, Josh, glaube ich, daß ich früh sterben werde, wie meine Mutter.« »Aber du würdest doch nicht…« »Ich weiß, die Leute denken, sie hätte sich das Leben genommen. Aber das glaube ich nicht, Josh. Dodgie hat diesem schmerzlichen Gedanken nachgegeben. Aber ich glaube nicht daran – und ich bin mir ziemlich sicher, daß ich es nie fertigbringen würde, ich hätte einfach Angst davor, eine Heidenangst.« Sie lachte, ein leises, bedauerndes Lachen. »Außerdem muß ich ja auch nicht.« Er betrachtete ihre Hand, sie schien zu zucken und zu zittern. »Hast du das schon lange? Ich meine, heute?« »Ja. Seit du mich abgeholt hast. Davor auch schon oft, und gestern nacht.« »Schmerzt sie sehr, deine Hand?« »Ja, Josh. Ich möchte, daß du es weißt. Ich habe eine Krankheit, SLE, eine Art rheumatoider Arthritis, Lupus genannt, systemischer Lupus erythematosus. Lupus bedeutet Wolf, Josh, Wolf! Die Leute haben Angst, ich habe Angst, daß ich eine Narbe bekommen werde, eine Narbe um Nase, Mund und Wangen, die einen wie einen Wolf aussehen läßt. Josh, manchmal habe ich schreckliche Angst davor, daß ich wie ein Wolf aussehen, mich in einen Wolf verwandeln werde – ich
muß wieder Tabletten einnehmen, und meistens helfen sie ja auch, aber…« Sie unterbrach sich und nahm seine Hände in ihre. »Und das ist auch der Grund«, sagte sie ernst, »weshalb ich nicht mehr mit dir ausgehen werde, Josh. Heute, an einem so herrlichen Tag, kann ich die Entscheidung treffen, und zwar eine endgültige. Es wäre unfair dir und mir gegenüber. Ich habe dich sehr gern, Josh, und ich will nicht… Ich will nicht, daß wir uns weh tun…« Er protestierte, zog sie enger an sich und küßte sie, doch sie hatte sich ihm schon entwunden, ein wenig nur, aber unwiederbringlich, und trotz seiner Proteste war er erleichtert. Lange Zeit wußte Casimir Conlon nicht, was er mit seinem Leben anstellen sollte. Seine Stimme war immer unsicherer geworden, bis sie wenig mehr als ein schwaches Rufen war. In der Hoffnung, alle möglichen und unmöglichen Gespenster würden fliehen und ihm gestatten, über die Leere nachzudenken, ließ er die kuhfladenbraune Tür am Ende der kurzen Diele weit offenstehen und das Fenster drinnen auch. Aber er war wie einer, der sich so lange mit der Schulter gegen eine Wand gelehnt hat, daß er jetzt, nach ihrem plötzlichen Verschwinden, das Gefühl hat, seitwärts ins Nichts zu fallen. Seine großen Hände wurden noch größer, und das enorme Loch in seinem Leben füllte sich nicht. Eines Tages, lange nachdem Pee-Wee ihren rechtmäßigen Platz unter den Toten eingenommen hatte, beschloß Casimir Conlon, sein Leben in den Griff zu bekommen und wieder Hoffnung zu schöpfen. Er würde seine Metzgerschürze mit Bedacht dorthin hängen, wo sie am besten hinpaßte, und das war, befand er, die üppige Gestalt Vanessa O’Mahonys. An diesem Tag nämlich kam Vanessa, um Koteletts zu kaufen, und plötzlich war Casimirs Leben von einer hohen, glänzenden Mauer begrenzt. Mit offenem Mund und offenen Augen stand
er da, die kuhfladenbraune Tür war offen, das Gebrumm einer Schmeißfliege in der Morgenstille nicht zu überhören. »Ich hätte gern vier Lendenkoteletts, Mr. Conlon. Bitte.« »Koteletts?« »Ja, bitte. Vier. Vier Lendenkoteletts.« »Lendenkoteletts?« »Ja, bitte.« Er drehte sich zu dem Tisch hinter ihm um. Dann wandte er sich schnell wieder ihr zu. Sie war noch da, stand immer noch in seinem Laden. Gegenüber dem gedrungenen Klotz seiner Schlachtbank. Er warf einen kurzen Blick auf die kuhfladenbraune Tür. »Bischt du nicht…?« fragte er. Sie war hochgewachsen, vollbusig, breithüftig, eine rosa Bluse ließ die Umrisse ihrer Brüste erahnen, Jeans unterstrichen die Kraft und Schönheit ihres Körpers. Casimirs Augen! Sie hatte ihre Bluse hochgerollt und die Enden verknotet, so daß ihre honigfarbene Taille entblößt war. Die sphinkterähnliche Zartheit ihres Bauchnabels über der großen, silbernen Gürtelschnalle war ein wahres Wunder. »Ja«, antwortete sie lächelnd. »Ganz recht. Die bin ich.« »Hm, die Kleine von Mrs. O’Mahony. Wie hieß sie doch gleich? Jennifer, oder Nancy, oder Veronica? Oder so ähnlich.« »So ähnlich, ich glaube, so ähnlich muß sie wohl geheißen haben. Kann gut sein, daß sie Vanessa hieß, Mr. Conlon. Ja, je mehr ich drüber nachdenke, hieß sie Vanessa. Und komischerweise heißt sie immer noch so. Vanessa. Genau die bin ich, glaube ich jedenfalls. Vanessa O’Mahony.« Auch das Haar honigfarben. Eine warme, angenehme Stimme. Oh, Casimirs Augen! »Vanessa, ach ja, richtig. So heischt du also. Vanessa.« Er drehte sich wieder zu seiner Schlachtbank um.
»Ein Pfund – was war’s doch gleich noch mal?« »Vier Lendenkoteletts, wenn’s recht ist, Casimir.« Der Name, sein Name, aus ihrem Mund versetzte ihm einen solchen Schlag in den Nacken, daß er beinahe umgekippt wäre. Auf ihren Lippen klang sein Name so fremd, so exotisch, so – sexy. Er machte sich an die Arbeit. Hacken. Säubern. Fett abschneiden. Er drehte sich wieder zu ihr um. Sie war immer noch da. Schöner denn je. Von hinten, von der kuhfladenbraunen Tür her, hörte er die jammernde Stimme der Alten: »Die ist nichts für dich, Junge! Du alter Ziegenbock, Mädchen wie die sind unerreichbar für deinesgleichen!« »Was?« murmelte er verwirrt und starrte der jungen Frau ins Gesicht. »Mr. Conlon.« Sie sprach langsam, betont ernst. »Es tut mir sehr leid, daß Ihre Mutter gestorben ist. Sehr, sehr leid.« Ob sie die jammernde Stimme eben auch gehört hatte? Casimir hatte nie gelernt, mit Beileidsbekundungen umzugehen. Wußte nicht, was er sagen sollte. Wie sich verhalten, wie reagieren. Unbestimmt wedelte er mit den Händen in der Luft, als wolle er die Worte verscheuchen, mit denen er nicht fertig wurde. Ihr honigfarbener Bauch. Wie sich diese Lippen öffneten und den Blick auf ihre Zähne freigaben, makellos weiße Zähne. Er warf die Koteletts auf die Waage und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Das Haus gehört jetzt mir«, flüsterte er in seiner überlauten Stimme. »Und ich wohne ganz allein hier. Und es ischt so groß. Gehscht immer noch zur Schule?« »Ja, in Dublin. EDV. Aber nicht auf die Schule. Auf die Universität.« Er wickelte die Koteletts in braunes Packpapier ein. Er zog die Tischschublade auf und legte das Geld, das sie ihm gab, in eine Pappschachtel. Er zählte ihr das Wechselgeld hin. »Computer«, sagte er entschieden.
»Computer, Mr. Conlon. Sie könnten hier drin auch einen gebrauchen.« Dich könnte ich hier drin gebrauchen, dachte er. Vielleicht sprachen seine Augen den Gedanken aus, als er sie anschaute. Sie lächelte ihm zu. Dann drehte sie sich um und ging langsam aus dem Laden. Er betrachtete das Gewicht und die Festigkeit ihres schönen Hinterns, als sie ihn jetzt gestrandet an der Küste seines Ladens zurückließ. Er stellte sich vor, wie seine Hände diese Hinterbacken wiegen, kneten, streicheln würden… »Va nes-sa«, flüsterte er, und der Name klang wie ein exotisch glänzender Schmetterling, der die kurze Diele entlanggeflattert kam, durch die kuhfladenbraune Tür hindurch und zum offenen Fenster hinaus, husch! Hier konnte er seine Schürze doch bestimmt aufhängen. Casimir war kaum zweiundfünfzig. Wohlhabend. Ein Mann von Vermögen, Herr über sein Reich. Vanessa war einundzwanzig oder so. Man könnte sie erziehen, auf den richtigen Weg bringen, ihr gut zureden. »Va-nes-sa.« »Was hast du da gesagt, Casimir?« Der große Mann erschrak zu Tode. Am Tresen stand Maggie »Muttons« O’Driscoll. Er hatte sie nicht einmal hereinkommen sehen. »Maggie! Hast du mir vielleicht einen Schrecken eingejagt, dich einfach so hinter meinem Rücken einzuschleichen. Das war Vanessa O’Mahony, die Kleine von Mrs. O’Mahony. Aus der ist aber eine verteufelt hübsche junge Frau geworden.« »Mrs. O’Mahony geht’s gar nicht gut, wie ich höre. Das junge Ding hat nichts als Flausen im Kopf, dabei liegt ihre arme Mutter im Krankenbett. Soviel ich höre.« »Was soll das denn heißen, Maggie?« »Ach, heutzutage weiß man doch nie, woran man ist mit den jungen Dingern, Casimir. Nichts als dumme Ideen. Jede Wette, daß sie in Dublin studiert. Physik, Chemie, Ingenieurwesen oder so was. Jede Wette!«
»EDV«, korrigierte Casimir stolz. »Oder so was. Kann man hier bei uns jedenfalls nicht gebrauchen, Casimir. Oder brauchst du etwa Physik und Chemie in deinem Beruf, frage ich dich.« »Computer!« »Computer. Was in aller Welt würdest du mit einem Computer anfangen, Casimir?« Casimir grinste anzüglich. »Nicht sehr viel, Maggie, nicht sehr viel. Aber ich wüßte, was ich mit einem so schönen Stück Fleisch wie der anfangen würde – wenn du den Ausdruck entschuldigst!« Maggie war konsterniert. Sie trat einen Schritt zurück und schaute rasch zur Tür hinaus. Draußen wurde es diesig. Bevor der Tag zur Neige ging, würde es trüb und naß werden. Sie Warf einen Blick auf die kuhfladenbraune Tür. »So also steht es, Casimir?« fragte sie in einem Tonfall, der andeutete, daß sie sämtliche Akten und Dokumente in Casimirs ehrlichem Gesicht sorgfältig durchgelesen hatte. Und zu einem Schluß gekommen war. Einem wichtigen Schluß. »Schnitzel, bitte, Casimir. Ein schönes Nackenstück. Jawohl, Nacken. Und Koteletts.« Casimir kicherte vergnügt und wandte sich seinem Tisch zu.
Es war ein wunderschöner Tag. Joshua freute sich seiner Jugend, der Festigkeit und Kraft seines Körpers. Er hatte den Pullover um die Hüften geschlungen, den Hemdkragen aufgeknöpft und die Ärmel hochgekrempelt. Während des Aufstiegs dachte er, wie leicht es ihm fallen würde, in der Weite der Berghangs alle Gedanken abzuschütteln, die ihn beunruhigten oder bedrückten. Er kletterte rasch und drehte sich dabei oft zur Insel um, die sich jedesmal noch schöner zu seinen Füßen ausdehnte. Wie eine große Wildkatze, die sich
wohlig räkelt, dachte er. Nur einmal, als er stehenblieb, um sich umzuschauen, glaubte er, irgendwo hoch über sich einen Laut zu hören, wie ein leises, langgezogenes Knurren. Er drehte sich schnell um, einen Moment lang war er erschrocken und verunsichert. Aber er konnte nichts sehen und vermutete, daß es lediglich eine Woge war, die sich weit draußen auf dem Meer gebrochen hatte. Über ihm erstreckte sich das menschenleere Moor, auf dem von der Wärme des Tages ein purpurbrauner Glanz lag. Er stieg weiter. Vor Aufregung wurde ihm ganz schwach im Magen. Als er den ersten Kamm erreichte, lag zwischen ihm und dem nächsten niedrigen Kamm ein flaches, feuchtes Tal. In der Luft hing ein fauliger Geruch. Er sah sich nach einem verrotteten Schafskadaver um, fand aber nichts. Der Gestank hielt an. Vorsichtig setzte er seinen Weg durch das Tal fort; der Untergrund war naß, weich und trügerisch. Wie einfach konnte man ausrutschen und auf dem nassen Boden hinschlagen. Irgendwo in einem dieser Schlammlöcher mußte ein verwester Kadaver liegen. Es schauderte ihn, als der Gestank stärker zu werden schien und die warme, stille Luft durchdrang. Dann stieg er weiter, den nächsten Kamm hinauf, und konnte das sanfte Rauschen des Meeres hören. Er schwitzte und wurde müde. Der Gestank wurde immer unerträglicher, je höher er stieg. Als er sich dem höchsten Kamm näherte, mußte er sich mit der linken Hand fest die Nase zuhalten, so widerlich stank es nach Verwesung. Er bildete sich ein, eine leise Stimme zu hören, die seinen Namen rief. Einmal. Nachklingend. Er blieb stehen. Er war verwirrt. Er wartete, lauschte, blickte über das tiefe Tal und die Hänge hinweg. Eine ganze Weile lang war er sicher, daß irgendwo Patty O’Higgins in der Nähe war, ihn beobachtete, genau wußte, was er vorhatte und wo er hinwollte. Plötzlich überkam ihn ein großes Schuldgefühl. Nichts regte sich, nicht einmal die
Quecken in der Bergbrise. Der Geruch schien sich verloren zu haben. Er schüttelte sich, mit einem Mal kam er sich lächerlich vor. »Patty, hier oben?« Er flüsterte die Worte laut vor sich hin. »Unmöglich. So weit könnte sie gar nicht klettern.« Und er machte sich über sich selbst lustig, ein Held, der sich vor den eigenen Hirngespinsten fürchtet. Er erreichte den Kamm. Hier oben war die Luft wunderbar frisch. Unter ihm, am Fuß eines langgestreckten Berghangs, lag das Meer und brach sich sanft am Strand von Annagh. Der atemberaubend schöne Anblick hätte ihm beinahe einen Ausruf des Staunens entlockt: der goldene Sand, der fast in einer Felsspalte unter den Klippen versteckt war, die weißen, in fortwährender Veränderung begriffenen Wellenkämme, das grüne Wasser, das ins Dunkelblau der hohen See überging, die Stille hier oben, die Wärme, der Frieden. Er hatte schon fast den Kamm der unteren Klippen erreicht, die auf den Strand von Annagh hinausgehen, als er draußen in den Wellen jemanden schwimmen sah. Er legte sich auf den Bauch und spähte über den Klippenrand. Auf dem Sandstrand unter sich sah er ein kleines, ordentliches Bündel Kleider. Die Gestalt im Meer schwamm mit kräftigen Stößen, kehrte um und begann zum Strand zurückzuschwimmen. Als sie sich aus dem seichten Wasser erhob, sah er, daß sie nackt war. Die junge Frau ging wieder zu ihrem ordentlichen Kleiderbündel. Sie trocknete sich ab, dabei sah sie manchmal zu den Klippen herauf, manchmal aufs Meer hinaus. Dann streckte sie ihren nackten Körper in der Sonne aus. Josh kroch vom Klippenrand zurück und stand auf. Er begann den Abstieg, aufgewühlt, aber mit reinem Gewissen. Als er zum Strand kam, sah er zu ihr hinüber. Die Hände hinter sich auf den Boden gestützt, saß sie auf und beobachtete ihn.
»Hallo, Josh«, rief sie, und nach der einsamen Ruhe seines Aufstiegs durchrieselte es ihn beim Klang ihrer Stimme. »Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen.«
Cyril Thornton O’Higgins verbrachte den langen, hellen Nachmittag im Sessel vor dem Fernseher. Er hatte die Vorhänge fast ganz zugezogen und eine kleine, rote Lampe hinter dem Fernsehgerät angeknipst. Es gab einen alten Schwarzweißfilm, und seine Aufmerksamkeit ließ immer mehr nach. Bald sank sein Kopf vornüber. Er war alt geworden. Sein Haar war weiß und von fahlgelben Strähnen durchzogen, sein Gesicht zerfurcht, als habe er Jahre damit zugebracht, den Meeresstürmen zu trotzen. Aber sein Teint war blaß geblieben, und seine Hände hatten zu zittern begonnen, als zerre an seinen Knochen bereits die Erdschwere des Lebensabends. Als er mit einem Ruck erwachte, saß Patty auf dem anderen Stuhl und beobachtete ihn mit jenem erwartungsvoll forschenden Blick, den er so gut an ihr kannte. Ihr Kopf zitterte unmerklich, mit den Händen hielt sie sich an den Armlehnen fest, und ihr Mund stand leicht offen. Er schüttelte sich wach und setzte sich auf Der Fernseher war ausgeschaltet. »Mama hat auch oft im Dunkeln hier gesessen«, sagte sie. Er antwortete nicht. »Kann ich die Vorhänge aufziehen?« Er nickte. Es war ihm einerlei. Es hatte zu regnen begonnen, und der Regen malte seine Muster auf die Fensterscheiben, nur um sie willkürlich wieder abzuwaschen. Eine Weile stand sie da und sah aus dem Fenster. »Ich werde nie begreifen, warum sie sich das Leben genommen hat.« Seine Stimme hatte ihre Resonanz, ihren Schwung verloren. »Ich habe sie geliebt.«
Patty setzte sich wieder hin, ihm gegenüber. Dieses Gespräch hatten sie schon oft geführt. Ungezählte Male. »Wir wissen doch gar nicht, ob sie sich das Leben genommen hat, Dodgie.« Sie versuchte es ein weiteres Mal. »Man deckt doch nicht den Tisch – ach, wir haben schon so oft darüber geredet. Sie hat sehr gelitten, weißt du. Ihr Tod hat sie von ihren Leiden erlöst.« Er schwieg. Dann seufzte er schwer. »Seit sie mich verlassen hat, habe ich nur noch eine halbe Seele«, sagte er. Ach ja, das wußte sie nur allzugut, wußte, daß Liebe von ihrer eigenen Heftigkeit zermürbt werden und sich in der größten Unbeholfenheit kundtun konnte. »Wenn ich ihr Leiden hätte auf mich nehmen können, hätte ich es, ohne zu zögern, freudig getan«, fügte er hinzu. »Und deine Last nähme ich dir auch ab, Patty.« »Ich weiß, Dodgie, ich weiß.« »Warum sind wir mit diesen Gebrechen geschlagen? Was habe ich getan, solchen Kummer zu verdienen?« Er war den Tränen nahe. Sie hatte ihn nur selten weinen sehen, aber sie wußte, in der Stille seines Zimmers… »Du hörst dich an wie Hiob in der Asche, Dodgie.« Früher hätte er darüber gelacht, hätte gestaunt über ihre ruhige Geduld angesichts dieses Mysteriums. »Jedenfalls ist Schmerz nicht wichtig«, fuhr sie fort, »Schmerz ist wie ein Insektenstich auf der Haut. Nicht wirklich gefährlich. Mamas Schmerzen waren schlimmer, als hätte jemand sie ergriffen und so festgehalten, daß er ihrer Seele den Atem benahm. Du konntest ihr nicht helfen, Dodgie, keiner hätte ihr helfen können.« »Du würdest nicht tun, was sie getan hat, Patty, oder?« »Nein, Dodgie, nein.« »Ich wünschte, sie könnten die Ursache deiner Schmerzen feststellen«, sagte er, »und sie ein für allemal beseitigen, so
wie man einen Käfer aufspürt, einfängt, hervorholt, auf den Tisch legt und mit einem großen Holzhammer zertrümmert. Es ist nur so«, fuhr er fort, »wenn ihr, du und Mama, so leidet, ist es schwer, klar zu denken. Der Schmerz vertreibt klare Gedanken und Ruhe, so wie das Gebell eines Hundes eine alte Katze in die Flucht schlägt. Schmerzen lassen keinen klaren Gedanken zu. Vielleicht ist das ja Nora widerfahren. Vielleicht auch Izabel – weißt du, manchmal wundere ich mich auch über die arme, alte Izabel.« Patty verschwieg ihr Geheimnis. »Die arme Izabel. Die arme Mama. Die beiden haben ihre Gebrechen hinter sich, Dodgie. Für sie ist es vorbei. Die arme Mama konnte nur im Dunkeln sitzen und warten. Tief in sich hineinhorchen, ich glaube, das ist es, was sie getan hat, und versuchen, dort eine Art Seelenfrieden zu finden. Und vielleicht hat sie ihn ja auch manchmal gefunden, tief unten im Verlies ihres Ichs. Aber ich weiß, daß sie niemals aufgehört hat, dich zu lieben, Dodgie, und mich auch nicht. Das weiß ich.« »Wenn man glauben könnte, daß es Gottes Wille ist, wäre es leichter zu ertragen. Die Märtyrer, die singend in den Rachen des Löwen marschieren. Das ist freie Wahl, Patty, das ist Willensfreiheit. Aber woher stammt Mamas Gebrechen oder deines? Das kann ich nicht verstehen.« »Gott ist die Liebe, Dodgie, daran mußt du glauben. Das mußt du einfach. Wie könnten wir, auch nur einer von uns, sonst am Leben bleiben? Und die Liebe ist etwas, das wir auch nicht verstehen können. Du hast Mama geliebt, und das war gut. Und es war schwer für dich, das wußten alle. Und du warst gut zu ihr, und sie hat dich geliebt. Was sonst gibt es im Leben? Du hast geliebt, Dodgie, und dafür mußt du dankbar sein.«
Er betrachtete sie. Sie schien von dem Gesagten erschöpft zu sein, als habe es sie große körperliche Anstrengung gekostet, die Worte hervorzubringen. »Und du, Patty? Wie steht es um dich und die Liebe?« Sie sah ihn an, und wieder fiel ihm das leichte Zittern auf, das ihren Körper andauernd in Bewegung hielt. Plötzlich zeigte sich in seinen Augen ein anderer Schmerz. »Ich habe Josh gesagt, daß er sich jemand anders suchen muß, jemanden, der stark und gesund ist. Josh ist ein guter Mensch, Dodgie, ein guter Mensch.« Lange herrschte zwischen ihnen Schweigen. Der Regen peitschte gegen die Fensterscheiben. Im Zimmer war es dunkel geworden. »Manchmal, Dodgie, merke ich, daß ich langsam durchdrehe. Die Geräusche, die ich höre, die Dinge, die ich träume, die Dinge, die ich mir einbilde. Und das macht mir angst. Wahrscheinlich sind es all die Tabletten, ich weiß, aber wenn ich aufhöre, sie zu nehmen, werden die Schmerzen nur noch schlimmer. Mitunter unerträglich.« Als sie durch die Dunkelheit zu ihm blickte, sah sie, daß er die Hände knetete. »Ich habe Dr. Weir gebeten, mich ins Krankenhaus einzuweisen, Dodgie, damit sie etwas unternehmen können, bevor ich den Verstand verliere. Bevor ich dich mit meinem Gejammer wahnsinnig mache.« Er sagte nichts. Langsam erhob er sich aus seinem Sessel; ein alter Mann, gebeugt und schleppend, ermattet. Er streckte die Arme nach ihr aus, zog sie an sich und umarmte sie, preßte ihren kleinen, zitternden Körper an sich. Der Regen setzte sein Geschreibsel auf der Fensterscheibe fort, doch durch die Tränen, die ihn schon wieder blendeten, konnte er es nicht erkennen.
Neun
Die Hand faßte nach ihr und berührte sie behutsam an der Schulter. Obwohl sie darauf gewartet hatte, sprang sie erschrocken auf und gab einen leisen Schmerzensschrei von sich. Er sah eine über ihre Jahre hinaus gealterte Frau vor sich, die mit einer roten Plastikjacke bekleidet war und eine rote Plastikkapuze über den Kopf gezogen hatte. Eine Zeitlang betrachtete er sie verstört. Auch sie betrachtete ihn, ihr ganzer Körper wich vor ihm zurück, und sie versuchte, den Tatbestand, daß sie nun wieder ergriffen würde, geistig zu verarbeiten. Da sprach er ihren Namen mit einer Freundlichkeit und Güte aus, die sie wärmte. Sie erkannte ihn sofort, die Erleichterung, die ihren Körper durchströmte, ließ sie erschlaffen, und sie fiel vornüber und tastete nach ihm. »Patty? Bist du’s, Patty O’Higgins? Bist du’s?« »Ja, Pat, ja, ich bin’s. Pat Larry Dineen, was bin ich froh, dich zu sehen!« Er füllte den Sitz im Führerhaus seines großen Lieferwagens fast bis zum Überlaufen aus. Neben ihm nahm sie sich wie eine blasse, kleine Stoffpuppe aus. Sie hatte die rote Plastikregenjacke ausgezogen; die Bluse, die sie trug, die Jeans sahen so klein aus – aber sie selbst war ja auch klein, klein wie ein Kind. Pat musterte sie verstohlen. Langsam rollte der Lieferwagen gen Westen. Sie fröstelte, doch trotz seiner Blässe blickte ihr Gesicht aufmerksam drein und leuchtete wie Alabaster. Sie starrte geradeaus. Irgendwo hinter ihren Lippen schwebte ein Lächeln. Ihre Hände, die sie in den Schoß gelegt hatte, zitterten leicht.
»So, dann kommst du also nach Hause, Patty?« »Ja. Nach Hause.« Sie lächelte ihn an. Ein schwaches Lächeln, das ihn zutiefst rührte. »Das freut mich. Der Captain wird entzückt sein. Erwartet er dich?« »Nein. Der arme Dodgie. Ich möchte ihn überraschen. Versprich mir, Pat« – und ihre großen Augen hefteten sich auf ihn –, »versprich mir, daß du es niemandem verraten wirst.« Wieder warf er ihr einen Blick zu. Sie war wehrlos, aber entschlossen. »Dann bringe ich dich bis zum Tor«, sagte er, »und überlasse es dir, ihn zu überraschen.« Er zögerte. »Hast du keinen Koffer oder dergleichen? Aus dem Krankenhaus, meine ich?« »Nein, Pat. Schließlich war ich nicht auf Urlaub. Kein Gepäck. Keine Andenken.« Sie berührte seinen Arm. »Nur Erinnerungen. Hier, in meinem Kopf.« Er lachte in sich hinein. Er genoß die Intimität der sachten Berührung. »Mein armer Schädel ist auch eine mit Trödel angefüllte Dachkammer, Patty«, sagte er. »Ich weiß, wovon du sprichst.« Sie schwiegen eine Weile. Vor ihren Augen glitt die Straße träumerisch unter dem Lieferwagen hinweg. Ein langer, grauer Teppich. Der sie nach Hause brachte. Sie flog darüber hinweg. Die Auspuffgase bedrückten sie etwas, aber sie machte sich nichts daraus. Sie fühlte sich matt. Warm. Getröstet von der stattlichen, fürsorglichen Erscheinung neben ihr. Pat Larry lachte wieder in sich hinein. »Weißt du«, sagte er, »ich habe dich auf dieser Straße schon einmal in einem Lieferwagen mitgenommen. Genau auf dieser Strecke. Das erste, was du von dieser Welt gesehen hast, war das Innere von Dineens Lieferwagen. Ein Stück weiter da hinten. Unter dem Auge von Croagh Patrick. Ich weiß es noch wie heute. War ich
nicht der erste nach deiner Mutter, nach der armen Nora, der dich auf dieser Welt willkommen geheißen hat?« »Mama hat mir davon erzählt, Pat, du warst sehr gütig. Aber das war jemand anders, Pat, das war nicht ich. Nicht ich. Nicht ich.« Er sah wieder zu ihr hinüber. Sie hatte die Augen halb geschlossen. Dann warf sie ihm einen raschen Blick zu und berührte wieder seinen Arm. »Wir verändern uns, Pat, wir verändern uns. Wir machen so viel durch, und trotzdem – in unserem tiefsten Innern bleiben wir wie die Kinder, unschuldig, überwältigt, verständnislos.« Pat nickte gewichtig, lebhaft. »Ich weiß«, sagte er, »ich weiß genau, wovon du sprichst.« Sie drückte sanft seinen Arm. »Und du, Pat Larry Dineen? Wie schaut’s bei dir aus?«
Zehn
Die Atlantic Bar war voll. Bill Cassidy, der Apotheker, lehnte, einen doppelten Gin, pur, in den Händen, an der Wand und hatte die Mundwinkel zu einer finsteren Miene verzogen. In Gesellschaft stand er jetzt immer, war er doch nicht sicher, ob er, wenn er sich setzte, auch wieder aufzustehen vermochte, ohne die Würde zu verlieren. Er schwelgte in Erinnerungen an die Zeit, als er mit Don Nealon auf die Jagd gegangen war, und erzählte ihnen von dem Tag, an dem die Gemse in ihrer Panik an ihnen vorübergerast war. »Ich habe das Geräusch als erster gehört, ich weiß gar nicht, ob Don es überhaupt gehört hat. Es war ein langgezogener Schrei, der einem das Blut in den Adern gerinnen ließ, wie der Schrei einer Seele in Höllenqualen. Soweit ich feststellen konnte, kam er von irgendwo hoch oben in der Steilwand. Ich gebe zu, daß ich vor Schreck starr war. Don auch, der Herr sei seiner Seele gnädig. Wir hörten ihn noch einmal, ich jedenfalls, aber gesehen haben wir nichts. Dann kam dieses Prachtstück von einer Gemse schnurstracks auf uns zugesaust, als wollte sie uns vom Bergrücken schleudern. Hat uns beiden den Schreck unseres Lebens eingejagt.« »Wilde Hunde!« murmelte Pat Larry Dineen aus der Ecke, in der er zusammengekrümmt saß, sein Körper wie von jeher massiv, aber auch ermüdet vom langen Kampf. »Immer wieder heißt es, wilde Hunde. Menschenskind, wie sollen die denn die Tür von meinem Lieferwagen aufgekriegt haben? Sie haben sie geöffnet, wie nur eine Hand sie öffnen kann. Der Türgriff von meinem alten Ford war doch so hoch, daß selbst ich hinauflangen mußte, die Tür war ja auch nicht aufgebrochen,
sondern von Hand geöffnet, wenn ich’s euch doch sage, von Hand geöffnet. Einen wilden Hund, der sich mehr als zwei Meter hochziehen und eine gottverdammte Tür aufmachen kann, den hat’s noch nie gegeben!« sagte er und knallte sein Pint Guinness auf die gelbe Resopalplatte des Tisches vor ihm. Das kleine Kabuff in der Atlantic Bar erwärmte sich in einem dichten Dunst aus Rauch, Alkoholdunst und Schweiß. Die Lampe, eine altmodische Glühbirne in einem altmodischen Schirm, verstreute ein fahles gelbes Licht. Nach Pats Gefühlsausbruch trat Schweigen ein. Jeder der Männer schaute tief in sich hinein und gab dem Schrecken, den er erlebt hatte, einen Namen. Mißmutig und stumm sprach der Captain seinem Getränk zu und fragte sich, wann jemand den Namen Izabel nennen würde. Er versuchte, nicht an Nora zu denken, an das arme Geschöpf, das auf dem Boden der Spülküche zusammengesunken war und den einzigen Frieden gefunden hatte, der ihr vergönnt war. Er versuchte, auch nicht an Patty zu denken, denn es gab hier und jetzt, auf dem Boden der Atlantic Bar, wichtige Dinge zu besprechen. »Hat meinem Hund den Kopf abgerissen und so«, ließ sich der sonst so schweigsame Bomber Tuite vernehmen. Seine große, braune Faust ließ sein schwarzes Pint winzig erscheinen, seine Worte waren ebenso langsam und schwerfällig wie sein Körper. »Erst vor ein paar Tagen und so! Oben auf dem Bergkamm. Der Köter hat einem Geruch nachgespürt. Das war vielleicht ein Gestank, wirklich überall, ein Gestank, daß einem schlecht wurde. Der Köter hinterher wie eine Schmeißfliege hinter der Scheiße. Verschwunden und so, bis ich ihn sah, unten am Hang, mit abgerissenem Kopf, so wie man einem Huhn den Kopf abschlägt. Jesses, ich nichts wie weg, das kann ich euch aber sagen. Und keine zehn Pferde kriegen mich da noch mal hin, Schafe hin, Schafe her! Nicht,
bis diese Sache ganz aufgeklärt ist und so und wir ein paar Antworten auf die Frage haben, was uns da behelligt!« »Dann hat’s also wieder angefangen?« fragte eine andere Stimme. »Angefangen!« sagte Cassidy. »Also, wenn ihr mich fragt, hat’s nie aufgehört. In den letzten Wochen war doch auf dem Berg kaum noch ein Schaf zu sehen. Wenn ihr euch erinnert, hat alles mit dem Krieg angefangen.« Der Captain nahm einen großen Schluck Whiskey zu sich. Es wurde zunehmend schwerer, Wärme oder Gelächter in seiner goldenen Tiefe zu finden. Sein Gedanken hefteten sich einen Moment lang an Patty und sprangen dann, wie angesengt, wieder fort. Er sagte nichts und ließ zu, daß sich das Schweigen um sie ausbreitete wie Wasser. »Werwölfe!« Das Wort wurde lauthals in den dunklen Teich des Kabuffs geworfen. Dr. Weir, das Gesicht noch immer glatt und rosig wie das eines Säuglings, die Kleidung ordentlich wie eh und je, genoß seit einiger Zeit die anspruchslose Gesellschaft der Atlantic Bar. Sie half ihm, die Tage zu verlangsamen, die jetzt auf den schrecklichen Abgrund zuzurasen schienen. »Kanonikus Crowe und ich sind auch einmal hinaufgeklettert, vor langer Zeit. Vor vielen, vielen Jahren. Wir haben nichts gesehen und nichts gehört. Aber wir wußten, daß da etwas war. Etwas Böses. Um uns herum. Als hätte jedes Luftpartikel ein Stück davon enthalten. Werwolf. Ich erinnere mich noch, wie mir damals das Wort in den Sinn kam und wie ich mich dafür verfluchte, daß ich ein solcher Dummkopf war. Bis jetzt habe ich das Wort noch nie laut ausgesprochen. Vielleicht ist jetzt die Zeit dafür gekommen.« Es folgte eine lange Stille. Jeder umklammerte sein Glas und versuchte, das Wort zu erfassen. Dann –
»Franz, der heilige Franziskus, nur der kann uns helfen.« Der plötzliche Vorschlag kam von Godfrey Hannon, einem kleinen Mann, der, die Schirmmütze fragend auf den Hinterkopf geschoben, auf einem Barhocker in der Ecke des Kabuffs saß. Er schien sein ganzes Leben in einem torfbraunen Nadelstreifenanzug und einer Weste verbracht zu haben und sprach normalerweise nie ein Wort, sondern schaute von seinem selbstgewählten Podest aus wie ein Gott gelassen zu. Jeden Abend pünktlich um halb zehn kam er in die Atlantic Bar, bestellte ein Glas Stout und nahm sich eine halbe Stunde Zeit, es auszutrinken. Dann stand er auf, schob seinen Hocker unter den Tresen, ging zur Toilette im Hof und verließ die Bar. Im Hinausgehen grüßte er Tony, indem er an seine Mütze tippte. »Ich erinnere mich«, fuhr Godfrey fort, »daß Kanonikus Crowe uns einmal vom heiligen Franz von Assisi erzählt hat. Und wie die Leute in irgendeiner Stadt da unten unter einem Wolf zu leiden hatten, der herbeikam und ihre Hühner, Enten und Gänse tötete, wenn ich mich recht entsinne, sogar Menschen – eine Stadt mit Namen – mit einem Namen halt, einem ausländischen Namen.« »Gubbio?« schlug der Arzt vor. Godfrey schien beleidigt, und es sah so aus, als würde er sich wieder seinem Glas Stout zuwenden. »Gubbio, sage ich, Godfrey, so hieß die kleine Stadt. Ganz richtig. Gubbio. Der Wolf von Gubbio.« »Sie könnten recht haben, Doktor, Sie könnten recht haben.« Godfrey war besänftigt. »Wie dem auch sei, der Kanonikus sagte, der Heilige habe sie aufgefordert, freundlich zu dem Wolf zu sein, ihn zu futtern und sich um ihn zu kümmern wie um ein Haustier. Und als sie’s taten, hat er nicht mehr getötet. Da habt ihr’s. Also, bitte«, sagte er und schaute wieder in sein Glas.
»Donnerwetter, Godfrey«, sagte der Apotheker, »das war aber mal eine tolle Rede, die du uns da gehalten hast.« Es folgte ein langes, nachdenkliches Schweigen. Tony, dessen Vollglatze einen Kontrast zu seiner behaarten Brust abgab und der, einen Lappen über dem Arm, Getränke brachte, verlor allmählich die Geduld mit den Männern in seinem Kabuff. »Also, wenn ihr mich fragt, das ist wirklich der letzte Scheißdreck, was ihr da erzählt. Ein Haufen nasser, lauwarmer, stinkender Kuhscheiße. Die Frage, die ihr euch stellen müßt, ist, wie ihr die Schafe wieder auf die Berghänge kriegt.« »Nun ja«, äußerte sich der Arzt. »Rund heraus gesagt: Meiner Meinung nach haust in den Bergen eine wilde Kreatur, die wir loswerden müssen. Das scheint mir eine Tatsache zu sein. Irgendwo dort oben treibt ein Raubtier sein Unwesen, das Schafe reißt und Rinder. Nun – wir haben keinen Namen, den wir diesem Geschöpf geben können, und wissen also nicht, mit welchem Feind wir es zu tun haben. Wenn wir unseren Feind aber nicht kennen, tappen wir im dunkeln. Stimmt’s? Ich gebe dieser Bestie einfach einen Namen. Und der Name, den ich ihr gebe, ist Werwolf.« »Jesses!« »Leben wir etwa wieder im Zeitalter der Hexen? Leben wir im Mittelalter? Oder leben wir im 20. Jahrhundert? Als nächstes holt ihr noch Kanonikus Crowe, daß er eine Teufelsaustreibung vornimmt.« In dem beengten Kabuff war Tonys Ärger deutlich zu spüren. »Also« – Tony klatschte seinen nassen Lappen auf eine Tischplatte –, »was wir tun müssen, wir alle zusammen, wir müssen den Berg durchkämmen, die Bestie aufstöbern und unschädlich machen.« »Endlich ein gescheiter Vorschlag!« Man wurde sich schnell einig.
»Wir nehmen Waffen mit, jeder, der ein Gewehr oder so etwas hat. Und Feuer.« »Ich habe ein Gewehr«, verkündete der Captain plötzlich. »Das Gewehr, das ich den Deutschen abgejagt habe. Und Tony, du hast eine Kugel, eine silberne Kugel. Erinnerst du dich? Die braucht der Doktor für seinen Werwolf. Das Miststück gehört mit einer Silberkugel abgeknallt. Mit einer deutschen Silberkugel.« »Und wir müssen das Dickicht auf dem Berg hinter uns abbrennen.« Sogar der alte Apotheker war begeistert. »Das Heidekraut und die Farne anzünden und diese Kreatur ein für allemal aus ihrem Versteck treiben.« In der weisen Verwegenheit ihres Gelages hatten sie ihre Beute benannt und bestimmt. Je mehr sie tranken, desto mehr nahmen ihr Mut und ihre Entschlossenheit zu. Sie legten ein Datum fest. Stolzgeschwellt saßen sie auf ihren Hockern. Und als sie um einiges später durch die Nacht nach Hause gingen, waren sie vollends Feuer und Flamme.
Pat Dineen saß im Halbdunkel seines Hauses. Mit jedem Jahr, das verstrich, war er fülliger geworden, und seine Einsamkeit hatte in demselben Maße zugenommen. Nellie »The Gate« O’Hara, die ihm in seinem Laden mit den Waren geholfen hatte, war dahingewelkt und lag nun auf dem von kleinen Fuchsien überwucherten Friedhof, wo Rotkehlchen und Drosseln sangen und Zaunkönige zwischen den Brombeersträuchern hin und her schossen. Pat lehnte seinen rechten Ellbogen schwerer aus dem Fenster seines Lieferwagens und sank noch mutloser in die beiden Sitze zurück, die er benötigte. Er hatte den Wagen für die Lieferungen am nächsten Morgen geparkt. Zum hundertsten Mal, müde und ohne Interesse. Das
Wrack seines ersten Lieferwagens graste auf dem kleinen Feld hinter dem Haus. Es neigte sich leicht der Hecke zu, als wolle es jeden Augenblick einnicken, und durch sein hohles Inneres blies der Wind. Das Lenkrad war noch intakt, aber die Türen fehlten. Mit ihnen waren hier und da Löcher in den Hecken der Insel gestopft worden. Die Reifen hatte Pat Larry Kindern gegeben, die Brennmaterial für ihr Freudenfeuer an Halloween sammelten. Die Welt würde Pat Larrys Lieferwagen wieder verschlucken, zuallerletzt das verblichene Schild auf der einst hohen, einst stolzen Stirnseite: HIER KOMMT DIDEEN – DER BRINGT’S. Jetzt saß er da und starrte durch die offene Tür seines Ladens in die Dunkelheit, die, geduckt wie eine Katze, über den Berg, durch die Felder und dann über die leere Straße in sein Haus, sein Herz gekrochen kam. Wozu sollte er seinen Lieferwagen mit Obstkonserven und Tütensuppen, Keksen und Mehl beladen, mit Dingen, die verzehrt, neu beschafft, wieder verzehrt und wieder neu beschafft wurden und das Geld einbrachten, das ihm leidlichen Wohlstand, Körperfülle und eine Aufgabe bescherte? Lieferrunde um Lieferrunde, Salzgassen hinauf und wieder herab, ein Schwätzchen hier, ein Schwätzchen da, eine Pause und dann in einen anderen Feldweg eingebogen… Wie ein Delphin plötzlich zur Bucht hereinschnellt, wie ein Seehund stumm den Kopf aus der Strömung hebt und zum Land herüberschaut, so kam ihm selbst jetzt noch die hübsche, muntere Maud Tuohy in den Sinn. Maud war drall geworden, breite Hüften und üppige Rundungen. Maud, der er heimlich nachschaute, wenn sie vorüberradelte und der Wind ihren Rock über die Oberschenkel hob; oder manchmal, wenn sie träge ihr Hinterteil in ihren Jeans bewegte, ihr helles Gesicht bei seinem Gruß so fröhlich war wie eine Wiese voller Butterblumen. Wenn er ihr etwas zurufen wollte, saß ihm ein
Kloß im Hals, so daß er seine Worte hinunterschlucken mußte und sich, im Gegensatz zu ihrer Schönheit, seiner behäbigen Unbeholfenheit bewußt wurde. Bis eines Tages nach vielen Jahren in Birmingham der wilde Eamonn Darby zurückkam, ihr Herz im Sturm eroberte, sie heiratete und die hellen Blumen auf Pat Larrys Wiese mit fürchterlicher und unwiderruflicher Geschwindigkeit abmähte. Maud Darby. In Pat Larry Dineens Ohren klang der Name nicht recht, ganz gleich wer ihn aussprach. Maud hatte rasch zugenommen, so schnell folgten die Kinder aufeinander, und sie radelte nie mehr an seiner Tür vorbei. Oh ja, er belieferte sie, fuhr den rauhen, sandigen Weg hinauf zu ihrer Tür, und wenn er sich dem Haus näherte, pochte sein Herz. Es tat ihm weh, ihren raschen Verfall mitansehen zu müssen. Eamonn Darby verbrachte Abend für Abend im Pub und scherte sich nicht um Kind, Heim und seinen kleinen Hof. Pat Larry verfiel in Schweigen, es tat ihm in der Seele weh. Jetzt war ihm, als höre er draußen im Dunkeln ein leises Schlurfen. Er wartete. Horchte. Allmählich nahm er einen übelriechenden Gestank in der Luft wahr. Und wieder war er überzeugt, irgendwo um die Hausecken ein Geräusch gehört zu haben. Leise stand er auf und griff nach dem Fischhaken, den er griffbereit hinter der Tür stehen hatte. Pat hatte keine Angst, weshalb sollte er auch? Was hatte er noch zu verlieren? Langsam schlich er zur Tür und spähte in die zunehmende Dunkelheit. Er konnte die Silhouette der Rückseite seines Lieferwagens erkennen und hörte das leichte Säuseln des Windes in der Fuchsienhecke. Er wartete. Andere Geräusche waren nicht zu hören. Der Gestank hing immer noch in der Luft und erinnerte ihn vage an den Gestank, der lange zurückblieb, wenn ein mit zerstückeltem Haifischfleisch gefüllter Lastwagen vorüberfuhr. Doch dies war ein feinerer Geruch, ein widerwärtiger Geruch,
dem jedoch etwas Süßliches, leicht Verführerisches beigemischt war, gesättigt mit einschmeichelndem Moschus. Er stand still wie ein Baumstumpf, die Klinge fest in der Hand, gefaßt. Lange blieb er so stehen. Der Geruch lag noch immer in der Luft und wurde nur langsam schwächer. Er hörte keine weiteren Geräusche. Er spürte, wie sein Körper sich mit jedem langsamen Atemzug senkte und hob. Eine tiefe Traurigkeit legte sich auf sein Leben. Nur die unangenehm süßliche Andeutung des Geruchs blieb zurück. Der Fischhaken glitt ihm aus der Hand und fiel mit einem häßlichen, beängstigenden Geräusch scheppernd auf den Betonboden. Pat wurde von einer großen Aufwallung aus Zorn und Ärger geschüttelt. Er ballte die Fäuste und schlug gegen den Türpfosten. Den Wutschrei, der sich seiner Brust entringen wollte, konnte er nur mit Mühe unterdrücken. Dann trat er hinaus in die Nacht und schlug die Haustür hinter sich zu. Er bestieg das Führerhaus seines Lieferwagens und setzte ihn zurück auf die Straße. Der Wagen heulte protestierend auf, und die Kieselsteine spritzten unter den Rädern weg, als er das Gaspedal in einem Ausbruch blinder Wut bis zum Anschlag durchtrat und davonbrauste, ohne zu wissen, wohin. Eine Zeitlang fuhr er blindlings, ohne Scheinwerfer, und lenkte den Lieferwagen wie einen mörderischen Koloß durch die Dunkelheit. Er hatte oft gescherzt, er könne jede Straße der Insel mit verbundenen Augen abfahren. Am Ende des Weges, der zu Maud Darbys Haus führte, hielt er den Lieferwagen plötzlich an. Er sah Licht im Haus. Maud würde zu Hause sein. Die Kinder im Bett. Eamonn zweifellos im Pub, wo er den großen Mann markierte. Sie würde verwundbar sein. Vielleicht willig. Sicherlich verständnisvoll.
Pat stieg aus und lief schnell und leise über den sandigen Boden. Noch hatte er keine klare Vorstellung von seinem Vorhaben. Vor ihm reckten sich schemenhaft die borstigen Zweige der Stechginsterbüsche in die Nacht. Unter seinen Füßen knirschte flüsternd der Kiesweg. Von ferne echote das sporadische Gebell eines Hundes, der eine nächtliche Bedrohung zu ahnen schien. Der Himmel über Pat war unermeßlich, Wolken zogen westwärts, in weiter Ferne leuchteten geheimnisvoll einige Sterne. Ein Gefühl der Trauer griff nach seiner Kehle. Er stolperte, zögerte, dann ging er weiter. Was hatte er schon zu verlieren? Wenn er nur einen Augenblick der Ekstase, des Erkenntnis, der Liebe erhaschen konnte? Er hob den eisernen Riegel des kleinen Tores. Irgendwie war er erstaunt, daß niemand in dem niedrigen Bungalow vor ihm Alarm schlug. Er wußte, daß auf den kleinen Beeten zu beiden Seiten des Weges Blumen wuchsen. Blumen, die sie gepflanzt und gehegt hatte. Wie dankbar wäre er für solche Blumen gewesen! Wie hätte er an stillen Abenden bei ihr gesessen, ihr zugehört, sein Leben mit ihr geteilt und an ihrem Leben Anteil genommen! Sie hätte es wissen müssen, dachte er und war plötzlich verbittert über sie, sie hätte sein Verlangen, seine Sehnsucht ahnen müssen. Sie hätte seine Güte, sein freundliches und großzügiges Herz wahrhaben müssen, wie er für sie gesorgt, jeden ihrer Träume erfüllt, sein eigenes Leben hintangesetzt und sie achtsam, zärtlich geliebt hätte, sie hätte sich dessen bewußt sein müssen. Vorsichtig ging er an der Vorderseite des Hauses entlang, aufs Fenster zu. Ein gelber Lichtstrahl fiel über den winzigen Rasen und verlief in einem spitzen Winkel zur Hecke. Bis auf einen schmalen Spalt waren die Vorhänge zugezogen. Vorsichtig spähte Pat in das Licht eines anderen Lebens. Maud, seine Maud Tuohy, war zu Hause; das Profil dem
Fenster zugekehrt, saß sie aufrecht, reglos auf einem Stuhl mit hoher Lehne, als ob sie auf jemanden warte. Rundherum herrschte Stille. Sie hätte es wissen müssen, dachte Pat, vielleicht wußte sie es ja, und es war noch nicht zu spät. Vielleicht… Abrupt wandte er sich wieder zur Tür. Eine Woge von Gefühlen übermannte ihn, eine Mischung aus Wut und Trauer und Verlust, aus Verzweiflung und Hoffnung, ein überwältigendes Verlangen, körperlich und emotional. Er zitterte am ganzen Leib. Seine Augen zwinkerten unkontrolliert. Er mußte geweint haben oder mit dem Fuß gegen einen Stein gestolpert sein, denn plötzlich ging die Tür auf, und zusammengekauert wie ein Hase, war er gefangen in dem Netz aus Licht, das aus dem Haus fiel. Vor ihm stand, schön wie eh und je, Maud Tuohy. »Eamonn?« Sie rief den Namen zaghaft, aber er versetzte Pat einen solchen Schlag auf die Brust, daß er nach Luft ringen mußte. »Pat? Pat Larry? Bist du’s?« Ihre Stimme, so weich, so aufmerksam, so warmherzig. »Maud, ich… ich…«, stotterte er hilflos, verloren. »Ist etwas nicht in Ordnung, Pat? Ist etwas passiert? Ist Eamonn etwas zugestoßen?« Eamonn! Dieser verfluchte Eamonn! Wie kannst du auch nur einen Gedanken an diesen Dreckskerl verschwenden, dem du völlig gleichgültig bist? Mir bist du nicht gleichgültig, Maud, mir nicht. Du hast mir immer am Herzen gelegen, ich liebe dich, Maud, Maud, Maud, ich brauche dich, ich will auf die Erde fallen mit dir, vor dir, unter dir, ich will, daß du auf mir gehst, Maud, meinen Körper als Fußboden benutzt, um deine Schönheit vor der nassen Erde zu schützen, ich will dein Gewicht auf mir spüren, meine liebe Maud, damit du in mir
ruhen kannst, dann erst werde ich meinen Wert kennen und kann Ruhe in dir finden. Maud. Maud. »Nein, Maud, nein. Es ist nichts passiert. Es ist alles in Ordnung.« »Was ist denn, Pat, was ist? Es ist spät. Ist dir etwas zugestoßen? Willst du nicht hereinkommen?« Ja, oh ja, Maud, ja, ich werde hereinkommen, und du wirst deine Arme weit ausbreiten und mich umarmen, und dann wirst du mich sanft, so sanft auf die Lippen küssen, wie die Sonne einen silbernen Regentropfen auf der roten Zunge der Fuchsienblüte berührt, und ich werde dich in meine starken Arme nehmen, dich behutsam tragen und sanft hinlegen wie eine Feder, Maud, wie eine Affodillblüte, über die der Sommerwind streicht, und ich werde dein Kleid aufknöpfen… »Ehern, nein, nein danke, Maud, ich wollte nur, ehern…« Sie stand da, schön in ihrer Weiblichkeit, ihrer Reglosigkeit, und betrachtete ihn, den weißen, nackten Arm hatte sie nach oben zur Tür gebogen, das Licht der Lampe hinter ihr beschien ihr Haar, ihren Hals… Und er, Pat Larry Dineen, »Puddings«, »The Reek«, war beleibt, fettig, alt. In diesem Moment schien sein Leben völlig in sich zusammenzusacken, alle Wut, aller Zorn und alle Hoffnung fielen von ihm ab, als sei seine Seele aus ihm entflohen, und er stolperte, als würde er ihr zu Füßen sinken, ja, zusammensinken wie ein leerer Sack. Sie gab einen kleinen Schrei des Bestürzung von sich und griff nach ihm, doch er richtete sich rasch wieder auf und fand die Fassung wieder. Er wußte voll und ganz, wenn ihm in seinem Leben noch irgend etwas geblieben war, durfte er es nicht zerstören, nicht beschädigen, nicht verletzen, vor allem nicht sie, Maud, nicht Maud Tuohy. »Es tut mir leid, Maud, ich habe von da unten ein Geräusch gehört und mir Sorgen gemacht, ob bei dir auch alles in
Ordnung ist. Es ist doch alles in Ordnung? Bist du in Sicherheit?« Einen Moment sah sie ihn an, als wisse sie Bescheid. »Ja, ja, danke, Pat, ja, ich habe hier nichts gehört.« »Dann ist ja alles gut, entschuldige, daß ich dich gestört habe, Maud, entschuldige. Entschuldige die Störung…«, und hastig wandte er sich von ihr ab. Das Licht von der Tür fiel auf die Blumen. Er stellte sich vor, daß er ihren wunderbaren Duft, ihre Frische, ihre Schönheit kannte, und eilte zum Tor. »Pat«, rief sie ihm leise hinterher in die Nacht. War es ein Ruf, ein Flehen, ein Hilfeschrei oder nur eine undeutliche Besorgnis? Er winkte kurz, dann war er verschwunden. Er schloß das Tor hinter sich und rannte stolpernd und schluchzend den Weg entlang. Er schaute sich nicht um aus Angst, er könnte sich noch immer sehen, wie er vor Mauds Türe stand, die Hände nach ihr ausgestreckt wie ein Rasender. Er kletterte in den Lieferwagen, setzte ihn auf die Straße zurück und fuhr schnell davon. Sein Benzintank war voll, der Wagen lieferbereit, er würde von Mauds Tür und von sich selbst, wie er davorstand, wegfahren, so weit er nur konnte, und wenn er zu müde wäre, um weiterzufahren, würde er hinten auf die Ladefläche kriechen und einschlafen und darauf warten, daß ihn das Licht eines neuen Tages wecke.
Maggie »Muttons« O’Driscoll, die Haushälterin des Priesters, kam zu Casimir Conlons Laden. Es war Samstag. Die Tür des Schlachthauses war verschlossen, als sie in den Hof trat. Sie war froh darüber. Es war nicht leicht, den Geschmack eines Koteletts zu genießen, wenn man einen Blick auf die armen geschlachteten Kreaturen geworfen hatte, die mit dem Kopf nach unten in diesem düsteren Schuppen hingen, und in die
Emailleschüssel tropfte das Blut. Sie bemerkte das große Vorhängeschloß, das Casimir an der Tür angebracht hatte. Die Zeiten ändern sich, ändern sich bestimmt, und niemals zum Besseren, dachte Maggie. Sie war erstaunt, daß auch die Tür zum Laden verschlossen war. Es war spät am Nachmittag, doch Casimir hatte ihr noch nicht verkauft, was sie brauchte. Sie lugte durchs Fenster. Er saß auf einem Holzstuhl und band sich die Schnürsenkel großer, schwarzer Stiefel zu. Sie klopfte an die Fensterscheibe. Der arme Mann sprang auf vor Schreck. »Maggie«, sagte er, als er die Tür öffnete, »ach, du bischt’s?« Trotz seiner Leibesfülle und seiner frischen Gesichtsfarbe sah Casimir blasser aus als sonst. »Mensch, was ist denn los, Casimir Conlon? Du fängst doch wohl nicht noch zu dieser späten Stunde an, die arme Pee-Wee zu vermissen, der Herr sei ihrer Seele gnädig?« »Nein, Maggie, bestimmt nicht, obwohl mir ihre Gegenwart im Zimmer hinten zu eigentlich immer ein Troscht war.« »Natürlich, Casimir, natürlich. Wissen wir nicht alle, daß jeder Mann und jede Frau den Trost eines anderen Menschen braucht, der immer in der Nähe ist?« »Da sagst du etwas sehr Wahres, Maggie…«, und vor Casimirs geistigem Auge stieg das Bild von Vanessa auf, wie sie, nackt bis auf die geblümte Schürze, die in diesem Augenblick hinter seiner Küchentür hing, geschäftig am Herd hantierte und zu ihm hinüberlächelte. »Du sprichst ein großes Wort gelassen aus.« Er gab einen tiefen, hoffnungslosen Seufzer von sich. »Ich hätte gern vier schöne Koteletts, Casimir, für mich und den Kanonikus, oder machst du schon Urlaub?« Casimir griff nach seiner blutbefleckten Metzgerschürze, die neben dem Kühlschrank am Haken hing. »Maggie, das Herz in mir ischt ganz zerstückelt, bis ich nicht mehr weiß, bin ich
Schaf oder Schlächter? Ich habe das laute Geheul der Beschtie gehört, die mir vor langer Zeit meine Tierleichen gestohlen hat. An der Tür zum Schlachthaus habe ich ein Schloß angebracht, aber was zum Teufel kann ein Schloß gegen so ein Vieh ausrichten. Vier Koteletts, sagst du?« »Vier deiner besten und magersten, Casimir, bitte. Gott im Himmel, wovon redest du da? Von wegen heulen und auf Raub ausgehen! Im Gotteshaus solltest du sein, vor dem Herrn und dem Kanonikus auf den Knien liegen und die Seele deiner armen verstorbenen Mutter mit der Läuterung deiner Seele erfreuen. Da hast du’s!« »Und möchtest du auch ein Nackenstück, Maggie, um die Last der Sonntagsgebete zu erleichtern?« »Nur keinen Spott, Casimir Conlon, nur keinen Spott! Und wie ich sehe, hast du dich herausgeputzt für die große, weite Welt, mit Stiefeln und allem Drum und Dran. Wetten, daß du einem süßen jungen Mädchen den Hof machst?« »Ach, Maggie, eines wird’s doch geben auf dieser Welt, das mich nehmen würde?« »Also wirklich, Casimir Conlon, nun hör aber auf, so verschlagen nach Komplimenten zu angeln. Wäre eine Frau denn nicht stolz, zu dir zu kommen und in diesem schönen Haus für dich zu sorgen, hier und da ein wenig herzurichten – ein neuer Anstrich und etwas Politur? Sie würde sich wohl fühlen wie ein Kätzchen auf seiner Decke.« »Da gibt’s diese junge Vanessa, Maggie, da kann’s einem Mann ganz schön über den Rücken rieseln, was?« »So also steht’s mit dir, Casimir. Vanessa. Vanessa O’Mahony. Gott steh uns bei, Casimir, die ist doch noch ein ganz junges Ding, hat den Kopf voller Musik und Diskos und Drogen, und ihre arme Mutter hustet die letzten Momente ihres Lebens aus. Wie steht’s denn mit dir und der Disko-Szene, Casimir?«
»Über ›Der Wind, der die Gerste schüttelt‹ bin ich nie hinausgekommen, aber früher habe ich ganz schön was aufs Parkett gelegt.« »Was du brauchst, Casimir, ist ein strammes Frauenzimmer, das dir die Mahlzeiten kocht, die Hemden bügelt und dich in langen Winternächten wärmt, das an deiner Seite bleibt, statt auf der ganzen Insel herumzutollen und zu tirilieren. Und wird nicht der Kanonikus zunehmend brummiger und schwieriger, und ist er nicht viel zu sehr auf sein Gläschen Whiskey erpicht, als daß er die Wohltat einer guten Haushälterin zu würdigen wüßte?« Casimir wickelte die Koteletts in braunes Papier ein und faßte Maggie scharf ins Auge. Sie hatte ungefähr sein Alter und auch seine Figur. Gemütlich war das richtige Wort. Gemütlich. Er runzelte die Stirn, wandte sich einen Moment ab, um Bindfaden zu holen. Zu alt, um noch Kinder zu haben, aber für einen Mann, der die ersten Windungen und Wendungen seines Lebenswegs bereits hinter sich hatte, war das ein Segen. Genügend Fleisch, in das ein Mann die Zähne schlagen konnte. Keine Vanessa, das nicht. Sexy wäre nicht das richtige Wort. Erotisch auch nicht. Aber irgendwie aufreizend, und er lachte in sich hinein; Maggie »Muttons« O’Driscoll, die Haushälterin des Priesters, aufreizend! Aber gemütlich, daran konnte kein Zweifel bestehen. Sie schwabbelte so schön. Wie ein Mutterschaf mit dicker Wolle. Maggie schaute unbestimmt zur Tür des Hinterzimmers und trommelte mit den Fingern auf der Schlachtbank. »Und wie steht’s mit dir, Maggie, und den Diskos?« »Nun, Casimir, ich bin eher für einen schönen Abendspaziergang Arm in Arm und für ein unterhaltsames Gespräch zu haben, oder bei schlechtem Wetter bleiben wir abends zu Hause und lassen uns einen dicken Apfelkuchen mit einem Schlag Vanillesoße schmecken, er und ich sitzen vor
dem offenen Kamin, oder vielleicht sehen wir uns im Fernsehen eine dieser Seifenopern an, ein schönes Glas Whiskey mit heißem Wasser, einer Prise Zucker und ein paar Nelken in der Hand, Pantoffeln an den Füßen und in Gesellschaft eines Menschen, den ich kenne und mit dem ich mich verstehe.« »Klingt nicht schlecht, Maggie. Klingt eigentlich sehr gut. Vielleicht…« »Ja, Casimir?« »Ich würde dich mit dem Lieferwagen nach Hause fahren, Maggie, wenn ich mich nicht den Männern auf dem Berg anschließen müßte. Heute abend gehen wir auf die Jagd, weißt du, wir durchkämmen die Berghänge nach diesem wilden Kobold, Hund oder Teufel oder was immer schon so lange in unserem Leben herumspukt. Ich mache mich jetzt besser mit ihnen auf den Weg.« »Hat man jemals so einen Blödsinn gehört! Ich bin überrascht, Casimir Conlon, überrascht. Die brennen schon den Berghang ab, auf dem Weg habe ich den Rauch gesehen, der über die Hügel zieht. Aber was hast du doch eben noch gesagt, Casimir, was haben wir gesagt…« Casimir sah sie wieder an. Ihr Gesicht war freundlich, ihre Haut fast noch so glatt wie die eines Babys, ihre grauen Augen strahlten, wenn auch mit einem Anflug von Melancholie. Er hätte es gern gehabt, wenn dieses Gesicht sich aufhellte und ihn anlächelte. Das würde ihm gefallen. Ihr standen noch viele Jahre bevor, viele gemütliche Jahre. Sie errötete leicht unter seinem Blick und schaute weg, zur Ladentür hinaus. Und er könnte auch weiterhin seine Augen am Anblick der kurvenreicheren, unantastbaren Vanessa weiden und sie in Gedanken verschlingen, wann immer er die Lust dazu verspürte. Man kann jederzeit einen Schaufensterbummel
machen, dachte er, ohne den Laden betreten und etwas kaufen zu müssen. Er hielt Maggie das Päckchen mit den Koteletts hin. Diesmal sah sie ihm in die Augen. Lange Zeit schwiegen sie. »Ich und du, Casimir Conlon und Maggie O’Driscoll. Ja.« Im Zimmer hinten zu knarrte eine Diele, und das Schweigen dehnte sich, erwartungsvoll, unschlüssig. Er sagte es noch einmal, fühlte den Klang, prüfte ihn: »Casimir Conlon und Maggie O’Driscoll. Na, also!« Maggie schaute aus der Ladentür auf das ferne Meer. »Ist das ein Heiratsantrag, Casimir Conlon?« Sie wunderte sich über sich selbst. Sie zitterte. Plötzlich war ihr kalt. Ein Augenblick in einem langen Leben. Ein ausgemalter und erträumter Augenblick, als unmöglich verworfen. Plötzlich war er gekommen. Und unerwartet. Oder doch erwartet? Sie wußte es nicht. Ein Augenblick. Das ist alles. Und wenn er vorüberging? Was würde sein, wenn der Augenblick verging wie all die anderen Millionen Augenblicke? »Bei Gott, Maggie, weißt du was? Ja! Es ist ein Heiratsantrag!« Und Casimir Conlon hieb mit seiner großen Faust auf seinen Fleischertisch, und über seinen Körper glitt ein großes, warmes, goldenes Licht. Sie legte ihre Hand auf die seine und lächelte. »Casimir, ich gehe jetzt zurück und koche dem Kanonikus sein Abendessen. Dann stehle ich mich hinaus und komme wieder zu dir. Er wird mich nicht vermissen, Gott steh ihm bei. Laß dich nur nicht auf diese verrückte Kapriole in den Bergen ein, wir können doch hier ein wenig plaudern, nur ich und du. Ich bringe eine Flasche mit, die ich im Schrank oben stehen habe. Wie wäre das, Casimir, na, wie wäre das?« »Ach Gott, Maggie. Das wäre schön. Einfach schön.«
Kanonikus Donal Crowe hatte in der Stadt eingekauft und fuhr wieder nach Hause. Sein Auto, ein Morris Minor, war ebensosehr Teil von ihm geworden wie sein schwarzes Birett. Der Tachometer zeigte 25 000 Meilen an – und das zum zweiten Male. Das Auto, alt und ächzend, war der einzige wahre Aspekt, der ihm von seinen früheren Überzeugungen als junger Priester – Hingabe an Armut, Keuschheit, die Armen – geblieben war. Die Kunstledersitze waren abgenutzt und zu einem unbestimmten Grau verblichen, sie rochen förmlich nach Würde; das hölzerne Armaturenbrett war dunkelbraun, aber die Anzeigen funktionierten alle noch. Die Fahrtrichtungsanzeiger auf der rechten und linken Seite des Wagens waren noch dieselben gelben Winker, die wie Hühnerflügel hochklappten, wenn er abbiegen wollte. Nur die Bremsen waren bedenklich, ein Problem, das der Kanonikus gelernt hatte, auf seine Art zu lösen. Heute war er besonders glücklich. Die Bäume trugen seine Lieblingsfarben: Braun, Gelb und Ocker. Die Luft war still und frisch, und er wußte, bald würden die Wildenten vom Meer herbeigeflogen kommen, die Nächte würden dunkler werden, er würde zu Hause vor einem prasselnden Kaminfeuer sitzen und sich im Radio Hörspiele anhören. Im Kofferraum hatte er seine Nahrungsmittel für den täglichen Bedarf sowie eine Flasche irischen Whiskey, die er bei Sweeney & Sons, dem Lebensmittelhändler, diskret zu seinen Einkäufen dazugelegt hatte. Selbst Maggie würde bei solchem Wetter sanftmütiger sein, und er würde keine Angst davor haben, sie zu bitten, ihm gleich zweimal in der Woche seinen geliebten Hammeleintopf zu kochen. Als der Kanonikus langsam um eine Kurve bog, kam ihm Dr. Weir in seinem großen neuen Austin entgegen. Der Arzt fuhr wie immer sehr schnell, und der Kanonikus mußte ihm so weit nach links ausweichen, daß er mit den beiden linken Rädern
auf den grasbewachsenen Seitenstreifen geriet und beinahe im Straßengraben gelandet wäre. Dr. Weir brauste vorbei, ohne das Dilemma des armen Priesters oder seine zum Gruß erhobenen Finger zu bemerken. Und Kanonikus Crowe war entsetzt, daß der gute Doktor in einer Zeitung las, die aufgeschlagen vor ihm auf dem Lenkrad lag. Mein Gott! Wo sollte das alles noch hinführen – Tempo, Tempo, Tempo, keine Zeit mehr für die hergebrachten Höflichkeiten? Kanonikus Crowe schüttelte den Kopf und versuchte, seine friedliche Träumerei fortzusetzen. Andere Wagen überholten ihn, mehrere kamen ihm entgegen; jedesmal bremste er ab, machte ihnen Platz, machte ihnen so viel Platz, wie es nur irgend ging. Einige hupten – ob sie sich nun über sein Schneckentempo lustig machten, sich über ihn ärgerten oder ihn nur grüßen wollten, vermochte er nicht zu entscheiden. Doch eines stand fest: Wohin sie auch unterwegs waren, alle befanden sich in denkbar größter Eile. Und er wußte, wohin sie alle fuhren – nämlich dem Tod entgegen. Dem Tod entgegen. Er schmunzelte vor sich hin. Könnte sein, daß ich noch vor ihnen ankomme, aber in einem Tempo meiner Wahl, kicherte er, in einem Tempo meiner Wahl. Nur noch ein Krankenbesuch, dann den Kiesweg hinauf zu seinem Haus, Maggie die Lebensmittel aushändigen (aber nicht die Flasche!) und dann gemütlich vor dem Kamin sitzen. Er würde Radio hören, und wenn Maggie das Tablett abgeräumt und ihm eine gute Nacht gewünscht hatte, würde er sich ein, zwei Whiskeys gönnen, das Tier in sich besänftigen, danach seine Predigt für den nächsten Morgen ausarbeiten und vor sich hinträumen. Mrs. O’Mahony war sehr krank. Der Kanonikus stieg mit ihrer Tochter Vanessa die Treppe hinauf und trat leise ins Zimmer. (Vanessa – ein intelligentes, attraktives Mädchen, aber was für ein Name! Wo in aller Welt haben die bloß so
einen künstlichen Namen aufgetrieben? Der setzt dem Mädchen doch nur Flausen in den Kopf: Sie kam nie zur Messe, fegte alle Konventionen beiseite, trug enge Jeans und knotete sich ihre Bluse so, daß man ihren Bauchnabel sah. Der alte Monsignore vor ihm war ein ziemlicher Moralapostel gewesen, der die Pärchen nach Tanzveranstaltungen mit einem Stock aus den Büschen scheuchte, doch heutzutage küßten sie sich lüstern in der Öffentlichkeit und ließen ihre Hände vor aller Augen überallhin wandern.) Die arme Mrs. O’Mahony. Flach wie ein Brett und fast genauso reglos lag sie auf dem Bett, sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Atem klang wie ein alter Lastwagen, der die schmale Straße am Berghang hinaufkeuchte. Und sie war gelb, eingefallen, das letzte Blatt an einem Zweig, das jeden Augenblick abfallen mochte. In welches Dunkel? Erst vor wenigen Tagen hatte er ihr die Sterbesakramente gespendet, jetzt kniete er neben ihrem Bett, nahm ihre Hand in die seine und betete still, sie möge eine leichte Überfahrt über den tiefen Schlund auf Gottes heiligen Grund haben. Ihre Hand fühlte sich an wie Seidenpapier; mehr konnte er nicht tun, um sie festzuhalten. Er schloß die Augen und konzentrierte sich auf den Namen des Herrn. Vanessa stand neben ihm und schaute ihm zu. Er fragte sich, ob sie wohl betete. Er machte das Zeichen des Kreuzes über Mrs. O’Mahony und ging leise aus dem Zimmer. Vanessa kam hinter ihm die Treppe herunter. »Die Arme«, sagte er, »aber Gott segne sie, in ihrem langen Leben hat sie nie etwas Böses getan. Sie wird auf dem Weg in den Himmel sein, noch bevor wir wissen, daß sie gestorben ist.« Der Priester sah die junge Frau an, doch Vanessa ließ sich auf kein Gespräch ein. Sie ging schon die Diele entlang, als er zögernd stehenblieb.
Sie wandte sich zu ihm um. »Möchten Sie eine Tasse Tee, bevor Sie gehen?« Sagte es, wie ihm schien, mit einem Zwinkern ihrer wunderschönen Augen; als ob sie… Sollte ihr seine Schwäche für Whiskey etwa bekannt sein? Der Gedanke kränkte ihn zutiefst. »Nein, nein, ich danke dir, Vanessa, nein.« »Dann nicht«, gab sie abweisend von sich. Himmel hilf, nicht einmal ein Vaterunser wurde heutzutage gebetet. »Ich muß jetzt nach Hause, Vanessa, mit meinen Einkäufen, zu Maggie, weißt du. Aber wenn eine Veränderung im Zustand deiner Mutter eintritt, wirst du mich anrufen, nicht wahr?« »Natürlich, aber es hat doch keinen Sinn, Sie mitten in der Nacht aus dem Bett zu holen, oder? Sie haben alles getan, was in Ihrer Macht steht, und wenn sie stirbt, so wird sie allen Trost empfangen haben, den Sie ihr verschaffen können.« »Hmmmm, nun ja, Vanessa, ich denke, da hast du wohl recht. Dennoch, wenn ein Gemeindemitglied nach so vielen Jahren selbstlosen Dienstes von uns geht, um seinen ewigen Lohn in Empfang zu nehmen, ist es uns ein Trost, zu sehen, wie sich eine weitere Heilige in unserem Namen zum Throne Gottes aufschwingt. Auf seinem Weg zur Himmlischen Stadt wird ihr Geist nahe an uns vorüberfliegen, und der Hauch ihres Fluges wird unsere Wangen streifen.« »Wenn Sie es so wollen, ich habe nichts dagegen. Also, ich rufe Sie an, falls Sie das meinen.« Sie brachte ihn zur Tür. Die jungen Dinger, die sich heutzutage auf den Straßen herumtreiben, haben aber auch überhaupt keinen Sinn für das Mysterium, alles muß sofort aufgebraucht werden, hol’s dir, nimm’s dir, zehr’s auf, wirf’s weg. Intstantkaffee, Instanttee, Instantliebe, zehr’s auf und wirf’s in den Abfalleimer. Wegwerfseelen. Gott steh uns bei. Kein Gefühl für Zeit,
geschweige denn für die Ewigkeit. Und die arme alte Mrs. O’Mahony wird zwar eine fachmännische Beisetzung bekommen, aber sie werden das Ritual befolgen, ohne wirklich daran zu glauben, ohne Gottvertrauen, ohne Hoffnung, ohne alles. Der Kiesweg, der zu seinem Haus hinaufführte, stieg leicht an; dies erleichterte es dem Kanonikus Crowe sehr, seinen Morris Minor zum Stehen zu bringen. Die Bremsen waren unberechenbar, so daß er zeitlich alles sorgfältig aufeinander abstimmen mußte, damit der Wagen von selbst anhielt. Tatsächlich hatte man ihn oft gesehen, wie er aus dem Wagen sprang und vorstürzte, um ihn, die breiten Schultern gegen die Motorhaube gestemmt, eigenhändig zum Stehen zu bringen. Er hatte zwei alte Handbügeleisen, die er vor und hinter eines der Räder legen konnte, um den Wagen, wenn er stehengeblieben war, zu blockieren. Da er sein Lebtag nicht schneller als vierzig Stundenkilometer gefahren war, hatte er nie eingesehen, weshalb er kostspielige Bremsen in den alten Wagen einbauen lassen sollte. Dieses Mal klappte alles tadellos, der Wagen gelangte geisterhaft genau vor der Küchentür zum Stillstand. Dank sei Gott für die bauschigen Falten einer schwarzen Soutane, dachte er, als er den Whiskey in sein Studierzimmer schmuggelte. An diesem Abend versank Kanonikus Crowe vor dem Kamin in einen angenehmen Schlaf. Er hatte gut gegessen, Maggie hatte das Geschirr abgeräumt, und er hatte beschlossen, vor der Ausarbeitung seiner Predigt ein Nickerchen zu halten. Im Zimmer war es still, nur das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims und das leise Zischen des in sich zusammenfallenden Feuers war zu hören. Er döste ein. Plötzlich wachte er erschrocken auf. Er glaubte, ein Klopfen an seiner Tür gehört zu haben. Er schaute auf die Uhr: wenige Minuten vor zehn. Maggie war bestimmt zu Bett gegangen. Er
ging zur Tür und schaute hinaus in die Diele. Dort brannte ein schwaches Nachtlicht, aber es war niemand zu sehen. Er ging zurück in sein Zimmer und ließ sich wieder in seinen tiefen Lieblingssessel sinken. Die Zeilen eines Gedichts fielen ihm ein: Schlaf kam träge schon gekrochen, plötzlich an der Tür ein Pochen. Als ob leis ein Fingerknochen pocht an meine Kammertür.
Er schmunzelte. Teils wegen seines Namens – Crowe, Krähe –, hauptsächlich jedoch, weil er den Rhythmus, den Klang und das Mysteriöse dieses Gedichts liebte. Der Kanonikus kannte sämtliche Verse von Edgar Allan Poes Gedicht »Der Rabe« auswendig. Wenn er in die Dorfschule ging und vor Josh MacLeans kleinen Jungen stand, rezitierte er oft Passagen des Gedichts. Er hielt seine Schönheit dem dummen Zeug entgegen, das sie allabendlich im Fernsehen sahen. Kanonikus Crowe schenkte sich ein kleines Glas Whiskey ein und stellte es in greifbare Nähe auf den Kaminsims. Er begann, über seine Predigt für den folgenden Tag nachzudenken. Oktober, Mitte Oktober, kein besonderer Tag, ein ganz gewöhnlicher Sonntag, »ein Sonntag in gewöhnlicher Zeit«, als ob nicht das ganze Leben ohnehin gewöhnlich wäre, in seiner Gemeinde geschah ohnehin nichts Ungewöhnliches. Er mußte über sich lachen, als er sich an sein Latein, an seine Berufung erinnerte. »Ist nicht das Leben selbst ein Wunder?« sagte er und langte nach der goldenen Flüssigkeit. Er las die Bibeltexte im Brevier, aus Jesaja: Und Gott der HERR wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen und wird aufheben die Schmach seines Volks in allen Landen; denn der HERR hat’s gesagt. Schön, wunderschön. Mrs. O’Mahonys anfälliger, trauriger Körper stand vor seinem
geistigen Auge, er dachte an Vanessa und daran, wieviel ihr entging, da sie nicht einmal ahnte, daß über ihrem Leben ein dichter Schleier lag, wenn sie nicht an die großen Mysterien glaubte. Er nahm einen großen Schluck von seinem Whiskey und sprach laut vor sich hin: Und der Rabe regt sich nimmer, sitzt noch immer, sitzt noch immer – Auf der bleichen Pallasbüste auf dem Sims ob meiner Tür, Starrt dämonisch schwarz aus seinen Augen, die zu träumen scheinen – Lampenlicht malt auf den Steinen seinen Schatten schwarz und schwer; So erhebt sich von den Steinen, aus dem Schatten schwarz und schwer Meine Seele – nimmer mehr! Der Kanonikus seufzte befriedigt auf. Morgen würde er ihnen eine gute Predigt halten; früher Winter, der Tod in den Bäumen, auf den Feldern, die Alten und Schwachen, die einem neuen Winter entgegenblickten… Er würde von der Schönheit des Jenseits erzählen… Laßt euch auf das Unsichtbare ein, wendet euch ab von materiellen Werten… Wendet euch dem Unbestechlichen zu, dem Mysterium, der Herrlichkeit… Wieder glaubte er ein Klopfen an der Tür zu hören; er rief »Herein, Herein«, erhielt jedoch keine Antwort. Er ging zur Tür und öffnete sie; niemand. Er ging wieder zur Küche; Maggie mußte zu Bett gegangen sein; er sah an der Haustür nach; niemand. Der Wind wurde stärker; Regentropfen spritzten gegen die Fenster; es würde eine regnerische Nacht
werden. Er schloß die Tür zu seinem Zimmer, froh über das warme Feuer; er rückte näher heran, genehmigte sich noch einen Whiskey und las das Evangelium für den nächsten Tag. »Das Himmelreich ist gleich… der seinem Sohn Hochzeit machte… sie wollten nicht kommen… meine Ochsen und mein Mastvieh… kommt zur Hochzeit… sie wollten nicht kommen.« Ja, er würde ihnen von dem großen Fest erzählen, das ihnen in dem herrlichen Land außer Sichtweite bereitet wurde, einem Land, in dem der Tod vernichtet und jede Träne abgewischt war. Würde ihnen erzählen… In der gegenüberliegenden Zimmerecke schrillte das Telefon. Er fuhr zusammen. Es war Vanessa. Ihre weiche, warme Stimme drang aus großer Entfernung zu ihm. »Father Crowe, Mutter ist tot. Sie ist wenige Minuten vor zehn friedlich entschlafen. Sie hatten mich gebeten, Ihnen Bescheid zu geben.« »Der Herr sei ihrer Seele gnädig. Ich möchte dir mein herzliches Beileid aussprechen, Vanessa. Ich bin schon auf dem Wege.« Vanessa bestand darauf, daß er nicht zu kommen brauche. Ihre Mutter sei tot. Sie würde bis zum Morgen so liegenbleiben. Es gebe nichts, was irgendjemand heute nacht noch tun könne. »Aber ich würde gerne mit dir und deiner Mutter einige Gebete sprechen, Vanessa«, bat er. »Ich bin mir sicher, daß das in ihrem Sinne ist.« »Nun, wir sind alle sehr müde, und wir wollen bald zu Bett gehen. Wir hätten es lieber, wenn Sie irgendwann morgen kämen, vielleicht nach der Messe, dann können wir die Beerdigung in allen Einzelheiten besprechen.« »Na schön, Vanessa, es ist eine ziemlich regnerische Nacht, aber ich will zur Kirche hinübergehen und ein paar Gebete für
ihre Seele und für euch alle sprechen. Gott stehe dir in dieser Nacht bei, Vanessa. Dann also gute Nacht.« »Gute Nacht, Hochwürden.« Sanft, aus weiter Ferne. So hatte Mrs. O’Mahonys Seele denn das Jammertal verlassen und ihren Flug zum Hause Gottes angetreten. Kanonikus Crowe ging zum Kamin zurück und goß sich ein weiteres Glas Whiskey ein. Er würde zur Kirche hinübergehen. Zu Fuß waren es nur fünf Minuten; er wäre gleich wieder zurück; das war das mindeste, was er tun konnte, nun, da ein Mitglied seiner Gemeinde für immer davongegangen war, zum großen Festbankett an der Tafel des Königs. Drauf der Rabe: »Nimmer mehr.« Er setzte sich, um seine Gedanken für die Predigt am nächsten Tag zu sammeln und sich einige Notizen zu machen. Jetzt konnte er über Mrs. O’Mahony sprechen und in den allgemeinen Verlauf seiner Predigt das besondere Beispiel eines heiligen Todes einbringen, eines Übergangs von dieser Insel zur Insel der Seligen. Es war halb elf, die Zeit zwischen den Zeiten, die Zeit der ersten tiefen Dunkelheit der Nacht. Er goß sich noch einen Whiskey ein, trank ihn in einem Zug aus und füllte das Glas erneut. Er fror und kauerte sich näher ans Feuer. Morgen war der achtundzwanzigste Sonntag in gewöhnlicher Zeit; sie zog sich lange hin, die Zeit zwischen dem Ostergeheimnis und dem wundersamen Adventsbeginn; diese Zeiten, die zwischen den Zeiten liegen, sind am mühsamsten zu meistern; sie bringen Leere, sie müssen mit Gott gefüllt werden. Der Whiskey füllte sein Inneres mit angenehmem Feuer. Er mußte sich Vanessas annehmen, ihr Bewußtsein erweitern… Sie wäre ein wunderbarer Fisch, der sich ertränken… an Land, ans Ufer des Herrn ziehen ließe. Er kippte den Whiskey hinunter, um sich zu stärken… Dabei verschüttete er ein wenig auf seine Soutane und auf den Lehnstuhl. Hoppla, Maggie wird
böhsche sein. Böse! Er kicherte in sich hinein, die arme Maggie, die arme Jungfer Maggie, bestimmt schlief sie fest wie ein Stumpf, Rumpf, Sumpf… Da erfaßt mich wilder Jammer, jählings hast ich in die Kammer; Plötzlich hör ich’s wieder pochen, etwas lauter als vorher. Die Worte gingen ihm durch den Kopf, und er sah schnell zur Tür hin. Stille. Er blickte sich im Zimmer um. Nichts. Hatte ihn etwa der Geist von Mrs. O’Mahony auf seinem Flug gestreift? Er fand seinen Mantel. Er schritt hinaus in die dunkle Oktobernacht. Es regnete, und der Wind peitschte um die Hausecken, der Kiesweg war zwar zu sehen, aber er fand den Weg zur Kirche auch in völliger Dunkelheit. Als er durchs Tor und über den Viehrost auf die Straße hinaustrat, schien ihn etwas an den Knöcheln zu fassen, und er fiel hin. Einen Moment lang saß er auf der Straße und befühlte seine Knie, Hände und Ellbogen; er merkte, daß er leicht schwindlig war. Und seine Brille war heruntergefallen. Er tastete auf dem nassen Boden herum, bis er sie gefunden hatte. Soweit kein guter Anfang, kicherte er und rappelte sich auf. Priescht… priesterliche, so hieß es, priesterliche Würdjsche… Er schaltete das Licht in der Sakristei ein und ging zum Altar. Es war sehr kalt in der Kirche; der Wind draußen schien beim Aufprall auf den hohen Mauern des Gebäudes eine besondere Kraft zu entwickeln, er verstärkte sich zu einem Heulen und klang in einem Seufzen und Stöhnen aus. Der Regen prasselte gegen die Buntglasfenster. In der Kirche brannte nur die Ewige Lampe, und es war ein kleines, gelbes Rechteck Licht zu sehen, das von der offenen Tür der Sakristei auf den Altar fiel.
Kanonikus Crowe kniete auf der untersten Stufe und starrte hinauf zum Ewigen Licht; erst jetzt bemerkte er, daß es nicht der Regen auf seiner Brille war, der alles gebrochen erscheinen ließ – beide Gläser waren gesprungen. Ihn verließ der Mut. Ohne seine Brille konnte er kaum eine Handbreit weit sehen. Er versuchte zu beten. Er stellte sich vor, wie er am nächsten Morgen während der Messe vor dem Altar stolpern würde; doch war er nicht ihr Kanonikus? Ein leichtes Stolpern hier und da würde nur das Mitgefühl seiner Gemeinde erwecken. In der Dunkelheit der Kirche hinter ihm war plötzlich ein Schlurfen zu hören. Er drehte sich um, doch im Finstern konnte er nichts sehen. Dann war irgendwo im Inneren der Kirche ein Luftzug zu spüren, und der Priester glaubte einen Schimmer von etwas Weißem oder Grauem zu erhaschen, das sich schnell von einer Dunkelheit zur anderen bewegte. Dann herrschte Stille. Er fühlte, daß sein Körper vor Angst erstarrt war; er wollte rufen, doch bekam er keinen Laut heraus. Der Wind draußen erschien ihm nur noch um so lauter und der Regen um so heftiger. »Sah nur Dunkel, sah nichts mehr.« Er wandte sich wieder dem Altar zu, blieb sich aber des großen schwarzen Raumes hinter ihm bewußt. Laut sprach er die Worte: »Vater unser, der Du bist…«, und sogleich war abermals von irgendwo in der Dunkelheit draußen ein dumpfes, zischendes Geräusch zu hören, gefolgt von einem Kratzen. Das Echo in der Kirche machte es schwer, genau festzustellen, woher das Geräusch kam. Kanonikus Crowe dachte an den wächsernen Leichnam von Mrs. O’Mahony, die auf ihrem Totenbett lag. »Jetzt, lieber Gott, o mein lieber Gott, steh mir bei, jetzt und in der Stunde meines Todes«, flüsterte er laut. Aus dem Raum hinter ihm kam eine geflüsterte Antwort, doch Kanonikus Crowe wußte, wenn es wirklich eine Stimme
war, dann ganz sicher keine menschliche Stimme. Er drehte sich auf den Stufen um und setzte sich. Durch seine gesprungenen Brillengläser spähte er in die Dunkelheit. Er versprach, zum Gedächtnis an die liebenswürdige und fromme Mrs. O’Mahony hinfort keinen Tropfen Whiskey mehr anzurühren. Das Geräusch war noch immer zu hören, ein schwaches, fast geflüstertes Kratzen, das den Raum auszufüllen, das hier, dort und überall zugleich zu sein schien. Unwillkürlich kamen Kanonikus Crowe Worte in den Sinn, und er sprach sie leise in die Dunkelheit: »Seh er!« rief ich, »Teufelsbraten! – Seh er doch, ob Tier, ob Satan! – Ob dich der Versucher sandte, ob der Sturm dich trieb hierher, Hoffnungslos, doch stolz… Hoffnungslos, doch – stolz…«
Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte Kanonikus Crowe die Verse vergessen. Er wendete seine Angst und seinen Kummer gegen sich selbst, stand auf und rief: »Narr! Verbrecher! Sünder! Ich bekenne hier vor meinem Gott und vor dir, du quälender Geist, daß ich gesündigt habe und daß ich es bereue.« Aus dem Raum vor ihm antwortete völlige Stille auf seinen Ausbruch. Einen Moment lang verspürte er einen kühlen Hauch, der seinen Kopf umwehte. Er neigte sich vor und wartete auf den Schlag, von dem er wußte, daß er kommen würde. Nichts geschah. In der Kirche war es so still wie in einem Sarg. Wieder stieg in ihm das Bild von Mrs. O’Mahony auf, der alten Matrone, der Witwe, der Heiligen, da stand sie in ihrer Schürze, die roten Fäuste wund vom Waschen, das Haar in einem wilden Haß auf das, was das Haar einer Frau sein
konnte, am Hinterkopf zu einem nassen Heuhaufen zusammengebunden. Ihr Gesicht war verzerrt von Gewißheit, Tugend, Freude am Jammer; ihr Mund schief von Anspielungen, Mäkeleien, Flüchen gegen die fürchterliche Verlockung des Alkohols, dem die Männer verfielen. Und Kanonikus Crowe wußte, daß sie es war, die bei ihm in der Kirche war und versuchte, ihn dafür zu vernichten, daß er es versäumt hatte, bei ihr zu weilen, als sie aus diesem Jammertal schied. Er schrie, er schrie und schrie und schrie und fand Erleichterung darin, daß sein Körper zum Zerreißen gespannt war. Als das Echo erstarb, wußte er, was er zu tun hatte. Er stolperte wieder die Stufen des Altar hinauf und nahm das Kruzifix von seinem Ständer über dem Tabernakel; er ging zum Ewigen Licht und nahm die darin schwimmende Kerze heraus. Langsam, mit schwankenden Schritten stieg er die Stufen hinab und betrat das Kirchenschiff mit dem Ruf: »Ich weise dich von mir! Ich weise dich von mir! Ich schwöre dir ab und rufe dich herbei aus dieser Dunkelheit. Böser Geist, weiche von diesem heiligen Grund; kehre zurück in das Reich des Bösen, aus dem du gekommen bist. Ich weise dich zurück im Namen des Vaters. Ich weise dich zurück im Namen des Sohnes. Ich weise dich zurück im Namen des Heiligen Geistes!« Er wartete auf eine Antwort, aber es kam keine, zu hören war nur das Pfeifen des Windes und das Prasseln des Regens gegen die Kirchenmauern. Er flüsterte die Worte noch einmal: »Ich weise dich von mir!« Daraufhin fühlte er sich beruhigt und sehr, sehr müde. Eine Weile stand er still, das kleine Licht in seiner Hand zitterte mit seinem Zittern, und er wußte, daß es vorbei war, daß er gesiegt hatte, daß er weit über diesen Samstag in gewöhnlicher Zeit hinausgegangen war und überlebt hatte. Erschöpft setzte er sich auf eine der Kirchenbänke; er rollte sich zusammen und
dankte dem Herrn. »Meine Brüder und Schwestern«, sagte er halblaut, »meine lieben Brüder und Schwestern, heute ist ein wundersamer Tag, auch wenn es ein Tag wie jeder andere zu sein scheint. Heute, am achtundzwanzigsten Sonntag in gewöhnlicher Zeit, habe ich wundersame Dinge zu berichten, wunderdjschame, wundersame Djschinge…«, und entkräftet glitt der Kanonikus in einen langen Schlaf der Gesundung.
Elf
Träumerisch glitt die Straße unter ihr hinweg. Ein langer, grauer Teppich. Sie flog darüber hinweg. Sie sah zu dem großen Mann neben ihr im Führerhaus. Dineen. Der bringt’s. Er nickte gewichtig. Sie drückte seinen Arm. »Und du, Pat? Wie schaut’s bei dir aus?« Schnell und flüssig erzählte er ihr von seinem Kummer am Vorabend. Von seinem Besuch bei Maud, seiner Seelenqual, seinem Leid. Unversehens breitete er sein Leben vor ihr aus, etwas, was er noch nie zuvor getan hatte, nicht einmal vor den Missionaren im Beichtstuhl, nicht einmal vor sich selbst. Ihr Blick blieb an ihm haften, ihre Finger berührten seinen Arm. Es war, als zerre ihre Gegenwart seine intimsten Gedanken ans helle Tageslicht. Er redete in einem fort, und seine Seele entfaltete sich wie eine Blume. Die Straße huschte vorbei, Bäume, Sträucher, Dörfer, und am Horizont tauchten die Berge der Insel auf. Er erzählte ihr, er habe die Nacht in seinem Lieferwagen auf Downpatrick Head an der Küste von Mayo verbracht. Langsam sei er den langgestreckten Hang hinaufgelaufen. »Mein Kopf war – ich weiß nicht wie, Patty, leer, aber voll glucksender und schwappender Geräusche. Und mein Körper fühlte sich so schwer an. Ich bin ja ohnehin schwer, ich bin ›The Reek‹, ›Puddings‹, ich weiß, aber das war etwas anderes, Hoffnungslosigkeit. Es gibt da diese Gischtlöcher im Felsen, das Meer brandete gegen die Klippen, drang tief, tief unter ihnen ein und barst durch die Erde in die Luft wie eine Fontäne. Ich spähte in eines dieser Löcher. Nicht, daß ich irgend etwas vorgehabt hätte, mich hätte hinabstürzen wollen
oder so. So bin ich nicht gebaut, ich hätte entsetzliche Angst davor, aber irgendwie war ich davon fasziniert, von der Gewalt, der Schönheit, dem weiten Ausgreifen der See, und ich hatte das Gefühl, daß der Hügelstreifen, auf dem ich stand, eines Tages, in Tausenden und Abertausenden von Jahren, vom Meer aufgefressen und verdaut werden würde. Und der Gedanke daran verschaffte mir, ich weiß nicht weshalb, ein wenig Erleichterung. Und dann gibt es oben auf der Landspitze eine Felsnadel wie ein gewaltiges, aus dem Erdreich geschnittenes Stück Kuchen, man sieht sämtliche Gesteinsschichten, dicke und dünne, die Felsnadel ragt zehn, zwölf Meter weit ins Meer, und obenauf wächst ein kleines Stück Gras. Dort draußen wollte ich sein, weit weg von der Welt, auf diesem Grasflecken auf der Felsnadel wollte ich liegen, auf all diesen Millionen und Abermillionen Jahren, mich auflösen und mit dem Erdboden verschmelzen. Ich weiß nicht, Patty, aber es hatte wohl damit zu tun, wie klein wir sind und wie kurz wir auf der Erde weilen, wie seltsam das Verlangen, der Zorn, die Sehnsüchte und die Hoffnungslosigkeit in unserem Innern, und da stand ich nun, die Nacht senkte sich herab, die Meeresvögel ließen sich auf ihren Felsvorsprüngen nieder, tief unter mir brachen sich die Wogen, dort ragte die Felsnadel auf, und die Zeit verstrich immer weiter. Ich wußte, daß meine Traurigkeit die Welt, das Meer, den Himmel nichts anging, im ganzen All niemanden etwas anging, und irgendwann würde sie eigentlich auch mich nichts mehr angehen. Ich kletterte den Hügel hinab, stieg in den Lieferwagen und schlief friedlich ein. Heute morgen habe ich in einem Cafe herzhaft gefrühstückt und bin nach Hause gefahren. Und dann habe ich dich gesehen.« Plötzlich verlegen geworden, brach er schließlich ab. Sie hatte den Blick nicht von seinem Gesicht abgewandt und die Hand nicht von seinem Arm genommen. Bisweilen hatte sie
genickt, sie hatte verstanden. Ja, hatte sie geflüstert, ich weiß, ich weiß. Stumm schaute sie ihn eine Weile an, ihr Kopf zitterte leicht, ihre Augen ließen ihn nicht los. Dann sagte sie: »Du bist ein feiner Mensch, Pat Larry, ein feiner Mensch. Dodgie pflegte zu sagen, daß die meisten Menschen ›um so seichter werden, je tiefer man bohrt‹. Bei dir ist das anders, Pat Larry, bei dir ist das anders. Du bist ein feiner Mann, und Maud Tuohy hätte von Glück reden können, dich zu heiraten.« Er grinste einfältig, froh. »Und du weißt, was Liebe ist, Pat, du hast es empfunden, erfahren, verstanden, und das ist etwas Wunderbares.« Wieder drückte sie seinen Arm. »Du bist ein guter Mensch, Pat Larry, und ich bin froh, daß du es bist, der vorbeigekommen ist und mich gefunden hat.« Er fühlte sich wieder stark, wie er so in seinem Führerhaus saß, vor ihm die Hügel, sein Geschäft, seine Gespräche mit sich selbst und dem Abend. Und später hätte er etwas zu sagen; hätte einen Anlaß; hätte etwas, woran er sich erinnern, worauf er bestehen konnte; hätte Namen für die Liebe, wäre Zeuge. Würde Zeugnis ablegen. Vorerst aber… Als sie zur Inselkirche kamen, bat sie ihn, sie abzusetzen. Sie wolle eine Weile beten. Zuerst. Dann, sagte sie, wolle sie nach Hause gehen. Sie werde zu Hause froh sein. Froh. Endlich gesund. Und eins mit sich. Er stieg aus dem Führerhaus und kam herum, um ihr herauszuhelfen. Er faßte sie unter die Achseln und hob sie heraus. Sie legte ihm die Hände auf die Arme und lächelte auf ihn herab. Sie ist gewichtlos wie ein Schmetterling, dachte er, so zart, daß die leiseste Brise sie davonwehen könnte. Als er sie absetzte, war sein Herz übervoll. Er reichte ihr die kleine rote Plastikjacke. Sie zog sie an, und sie schien ihr zu groß,
schien sie niederzudrücken. Eine Kinderjacke mit einer Kinderkapuze. »Wiedersehen, Patty«, murmelte er verlegen, »Wiedersehen und danke.« »Auf Wiedersehen, Pat Larry Dineen.« Sie schüttelte ihm die Hand. »Ich werde dich wiedersehen, Pat, ich werde dich wiedersehen. Bald schon.« Sie wartete, bis sein Lieferwagen – sein großer Ellbogen ragte aus dem Fenster – um die nächste Kurve gebogen war. Sie wartete, bis das Motorengeräusch in der Nachmittagsstille verklungen war. Dann herrschte Stille, nur eine schwache Brise wehte um die Kirchenmauern. Sie hatte so lange nichts gegessen, aber sie verspürte keinen Hunger. Irgendwo in den Feldern bellte ein Hund. Und einmal hörte sie das hohe, stolze Krähen eines Hahnes. Auf der Straße war niemand zu sehen, aus den verstreuten Häusern drang kein Lebenszeichen. In der Kirche fühlte sie sich zu schwach, um zu knien. Das Gebäude war leer, aber voll von Echos, warmen Erinnerungen und einem Wohlgeruch, der nach langen Jahren des Weihrauchs, der Gebete und der Hoffnung umherschwebte. Sie setzte sich hinten in einen ruhigen Winkel und betrachtete die Ewige Lampe, die vor dem Altar flackerte. Sie konnte nicht beten. Sie war zu erschöpft. Kleine hellblaue und türkise Lichtflecken tänzelten spielerisch wie Falter im Takt zum lebhaften Tanz der Wolken draußen. Sie sah sie über die Wände an den Fenstern huschen, sie hörte sie singen. Durch das offene Portal kam ein kleiner Vogel hereingeflogen. Verwirrt, verletzt, verängstigt flog er rasch durch das ungeheuer leere Universum des Kirchenbaus. Mitunter rastete er, und sie betrachtete ihn mitleidvoll. Einmal landete er in ihrer Nähe und richtete kurz sein winziges erschrockenes Äuglein auf sie. Eine Drossel, dachte sie. Das Herz in der gesprenkelten Brust pochte heftig. Der Vogel hatte
keinen Grund, sich vor ihr zu fürchten. Sie streckte sich auf der harten Kirchenbank aus und sank auf der Stelle in einen tiefen, langen, sorglosen Schlaf. Bald ließ sich auch die Drossel in einer Nische hinter dem Beichtstuhl nieder und verstummte. Der Abend glitt vorüber. Es war Nacht.
Als sie erwachte, war die Kirche ein dunkler Wald, an dessen anderem Ende wie ein Sonnenstrahl ein einziges Licht leuchtete. Von der harten Bank war sie ganz steif. Als sie versuchte aufzustehen, merkte sie, daß die Schmerzen sie erneut befallen hatten. Jeder Knochen, jeder Muskel tat ihr weh. Lange Zeit saß sie still und erduldete den Schmerz, und allmählich ließ er, wenn auch nur geringfügig, nach. Sie blieb sitzen und dachte nach. So konnte sie Dodgie nicht unter die Augen treten – ein großes Wrack des Leidens, das ihm nur zur Last fiele. Und zurück konnte sie auch nicht, nie wieder zurück in das Krankenhaus, wo man sie ihres Verstandes beraubt und ihn durch gräßlich glucksenden Irrsinn ersetzt hatte. Sie würde sich verstecken, vor der Welt vergraben. Vielleicht hatte er also doch gesiegt, der Wolf, vielleicht hatte er gesiegt. Jemand hatte die Hintertür geschlossen, und irgendwo hörte sie ein unruhiges, unregelmäßiges Atemgeräusch. Unter Schmerzen erhob sie sich, die Bank knarrte kaum unter ihrem leichten Gewicht. Weiter vorn im Wald stieß sie auf einen schlafenden Mann, der laut atmete und sich unruhig hin und her wälzte. Er wirkte verloren und krank. »Du auch«, flüsterte sie ihm zu. »Du auch. Versteckst dich vor der Bestie. Ja, von uns gibt’s viele. Viele.« Noch unsicher auf den Beinen, ging sie nach vorn, wo das Licht schien. Sie schritt durch die Sakristei, zur Tür hinaus und auf den Kirchhof. Es war Vollmond, und die Welt war in sein zweideutiges Licht getaucht. Nach dem Regen war der Boden
naß, und eine kühle Brise erfaßte sie. Sie blieb stehen, um sich zu orientieren. Dann lief sie los, so schnell sie konnte, als habe sie neue Kraft und Entschlossenheit gewonnen. Manchmal zögerte sie, als vermisse sie etwas, das sie bei sich tragen sollte. Die Straße führte durch wildes, leeres Moorland. Hinter den Hügeln in der Ferne nahm sie eine sonderbare Glut wahr. Fast wie ein Leuchtfeuer, das sie rief, dachte sie. Im Mondlicht erkannte sie deutlich Zaun und Hügel und Torfhaufen. »Butterblumen und Löwenzahn und Gänseblümchen«, sagte sie leise, »Gänseblümchen und Löwenzahn und Butterblumen. Auch Möwen und Elstern. Elstern und Bananen…« Sie verließ die Straße und folgte einem Torfpfad bis zum Rand eines Torfstichs. Dort pflückte sie ein paar Wollgrasblüten und blickte sich geistesabwesend um. Sie steckte die Blüten in die Tasche ihrer roten Plastikjacke und trat wieder auf die Straße. Dann eilte sie weiter. Die Straße vor ihr war ein graues Band. Sie konnte die Ausläufer des Berges sehen. Sie waren scharlachrot, kastanienbraun und orange, sie flimmerten und flirrten wie eine Fata Morgana. Sie eilte weiter.
Den ganzen Nachmittag über waren sie langsam, zielstrebig über den Berg gelaufen. Begonnen hatten sie am hintersten Ende, dort, wo der Berg sich zu seiner höchsten Höhe erhebt und in Klippen endet, die mächtig über das Meer hinausragen. Sie waren ausgeschwärmt und rückten in einer langen Reihe vor, bewaffnet mit keulenartigen Stöcken, mit Fischhaken, scharf und tödlich wie Macheten. Sie hatten Heugabeln wie die Dreizacke der Gladiatoren. Sie hatten Messer. Sie hatten Gewehre. Sie waren Cowboys und Indianer, sie waren Tataren und Kosaken. Unter ihnen befand sich der Captain, der stumm, mit grimmiger Entschlossenheit durch das Gelände stapfte. Er
hatte sein Mausergewehr K98 dabei. Es war geladen, mit nur einer Kugel, dem Geschenk eines deutschen Soldaten, einer silbernen Kugel. Für das rauhe Terrain und für das Wetter waren sie genau richtig gekleidet. Windjacken. Gegürtete Mäntel. Regenmäntel. Mützen. Hüte. Watstiefel. Nagelstiefel. Es waren dreißig, vielleicht vierzig Mann. Wie sie so in einer langen Kette marschierten, war jeder dem anderen so nahe, daß sie einander beistehen konnten. Bis auf vereinzelte Rufe, gelegentliche Worte der Ermutigung bewegten sie sich schweigend voran. Hier und da schlugen sie im Vorübergehen auf den Boden. Bei ihrem Anmarsch jagten sie kein Lebewesen auf. Sie sahen keine Vögel, keine Schafe oder Ziegen auf dem Bergrücken. Einmal, als die Dämmerung jeden Hubbel und jeden Huckel in ein sprungbereites wildes Tier verwandelte, hob einer der Männer plötzlich seine Büchse und schoß. Die Kugel bohrte sich tief in eine Torfwand. Der Schuß echote über die Berglehne, und der Mann brach in erregte Rufe aus. Dann verfielen alle wieder in Schweigen. »Wie immer auf Schatten gezielt«, bemerkte der Captain. Hinter ihrer langsam vorrückenden Kette kam eine zweite Reihe, zehn Männer, die große, mit Benzin gefüllte Kanister auf dem Rücken trugen. In Abständen bedeckten sie Heidekraut und Gräser mit einem feinen Sprühregen. Und auch sie rückten weiter vor. Den ganzen Nachmittag zogen sie so über den Berg. Am frühen Abend machten sie eine Pause, um ihre Sandwiches zu verzehren und Tee aus ihren Thermoskannen zu schlürfen. Einige stürzten in gierigen Schlucken Whiskey hinunter, der ihnen in der Kehle brannte. Stärkten sich, gegen welche Bestie auch immer. Bald, als die erste Dunkelheit über sie hereinbrach, stiegen sie die weniger beschwerlichen Hänge auf der anderen Seite des Berges hinab. Am späten Abend hielten
sie von neuem an, um ihre Brote aufzuessen und ihre Thermoskannen auszutrinken. Inzwischen waren sie müde und gereizt. Sie hatten nichts gefunden. Etwa anderthalb Kilometer hinter ihnen folgte die Feuersbrunst. Die Flammen entzündeten sich langsam, zischten plötzlich auf und wurden zu einer schwachen, aber steten zinnoberroten Glut, die sich über die ganze Breite des Berghangs erstreckte. Als die trockene Heide in Brand geriet, gab es ein knisterndes, grollendes Geräusch. Rauchwolken stiegen zum Himmel auf Es war, als grummele und fluche der Berg vor sich hin. Der Captain wandte sich um und gelangte wieder zu einem Kamm, von dem er das Gefühl hatte, er sei noch nicht gründlich genug abgesucht. Es war dunkel, aber der Mond war aufgegangen, die Grasbüschel und die hohen Felsenspitzen des Berges waren in einen quecksilbrigen Schimmer getaucht. Weiter oben konnte er die schroffen Ränder des Nordhangs sehen, Felsenkliffe, die vor Jahren bei einem gewaltigen Erdrutsch stark zerklüftet worden waren. Und dann – später schwor der Captain immer wieder, er sei sich sicher, vollkommen sicher – war zwischen ihm und den Berghängen eine schemenhaft zerfließende Gestalt aus der Nacht aufgetaucht. Ein Schemen, ein Schatten, riesig und bedrohlich. Und während in der Luft ringsher ein leiser Klagelaut ertönte, war ihm ein Gestank von Tod und Fäulnis in die Nase geschlagen. Ferner beschwor er, der Schemen habe sich auf ihn zubewegt, und lange sei er, der Captain, wie versteinert gewesen, starr, mutlos und allein. Plötzlich sei der Mond von einer Wolke verhüllt worden, die jähe Dunkelheit habe fast einer Ohrfeige geglichen, er habe das Gewehr gehoben, mit merkwürdig sicherer Hand gezielt und geschossen. Der Knall habe zwischen den Felsen und den höheren Hängen laut
widergehallt, und einen langen Augenblick sei da nichts als Leere, Dumpfheit und Kälte gewesen. Der Captain konnte den Widerschein der Feuersbrunst am Berg sehen. Er vermeinte, eine Gestalt auszumachen, ob Mensch, ob Tier, konnte er nicht sagen. Er glaubte einen Ruf zu hören, einen leisen, langgezogenen Schmerzensruf, dann verschwand die Gestalt über der Klippe oder in den weit geöffneten Armen des Feuers. Der Captain wußte es nicht zu sagen. Er wußte es nicht zu sagen. Als man ihn später bestürmte, war er sich nicht sicher, wie konnte er sich sicher sein, wie konnte irgendeiner von ihnen es jemals, es jemals wieder wissen? Die gesamte Bergflanke stand in Flammen, das Feuer brannte stundenlang, dankbar, als werde seine Gier nach Zerstörung genährt. Eilends stolperte der Captain wieder zu den Männern zurück. Nein, sie hatten nichts gehört, sie hatten nichts gesehen, sie hatten ihn nicht schießen hören, sie hatten keinen Schrei vernommen. Er bildete sich Dinge ein, das war alles. Auf Schatten zu schießen! Er zeigte ihnen das Gewehr, den Verschluß, den leeren Lauf, einer von ihnen berührte den noch warmen Lauf sogar. Doch morgen, nach der Messe, würden sie in einer langen Reihe wiederkommen, die Berglehne rascher überqueren, nach exponierten Mulden suchen, die sie übersehen haben mochten, nach kleinen oder großen Höhlen, hoffentlich nach den Überresten dessen, was sie für ihre Beute hielten. Sie begann die tieferen Hänge hinanzusteigen. Das tanzende Kastanienbraun, Orange und Scharlachrot war so weit entfernt, daß sie losklettern konnte. Furchtlos schritt sie auf dem unebenen Boden aus. Der Schmerz saß in ihr drin, wartete geduldig wie der Phönix auf Verjüngung. Dann und wann stach ihr ein schwacher Brandgeruch in die Nase. Sie mußte sich beeilen. Sie besaß eine Kraft, wie sie sie schon lange nicht
mehr gekannt hatte. Auf ihrer Klettertour zeigte ihr der Mond Felsen und mit Wasser gefüllte Mulden. Auf dem harten Erdboden konnte sie ihre eigenen Schritte hören. Das Licht brach sich an den Steinen einer eingestürzten Hütte, und sie hielt einen Moment inne, um zu rasten. Es gab herabgefallene Steine, die wieder ins Erdreich zurücksanken. Dazwischen wuchsen kleine Brennesselbüschel. Wie sie so dastand und die Strecke, die sie schon zurückgelegt hatte, mit den Augen maß – ihr schmächtiger Körper aufrecht, die Gummistiefel zu groß für ihre Füße –, verspürte sie eine starke innere Ruhe, so wie die große Ruhe in den Abständen zwischen den Sternen. Sie war entschlossen. Sie wußte den Weg. Sie war glücklich. Sie lächelte über die silbrige Landschaft ihrer Insel hin. Dann kletterte sie weiter. Sie gelangte zu einem Berggrat, und unten zu ihrer Rechten konnte sie den Ozean erkennen, schön und still im Mondenschein. Von der brennenden Heide kam jetzt ein starker Brandgeruch, aber sie wußte, bald würde sie einen weiteren Grat überqueren und sich der Brise entziehen. Vor ihr lag ein kleines, feuchtes, mit Binsen und Heide bestandenes Tal. Sie durchquerte es gewichtlos wie ein Schmetterling, ihre rote Plastikjacke glänzte wie Schmetterlingsflügel. »Damit ich dich besser sehen kann…« Dann kletterte sie weiter und kämpfte sich zu den höheren Hängen vor, ein steiler Anstieg. Sie fand ihn mühsam, ihr Atem ging schwerer, in ihren Gliedern regte sich leise der Schmerz, in ihren Schläfen pochte es leicht. Sie kam zu einem anderen Kamm hoch über dem Tal. Unten zu ihrer Rechten konnte sie den See erkennen, ein Quecksilbertümpel in der Umarmung des Berges. Hier war von der Brise nichts mehr zu spüren. Auch die Feuersbrunst konnte sie nicht mehr riechen. Sie blieb stehen und atmete tief durch.
Verzagt kamen sie den Berg herab. In fast völligem Schweigen versammelten sie sich um ihre Autos, zogen die schweren Kleider aus und legten die Waffen ab. Sie hatten nichts gefunden. Nichts. Obwohl hoch über ihnen ein wunderschöner Mond am Himmel stand, war es inzwischen dunkel. Ein Wind kam auf. Die ersten Regentropfen fielen. Der Captain verstaute sein Gewehr im Kofferraum seines Wagens. Er war erleichtert, daß er es wieder weglegen, aus der Hand geben konnte. Als die lange Suche sich bis zum Abend hingezogen hatte, war ihm das Gewicht der Waffe fast unerträglich geworden. So als stemme er mit dem alten deutschen Gewehr, das er gereinigt und für den Tag gebrauchsfertig gemacht hatte, zugleich das Gewicht sämtlicher Kriege einer erbärmlichen Welt. Er blickte zurück über die Berghänge. Bald, das wußte er, würde das Feuer wie eine Reihe Fußtruppen den Gipfel erreichen und mit seinem unerbittlichen Abstieg auf dieser Seite beginnen. Ein ganzer Berg stand in Flammen, dachte er, eine Nacht, über die sie noch in Jahren sprechen würden. Und inzwischen war auch er davon überzeugt, daß er mit einem Schatten gekämpft hatte, daß seine silberne Kugel harmlos in das weiche Fleisch der Berglehne eingedrungen war. Einen Augenblick mußte er an Patty denken; bald würde er sie sehen, es würde ihm Freude machen, ihr von dieser Expedition zu erzählen, sie würde ihre großen Augen weit aufreißen, wenn er ihr von dem brennenden Berg erzählte, von der Glut, vom Prasseln der Flammen, wie wenn eine Million Ameisen über einen Holzfußboden marschierte. Er würde ihr davon erzählen, wie tapfer er gewesen war, als er sich dem Zweikampf mit einem Schatten stellte. Sie würde lachen, und sein Herz würde sich mit Liebe und Schmerz und mit Hoffnung füllen. Armer alter Dodgie. Armer Dodgie. Als sie weiterging, roch sie einen neuen Geruch in der Luft, einen zarten Duft, einen
Moschusgeruch, einschmeichelnd, durchdringend. Ganz langsam stieg sie den Hang hinauf. Beim Weiterklimmen schien der Duft stärker, vertrauter zu werden, doch sie fand keinen Namen für ihn. Wie eine Wolke vor dem Mond zog eine große Rauchspirale über sie hinweg, und sie blieb verwirrt stehen. Ein stechender Schmerz erfaßte ihre rechte Hand, und sie schaute auf sie hinab; sie war wieder steif geworden, die Knöchel waren straff und spröde, die Hand in der Dunkelheit kraftlos, weiß und zittrig. Sie wußte, daß er lange genug geduldig geblieben war. Jetzt kam er, sie zu holen. In weiter Ferne meinte sie einen leisen Schrei zu hören. Einen heftigen Schmerzensschrei. Sie hielt ihn für ihren eigenen Schrei, der tief in ihr widerhallte. Sie eilte weiter, hinan, hinan. Endlich erreichte sie den letzten Kamm. Jetzt konnte sie das laute Prasseln der Flammen hören; sie konnte sogar die Hitze des brennenden Farn- und Heidekrauts fühlen. In ihrer Hand verspürte sie einen sengenden Schmerz; auch ihre Gliedmaßen fühlten sich an, als wären sie in Brand gesteckt. Dann erblickte sie in der Ferne eine Reihe schrecklicher, seltsam vermummter, stummer Gestalten, die sich fächerartig voranbewegten. Sich langsam, langsam, langsam auf sie zubewegten. Sie ängstigten. Da entdeckte sie die Farne und Gräser, die eine Öffnung verbargen. Sie ließ sich auf Hände und Knie nieder und zwängte sich hinein. Sogleich befand sie sich in tiefstem Dunkel. Die Erde unter ihr war fein und fest. Das Dach der Höhle war niedrig, der Eingang schmal, aber ihr Körper hatte reichlich Platz. Um sie her herrschte jetzt vollkommene Erdenstille. Es war unglaublich dunkel. Doch der Boden war trocken, und bald stellte sie fest, daß sie sich aufrichten konnte. Mit den Haaren berührte sie eben das Dach der Höhlung. Ein Hauch des Duftes von vorher umwehte sie. Sie vernahm nichts als ihren eigenen leisen Atem.
Rechter Hand schien die Höhle eine scharfe Kurve zu machen. Vorsichtig, mit ausgestreckten Händen, tastete sie sich an der Wandung zu beiden Seiten entlang. Als sie ans Ende der Höhle kam, drehte sie sich um und setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf die Erde. Ihr war nicht kalt. Sie hatte heftiges Gliederreißen, aber sie würde nicht aufschreien. Auch ihr Kopfweh nahm zu, sie hatte das Gefühl, als hämmerten in ihrem Kopf sämtliche Schmerzen, unter denen sie je gelitten hatte, und drängten hinaus ins Freie. Doch trotz alledem war sie eins mit sich, klarsichtig, gelassen und eins mit sich. Sie lächelte ins Dunkel. Sie schloß die Augen und versank in ihrem eigenen, noch tieferen Dunkel. Sie zog die Knie an, umschlang sie mit den Armen und stützte den Kopf auf, um auszuruhen. Sie war ein Embryo des Schmerzes. Sie war eins mit sich. Sie wartete.