Martin Schäuble Asyl im Namen des Vaters
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Martin Schäuble
Asyl im Namen des Vaters
Fotos, Leserbriefe, Pressestimmen im Internet unter ... www.asylimnamendesvaters.de
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Originalausgabe © 2003 by Martin Schäuble, Berlin Alle Rechte vorbehalten. Redaktionsschluss: 15. August 2003 Lektorat: Anne Voggenreiter Umschlaggestaltung, Fotomontage: Tilo Steiner Fotos Vorderseite (Duc Toan Nguyen und Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm): © Martin Schäuble Foto Rückseite: © Céline Meyer Druck, Bindung: Books on Demand GmbH, Norderstedt Printed in Germany ISBN 3-8311-5000-1 4
„Wer glaubt, ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich. Man wird ja auch kein Auto, wenn man in einer Garage steht.“ Albert Schweitzer
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Prolog Duc Giang, ein kleiner Ort in der Nähe von Hanoi, im Dezember 1972. Der fünfjährige Tuan Nguyen spielt mit einem seiner beiden Brüder auf der Straße. Der andere Junge besucht Freunde, die Mutter arbeitet. Irgendwann treten die zwei Kinder den Heimweg an. Nach fünf Minuten hören sie die aufgeregte Stimme eines alten Mannes. Die Lautsprecher an den Straßenlaternen verbreiten seine Worte im ganzen Ort. Der Mann hinter dem Mikrofon redet schnell und laut. Er gibt den Abstand der Flugzeuge zu Duc Giang an. Bomber-Alarm! Als er von 50 Kilometern spricht, übertönt Sirenengeheul seine Stimme. Einen Augenblick später hört Tuan, wie sein Bruder ihm zuruft. Der ganze Ort scheint sich zu bewegen. Nachbarn und Freunde rennen an ihnen vorbei. Dann spürt er die Hand seines Bruders, die ihn mitzieht. Zusammen laufen sie den Menschen hinterher. Einzelne von ihnen schreien. Sie schreien Namen, die Tuan nicht kennt. Überall weinen Kinder. Tuan nähert sich seinem Ziel. Die Bunker messen 20 Meter in der Länge und zwei Meter in der Breite. Die Schutzräume liegen ein paar hundert Meter von Tuans Wohnung entfernt. Vor den Erdlöchern herrscht ein Gedränge. Tuan klettert mit seinem Bruder in eine der Öffnungen. Die Leute, die nach ihm kommen, drücken ihn weiter in die stickige Dunkelheit. Er kann im Bunker stehen. Die Erwachsenen müssen in die Hocke gehen. In dem Graben schreit keiner mehr. Einige flüstern. Viele schweigen. Von seinem zweiten Bruder fehlt jede Spur. 7
Tuan hört leises, dumpfes Donnern. Das Gewitter kommt näher. Sekundenlang bleibt es bei dem leichten Grollen. Im nächsten Moment bebt die Erde. Tuan presst seine Hände an die Ohren. Er kneift die Augen zusammen. Die B-52-Bomber werfen einen Teil ihrer Fracht über Duc Giang ab. Brücken, die über den Roten Fluss führen, stürzen ein. Gebäude gehen in Flammen auf. Treibstofftanks explodieren. Bis zu 30 Tonnen Kriegslast tragen die Flugzeuge. Tuan wird nie erfahren, wie viele Tausend Kilo auf seinen Ort gefallen sind. Der Gestank von brennendem Benzin dringt durch die Luftlöcher in den Bunker. Tuan hört fast nichts mehr. Kein Gewitter. Keine Schreie. Nur ein grelles Pfeifen. Minuten vergehen. Die Menschen im Bunker bewegen sich. Tuan folgt ihnen aus der Höhle. Sein Bruder sagt etwas. Doch Tuan kann es nicht verstehen. Das schmerzende Pfeifen übertönt die Worte. Ein Soldat kommt auf die zwei Kinder zu. Er hievt Tuan auf seine Schultern. Tuans Bruder nimmt er an die Hand. Sie laufen gemeinsam zum Roten Fluss. Auf dem Weg dorthin sieht Tuan Verwundete. Der Soldat eilt an einem Lkw vorbei. Auf der Ladefläche liegen aufeinander gestapelte Menschen. Ein Mann mit Uniform steht am Straßenrand und trägt einen Verband um den Bauch. Andere liegen leblos auf ihren Gewehren. Tuan wird über 30 Jahre später diese Bilder noch vor sich sehen. Sie laufen ein paar hundert Meter weiter. Am Ufer des Roten Flusses bleiben sie stehen. Der Soldat setzt ihn ab. Er verabschiedet sich von den zwei Jungs und verschwindet. Vielleicht rennt er zurück zum Bunker, vielleicht zu den Verwundeten. Tuan wird ihn nie wieder sehen. 8
Eine Stunde wartet er mit seinem Bruder am Flussrand. Plötzlich steht seine Mutter vor ihm – mit dabei sein zweiter Bruder. Die Kinder lachen und umklammern sich gegenseitig. Die Mutter weint. Ihr Mann bekommt davon nichts mit. Tuans Vater arbeitet an diesem Tag in Hai Phong. Die Hafenstadt liegt drei Autostunden entfernt von Duc Giang. Auch Hai Phong bleibt von den Bomben nicht verschont. Tuans Vater hört im Radio, dass die Flugzeuge sein Heimatdorf bombardiert haben. Ein Arbeiter des Betriebes fährt ihn nach Hause. Den aufsteigenden Rauch der brennenden Treibstofflager sieht Tuans Vater schon einige Kilometer vor Duc Giang. Dort angekommen, läuft er auf sein Zuhause zu – die Wände aus Bambusholz sind von Bombensplittern durchlöchert, die Haustür fehlt. Er betritt den Raum und entdeckt zwischen den Trümmern seine Frau. Tuans Mutter kniet auf dem Boden und verstaut Kleider in Kisten, Lebensmittel in Taschen. Die Kinder blieben am Fluss. In der Nacht zieht die Familie in den Nachbarort. Das Dorf liegt auf der anderen Seite des Roten Flusses. Tuan schläft mit seinen Brüdern auf dem Boden der neuen Wohnung. Die Eltern transportieren mit einem ausgedienten Fischerboot die restlichen Sachen über das Wasser. Tuan beobachtet in den kommenden Tagen Flugzeuge am Himmel. Manchmal heulen weit entfernt Sirenen. Sein Vater beruhigt ihn. Das neue Zuhause sei sicher. Es gebe keine Brücken, keine Fabriken, keine Treibstofftanks. US-Zeitungen und Blätter aus Nordvietnam veröffentlichen in den Tagen danach Artikel über die jüngsten Angriffe. Die nordvietnamesische Zeitung „Cuu Quoc“ 9
warnt in einem Aufmacher vor „weiteren Verbrechen gegen unsere Bürger“.1 Das US-Verteidigungsministerium weist derartige Anschuldigungen von sich. So titelt die „New York Times“ kurz vor Weihnachten auf ihrer ersten Seite: „Pentagon sagt, Bombardement zerstört militärische Ziele – es bestreitet ‚Terror‘-Überfälle“.2 Eine Woche zuvor hat ein Diagramm in der „Washington Post“ gezeigt, wie viele Tonnen Bomben bereits abgeworfen worden waren.3 Es handle sich um die „inoffizielle Anzahl“. Über einem Balken steht in großen Druckbuchstaben „Nordvietnam“. Die Säule reicht bis zur 1,0-Marke. 1,0 bedeutet eine Millionen Tonnen.
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„Cuu Quoc“ vom 24. Dezember 1972 „New York Times“ vom 21. Dezember 1972 3 „Washington Post“ vom 14. Dezember 1972 2
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Draußen vor der Tür Libbenichen, ein 490 Einwohner zählendes Dorf in Brandenburg. 22. Mai 2000 gegen 17 Uhr. Pfarrer Olaf Schmidt und seine Frau Birgit werden in wenigen Minuten eine ihrer folgenschwersten Entscheidungen treffen. Birgit Schmidt füttert in dem kleinen Stall hinter dem Haus die zwei Pferde. Ihr Mann arbeitet im Büro – ein knapp 20 Quadratmeter großes Zimmer. In einer Ecke stehen ein mit grünem Stoff bezogenes Sofa, zwei Sessel und ein dreibeiniger Holztisch – die Beratungsecke. Daneben surrt der Kopierer. Pfarrer Schmidt sitzt an dem robusten Holztisch in der Mitte des Raumes. Sein schwarzer Vollbart wechselt unter den Lippen und an den Schläfen in ein helles Grau. Dichte, schwarze Brauen über den blaugrünen Augen formen sich manchmal zu einem besorgten Knick. Eine Schreibmaschine liegt auf dem schmalen Tisch neben ihm. Telefon und Faxgerät sind hinter seinem Rücken an der Wand zwischen den zwei Fensterscheiben angeschlossen. Die Bücher stapeln sich auf den fünf Regalen – viel über Gott, einige Werke noch aus DDRZeiten. 1957 ist Schmidt in Ost-Berlin zur Welt gekommen. Er war sechs Jahre alt, als Arbeiter die Mauer unter Bewachung von bewaffneten Soldaten, Volkspolizisten und Mitgliedern von Betriebskampfgruppen bauten. In der nun eingemauerten Heimat besuchte er die Polytechnische Oberschule bis zur zehnten Klasse. Der „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ) trat er nicht bei. Klassenfahrten fanden daher ohne ihn statt. Bei den Veranstaltungen der FDJler hatte er schulfrei. Die Mutter 11
wollte ihren Sohn nicht bei der DDR-Jugendorganisation sehen. Sie erklärte dem Jungen, wieso. Sie seien Christen und glaubten an Gott, nicht an die Partei. Das merkte er sich. Er ließ sich bei der Deutschen Reichsbahn zum Triebfahrzeugschlosser ausbilden. Später musste er zur Nationalen Volksarmee. Nach acht Monaten Militär stellte er einen Antrag, die Armee früher verlassen zu dürfen. Seine Mutter lag schwer krank zu Hause. Er wollte bei ihr sein. Seine Eltern hatten sich schon vor langer Zeit getrennt. Die DDR-Behörden gaben seinem Antrag statt. An der Volkshochschule holte er das Abitur nach. Der Sozialistischen Einheitspartei (SED) blieb er fern. Bekennendes Kirchenmitglied und nicht in der SED – beides sorgte bald für Probleme. Bekannte erklärten ihm, bei manchen Studiengängen sei es ohne Parteibuch schwierig, einen Studienplatz zu bekommen. Ein Freund berichtete ihm vom Theologiestudium. Olaf Schmidt besuchte seit seiner Kindheit regelmäßig Veranstaltungen der Kirche. Seine Mutter hatte ihn sehr religiös erzogen. Vermutlich waren dem Freund diese Dinge durch den Kopf gegangen, als er Olaf Schmidt das Theologiestudium schmackhaft machen wollte. Schmidt versuchte es. Er bewarb sich um Aufnahme an der Humboldt-Universität und erhielt dort einige Monate später einen Platz. Nach zehn Semestern, zwei Examen und dem zweijährigen Pfarr-Praktikum begann er seine Arbeit als evangelischer Gemeindepfarrer in Libbenichen – drei Jahre vor dem Mauerfall. Seither tauft er Kinder und besucht alte Menschen am Sterbebett. Er traut Verliebte und besucht zerstrittene Familien. Zwei bis drei Mal pro Sonntag hält er einen 12
Gottesdienst ab und sucht danach Menschen auf, die nicht mehr zur Kirche gehen können. Doch auf das, was in wenigen Minuten auf ihn zukommen wird, bereitete ihn niemand in den zehn Semestern vor. „19.30 Uhr Chor“ steht auf der Seite seines Terminkalenders unter dem heutigen Datum, dem 22. Mai 2000. Jeden zweiten Montag trifft er sich mit Gemeindemitgliedern zum Singen. Doch bis dahin bleiben noch zwei Stunden und 30 Minuten Zeit. Jemand drückt auf die Türklingel. Pfarrer Schmidt läuft zwischen dem schmalen Arbeitsplatz und dem Tisch mit der Schreibmaschine vorbei. Normalerweise öffnen seine Kinder die Tür. Dann springt jemand aus seinem Zimmer, bringt die alte Holztreppe zum Poltern und macht auf. Dieses Mal poltert keine Treppe. Paul, Karl, Marie-Luise und Anna-Thekla sind nicht zu Hause. Olaf Schmidt hatte sich immer eine große Familie gewünscht. Er wuchs als Einzelkind ohne Vater auf. Nun war er verheiratet, hatte vier Kinder und zu wenig Zeit für die Familie. Er öffnet die Bürotür, geht durch den dunklen Flur am leeren Gästezimmer vorbei und auf die gläserne Zwischentür zu. Dort schiebt er Cesar auf die Seite. Der Hund kann zwar Türen öffnen, aber er hat nicht immer Lust dazu. Manchmal springt er mit den Vorderbeinen hoch, drückt mit den Pfoten die Türklinke nach unten und bewegt sich so von Zimmer zu Zimmer. Schmidt öffnet die Glastür, dann die massive Haustür, die einzige Tür im Haus, bei der Cesar passen muss. Vor der Tür wartet Tuan Nguyen. Er hält eine voll gepackte Reisetasche in der Hand. Neben ihm stehen seine Frau Ha und sein achtjähriger Sohn. Schmidt sieht, wie ein 13
vor dem Haus parkendes Auto plötzlich beschleunigt und davonfährt. Er kennt Familie Nguyen von seinen Besuchen im Flüchtlingsheim. Asylbewerber schauen auch manchmal bei ihm persönlich im Pfarrhaus vorbei. Der eine braucht Rat, der andere Beistand. Manche sagen, sie seien gläubig, andere lassen das Thema Religion außen vor. Viele beten zu Allah, einzelne sind Buddhisten. Zu Letzteren zählen Tuan und Ha. Als der Pfarrer Familie Nguyen sieht, das davonfahrende Auto wahrnimmt, die Reisetasche in Tuans Hand bemerkt, weiß er Bescheid. Sie brauchen mehr als Rat und Beistand. Sie begrüßen sich gegenseitig, während Tuan erklärt, dass sie mit ihm sprechen müssen. Der Pfarrer bittet Tuan, einen Augenblick zu warten. Er läuft an ihm vorbei, erzählt seiner Frau im Pferdestall von dem Besuch und kommt mit ihr zurück. Ein paar Sekunden später sitzen sie mit Familie Nguyen in der Küche. Birgit Schmidt kennt die Familie vom Sehen. Sie besucht zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern öfters Veranstaltungen im Flüchtlingsheim. Eine Gruppe von ehrenamtlichen Helfern kümmert sich um die Bewohner des Heimes – die Gruppe nennt sich Flüchtlingshilfekreis. Bei den Treffen dieses Kreises ist auch Birgit Schmidt ab und zu dabei. Sie hat dort einmal davon gehört, dass Tuans Sohn krank sei. Und sie hat erfahren, wie lange Familie Nguyen sich schon um ein Bleiberecht in Deutschland bemüht. Doch Genaueres weiß sie nicht; in den Heimen leben viele Flüchtlinge und die Flüchtlingshelfer sprechen über so manche Schicksale. 14
Einmal haben sie mit Hilfe von Familie Nguyen einen vietnamesischen Abend organisiert. Sie haben Frühlingsrollen aus Reispapier gemacht, mit Hackfleischfüllung, Sojasprossen, Morcheln und Lauchzwiebeln. Bei dem heutigen Treffen in der Küche denkt niemand an Essen. Tuan zieht einen Brief aus der Jackentasche. Er zeigt dem Pfarrer ein Schreiben der Ausländerbehörde. Es enthält genaue Angaben zur geplanten Abschiebung nach Vietnam. Tuan deutet auf die Stelle, wo Tag und Uhrzeit erwähnt werden. Die Abschiebung soll in vier Stunden vollzogen werden. Dann erzählt Ha etwas, was Olaf und Birgit Schmidt nicht ahnen können. Has Sohn Duc Toan hat wegen seiner Krankheit ein ärztliches Attest. Doch nicht nur er – auch Ha hat die schriftliche Stellungnahme eines Arztes. Der Mediziner warnt vor einer Flugreise. Der Grund? Ha erwartet ihr zweites Kind. Der Eilantrag ihres Rechtsanwaltes hat beim Verwaltungsgericht Frankfurt/Oder nicht das gewünschte Ergebnis gebracht. Die Behörden haben zwar Has Duldung verlängert, doch Tuan und Duc Toan durften weiterhin abgeschoben werden. Pfarrer Schmidt schaut seine Frau an, sie sprechen kurz miteinander. Dann läuft er in sein Arbeitszimmer und setzt sich in den Ledersessel mit den dicken Armlehnen. Auf dem Schreibtisch sucht er nach einer Liste mit den Telefonnummern der Gemeindekirchenräte. Sieben Telefonnummern. Alle fünf Jahre finden Wahlen statt. Dann wählen die 505 Kirchenmitglieder der umliegenden Dörfer ihren Gemeindekirchenrat. Die Telefonnummern ändern sich selten. 15
Im Rat kennt man sich – zwei Verkäuferinnen im mittleren Alter, eine 60-jährige und eine 40-jährige Hausfrau, eine Sozialarbeiterin, ein Landwirt, ein selbstständiger Handwerker und Pfarrer Schmidt. „Es gibt etwas zu klären hinsichtlich eines Kirchenasyls.“ Viel mehr sagt er nicht am Telefon. Knapp eineinhalb Stunden später treffen sie sich im Gemeindehaus vom benachbarten Ort Dolgelin. Keiner fehlt – auch Tuan sitzt mit am Tisch. Ha und Duc Toan warten bei Birgit Schmidt im Pfarrhaus. Zwei Räume gibt es für die Gemeinde. Ein Raum in Klassenzimmergröße für Gottesdienste, ein kleineres Zimmer für Besprechungen – eine Falttür trennt sie voneinander. An diesem Abend sitzen sie um den klobigen Holztisch im kleineren Zimmer. Ein gutes Viertel des Raumes nimmt eine in Potsdam hergestellte Orgel in Anspruch. Pfarrer Schmidt und Tuan erzählen der versammelten Gruppe von der geplanten Abschiebung. Schmidt erklärt, wieso Vater und Sohn abgeschoben werden sollen, die Mutter aber für ein paar Monate bleiben darf. Tuan berichtet vom Leben seiner Familie – vom Leben in Flüchtlingsheimen. Sie wohnen seit neuneinhalb Jahren in derartigen Unterkünften. Er erzählt von Rechtsstreitigkeiten, von vergeblichen Bemühungen um ein Bleiberecht, von Duc Toans Krankheit und von Has Schwangerschaft. Die Flucht ins Pfarrhaus sei ihr einziger Ausweg gewesen. Der Pfarrer habe einmal im Heim gesagt, dass sie sich melden sollten, wenn sie Hilfe benötigten. Nun sei es soweit. Pfarrer Schmidt stellt dem Rat die entscheidende Frage. Die Mitglieder stimmen per Handzeichen ab. Die Hand hoch, bedeutet ja und ja heißt Kirchenasyl für Vater und 16
Sohn. Eine Abschiebung der Mutter sehen die Behörden zunächst nicht vor. Sie hat somit nichts zu befürchten. Nicht immer ist sich der Rat einig. Heftige Diskussionen gab es beim geplanten Zusammenschluss mit benachbarten Gemeinden. Auch als sich jemand darüber beschwerte, im Gottesdienst würden zu viele Texte verlesen, gab es Unstimmigkeiten. Manche wollten alles ändern, andere gar nichts. Bei der Abstimmung zum Kirchenasyl gibt es keine Debatte. Dieses Mal halten alle die Hand hoch. Die Familie soll nicht getrennt werden. Dass ein Streitgespräch ausblieb, ist vor allem einer Tatsache zu verdanken. Bereits zwei Jahre zuvor hatten die Räte über ein Kirchenasyl diskutiert. Damals war es reine Theorie gewesen. Sie hatten einfach klären wollen, was sie im Falle X machen würden. Aus Theorie wird nun Praxis. Der Pfarrer protokolliert das Ergebnis mit einem blauen Kugelschreiber auf einen linierten Zettel. Das Stückchen Papier wird noch Jahre danach irgendwo in seinen Akten liegen. „Der Gemeindekirchenrat Dolgelin beschließt: Der Bitte um Kirchenasyl durch Herrn Nguyen für ihn und seinen Sohn Duc Toan wird stattgegeben.“
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Auf dem Weg ins Gelobte Land Hanoi, 1986. Zeit, sich zu verabschieden. Tuan Nguyen ist 19 Jahre alt und nervös. Der Flieger nach Ho-Chi-MinhStadt soll in einer Stunde abheben. 18 Stunden und zwei Zwischenlandungen später müsste das Flugzeug in Prag ankommen. Tuan umarmt seine Mutter und seine beiden älteren Brüder. Mit dem einen rannte er im Dezember 1972 um sein Leben. Er bückt sich, streichelt seinen zehnjährigen Bruder, der den Vietnamkrieg nur aus Erzählungen kennt. Eigentlich will der Junge nichts davon wissen. Nur manchmal, da fragt er nach. Dann fragt er so gründlich, wie nur ein Kind Fragen stellen kann. Wenn andere Kinder zum Beispiel auf einem abgelegenen Feld spielten, eines davon auf einer bisher nicht gezündeten Bombe herumsprang, der Blindgänger explodierte und den jungen Körper in Stücke riss. Dann wollte Tuans Bruder wissen, wieso das passiert ist. Tuan schüttelt seinem Vater die Hand. Sie sagen sich etwas, woran er sich später nicht mehr erinnern wird. Dann liegen sie sich in den Armen. Er ist sich sicher, dass sein Vater stolz auf ihn ist. Tuan soll in Prag zum Weber ausgebildet werden. Der Vater arbeitet selbst in der Verwaltung eines Textilbetriebs. Er kümmert sich um die Lieferung von Baumwolle und Farbstoffen. Seit Kriegsende verbringt er mehr Zeit zu Hause als früher. Damals entschieden die Bomben, wo er arbeiten musste. Manchmal fuhr er eine Stunde zur Arbeit, dann zerstörten die Bomben seinen Arbeitsplatz und er musste zu der nächsten Fabrik seines Betriebes. Wenn die 18
Werkssirenen heulten, kündigte sich ein Arbeitsplatzwechsel an. Tuan freut sich auf die Zeit in Prag. Manche Freunde beneiden ihn wegen der Reise ins Ausland. Weder seine Bekannten, seine Verwandten noch Tuan selbst kennen die Hintergründe. Ein paar Monate nach seiner Abreise wird in Deutschland „Die Zeit“ einen Beitrag mit dem Titel „Sozialistische Gastarbeiter“ veröffentlichen.1 „Das sozialistische Vietnam, unter den Ländern Asiens eines der ärmsten, hat sich eine ungewöhnliche Einnahmequelle erschlossen. Hanoi hat rund hunderttausend Vietnamesen als ‚Gastarbeiter‘ nach Osteuropa geschickt. Der Hintergrund: Vietnams Auslandsschulden sind auf etwa sechs Milliarden Dollar angestiegen; zwei Drittel davon schuldet der indochinesische Staat seinen kommunistischen Verbündeten. Allein 1985 leistete die Sowjetunion an Vietnam, das sich 1978 dem RGW2 anschloss, Wirtschafts- und Militärhilfe von gut 1,6 Milliarden Dollar; weitere 180 Millionen Dollar Wirtschaftshilfe kamen aus den osteuropäischen Bruderländern. Die Vietnamesen, die in Osteuropa arbeiten, erhalten nur 30 bis 40 Prozent ihres Lohnes ausbezahlt; den Rest müssen sie an die Regierung in Hanoi abführen.“ * Das Flugzeug rollt über die Startfläche, beschleunigt, drückt Tuan in den weichen Sitz und hebt ab. Über einigen Tausend Metern Höhe freundet er sich mit dem 1 2
„Die Zeit“ vom 1. Mai 1987 Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) besteht bis 1991.
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gleichaltrigen Lam an. Insgesamt sind ein Dutzend junge Männer und Frauen an Bord, die ebenso wie Tuan in der Tschechoslowakei ausgebildet werden sollen. Erst Stunden nach dem Abflug, irgendwo zwischen Südostasien und Osteuropa, entdeckt Tuan Ha. Die hübsche 17-Jährige fällt ihm auf, weil sie noch immer weint. Nur die Mutter kam zu Has Abschied am Flughafen von Hanoi. Der Bruder musste arbeiten. Ihren Vater kannte sie nicht. Has Vater hatte zunächst als Polizist in Hanoi gearbeitet. Kurz bevor Ha auf die Welt kam, begann er seinen Dienst bei der Armee. Ihre Mutter erklärte ihr später, er habe sich freiwillig beim Militär gemeldet. Has Vater wollte angeblich im Süden gegen die Amerikaner kämpfen. Er kehrte nie aus dem Vietnamkrieg zurück. Ha entwickelte deswegen ein besonders starkes Verhältnis zu ihrer Mutter. Wahrscheinlich fiel ihr der Abschied daher schwerer als anderen. Ha kommt gerade von der Schule. Sie reist zum ersten Mal in ihrem Leben und musste vor ein paar Stunden erstmals Abschied nehmen. Tuans Versuche sie zu trösten, sie aufzuheitern, bleiben erfolglos. Gegen fünf Uhr landen sie auf dem Prager Flughafen. Tuan schaut aus dem Fenster und sieht zum ersten Mal in seinem Leben Schnee. Das Flugzeug rollt noch ein paar hundert Meter auf der Landebahn weiter und hält auf dem Abfertigungsfeld an. Gemeinsam steigen sie die herangerollte Metalltreppe herunter. Tuan geht in die Hocke, nimmt Schnee in die Hand, zerreibt ihn zwischen den Händen. Sein neuer Freund Lam rutscht hinter ihm auf dem vereisten Boden aus. Er versucht kurz, das Gleichgewicht zu finden, scheitert damit und liegt im Schnee. Erst flucht 20
er, dann lacht er aber doch mit den anderen über seinen Sturz. Am Flughafen warten drei Männer: der Leiter des Betriebes, jemand von der vietnamesischen Botschaft und ein Dolmetscher. Sie führen Tuan, Ha, Lam und den Rest der Gruppe zu einem Bus. Tuan trägt außer einem Hemd, einer Jeans und einer dünnen Jacke nichts, was sonderlich warm hält. Das Thermometer zeigt im Norden Vietnams im November 30 Grad mehr als in Prag. Mit dem Bus fährt die aus Vietnam angereiste Gruppe nach Broumov, eine Stadt an der polnischen Grenze, über 150 Kilometer von Prag entfernt. Dort angekommen, trennt der Betriebsleiter die Gruppe. Männer und Frauen dürfen in dem Wohnheim nicht zusammenleben. Tuan bezieht gemeinsam mit zwei neuen Kollegen eine 15 Quadratmeter fassende Stube. Einen Waschraum mit Toilette gibt es auf der Etage. Die paar Sachen, die er von zu Hause mitgenommen hat, passen in ein Regal. 20 Kilo hätte er ins Flugzeug mitnehmen dürfen, doch seine Reisetasche brachte nur zehn Kilo auf die Waage: Unterwäsche, zwei Hosen, ein paar Hemden, eine Jacke, Schuhe und Familienfotos. Ha hat in Hanoi nicht viel mehr eingepackt. Eine Woche gibt ihnen der Betriebsleiter Zeit, sich im Wohnheim und in Broumov zurechtzufinden. Für die paar tausend Kronen Begrüßungsgeld kauft sich Tuan Handschuhe und Winterkleidung. Die Ausbildung beginnt nach einem dreimonatigen Tschechisch-Kurs. Sie endet bereits nach einem Jahr. Tuan und Ha werden später bei diesem Jahr nicht von einer Ausbildung sprechen. Das Lernen wird sich nicht vom Arbeiten abheben. Nicht nur das: Tuans Wunsch, danach 21
als Weber zu arbeiten, wird nicht in Erfüllung gehen. Er wird als Lagerarbeiter schuften. Auch die Ausbildungs- und Arbeitszeiten unterscheiden sich nicht: Montag bis Freitag, acht Stunden pro Tag, dazu kommen Pausen und Fahrtzeiten. Der Wecker klingelt beim Frühdienst vier Uhr. Der Bus fährt 4.30 Uhr vom Wohnheim zum Betrieb. Die Fahrt dauert 40 Minuten. 14 Uhr endet die Arbeit. Dann steigt der Spätdienst aus dem Bus, der den Frühdienst zurück zum Wohnheim an der polnischen Grenze bringt. In der Freizeit spielt Tuan Fußball oder unternimmt etwas mit Kollegen. Ha nimmt immer öfters daran teil. Sie besuchen zusammen neue Freunde, die in anderen Wohnheimen leben. Sie schauen sich Kinofilme an, gehen Einkaufen oder machen Spaziergänge. Liebe auf den ersten Blick ist es nicht, aber irgendwann finden sie zusammen. Ha hatte vor Tuan noch keinen Freund. Die Beziehung entwickelt sich von Jahr zu Jahr, bald sind sie unzertrennbar. Per Brief erfahren Tuans Eltern und Has Mutter von der Beziehung und von dem, was beide vorhaben. Am 28. Februar 1990 heiraten die beiden. Zur großen Feier mit Verwandten fehlt das Geld. Von einer Hochzeitsreise nach Vietnam steht zudem nichts im Arbeitsvertrag. Tuans Eltern feiern mit der Mutter von Ha dennoch in Hanoi die Hochzeit ihrer Kinder. Die Hochzeitsfotos aus Vietnam ohne das Brautpaar kommen fünf Wochen nach der Feier im Wohnheim an. * Der Tag der vertraglich festgesetzten Rückreise nach Vietnam rückt näher. Tuan und Ha machen sich über die 22
Zukunft Gedanken. Irgendwann sprechen sie darüber, in Europa zu bleiben. Vietnam gehört zu den ärmsten Ländern der Welt und nicht nur wirtschaftlich liegt einiges im Argen. Unter normalen Umständen würden sie länger überlegen, aber nicht in diesen Zeiten. Es ist das Frühjahr 1990, die Tschechoslowakei steht vor ihrem Ende. Das kommunistische System bricht vielerorts zusammen – niemand weiß, wie es weitergehen wird. In der Tschechoslowakei sprechen viele von zwei unabhängigen Staaten. Die Slowaken fordern eine nationale Autonomie. Tuan und Ha diskutieren immer häufiger über die Zukunft. Ob sie überhaupt noch nach Vietnam zurückreisen müssen? Oder werden sie aufgefordert, frühzeitig das Land wieder Richtung kommunistische Heimat zu verlassen? Sichere Antworten liefert in diesen Monaten niemand. Tuan und Ha denken lange über eine Flucht in den Westen nach. Sie reden darüber, wie riskant das ist. Sie fragen sich, was sie in einem anderen Land erwartet. Und sie überlegen, was ihre Eltern dazu sagen. Im Wohnheim lernen sie einige Monate später jemanden kennen, der über die Grenze zum gerade wiedervereinigten Deutschland Bescheid weiß. Der Mann nennt die Risiken des Grenzübertritts. Er erklärt, wie kompliziert das Asylverfahren ist. Allerdings erwähnt er auch, wie sehr die Deutschen zurzeit mit sich selbst beschäftigt sind. Die Grenzen nach außen spielen in diesen Tagen kaum eine Rolle. Erst vor ein paar Wochen waren die neu gebildeten Länder der Deutschen Demokratischen Republik der 23
Bundesrepublik beigetreten. Hunderttausende feierten in einer Nacht im Oktober in Berlin die Wiedervereinigung. In einer Nacht im November packen Tuan und Ha eine Reisetasche: Kleidung für die ersten Tage, Waschsachen, doch das Fotoalbum wiegt am meisten. Mehr darf nicht sein, denn die Tasche soll nicht zu schwer sein. Tuan muss mit ihr notfalls rennen können. Fast alles, was sie in knapp vier Jahren gekauft haben, worauf sie manchmal Monate gespart haben, schenken sie den Mitbewohnern. Die Familie in Vietnam weiß nichts von dem Fluchtversuch. Tuan und Ha befürchteten in den Wochen zuvor, dass Briefe nach Vietnam gelesen und dass Telefonate abgehört werden könnten. Am Tag vor der Flucht verabschieden sie sich von ihren Kollegen. Den Freunden unter ihnen erzählen sie, wohin die Reise geht und dass es ein Abschied für immer sei. Lam erkennt auch ohne Worte die Bedeutung, als Tuan ihm mit der Reisetasche auf dem Rücken die Hand reicht. Der Bus in Richtung Westen fährt gegen Mittag ab. Sie treffen gegen 22 Uhr an der deutsch-tschechoslowakischen Grenze ein. Dann geht alles ganz schnell. An manches will sich Tuan später auch nicht mehr erinnern. In einer Gruppe hetzen sie durch den Wald. Tuan kennt das Risiko dieser Aktion. Er hat in letzter Zeit häufig von Freunden gehört, was einen im Grenzgebiet alles erwarten würde. Mit Flüchtlingen, die von Grenzbeamten erwischt wurden, sei bisher nicht zimperlich umgegangen worden. Auf der Flucht schießen Tuan andere Fragen durch den Kopf. Was würde der Betriebsleiter sagen, wenn die Polizei Tuan und Ha in den Morgenstunden zurückbrächte – sechs Monate vor Vertragsende? Wie würden die 24
Behörden in seinem Heimatland reagieren? Auf welche Weise würden ihre Eltern davon erfahren? Die Fragen müssen nie beantwortet werden. Auf der deutschen Seite wartet bereits jemand auf die Gruppe.1 Die Person fährt sie zu einer Bushaltestelle. Sie kauft ihnen Fahrscheine und erklärt den Weg, den sie nun alleine vor sich haben. Irgendwann steigen Tuan und Ha aus dem Linienbus. Sie fahren mit einem Zug nach Berlin weiter. Erst abends kommen sie an und steigen in eine SBahn nach Berlin-Spandau. Sie verlassen den S-Bahnhof und begeben sich auf die Straße. Erst als sie glauben, mit ihrer fremden Nationalität und der alten Reisetasche in der Großstadt nicht aufzufallen, sind sie erleichtert. Doch sie genießen die neue Freiheit nur für ein paar Stunden. Spät nachts melden sie sich bei einer Polizeidienststelle und erklären, dass sie einen Asylantrag stellen möchten.
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Nähere Angaben zur betreffenden Person werden Ha und Tuan nie machen.
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Zehn Zentimeter Pappe zwischen Irak und Vietnam Tuan und Ha leben nach ihrer Ankunft in Deutschland knapp drei Monate in Flüchtlingsheimen in Berlin und Brandenburg. Für Mitte Februar 1991 erhalten sie einen Termin zur so genannten „Anhörung im Rahmen der Vorprüfung“. Sie sollen sich dazu bei der brandenburgischen Außenstelle des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge einfinden. Die Außenstelle steht in Eisenhüttenstadt, unmittelbar an der Grenze zu Polen. Die Anhörung findet in einer ehemaligen Polizeikaserne statt. Nach diesem Gespräch wird darüber entschieden, ob sie in Deutschland bleiben können oder nicht. Ein Mitarbeiter der Behörde führt die Anhörung durch. Ein Dolmetscher übersetzt ins Vietnamesische. Das Gespräch dauert nicht lange. Das Protokoll ist eineinhalb Seiten lang. Dem Papier zu Folge stellt der Behördenmitarbeiter zwei Fragen.1 „Aus welchen Gründen haben Sie vor Vertragsende die CSFR wieder verlassen und sind in die Bundesrepublik Deutschland gereist?“ Tuan erklärt, wieso sie in Deutschland leben wollen. Er spricht über Missstände in seinem Heimatland. Kritik wird er später nie wieder äußern, zumindest nicht öffentlich. „Meine Eltern und Geschwister leben dort“, wird er Jahre später gegenüber Pfarrer Schmidt versuchen, sein Schweigen zu begründen. „Gibt es sonstige Gründe (...)?“, lautet die zweite Frage. Tuan wiederholt sich, Ha schließt sich seinen Worten an.
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Niederschrift vom 14. Februar 1991
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Ein paar Tage nach dem Gespräch in Eisenhüttenstadt erhalten Tuan und Ha Post.1 Absender: „Zentrale Ausländerbehörde für Asylbewerber des Landes Brandenburg“. „Aufgrund der vom Beauftragten der Bundesregierung beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Zirndorf durchgeführten Verteilung wird gemäß Paragraph 22 Absatz 3 Asylverfahrensgesetz vom 16. Juli 1982 (...) nach Anhörung der Länder für Sie und ggf. für Ihr(e) Kind(er) Waldsiedlung Diedersdorf 0-1211, für die Dauer des Asylverfahrens als Aufenthaltsland Brandenburg bestimmt. Nach Prüfung der Sach- und Rechtslage werden Sie daher (...) der Kreis/Stadtverwaltung zugewiesen. Sie sind verpflichtet, sich unverzüglich dorthin zu begeben.“ Drei Sätze, etwas über 60 Wörter, von denen Tuan die wenigsten kennt. Zurzeit wohnt er mit Ha in einem Heim in Eisenhüttenstadt. Eines versteht er – sie müssen umziehen und so lange abwarten, bis jemand eine Entscheidung über ihren Asylantrag trifft. Das neue Flüchtlingsheim liegt auf einem alten Kasernengelände im brandenburgischen Diedersdorf. Neonröhren hängen an der Decke. Stacheldraht umwickelt den Zaun vor den Gebäuden. Die Toiletten- und Waschräume auf der Etage hat jemand vor einiger Zeit hellblau gefliest. Bausoldaten der Nationalen Volksarmee haben bis zur Wende in den vier Baracken gelebt. Die Soldaten zogen aus, die Flüchtlinge ein. 1
Schreiben vom 20. Februar 1991
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Zehn Zentimeter dünne Pappwände trennen die Zimmer voneinander. Zehn Zentimeter Pappe zwischen Türkei und Sri Lanka, zwischen Irak und Vietnam. Ein Bus hält ein paar Mal am Tag an der 150 Meter entfernten Haltestelle. Tuan und Ha fahren damit manchmal ins benachbarte Seelow – ein paar Minuten weit entfernt von den Baracken und von den anderen Flüchtlingen. Billiger als mit dem Bus geht es an der Bundesstraße. Manche strecken den Autos die Hand entgegen. Immer wieder hält jemand an, nimmt die Flüchtlinge ein paar Kilometer in die nächste Stadt mit. Den Landkreis Märkisch-Oderland dürfen sie dabei nicht verlassen. Die einzige Ausnahme: Die Flüchtlinge stellen einen Antrag mit schriftlicher Begründung. Sie müssen begründen, wieso sie die Grenze des Landkreises überschreiten wollen. * Im Mai 1991 spielt das alles keine Rolle mehr. Auf dem Tisch vor Tuan liegt ein Brief vom Bundesamt. Geschäftszeichen B 1073981-432.1 Drei Monate liegen seit der „Anhörung im Rahmen der Vorprüfung“ in Eisenhüttenstadt hinter ihm. Der Dolmetscher hat damals das eineinhalbseitige Protokoll übersetzt, dann unterschrieben sie es. Tuan wartet auf Ha. Sie setzt sich zu ihm und er öffnet den Umschlag. „Bescheid“ lesen sie in der Betreffzeile. „In dem Asylverfahren (...) ergeht folgende Entscheidung: 1
Schreiben vom 10. Mai 1991
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1. Die Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte werden abgelehnt. 2. Die Voraussetzungen des Paragraphen 51 Absatz 1 Ausländergesetz liegen nicht vor.“ Die Begründung umfasst sechs Seiten. „(...) Die Gründe, die die Antragsteller für das Verlassen ihres Heimatlandes über die CSFR und für ihren Entschluss, im Bundesgebiet zu bleiben, geltend machen, gehen über das Maß dessen nicht hinaus, was unter den in ihrer Heimat bestehenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen alle vietnamesischen Staatsangehörigen hinzunehmen haben, die dort in vergleichbarer Situation leben (...). Die Unfreiheit, die die Antragssteller in ihrer Heimat empfunden haben, ist nach den Auslegungsgrundsätzen für den Begriff der begründeten Furcht vor politischer Verfolgung kein Asylgrund; denn unter diesem Druck des Regimes haben alle Staatsbürger ihres Heimatlandes gelitten, denen das Recht der freien Persönlichkeitsentfaltung etwas bedeutet und nicht nur allein und gezielt die Antragsteller (...).“
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Erstes Kind im Paragraphendschungel Januar 1992. Ha erwartet in zwei Monaten ihr erstes Kind. Tuan spricht in diesen Tagen häufig mit Leuten vom Flüchtlingshilfekreis. Sabine Grauel hat die Gruppe ein paar Wochen zuvor gegründet. Die Frau ist in der Region aufgewachsen und kennt viele Leute. Ihr Vater war Pfarrer und die FDJ somit für sie tabu. Ihre Eltern erhielten deswegen nicht selten Besuch von den Lehrern. Doch die Pädagogen hatten keinen Erfolg. Sabine Grauel trat der FDJ nicht bei. Abitur machen und studieren erübrigten sich daher zunächst. Sie hatte stattdessen Krankenschwester gelernt und arbeitete später als Gemeindehelferin. Als die Behörden nach der Wende die ersten Flüchtlingsheime auf den alten Kasernengeländen eröffnet hatten, gründete sie den Hilfekreis. Sie engagierte sich als Flüchtlingsberaterin im Auftrag der Diakonie. Berufsbegleitend studierte sie Anfang der 90er Jahre Sozialarbeit in Berlin – auf Grund ihrer Erfahrungen war das ohne Abitur möglich. Vier Leute bilden den festen Kern des Flüchtlingshilfekreises – bei manchen Veranstaltungen helfen bis zu 15 mit. Sie organisieren Ausflüge, kümmern sich um Behördengänge und veranstalten internationale Feste in Heimen oder in Räumen der Kirche. Dazu laden sie auch Deutsche ein. Tuan und Ha sind nicht in Feierlaune. Der Postbote hat vor ein paar Tagen wieder einen Brief aus Eisenhüttenstadt gebracht.1 Seither liegt die „Ausreiseaufforderung“ vor ihnen. „Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer 1
Schreiben vom 20. Januar 1992
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Flüchtlinge hat Ihren Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter mit Bescheid vom 10. Mai 1991 (...) abgelehnt (...). Eine Aufenthaltsgenehmigung besitzen Sie nicht. Der Aufenthalt im Geltungsbereich des Ausländergesetzes ist Ihnen nur zur Durchführung des Asylverfahrens gestattet worden. Andere Gründe, Ihnen den Aufenthalt zu ermöglichen, liegen nicht vor. (...) Gemäß Paragraph 28 des Gesetzes über das Asylverfahren in der Fassung vom 09. April 1991 fordern wir Sie hiermit zur Ausreise auf. (...) Sofern Sie nicht innerhalb eines Monats nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Ablehnung des Asylantrages den Geltungsbereich des Ausländergesetzes verlassen, werden wir Sie in ihren Herkunftsstaat abschieben, weil nach Ablauf dieser Frist davon auszugehen ist, dass Ihre freiwillige Ausreise nicht gesichert ist. Besondere Gründe, die einer Abschiebung in Ihren Herkunftsstaat entgegenstehen, sind nicht ersichtlich.“ Ha ist im siebten Monat schwanger. Über den Berliner Rechtsanwalt Lutz Weber erheben Ha und Tuan Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland und gegen das Land Brandenburg. Der eingeschaltete Anwalt sorgt sich um das Wohl seiner Mandanten bei einer Rückkehr nach Vietnam. Er begründet seine Befürchtungen in einem Schreiben an das Kreisgericht Frankfurt/Oder.1 Tuan und Ha seien „bei einer Rückkehr nach Vietnam mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aus politischen Gründen in ihrer Freiheit bedroht“. Sie hätten „Strafverfolgung wegen illegalen Verbleibs und der Asylantragstellung im westlichen Ausland zu befürchten“. 1
Schreiben vom 8. September 1992
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Beide hätten „durch ihr Verhalten – Verlassen ihres Arbeitsplatzes ohne Genehmigung der vietnamesischen Behörden und Flucht nach Deutschland – gegen Artikel 85 und 89 des vietnamesischen Strafgesetzbuches (VStGB) verstoßen. Artikel 85 VStGB beschreibt den Tatbestand der ‚Republikflucht‘, wonach jeder, der illegal ins Ausland flieht oder sich im Ausland illegal aufhält (also ohne Genehmigung der Regierung in Vietnam), mit einer Gefängnisstrafe von 3 bis 12 Jahren verurteilt wird. Artikel 89 VStGB stellt den ‚unerlaubten Auslandsaufenthalt nach der Ausreise aus Vietnam‘ unter Strafe, wobei das Strafmaß 1 Jahr Umerziehungslager oder Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu 2 Jahren beträgt.“ Darüber hinaus drohten den Klägern „wegen ihres Verhaltens weitere Sanktionen, wie kein Zugang zu staatlichen Läden oder keine Zuweisung eines Arbeitsplatzes (...)“. Die Paragraphen 85 und 89 des vietnamesischen Strafgesetzbuches tauchen auch im Bescheid aus Eisenhüttenstadt vom Mai 1991 auf. Jedoch vertritt die Bundesbehörde für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge eine andere Meinung als der Berliner Rechtsanwalt. „Die theoretisch vorgesehenen Straftatbestände werden vermutlich kaum angewandt. Auch wenn man die vietnamesische Strafrechtspraxis berücksichtigt, wonach manchmal exemplarisch gegen einige ‚Übeltäter‘ vorgegangen wird, um die Untätigkeit gegenüber den meisten zu verschleiern, wäre die Folge kaum Gefängnis, sondern die Entsendung in eine so genannte ‚neue Wirtschaftszone‘. Für die Antragsteller ist eine solche Maßnahme jedoch nicht zu erwarten. Es handelt sich um eine höchst entfernt liegende Möglichkeit. Unterstellt man diese mehr als unwahrscheinliche Reaktion des 32
vietnamesischen Staates im vorliegenden Fall, so wäre selbst das keine asylrechtlich beachtliche Beeinträchtigung. (...)“ Die Behörde führte in dem Schreiben auch eine Auskunft des Auswärtigen Amtes an.1 Danach ergebe sich, „dass Vietnam aus ökonomischen Gründen gegen einen Verbleib von Staatsangehörigen im Ausland allenfalls formale Einwendungen erhebt“. Der Berliner Rechtsanwalt zählt in seiner Klagebegründung Schreiben neueren Datums aus dem Auswärtigen Amt auf. Auch eine Einschätzung von Amnesty International führt Lutz Weber an. Die Informationen der Menschenrechtsorganisation konnten bereits über ein Jahr eingesehen werden, bevor das Bundesamt seine Entscheidung traf. „Das Auswärtige Amt hat in seiner Stellungnahme vom 13. Dezember 1990 an das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ausgeführt, dass zwar die Verletzung des Arbeitsvertrages (nach Auskunft vietnamesischer Stellen) strafrechtlich keine Auswirkungen habe, bei Einleitung eines Asylverfahrens es hingegen zu Repressalien oder sogar zur Anwendung der vietnamesischen Straftatbestände kommen könne, wobei die deutsche Botschaft in Hanoi zu Art und Umfang solcher Maßnahmen keine Angaben machen könne. (...) In einer weiteren Stellungnahme vom 7. November 1991 an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach heißt es, dass eine sachgerechte Beurteilung der Situation zurückkehrender vietnamesischer Asylbewerber mangels offizieller Informationsquellen und Kontrollmöglichkeiten derzeit 1
Auskunft des Auswärtigen Amtes laut Behörde vom 24. Juli 1990
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nicht möglich sei, eine Strafverfolgung daher nicht völlig ausgeschlossen werden könne. (...) Amnesty International benannte in seiner Vietnam-Dokumentation vom 21. Februar 1990 konkrete Fälle, in denen vietnamesische Staatsangehörige wegen Republikflucht verurteilt und in Gefängnisse und Umerziehungslager gesteckt worden sind. (...)“ Der Rechtsanwalt erwähnt auch ein Gutachten des Sachverständigen Gerhard Will, eines Fachmannes des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Er schätzte im Februar 1991 für das Bayerische Verwaltungsgericht in Ansbach das Bestrafungsrisiko für zurückkehrende vietnamesische Asylbewerber ein. Der Sachverständige sei „zu der Einschätzung gelangt, dass die vietnamesische Führung das Stellen eines Asylantrages als deutliches Zeichen einer politischen Gegnerschaft oder sogar eines politischen Verrats ansieht, der von einer Person begangen wurde, der man besonderes Vertrauen und das Privileg eines Auslandsaufenthaltes zuerkannt hatte (...).“ Zwei Wochen nachdem der Anwalt die Klagen eingereicht hat, setzen bei Ha die Wehen ein. Ein Krankenwagen holt sie vom Flüchtlingsheim ab und fährt sie zum Klinikum. Ha kommt acht Uhr dort an und erhält die Aufnahmenummer 203979. Drei Stunden und 27 Minuten später kommt Duc Toan auf die Welt. Er wiegt 3670 Gramm und ist 51 Zentimeter groß.
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Abschiebung im Namen des Volkes Duc Toan ist fünf Monate alt, als die Verhandlung über das Asylverfahren seiner Eltern im Kreisgericht stattfindet. Als das Kind sechs Monate alt ist, halten Tuan und Ha ein Einschreiben in den Händen. Der Brief kommt aus Frankfurt/Oder von der 4. Kammer für Verwaltungssachen. Das Urteil „im Namen des Volkes“ lautet: „Das Gericht folgt den Feststellungen und der Begründung der angefochtenen Bescheide und sieht deshalb gemäß Paragraph 77 Absatz 2 Asylverfahrensgesetz von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ab (...).“1 Die Kosten des Verfahrens müssen Ha und Tuan übernehmen. Im Klartext: Ihre Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland und gegen das Land Brandenburg wurde abgewiesen. Anwalt Weber stellt den Antrag, die Berufung gegen das Urteil zuzulassen.2 Die Sache habe eine grundsätzliche Bedeutung. Es gebe unterschiedliche Meinungen zum „Bestrafungsrisiko“ zurückkehrender Vietnamesen. Und zwar der Rückkehrer, die in den ehemaligen sozialistischen Ostblockstaaten auf Grund von Arbeitsverträgen tätig waren und später nach Deutschland flüchteten. Eine „Vielzahl von Verfahren vietnamesischer Asylbewerber“ sei von dieser Frage betroffen. Weber zitiert erneut Einschätzungen des Auswärtigen Amtes. Eine „sachgerechte Beurteilung mangels objektiver Kontrollmöglichkeiten“ sei nicht möglich. Und: „Einerseits sei dem Amt kein Fall von Bestrafung bekannt 1 2
Urteil vom 16. September 1992 Schreiben vom 13. Oktober 1992
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geworden; andererseits könne es eine Strafverfolgung nicht ausschließen.“ Wieder nennt er Sachverständige, die unterschiedlicher Meinung sind. Erneut erwähnt er die Stellungnahme von Amnesty International, nach der abgeschobene Asylbewerber mit einer Bestrafung rechnen müssen. Gemeinsam sei allen sich äußernden Experten laut Weber lediglich eines: Keiner könne eine zuverlässige Auskunft geben. Auskunft darüber, wie Vietnam mit aus Deutschland abgeschobenen Asylbewerbern umgehe. Die unterschiedlichen Ansichten der Fachleute haben laut Weber Folgen – so kämen nicht alle Gerichte zum gleichen Urteil. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof gehe in einem Urteil davon aus, dass Strafverfolgungsmaßnahmen in Vietnam mit „beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ drohten. Zu dem gleichen Ergebnis seien 1991 Gerichte in Stuttgart, Braunschweig, Chemnitz und Karlsruhe gekommen. In Oldenburg, Gießen und an zwei Oberverwaltungsgerichten spreche man laut Weber dagegen von „keiner beachtlichen Wahrscheinlichkeit“. Im Gegensatz dazu nenne die UN-Flüchtlingskommission „zwangsweise Rückführungen“ nach Vietnam „unzumutbar“.1 Diese „Rückführungen“ widersprächen zudem der fast einhelligen internationalen Praxis. * Tuan, Ha und Duc Toan leben und warten drei Jahre im Flüchtlingsheim von Diedersdorf. Tuan verdient sich mit gemeinnütziger Arbeit ein wenig Taschengeld im Heim. 1
Schreiben der UN-Flüchtlingskommission laut Rechtsanwalt Lutz Weber vom 8. Juli 1992
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Zwei Mark bekommt er für die Arbeit pro Stunde. Zwei Mark für eine Stunde putzen, aufräumen oder Rasen mähen. Dafür braucht er keine Arbeitsgenehmigung. Ha kümmert sich in einem provisorisch eingerichteten Spielzimmer um die Heimkinder. Eine Tafel lehnt an der Wand. Kuscheltiere und Spielzeug sind auf dem Boden verstreut. Kleine Stühle und Tische stehen und liegen auf einem großen Teppich. Eine vietnamesische Freundin hilft Ha bei der Betreuung der jüngsten Bewohner. Viele besuchen zusätzlich noch den Kindergarten des Ortes – Duc Toan ist einer von ihnen. Familie Nguyen versucht über Lutz Weber weitere rechtliche Möglichkeiten auszuschöpfen. Sie enden alle ohne Erfolg. Im September 1995 erfährt Weber, dass das Gericht seinen Antrag auf Berufung nicht zulässt. Ein paar Stunden später erzählt er es Tuan und Ha. Es gebe angeblich keine nachgewiesenen Fälle von Verfolgung in Vietnam und das Gesetz zur Strafe von Republikflüchtlingen werde nicht angewandt. Eine Abschiebung sei kaum zu verhindern, sie sei nur noch eine Frage der Zeit. Ein paar Monate später muss die Familie umziehen. Das Heim in der alten Kaserne soll geschlossen werden. Tuan will mit seiner Frau und Duc Toan in eine kleine Wohnung ziehen. Die Ausländerbehörde des Landkreises genehmigt den „Antrag auf Verlassen der Gemeinschaftsunterkunft“.1 Die Familie lebe schon mehrere Jahre in Deutschland und sei um „Integration bemüht“. Behördenleiter Sebastian Y.2 unterschreibt dieses Dokument. Derselbe Mann wird sich in den nächsten Jahren immer wieder mit dem Schicksal der Familie beschäftigen – von 1 2
Antrag vom 13. November 1995 / Genehmigung trägt kein Datum Vor- und Nachname aus rechtlichen Gründen geändert
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dem Bemühen um Integration wird er dann allerdings nichts mehr schreiben. Sie erhalten einen „Wohnungsberechtigungsschein“, um eine Sozialwohnung beziehen zu dürfen. Bis zu drei Wohnräume stünden ihnen zu. Doch daraus wird nichts. Das Wohnungsamt macht der Familie einen Strich durch die Rechnung. Die Familie besitzt eine Duldung, die die Behörde alle paar Monate verlängert. Eine eigene Wohnung gibt es nur mit einem längerfristigen Bleiberecht. Ha und Tuan packen ihre Sachen und ziehen in ein Zimmer des neuen Flüchtlingsheimes. Das neue Zuhause liegt in einem Wald im brandenburgischen Kunersdorf. Ein Zaun umgibt das Gelände, Kameras überwachen das Grundstück. Manche Flüchtlinge leben in einer zweigeschossigen Containeranlage. Andere wohnen im gegenüber liegenden Haus. Soldaten der DDR-Armee haben hier früher geschlafen – so wie im Diedersdorfer Heim, dem alten Zuhause von Familie Nguyen. Duc Toan, Tuan und Ha beziehen ein Zimmer im Erdgeschoss des Gebäudes. Auf jeder Etage leben 60 Menschen. Insgesamt harren in Kunersdorf 250 Flüchtlinge aus. Die Wartenden kommen aus 20 verschiedenen Ländern. Sie warten auf Post von der Ausländerbehörde, auf eine Verlängerung der Duldung oder auf die Abschiebung. 24,3 Quadratmeter müssen der dreiköpfigen Familie Nguyen zum Wohnen ausreichen. Ein Bett, zwei Schränke, ein Tisch und ein paar Stühle stehen im Raum. Neonlicht leuchtet die alten Möbel an. Bettwäsche und Geschirr gibt es von der Heimleitung. Die Küche liegt am Ende des Flures. Alle Bewohner der Etage und der Container kochen ihre Mahlzeiten auf den Einbau-Herdplatten. 38
Die Sozialarbeiter Renate und Hartmut Weidner leiten das Heim. Geld für Renovierungen oder neue Anschaffungen müssen beim Sozialamt beantragt werden. Wollen sie Flüchtlingen im Heim Arbeit anbieten, sind sie auf die Mittel der Behörde angewiesen. Wenn die Behörde Mittel kürzt, gibt es keine Arbeit. Auch nicht für den, der unbedingt arbeiten will, um sich ein paar Mark zu verdienen. Ein Schulbus hält an der 1,4 Kilometer entfernten Bundesstraße. Neben dem Asphalt steckt ein braunes Schild mit weißer Aufschrift im Boden. Die Beschilderung zeigt zu dem schmalen Weg, der auch zu Familie Nguyens neuem Zuhause führt. „Kriegsgräberstätte“ ist darauf zu lesen. Das Flüchtlingsheim bleibt unerwähnt. * Duc Toans Gesundheitszustand verschlechtert sich von Monat zu Monat. Im Februar 1996 suchen seine Eltern den Facharzt für Kinderheilkunde Gerhard Berg auf. Die Diagnose lautet schweres Asthma und Neurodermitis. Außer der Erkrankung der Atemwege und dem stark juckenden Hautausschlag stellt der Arzt eine hohe Infektanfälligkeit fest. Dass Duc Toan immer häufiger hustete, ist Tuan und Ha schon vor ein paar Wochen aufgefallen. Sie leben zu Dritt in einem Zimmer – sie sehen und hören sich ständig. Zuerst dachten sie, es sei eine Erkältung. Das Husten hörte irgendwann nicht mehr auf und der Arzt erklärt nun, wieso. Bei Stress oder Anspannung droht Duc Toan ein Asthma-Anfall. Anspannung gibt es derzeit genug. An einem Tag muss er in der Kinderklinik des Klinikums Frankfurt/Oder stationär behandelt werden. 39
B-Liste bedeutet Abschiebung Inzwischen kommt es zu heftigen Verhandlungen zwischen deutschen und vietnamesischen Behörden. Vietnam weigert sich, abgeschobene Vertragsarbeitnehmer aufzunehmen. Nach zähen Gesprächen findet sich ein Kompromiss. Beide Länder regeln in einem „Rückführungsabkommen“ die bevorstehenden Abschiebungen. Die deutschen Behörden nennen auf einer A-Liste die abzuschiebenden Personen. Vietnam bestätigt auf einer B-Liste die Angaben zur Identität der Person. Erst wenn die Namen der abzuschiebenden Menschen auch auf der B-Liste auftauchen, nimmt Vietnam diese Personen auf. Womit die deutschen Behörden nicht rechnen konnten: Dieses Hin und Her mit A- und B-Liste wird in vielen Fällen Jahre dauern. Eine „Zeit“-Autorin erläutert die Hintergründe des „Rückführungsabkommens“.1 „Bis dato hatte Hanoi sich hartnäckig geweigert, Landsleute aufzunehmen, die aus Deutschland abgeschoben werden sollten; Bonn hatte deshalb 1994 alle Entwicklungshilfe ausgesetzt und ein EU-Kooperationsabkommen blockiert. Wenn im Frühjahr das endgültige Abkommen ausgehandelt ist, sollen bis zum Ende dieses Jahrzehnts 40.000 von den knapp 97.000 in Deutschland lebenden Vietnamesen zurückgeschickt werden – notfalls zwangsweise.“ Bonn würde laut den Recherchen der Journalistin im Gegenzug die Entwicklungshilfe wieder aufnehmen und „die Wirtschaftsbeziehungen kräftig ausbauen“. Die 1
„Die Zeit“ vom 20. Januar 1995
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Autorin spricht von einer „ungenierten Verknüpfung von Abschiebung und Wirtschaftshilfe“. Die deutsche Wirtschaft verspreche sich eine Verfünffachung ihrer Exporte nach Vietnam. Der vietnamesische Staat sehe einem Wachstumsschub durch die Finanzspritze entgegen. Als auch die Namen von Tuan und Ha auf der B-Liste stehen, leben sie bereits seit neun Jahren in Flüchtlingsheimen. B-Liste heißt Abschiebung. Dezember 1999, vier Tage vor Heiligabend, verfasst die Ausländerbehörde eine neue Nachricht an die Familie. „Sehr geehrte Familie Nguyen, 1. die Ihnen am 23. Dezember 1997 erteilte Duldung wird widerrufen. 2. Die sofortige Vollziehung des Widerrufs der Duldung wird angeordnet. 3. Die Abschiebung am 18. Januar 2000 nach Vietnam kündige ich Ihnen hiermit an.“ Die Familie weiß nicht mehr weiter. Die Abschiebung nach Vietnam steht unmittelbar bevor. Sie machen sich Sorgen um Duc Toans Gesundheit. Die Bedenken teilt auch Kinderarzt Gerhard Berg. Zwölf Tage vor der geplanten Abschiebung meldet sich der Mediziner in „einer schriftlichen gutachterlichen Äußerung“ zu Wort. „(...) Nach Einführung der Antiasthmatika der neuesten Generation und ihrer Anwendung bei unserem Patienten wurde zumindest eine deutliche Besserung der Beschwerden erreicht, trotzdem müssen nach wie vor in fast 14-tägigen Abständen zusätzliche Infekte der oberen Luftwege behandelt werden. Die aktuelle Therapie des Asthma bronchiale besteht zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Gabe von 2x1 Hub Viani mite, dieses Medikament muss ständig verfügbar sein, um das Auftreten schwerer 41
Luftnotanfälle zu verhindern. Es ist anzunehmen, dass bei einer Rückführung des Patienten nach Vietnam diese zwingend erforderliche medikamentöse Behandlung nicht mehr gewährleistet ist und damit im Verlauf eine erneute dramatische Verschlimmerung der Erkrankung eintritt, in deren Folge Einschränkungen der Lebensqualität und Lebenserwartung zu befürchten sind. (...)“ Aus ärztlicher Sicht sei mit der Abschiebung „bei Abbruch und Nichtgewährleistung der Dauertherapie mit einer deutlichen Gesundheits- und Entwicklungsgefährdung des Patienten zu rechnen“. Die Behörden scheinen die Ausführungen des Arztes zu bezweifeln. Duc Toan muss sich ein paar Tage später beim Kinder- und Jugendärztlichen Dienst des Gesundheitsamtes vorstellen. Eine Mitarbeiterin untersucht den Jungen. Sie verfasst eine amtsärztliche Stellungnahme und schickt sie an die Ausländerbehörde. Die Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes bestätigt die Ausführungen von Gerhard Berg. Ihre Untersuchungen führen zu dem gleichen Ergebnis. Sie stimmt den Feststellungen des Kinderarztes voll und ganz zu. Bei den Behörden hinterlässt das wenig Eindruck. Im März 2000 versucht Almuth Berger nachzuhelfen. Die Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg schreibt dem Leiter der Ausländerbehörde des Landkreises, Sebastian Y.1 „Die Familie hat ein krankes Kind. Es ist zu befürchten, dass sich das Atemleiden des Kindes im vietnamesischen Klima verschlechtern wird, außerdem sind die Behandlungsmöglichkeiten dort nicht gesichert, die ärztlichen 1
Schreiben vom 8. März 2002
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Atteste und die amtsärztliche Stellungnahme liegen Ihnen vor. (...)“ Es kommt zu Gerichtsverhandlungen, zu einer Verlängerung der Duldung, zu Gesprächen mit der Ausländerbehörde, zu Absagen und zu einem neuen Abschiebetermin.1 „Sehr geehrte Familie Nguyen, am 23. Mai 2000 findet Ihre Rückführung nach Vietnam statt. Ich möchte Sie bitten, sich Montag, den 22. Mai 2000, um 21.00 Uhr im Heim Kunersdorf bereitzuhalten. Sie werden durch einen Mitarbeiter der Ausländerbehörde Märkisch-Oderland abgeholt und nach Berlin gebracht. Von dort werden Sie zum Flughafen Frankfurt/Main gebracht. Abflug Frankfurt/M. um 12.30 Uhr über Singapur Ankunft Hanoi am 24. Mai 2000 um 12.55 Uhr (...) Um die Flugtauglichkeit Ihres Sohnes Nguyen, Duc Toan feststellen zu lassen, möchte ich Sie bitten, am Montag, den 22. Mai 2000, um 10.30 Uhr im Krankenhaus (...) vorzusprechen. Mit freundlichen Grüßen (...)“ Tuan und Ha haben Angst. Die ärztliche Untersuchung soll zwei Tage vor der geplanten Abschiebung stattfinden. Sie wissen nicht, wer und was sie nach der Untersuchung erwarten wird. Sie haben schon mehrere ärztliche Stellungnahmen erfolglos den Behörden vorgelegt – sie sind verunsichert. Duc Toans Kinderarzt Gerhard Berg warnt unterdessen erneut vor einer Abschiebung. Er schreibt ein ärztliches Attest.2 „Insgesamt befindet sich der Patient zum 1 2
Schreiben vom 18. Mai 2000 Attest vom 18. Mai 2000
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gegenwärtigen Zeitpunkt in einer relativ instabilen Krankheitsphase. Aus diesem Grund ist momentan von Flugreisen jeglicher Art aus ärztlicher Sicht dringend abzuraten.“ Die Ausländerbehörde bleibt beim angekündigten Abschiebetag. Montag, den 22. Mai, 21 Uhr, sollen sie sich bereithalten.
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Asyl im Namen des Vaters Libbenichen, 22. Mai 2000 gegen 19 Uhr. Der Kirchenrat stimmte einem Kirchenasyl für Familie Nguyen zu. Nach der Abstimmung im Gemeindesaal bringt Pfarrer Schmidt Tuan zurück zum Pfarrhaus. Gegen 21 Uhr fährt vermutlich ein Mitarbeiter der Ausländerbehörde zum Flüchtlingsheim. Zumindest haben sich Tuan und Duc Toan um diese Uhrzeit „bereitzuhalten“. Es ist nicht die erste Familie, die aus Angst vor der Abschiebung am Tag X spurlos verschwindet. Der Flüchtlingshilfekreis kennt eine ganze Reihe solcher Fälle. Die Menschen verabschieden sich in die Illegalität, um einer Abschiebung zu entgehen. * Birgit Schmidt stellt ihren vier Kindern die neuen Mitbewohner vor. Sie erklärt, dass der Besuch für länger bleiben wird und wieso. Marie-Luise freundet sich als erste mit Duc Toan an. Seine Eltern haben ihm nicht viel von der kurz bevorstehenden Abschiebung erzählt. Erst als sie die Reisetasche gepackt hatten, sich von anderen Bewohnern verabschiedeten und vieles im Flüchtlingsheim zurückließen, hat er angefangen zu weinen. Duc Toan besucht die zweite Klasse der Grundschule. Traurig sein ist normalerweise nicht seine Sache – nicht im Flüchtlingsheim und nicht in der Schule. Das findet zumindest seine Klassenlehrerin Gerda Manthei. Die Pädagogin wird später eine Einschätzung zu Duc Toan
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anfertigen.1 „Auf Grund seines kameradschaftlichen Verhaltens und seines aufgeschlossenen Wesens ist er bei seinen Mitschülern und Lehrern sehr beliebt. (...)“ Familie Nguyen zieht ins Gästezimmer des Pfarrhauses. Sie haben zum ersten Mal eine eigene Dusche und eine eigene Toilette. Im Zimmer sehen sie mehr Möbel, als sie je zur Verfügung hatten. Der große Kleiderschrank neben dem Fenster nimmt am meisten Platz ein. Sie haben nichts dabei, was sie auf die zwei Nachttische mit den kleinen Lampen stellen könnten. Zwischen den zwei Tischen steht ein breites Bett. Vier Stühle lehnen an einem runden Tisch vor der Fensterbank. Der Raum ist weitaus besser eingerichtet als die kahlen Zimmer mit den abgenutzten Möbeln, die sie in den Flüchtlingsheimen hatten. Er bietet mehr Platz als die Zimmer, die Tuan und Ha mit ihren Kollegen in der damaligen Tschechoslowakei teilen mussten. Eine Zeit, die Duc Toan nur aus Geschichten seiner Eltern kennt. Doch es gibt nicht viele davon. Denn über die Zeit als Vertragsarbeitnehmer sprechen sie kaum mit ihm. Wenn sie darüber reden, dann wie immer auf Vietnamesisch. In den Flüchtlingsheimen spricht kaum jemand Deutsch. Ein kleiner Kurs – kurz nach der Ankunft – reichte nicht aus. Dennoch sind Has und Tuans Kenntnisse gut genug, um der Heimleitung bei Übersetzungen zu helfen. Duc Toan hat mit der Sprache gar keine Probleme. Seine Klassenlehrerin wird in ihren Ausführungen schreiben, wie gut er nach der Einschulung mit Deutsch zurechtkam. „Er hatte kaum Anpassungsschwierigkeiten und fand sich sehr schnell in der neuen Umgebung 1
Leistungs- und Verhaltenseinschätzung vom 12. Juli 2000
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zurecht. Das Erlernen der deutschen Sprache fiel ihm nicht schwer; sein Wortschatz erreichte bald den seiner Mitschüler. (...) Duc Toan ist voll in die Klassen- und Schulgemeinschaft integriert, was auch außerschulische private Kontakte zu seinen Mitschülern erkennen lassen.“ Über dem breiten Gästebett im Pfarrhaus hängt ein Bild mit schwerem Holzrahmen: im Hintergrund eine frühlingshafte, vereinzelt noch schneebedeckte Berglandschaft, davor ein dichter Nadelwald. Auf einer Lichtung liegt ein altes Bauernhaus. Kein Weg führt zu dem alten Dreigeschosser, es gibt weder Menschen noch Tiere. Duc Toan hätte es nach der Einschätzung seiner Lehrerin etwas fröhlicher gemalt. „Farbenfrohe Bilder“ male er. „Gern setzt er sich helfend für Schwächere ein und stellt dabei auch seine persönlichen Interessen zurück. In Konfliktsituationen reagiert er besonnen und vermittelnd. Stets gewissenhaft und zuverlässig, verträglich und ausgeglichen, ist er bei seinen Mitschülern beliebt und beeinflusst durch sein freundliches Wesen die Klasse positiv.“ Dann schreibt sie etwas, das vielleicht eine Lehrerin aus einem anderen Bundesland nicht so geschrieben hätte. Einfach deswegen, weil dort derartige Probleme nicht so häufig auftauchen wie in Brandenburg. „Er trägt mit seinem Verhalten und Auftreten wesentlich dazu bei, dass die Integration fremdsprachiger Schüler eine Selbstverständlichkeit ist und dass es bisher keine Auseinandersetzungen im Bezug auf Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhass an unserer Schule gab.“ Die Möbel des Gästezimmers sind in der Gründerzeit entstanden, einer Epoche nach der Reichsgründung Ende des 19. Jahrhunderts. Zu DDR-Zeiten rief ein Verwandter 47
aus Berlin bei Pfarrer Schmidt an. Die Tante war vor einigen Tagen mit über 90 Jahren gestorben. Für die Wohnung gebe es einen Nachmieter, der dringend einziehen wolle. Entweder Olaf Schmidt komme, oder die Möbel seien weg. Er kam und räumte zusammen mit Freunden die Wohnung in der vierten Etage aus. Seine eigene Wohnungseinrichtung bestand damals aus standardisierten DDR-Möbeln und zusammengebasteltem Sperrmüll. Die Sachen aus Tuans Reisetasche füllen den Schrank der verstorbenen Tante nicht einmal zu einem Viertel. Er hätte sie genauso gut auf dem kleinen runden Tisch vor dem Fenster ausbreiten können. Das spielt keine Rolle. Tuan findet etwas anderes wichtig. Sie haben Zuflucht gefunden. Er hofft, im Pfarrhaus vor einer Abschiebung sicher zu sein. Bald wird Tuan eines Besseren belehrt. Schmidt ruft am nächsten Tag den Generalsuperintendenten Rolf Wischnath an. Er informiert ihn über das Kirchenasyl. Doch wie sich der Pfarrer in den nächsten Tagen und Wochen verhalten soll, das sagt ihm niemand. Er liest es in der „Handreichung zum Thema ‚Asyl in der Kirche‘“ – vier Seiten lang, von seiner Kirche herausgebracht und an die Pfarrhäuser verteilt.1 Die ersten zweieinhalb Seiten kann Pfarrer Schmidt überspringen. Die „Vorbemerkungen“ spielen keine Rolle mehr. Die „Grundsätze“ des Kirchenasyls und der rechtliche Hintergrund würden in den nächsten Wochen noch für genug Bauchschmerzen sorgen. Und für Punkt „A“, die „praktischen Hinweise“ zur Vorbereitung, ist es zu spät. 1
Evangelische Kirche in Berlin und Brandenburg: „Handreichung zum Thema ‚Asyl in der Kirche‘“, Berlin 1997
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Punkt „B“, „Organisation“. „1. Die aufgenommenen Flüchtlinge müssen in die Überlegungen einbezogen werden, um so falschen Erwartungen vorzubeugen. Kirchenasyl garantiert keinen Schutz vor Abschiebung, stellt aber eine besonders intensive Form der Beistandsleistung dar. Auch über die psychischen Belastungen einer solchen Situation ist mit den Aufgenommenen zu sprechen. 2. Die Gemeinde, der zuständige Superintendent, die Kirchenleitung und der Öffentlichkeitsbeauftragte sollten umgehend informiert werden. Die Zusammenarbeit mit dem kirchlichen Ausländerbeauftragten und mit dem Arbeitskreis ‚Asyl in der Kirche‘ wird empfohlen. 3. Die zuständigen Behörden sind umgehend über die Aufnahme der Flüchtlinge zu unterrichten. Dabei sollte um Verständnis für die Aufgenommenen geworben und eine für beide Seiten vertretbare Lösung angestrebt werden. 4. Flüchtlinge sollten nicht versteckt werden. Dadurch würden in der Regel strafrechtliche Tatbestände geschaffen. 5. Der Beistand muss unter Umständen für eine nicht vorherbestimmte Zeit durchgehalten werden. Wenn dies nicht möglich ist, kann eine Aktion für begrenzte Zeit geplant werden. Eine befristete symbolische Aktion kann mehr bewirken, als der am fehlenden Durchhaltevermögen scheiternde Versuch, Flüchtlingen tatsächlichen Schutz bieten zu wollen. 6. Eine breite Unterstützung sollte über die Gemeinde hinaus auch im Kirchenkreis, beim Diakonischen Werk, bei ökumenischen Partnern und in der Öffentlichkeit gesucht werden. Sie sollten über die Gründe für die Aufnahme der Flüchtlinge und über menschenrechtliche 49
und theologische Argumente informiert werden. Die Flüchtlinge sollten Gelegenheit erhalten, über sich selbst, über ihre Flucht und ihr Land zu berichten. 7. Für die Durchführung des Kirchenasyls sollten verantwortliche Gruppen gebildet werden, die die Flüchtlinge betreuen, die mit den Behörden verhandeln, die Spenden sammeln oder die die Öffentlichkeitsarbeit organisieren. 8. Mit einer Beratungsstelle sollte geprüft werden, ob noch Ansprüche auf Krankenbehandlung bestehen. Falls keine Ansprüche bestehen, sollten in der Gemeinde oder mit Hilfe von Beratungsstellen Ärzte angesprochen werden, die in solchen Fällen zur Beratung und Hilfe bereit sind. 9. Für die Flüchtlingskinder besteht Schulpflicht. Wenn möglich, sollten die Kinder die bisherige Schule weiter besuchen. Andernfalls sollte versucht werden, die Kinder in einer geeigneten Schule anzumelden. 10. Grundsätzlich gilt für alle Beteiligten: Auch während einer Aufnahme in kirchlichen Räumen sollten das Leben und der Tagesablauf so normal wie möglich organisiert sein. Bei aller notwendigen Hilfe sollten Überversorgung und Entmündigung vermieden werden. Auf eine Gleichbehandlung mit anderen Flüchtlingen sollte geachtet werden. Soweit wie möglich sollten die Flüchtlinge selbstständig wirtschaften. 11. Die Flüchtlinge werden möglicherweise auf die Hilfsangebote anders reagieren, als von den Helfer/innen erwartet. Manche Flüchtlinge fühlen sich stark belastet durch die hohe persönliche Abhängigkeit von der Hilfe. Deshalb sollte mit ihnen über diese Situation und auch 50
über die Erwartungen der Gemeinde an die Flüchtlinge gesprochen werden.“ * Elf Punkte mit Dutzenden Ratschlägen und keine Zeit – Pfarrer Schmidt hat ein Problem. Er überlegt, ob die Entscheidung richtig war. Er kann sich nicht sicher sein, ob die Kirchengemeinde genauso hinter ihm und dem Kirchenasyl steht wie seine Familie, die sieben Mitglieder des Gemeindekirchenrates und die Leute des Flüchtlingshilfekreises. Wie werden andere Gemeindemitglieder reagieren? Was werden diejenigen sagen, die nicht in der Kirche sind? Wird die Ausländerbehörde weiterhin versuchen, Tuan und Duc Toan abzuschieben? Was werden die Journalisten schreiben, wenn sie von dem Kirchenasyl irgendwann erfahren sollten? Zumindest mit der letzten Frage muss sich der Pfarrer vorläufig nicht beschäftigen. Das Asyl soll im Stillen stattfinden. Er räumt der Ausländerbehörde eine ruhige Bedenkzeit ein. Erst wenn das Stillhalten zu keinem Ergebnis führt, will er an die Öffentlichkeit gehen. Schmidt ruft den Ausländerbeauftragten der Landeskirche an. Dann besucht er die Ausländerbehörde. Er erzählt von dem Kirchenasyl, verspricht, vorerst keine Journalisten zu informieren. Was Duc Toan betrifft, zeigt sich die Behörde entgegenkommend. Dort sichert ihm jemand zu, dass der Junge bleiben dürfe. Schriftlich bekommt er das nicht. Zuhause angekommen, setzt sich Schmidt vor seine Schreibmaschine. 51
Ein Freund hat ihm das hellgraue Gerät vor fünf Jahren geschenkt. Er beginnt mit den beiden Zeigefingern zu tippen. Leerzeichen macht er manchmal mit dem Daumen, ansonsten bleibt es bei den zwei Fingern. Auf einem grünen Display leuchten die geschriebenen Wörter. Pfarrer Schmidt fasst das Ergebnis des Treffens mit der Ausländerbehörde für eine Benachrichtigung an dasselbige Amt zusammen.1 „Sehr geehrte Damen und Herren, mit diesem Schreiben möchten wir Sie davon in Kenntnis setzen, dass Herr Tuan Nguyen sich im Schutze der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg befindet. Die Kirchengemeinde Dolgelin hat Herrn Nguyen nach Beschluss des Gemeindekirchenrates Kirchenasyl gewährt. Das Ehepaar Nguyen hat sich in einer Notlage an unsere Kirchengemeinde mit der Bitte um Hilfe gewandt. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Frankfurt/Oder vom 22. Mai 2000 beinhaltet, Frau Nguyen in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Geburt ihres Kindes und der darauf folgenden vier Wochen einen Abschiebeschutz zu gewähren. Eine mündliche Zusage durch die Ausländerbehörde, auch dem achtjährigen Sohn des Ehepaars eine Duldung für den genannten Zeitraum auszusprechen, wurde gegeben. Für den Ehemann gilt die Abschiebung. Wir empfinden die Trennung des Ehepaars als eine besondere Härte und möchten hier Hilfe leisten, um zu verhindern, dass gerade in der Zeit der Schwangerschaft der Mutter der Zusammenhalt der Familie verloren geht
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Schreiben vom 24. Mai 2000
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und durch Angst und Sorge eine Gefährdung der Schwangerschaft eintritt. Wir möchten sie bitten, das Kirchenasyl zu akzeptieren und mit uns in ein konstruktives Gespräch einzutreten. Mit freundlichen Grüßen. (...)“ Tuan und Duc Toan müssen sich an die neuen Umstände gewöhnen. Das Haus zu verlassen stellt ab sofort ein Risiko dar. Das Grundstück zu verlassen ist von jetzt an tabu. Kirchenasyl habe lediglich in den Räumen der Kirche Symbolkraft, erklärt ihnen Birgit Schmidt. Die Hemmschwelle, das Haus eines Pfarrers zu stürmen, sei höher, als Ausländer auf der Straße abzufangen. Und Abfangen bedeutet Abschiebung. Wer nicht aus dem Haus gehe, könne nicht abgeschoben werden, das sei der Trick. Während Familie Nguyen versucht, mit der neuen Situation klarzukommen, veranlasst ihr neuer Rechtsanwalt Hans-Georg Odenthal weitere rechtliche Schritte. Er kritisiert die Gerichtsentscheidung, wonach Duc Toan und Tuan abgeschoben werden dürften. Er beschäftigt sich aber auch mit der Frage, wieso die Familie nach neuneinhalb Jahren kein Bleiberecht bekommt. Er stellt beim Oberverwaltungsgericht den Antrag auf Zulassung einer Beschwerde. Die ersten Tage im Kirchenasyl gehen vorüber. Die Ausländerbehörde hat bisher nicht eingegriffen. Die Beamten bieten jedoch auch keine Alternative zur Abschiebung an. Letzteres beunruhigt Pfarrer Schmidt immer mehr. Was die Mitarbeiter von Landkreis und Innenministerium untereinander vereinbaren, darüber kann er nur spekulieren. Er versucht, sich nichts von der Anspannung anmerken zu lassen. Doch alle sind angespannt. Ha erwartet bald ihr 53
zweites Kind. Ehemann und Sohn sollen vor der Geburt abgeschoben werden. Ihre Mutter in Hanoi erfährt alle paar Monate per Post, wie es der Familie geht. Es fällt Ha nicht immer leicht, zu beschreiben, wie die Gerichte urteilen, was der Anwalt dagegen unternimmt und was die Behörden anordnen. Im nächsten Brief wird sie ihrer Mutter berichten, dass sie bei einem deutschen Pfarrer im Gästezimmer schlafen. Tuan ist angespannt, weil er nicht weiß, wie es nach dem Kirchenasyl weitergehen soll. Wieder in ein Heim? Wieder auf ein Bleiberecht hoffen? Wann darf er mit seiner Familie dort leben, wo er will, wo sie Arbeit finden? Und nicht dort, wo die Behörden wollen. Duc Toan erlebt das Kirchenasyl als Kind, aber auch Kinder können angespannt sein. Er versteht noch immer nicht so richtig, wieso sie bei Familie Schmidt leben. Das Zimmer im Flüchtlingsheim steht leer. Er fragt einmal, wieso sie nicht einfach mit dem Bus nach Hause fahren könnten, zurück ins Heim. Er will wissen, warum er nicht zu seinen Freunden darf. Und nicht zu den Kindern in der Schule, die auf ihn warten und nicht so richtig wissen, was eigentlich los ist. Birgit Schmidt ist angespannt, weil es mit vier Kindern und einem viel beschäftigten Lebensgefährten genug zu tun gibt. Ein zusätzliches Kind, eine schwangere Frau und ein besorgter Ehemann werden die Arbeit im Haus kaum erleichtern. Außerdem will sie zurück ins Berufsleben, ein paar Stunden Abwechslung, ein paar Stunden raus. Die Kinder passen immer öfters auf sich selbst auf. Die Mitarbeiter der Ausländerbehörde dürften auch angespannt sein. Schmidt hat bereits gedroht, die Medien einzuschalten und die Reaktion der Zeitungsleser, 54
Radiohörer und Fernsehzuschauer können sie nicht abschätzen. Politiker würden sich eventuell äußern und sich für die Familie einsetzen. Eine Abschiebung würde unter diesen Umständen immer schwieriger werden. Familie Schmidt und Familie Nguyen können nicht viel gegen die Anspannung machen, außer reden. Sie weicht dann manchmal für ein paar Minuten oder Stunden, die Angst bleibt. Dabei ist fremder Besuch für Familie Schmidt nichts Neues. Obdachlose klingeln manchmal an der Tür des Pfarrhauses. Wenn der Besuch um Hilfe bittet, verschenkt Birgit Schmidt ein paar Lebensmittel. Die Dusche im Gästezimmer darf benutzt werden. Wer will, der kann die Nacht über bleiben. Nur Geld gibt es nicht. Einmal hat ein junger Mann aus dem Nachbardorf bei der Familie übernachtet. Mit Mutter und Vater war er nicht mehr klargekommen und abgehauen – er selbst war alkoholabhängig. Der Pfarrer suchte für ihn einen Platz in einer betreuten Wohngemeinschaft für Jugendliche. Dieses Mal sieht es anders aus. Sie haben Besuch, das Gästebett ist belegt, aber der Fall ist komplizierter. Komplizierter, weil folgenreicher für Pfarrer Schmidts Familie und Gemeinde. Er weiß nicht, wie lange das Kirchenasyl gehen wird und wie andere darauf reagieren werden. Er braucht mehr Unterstützung – so viel steht für ihn fest, als er zum Telefonhörer greift. Die Mitglieder des Flüchtlingshilfekreises treffen sich im Gemeindesaal von Dolgelin. Das Treffen ist schnell vereinbart. Einige sitzen im Kirchenrat, sie wissen von dem Kirchenasyl. Familie Nguyen kennen viele von den gemeinsamen Abenden und Ausflügen der letzten Jahre. Sie sprechen darüber, wie sie das Kirchenasyl gestalten 55
sollen und sie geben sich einen Namen. „Initiative zum Schutz einer vietnamesischen Flüchtlingsfamilie“. Sie überlegen, welche Persönlichkeiten sie für das Kirchenasyl gewinnen können. Dann verfassen sie ihren ersten Brief für die Familie und fangen bei der Suche nach prominenten Politikern ganz oben an.1 „Lieber Bundespräsident Johannes Rau, die Unterzeichner dieser Petition sind besorgt um das Schicksal einer vietnamesischen Flüchtlingsfamilie in der Region Seelow. Das Ehepaar (...) lebt seit 1990 ununterbrochen in Gemeinschaftsunterkünften im Landkreis Märkisch Oderland. Der Sohn (...) wurde 1992 hier geboren und geht hier zur Schule. Er ist schwer asthmakrank. Im Oktober dieses Jahres wird ein zweites Kind erwartet. Einen Monat nach der voraussichtlichen Entbindung wird die behördliche Duldung der Mutter enden. Vater und Sohn sollten schon am 22. Mai nach Vietnam abgeschoben werden. Die Familie hat Zuflucht unter dem Dach der Evangelischen Kirche gesucht. Wir werden alles tun, um die drohende Trennung dieser Familie zu verhindern. Bitte helfen Sie uns, dieses Flüchtlingsschicksal zum Guten zu wenden.“ Beim nächsten Gottesdienst informiert Pfarrer Schmidt die Gemeinde. Zehn bis 20 Leute setzen sich normalerweise an einem Sonntag auf die harte Kirchenbank und beten. An diesem Tag kommen knapp 300 Besucher. Es ist Himmelfahrt – der Gottesdienst findet traditionell im Freien statt.
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Schreiben vom Juni 2000, keine näheren Angaben
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Der Pfarrer will wissen, was die Gemeinde dazu sagt. Das ist riskant, denn das Asyl ist noch nicht öffentlich. Anfragen von Journalisten hätte er unbeantwortet lassen müssen. Die Ausländerbehörde hat noch Bedenkzeit. Während des Gottesdienstes macht er auf die Unterschriftenliste an Johannes Rau aufmerksam. Eine Woche nach der Feier stehen unter der Petition 600 Namen. Schmidt legt die mehrseitige Liste in ein Paket und schickt es an das Bundespräsidialamt. * Die Familie lebt seit knapp drei Wochen im Pfarrhaus, als das Oberverwaltungsgericht den Antrag des Rechtsanwaltes ablehnt. Das Gericht weist die Klage gegen die Abschiebung zurück. Es kommt somit zu keiner neuen Verhandlung und die Abschiebung rückt näher. Zumindest sinken die Chancen, mit rechtlichen Schritten etwas dagegen zu unternehmen. Von nun an rechnen sie täglich mit einem Eingreifen der Behörde. An einem sonnigen Junitag macht Birgit Schmidt zusammen mit Tuan Heu. Duc Toan spielt draußen mit Sachen von Marie-Luise. Sie halten sich im Garten hinter dem Haus auf. Von der Straße aus kann sie niemand sehen. Es sei denn, jemand öffnet die rostige Metalltür am Zaun und betritt das Grundstück. Dann müsste derjenige aber erst am Stall vorbeilaufen, denn erst von dort kann man den Garten sehen. Die meisten Besucher warten vor dem Zaun, weniger aus Höflichkeit, vielmehr wegen Cesar. Bellend kündigt der Hund mit dem braunen Fell Gäste an. Wenn Cesar bellt, versteckt sich Duc Toan manchmal hinter einem 57
Baum. Birgit läuft zum Zaun. Tuan geduldet sich und wartet, bis Birgit zurückkommt. Duc Toan macht daraus ein Spiel, ein Versteckspiel. Manchmal rennt er überdreht davon und lacht dabei. Der Junge weiß nicht, was den Verlierer erwartet. An diesem Junitag wiederholt sich das Spiel zwei, drei Mal. Der Hund bellt, Duc Toan rennt, Birgit läuft vor das Haus, Tuan lehnt sich an die Hausmauer und wartet. Cesar hält sich wie oft vor dem Haus auf. Er kann den Mitarbeiter vom Bundesgrenzschutz daher weder sehen noch hören. Und wenn, dann würde er sicher auf ihn zustürmen, sich auf ihn werfen und ihn abschlecken. Das macht Cesar mit den meisten Besuchern, die durch die Zauntür treten. Deswegen hält Birgit den Hund beim Empfang von Gästen am schwarzen ledernen Halsband fest. Die wenigsten freuen sich über Cesars stürmische Begrüßung. Zugebissen hat er noch nie. Doch Fremde können das nicht wissen. Der Mann vom BGS geht mit einem Schäferhund auf dem weiten Feld hinter dem Haus entlang. Birgit Schmidt entdeckt ihn erst, als er sich auf rund 30 Meter nähert. Duc Toan bleibt stehen, Cesar bellt nicht, also rennt er nicht. So lauten die Spielregeln. Birgit Schmidt befürchtet seit Beginn des Kirchenasyls ein gewaltsames Eingreifen der Behörden. Nun kommt jemand vom Bundesgrenzschutz auf sie zu und sie weiß nicht, wie sie reagieren soll. Der Mann mit der BGS-Uniform blickt kurz zu ihr. Erst jetzt ist er nah genug. Sie erkennt das Gesicht wieder. Der Mann kommt aus dem Dorf, er arbeitet beim BGS. Vermutlich kommt er gerade von der Arbeit, lässt deswegen die Uniform an und spaziert mit dem Hund über 58
das Feld. Er weiß vielleicht gar nichts von dem Kirchenasyl. Er scheint sie kurz mit der Hand zu grüßen und spaziert weiter. Erst beim Einbruch der Dunkelheit, beim Abendessen zusammen mit ihren Kindern, mit ihrem Mann, mit Tuan, Duc Toan und Ha kann sie über diesen Vorfall schmunzeln. * Das Kirchenasyl dauert bereits seit drei Wochen an. Drei Wochen ohne ein klärendes Gespräch mit dem Chef des Landkreises, dem Landrat. Drei Wochen ohne konkrete Fortschritte. Mitte Juni stellt Nguyens Anwalt einen Antrag bei der Ausländerbehörde.1 Er fordert eine Duldung für Vater und Sohn aus „humanitären Gründen“. Die Forderung führt zu keinem Ergebnis und Schmidt ruft persönlich bei der Ausländerbehörde an. Er vereinbart einen Termin mit dem Behördenleiter. Acht Uhr trifft Schmidt in der Ausländerbehörde ein. Gemeindeälteste begleiten ihn. Behördenleiter Sebastian Y. sitzt mit einem Kollegen im Zimmer, der Landrat fehlt. Der Pfarrer fasst am Abend das Treffen zusammen. Er schreibt eine Notiz und legt sie zu seinen Unterlagen. Für den Vormittag werden ihm vier Worte reichen: „Verhandlung blieb ohne Ergebnisse“. Unterdessen verschlechtert sich Has gesundheitlicher Zustand. Duc Toan stellt immer mehr Fragen. Seit dem Beginn des Kirchenasyls besucht er nicht mehr die Schule. 1
Schreiben vom 14. Juni 2000
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Freunde von ihm schauen immer öfters im Pfarrhaus vorbei. Ansonsten spielt er das Versteckspiel, wartet im Wohnzimmer, bis Schmidts Kinder nach Hause kommen oder redet mit seinem Vater. Seine Klassenkameraden planen währenddessen den Jahresausflug vor den Sommerferien. Der Postbote bringt fast täglich Briefe von den Mitschülern und von Freunden. Manche malen unter die Zeilen ein Bild für ihn. Familie Nguyen und Familie Schmidt sammeln die Bilder und Briefe. Sie legen alles in einen Karton und geben es als Paket auf. In die erste Zeile der Anschrift schreiben sie „Bundespräsidialamt“. Durch Briefe erfährt Duc Toan später, was er bei der Klassenfahrt verpasst hat. Seine Mitschüler sind zum Reiterhof nach Schönow in die Uckermark gefahren. Das Formular zur Anmeldung haben seine Eltern ausgefüllt. Doch Duc Toan konnte das Stück Papier der Klassenlehrerin nicht zurückgeben – der Postbote mit der Mitteilung des Abschiebetermins war schneller. Bei den Kindern der zweiten Klasse hat sich inzwischen herumgesprochen, dass Duc Toan Deutschland verlassen muss. „Hallo Toan, ich möchte Dir mal ein paar Zeilen schreiben. Wie geht es Dir? Mir ganz gut. Schade, dass Du nicht mehr in unserer Schule bist, denn Du warst mein bester Freund. Aber trotzdem schicke ich Dir ein paar Pokemonaufkleber mit, weil wir die ja immer getauscht haben. Du kannst mir ja auch welche schicken, wenn Du möchtest. (...) 60
Ich hoffe, wir bleiben weiterhin Freunde. Tschüß sagt Dir Dein Freund Kevin.“1 „Hallo Toan, wir in der Schule vermissen Dich sehr. Es wäre schön gewesen, wenn auch Du an der Klassenfahrt hättest teilnehmen können. Es war wirklich sehr schön dort. Wir haben viele Tiere gesehen. Am besten gefiel es mir bei den Pferden. Ich bin auch geritten. Ich würde mich freuen, wenn Du wieder zu uns in die Schule kommst. Deine Schulfreundin Anika.“ „Lieber Toan, die Klassenfahrt war sehr schön. Den ersten Tag sind wir mit der Kutsche gefahren. Abends hatten wir eine Disco mit sehr vielen Spielen und wer wollte, durfte nachts noch zur Nachtwanderung. Es war sehr spät als wir dann in die Betten kamen. Wir Mädchen schliefen alle zusammen in einem Zimmer. Den zweiten Tag waren wir dann reiten. Wir haben die Pferde vorher geputzt. Abends hatten wir ein Lagerfeuer mit Grillen. Die meisten Jungs schliefen danach die Nacht im Heu. Die Tage haben mir sehr gefallen. Ich hoffe, dass Du bald zurück kommst. In Erinnerung an Anna.“ „Lieber Toan!!! Hoffentlich kommst Du bald wieder in die Schule. 1
Briefe vom Juni 2000
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Wir vermissen Dich alle. Jetzt muss Gino ganz alleine sitzen. Hoffentlich gehst Du noch nicht. Dein Freund Roy.“ „Lieber Toan, (...) Du bist mein bester Freund. Schade, dass Du nicht mehr da bist. Und wie geht es Dir? Hast Du schon neue Freunde gefunden, ich freue mich schon, wenn Du wieder zur Schule kommst. (...) Melde Dich mal. Dein Gino.“ * Der Platz neben Gino bleibt leer. Klassenlehrerin Gerda Manthei erfindet für die Kinder keine Märchen. Sie erzählt die Wahrheit. Der Junge sei mit seinen Eltern zu einem Pfarrer geflüchtet. Er solle zurück nach Vietnam, er wolle aber in Deutschland bleiben. Ein „Wieso“ mit allen Hintergründen kann Achtjährigen nicht erklärt werden.
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Zeit nach der Stille Pfarrer Schmidt wird langsam nervös – die Zeit vergeht ohne wesentliche Fortschritte. Er spricht mit Sabine Grauel vom Flüchtlingshilfekreis und anderen von der Initiative. Der Druck auf den Landrat soll erhöht werden. Nur wie? Nach mehrstündigen Gesprächen fassen sie einen Entschluss. Das Kirchenasyl wird öffentlich gemacht. Die Zeit der Stille ist vorüber. „Presseerklärung: Seit dem 22. Mai 2000 findet der vietnamesische Familienvater Tuan Nguyen (geboren 1967) zusammen mit seinem Sohn Duc Toan Nguyen (geboren 1992) Schutz unter dem Dach der Evangelischen Kirche in der Region Seelow. (...) Der Mutter Thanh Ha1 (geboren 1969) wurde quasi in letzter Minute durch das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) ein Abschiebeschutz zugestanden (...). Einen Monat nach der voraussichtlichen Entbindung wird die behördliche Duldung der Mutter enden. Vater und Sohn sollten am 22. Mai nach Vietnam abgeschoben werden. Bis heute droht ihnen die Abschiebung. Die Kirchengemeinde Dolgelin empfindet die Trennung dieser Familie als besondere Härte, mehr noch – als unerträglich. (...) Der grundgesetzliche zugestandene Schutz der Familie darf nicht nur für Deutsche gelten. Wir hoffen, dass die Ausländerbehörde keine abschiebenden Maßnahmen einleitet und eine behördliche Duldung für den Vater und den Sohn ausspricht.“2 In den letzten Zeilen weisen sie auf eine Pressekonferenz hin. Sie soll drei Tage später im Pfarrhaus 1 2
Has Mädchenname lautet Thanh Ha Hoang. Presseerklärung vom 19. Juni 2000
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von Dolgelin stattfinden. Die Mitteilung faxt Sabine Grauel an zehn Zeitungsredaktionen, ein paar Nachrichtenagenturen, drei Radio- und TV-Sender. Sie kennt bereits viele der Journalisten persönlich. In den acht Jahren Flüchtlingsarbeit hat sie schon mehrere Pressekonferenzen organisiert. Fast immer geschah das in Absprache mit einem Rechtsanwalt. Wenn er sagte, es brenne, dann informierte sie die Öffentlichkeit. Nun ist bei Familie Nguyen das Feuer ausgebrochen. Sabine Grauel überlegt, ob jemand auf die Pressemitteilung reagieren wird. Der Pfarrer bezweifelt es. Er glaubt nicht, dass das Thema Kirchenasyl derzeit überhaupt interessant für die Medien ist. Sabine Grauel kann darauf nicht antworten. Die Schlagzeilen der vergangenen Wochen und Tage rechtfertigen Schmidts Bedenken: Die Innenminister der Bundesländer versuchen, sich auf eine gemeinsame Linie im Umgang mit Kampfhunden zu einigen. Die Nationalelf und ihre Fans zittern um den Einzug ins Viertelfinale der Europameisterschaft. In Hannover eröffnet der Bundespräsident die Weltausstellung. Während das Fax in den Redaktionen die Pressemitteilung über das Kirchenasyl ausdruckt, läuft eine andere Meldung zum Thema Flüchtlinge über den Ticker. Britische Zöllner spüren in Dover 60 Flüchtlinge auf. Sie entdecken die Menschen aus China in einem Gefriercontainer eines Gemüse-Lkws – nur noch zwei Flüchtlinge leben. Pfarrer Schmidt befürchtet, dass das Kirchenasyl nun so gut wie keinen mehr interessieren dürfte. Kirchenasyl für Vietnamesen in einer brandenburgischen 490-SeelenGemeinde passt nach seinen Ansichten nicht zu den 64
Schlagzeilen. Das Ereignis wird zwischen den Meldungen aus Dover, Hannover und von der Fußballfront untergehen. Eine deutliche Antwort erhält er bereits am nächsten Tag. Birgit Schmidt wird bis zum Abend zwischen 25 und 30 Anrufer zählen. Das Telefon klingelt zum ersten mal gegen acht Uhr, jemand vom Radio. Gegen 21 Uhr meldet sich an diesem Tag der letzte Reporter. Er habe von einem Kollegen etwas über den Vietnamesen im Kirchenasyl gehört, wie komme er nach Dolgelin? Birgit Schmidt übernimmt an diesem Tag die Rolle der Pressesprecherin. Ihr Mann trifft sich in Dolgelin mit Leuten vom Flüchtlingshilfekreis, um die Pressekonferenz vorzubereiten. Birgit Schmidt hat bisher kaum Erfahrung mit Journalisten gesammelt. Sie ließ sich wie Sabine Grauel in der DDR zur Krankenschwester ausbilden. Im Krankenhaus hatte sie kaum Kontakt zur Presse. Dort hatten sie andere Probleme – der Blinddarm ihres heutigen Ehemannes stellte so eines dar. Ohne den entzündeten Blinddarm hätten sie sich nicht näher kennen gelernt. * Der Pfarrer zählt auf der Pressekonferenz im Gemeindesaal von Dolgelin acht Journalisten. Im Vergleich zu der hohen Anzahl der Anrufer sind das zu wenig, findet Sabine Grauel. Angesichts des Themas sind das viele, entgegnet der Pfarrer. Manche tragen sich in eine Liste ein: „Märkische Oderzeitung“, „BZ“, „Neues Deutschland“, „Radio 94,3 RS2“. Viele sind aus der näheren Umgebung 65
angereist, von Berlin haben sie eineinhalb Stunden mit dem Auto gebraucht. Während im Gemeindesaal die erste Pressekonferenz ihren Lauf nimmt, ordnet ein Richter einige Kilometer entfernt Abschiebehaft für Tuan an. Die Ausländerbehörde hat die Sicherungshaft für den Familienvater beantragt. Das Gericht stimmt dem Antrag zu. Es bestehe der „begründete Verdacht, dass er sich der Abschiebung entziehen will“.1 In der Begründung heißt es weiter: „Darüber hinaus verfügt der Betroffene weder über familiäre noch soziale Bindungen in der Bundesrepublik Deutschland.“ Keine familiären und sozialen Bindungen? Von Tuans schwangerer Frau und von seinem kranken Jungen steht nichts in dem Dokument. Der Rechtsanwalt der Familie Nguyen wird später Beschwerde einlegen. Die Pressekonferenz im klassenzimmergroßen Gemeinderaum nimmt einige Zeit in Anspruch. An der weiß gestrichenen Wand hängt ein schweres kupfernes Kreuz. Pfarrer Schmidt predigt normalerweise vor dem metallenen Symbol. Doch zum Beten ist heute niemand gekommen. Er, Sabine Grauel, Familie Nguyen erklären den Berichterstattern, um was es geht. Sie erläutern, seit wann die Familie in Heimen lebt, wie lange sie sich schon mit ihrem Anwalt um ein Bleiberecht bemüht. Sie erzählen von Duc Toan und vom Leben im Kirchenasyl. Danach stellen sie sich den Fragen der Medienleute. Die Reaktionen der Journalisten sind unterschiedlich. „Kirchenasyl für Vietnamesen im brandenburgischen Dolgelin“ meldet die Nachrichtenagentur „epd“ ein paar 1
Schreiben vom 21. Juni 2000
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Stunden nach der Pressekonferenz.1 „(...) Wie Pfarrer Olaf Schmidt am Mittwoch vor Journalisten erklärte, drohe Tuan Nguyen und seinem achtjährigen Sohn Duc Toan Nguyen die Abschiebung. (...) Das Kirchenasyl könne zwar staatliches Recht nicht aufheben, ‚aber es kann ein Stück Geborgenheit geben und die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen‘, erklärte Schmidt. Die Gemeinde nehme mit Billigung der Landeskirche ihr Recht in Anspruch, Schwachen Beistand zu leisten.“ „Flucht unters Dach der Kirche“ titelt die „Märkische Oderzeitung“ später.2 „Für die Behörden sind sie illegal hier. Sie könnten jeden Moment festgenommen werden“, heißt es in dem Artikel. Auch Tuan kommt darin zu Wort. Er befürchte, dass sich das Asthma seines Sohnes bei dem ungewohnten Klima in Vietnam verschlechtere. „Das möchte ich nicht riskieren. Duc [Toan] ist in Deutschland geboren, spricht besser Deutsch als Vietnamesisch.“ Das „Neue Deutschland“ schreibt Näheres über Tuans Sohn.3 „Duc Toan hat Vietnam nie gesehen. (...) Niemand weiß, wie er auf das Klima reagieren würde. Das Schlimmste für den Jungen aber ist, dass er sich von seiner Mutter, die ein zweites Baby erwartet, trennen soll.“ Ein Foto zeigt Familie Nguyen. Duc Toan sitzt mit kurzen Hosen, T-Shirt und Sandalen auf einem Rasen. Sein Vater sitzt neben ihm in der Hocke. Er trägt eine dunkle Hose und ein helles, kurzärmeliges Hemd. Mit einer Hand berührt er Duc Toan. Ha blickt zwischen einigen Unterstützern des Kirchenasyls hervor. Die Arme verschwinden hinter ihrem Rücken. Im Hintergrund hängen an einem 1
„Evangelischer Pressedienst“ („epd“) am 21. Juni 2000 „Märkische Oderzeitung“ vom 23. Juni 2000 3 „Neues Deutschland“ vom 23. Juni 2000 2
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hölzernen Gerüst zwei Kirchenglocken. Das dazugehörige Gotteshaus ruht als Ruine daneben. Es ist auf dem Foto aber nicht mehr zu sehen. Die Kirchenmauer hatte den Zweiten Weltkrieg nicht unbeschadet überstanden. Und in der Zeit danach plünderten einige das Inventar. „Der Klassenprimus steht auf der Fahndungsliste“, so die Überschrift des bebilderten Artikels. Die Unterzeile: „Warum eine kleine Kirchgemeinde drei Vietnamesen Asyl gewährt.“ Die Medienberichte veranlassen einige Gläubige, sich gegenüber der Kirchenleitung in Berlin zu äußern. Einige finden, die Kirche solle sich um Deutsche kümmern. Andere meinen, die Kirche sei dem Rechtsstaat unterworfen. „Die, die für das Kirchenasyl sind, die melden sich in der Regel nicht“, wird der Ausländerbeauftragte der Kirche, Thomä-Venske, später die Reaktionen zusammenfassen.1 Am Tag nach der Pressekonferenz im Gemeindehaus druckt Pfarrer Schmidts Faxgerät ein Schreiben des brandenburgischen Innenministeriums aus.2 Ein Sachbearbeiter des Ministeriums äußert sich ausgiebig zum Kirchenasyl; das macht er aber nicht so, wie es der Pfarrer gerne gesehen hätte. „(...) Obwohl ich die Beweggründe Ihres Gemeindekirchenrates nachzuvollziehen vermag, möchte ich auf die im Fall von Herrn Nguyen eindeutige Sachlage und die durch die Gerichte bestätigte klare Rechtslage verweisen. Ich gehe davon aus, dass Sie sich als Gemeindepfarrer der Brisanz der vorliegenden widerstreitenden kirchlichen und staatlichen Interessen bewusst sind und abwägend auf den 1 2
Gespräch mit Thomä-Venske am 8. April 2003 Schreiben vom 22. Juni 2000
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von Emotionen getragenen Entscheidungsprozess der Gemeindekirchenratsmitglieder einwirken können und werden. (...)“ Den von „Emotionen getragenen Entscheidungsprozess“ hat Pfarrer Schmidt beim Lesen vor Augen. Sieben Leute vom Rat, Tuan und er saßen damals um einen Holztisch im kahlen Zimmer mit der großen Orgel. Es musste niemand weinen, sich die Tränen aus dem Gesicht wischen und mit zitternder Hand abstimmen. Der Pfarrer hat das Treffen ruhiger in Erinnerung. Das Innenministerium geht im weiteren Verlauf des Briefes auf die rechtlichen Aspekte ein. „Auch wenn Staat und Kirche nach der Rechtsordnung getrennt sein mögen, steht die Kirche gleichwohl nicht außerhalb der staatlichen Rechtsordnung. Die Kirche, ihre Würdenträger und ihre Organe haben in weltlichen Lebenssachverhalten nicht nur die staatliche Rechtsordnung und die auf ihrer Grundlage ergangenen Verwaltungshandlungen und Gerichtsentscheidungen zu akzeptieren, sondern sich bei widerstreitenden Auffassungen diesen im Zweifel unterzuordnen.“ Der Pfarrer kennt die unterschiedlichen Ansichten. Er hat bereits befürchtet, dass das Innenministerium dem Kirchenasyl eine rechtliche Grundlage abstreitet. Er erinnert sich an die vierseitige Handreichung seiner Kirche zum Thema. Unter der Überschrift „Grundsätze“ gibt es eine ausführliche Bewertung. „Es ist die Aufgabe der Kirche, verfolgten und bedrängten Menschen beizustehen, wenn diese ihre Hilfe benötigen. (...) Die Menschenrechte sind in unserer Rechtsordnung verankert. Der Beistand für verfolgte und gefährdete Menschen beruft sich auf sie und setzt sich 69
dafür ein, dass sie in der Rechtswirklichkeit für den einzelnen Geltung erhalten. Der Beistand wendet sich nicht gegen die staatliche Rechtsordnung und ist als solcher auch nicht rechtswidrig. Dabei können im Einzelfall Spannungen zwischen Staat und Kirche auftreten. Kirchliches wie staatliches Handeln steht jedoch im Rahmen der gemeinsamen Verpflichtung zur Wahrung der Menschenrechte und der Menschenwürde. (...)“ Auf Pfarrer Schmidt wird ein rechtlicher Eiertanz zukommen. Das hat er schon damals geahnt, als er die Handreichung seiner Kirche durchgelesen hat. Als er das Schreiben des Innenministeriums weiterliest, wird ihm das noch bewusster. „(...) Die Kirchen sind nicht Garanten des in Artikel 16a Grundgesetz verbürgten Grundrechts auf Asyl; allein der Staat ist hierzu in der Lage. Die Gewährung eines so genannten ‚Kirchenasyls‘ kann auch nicht als treuhänderische Ausübung des Asylrechts des Artikels 16a Grundgesetz durch die Kirchengemeinde oder durch einzelne kirchliche Amtsträger zugunsten des betreffenden Asylbewerbers gedeutet werden. Grundrechte sind unübertragbare, höchst persönliche Rechte, die grundsätzlich nicht durch Dritte wahrgenommen werden können. Gewährt eine Kirchengemeinde Asylbewerbern Zuflucht, setzt sie an die Stelle des staatlichen Anerkennungsverfahrens ihr eigenes Verfahren. Wer politisch verfolgt ist und welche Maßnahmen nach Ablehnung des Asylantrages gegen den Asylbewerber zu ergreifen sind, können im Rechtsstaat nicht ein einzelner Pfarrer, Mitglieder einer Kirchengemeinde oder ein Gemeindekirchenrat 70
entscheiden, sondern nur das dafür zuständige staatliche Organ. (...)“ Die Evangelische Kirche kannte offensichtlich diesen Konflikt als sie die „Handreichung zum Thema“ veröffentlichte: „In einem Rechtsstaat haben die zuständigen Behörden und Gerichte zu entscheiden, ob Flüchtlingen Asyl gewährt wird. Die Kirche beansprucht kein eigenes Entscheidungsrecht in dieser Frage. ‚Kirchenasyl‘ bedeutet deshalb nicht ein Sonderasyl neben dem staatlichen, sondern ist darauf gerichtet, Zeit zu gewinnen, um bei den Behörden eine rechtlich und humanitär vertretbare Lösung für den aufgenommen Flüchtling zu erwirken.“ Pfarrer Schmidt liest den drittletzten Absatz der FaxMitteilung. Spätestens jetzt wird ihm bewusst, wieso das Innenministerium in aller Ausführlichkeit die rechtlichen Aspekte erläutert. Tuan soll in sieben Tagen abgeschoben werden – trotz Kirchenasyl. Und: Tuan sei zudem in Abschiebehaft zu nehmen, da gegen ihn ein Haftbefehl vorliege. Dem Pfarrer bleibt nicht viel Zeit. Der Sachbearbeiter fordert bis zum nächsten Tag eine Antwort. Er setzt als Frist 14 Uhr. Pfarrer Schmidt solle dazu beitragen, dass Tuan und sein Sohn „sich in angemessener Form in die Obhut der Ausländerbehörde begeben“. Wie ernst es das Innenministerium meint, macht der letzte Satz deutlich. „Sollten Sie dazu nicht in der Lage sein, bitte ich um Mitteilung, ob Sie beabsichtigen, bei einem eventuell in Erwägung zu ziehenden Einschreiten der Ausländerbehörde von Ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und sich bewusst gegen eine Beendigung des ‚Kirchenasyls‘ zu stellen.“ 71
Der fünfte Punkt der Handreichung der Kirche geht auf „staatliche Sanktionen“ ein. Aber es ist nur einer von vielen Punkten in einem vierseitigen Papier. Es sind drei Sätze – mehr nicht. Nichts, was Pfarrer Schmidt beruhigen könnte. „In den evangelischen Rechtsordnungen gibt es kein formales Recht auf Kirchenasyl, wohl aber die Aufgabe des Dazwischentretens (Interzession), wenn Menschenwürde und Menschenrechte bedroht sind. In solchen Fällen kann es gerechtfertigt und geboten sein, Maßnahmen auch gegen den Willen staatlicher Stellen zu ergreifen, um Menschen zu schützen. Dabei müssen Christen, Gemeinden und die Kirche insgesamt das Risiko staatlicher Sanktionen beachten und verantworten.“ Der Pfarrer spricht mit seiner Frau und fragt, wie weit er gehen soll. Er denkt dabei auch an seine eigenen Kinder. Zwischen Marie-Luise und Duc Toan hat sich innerhalb eines Monats die beste Freundschaft entwickelt. Der Pfarrer unterhält sich mit Tuan, Ha und Sabine Grauel. Sie kennt sich als Flüchtlingsberaterin mit Jura besser aus als ein Pfarrer. Er bittet die anderen Mitglieder des Kirchenrates um ihre Meinung. Dann ruft er Hanns Thomä-Venske an und legt sich erst spät ins Bett. Am nächsten Morgen setzt er sich an seine Schreibmaschine und tippt die Antwort an das Innenministerium.1 „Sehr geehrter Herr (...), herzlichen Dank für Ihr Schreiben vom gestrigen Tage. Leider muss ich diese Zeilen unter einem gewissen Termindruck schreiben, da Sie mir für meine Antwort eine Frist gesetzt haben. Ich hätte 1
Schreiben vom 23. Juni 2000
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mir gerne ein bisschen mehr Zeit genommen, um auf das Thema ‚Kirchenasyl‘ einzugehen. Somit möchte ich nur auf zwei Arbeitspapiere verweisen. Zum einen ein Aufsatz von Herrn Dr. Ralf Rotkegel ‚Kirchenasyl – Wesen und rechtlicher Standort‘ in der Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, Heft 3 vom 1. Juli 1997 und zum anderen die Handreichung der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche Berlin und Brandenburg zum Thema ‚Kirchenasyl‘. Da Sie die Beweggründe unseres Handelns nachvollziehen können, brauche ich auch darüber nichts zu schreiben. Wichtig ist uns, Ihnen mitzuteilen, dass auch wir verstehen, dass Sie im Rahmen der geltenden Gesetze zu handeln haben. Auch die Kirche ist kein rechtsfreier Raum. Nun ist es aber möglich, die Auslegung der Gesetze einem Ermessensspielraum zuzuordnen. So hätte zum Beispiel die Ausländerbehörde das Recht auf Wahrung des Familienlebens nach Artikel 8 EMRK [Europäische Menschenrechtskonvention] und Artikel 6 GG [Grundgesetz] für die Betroffenen wahren können und dies als ‚inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis‘ geltend machen können. Damit stünde einer befristeten Duldung nichts mehr im Wege. Eine Trennung der Familie würde es in anderen Bundesländern nicht geben, warum wird es in Brandenburg noch praktiziert? Wir bemühen uns weiterhin darum, dass die Familie Nguyen nicht getrennt wird und bitten Sie sehr, sich für das Zusammenbleiben der Familie einzusetzen. Wir bitten Sie, mit uns im Gespräch zu bleiben und uns einen Gesprächstermin mit Ihnen zu geben. (...)“ 73
Bevor er das Papier auf das Faxgerät legen wird, macht er das, was er am Vorabend mit Gemeindemitgliedern vereinbart hat. Deshalb packen Tuan und Duc Toan die alte Reisetasche. Sie setzen sich in den grauen Renault, mit dem Birgit Schmidt die Kinder täglich zur Schule bringt. An diesem Morgen sitzt Pfarrer Schmidt am Steuer. Er fährt aus dem Dorf heraus und die Bundesstraße 167 entlang – streckenweise eine dicht bepflanzte Allee. Die Eichen und Linden rasen an den Scheiben vorbei. Ha bleibt bei Birgit Schmidt im Haus – sie hat noch immer keine Abschiebung zu befürchten. Duc Toans Versteckspiel dagegen wird ernst. Wenn die Behörden ihn oder seinen Vater finden, ist nach Pfarrer Schmidts Ansicht mit einer sofortigen Abschiebung nach Vietnam zu rechnen. Der Renault biegt irgendwann von der Bundesstraße ab und bleibt vor einer Hofeinfahrt stehen. Sie haben ihr Ziel erreicht. Freunde1 nehmen Tuan und Duc Toan auf. Beide verabschieden sich von Pfarrer Schmidt. Er kann ihnen nicht sagen, wann er sie wieder abholen wird.
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Von näheren Angaben wird an dieser Stelle abgesehen, um Folgen für die Personen auszuschließen. Im schlimmsten Fall droht ihnen eine Anklage wegen Beihilfe zum Verstoß gegen das Ausländergesetz.
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Erster Kontakt mit dem Landeschef Das Innenministerium zeigt kein Interesse an neuen Verhandlungen. Das entnimmt Pfarrer Schmidt dem Schreiben der Behörde. Die Berichte in den Medien sorgen zwar für öffentliches Interesse, haben aber bisher zu wenig bewirkt. Einige Gemeindemitglieder haben zudem in den letzten Tagen und Wochen Briefe an verschiedene Politiker geschickt. Im Pfarrhaus kommen noch immer täglich zehn bis 20 telefonische Nachfragen zum Kirchenasyl an. Doch all das reicht scheinbar nicht aus. Der Pfarrer hat dem Innenministerium sechs Tage vor der geplanten Abschiebung geantwortet. Er hat im Namen des Kirchenrates erklärt, das Kirchenasyl nicht zu beenden. Fünf Tage vor dem Termin befragt er einen Rechtsanwalt. Er sucht nach Möglichkeiten, die Abschiebung zu verhindern. Das Ergebnis enttäuscht nicht nur den Pfarrer. In dieser kurzen Zeit sei rechtlich nichts mehr möglich. Den vierten und dritten Tag vor der geplanten Abschiebung setzt er sich mit dem Flüchtlingshilfekreis zusammen. Sie suchen nach einem Ausweg. Sie sehen die letzte Möglichkeit darin, weiterhin zu versuchen, prominente Politiker als Verbündete zu gewinnen. Die Petition an den Bundespräsidenten, die Unterschriften und das Paket mit den Bildern sind bisher wirkungslos geblieben. Der Pfarrer verfasst einen Brief an den Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD).1 Darin spricht er Stolpe auf einen Gottesdienst in der Maria-Magdalenen1
Schreiben vom 27. Juni 2000
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Kirche in Templin an. Dort habe Stolpe etwas „zum gesellschaftlichen Engagement von Christen“ gesagt. Pfarrer Schmidt konfrontiert ihn nun damit. Christen dürften „keine Zuschauerdemokraten“ sein, habe Stolpe gesagt. Sie sollten sich gefordert fühlen, „wenn Politik zu Lasten der Schwachen geht und sich immer für eine bessere Gerechtigkeit, eine bessere Freiheit und bessere Demokratie einsetzen“. Schmidt nimmt Stolpe beim Wort – das erklärt er dem Ministerpräsidenten in seinem Brief. Er will „in einem besonderen Fall, der uns am Herzen liegt“, nicht Zuschauer bleiben. Der Pfarrer schildert den Fall der Familie Nguyen. „Wir halten die Trennung von Familien während eines Asylverfahrens für unmenschlich. Meines Erachtens wird nur im Land Brandenburg mit dieser Härte noch verfahren.“ Ein Antwortbrief wird einige Tage später im Briefkasten des Pfarrhauses liegen.1 „Ihr Anliegen wird noch einmal geprüft. Über das Ergebnis werden Sie informiert.“ Der Postbote wird 24 Stunden später einen Brief vom Bundespräsidialamt einwerfen. Eine Mitarbeiterin des Präsidenten wird Pfarrer Schmidt schreiben – es ist der lange ersehnte Antwortbrief zur verschickten Unterschriftenliste. Der Bundespräsident habe keine Möglichkeit, „Ihrer Bitte zu entsprechen“. „So wie die anderen staatlichen Organe seine Befugnisse zu respektieren haben, kann er nicht ausländerrechtliche Entscheidungen an sich ziehen, für die die Behörden der Bundesländer zuständig sind. (...) Ich bedauere, Ihnen keine andere Auskunft geben zu können.“ 1
Schreiben vom 3. Juli 2000
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* Die Familie soll in zwei Tagen abgeschoben werden. Pfarrer Schmidt und Sabine Grauel reichen eine „Petition zum Schutz einer vietnamesischen Flüchtlingsfamilie“ ein.1 Sie sprechen in dem Gesuch an die brandenburgische Landesregierung die ungeklärten juristischen Fragen an. Sie wollen Zeit gewinnen. Der Petitionsausschuss soll das Innenministerium auffordern, bis zur Klärung der Fragen von einer Abschiebung abzusehen. Der von dem Pfarrer aufgesuchte Rechtsanwalt kann für die Petition noch auf einige Ungereimtheiten hinweisen. Die so genannte Altfallregelung sei eine davon. Hierbei handelt es sich um eine Vereinbarung der Innenminister von Bund und Ländern. Danach dürfen abgelehnte Asylbewerberfamilien, die schon seit Mitte 1993 in Deutschland leben, in Deutschland bleiben. Allerdings gilt das nur unter bestimmten Voraussetzungen. Die Familie muss unter anderem ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Und das ab dem Datum des Beschlusses der Innenminister, dem November 1999. Familie Nguyen hatte bis dahin keine Arbeit, um den Lebensunterhalt selbst zu sichern. Pfarrer Schmidt ist das bewusst. Zusammen mit Sabine Grauel recherchiert er nach und wälzt Akten über die Familie. Alleine der Schriftverkehr mit Rechtsanwälten und Behörden füllt zwei Ordner. Nach einigen Stunden kommen sie zu einem Ergebnis. Sie glauben zu wissen, wieso Familie Nguyen den Lebensunterhalt nicht selbst verdient. Tuan und Ha
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Schreiben vom 27. Juni 2000
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hätten schlicht und einfach keine legale Möglichkeit dazu gehabt. Die Behörden stellten weder Tuan noch Ha eine Arbeitsgenehmigung aus. Ohne diese Genehmigung konnten sie einer legalen Arbeit nicht nachgehen. Ein Teufelskreis, wie es der Pfarrer gegenüber Sabine Grauel nennt. Die Bemühungen der Familie Nguyen, Arbeit außerhalb der Flüchtlingsheime zu finden, seien daher zum Scheitern verurteilt gewesen. Dennoch hätten sie eine Chance gehabt, als „Flüchtlings-Altfall“ zu gelten. Schmidt beruft sich auf eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes in Bremen. Die „Frankfurter Rundschau“ titelte damals „OVG bereitet Weg für liberale Bleiberegelung“.1 „Die 1999 beschlossene Bleiberechtsregelung für Flüchtlings-Altfälle darf nicht so streng gehandhabt werden, wie es bisher in mehreren Bundesländern der Fall ist. Das ergibt sich aus einem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Bremen. (...) Das OVG Bremen hat diese Stichtagsregelung jetzt in einem Eilverfahren liberal ausgelegt. Das Bleiberecht gilt demnach auch für diejenigen AltfallFlüchtlinge, die am Tag der Neuregelung noch keinen Arbeitsplatz besaßen, aber eine „verbindliche Einstellungszusage eines Arbeitgebers“ vorgelegt hatten. Das Gericht stellte ferner klar, dass die geforderte Erwerbstätigkeit auch aus einem gemeinnützigen Arbeitsplatz nach Paragraph 19 des Bundessozialhilfegesetzes bestehen könne. (...)“ Wieso in Bremen und nicht auch hier? Das fragte sich damals die Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg, 1
„Frankfurter Rundschau“ vom 14. Februar 2000
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Almuth Berger. Bereits in ihrem Schreiben vom März 2000 an die Ausländerbehörde machte sie auf die Gerichtsentscheidung aufmerksam. Der Pfarrer versieht die Petition mit einem „Eilt“ und faxt sie an das Büro des Ausschusses. Hanns ThomäVenske bemüht sich indes an anderer Stelle. Der Ausländerbeauftragte der Evangelischen Kirche in BerlinBrandenburg ruft beim zuständigen Sachbearbeiter im Innenministerium an. Pfarrer Schmidt kennt nicht den Verlauf des Gespräches, aber er hört von dem Ergebnis: keine Einigung. Sabine Grauel verfasst daraufhin die zweite Presseerklärung.1 „(...) Gespräche mit den örtlichen Behörden haben deutlich gemacht, dass an der Abschiebung festgehalten wird. Gespräche des Innenministeriums mit der Kirchenleitung haben bislang kein anderes Ergebnis gebracht. In einer Petition und einem Brief an den Ministerpräsidenten vom heutigen Tage bitten wir eindringlich um erneute Prüfung des Falles unter humanitären Gesichtspunkten mit Verweis auf einen gesetzlichen Ermessensspielraum. Es bleibt zu befürchten, dass am Donnerstag den 29. Juni 2000 die Abschiebung aus dem Kirchenasyl heraus mit Polizeigewalt durchgeführt wird. (...)“ Die Mitglieder des Flüchtlingshilfekreises treffen sich am Abend mit dem Pfarrer. Die Stimmung ist nicht die beste. Der Abschiebetermin steht unmittelbar bevor. Beim Dialog mit der Ausländerbehörde oder dem Innenministerium kann nicht von Fortschritten gesprochen werden. Sie haben an den Bundespräsidenten und an Stolpe geschrieben, sie haben eine Petition eingereicht und 1
Presseerklärung vom 27. Juni 2000
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eine neue Presseerklärung verschickt. Jetzt bleibt ihnen nur noch eines übrig – abwarten. Bisher haben sie gegenüber den Medien und den Behörden lediglich von einer Verlängerung der Duldung gesprochen. Tuan und Duc Toan sollten solange bleiben dürfen, bis Ha das Kind zur Welt gebracht hatte. Aber was sollte danach geschehen? Sie diskutieren an diesem Abend über ein dauerhaftes Bleiberecht für die Familie. Viel zu bereden gibt es nicht. Die Familie soll für immer in Deutschland bleiben dürfen, der Forderung widerspricht keiner. Der Junge sei integriert. Er habe Freunde und sei laut seiner Lehrerin Klassenbester. Tuan habe mehrere Arbeitsangebote von vietnamesischen Landsleuten, die schon lange ein Bleiberecht haben; die unterschiedliche Auslegung der Gesetze von Bundesland zu Bundesland beschere ihnen anderswo ein Aufenthaltsrecht. Ha könne das erwartete Kind nach ein paar Jahren in einen Kindergarten bringen. Auch sie würde später Arbeit finden. Irgendwann unterbricht jemand die Diskussion. Sie haben jetzt andere Probleme – die Abschiebung. Tuan und Duc Toan befinden sich seit Tagen in einem Versteck. Der Pfarrer kann jedoch nicht abschätzen, wie weit die Behörden ihre Suche ausweiten werden. Unklar bleibt ebenso, wie sich die Behörden ihm gegenüber verhalten werden. Er informiert sich über mögliche Konsequenzen. Im schlimmsten Fall droht ihm eine Anklage wegen Beihilfe zum Verstoß gegen das Ausländergesetz (Paragraph 27 Strafgesetzbuch; Paragraph 92 I Nummer 1 Ausländergesetz). Das Risiko geht er ein.
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Wenn die Ausländerbehörde vor dem Zaun steht Ein Tag vor dem Abschiebetermin, gegen 16 Uhr. Zwei Redakteure vom Rundfunk rufen am Vormittag an. Das Team eines TV-Senders trifft am frühen Nachmittag ein. Ein Journalist führt ein kurzes Interview mit Pfarrer Schmidt. Die Nachricht von der nahenden Abschiebung hat sich herumgesprochen. Gegen 16.30 Uhr entdeckt er auf seinem Faxgerät ein Schreiben des brandenburgischen Innenministeriums.1 Das Fax ist nicht an ihn, sondern an Thomä-Venske adressiert. Der Ausländerbeauftragte der Kirche hatte es laut mitgefaxter Empfangsbestätigung 12.29 Uhr erhalten. Er leitete es irgendwann im Laufe des Nachmittags an das Pfarrbüro weiter. 17.30 Uhr klingelt es an der Tür. Schmidt schaut aus einem der zwei Fenster seines Büros zum Gartentor. Seine Frau hat vor einiger Zeit Cesars Hundeleine um den rostigen Griff gewickelt. Besuchern fällt das Öffnen seither etwas schwerer, Cesar bekommt das Tor gar nicht mehr auf und das ist Sinn und Zweck der Sache. Vor dem Gartentor wartet der Leiter der Ausländerbehörde. Neben Sebastian Y. steht noch ein anderer Mann, dessen Namen der Pfarrer nicht kennt. Bis zum Abschiebetermin bleibt noch ein Tag Zeit – so viel steht für ihn fest. Er verlässt das Haus und läuft zum Tor. Dort angekommen, hört der Pfarrer etwas, womit er an diesem Tag nicht gerechnet hat. Einer der beiden Herren erklärt ihm, sie wollten Vater und Sohn abholen.
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Schreiben vom 28. Juni 2000
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Der Pfarrer bietet an, das Gespräch in seinem Büro fortzusetzen. Sie stimmen zu und nehmen einige Augenblicke später auf den mit grünem Stoff bezogenen Sesseln Platz. Zwischen den Herren steht außer einer anderen Sicht auf die Dinge auch der kleine dreifüßige Holztisch. Doch sie sprechen nicht über Möbel. Zumindest steht davon nichts im Aktenvermerk, den Schmidt kurz nach dem Treffen anfertigen wird. Laut dieser Notiz fragt er die zwei Besucher, ob sich die Ausländerbehörde mit dem Innenministerium abgestimmt habe. Nein, die Handlung sei auf Anweisung des Landrates erfolgt. Gibt es eine Abstimmung des Landrates mit dem Innenministerium? Das wissen sie nicht. Pfarrer Schmidt zeigt den zwei Besuchern das Fax des brandenburgischen Innenministeriums. Jenes Stück Papier, das er selbst erst vor einer Stunde zu lesen bekommen hat. „Ich schlage zur Vermeidung von nicht notwendigen Eskalationen folgende Eckpunkte vor: 1. Der gesuchte Vietnamese verbleibt mit seinem Sohn in der Obhut der Kirchengemeinde Dolgelin. 2. Der Haftbeschluss bleibt bestehen. 3. Laufende Sozialhilfeleistungen werden gemäß Paragraph 1a Nummer 2 Asylbewerberleistungsgesetz eingestellt. 4. Die Kirchengemeinde Dolgelin ist ab sofort für den laufenden Unterhalt sowie etwaige Kosten für die medizinische Versorgung des Vietnamesen sowie seines Sohnes verantwortlich. 5. Die Evangelische Kirche und die betreffenden Kirchengemeinden wirken darauf hin, dass die gesamte 82
Familie einen Monat nach der Niederkunft der Ehefrau des Vietnamesen freiwillig ausreist, ohne neue Verbleibensgründe zu produzieren.“ Pfarrer Schmidts Freude können die zwei Besucher nicht teilen. Sie verstehen, was das Schreiben des Innenministeriums zu bedeuten hat. Vor allem der erste Punkt lässt keine Fragen offen. „Der gesuchte Vietnamese verbleibt mit seinem Sohn in der Obhut der Kirchengemeinde Dolgelin.“ Der einzige Satz, der Pfarrer Schmidt beruhigt. Alle anderen geben Anlass zur Sorge. Der Haftbefehl bleibt bestehen. Die Gemeinde muss für die Kosten der ärztlichen Versorgung aufkommen. Auch der rechtliche Status der Familie machte dem Pfarrer Kummer. So lange es keine Duldung gibt, lebt sie illegal in Deutschland, oder genauer: illegal in der Kirche. Den letzten Punkt findet Schmidt schlicht menschenunwürdig. Er ärgert sich über die Formulierung „Verbleibensgründe zu produzieren“ in Anbetracht von Has Schwangerschaft. Zu wertend, zu wenig objektiv ist an dieser Stelle die Mitteilung des Innenministeriums. Das Fax stößt bei Sebastian Y. laut Aktenvermerk auf „völliges Unverständnis“. Er stellt angeblich die Frage, wo Duc Toan und Tuan seien. „Das kann ich nicht sagen“, antwortet Schmidt. Er verweigert genaue Angaben zum Aufenthaltsort. Laut der Notiz in Schmidts Akten dauert das Gespräch nicht lange. „Sebastian Y. will gesamten Vorgang (Gespräche des Innenministeriums, Anweisung des Landrates usw.) bei seinen Behörden prüfen, er erklärt noch einmal kurz sein Handeln. Verabschiedung. 17.40 Uhr.“ 83
Zwischen dem Klingeln an der Tür und der Verabschiedung sind zehn Minuten vergangen – zehn folgenreiche Minuten. Die Ausländerbehörde hat das Kirchenasyl gebrochen. Schmidt wartet ab, bis die zwei Männer außer Sichtweite sind. Er wählt eine Telefonnummer, spricht drei, vier Sätze, steigt in sein Auto und fährt die Bundesstraße mit den vielen Linden und Eichen entlang. Er biegt irgendwann ab und hält vor einem Haus. Tuan und Duc Toan warten schon im Wohnzimmer. Schmidt bringt sie zurück ins Pfarrhaus, zurück zu seiner Familie und Ha. Was der Pfarrer nicht einmal ahnt, ist später Gesprächsthema in gut unterrichteten Politikerkreisen. Die Ausländerbehörde hatte für diesen Tag ein Amtshilfeersuchen bei der Polizei gestellt. Sprich, die Ordnungshüter sollten bei der Abschiebung helfen. Doch die angeforderte Polizei kam nicht. Der Bereichsleiter untersagte seinen Leuten, das Kirchenasyl zu brechen. Er weigerte sich, seine Leute in die Kirche zu schicken. Angeblich waren Gewissensgründe ausschlaggebend. Konsequenzen für den Polizisten blieben aus. Am nächsten Morgen berichten Radiosender von dem Eingriff der Ausländerbehörde. Zeitungen greifen in den kommenden Tagen den Fall auf. Sie berichten vom Bruch des Kirchenasyls. „Vater und Sohn waren nicht auffindbar“ heißt die Überschrift in der „Märkischen Oderzeitung“.1 „Abschiebungsversuch am Mittwoch gescheitert“, steht in kleinerer Schrift darunter. Pfarrer Schmidt kommt in dem Artikel zu Wort. Er kritisiert das 1
„Märkische Oderzeitung“ vom 30. Juni 2000
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Verhalten der Ausländerbehörde. „Der Zugriff zeige für ihn, dass das Kirchenasyl von den Behörden nicht akzeptiert‘ werde. Was er sehr bedauere, da sich die Kirche (...) mit ihren Aktivitäten in den letzten zehn Jahren sehr um eine friedliche Integration von Asylbewerbern und Bürgern bemüht habe. Deshalb sei er ‚enttäuscht und empört über diesen Versuch des Zugriffs‘ auf den vietnamesischen Familienvater und seinen Sohn, wie Pfarrer Schmidt betonte.“ Die „Berliner Morgenpost“ erwähnt in einem Beitrag auf ihrer Brandenburg-Seite den Landrat des Landkreises.1 „Für gestern hatte das Innenministerium mit der Abschiebung von Vater und Sohn gedroht. Doch auf Anweisung von Landrat Jürgen Reinking (SPD) standen zwei Vertreter der Ausländerbehörde schon einen Abend zuvor am Gartentor des Pfarrhauses. (...) Schmidt war erstaunt: Das Innenministerium hatte Stunden vorher Aufschub gewährt. (...)“ Die „Berliner Zeitung“ geht in ihrer Berichterstattung einen Schritt weiter.2 Ein Reporter der Zeitung recherchiert die Geschichte nach. Sein Artikel mit der Überschrift „Abschiebung wurde verhindert“ füllt eine gesamte Zeitungsspalte. Er fragte im Landratsamt und im Innenministerium nach, ob Vater und Sohn wirklich abgeschoben werden sollten. „(...) Lars H.3, Ordnungsamtsleiter, bestätigt: ‚Der Haftbefehl sollte am Mittwoch durchgesetzt werden.‘ Das Schreiben des Innenministeriums habe ihm aber nicht vorgelegen. Weiter will er sich dazu nicht äußern. Das 1
„Berliner Morgenpost“ vom 30. Juni 2000 „Berliner Zeitung“ vom 30. Juni 2000 3 Vor- und Nachname aus rechtlichen Gründen geändert 2
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Innenministerium spricht von einem Versehen. ‚Da ist wohl ein Blatt nicht durchgestellt worden‘, sagt Sprecher Heiko Homburg. (...)“ Innenminister Schönbohm wird sich einige Tage später persönlich zu dem Vorfall äußern.1 Der Minister wird sich an die Landeskirche wenden und sein „Bedauern“ zum Ausdruck bringen. „Bedauern“ deswegen, weil das Verhalten des Landkreises zu „Unstimmigkeiten“ geführt habe.
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Schreiben vom 12. Juli 2000
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Patientin „enorm psychisch belastet“ Has Gesundheitszustand verschlechtert sich am Tag nach dem Abschiebeversuch. Der Pfarrer fährt sie sofort ins Krankenhaus. Ha ist in der 25. Schwangerschaftswoche. Das Kind erwartet sie erst in drei Monaten. Sie weiß, ihr Nachwuchs würde die Frühgeburt im jetzigen Stadium höchstwahrscheinlich nicht überleben. Zwei Wochen wird sie im Krankenbett verbringen. Pfarrer Schmidt wartet auf die Diagnose von Sabine Lösler, Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Der Ausländerbeauftragte der Kirche, Thomä-Venske, telefoniert inzwischen mit einem Sachbearbeiter im Innenministerium. Bischof Wolfgang Huber wendet sich mit einem Brief an Schönbohm.1 Er sei „gewiss“, dass das durch den Festnahmeversuch „gestörte Vertrauen wieder hergestellt werden kann“. Der Bischof stellt sich hinter Pfarrer Schmidt. Er sehe im Handeln der Kirchengemeinde einen „begründeten Akt des Einstehens für bedrängte Mitmenschen“. Es handle sich bei Familie Nguyen um einen „klassischen Härtefall“. Die PDS-Landtagsabgeordnete Kaiser-Nicht will am Vormittag im Innenausschuss des Landtages über das Kirchenasyl sprechen. Doch soweit kommt es nicht. Sie hört von der Landesregierung, man sei im Gespräch mit der Gemeinde. Es bestehe daher jetzt kein Redebedarf. Die Abgeordnete übergibt der Landesregierung dennoch mehrere Dokumente über Familie Nguyen und versucht damit, auf das Schicksal von Tuan, Ha und Duc Toan aufmerksam zu machen. 1
Schreiben vom 30. Juni 2000
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Der Berliner Kirchenleitungsausschuss tagt am Abend. Der Gemeindekirchenrat trifft sich zur gleichen Stunde in Dolgelin. Der Tag nach dem Abschiebeversuch ist der Tag der Verhandlungen und Diskussionen. Bei Familie Schmidt zu Hause interessiert sich am späten Abend niemand für die große Politik. Der gesundheitliche Zustand von Ha macht allen Kummer. Auch Sabine Lösler ist besorgt – der Muttermund öffnet sich bei Ha viel zu früh. Mit einer Verschluss-Operation beugt die Ärztin einer Frühgeburt in der 25. Schwangerschaftswoche vor. In einer schriftlichen Stellungnahme wird Sabine Lösler später vor dem Schlimmsten warnen.1 „Eine Betreuung (...) entsprechend der Schwangerschaftspathologie bis zur vollendeten 37. Schwangerschaftswoche zur Vermeidung einer Frühgeburt in diesem Zeitraum, kann bei entsprechenden Bedingungen auch durchaus im häuslichen, familiären Milieu erfolgen. Das wäre auch unbedingt notwendig für einen ungestörten Schwangerschaftsablauf bei der enorm psychisch belasteten Patientin. Frau Thanh Ha Hoang [Has Mädchenname] sollte weitestgehend ruhig gestellt werden, das heißt körperliche Schonung im familiären Umfeld. Letzteres ist ebenso, wenn nicht wichtiger, als alle an ihr bereits vorgenommenen medizinischen Maßnahmen zur Verhinderung einer Frühgeburt. Könnte dies nicht gewährleistet werden, wäre eine Krankenhausbehandlung in den nächsten Wochen, bis ca. zwei Wochen vor dem erwarteten Geburtstermin, angezeigt.“ Es dauert nicht lange, bis die Presse von Has Krankenhausaufenthalt erfährt. Die Leser der „Märkischen 1
Schreiben vom 14. Juli 2000
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Oderzeitung“ werden ein paar Tage später ein Bild mit Familie Nguyen und dem Pfarrer sehen.1 Sie sitzen zusammen auf dem Rand eines Krankenbettes. Jemand hat auf den Nachttisch eine Vase mit einem großen Blumenstrauß gestellt. Im Bildtext wird Näheres zu erfahren sein. „Die Schwangere hat die Aufregung um die (vorerst ausgesetzte) Abschiebung ihres Mannes und des achtjährigen Sohnes nicht unbeschadet überstanden.“ Ha wird die nächsten Tage und Wochen vor allem im Bett verbringen müssen. Der Tag nach der versuchten Abschiebung, der Tag der Verhandlungen und Diskussionen, hat Auswirkungen. Der Pfarrer erhält ein Fax vom Ausländerbeauftragten der Evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg.2 Es handelt sich um ein weitergeleitetes Schreiben des Innenministeriums. Dieses Mal ist es ein einziger Satz – 86 Wörter und sechs Kommas lang. Aber Thomä-Venske scheint, mit seinem Telefongespräch mit einem Sachbearbeiter des Innenministeriums Erfolg gehabt zu haben. Schmidt liest von einem „in dieser Angelegenheit zurzeit bestehenden positiven Dialog mit der Evangelischen Kirche“. Der Landrat sei „schriftlich angewiesen“ worden, „bis auf Weiteres keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegen die (...) Vietnamesen durchzuführen“. Keine „aufenthaltsbeendenden Maßnahmen durchzuführen“ bedeutet, die Menschen nicht abzuschieben – zumindest „bis auf Weiteres“. Pfarrer Schmidts Begeisterung hält sich in Grenzen. Die Familie erhält weder Bleiberecht noch eine schriftliche 1 2
„Märkische Oderzeitung“ vom 3. Juli 2000 Schreiben vom 30. Juni 2000
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Verlängerung der Duldung. Das Kirchenasyl bleibt somit bestehen. Einen großen Vorteil entdeckt er trotzdem. Tuans und Duc Toans Versteckspiel findet offiziell ein Ende. Denn ein neuer Bruch des Kirchenasyls ist laut der Benachrichtigung des Ministeriums nicht zu erwarten. * Schon ein paar Tage später ändert sich die Lage. Pfarrer Schmidt und Thomä-Venske diskutieren zwei Stunden mit dem Sachbearbeiter im brandenburgischen Innenministerium. Den Pfarrer stimmt das Gespräch nicht allzu optimistisch. Darauf lassen seine Notizen schließen. Das Ministerium werde in nächster Zeit zwar nicht eingreifen. Der Haftbefehl gegen Tuan bleibe aber bestehen. Weder für Tuan noch für seinen Sohn gebe es eine Duldung. Duc Toan dürfe dennoch wieder in die Schule. Die Familie solle nach der Entbindung freiwillig ausreisen. Die Kirche müsse sie dazu bewegen. Die Gemeinde müsse weiterhin die Kosten für Versorgung und medizinische Betreuung tragen. Schmidt sichert bereits seit einiger Zeit die Versorgung der Familie mit seinem eigenen Gehalt ab. Die Mahlzeiten nehmen sie meistens gemeinsam am Küchentisch ein. Ha und Tuan helfen bei der Zubereitung. Wenn sich Ha wohl fühlt, kocht sie manchmal für beide Familien alleine. Dann schaut ihr Birgit Schmidt über die Schulter. Sie lässt sich erklären, wie eine vietnamesische Nudelpfanne mit Glasnudeln zubereitet wird – ohne Fertigpackung und Tiefkühltruhe. Der Pfarrer verbringt den Abend nach dem Gespräch im Innenministerium nicht in der heimischen Küche. Er 90
sitzt im Gemeindesaal von Dolgelin und überlegt zusammen mit Sabine Grauel und den anderen Mitgliedern des Flüchtlingshilfekreises, wie sie Geld für die Familie auftreiben können. Denn das Teuerste blieb vom Innenministerium unerwähnt – am meisten Geld kosten die Anwälte. Die Beschwerde gegen den Haftbefehl muss bereits beim Gericht angekommen sein. Der Unterstützerkreis hofft zudem immer noch, mit der so genannten Altfallregelung etwas bewirken zu können. Ohne die Hilfe von Juristen ist das unmöglich. Darin sind sie sich einig. Sie überlegen, wie sie an das benötigte Geld kommen können und irgendwann macht einer der Gruppe einen Vorschlag. Sie verfassen einen Spendenaufruf.1 Das Schreiben faxt der Pfarrer auch an die umliegenden Kirchengemeinden. „(...) Die Mutter, die sich zur Zeit im Krankenhaus Wriezen wegen einer drohenden Frühgeburt aufhält, hat den Aufenthaltsstatus einer ‚Duldung‘. Das heißt, sie ist sozial abgesichert. Vater und Sohn haben keine ‚Duldung‘, sollten abgeschoben werden, die Behörden wollten die Familie auseinander reißen. (...) Beide stehen völlig mittellos da. (...) Ich möchte Sie bitten, zu spenden!“ Die Unterstützergruppe ist unsicher, ob dieser Aufruf etwas bewirken wird. Die Leute in der Region haben eigene Probleme und es hat nicht den Anschein, als ob sich das in den nächsten Jahren verbessern würde. Viele Familien sind zerrissen. Pfarrer Schmidt hat von manchen 1
Verschiedene Spendenaufrufe gehen ab dem 5. Juli 2000 an Medien und benachbarte Gemeinden. „Kirchengemeinde in Dolgelin ruft zu Spenden für Kirchenasyl auf“ meldet zum Beispiel die Nachrichtenagentur „epd“ bereits am 5. Juli.
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gehört, bei denen sich Sohn oder Tochter in einem anderen Bundesland ausbilden lassen. Viele haben dazu in der eigenen Heimat kaum eine Chance. Nicht wenige Leute fahren täglich Dutzende Kilometer mit dem Auto zur Arbeit. Einige Eltern pendeln nur am Wochenende vom Arbeitsplatz nach Hause. Der Arbeitsmarkt sieht zwar in vielen anderen Bundesländern auch nicht gut aus, aber fast überall besser als in Brandenburg. Der Unterstützerkreis bleibt auch skeptisch, was die Gemeindemitglieder betrifft. Gerade zehn bis 20 Leute kommen Sonntag für Sonntag zu den Gottesdiensten. Wie viele werden der Familie helfen? Andererseits hat Schmidts Telefon in den vergangenen Tagen im ZehnMinuten-Takt geklingelt. Nicht nur Journalisten, auch Leser wollten sich informieren. Manche wollten spenden und haben nach einer Kontonummer gefragt. Andere wollten diskutieren. Denn das Innenministerium und die Ausländerbehörde beobachten nicht als Einzige das Kirchenasyl sehr kritisch. Einige Zeitungen veröffentlichen den Spendenaufruf am Tag darauf. Kaum sind die Blätter gedruckt, klingelt es an der Tür des Pfarrbüros. Ein kräftiger Mann, Mitte 40, kommt dem Pfarrer mit einer Pappkiste entgegen. Er drückt dem Pfarrer die Kiste in die Hand, die er zuvor bis zum Rand mit abgepackten Wurstwaren gefüllt hat. Nach ein paar Stunden klingelt es noch einmal; ein ÖkoLandwirt aus der Gemeinde bringt mehrere Kartons mit Obst und Gemüse vorbei. Eine ältere Dame drückt Pfarrer Schmidt zwei Tage später im acht Kilometer entfernten Einkaufscenter einen 20-Mark-Schein in die Hand. Sie sagt „für die Familie“ und schiebt ihren Einkaufswagen zur Kasse. Was der 92
Pfarrer zu diesem Zeitpunkt nicht ahnt – der Stand des Spendenkontos wird im Laufe der kommenden Wochen auf über 7.000 Mark ansteigen. Eine in einen Briefumschlag gelegte Postkarte kommt derweil im Pfarrbüro an.1 „Hiermit möchte ich Ihnen und Ihrer Gemeinde meine Hochachtung für die Fürsorge um die Familie von Tuan Nguyen zum Ausdruck bringen. Anbei eine kleine, wenn auch nur finanzielle Unterstützung. Sollten für die Familie Medikamente notwendig sein bzw. werden, erkläre ich mich bereit, diese zu besorgen. Bitte schicken Sie mir einfach ein Privatrezept des behandelnden Arztes und ein Päckchen kommt zurück (...).“ Pfarrer Schmidts Antwort lässt nicht lange auf sich warten.2 Er erwähnt in dem Schreiben an die Ärztin, wieso die Hilfe auch für seine eigene Familie etwas bedeutet. Es gebe „nicht nur Befürworter unserer Aktion“. Die Medien berichten fast täglich von Familie Nguyen. Nicht nur „Befürworter“, sondern auch Gegner des Kirchenasyls greifen daraufhin zur Feder. Die Zuschriften handeln dann oft nicht nur vom Asyl in der Kirche. Manche schreiben von zu vielen Ausländern, die angeblich in Deutschland leben. Andere zählen Straftaten der organisierten Kriminalität auf und bringen diese Taten in Verbindung mit der vietnamesischen Familie. Der eine lobt das harte Vorgehen der Ausländerbehörde, der andere das Handeln des Innenministeriums. Eine Reihe dieser Briefe zerreißt der Pfarrer nach dem Lesen. Er knüllt das Papier zusammen und wirft es in den zylinderförmigen Behälter neben dem Tisch. Die Post, die
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Postkarte trifft Anfang Juli ein Schreiben vom 10. Juli 2000
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ohne Absender im Briefkasten liegt, verschwindet sofort vom Schreibtisch. Einen dieser Briefe wird er aber mitsamt dem Umschlag aufheben.1 Er wird ihn sogar zu ein paar anderen Zetteln in eine Prospekthülle legen. Das Schreiben fällt ihm schon vor dem Öffnen auf. Der Absender hat die Briefmarke falsch herum aufgeklebt und den Umschlag zudem nicht richtig frankiert. Was auch die Post übersehen hatte, denn Pfarrer Schmidt musste nichts nachzahlen. Der Briefschreiber bezieht sich auf einen Artikel, der im „Berliner Kurier“ erschienen war.2 Die Boulevardzeitung veröffentlichte einen Beitrag über Familie Nguyen. Der Titel lautete „Dolgelin: Neue Hoffnung im Abschiebungs-Drama“. Der Briefschreiber gibt an, aus Potsdam zu kommen. „Herr Schmidt, Es ist ein Hohn das sie den ausländischen Gesindel ‚Kirchenasyl‘ geben! (...) Abschiebungs-Drama. Lächerlich. Sie kommen dorthin wo sie geboren worden, wo ihre Eltern leben. Geschwister, Bekannte, das ist kein Drama. Aber in Vietnam werden diese kriminellen hart bestraft. – In Deutschland können diese alles tun. Der deutsche ist doch – ach so human. Und das alles auf kosten der Rentner, Sozialempfänger, arbeitslosen, kranken, und Arbeiter, Schulen, Kinder, Krankenhäuser. (...) Wir leben schon 50, 60, 70, 80, 90 Jahre hier. (...) Sie sind zu bedauern, Herr Schmidt. (...) Das Sie sich dafür hergeben. Traurig. (...) Warum helfen Sie Verbrechern ???? Kümmern Sie sich besser um Deutsche obdachlosen, nicht um kriminelle.“
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Brief trifft Mitte Juli ein „Berliner Kurier“ vom 4. Juli 2000
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Aber es gibt auch andere Briefe, Briefe mit weniger Rechtschreibfehlern. Mit Schreibmaschine getippt und wie so oft ohne Absender, werden den Pfarrer im Herbst folgende Zeilen erreichen.1 „Sehr geehrter Herr Pfarrer Schmidt, mit Interesse verfolge ich in der ‚Berliner Morgenpost‘ ihren Kampf für das Kirchenasyl und gegen das deutsche Recht.“ In dem kurzen Brief nennt der Absender eine Einrichtung für Obdachlose in Nordrhein-Westfalen, der Geld fehle. „Wenn ich da daran denke, wofür Sie Zeit und Geld verpulvern. Ihr Tun ist für mich nicht beispielhaft. Ein ‚Morgenpost‘-Leser.“ Irgendwo in der gelochten Folie mit den gesammelten Briefen wird später Pfarrer Schmidts Lieblingspostkarte liegen.2 Ein altes Bauernhaus in den Bergen ist darauf zu sehen. Keine Menschen, keine Tiere, nur Bäume und das Haus. Der Pfarrer denkt an das Bild, das über dem Gästebett hängt, wo Familie Nguyen schläft. Das Bild mit dem schweren schwarzen Holzrahmen. Unter dem Foto der Postkarte steht ein Zitat des Propheten Nahum aus dem Alten Testament.3 „Gut ist der Herr, eine feste Burg am Tag der Not. Er kennt alle, die Schutz suchen bei ihm.“ Auf der Rückseite der Postkarte liest Schmidt ein paar mit Hand geschriebene Worte. „Alles Liebe und Gute für Thanh Ha Hoang und Familie!!!“
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Brief trifft Ende Oktober 2000 ein Postkarte trifft Mitte Juli 2000 ein 3 Das Buch Nahum, Kapitel 1, Vers 7, nach Einheitsübersetzung 2
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Vorurteilsbeseitigung im Sonderangebot „Noch kein Ende des Kirchenasyls für vietnamesische Familie in Sicht.“1 „Dolgelin. Für die vietnamesische Familie Nguyen, die sich seit 22. Mai im brandenburgischen Dolgelin im Kirchenasyl befindet, zeichnet sich noch keine Lösung ab. Er habe zwar die Zusicherung, dass die Behörden auf weitere Abschiebeversuche verzichten und bestimmte Erleichterungen für den achtjährigen Sohn Duc Toan akzeptieren wollten. ‚Trotzdem wird damit ein juristisch illegaler Zustand durch das Land ein Stück weit legalisiert, indem man einfach so tut, als existierten diese Menschen gar nicht‘, erklärte Pfarrer Olaf Schmidt am Donnerstag gegenüber epd in Dolgelin. (...)“ Der Bericht des „Evangelischen Pressedienstes“ läuft Anfang Juli über den Ticker der Zeitungsredaktionen. Der Ausländerbeauftragte Thomä-Venske meldet sich darin zu Wort. Das Land überlasse die Verantwortung für ein ungeborenes Leben, für eine Mutter in einer Risikoschwangerschaft und für ein schwer asthmakrankes Kind einem Zufall. Nämlich „dem Zufall, dass es Menschen gibt, die sich selbstlos für die Integration und den Schutz anderer Menschen einsetzen“. Thomä-Venske kritisiert die Ausländerpolitik Brandenburgs noch zugespitzter. „Das Land wird lernen müssen, dass Rassismus und Gewalt sich nur überwinden lassen, wenn die Grund- und Menschenrechte für alle gelten.“ Über die Ausländerpolitik des Landes wird in diesen Tagen vielerorts gesprochen. Kerstin Kaiser-Nicht von der 1
„epd“ am 6. Juli 2000
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PDS leistet ihren Beitrag dazu. Nachdem die Landtagsabgeordnete im Innenausschuss wenig Erfolg hatte, startet sie einen neuen Versuch – diesmal im Kreistag des Kreises Märkisch-Oderland, in dem sie ebenso als Mitglied sitzt. Doch sie kann Landrat Reinking nicht umstimmen. Dennoch mehren sich die Stimmen für ein Bleiberecht der Familie Nguyen. Immer mehr Leute äußern sich, die bisher mit der Familie zu tun hatten. Sie schreiben Beurteilungen und versuchen zu erklären, wieso die Familie in Deutschland bleiben soll – und wieso für immer. Eine Sozialberaterin vom Caritasverband besucht regelmäßig die Flüchtlingsheime und lernte dabei Familie Nguyen kennen. Sie schildert in einem Schreiben ihren Eindruck von Ha.1 „Wo Flüchtlinge verschiedener Nationalitäten auf engem Raum zusammenleben und kaum Beschäftigung haben, ist es wichtig, Menschen zu haben, die sich für das Zusammenleben verantwortlich fühlen und Aktivität zeigen. Frau Thanh Ha Hoang übernahm eine solche Funktion, sie fand die Akzeptanz sowohl der Heimbewohner als auch der Heimmitarbeiter. (...) Das Bemühen um Arbeit scheiterte daran, dass die Duldung nicht verlängert wurde und somit keine Arbeitserlaubnis erteilt wurde. Bei vorhandener Arbeitserlaubnis hätte ein Arbeitsplatz in einem Restaurant bereitgestanden.“ Auch Heimleiter Hartmut Weidner meldet sich zu Wort.2 Er leitet das Flüchtlingsheim, in dem Familie Nguyen vor dem Kirchenasyl lebte. Er erzählt von dem Wunsch der Familie, sich zu integrieren, soweit das in einem Flüchtlingsheim überhaupt möglich sei. 1 2
Schreiben vom 29. Juni 2000 Einschätzung vom 11. Juli 2000
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Weidner kennt die Familie seit vier Jahren. Er begegnete ihnen zum ersten Mal, als sie keine eigene Wohnung beziehen durften und deswegen in das neue Heim mussten. Ihr Lebensraum war vier Jahre lang sein Arbeitsplatz. Sie haben sich fast täglich gesehen, haben oft zusammen gearbeitet und sich unterhalten. Der einzige Unterschied – bei Feierabend konnte Weidner nach Hause, Familie Nguyen blieb im Heim. „(...) Kennzeichnend für unsere jahrelange Bekanntschaft waren eine für unser Milieu nicht unbedingt typische Herzlichkeit, Offenheit und gegenseitiges Vertrauen. Daher ist uns auch bekannt, dass sich die Familie immer wieder bemüht hat, Arbeit und eine Wohnung außerhalb des Heimes zu finden, um sich so eine legale Basis für eine echte Integration zu schaffen. Ein besonders schlüssiger Ausweis für dieses Bemühen ist unseres Erachtens die Art und Weise, wie die Familie die schulische Entwicklung des Sohnes Duc und auch seine Teilnahme an außerschulischen Maßnahmen gefördert hat. Erwähnt sein soll auch, dass sowohl Herr Tuan als auch Frau Ha stets zur Verfügung standen, wenn im Rahmen der gemeinnützigen Tätigkeit Arbeiten im Heim auszuführen waren bzw. wenn wir aufgrund ihrer guten Deutschkenntnisse ihre sprachmittlerische Unterstützung benötigten, um Dinge mit anderen vietnamesischen Heiminsassen zu besprechen bzw. auftretende Probleme zu klären. (...) Fast zum Schluss noch ein irgendwie bemerkenswertes Detail: Kurz vor Verlassen des Heimes übergab Herr Tuan resigniert den Heimmitarbeitern einen Stapel Bücher. Darunter unter anderem einen Duden, ein Fremdwörterbuch in deutscher Sprache.“ 98
Tuan übergab Duden und Fremdwörterbuch an dem Tag, an dem er die Reisetasche packte. Ein paar Stunden später stand er zusammen mit Ha und Duc Toan vor Pfarrer Schmidts Haustür. Weidner appelliert in den letzten Zeilen an die Behörden. „Die Mitarbeiter des Heimes wünschen der Familie, dass es ungeachtet der momentanen Sachlage noch eine Lösung zu ihren Gunsten gibt. Sie wünschen es auch deshalb, weil sie überzeugt sind, dass, würde man der Familie eine Bleibechance geben, sie in ihrem, dann neuen Umfeld, durch ihr Auftreten, ihre Ausstrahlung und ihre Arbeitsamkeit so manches Vorurteil gegenüber Ausländern zum Wanken bringen würden. Billiger ist, wie wir meinen, ein nachhaltiger Beitrag zur Beseitigung von Vorurteilen, die ja oft auf Unwissen und Erfahrungslosigkeit beruhen, nicht zu haben.“ Die Ausführungen der Sozialarbeiterin und des Heimleiters verschwinden nicht in Pfarrer Schmidts Schublade. Im Gegenteil – er und Sabine Grauel reichen eine Erweiterung der Petition beim Landtag ein.1 Sie fügen dem Gesuch die schriftlichen Einschätzungen bei. Die Unterstützer des Kirchenasyls fordern in der Petition zugleich ein „dauerndes Bleiberecht“ für die Familie. Sie zählen auf, inwiefern sich die Familie um Integration „innerhalb der eingeschränkten Möglichkeiten“ bemüht habe. Sie erläutern die Arbeit in den Heimen und die Arbeitsplatzzusagen, die Tuan und Ha bereits hätten. Die schriftlichen Zusagen legen sie in Kopie der Petitionserweiterung bei.
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Erweiterung der Petition vom 13. Juli 2000
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Sie berichten zudem von Duc Toan, der seit ein paar Tagen wieder die Schule besucht und dort seine Position als Klassenbester verteidigen kann. Sie argumentieren mit der Altfallregelung und versuchen zu erklären, wieso die Familie auch aus rechtlichen Gründen bleiben könne. „Andere Bundesländer, wie zum Beispiel Sachsen, Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen, Hessen, RheinlandPfalz, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und neuerdings auch Berlin haben ihre Durchführungsbedingungen sehr viel liberaler gefasst. So genügt zum Beispiel dort eine Arbeitsplatzzusage bzw. gemeinnützige Arbeitsverträge, um eine zunächst befristete Aufenthaltsbefugnis zu bekommen. Den Menschen wird somit die Chance eingeräumt, innerhalb von sechs Monaten die erforderlichen Integrationsvoraussetzungen zu schaffen und so den Erweis zu bringen, dass sie für sich und ihre Familien auch in Zukunft werden sorgen können. Da sie mit einer ‚Aufenthaltsbefugnis‘ sofort vom Arbeitsamt eine ‚Arbeitsberechtigung‘ erhalten können, die dann unbeschränkt und unbefristet gilt, würde ihnen dieses unbenommen auch in Brandenburg gelingen (Paragraph 286 SGB [Sozialgesetzbuch] II).“ Die Unterstützergruppe verfolgt mit der Petition vor allem ein großes Ziel: Familie Nguyen soll eine Chance bekommen. Tuan und Ha sollen die Möglichkeit haben, einen längerfristigen Arbeitsvertrag abzuschließen. Sie würden selbst Geld verdienen und selbstständig leben. Die erste Petition hatten sie zwei Tage vor dem Abschiebetermin verschickt. Damals erhielten sie keine Antwort. Der Petitionsausschuss setzt sich erst am 18. Juli mit dem Schreiben auseinander – knapp drei Wochen nach der versuchten Abschiebung, nach dem Bruch des 100
Kirchenasyls. Die Vorsitzende des Petitionsausschusses begründet das späte Vorgehen.1 „Einer Mitteilung des Staatssekretärs im Ministerium des Innern vom 3. Juli 2000 hat der Petitionsausschuss entnommen, dass das Ministerium des Innern ihrem Anliegen zunächst entsprechen wird.“ Die zweite Petition, sprich die Erweiterung von Pfarrer Schmidt und Sabine Grauel, bleibt zunächst scheinbar unberücksichtig – obwohl sie laut einer Bestätigung aus dem Büro der Ausschussvorsitzenden vier Tage vorher dort eingetroffen war.2 Bis zur ausführlichen Antwort des Petitionsausschusses werden über vier Monate vergehen. Die Mitglieder des Landtages werden sich mit der erweiterten Petition am 21. November befassen. Die Antwort wird der Pfarrer per Fax erhalten, ohne beim ersten Blick auf das Papier den Hinweis „Bitte sofort auf den Tisch!“ zu übersehen.3 „(...) Der Petitionsausschuss ist zu der Auffassung gelangt, dass die Familie Nguyen die Voraussetzung der so genannten Altfallregelung auf der Grundlage des Beschlusses der Innenministerkonferenz vom 18./19. November 1999 nicht erfüllt. Nach der Altfallregelung müssen die Betroffenen am 19. November 1999 den Lebensunterhalt der Familie durch legale Erwerbstätigkeit ohne zusätzliche Mittel der Sozialhilfe bestreiten. Des Weiteren müssen die Personen auch über ausreichenden Wohnraum verfügen. Diese beiden Voraussetzungen waren auch nach Ihrem 1
Schreiben vom 19. Juli 2000 In einem Schreiben vom 20. Juli wird der Eingang der Petition bestätigt. In der Betreffzeile heißt es: „Ihre Petition vom 13. Juli 2000, eingegangen am 14. Juli 2000“. 3 Antwort des Petitionsausschusses vom 21. November 2000 2
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Vortrag in der Petition am 19. November 1999 nicht erfüllt. (...)“ Der Ausschuss wird nicht auf die damals beigelegten Dokumente eingehen. Laut diesen Unterlagen scheiterte die Wohnungssuche an den Behörden des Landkreises – nicht an Familie Nguyen. Die Arbeitssuche sei laut Schmidt deswegen erfolglos geblieben, weil weder Ha noch Tuan eine Arbeitsgenehmigung erhalten hätten. Dass Ha und Tuan regelmäßig gemeinnützige Arbeit im Heim leisteten, wird ebenso keine Beachtung finden. Pfarrer Schmidt und Sabine Grauel werden die Antwort des Ausschusses als weiteren Rückschlag werten. Bevor das Schreiben eintreffen wird, steht beiden eine der bundesweit heftigsten Debatten zum Kirchenasyl bevor. Doch bis zum medienwirksamen Schlagabtausch zwischen Staat und Kirche werden noch ein paar Tage vergehen.
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Plakate gegen Kirchenasyl Bei Schmidt und Sabine Grauel kommen die ersten Zweifel auf. Führt das Kirchenasyl zu einem glücklichen Ende für Familie Nguyen? Der Tagesablauf beginnt sich zu wiederholen, die Wiederholungen verstärken die Skepsis. Der Pfarrer setzt sich mit Kirchenasyl-Gegnern auseinander. Sabine Grauel sammelt weitere Argumente für ein Bleiberecht und stöbert daher in Akten zu ähnlichen Fällen. Tuan hilft Birgit Schmidt im Garten, während Duc Toan die Schule besucht. Nicht das kleinste Anzeichen für ein Bleiberecht ist zu erkennen. Doch plötzlich spielt das alles keine Rolle mehr – es geht wieder um Ha. Sie muss erneut ins Krankenhaus. Der Facharzt für Frauenheilkunde René Gürntke betreut sie. Wegen der drohenden Frühgeburt muss Ha in seiner Praxis und im Krankenhaus behandelt werden. Er schüttelt vermutlich den Kopf, als er davon hört, was Ha in der Risikoschwangerschaft bisher durchmachen musste. Der Arzt schreibt eine Stellungnahme.1 „Neben der psychischen Verlustsymptomatik (Mann und Kind) und damit der Gefahr einer Wehenstimulation ist auch rein praktisch der Kindsvater unabdingbar für die Versorgung der Schwangeren, da sie keine weiteren Angehörigen in Deutschland hat, die die Versorgung übernehmen könnten. Die weitere Schwangerschaft und auch die Kindesentwicklung könnten Schaden nehmen. Der ständige Stress, dem die Patientin ausgesetzt ist, könnte sich sekundär auch auf die Entwicklung des heranwachsenden 1
Schreiben vom 16. Juli 2000
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Kindes auswirken. Ein zeitweiliges Aussetzen der Abschiebung für die Frau, aber auch für ihren Mann und Sohn, würden einer harmonischen Entwicklung des heranwachsenden Kindes durchaus dienlich sein. Nur ein psychisches und physisches Wohlbefinden können neben den medizinischen Aktivitäten weitere Schwangerschaftskomplikationen verhindern.“ Der Sachbearbeiter des brandenburgischen Innenministeriums hat sich bereits vor einiger Zeit zu Has Schwangerschaft geäußert.1 Er drückte sich anders aus. „Eine Schwangerschaft ist keine Krankheit, sondern ein mit dem täglichen Leben einhergehender natürlicher Lebensabschnitt.“ Die Betreuung sei daher auch ohne den Gatten gesichert. * Ein paar Tage, nachdem Ha eingewiesen wurde, geht es im Landgericht von Frankfurt/Oder um ihren Mann. Gegenstand der Verhandlung ist Tuans Haftbefehl. Die Beschwerde seines Anwaltes kommt zur Sprache. Das Gericht lädt auch den Leiter der Ausländerbehörde zu der Anhörung. Seine Behörde hat damals die Sicherungshaft für Tuan beantragt. Sicherungshaft heißt für Tuan Abschiebung – er müsste bis zum Abflug nach Vietnam die Zeit hinter Gittern verbringen. Das Haftgebäude steht auf dem selben Gelände, auf dem Tuan zusammen mit Ha vor acht Jahren den Antrag auf Asyl begründete. Mit einem kleinen Unterschied: Aus dem maroden Gebäudekomplex wurde 1
Schreiben vom 22. Juni 2000
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ein Hochsicherheitstrakt. Ein Metallzaun umgibt das Gelände. Laternen werfen nachts grelles Licht auf die Eisenstäbe. An langen Röhren befestigte Kameras überwachen diesen Bereich. Wenn es dunkel wird, marschiert ein Wachmann mit einer Taschenlampe in der Hand den Zaun rund um das Gelände ab. Am Rande des Grundstücks liegt ein kleines Gebäude. Ein zusätzlicher Zaun mit Stacheldrahtrollen umgibt das Gemäuer – dahinter befinden sich die Zellen für die Abschiebehaft. Doch Tuan muss diesen Ort nicht betreten. Das Protokoll der nicht öffentlichen Gerichtssitzung zieht sich über vier Seiten hin. Das Ergebnis: Die zweite Zivilkammer hebt den Beschluss des Amtsgerichtes auf. Sie weist den Antrag der Ausländerbehörde zurück. „Haftbefehl für Vietnamesen aufgehoben“ informiert die „Märkische Oderzeitung“ ihre Leser am nächsten Tag.1 Die Redaktion fragte zuvor bei Pfarrer Schmidt nach, wie er die Gerichtsentscheidung bewertet. „Mit der gerichtlichen Aufhebung des Haftbefehls werde das Kirchenasyl nun respektiert, interpretiert Pfarrer Schmidt die neue Situation erleichtert.“ Nach Schmidts Meinung akzeptieren die Behörden nun das Kirchenasyl. Tuan und sein Sohn müssen jetzt nicht mehr mit einer Abschiebung rechnen – zumindest bis das Kind zur Welt kommen wird. In diesem Glauben löst der Pfarrer ein Versprechen gegenüber seinen Kindern ein – sie wollen gemeinsam für eine Woche wegfahren. Die Kinder haben Sommerferien und der letzte gemeinsame Urlaub liegt schon einige Zeit zurück. 1
„Märkische Oderzeitung“ vom 18. Juli 2000
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In der Kirchengemeinde finden sich genug, die sich für einige Tage um Familie Nguyen kümmern wollen. Eine befreundete Familie zieht zu Familie Nguyen in das Pfarrhaus. Auch Sohn Paul bleibt mit Cesar zu Hause bei Tuan, Ha und Duc Toan. Paul verbringt mit seinen 16 Jahren die Ferien lieber mit Freunden als mit den Eltern. Familie Schmidt fährt mit dem Auto auf der B 109 Richtung Norden. Als das Handy klingelt, liegen die ersten 150 Kilometer bereits hinter ihnen. Sie hören Paul am anderen Ende der Leitung. Er habe einen weißen VW-Bus gesehen, der durch das Dorf fuhr. Das Fahrzeug habe mehrmals angehalten. Ein paar Leute seien ausgestiegen, hätten Plakate angeklebt und seien weitergefahren. Die Poster hingen an der Bushaltestelle und am Informationskasten vor dem Pfarrhaus. Er liest seinen Eltern die Aufschrift vor. „Kirchenasyl? NEIN DANKE! Wir fordern: Deutschland den Deutschen. NPD. Die Nationalen.“ Urlaub abbrechen oder weiterfahren? Der Pfarrer spricht mit seiner Frau und sie kommen schnell zu einem Ergebnis. Jetzt zurückzufahren, sich aufzuregen und empört der NPD die Meinung zu sagen, das sei das, was provoziert werden soll. Sie fahren weiter. Birgit Schmidt hatte sich bereits vor ein paar Wochen mit dieser Partei auseinander gesetzt. Sie schrieb einen Brief an den NPD-Stadtverordneten in Frankfurt/Oder.1 Die Nachbarn des Pfarrhauses hatten in ihren Briefkästen Werbezettel der Partei vorgefunden. Der Text enthielt die üblichen Parolen. Darunter war der Name des NPDMitglieds abgedruckt. 1
Schreiben vom 20. Juli 2000
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„Werter Herr (...), mit Abscheu habe ich das von Ihnen verbreitete Flugblatt gelesen. Zu Ihrer Aufklärung über tatsächliche Tatbestände, was die Bevölkerungszahlen in Deutschland betrifft, schicke ich Ihnen die aktuellen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes. Ich denke, Sie sollten sich schon heute Gedanken darüber machen, wer zahlt später ihre Rente und die Ihrer Anhänger? Gott sei Dank lassen sich in Deutschland nicht viele Menschen durch bloße und einfach unsinnige Propaganda täuschen. Im Gegenteil: Für viele steht der Mensch und zwar egal welcher Herkunft, im Vordergrund ihres Denken und Handelns. Mit dem Wunsch, dass auch Sie es lernen, sachlich und menschlich zu denken und zu handeln, B. Schmidt (Pfarrhaus, Libbenichen)“
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Zivilcourage kostet Geld Bischof Huber kann nicht wissen, welche Reaktionen sein Schreiben in den nächsten Tagen hervorrufen wird. Er will nicht mehr, als schon andere forderten und formulierten. Vielleicht geben die Themen der vergangenen Wochen nicht mehr genug zum Füllen der Zeitungsspalten und Sendezeiten her. Kaum ein Kommentator regt sich noch über die Leistung der deutschen Fußballer bei der Europameisterschaft auf. Immer weniger Fachleute äußern sich zu der Unterscheidung von beißwütigen und braven Kampfhunden. Und der Erstickungstod der chinesischen Flüchtlinge taucht schon seit Wochen nicht mehr in den Medien auf. Vielleicht ist eine gründliche Debatte über das Kirchenasyl aber auch längst überfällig. Ein paar Tage bevor Bischof Huber sein Schreiben aufsetzt, tauchte ein Fall aus Duisburg in den Medien auf. Die Polizei hatte das Kirchenasyl einer mazedonischen Roma-Familie beendet. Die Beamten steckten den Ehepartner in ein Abschiebegefängnis. Frau und Kinder brachten sie in ein 200 Kilometer davon entferntes Flüchtlingsheim. Die „Frankfurter Rundschau“ druckte die Details.1 „Im Gegensatz zur Stadtverwaltung, die die Aktion als ‚sehr korrekt und sehr friedlich‘ bezeichnete, wertete Pfarrer Gregorius die Beendigung des Kirchenasyls als ‚überfallartigen frühmorgendlichen Polizei-Einsatz‘.“ Ein paar Tage später holten die Beamten Frau und Kinder und schoben sie mit dem Familienvater per Flugzeug nach Skopje ab. Außer der Kirche setzten sich zuvor 1
„Frankfurter Rundschau“ vom 12. Juli 2000
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Gewerkschaften, SPD, die Grünen, Flüchtlingshilfeorganisationen und zahlreiche Duisburger für ein Bleiberecht ein. Doch Bischof Huber geht es nicht um das gebrochene Kirchenasyl in Duisburg. Er richtet seinen Brief an den brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe und an den Innenminister des Landes, Jörg Schönbohm.1 „(...) Ich bestreite nicht, dass die Ausländerbehörde die rechtlichen Voraussetzungen für eine Abschiebung beigebracht hat. Allerdings bin ich der Auffassung, dass die Ausländerbehörde ihren Ermessensspielraum zu Gunsten der Familie nicht ausreichend genutzt hat. Eine andere Entscheidung drängt sich aus meiner Sicht aus humanitären Gründen geradezu auf. Mit seinem Angebot, auf die Durchsetzung der Abschiebung bis einen Monat nach der Geburt des erwarteten Kindes zu warten, ohne jedoch der Familie eine Duldung zu erteilen, hat das Innenministerium den Schutz von Ehe und Familie, den Schutz des ungeborenen Lebens und den Schutz der Gesundheit der Mutter sowie des schwer asthmakranken achtjährigen Sohnes auf eine in diesem Fall schwer vertretbare Weise in den Privatbereich geschoben. Ausdrückliches Ziel des Innenministeriums ist es, dass die Kirchengemeinde für alle Kosten aufkommen soll, wenn sie meint, sich für die humanitären Belange der Familie einsetzen zu müssen. Mit diesem Vorgehen entledigt sich das Land Brandenburg einer Verantwortung, die dem Staat zukommt. Mir geht es nicht um die Frage, ob die Kirchengemeinde die finanziellen Lasten tragen kann, sondern vielmehr darum, dass ich in der Weigerung des Staates, 1
Brief vom 18. Juli 2000
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Grund- und Menschenrechte mit eigenen Mitteln zu garantieren, einen schwerwiegenden Vorgang sehe. (...)“ Bischof Huber bittet Stolpe und Schönbohm „den Fall noch einmal zu überprüfen“. Er schlägt vor, „wie in Zukunft vergleichbare Härtefälle vermieden werden könnten“. Das Land Brandenburg soll eine Härtefallkommission einrichten. Außerdem müsse die Altfallregelung anders angewendet werden. In Brandenburg könnten die betreffenden Ausländer „wegen des faktisch geltenden Arbeitsverbots die wesentliche Voraussetzung ohne eigene Schuld nicht erbringen“. Zudem solle das Bemühen von Ausländern um Integration stärker berücksichtigt werden. „(...) Die Landesregierung ruft ihrerseits zu Toleranz, ehrenamtlichem Engagement und Zivilcourage auf. (...) Zivilcourage mag für den Staat gelegentlich auch unbequem sein. Aber es sind doch solche Bürgerinnen und Bürger wie die Mitglieder der Kirchengemeinde Dolgelin, die zu einem Stimmungswechsel im Land Brandenburg beitragen können. Woher, wenn nicht von solchen Menschen, soll in der Gesellschaft eine Kraft gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit erwachsen?“ Ende August schreibt Stolpe seine Antwort an den Bischof, Schönbohm hatte bis dahin noch nicht geantwortet. Stolpe bedankt sich für die „Anregungen zum Thema Aufenthaltsrecht von Ausländern“.1 Die im Falle von Nguyens getroffenen Entscheidungen genügen „rechtsstaatlichen Grundsätzen“. Der Begriff „humanitäre Gründe“ gebe immer wieder Anlass zu unterschiedlichen Interpretationen. 1
Brief vom 26. August 2000
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Mit dem Vorschlag einer Härtefallkommission habe sich die Landesregierung bereits beschäftigt. Das Thema sei jedoch nicht weiter verfolgt worden. „Humanitäre Gesichtspunkte“ seien im Rahmen der „geltenden Gesetze von der Verwaltung ohnehin zu beachten“. Pfarrer Schmidt erhält die Antwort zugeschickt. Er schließt beim Lesen des Briefes darauf, dass „von der Verwaltung“ vom Landkreis zu bedeuten hat. Vom Landkreis heißt demnach vom Landrat und von der Ausländerbehörde. Also von dort, wo die Familie schon seit Jahren eine Möglichkeit erhofft hat, eine Chance zu bekommen. In den Schreiben der Ausländerbehörde liest der Pfarrer viel von den geltenden Gesetzen, nichts aber von „humanitären Gesichtspunkten“. Stolpe äußert sich überdies zum Verhalten von Pfarrer Schmidt und der Kirchengemeinde. Der Ministerpräsident teilt die Auffassung, „dass wir in diesem Land Bürger brauchen, die sich für die Belange anderer einsetzen“. Diese Auffassung teilt Stolpe sogar „ganz ausdrücklich“. „Insofern hat die Kirchengemeinde ihrem Verständnis von sozialer Verantwortung und Zivilcourage Ausdruck verliehen und auch ein Ergebnis erzielt.“ Er schränkt ein: „Letztlich kann dies aber auch bedeuten, damit verbundene finanzielle Folgen zu tragen.“ Zivilcourage kostet Geld – auf diese einfache Formel bringt Pfarrer Schmidt die Worte von Stolpe. Doch weder die Kirchengemeinde noch die Kirchenleitung haben viel Zeit, sich mit Stolpes Worten auseinander zu setzen. „Der Spiegel“ sorgt für frischen Wind.
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Das Nachrichtenmagazin veröffentlicht in einer Vorabmeldung Textstellen aus dem Brief von Bischof Huber.1 Die Überschrift der „Spiegel“-Meldung verdeutlicht Hubers Ansichten. „Brandenburg verweigert Grund- und Menschenrechte – sagt der Bischof von Berlin“. Jetzt reagiert Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm. Er tritt einen Tag nach der „Spiegel“-Meldung an die Öffentlichkeit – die Auseinandersetzung gewinnt an Schärfe. Schönbohm ist für deutliche Worte bekannt. Nach dem Abitur trat er der Bundeswehr bei. Er diente als Zugführer, als Batteriechef im Feldartilleriebataillon, als Kommandeur der Panzerbrigade 21 und war später unter anderem Inspekteur des Heeres. Seit 1999 ist er, Jahrgang ´37, Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident. Sieben Jahre zuvor erschien sein Wendebuch „Zwei Armeen und ein Vaterland“.2 „Innenministerium weist Huber-Vorwürfe zurück“, so die Überschrift der Presseerklärung Nummer 129/00 seines Ministeriums.3 Und weiter: „Schönbohm: Asylmissbrauch muss konsequenter bekämpft werden.“ Das Ministerium erläutert in der Pressemitteilung ausführlich, wer „Asylmissbrauch“ betreibe. „Das betreffende Ehepaar reiste im November 1990 illegal über die damalige CSSR in die Bundesrepublik ein (...).“ Das Ehepaar habe als Vertragsarbeiter gearbeitet, der Asylantrag sei abgelehnt, die Familie zur Ausreise aufgefordert worden, seit Januar 2000 sei die Familie „im Rahmen des Rückübernahmeabkommens“ zur „Rückführung“ 1
„Der Spiegel“: Vorabmeldung vom 16. September 2000 zu Heft Nummer 38/2000 vom 18. September 2000 2 Das Buch erschien im Siedler-Verlag und ist inzwischen vergriffen. 3 Pressemitteilung vom 17. September 2000
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vorgesehen. Am 22. Mai sei die Familie der „vereinbarten Flugtauglichkeitsuntersuchung von Frau und Sohn nicht nach [gekommen]“. Die Gründe nennt Schönbohm nicht. Die Familie war damals nach zahlreichen ärztlichen Untersuchungen verunsichert – Tuan und Ha verstanden nicht, wieso sie und Duc Toan noch einmal zum Arzt mussten. Aber in der Presseerklärung Nummer 129/00 steht nichts von ärztlichen Stellungnahmen, nichts von deren Warnungen vor der Reise und nichts von Has Risikoschwangerschaft. „Am 21. Juni 2000 wurde die amtsgerichtliche Sicherungshaft des Vaters verfügt. Durch Anordnung von Innenminister Jörg Schönbohm wurde die Sicherungshaft von der Polizei nicht gegen die Räume der Kirche durchgesetzt.“ Von den falschen Behauptungen im Rahmen der geplanten Sicherungshaft ist nichts zu lesen. Damals wurde behauptet, Tuan habe keine „familiäre“ Bindungen in der BRD. Der Versuch der Ausländerbehörde, Vater und Sohn abzuholen, bleibt ebenso unerwähnt. Die folgenreiche Panne, dass das Innenministerium zwar die Kirchenleitung, nicht aber die abzuschiebende Behörde informiert hatte, taucht in der Presseerklärung nicht auf. Der Polizeichef, der sich damals weigerte, seine Männer auf das Kirchengelände zu schicken, hatte keine Order von Schönbohm. Er handelte laut gut unterrichteten Politikerkreisen nach seinem eigenen Gewissen. Stattdessen heißt es in der Presseerklärung: „Der Innenminister hat die Situation mit dieser Entscheidung ganz klar entschärft.“ „Seitens des Innenministeriums ist die Kirche aber darauf hingewiesen worden, dass sie nicht außerhalb der 113
Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland steht.“ Da sie bewusst rechtsstaatliche Entscheidungen unterlaufe, müsse sie für alle Kosten aufkommen. „Es ist hier darauf hinzuweisen, dass wir es im vorliegenden Fall mit einem ganz offensichtlichen, jahrelangen Asylmissbrauch zu tun haben, für den der Steuerzahler aufkommt. Die Kosten dieses Missbrauchs sind erheblich und umfassen unter anderem Sozialhilfe, Verwaltungskosten, Gerichtskosten, Anwaltskosten sowie die medizinische Versorgung.“ Der Verfasser der Presseerklärung zitiert Schönbohm mit den Worten: „An diesem Beispiel zeigt sich vielmehr, dass die rechtsstaatlichen Asylverfahren auf eine Beschleunigung hin überarbeitet werden müssen und dem Missbrauch des Asylrechts konsequent entgegenzutreten ist.“ * Am Tag nach der Presseerklärung, zwei Tage nach der „Spiegel“-Vorabmeldung, berichten nahezu alle großen Tageszeitungen über den Streit, der erst einige Tage später seinen Höhepunkt erreichen wird. „Asylpolitik Potsdams in der Kritik“ schreibt die „Frankfurter Rundschau“.1 Die überregionale Zeitung zitiert Textstellen von Hubers Brief und geht auf Schönbohms Presseerklärung ein. „Erneut Ausländerpolitik Schönbohms kritisiert“, titelt die „Süddeutsche Zeitung“ am selben Tag.2 „Erneut“ deswegen, weil Wolfgang Thierse sich einige Tage zuvor zu einem anderen Fall zu Wort meldete. 1 2
„Frankfurter Rundschau“ vom 18. September 2000 „Süddeutsche Zeitung“ vom 18. September 2000
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Der Bundestagspräsident warf Schönbohms Ministerium in diesem Zusammenhang in einem Brief falsches Handeln vor: Rechtsextreme erreichten ihre Ziele „mit Billigung offizieller brandenburgischer Stellen“.1 Thierse setzt sich unter anderem für ein Opfer rechter Gewalt ein. Rechtsextreme hatten zwei Algerier durch die brandenburgische Stadt Guben gehetzt. Einer der beiden Männer war nach einem Sprung durch eine Glastür verblutet. Der andere überlebte die Verfolgung. Als der Algerier eine Therapie beginnen wollte, erhielt er lediglich eine Duldung, kein Bleiberecht. Die Begründung sorgte für Aufsehen. Da er in Deutschland traumatisiert worden sei, werde er hier nur bedingt sein Leben meistern können.2 „Die Welt“ erklärt einen Tag später, wieso der Streit um das Kirchenasyl „immer heftiger“ werde.3 Der stellvertretende Regierungssprecher Manfred Füger nennt die Vorwürfe des Bischofs laut dem Zeitungsbericht „völlig ungerechtfertigt“. Der Innenminister dulde das Kirchenasyl. Der zuständige Landkreis Märkisch-Oderland habe anfangs für eine Beendigung durch einen Polizeieinsatz plädiert. „Durch das Entgegenkommen Schönbohms erfolge die von allen gerichtlichen Instanzen 1
Zu Wolfgang Thierses Äußerungen erscheinen zahlreiche Berichte. So veröffentlichen zum Beispiel „Der Spiegel“ vom 11. September 2000 (Ausgabe 37/2000) und die „Frankfurter Rundschau“ vom selben Tag Ausschnitte aus dem Brief. Ministerpräsident Manfred Stolpe nimmt seinen Innenminister daraufhin in Schutz. Die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt am 12. September 2000: „Er sehe Schönbohm als einen Politiker, der erbittert auf alle Tendenzen von Rechtsextremismus reagiere, meinte der Regierungschef.“ 2 Dieser Vorfall wird unter anderem in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 16. September ausführlich dargestellt. 3 „Die Welt“ vom 19. September 2000
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bestätigte Abschiebung nun erst vier Wochen nach der Geburt des Kindes“, heißt es in dem Beitrag weiter. Immer mehr Politiker äußern sich zu dem Fall. „Die Welt“ zitiert im selben Artikel den brandenburgischen CDU-Generalsekretär Thomas Lunacek. Die Ausländerbehörden handelten nach den „geltenden Gesetzen und den Maßstäben der Moral“. Das Kirchenasyl stellt seiner Meinung nach „einen klaren Bruch der demokratischen Rechte dar“. „Die Welt“ konfrontiert Generalsuperintendent Rolf Wischnath mit den Äußerungen. Er entgegnet: „Kirchenasyl ist kein Rechtsbruch.“ Die Behauptung zeuge von „Unverständnis und Unbarmherzigkeit“. Im „Tagesspiegel“ nimmt ein weiteres prominentes Mitglied der CDU Stellung.1 Der Bundestagsabgeordnete Rainer Eppelmann wirft dem Bischof vor, die Evangelische Kirche zu spalten. „Hier werde Brandenburg diffamiert. Der Bischof solle sich mit seiner persönlichen Meinung zurückhalten“, so der Artikel. Das Prekäre an Eppelmanns Worten. Er selbst ist Pfarrer. Sein Amt ruht lediglich auf Grund des Bundestagsmandates. „Christen streiten über Asyl“ lautet der Titel in der „tageszeitung“.2 In dem Artikel bekräftigt Bischof Huber seine Kritik. Er bedauert, dass weder Stolpe noch Schönbohm „auf die Problematik der Verantwortung der Politik“ eingehen. Huber nimmt erneut Stellung zum Fall der Familie Nguyen, ohne konkret deren Namen zu nennen. „Die Rechtmäßigkeit des Verfahrens sei nie bestritten worden. Die politische Verantwortung reiche aber weiter und müsse Spielräume zugunsten der Betroffenen nutzen.“
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„Der Tagesspiegel“ vom 19. September 2000 „die tageszeitung“ vom 19. September 2000
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Zur politischen Verantwortung äußert sich ebenso Almuth Berger, die Ausländerbeauftragte von Brandenburg. In den „Potsdamer Neuesten Nachrichten“ unterstützt sie die Forderung von Bischof Huber, eine HärtefallKommission einzurichten.1 Sie fordere dies schon seit längerem – ohne auf Gegenliebe zu stoßen. „Allerdings sei die Bereitschaft des Innenministeriums in den vergangenen Jahren, eine solche Kommission einzurichten, sehr gering gewesen.“ Der Öffentlichkeitsbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Reinhard Lampe, versendet am Tag der großen Schlagzeilen eine Pressemitteilung.2 „Mit Bedauern stellt der Bischof fest, dass weder die Antwort des Ministerpräsidenten, noch die Presseerklärung von Minister Schönbohm (...), dessen Antwort auf das Schreiben des Bischofs noch aussteht, auf die Problematik der Verantwortung der Politik in irgendeiner Weise eingehen.“ Es gehe darum, „rechtliche und politische Spielräume auch einmal zugunsten der Betroffenen zu nutzen, insbesondere dann, wenn wie in dem vorliegenden Fall elementare Menschenrechte auf dem Spiel stehen“. In Lampes Mitteilung wird zwar das „Engagement der Landesregierung für ein tolerantes Brandenburg“ gelobt, zugleich werden aber „deutliche Signale“ gefordert, dass der Schutz der Grund- und Menschenrechte „übergeordnetes Prinzip allen staatlichen Handelns ist“. Die Berichterstattung bleibt nicht wirkungslos. Einen Tag nachdem der Fall bundesweit in den Medien auftaucht, gibt es ein erstes Anzeichen für Veränderung.
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„Potsdamer Neueste Nachrichten“ vom 19. September 2000 Presseerklärung vom 19. September 2000
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Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ berichtet darüber.1 „Kritische Asylfälle in Brandenburg sollen künftig von der Verwaltung dem Innenminister vorgelegt und von ihm selbst entschieden werden. Das ist die Konsequenz aus der Kritik, die sowohl von Bundestagspräsident Thierse als auch vom Bischof der Evangelischen Landeskirche BerlinBrandenburg, Huber, geäußert worden war.“ Die „Frankfurter Rundschau“ informiert am selben Tag, wie Innenminister Schönbohm nun von seinem neuen Recht Gebrauch machen wolle.2 Im Falle des von Rechtsradikalen verfolgten Algeriers sagt er „zwar, für ihn sei es selbstverständlich, einem Menschen, der hier Opfer eines Verbrechens wurde, zu gewährleisten, dass die Gesundheit wieder hergestellt werde. Doch von einer Änderung des Asylstatus sagte er nichts.“ Schönbohm erwähnt zwei weitere Fälle – ein Ägypter und eine vietnamesische Familie. Nicht nur Pfarrer Schmidt ist klar, welche Familie Schönbohm wohl meint. In beiden Fällen „will er hart bleiben“. Schönbohms Auskunftsfreude in Bezug auf das Schicksal von Ausländern bleibt indes nicht ohne Folgen. Brandenburgs Datenschutzbeauftragter Alexander Dix beanstandet Schönbohms Verhalten.3 Schönbohm habe bei der Pressekonferenz zu viele Details über das Schicksal der Familien verbreitet. Es handle sich dabei um Dossiers, 1
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 20. September 2000 „Frankfurter Rundschau“ vom 20. September 2000 3 Eine ausführliche rechtliche Auseinandersetzung mit Schönbohms Verhalten wird später im „Tätigkeitsbericht 2000“ des DatenschutzBeauftragten zu finden sein (Punkt 1.3, Seite 24 ff.). „Personenbezogene Daten dürfen nicht für die politische Auseinandersetzung instrumentalisiert werden“, wird es dort unter anderem heißen. 2
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in denen detaillierte Informationen über bestimmte Ausländer verbreitet würden – darunter Familie Nguyen. Das Innenministerium weist die Kritik zurück. Doch der landesoberste Datenschützer bleibt bei seiner Meinung. Ein Teil dieser Informationen betreffe „persönliche bzw. intime Lebensbereiche der Betroffenen“ wird Dix später an das Innenministerium schreiben.1 Das Internet-Magazin „Spiegel Online“ veröffentlicht die Beanstandung von Dix umgehend.2 Die „Märkische Oderzeitung“ berichtet über die Meldung des OnlineMagazins einen Tag später.3 „Einen so ausführlichen Einblick in einen ‚wesentlichen Teilaspekt ihrer Lebensumstände müssen die Betroffenen nicht hinnehmen‘, betonte Dix.“ Familie Nguyen nimmt es dennoch hin. Sie hat andere Probleme. Schönbohm sagte, er wolle in ihrem Fall „hart bleiben“. Tuan und Ha wissen, was das bedeutet. Auch Pfarrer Schmidt spürt derzeit, was es heißt, wenn Schönbohm „hart bleiben“ will. Die Gespräche mit dem Leiter der Ausländerbehörde enden erfolglos. In seiner Notiz vom 18. September ist davon zu lesen. „Bitte um Duldung für Vater und Sohn, da Frau fest im Bett liegen muss, Beistand und Versorgung durch den Ehemann eingefordert. Antwort: Keine Kenntnis zum derzeitigen Stand, keine Informationen, Fall Nguyen ist mir aus den Händen genommen, ich kann hier nicht entscheiden, an die nächsthöhere Stelle wird verwiesen.“
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Schreiben vom 10. November 2000 „Spiegel Online“ vom 28. September 2000 3 „Märkische Oderzeitung“ vom 29. September 2000 2
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Am 20. September besucht der Pfarrer zusammen mit Tuan die Ausländerbehörde. Vater und Sohn erhalten eine Duldung bis zum 31. Oktober. Aber von einem Bleiberecht spricht niemand. Tuan und Ha packen am Nachmittag ihre Sachen und räumen das Gästezimmer auf. Am Abend beziehen sie wieder ihr Zimmer im Erdgeschoss des Flüchtlingsheims. Ha erwartet das Kind in etwas über drei Wochen. Zwei Wochen später werden sie zu viert in einem Flugzeug nach Hanoi sitzen müssen. Zumindest bis dahin haben sie nichts mehr zu befürchten. Pfarrer Schmidt führt Gespräche mit Sabine Grauel, mit der Kirchenleitung und mit Journalisten. Das Kirchenasyl ist zu Ende, Vater und Sohn dürfen ein paar Wochen bleiben. Hat die Gemeinde gewonnen oder verloren? Eine von vielen Fragen, die er gegenüber Medienvertretern zu beantworten hat. Er stellt sich ihnen bis in den späten Abend.1 „Wie ist derzeit das Verhältnis zum Innenministerium?“ „Das Innenministerium ist ausländerfeindlich, so lange Brandenburg im Gegensatz zur Mehrzahl der Bundesländer einen restriktiven Gebrauch von der so genannten Altfallregelung macht.“ „Wird die Gemeinde Ende Oktober der Familie ein neues Kirchenasyl geben?“ „Die Gemeinde ist dazu durchaus bereit. Ich verweise auf die Unterstützung der Bevölkerung.“
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Die Antworten von Pfarrer Schmidt sind der Berichterstattung des „Evangelischen Pressedienstes“ und der „Märkischen Oderzeitung“ jeweils vom 22. September 2000 entnommen.
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„Wussten Sie damals, dass die Kirchengemeinde für alle Kosten aufkommen müsste?“ „Wir waren uns dieser Konsequenzen durchaus bewusst, doch zuerst waren da erst einmal drei Menschen, die Hilfe brauchten, deren Zusammenhalt als Familie gefährdet war.“ „Wie soll es nun weitergehen?“ „Das ist völlig offen.“ Andere Beteiligte melden sich gegenüber der „Deutschen Presse-Agentur“ („dpa“) zu Wort.1 Bischof Huber sieht in der Duldung einen „notwendigen Schritt für den Schutz von Ehe und Familie“. Das Innenministerium sieht das laut „dpa“ anders. Dort spreche man von einem „krassen Fall von Asylmissbrauch“. Die Agentur zitiert den Sprecher Heiko Homburg. „Die Kirche unterläuft rechtsstaatliche Entscheidungen.“ Die Ausländerbehörde erteilte der Familie eine Duldung. Bis Ende Oktober haben sie nicht mit einer Abschiebung zu rechnen. Mit diesem Wissen kann Ha die letzten Tage der Risikoschwangerschaft hinter sich bringen. Pfarrer Schmidt und Sabine Grauel besuchen sie mehrmals die Woche, Birgit Schmidt täglich – sie wollen Ha zeigen, dass sie nicht alleine ist, dass auf sie aufgepasst wird. Alle drei wissen, dass ihre Hilfe bald wieder von Nöten sein wird.
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„Deutsche Presse-Agentur“ vom 20. September 2000
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Eskalation unter Glaubensbrüdern – Zivilcourage oder Rechtsbruch? Das Kirchenasyl in Dolgelin ist zu Ende – die Debatte darüber noch lange nicht. Erneut meldet sich Rainer Eppelmann zu Wort. Er schreibt einen Gastkommentar für die „Märkische Oderzeitung“.1 Der CDU-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Pfarrer ist rechts neben der Überschrift mit einem kleinen Foto abgebildet. Schütteres Haar, dichter Schnurr- und Kinnbart, Ende 50. Er senkt den Kopf leicht nach unten. Über die auf der Nase abgestützte Lesebrille hinweg schaut er in die Kamera. In dem Gastkommentar kritisiert Eppelmann das Verhalten von Bischof Huber. Kirchenasyl könne nur dann ernsthaft erwogen werden, „wenn die Schutzsuchenden Opfer der Willkür eines Unrechtsstaates sind“. Und „hiervon kann man in der Bundesrepublik Deutschland bekanntlich nicht sprechen“. Eppelmann wiederholt den Vorwurf, „dass der Kollege Huber“, die Evangelische Kirche spalte. Familie Nguyen bleibt nicht unerwähnt. Er nennt Familienvater Tuan beim Namen. Dieser halte sich „zu Unrecht“ seit acht Jahren in Deutschland auf. Er habe „geltende Gesetze gebrochen“. Eppelmanns Zwischenfazit: „Jeder der das tut, muss mit Konsequenzen rechnen und hierfür brauchen wir keine Kirchenkommissionen.“ Hierfür seien Gerichte zuständig. Mit „rechtem oder gar rechtsradikalem Gedankengut“ habe diese Feststellung „nichts, aber auch gar nichts zu tun“.
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„Märkische Oderzeitung“ vom 23. September 2000
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Wer die Gesetze nicht respektiere, nicht einhalte, der müsse zur Verantwortung gezogen werden. Und „derjenige, der jemandem Kirchenasyl gewährt, der gegen Gesetze verstoßen hat, beugt das allgemein verbindliche Recht“. Die Überschrift seines Gastkommentars drückt das etwas schärfer aus: „Zivilcourage nicht mit Rechtsbruch verwechseln.“ Pfarrer Schmidt erhält am frühen Morgen einen Anruf aus der Gemeinde. Er solle mal die Zeitung aufschlagen. Er unterbricht das Frühstück, schlägt die Zeitung auf und lässt den Kaffee kalt werden. Den Gastkommentar nimmt er persönlich. Vier Tage später antwortet in einem Gastkommentar derselben Zeitung Martin Michael Passauer, Generalsuperintendent in Berlin.1 Etwas traurig schaut er auf dem Foto durch die große Brille. Er trägt ein schwarzes Jackett, eine dunkle Krawatte und ein weißes Hemd – er hält aber keine Grabrede, im Gegenteil. „Eppelmann schreibt in einer Tonart, die mir bislang nur vor 1989 begegnet ist.“ Martin Michael Passauer arbeitete damals als Pfarrer in Berlin. „Wenn zu DDRZeiten die politische Macht das direkte Gespräch mit uns Kirchenleuten vermeiden wollte, erfuhr man nicht selten durch lancierte Kommentare, was zu denken und zu tun sei.“ Damals sei auch von „Subjekten“ gesprochen worden, „die geltende Gesetze brechen“ und „mit Konsequenzen rechnen müssen“. Es sei auch die Rede von „Beleidigungen der Bürger“ gewesen, die „nicht ohne Folgen bleiben dürfen“. 1
„Märkische Oderzeitung“ vom 27. September 2000
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„Wir leben seit zehn Jahren in einem anderen Staat“, erinnert Passauer und ergänzt: „Gott sei Dank!“ Wer Kritik an staatlichem Handeln übe, setze dadurch kein staatliches Recht außer Kraft. Es sei unter anderem die Pflicht der Kirche, an die Verantwortung der Regierenden und Regierten zu erinnern. Das wisse Eppelmann als ehemaliger Pfarrer. Passauer und Eppelmann – ihre Ansichten zum Kirchenasyl könnten unterschiedlicher nicht sein. Für Passauer ist das Kirchenasyl „eine besondere Achtsamkeit gegenüber einzelnen ausländischen Mitbürgern“. Und zwar gegenüber solchen, „für die die rechtlichen Ermessensspielräume noch nicht genügend ausgeschöpft scheinen oder denen direkte Gefahr für Leib und Leben droht“. Bevor Pfarrer Schmidt sich an die Schreibmaschine setzen wird, erreicht die „Märkische Oderzeitung“ Post aus Berlin. Wolfgang Thierse nimmt Stellung.1 Der Bundestagspräsident beanstandet Eppelmanns Worte. Eppelmann hat nämlich in seinem Gastkommentar nicht nur das Kirchenasyl kritisiert. Er attackiert auch das Verhalten von Thierse, der sich öfters kritisch zur Asylpolitik in Brandenburg äußert. Thierse rechtfertigt sein Verhalten in einem Kommentar. Dabei kommt Eppelmann nicht ungeschoren davon. „Offenbar ist ihm eine parteipolitische Kampagne gegen den Bundestagspräsidenten wichtiger als Solidarität und Nächstenliebe.“ Die Union habe laut Thierse versucht, ihm Parteilichkeit vorzuwerfen – diese Vorwürfe seien unhaltbar. Er 1
„Märkische Oderzeitung“ vom 30. September 2000
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werde „auch zukünftig Partei ergreifen, wenn sich deutsche Behörden gegenüber verfolgten Menschen eher bürokratisch als menschlich mitfühlend verhalten“. Während in der Zeitung der Streit über Gastkommentare ausgetragen wird, schreibt Pfarrer Schmidt einen offenen Brief an Eppelmann. Er setzt sich mehrere Abende an die Schreibmaschine und feilt an den Formulierungen. Er ärgert sich über Eppelmann, er ist wütend, weil ausgerechnet ein Glaubensbruder das Kirchenasyl in Frage stellt. Erst wollte er nicht schreiben, dann tut er es doch. Schmidt verfasst den längsten Brief, den er je zum Kirchenasyl geschrieben hat.1 Er liest die Zeilen seiner Frau vor. Sie kennt alles, was er bisher zum Kirchenasyl verfasst hat. Dieses Mal ist es starker Tobak. Er zweifelt, ob zu stark und liest noch einmal den Gastkommentar von Eppelmann. Am nächsten Tag macht er von seinem Brief zehn Kopien, adressiert sie an verschiedene Medien und schickt das Original an den eigentlichen Empfänger. „Lieber Bruder Eppelmann, gestatten Sie mir bitte diese Anrede in Erinnerung Ihres Berufes und um deutlich zu machen, dass Sie nicht mein ‚politischer Gegner‘ sind, den ich ‚niederzumachen‘ beabsichtige, wie es Innenminister Schönbohm in einer Presseerklärung vom 22. September 2000 all jenen unterstellt, die sich ‚mit dem Schicksal und der Not‘ von Menschen beschäftigen und damit ‚Schlagzeilen produzieren‘. (...) Zum Fall der vietnamesischen Familie werfe ich Ihnen Unkenntnis und was noch viel schlimmer ist, Zynismus vor, der für einen Politiker unverantwortlich ist. (...)
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Schreiben vom 30. September 2000
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Hätte es ein Kirchenasyl nicht gegeben, wäre die Familie getrennt worden. Die werdende Mutter läge jetzt allein im Asylbewerberheim (...), ihr Ehemann und achtjähriger Sohn wären nach Vietnam abgeschoben worden. Es bleibt mir unerklärlich, warum Sie in Ihrem Kommentar verschwiegen haben, dass ein Beschluss des Verwaltungsgerichtes Frankfurt/Oder die Duldung der Mutter ausgewiesen hat, nachdem durch Überprüfung eine Risikoschwangerschaft festgestellt wurde und eine drohende Fehlgeburt nicht auszuschließen war. (...) Der Schutz des ungeborenen Lebens und der Familie sind Hauptthemen Ihrer Partei, wie es verschiedene Diskussionen immer wieder deutlich machen. Oder sollten Sie etwa in diesem Fall anders denken, weil es sich um eine vietnamesische Familie handelt? (...) Eine evangelische Kirchengemeinde hat aus christlicher Verantwortung Kirchenasyl gewährt und sieht darin keinen Rechtsbruch, sondern einen Dienst am Rechtsstaat. Ein höheres Rechtsgut, nämlich die Wahrung der Menschenwürde und der damit verbundenen Rechte wurde geschützt. (...) Erst Anfang 2000 war eine Abschiebung möglich, nach der Bestätigung aus Vietnam. In all den Jahren hat die Familie legal mit einer Duldung in Asylbewerberheimen gelebt. Ich verwahre mich gegen die Diffamierung und Kriminalisierung dieser Familie. Überhaupt ist schon allein die Verurteilung von Menschen, deren Lebensweg Sie nicht kennen, ein Akt der Menschenverachtung und Verletzung der Menschenwürde. Damit reihen Sie sich in die Zahl derer ein, die tagtäglich 126
mit ausländerfeindlichen Vorurteilen den Mitbürgern unseres Landes begegnen. (...) Zuletzt noch einmal zur vietnamesischen Familie, die mir und anderen nach viermonatigem Kirchenasyl ans Herz gewachsen ist. Was soll ich den Mitschülern des vietnamesischen Kindes erzählen, wenn sie fragen, warum Duc Toan nicht mehr zur Schule kommt, warum er nicht in Deutschland bleiben durfte, obwohl er 1992 hier geboren wurde? Haben Sie seine Zeugnisse, seine Beurteilungen gelesen oder mit der Klassenlehrerin gesprochen? Haben Sie die Beurteilung der Heimleitung gelesen, in welcher Art und Weise sich die Familie nicht nur durch gemeinnützige Arbeit nützlich gemacht hat? Frau Thanh Ha Hoang hat im Asylbewerberheim einen kleinen Kindergarten geleitet, um den Kindern eine sinnvolle Beschäftigung zu geben. Immer wieder hat sich die Familie um einen Arbeitsplatz bemüht, jedoch keine Erlaubnis vom Arbeitsamt erhalten. Können Sie sich vorstellen, dass hier nach so langer Zeit ein Fall von gelungener Integration vorliegt? Der Freundeskreis der Familie geht weit über die Grenzen des Asylbewerberheimes hinaus. Was macht es für einen Sinn von Integration zu reden und dort, wo sie gelungen ist, sie wieder zu zerstören? Bitte setzen Sie sich für eine bessere Anwendung der Altfallregelung im Land Brandenburg ein, so wie es bereits in zehn anderen Bundesländern praktiziert wird! Aber will man das, wollen Sie das? Eine Gemeinschaft mit Ausländern, Menschen mit anderen Kulturen auf der Grundlage gegenseitiger Achtung und Toleranz? Was liegt 127
Ihnen wirklich am Herzen, Integration oder Ausgrenzung und Abschiebung? Verwenden Sie bitte Ihr Nachdenken eher für diese Fragen, als für populistische Wortgefechte, wo am Ende nur Gedemütigte und Verletzte stehen. (...) Kommen Sie runter vom hohen Ross der Arroganz und Überheblichkeit, machen Sie sich die Mühe, mit den Kleinen und Benachteiligten zu reden. Dann werden Ihre Worte auch wieder glaubhaft, alles andere ist Heuchelei. Somit bleibt zum Schluss nur festzustellen, dass Sie derjenige sind, der eine Entschuldigung gegenüber Bundestagspräsident Thierse, Bischof Huber und vor allem vor der vietnamesischen Familie bitter nötig hat und dazu fordere ich Sie auf: Entschuldigen Sie sich in aller Öffentlichkeit!“ Olaf Schmidt wartet auf eine Antwort. Vergeblich. Rainer Eppelmann antwortet ihm nicht und er entschuldigt sich nicht. Der Pfarrer glaubt zumindest, einen der Gründe zu kennen, wieso Eppelmann ihm gegenüber schweigt. Kurz nachdem er das Schreiben an Eppelmann verfasst hatte, hat er zusammen mit Sabine Grauel Strafanzeige wegen Verleumdung erstattet – gegen Eppelmann und gegen den Verfasser der Presseerklärung Nummer 129/00 des Innenministeriums, in der von „Asylmissbrauch“ die Rede war. Die vietnamesische Flüchtlingsfamilie sei diffamiert und zu Unrecht des Asylmissbrauchs beschuldigt worden.1 1
Strafanzeige vom 6. Oktober 2000, darin heißt es wörtlich: „Die Familie und die UnterstützerInnen sehen sich durch die Aussagen diffamiert und die Fehlerhaftigkeit der Aussage ist so offensichtlich, dass der Verdacht einer absichtlichen Verdrehung, um eine Abschiebung politisch zu rechtfertigen, nahe liegt.“
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Schmidt und Grauel äußern sich auch gegenüber der Presse zu den Gründen der Strafanzeige.1 „Solche und ähnliche Verunglimpfungen ausländischer Flüchtlinge geben den Vorurteilen in der Bevölkerung gegen ausländisch aussehende Menschen neue Nahrung und bereiten unseres Erachtens den Boden für gewaltsame Überfälle durch rechtsradikale Jugendliche.“ Die Staatsanwaltschaft wird sechs Wochen danach antworten.2 Die Juristen werden von der Aufnahme der Ermittlungen absehen. Unter anderem seien Verletzte im Sinne des Gesetzes die Familienangehörigen der vietnamesischen Familie gewesen. Zur Antragstellung sei lediglich der Verletzte berechtigt. Im Klartext bedeutete das: Ha oder Tuan hätten Strafanzeige erstatten müssen. Pfarrer Schmidt und Sabine Grauel unternehmen keine weiteren rechtlichen Schritte. Sie stellen fest, dass die Strafanzeige auch ohne Ermittlungen zu einem Ergebnis führt. Die Medien berichten sofort über die Antragsstellung und über die Inhalte der Strafanzeige. Der Fall Nguyen gewinnt neue Aufmerksamkeit und Pfarrer Schmidt kann seine Sicht auf die Dinge in aller Öffentlichkeit schildern. Nicht jeder zeigt für die Strafanzeige Verständnis. Als eines Tages ein Luftpostbrief aus den USA im Briefkasten liegt, wundert sich selbst Pfarrer Schmidt, der inzwischen eine ganze Menge unterschiedlichster Briefe entgegengenommen hatte.3 Eine Dame aus Seattle erbost sich über das Verhalten des Pfarrers, weil er gegen einen ehemaligen Kollegen 1
Presseerklärung vom 6. Oktober 2000 Schreiben vom 21. November 2000 3 Schreiben vom 27. Oktober 2000 2
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Strafanzeige erstattet. Seine „Gepflogenheiten“ seien alles andere als christlich. Bis zu dieser Textstelle akzeptiert Schmidt die Kritik. Was danach kommt, veranlasst ihn dazu, der Dame nicht zu antworten. Deutschland habe zu viele Einwanderer. Die Vietnamesen „hätschele“ er, die sollten in die USA kommen, denn da müsse „man arbeiten, um zu leben“. Und: Die Flüchtlinge würden in Deutschland auf Kosten der Bürger verwöhnt werden. Mit den Worten „bitte bessern Sie sich“ beendet sie den Brief. Pfarrer Schmidt antwortet nicht, weil er nicht noch einmal alles erzählen will, von der Arbeitssuche, dem Jungen, der Schwangerschaft, der Integration. Er antwortet nicht und er bessert sich nicht. „Der Spiegel“ fasst den Streit zwischen Eppelmann, Schmidt und weiteren Beteiligten in einem kurzen Artikel zusammen.1 Das Nachrichtenmagazin schreibt über Eppelmanns Kritik an Bischof Huber, über das Kirchenasyl in Dolgelin, über die Bezeichnung „Rechtsbruch“ und über die gegen Eppelmann gestellte Strafanzeige. Der Artikel endet mit einer Bemerkung, die eher bei Pfarrer Schmidt als bei Rainer Eppelmann für ein Schmunzeln sorgen dürfte. In der Berliner Kirchenleitung würde laut „Spiegel“ derweil überlegt werden, „wie Eppelmann daran erinnert werden kann, in welcher Gemeinde er einst tätig war und welche Bedeutung der Name dieser Gemeinde hat. Sie ist nach dem barmherzigen Samariter benannt.“
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„Der Spiegel“ vom 16. Oktober 2000 (Nummer 42/2000)
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Fürbitten für die Gegner Die Zeitungsartikel über Familie Nguyen liegen schon im Altpapier, als Duc Toan endlich hört, auf was er seit Monaten wartet. Er wollte ständig wissen, was es sein wird. Er nervte seine Eltern und fragte Pfarrer Schmidt, der dazu noch weniger sagen konnte. Am 6. Oktober erfährt er es. Es ist ein Mädchen und das findet er ziemlich gut. Nhat Thao ist 50 Zentimeter groß und bringt 3070 Gramm auf die Waage. Tuan bleibt während der Geburt bei Ha, hält ihre Hand, als die Schmerzen zunehmen. Er schaut seine Tochter an, bevor Ha dem Mädchen in die Augen sieht. Das Baby kommt ein paar Tage zu früh, aber es ist gesund. Mit der Geburt von Nhat Thao rückt der Abschiebetermin näher. Olaf Schmidt und Sabine Grauel wiederholen ihre Forderung nach einem Bleiberecht für die Familie. Tuan habe immer noch eine Arbeitszusage, er könne sofort mit der Arbeit beginnen. Er könne umgehend für die Familie sorgen. Sowohl der Flüchtlingshilfekreis als auch die Kirchengemeinde ziehen ein neues Kirchenasyl in Erwägung. Die Forderung nach einem Bleiberecht und die Überlegung eines neuen Kirchenasyls stoßen auf Befürworter und Kritiker. Die Leserbriefseiten der Regionalzeitungen verdeutlichen die unterschiedlichen Ansichten. Ein Leser aus Frankfurt/Oder äußert sich in der „Märkischen Oderzeitung“.1 „Zehn Jahre Aufenthaltsgewährung für eine 1
Leserbrief in der „Märkischen Oderzeitung“ vom 30. Oktober 2000
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vietnamesische Familie, trotz Nichtvorliegens der Gründe für eine Asylgewährung, schreien meines Erachtens schon eher nach himmelschreiendem Unrecht, nämlich gegenüber den steuerzahlenden Bürgern.“ Durch Kirchenasyl seien Amtshandlungen des Staates verhindert worden. „Ist das Zivilcourage? Also nachahmenswert?“, fragt der Leser. Der Leser aus Frankfurt/Oder erhält eine Antwort aus Dolgelin.1 Eine Leserin, die damals selbst das Kirchenasyl von Familie Nguyen unterstützt hatte, verfasst das Schreiben. „Wir haben nur da Amtshandlungen durch unser Kirchenasyl verhindert, wo diese dem Menschenrecht und dem Grundgesetz deutlich zuwider liefen. Wenn ich mit meinen Möglichkeiten mit dazu beitragen kann, dass es in der Welt etwas friedlicher und erträglicher zugeht, dann werde ich mich auch ein anderes Mal dafür einsetzen.“ Ein anderer Leser kritisiert die Äußerungen eines CDUAbgeordneten.2 „Der innenpolitische Sprecher der CDULandtagsfraktion, Sven Petke, bezeichnete die Ankündigung der Evangelischen Kirche, weiter Asyl für die vietnamesische Familie zu gewähren, als unerträglich. Die Kirche solle sich um wirkliche Probleme kümmern. Was denn, bitte schön, sind denn ‚wirkliche Probleme der Kirche‘, wenn nicht auch Schutzgewährung für ‚Fremde‘ (Matthäus Evangelium 25, 35-44)?“ Der Leser spricht ein Gleichnis aus dem Neuen Testament an, in dem „vom Weltgericht“ die Rede ist. „Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und aller Engel mit ihm, dann wird er sitzen 1 2
Leserbrief in der „Märkischen Oderzeitung“ vom 14. November 2000 Leserbrief in der „Märkischen Oderzeitung“ vom 25. Oktober 2000
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auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. (...)“ * Einen Tag vor Ende der Duldungsfrist, neun Uhr. Pfarrer Schmidt fährt zusammen mit Tuan zur Ausländerbehörde. Sie erhalten einen Antrag für eine Verlängerung der Duldung. In sieben Tagen sollen sie noch einmal vorstellig werden. Abends fertigt der Pfarrer einen Aktenvermerk an. Eine Sachbearbeiterin habe den Verlängerungs-Antrag überreicht. Laut seinen Notizen zeigte sie sich nicht sehr gesprächig an diesem Vormittag. „Alle Anfragen werden zurückgewiesen mit der Bemerkung: Ich weiß nichts, ich kann dazu nichts sagen!“ Sieben Tage später stehen Tuan und der Pfarrer neun Uhr in der Ausländerbehörde. Dieses Mal erhält Tuan eine Grenzübertrittsbescheinigung – das Dokument zur freiwilligen Ausreise. Das Papier gilt für die ganze Familie bis zum 28. November – bis dahin muss sie ausreisen. 10.30 Uhr spricht Pfarrer Schmidt mit dem Leiter der Ausländerbehörde. Den Verlauf des Gespräches fasst er in 133
seinen Akten mit zwei Sätzen zusammen, eine Frage und eine Antwort. „Frage: Hält der Landkreis an einer Abschiebung fest? Antwort: Ja, die Gesetzeslage zwingt uns dazu.“ 24 Stunden später sitzt Pfarrer Schmidt in einem Raum des Landratsamtes. Zwei Mitarbeiter hören sich seine Fragen an. Er stellt die gleichen wie immer und er bekommt die üblichen Antworten. Solange es keine Anweisung gebe oder irgendeinen Erlass zur Altfallregelung müsse die Familie abgeschoben werden. Der Pfarrer solle die Familie zur freiwilligen Ausreise bewegen. Dementsprechend nüchtern dokumentiert Schmidt am Nachmittag das Treffen für seine Unterlagen. „Ergebnis: Es wird an der Abschiebung festgehalten. Vorerst keine weiteren Gesprächstermine.“ Ständiges Nachfragen, Diskutieren und Verhandeln hat bisher zu keinem Erfolg geführt. Pfarrer Schmidt und Sabine Grauel sind frustriert. Dann schlägt sie etwas vor, das noch übrig bliebe, wenn nachfragen, diskutieren und verhandeln nichts mehr bringe. Sie will für die Familie beten – aber nicht alleine. Pfarrer Schmidt spricht mit dem Kirchenrat, mit der Kirchenleitung und einigen Journalisten. Er hat keine Zeit für die Organisation einer größeren Veranstaltung. Die Kirchengemeinde erwartet die Bekanntgabe eines neuen Abschiebetermins. Sie rechnet damit ab Ende November – dann läuft die Frist der Grenzübertrittsbescheinigung ab. Erfolgt bis dahin keine freiwillige Ausreise, droht ein neuer Brief von der Ausländerbehörde. Ein neuer Brief mit einem neuen Abschiebedatum. 134
Zehn Tage vor Ablauf der Frist findet in der Seelower Stadtpfarrkirche eine öffentliche Fürbitte statt. Die Besucher erfahren auf einem Programmblatt Genaueres. „Gegen die Abschiebung einer vietnamesischen Flüchtlingsfamilie. Für eine verbesserte Anwendung der Altfallregelung in Brandenburg.“ Auf der Rednerliste stehen Namen aus der Kirchenleitung, ein Politiker von der SPD, eine Politikerin von der PDS und Pfarrer Schmidt. Die „Berliner Zeitung“ hat zuvor die Veranstaltung mit der Überschrift „Seelow protestiert gegen geplante Abschiebung“ angekündigt.1 Nach dem Gottesdienst solle eine Demonstration mit Kerzenlicht zum Landratsamt führen. „Mit der Mahnwache soll gegen die rigide Auslegung der 1999 von der Bundesinnenministerkonferenz beschlossenen Altfallregelung in Brandenburg protestiert werden. In anderen Bundesländern werde die Regelung, die seit mehreren Jahren in Deutschland lebenden Asylbewerbern ein dauerhaftes Bleiberecht ermöglicht, großzügiger angewendet, hieß es.“ Der Pfarrer wundert sich – die Kirche ist so voll wie sonst nur zu Weihnachten. Er sieht viele unbekannte Gesichter und viele altvertraute. Seine Kirchenräte sitzen vor ihm, Leute vom Flüchtlingshilfekreis und Menschen aus der Stadt, die er zwar vom Sehen kennt, die aber bis zum heutigen Tage noch nie einen Fuß in seine Kirche gesetzt haben. Sein Redemanuskript ist zwei Seiten lang. Er greift die Ausländerpolitik Brandenburgs an, geht mit Schönbohm
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„Berliner Zeitung“ vom 20. November 2000
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und seinen Äußerungen ins Gericht. Und er kritisiert auch die Bundesregierung. Pfarrer Schmidt ist so angespannt wie noch bei keiner Rede, die er bisher in der Kirche gehalten hat. In der Nacht vor dem Gottesdienst hat er nur für ein paar Stunden die Augen zugemacht. Über Politik hat er in den vergangenen Wochen oft gesprochen. Er hat darüber mit seiner Frau, mit Freunden, mit Journalisten, mit dem Kirchenrat und Sabine Grauel geredet. Aber hinter dem Altar hat er sich bisher zurückgehalten, bis zu diesem Gottesdienst. „(...) Humanitäre Gründe oder individuelle Härtefälle finden keine Beachtung im Land Brandenburg. Grundrechte müssen förmlich eingeklagt, mitunter erbettelt werden, nur durch massiven Einsatz von Öffentlichkeit und vielen Menschengruppen gelingt es vereinzelt, beachtet zu werden. Dazu gehört das Kirchenasyl. Wenn durch Abschiebungen Familien auseinander gerissen werden, so ist das eine sehr grobe Verletzung der Menschenwürde und aller damit verbundenen Grundrechte eines Menschen. Diese Praxis muss ein für alle mal beendet sein in unserem Land. (...) Das Wort ‚Asylmissbrauch‘ hat das Klima gegen Flüchtlinge in unserem Land deutlich angeheizt. Es gibt genug traurige Beispiele von Gewaltverbrechen an Asylbewerbern und Ausländern. Anstatt der Gewalt entschlossen entgegenzutreten und sich für die Rechte von Flüchtlingen und Ausländern einzusetzen, hat die Bundesregierung die Rechte eingeschränkt, damit die Lebensqualität, das Selbstwertgefühl, die Würde eines Ausländers. Asylbewerberleistungsgesetz, Heime im Wald, Chipkarten usw. sind nur einige Beispiele für die Entwürdigung von Asylbewerbern in unserem Land. Damit hat sie sich zum Handlanger, zum verlängerten Arm 136
rechtsorientierter Zielsetzungen gemacht. Das bedeutet aber auch, dass hier ein massiver Einbruch in Grundrechte und Sozialstaatlichkeit geschehen ist, der sich nicht nur auf Asylbewerber beschränkt. (...) Eine Demokratie ist kein Zustand, sondern vor allem eine Aufgabe, die Grundwerte unserer Gesellschaft zu wahren. (...)“ Bevor er von dem Mikrofon am Altar einen Schritt zurücktritt, richtet er ein paar Worte an Familie Nguyen und „alle anderen ausländischen Familien“. Er wünscht ihnen „endlich eine gesicherte Lebensperspektive, endlich die Möglichkeit, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, es zu gestalten.“ Er wünscht ihnen „Sicherheit und Geborgenheit zu haben und das alles mitten unter uns“. Die Fürbitten hat der Pfarrer in den Stunden zuvor zusammen mit dem Kirchenrat geschrieben. Die sieben Bitten an Gott widmen sie verschiedenen Personen. Auch Leute, die sich kritisch zum Kirchenasyl geäußert haben, sollen sich darin wiederfinden. Eine der Fürbitten ist für die Flüchtlinge, eine andere richten sie an den Landrat und an den brandenburgischen Innenminister. „Lasst uns beten für unsere Mitmenschen, für alle, die sich in ihren Gedanken verirrt haben, für alle, die Angst haben, ihnen würde etwas weggenommen, für alle, die um ihre Identität fürchten, dass sie in ihrer Sorge nicht allein gelassen werden, dass Offenheit und Dialog aus Sackgassen führt.“ Generalsuperintendent Rolf Wischnath geht auf das Mikrofon zu. Er kritisiert Schönbohms Verhalten etwas 137
deutlicher. Das Leben der Familie Nguyen stehe für 500 weitere derartige Fälle in Brandenburg. Er spricht von einem „Skandal“. „Wir sind der Barmherzigkeit und Nächstenliebe verpflichtet“, so Wischnath. Daran könnten Politiker nichts ändern. Wischnath hatte sich zuvor persönlich an den Innenminister gewandt, ohne etwas damit bewirken zu können. Er sehe hier niemanden von der Partei, die das Christliche im Namen führe. Das enttäusche ihn. Nach seiner Rede nimmt er seine Notizen in die Hand und setzt sich zu den Zuhörern. Eine Gruppe von drei Erzählern und einem Sprechchor spielt die Geschichte von Familie Nguyen nach. Einer der Erzähler zieht das Fazit von zehn Jahren Deutschland für Familie Nguyen am Ende des Stückes. „Wären sie damals – vor zehn Jahren – nicht dem Land Brandenburg zugewiesen worden, sondern lebten sie in Hessen, RheinlandPfalz, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, NordrheinWestfalen, Sachsen-Anhalt, Hamburg, Sachsen, Bremen oder Berlin, müssten sie jetzt nicht um ihre Zukunft bangen. Sie hätten längst eine Arbeit, eine Wohnung, ein frohes Leben ohne Druck und Angst. (...) Armes Brandenburg.“ Der Erzähler spricht damit die unterschiedlichen Bestimmungen zur Altfallregelung an. Manche Länder seien großzügig, andere blieben eisern. * Es ist schon dunkel, als rund 300 Menschen die Kirche verlassen. Vor der Kirche verteilen manche Kerzen. Einzelne holen Transparente aus dem Kofferraum ihrer 138
Autos. Andere gedulden sich, bis die Demonstration startet. Es ist die erste Demonstration seit elf Jahren, die die Kirche in Seelow veranstaltet. Damals marschierten sie mit Kerzen in der Hand auf der Straße, um gegen das DDR-Regime zu protestieren. Die Demonstration beginnt und Klassenkameraden von Duc Toan laufen hinter einem drei Meter breiten Transparent mit der Aufschrift „Tolerantes Brandenburg – Fassade oder Wirklichkeit“. „Kein Mensch ist illegal“ hat jemand auf einen anderen an zwei Latten befestigten Stoff geschrieben. „Bleiberecht für Familie Nguyen“ hat irgendwer auf ein Stück Pappe gemalt. Ha trägt die sieben Wochen alte Nhat Thao auf ihrem Arm, Tuan läuft rechts von ihr, Duc Toan links. Auf einem der Fotos, die später in der Zeitung zu sehen sein werden, strahlt Tuan. Am Zielort der Demonstration harrt Michael Bonin aus, der stellvertretende Landrat. Landrat Reinking erscheint nicht. Er lässt seinen Stellvertreter die 300 Bürger seines Landkreises empfangen. Bonin nimmt von Pfarrer Schmidt die Petition für ein Bleiberecht in Empfang. Er lässt sich von einem Fotografen ablichten, wie er vor dem Demonstrationszug steht und auf das Stück Papier schaut. Landrat Jürgen Reinking wird später eine Stellungnahme gegenüber der „Märkischen Oderzeitung“ abgeben.1 „Der Fürbittegottesdienst hat an unserer Lage als zuständige Behörde nichts geändert.“ Seine Behörde gehe nach Recht und Gesetz vor. „Wir können nur so entscheiden, wie die Gesetze es zulassen.“ 1
„Märkische Oderzeitung“ vom 23. November 2000
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Umgehend erhält Tuan einen neuen Brief.1 „Am 28. November werden Sie und Ihr Sohn Nguyen Toan (...) auf Grund der vollziehbaren Ausreisepflicht aus der Bundesrepublik Deutschland in ihr Heimatland Vietnam abgeschoben.“ Für Duc Toans Schwester fehlen scheinbar die Ausreisepapiere. Das Baby soll deswegen später mit der Mutter abgeschoben werden. Der Unterstützerkreis sieht das anders – keiner der Familie soll das Land verlassen. Pfarrer Schmidt spricht sich endgültig für ein neues Kirchenasyl aus.
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Schreiben vom 22. November 2000
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Ein Pressesprecher und sein „Einwanderungsproblem“ Pfarrer Schmidts Pläne stoßen auf Kritik. Der Sprecher des Innenministeriums, Heiko Homburg, äußert sich in der „Berliner Zeitung“.1 Auch für vietnamesische Familien, „die über Jahre vom Steuerzahler durchgefüttert“ worden seien, müssten Recht und Gesetz gelten. Hätten Kirchenvertreter in der DDR, „als Ausländer hier wie in Käfigen gehalten wurden, ähnlich aufgemuckt, wären sie in den Knast gegangen!“ „Der Tagesspiegel“ veröffentlicht einen Tag später Reaktionen zu den deutlichen Worten aus dem Innenministerium.2 „In der CDU hieß es, Homburgs Äußerungen seien ‚ärgerlich‘. (...) SPD-Politiker wiesen darauf hin, dass Schönbohm durch unsensibles Agieren Stolpes Engagement gegen Ausländerfeindlichkeit konterkariere.“ Ministerpräsident Manfred Stolpe hat sich laut Informationen der Zeitung inzwischen mit Schönbohm in Verbindung gesetzt. „Er führte ein ausführliches Telefongespräch mit Schönbohm, bei dem er dem Vernehmen nach seine Besorgnis über die jüngste Eskalation äußerte und ein Einlenken empfahl.“ Manfred Stolpe selbst taucht in den Berichten zum Kirchenasyl in Dolgelin relativ selten auf. Vom Landeschef ist im Streit um die Asylpolitik Brandenburgs wenig zu lesen – das stellt die „Frankfurter Rundschau“ fest.3 „Ministerpräsident Stolpe hielt sich aus dem Konflikt bisher heraus. Das brachte ihm in der eigenen Partei wieder den Vorwurf ein, seinen rechten Innenminister 1
„Berliner Zeitung“ vom 24. November 2000 „Der Tagesspiegel“ vom 25. November 2000 3 „Frankfurter Rundschau“ vom 27. November 2000 2
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schalten und walten zu lassen, statt sich auf die Seite Wischnaths zu stellen.“ Der Abschiebetermin naht, die Zeitungsberichte häufen sich. Der Schlagabtausch zwischen Staat und Kirche spitzt sich erneut zu. Immer mehr Politiker und Kirchenvertreter äußern sich zur Ausländerpolitik, zu einem neuen Kirchenasyl und zum Fall der Familie Nguyen. Vor allem die Auseinandersetzung zwischen Schönbohm und dem Generalsuperintendenten Rolf Wischnath wird heftiger. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ verfasst ein Mitarbeiter mehrere Beiträge zum Kirchenasyl. In einem Artikel geht der Journalist auf mögliche Ursachen dieser Auseinandersetzung ein.1 „Der Streit ist wohl deshalb so heftig, weil sich hier zwei Männer wieder begegnen, die schon vor Jahren miteinander gestritten haben. Wischnath hatte Schönbohm wegen seiner Abschiebepraxis angegriffen, als dieser noch Innensenator in Berlin war.“ Damals sei Wischnath laut der Zeitung mit dem Satz zitiert worden, Schönbohm solle das Abendmahl verweigert werden. Zudem sei Wischnath „nicht nur Mann der Kirche, sondern auch der Vorsitzende des Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“. Wischnath erhält Rückendeckung von Bischof Huber. Der Bischof bittet den Innenminister nach Informationen der „Süddeutschen Zeitung“ zu einem Gespräch.2 Grund ist nach Angaben des Blattes eine Antwort von Schönbohm an Wischnath. „Da die Kirchen im Osten Minderheitenkirchen seien, schrieb der Minister, hielte er es ‚für 1 2
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 24. November 2000 „Süddeutsche Zeitung“ vom 25. November 2000
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wünschenswert, wenn die Kirchen sich ihrer ureigensten Aufgabe mit der gleichen Hingabe widmen könnten, mit der sie sich dem Thema Asyl und Ausländerfragen widmen‘.“ * „Die Deutsche Presse-Agentur“ veröffentlicht eine Nachricht zu den neuesten Entwicklungen.1 „Die Ausländerbehörde des Landkreises Märkisch-Oderland hat die Duldung der gesamten vietnamesischen Familie Nguyen verlängert.“ Familie Nguyen dürfe bis zum 2. Januar bleiben. Die Behörde warte weiterhin darauf, dass die vietnamesische Botschaft Ausreisepapiere für das Baby ausstelle. 2. Januar – das bedeutet für die Familie weitere 30 Tage im Wohnheim zu leben und abzuwarten. Leben und abwarten wie seit rund 3600 Tagen in Flüchtlingsheimen. Irgendwann im Dezember würde dann schriftlich mitgeteilt werden, ob sie sich weitere Tage gedulden müssten, ob eine neue Abschiebung geplant sei, oder ob sie doch ein Bleiberecht erhalten. Nachdem die jüngsten Meldungen über den Ticker gelaufen sind, sieht sich Landrat Reinking massiver Kritik ausgesetzt. Ein Brief des Strausberger Bürgermeisters Jürgen Schmitz erreicht die Redaktion der „Märkischen Oderzeitung“.2 Das SPD-Mitglied ärgert sich über das Verhalten des SPD-Landrates. Schmitz wundert sich, 1
„Deutsche Presse-Agentur“ vom 28. November 2000 Die „Märkische Oderzeitung“ druckt am 25. November 2000 in einem Artikel Auszüge aus dem Brief ab und zitiert im selben Beitrag Landrat Jürgen Reinking.
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wieso Landrat Reinking einen angeblich vorhandenen Ermessensspielraum nicht ausschöpfe. „Umso mehr bin ich enttäuscht, dass Sie auch grundsätzliche Wesenszüge eines Sozialdemokraten vermissen lassen. Ich vermisse an Ihrem Handeln die deutliche Entscheidung zugunsten der Menschen, für die Sie verantwortlich sind.“ Landrat Reinking bestreitet gegenüber der Zeitung indes, dass er über das Schicksal der Familie bestimmen könne. „Es trifft nicht zu, dass ich einen Ermessensspielraum habe. Was ich als zuständiger Landrat tun kann, ist, die Aufenthaltserlaubnis der Familie Nguyen wieder und wieder zu verlängern. Doch das löst ihr Problem nicht.“ Mancherorts scheint es dennoch möglich zu sein – zumindest sehen das die Unterstützer von Familie Nguyen so. Ein Fall in Cottbus bestärkt ihre Vermutung. Dort setzt sich ein Oberbürgermeister für das Bleiberecht einer Familie aus Vietnam ein. Pfarrer Schmidt wundert sich. Seit Monaten hört er von Recht und Gesetz, von Behörden die nicht zuständig seien, von fehlendem Spielraum bei Entscheidungen. In einem Interview mit der „Berliner Zeitung“ spricht der Oberbürgermeister von Cottbus, Waldemar Kleinschmidt, über seine Motive.1 Der CDU-Mann kenne das Schicksal der Familie. Sie habe sich etwas aufgebaut und sich nichts zu Schulden kommen lassen. Sie habe Freunde und lebe „ganz normal“. Niemand habe ihm etwas Schlechtes über die Familie berichten können. „Wenn sich die Familie entschieden hat, in Cottbus zu bleiben, warum
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nicht?“, fragt Kleinschmidt die Reporterin. Und er sagt, er könne doch nicht ständig nur von Weltoffenheit reden. Seine Ausländerbehörde hatte zuvor die Abschiebung angekündigt. Sie hätte nach „deutschem Recht und Gesetz korrekt gehandelt“, verteidigt Kleinschmidt die Entscheidung der Beamten. Es sei von ihm lediglich eine „Einzelfallentscheidung“ gewesen. Ob er Familie Nguyen auch vor einer Abschiebung bewahren würde? „Das kann ich nicht sagen. Es war, wie gesagt, eine Einzelfallentscheidung. Aber man sollte genau prüfen bei Leuten, die schon zehn Jahre in Deutschland verbracht haben.“ Was halte er von der so genannten Altfallregelung in Brandenburg? „Es ist für mich eine Härtefallregelung. Ich finde, Brandenburg sollte mit einem Erlass diese Regelung humaner machen.“ * Ende November klingelt bei Olaf Schmidt das Telefon. Was er in diesem Gespräch mit einem Journalisten hört, glaubt er erst am nächsten Tag, als er es in der Zeitung liest. „CDU lenkt im Streit um Asylbewerber überraschend ein“ titelt die „Berliner Zeitung“.1 „SPD und CDU haben sich am Mittwoch überraschend auf eine liberale Altfallregelung für Asylbewerber verständigt“, heißt es in dem Text. Familien, die seit mindestens 1993 in Brandenburg leben, würden auch dann eine Aufenthaltsbefugnis erhalten, wenn sie sich bis zum 1
„Berliner Zeitung“ vom 30. November 2000
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Stichtag um Arbeit bemüht hätten. Dieser Stichtag sei der 19. November 1999. Zudem solle es bald ein Gremium geben, das sich abgelehnte Asylanträge noch einmal anschaue. Dieser Gruppe würden auch ein Kirchenvertreter und ein Verwaltungsrichter angehören. Ein Mitarbeiter der „Berliner Zeitung“ ruft bei Pfarrer Schmidt an und er fragt ihn nach seiner Meinung. „Die Neuregelung war überfällig“, zitiert ihn die „Berliner Zeitung“ am Tag darauf.1 „Schlimm wäre es nur, wenn jetzt Spitzfindigkeiten gesucht würden, um doch noch Abschiebungen zu rechtfertigen.“ Tuan hat Arbeitsplatzzusagen, er hat jahrelang gemeinnützige Arbeit im Heim geleistet – wenn auch schlecht bezahlte. Der Pfarrer hofft, das Ziel endlich erreicht zu haben. Doch schon am Tag nach dem Gespräch mit dem Mitarbeiter der Zeitung wird seine Hoffnung enttäuscht. Schmidt liest die letzten Zeilen des Beitrages in der „Berliner Zeitung“, in dem auch er zitiert wird. Der Journalist hat nicht nur bei ihm angerufen, sondern auch in Schönbohms Ministerium nachgefragt. „Für die Familie Nguyen (...) sieht es offenbar trotzdem nicht gut aus. ‚Dort ist weiter der Kreis zuständig‘, heißt es im Innenministerium.“ Kaum ist die neue Regelung beschlossene Sache, fährt Tuan zum Arbeitsamt. Dort bittet er um eine Arbeitsgenehmigung. Eine Angestellte teilt ihm mit, dass die Bearbeitung bis zu fünf Wochen dauert. In vier Wochen soll er jedoch schon im Flugzeug nach Hanoi sitzen. 1
„Berliner Zeitung“ vom 1. Dezember 2000
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Eine Reporterin der „Süddeutschen Zeitung“ besucht Tuan und seine Familie in den Wochen vor der wieder einmal nahenden Abschiebung.1 „Noch sind sie da. Und sie wollen bleiben, natürlich, ‚mit Aufenthaltsbefugnis und Arbeitsgenehmigung‘. Die Nguyens sprechen schlecht Deutsch, sie hatten nur einen Kurs, Anfang der Neunziger. Die schwersten Wörter aber, die der Behörden, beherrschen sie. (...)“ Die Journalistin berichtet, dass Tuan theoretisch arbeiten könnte. In einem asiatischen Imbiss würden Freunde eine Stelle freihalten. Ohne Erlaubnis dürfe er das nicht. Es sei unwahrscheinlich, dass er eine bekomme. Die Rangfolge bei der Vergabe laute: erst Deutsche, dann andere EU-Bürger, zuletzt Nicht-EU-Bürger. „Dass der Asia-Imbiss keine deutschen Köche anstellen will, spielt für das Amt keine Rolle“, so die Mitarbeiterin der „Süddeutschen“. Sie fragt beim Landratsamt nach. „Wir können keine Ausnahme machen. Dann kommen alle“, sagt der Sprecher des Landrates Jürgen Krüger. Die Journalistin der Tageszeitung will es genauer wissen. Krüger kann ihr jedoch nicht erklären, was er mit „alle“ meint. Er wisse nicht, auf wie viele die Regelung zuträfe. Er erklärt der Journalistin, man sei nur ausführende Behörde. Und er sagt gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ einen Satz, der sicher nicht nur Pfarrer Schmidt aufhorchen lässt. „Wir können nicht das Einwanderungsproblem der Bundesrepublik lösen.“2 1
„Süddeutsche Zeitung“ vom 30. Dezember 2000 Anmerkung: Brandenburg hat zu diesem Zeitpunkt einen Ausländeranteil von 2,4 Prozent. Der Bundesdurchschnitt beträgt 8,8 Prozent. (Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden)
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* Familie Nguyen erhält im Dezember ein neues Stück Papier von der Ausländerbehörde. Die Behörde verlängert die Duldung bis zum 2. Februar. Sie bekommen weitere 30 Tage. Der Pfarrer hört in Gesprächen mit der Behörde, dass „humanitäre Gründe“ für die Verlängerungen der Duldung verantwortlich seien. Er sieht das anders. Die Hinhalte-Taktik kostet Nerven, Familie Nguyen rechnet ständig mit einer Abschiebung. Er versteht nicht, was daran „human“ sein soll. Einige Tage bevor die neue Frist abläuft, kommt ein neuer Brief, eine neue Duldung – dieses Mal bis Anfang April, weitere 60 Tage abwarten, weitere 60 Tage Ungewissheit. Dennoch herrscht bei Nguyens in diesen Tagen Freude. Tuan bekommt das von ihm lang ersehnte Schreiben. Das Arbeitsamt Frankfurt/Oder stellte ihm eine Arbeitserlaubnis aus. Sie ist befristet bis zum April, bis zum Ende der Duldungsdauer. Ein paar Tage später nimmt Tuan die Arbeit in einem Asia-Imbiss auf. Das kleine Lokal befindet sich in Altlandsberg. Dort brät er in einem großen schwarzen Wok Nudeln mit Sojasprossen, frittiert Pommes, verkauft Cola und Bier. Sein Chef kommt auch aus Vietnam, lebt aber in Berlin. Ein weiterer lange gehegter Wunsch geht in Erfüllung. Die Ausländerbehörde genehmigt den Auszug aus dem Flüchtlingsheim. Tuan zieht mit seiner Familie in den Ort, wo er arbeitet. Altlandsberg liegt zwar einige Kilometer von dem Heim entfernt, aber das spielt keine Rolle – sie wollen nie wieder zurück. 148
Der Bürgermeister der Stadt, Ravindra Gujjula, verfolgt das Schicksal der Familie seit Monaten in der Zeitung. Als er liest, dass die Familie in seine Stadt zieht, greift er zum Hörer. Wenn sie Hilfe bräuchten, dann sei er für sie da. Ravindra Gujjula wurde in Indien geboren. Er reiste in den 70er Jahren in die DDR. Zuerst studierte er Medizin in Greifswald, dann in Berlin. Nach der Wende wurde er deutscher Staatsbürger. In der DDR erhielt er nur eine ständige Aufenthaltsgenehmigung. Mehr erlaubten die Behörden nicht – auch nicht nach 20 Jahren, nach Studium, Arbeit als Mediziner, seinem Engagement als Bürger. Nach dem Fall der Mauer wählten die Altlandsberger den bekannten Arzt zu ihrem Bürgermeister. Bei der nächsten Wahl bestätigten sie ihn in seinem Amt. Dieses Mal trat er für die SPD an – zuvor war er parteilos. Die Reaktionen zu seiner Wiederwahl hätten unterschiedlicher nicht sein können. Die große Mehrheit der Altlandsberger hatte zwar für ihn gestimmt. Doch schon am Morgen nach dem Wahltag gab es die ersten Drohungen. Außerdem berichteten immer mehr überregionale Medien über den beliebten Bürgermeister ohne weiße Haut in Brandenburg. Die Anzahl der Drohungen stieg rapide. An Adolf Hitlers Geburtsdatum erhält er noch immer unschöne Anrufe. Manche Täter ermittelt er selbst. Ein junger Typ, der vor langer Zeit „Tod Gujjula“ auf eine Hausmauer gekritzelt hatte, lag ein paar Jahre später geständig auf der Untersuchungsliege in Gujjulas Arztpraxis. Seine Kontakte zur SPD-Parteispitze in Brandenburg sind auf Grund seiner Bekanntheit ganz gut. Bald wird er versuchen, diese Kontakte für Familie Nguyen zu nutzen. 149
Von Duldung zu Duldung Ha kümmert sich um das Baby, Tuan arbeitet und Duc Toan wechselt nicht ohne Abschiedstränen die Schule. Die Trauer hält nicht allzu lange an. Die neuen Klassenkameraden wählen Duc Toan zu ihrem Klassensprecher. Die Stimmung bei Familie Nguyen ist so gut wie seit Jahren nicht mehr – sie haben eine eigene Wohnung und verdienen ihr eigenes Geld. Pfarrer Schmidt rechnet für April dennoch mit dem Schlimmsten. Gegenüber der „Märkischen Oderzeitung“ zeigt er sich skeptisch trotz der jüngsten Erfolge.1 „Trotz aller Anstrengungen, beruflich und sozial auf eigenen Füßen zu stehen, drohe den Nguyens nach wie vor die Abschiebung, kritisierte Schmidt.“ Er fordert: „Die Behörde solle die IntegrationsLeistungen der Familie respektieren.“ Olaf Schmidts Befürchtungen bewahrheiten sich. Trotz eigener Wohnung und eigener Arbeit erhält Familie Nguyen kein Bleiberecht. Im März rückt das Ende der Duldung wieder einmal näher. Tuan und Ha schaffen es mittlerweile, ein paar Wochen nicht darüber zu sprechen. Erst wenn das Ende der Duldungsdauer zehn bis 14 Tage entfernt ist, beginnen die Gespräche. Die Ausländerbehörde verlängert die Duldung erneut um einige Monate. Bei einer dreimonatigen Verlängerung freut sich Familie Nguyen am meisten. Knapp zweieinhalb Monate leben sie dann wie eine normale Familie, bevor die Angst das Leben bestimmt. Aber selbst das klappt nicht immer.
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„Märkische Oderzeitung“ vom 6. Februar 2001
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Ha weint immer öfters. Duc Toan wird älter und beginnt, Fragen zu stellen. Der Vater arbeite, sie hätten eine Wohnung und er sei sehr gut in der Schule. Wieso dürften sie dennoch nicht bleiben? Tuan fällt das Antworten nicht leicht. Er versucht zu erklären, dass sie keine Deutschen seien. Deswegen wollten die Behörden sie am liebsten in einem Flugzeug nach Hanoi sehen. Er merkt aber, dass Vietnam für Duc Toan zu fremd klingt und er mit dem Land nichts verbindet. Der Junge weiß, dass seine Eltern von dort kommen. Er merkt, dass seine Mutter anders kocht als die Mütter seiner Klassenkameraden. Er kennt die vietnamesische Sprache und verwendet sie immer im Gespräch mit seinen Eltern. Aber von dem Land weiß er so gut wie nichts. Manchmal erzählen die Eltern etwas von früher, aber für Duc Toan sind es komische Geschichten aus einem fernen Kontinent. Sie handeln von der Kindheit und Jugend seiner Eltern. Beide hatten das Land verlassen, als sie kaum erwachsen waren. Einmal spricht Duc Toan mit seinem Opa, dem Vater von Tuan. Das Gespräch dauert fünf Minuten, dann reicht er den Telefonhörer an Tuan weiter. Der Opa sei nett, aber er spreche viel zu schnell, stellt Duc Toan fest. Gesehen hat er ihn bisher nur auf ein paar farbigen Bildern und einer Schwarzweiß- Aufnahme. Auf dem alten Foto ist sein Opa Mitte 50. Er steht auf einem Strand am Golf von Tonking. Mit der linken Hand streift er sich die Haare nach hinten. Er trägt ein kurzärmliges weißes Hemd, das über die Hose hängt. Wohin er durch die leicht getönte Brille blickt, kann Duc Toan nur raten. Er steht seitlich zur Kamera, als ob er den 151
Strand entlang schauen würde. Auf den farbigen Bildern ist sein Opa ein alter Herr. * Ein paar Tage vor Ostern erhält Duc Toan einen Brief seiner ehemaligen Klassenlehrerin.1 Auch Schulfreunde von damals melden sich immer wieder bei ihm. „In unserer Klasse fehlst Du uns. Heute haben wir eine große Kontrollarbeit in Mathematik geschrieben. Keiner hat alle Aufgaben richtig. Stefan, Trang und Steffen waren die besten. Vielleicht wäre es Dir gelungen, alles richtig zu lösen. (...) In der Zeitung habe ich gelesen, dass Deine Familie weiter in Deutschland bleiben darf. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Hoffentlich bekommt Ihr bald ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht. Das wäre toll!“ Die Ausländerbehörde verlängert die Duldung erneut um zwei Monate, später um weitere drei, dann wieder um einige Monate. Die Behörde hält bis zum Jahreswechsel 2001/2002 an dieser Praxis fest. Eine Praxis, die nicht nur Familie Nguyen Nerven kostet. Pfarrer Schmidt rechnet am Ende jeder Duldungsdauer mit einer neuen Ankündigung zur Abschiebung. Ein neuer Abschiebetermin bedeutete ein neues Kirchenasyl – daran hat die lange Debatte über die rechtlichen Grundlagen nichts geändert. Er bleibt bei seiner Meinung und hält sein Gästezimmer frei. Ein Ereignis im Dezember motiviert ihn und festigt seinen Glauben an die Notwendigkeit des Kirchenasyls. 1
Brief vom 5. April 2001
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Die Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ erhält die Carl-von-Ossietzky-Medaille. Die Internationale Liga für Menschenrechte verleiht diese Auszeichnung jährlich für Zivilcourage und Engagement für Menschenrechte. Sie erinnert an den Publizisten und Friedensnobelpreisträger, der 1938 an den Folgen mehrjähriger Haft in Konzentrationslagern starb. Persönlichkeiten wie Heinrich Böll oder Günter Grass gehören zu den mit der Medaille Geehrten. Wolf-Dieter Just, der Vorsitzende der ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft, hält die Dankesrede.1 Seiner Organisation hätten sich bisher über 300 Gemeinden angeschlossen. Alleine zwischen 1996 und 2000 hätten sich über 900 Menschen im Kirchenasyl befunden. Eine Formulierung aus der Dankesrede gefällt Schmidt besonders gut. Die Kirchengemeinden seien nicht angetreten, das Recht zu brechen, sondern es zu schützen.
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Die Dankesrede wird in den folgenden Tagen in diversen Zeitungen dokumentiert, unter anderem in der „Frankfurter Rundschau“ vom 10. Dezember 2001.
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„Kirchenasyl gibt es nicht mehr – das Mittelalter ist vorbei“ Das Jahr 2001 endet ohne Bleiberecht. Das Jahr 2002 ist für die Familie immerhin das erste Jahr, das in einer eigenen Wohnung beginnt. Das erste Jahr ohne 24,3-Quadratmeter-Zimmer, Gemeinschaftsküche und Etagentoilette. Ha und Tuan richten es so ein, dass immer einer von beiden zu Hause bei der Tochter bleibt. Ha arbeitet inzwischen im Schichtdienst und manchmal am Wochenende. Wenn Sie nach Hause kommt, geht Tuan oft zur Arbeit. In Altlandsberg haben sie zum ersten Mal eine eigene Küche und ein Badezimmer mit Waschmaschine. Duc Toan hat einen Raum für sich und seine Schwester – zumindest fast. Ein deckenhoher Schrank teilt das Wohnzimmer in zwei Räume. Auf der einen Seite stehen eine Couch, ein kleiner, runder Esstisch mit vier Stühlen, ein Fernseher und ein Aquarium. Auf der anderen Seite macht Duc Toan Hausaufgaben, spielt mit seiner Schwester oder mit Freunden. Doch die Familienidylle hält nur ein paar Januartage an. Pfarrer Schmidt ruft an und hat keine guten Neuigkeiten. Das Thema Kirchenasyl sei bald im Landtag von Brandenburg Gesprächsthema. Schönbohm werde auch über Abschiebungen sprechen. Zu der Debatte im Landtag kommt es wegen einer Anfrage der Deutschen Volksunion (DVU). Die Partei hatte Schönbohm vor einiger Zeit zum Thema Kirchenasyl befragt. Der Innenminister sorgte mit seiner Antwort für Schlagzeilen. Über Schönbohms Worte soll nun im Landtag diskutiert werden. Allerdings wird ihn nicht die 154
Opposition, sondern ein Parteikollege mit den jüngsten Meldungen konfrontieren. Landtagsabgeordnete von der PDS und der DVU werden die Sitzung mit Zwischenrufen begleiten. Sie beginnt 10 Uhr in Potsdam.1 Landtagspräsident Herbert Knoblich (SPD): „Meine Damen und Herren! Ich begrüße Sie herzlich zur 51. Sitzung des Landtages Brandenburg in seiner 3. Wahlperiode. (...) Es gibt wieder eine Reihe von Abwesenheitserklärungen, die aufzuführen ich mir erspare. (...) Wir beginnen mit drei Dringlichen Anfragen. Die Dringliche Anfrage 13 (Kirchenasyl), Drucksache 3/3799, wird vom Abgeordneten Homeyer gestellt, dem ich hiermit Gelegenheit gebe, sie zu formulieren – bitte sehr.“ Landtagsabgeordneter Dierk Homeyer (CDU): „Presseberichten vom 21. Januar 2002 zufolge soll Minister Schönbohm angekündigt haben, dass er – so ‚Berliner Kurier‘ – auch die Pfarrer, die Kirchenasyl gewährten, ‚die Schärfe des Gesetzes spüren lassen will‘. Ich frage die Landesregierung: Treffen diese Berichte zu?“ Knoblich: „Herr Minister des Innern, Sie haben das Wort.“ Innenminister Jörg Schönbohm: „Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Abgeordneter Homeyer, ich bin für diese Frage dankbar, weil sie mir Gelegenheit gibt, einige Punkte klarzustellen.“ Zuruf von der PDS: „Die war bestellt!“ Schönbohm: „Die kleine Anfrage von der DVU war von mir nicht bestellt. Warten Sie einmal ab; es wird noch viel schöner. Sie kommen auch noch an die Reihe. 1
Die Abgeordneten des Landtages tagen am 24. Januar 2002. Die folgenden Zitate sind dem Plenarprotokoll der 51. Sitzung entnommen.
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Es geht also um eine Antwort auf eine kleine Anfrage der DVU nach dem Kirchenasyl. Kirchenasyl gibt es nicht mehr; das Mittelalter ist vorbei. Lassen Sie mich erklären, worum es geht, damit Sie den Sachverhalt einordnen können. Die Frage 3 dieser kleinen Anfrage lautete wie folgt: ‚Machen sich Pfarrer oder andere Kirchenvertreter strafbar, wenn sie Ausländern, deren Aufenthalt in Deutschland beendet ist, in Kirchen oder anderen Gemeindegebäuden Asyl gewähren, wenn ja, welche Straftaten sind verwirklicht, wenn nein, wurden stattdessen Ordnungswidrigkeiten begangen?‘ Es ist nicht an mir, die Frage zu kritisieren. Ich habe sie zu beantworten; dies schreibt die Rollenverteilung vor. Ich habe die Frage wie folgt beantwortet: ‚Eine pauschale Aussage zur Strafbarkeit des Asyl gewährenden Pfarrers oder anderer Kirchenvertreter ist nicht möglich. Grundsätzlich ist in jedem Einzelfall die Relevanz etwaiger Beteiligungshandlungen in strafrechtlicher Hinsicht zu würdigen.‘ Diese Antwort war nicht nur juristisch, sondern auch politisch absolut korrekt. (...) Auch zeigte sich wieder einmal, dass diese Thema sehr schnell zu Überreaktionen führt. Einige glauben sogar, dass dieses Thema in einen rechtsfreien Raum verlagert werden könne, den es in einem Rechtsstaat allerdings nicht gibt. Insofern kennen sie unsere Verfassung nicht; ein Blick in sie ist manchmal hilfreich. Artikel 20 des Grundgesetzes legt fest, dass auch die vollziehende Gewalt an Recht und Gesetz gebunden ist. Die Ausländerbehörden und der Innenminister sind vollziehende Gewalt. 156
Herr Präsident, ich muss noch etwas zur Rechtslage sagen, damit das einmal klar wird. Wenn das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge einen Asylantrag beschieden hat, dann ist dieser Bescheid umzusetzen. Wer glaubt, dass der Bescheid falsch ist, kann den Rechtsweg beschreiten. Führt der Rechtsweg zu einem Ergebnis, dann muss es umgesetzt werden: Ist das Urteil für den Asylsuchenden positiv ausgefallen, darf er in unserem Lande bleiben. Ist es negativ ausgefallen, muss er abgeschoben werden. Die Durchsetzung dieser Entscheidung obliegt den zuständigen Landesbehörden. Der Bundesgesetzgeber hat in Paragraph 49 des Ausländergesetzes die Abschiebung als eine gebundene Entscheidung verankert, die grundsätzlich keine Ausnahmen zulässt und von der zuständigen Landesbehörde zu vollziehen ist. Im Regelfall sind dies die Ausländerbehörden der Landkreise oder kreisfreien Städte. Ein Absehen von der Abschiebung ist nur zulässig, wenn bzw. solange eine Rückführung des Ausländers in sein Heimatland nicht möglich ist, weil der Ausländer zum Beispiel nicht reisefähig ist, der Herkunftsstaat seine Aufnahme verweigert, ihm aufgrund geänderter politischer Lage die politische Verfolgung im Heimatland droht oder es keine sichere Rückreiseroute gibt. Derartige Ausnahmetatbestände, die ein Absehen von der Ausreisepflicht und eine Duldung zumindest teilweise rechtfertigen könnten, liegen in den genannten Fällen nicht vor. Somit haben die betroffenen Landesbehörden – sofort, Herr Präsident; diese Sache ist mir zu wichtig – keine Möglichkeit, davon abzuweichen. Die völlig überzogenen Reaktionen haben – das sage ich mit großem Ernst – Folgendes bewirkt: Die Staatsan157
waltschaft, die aufgrund des Legalitätsprinzips jeder ihr bekannt gewordenen Straftat nachgehen muss, wird sich nunmehr unausweichlich jedes Einzelfalls annehmen. Zweitens: Eine Fraktion, die bisher ein ihrer Leistung angemessenes Schattendasein geführt hat, ist in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Ich gratuliere allen, die dazu beigetragen haben.“ (Beifall bei der CDU) Knoblich: „Es gibt noch Klärungsbedarf – Herr Homeyer.“ Homeyer: „Herr Minister, angesichts Ihrer Ausführungen entsteht bei mir der Eindruck, dass man Sie im Zusammenhang mit Abschiebefällen in die rechte Ecke zu drücken versucht.“ (Lachen bei der PDS – Zuruf von der DVU) Homeyer: „Ich frage Sie deshalb erstens: Wie hat sich die Zahl der Abschiebungen im Land Brandenburg während Ihrer Amtszeit entwickelt? Zweitens: Sehen Sie eine Möglichkeit, für die befriedigende Lösung humanitärer Härtefälle tragfähige Lösungswege zu finden?“ Schönbohm: „Um es kurz zu sagen: Die Zahl der Abschiebungen hat sich im Jahre 2001 im Vergleich zu 1999 halbiert. Im letzten Jahr verzeichneten wir knapp 480 Abschiebefälle. Jeder Einzelfall ist ein Problem für sich. Vor dem Hintergrund dessen, was ich dargestellt habe, gibt es in den meisten Fällen keinen Ermessensspielraum. Ich werde aber nach Absprache mit dem Ministerpräsidenten vorschlagen, im Bundesrat den Antrag einzubringen, eine Formulierung in den Gesetzentwurf aufzunehmen, die den Innenministern einen Ermessensspielraum im Sinne einer Härtefallklausel einräumt. Diese 158
Frage habe ich mit zwei Persönlichkeiten, die mich in diesen Fragen beraten, besprochen. Es handelt sich um einen ehemaligen Bischof und den ehemaligen Präsidenten eines Verwaltungsgerichts. Beide halten diesen Weg für gangbar. Man wird abwarten müssen, ob es dafür im Bundesrat und im Bundestag eine Mehrheit gibt. Wenn wir jedoch über einen solchen Ermessenspielraum verfügen, dann können wir in den Fällen, die uns menschlich bewegen und in denen eine andere Entscheidung nur noch schwer zu verstehen wäre, handeln. (...) Knoblich: „Frau Dr. Enkelmann, bitte.“ Enkelmann (PDS): „Das hat sich erledigt!“ * Vor der Landtagssitzung hoffte Pfarrer Schmidt wegen der Lockerung der Altfallregelung auf Besserung. Die Einführung eines neuen Gremiums, mit einem Kirchenvertreter besetzt, stimmte ihn ebenso optimistisch. Doch das, was er über die Landtagssitzung hört, ist für ihn ein Rückschlag in die Anfänge der Diskussion.
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Eine Stadt steht hinter der Familie Die Unterstützer der Familie Nguyen sehen auf Landesebene immer weniger Chancen, sich für ein Bleiberecht erfolgreich einzusetzen. Auf der Kreisebene haben sie mehr Hoffnungen. Der Altlandsberger Bürgermeister Ravindra Gujjula gehört zu den aktivsten Mitgliedern der Unterstützergruppe um Sabine Grauel und Olaf Schmidt. Ende Februar nimmt er an der Sitzung des Kreistages teil. In der öffentlichen Fragestunde richtet er sich auf, schreitet zum Mikrofon und beginnt zu sprechen. Der Landrat hört zu, seine Hände sind gefaltet. Ein Kameramann des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg (ORB)1 filmt die Sitzung. Die Journalistin Stephanie Wätjen dreht eine Reportage über die Familie Nguyen.2 Die Szene im Kreistag wird in ihrem Beitrag zu sehen sein. „Sehr geehrte Damen und Herren, es geht um die Familie Nguyen aus Altlandsberg, die inzwischen seit elf Jahren in Deutschland lebt, seit einem Jahr in Altlandsberg ansässig ist. (...) Gerade diese Familie hat seit elf Jahren versucht, immer wieder mit Anträgen eine ständige Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland zu bekommen. Das wurde immer wieder abgelehnt.“3 Der Bürgermeister spricht zwei Dinge an, die ihm beim Betrachten des Falles aufgefallen sind. Zum einen hat er 1
Seit 1. Mai 2003 Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) Stephanie Wätjens Film wird unter dem Titel „Ein Zuhause auf Zeit – Hoffnung und Angst der Familie Nguyen“ am 12. April 2002 zum ersten Mal ausgestrahlt. 3 Die Zitate aus der Kreistagssitzung vom 20. Februar 2002 sind dem Protokoll entnommen. 2
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herausgefunden, dass die Familie sehr wohl einen Antrag auf Arbeitsgenehmigung gestellt hatte – und zwar vor der geltenden Frist der Altfallregelung. Erst später wird sich herausstellen, dass den Behörden damals ein Fehler unterlaufen ist. Auf der anderen Seite habe die Familie ständig im Heim gearbeitet. „Diese Arbeit wird nicht als Arbeit anerkannt. Dies ist mir auch unverständlich“, erklärt Gujjula. Der Bürgermeister wendet sich direkt an Landrat Reinking. „Sehr geehrter Herr Landrat, nach mehrfachen misslungenen Versuchen, einen Termin bei Ihnen zu erhalten, versuche ich heute auf diesem Wege, meine Bitte vorzutragen, sich dieses Problems anzunehmen. (...) Ich vertraue Ihnen und lege Ihnen die Zukunft dieser Familie in die Hände, damit Sie dieser Familie nach Möglichkeit im Namen der Menschlichkeit behilflich sind. (...)“ In seiner Gemeinde hätten innerhalb von ein paar Wochen über 700 Menschen eine Forderung für ein Bleiberecht der Familie unterschrieben. Es sei „einfach ein Zeichen, dass wir Altlandsberger als eine Einheit hinter dieser Familie stehen“. Der Landrat blickt freundlich zu Gujjula. Der Vorsitzende des Kreistages Wolfgang Heinze dankt dem Bürgermeister für den Vortrag. „Wir haben Ihre Worte mit viel Aufmerksamkeit verfolgt. Ich bitte, dass Herr Landrat Reinking das Wort nimmt.“ Reinkings Lächeln verschwindet. Er macht mit der linken Hand eine Bewegung in der Luft und zieht das auf seinem Tisch befestigte Mikrofon etwas zu sich. Dann berührt er mit einer Hand den Ordner, der vor ihm auf dem Tisch liegt. Er öffnet den Verschlusshebel und nimmt ein paar Seiten heraus. Er steht auf, läuft mit dem Papier in der 161
Hand am Vorsitzenden vorbei zum Pult. Dort angekommen, blickt er wieder freundlich durch die Brille. Doch er spricht nicht den Bürgermeister an. Er habe eine Anfrage von Frau Kaiser-Nicht zu diesem Thema vorliegen. Er liest die drei Fragen der Kreistags- und Landtagsabgeordneten vor. Dann folgt seine Antwort. Warum wurde ein Bleiberecht verweigert? Die Altfallregelung würde laut Landrat Reinking bei der Familie nicht zutreffen. „Nachweislich hat die Familie Nguyen erst nach dieser Stichtagsregelung Arbeitserlaubnisse beantragt, so dass sie nicht in diesen Bereich hineinfällt.“ Planten die Behörden tatsächlich eine Abschiebung? Die Abschiebung würde auf Grund gesetzlicher Bestimmungen erfolgen. Was wolle der Landrat tun, um dies zu verhindern? Er sei an das Grundgesetz gebunden. Auch ein Richterspruch liege vor. Der Landrat beantwortet Kaiser-Nichts Fragen, wobei er auf Gujjulas Bitten laut der Niederschrift der Sitzung nicht weiter eingeht. Dann meldet sich Frau Prof. Dr. Wittich von der PDS zu Wort. „Wir haben gerade in den letzten Tagen wieder von furchtbaren Übergriffen gegen ausländische Bürger gehört“, erklärt sie im Namen ihrer Fraktion. „Um so ermutigender ist es zu hören, dass eine ganze Stadt sich für eine Familie einsetzt, die es – nach allem, was uns bekannt ist – überaus verdient hat, in unseren Kreis aufgenommen zu werden.“ Sie verliest eine Erklärung, in der sie den Ministerpräsidenten und den Landrat auffordert, „alles zu unternehmen, damit die drohende Abschiebung der Familie“ verhindert werde. Der Vorsitzende Wolfgang Heinze 162
wiegelt ab und macht sie auf die Geschäftsordnung aufmerksam. Heinze: „Sie hatten die Möglichkeiten, einen Antrag auf Debatte zu stellen.“ Frau Prof. Dr. Wittich: „Es ist die Antwort von Kreistagsabgeordneten auf die Frage eines Bürgers. So haben wir das verstanden. Ich denke, dass diese Frage nicht so ist, dass wir sie in Geschäftsordnungsfragen untergehen lassen.“ Herr Heinze: „Herr Bürgermeister, wir haben Ihre Worte sehr wohl vernommen. Wir müssen das Problem an den Landrat herantragen (...). Wir betrachten dies als Petition. Sie müssen dann auch nochmals eine schriftliche Antwort bekommen.“ * Mit einer schriftlichen Antwort will sich Gujjula nicht zufrieden geben. Der Bürgermeister ist enttäuscht darüber, wie der Landrat sich ihm gegenüber verhalten hat. Von Reinking erhofft er sich keine Hilfe mehr. Er will mit dem Ministerpräsidenten Manfred Stolpe sprechen. Auch Pfarrer Schmidt hofft auf Stolpes Einfluss. Zumal Stolpe in der Vergangenheit auf die Kirche oft gut zu sprechen war. In Jena hatte er Jura studiert. Die „Berufslenkungskommission“ der DDR ließ ihn jedoch weder Anwalt noch Richter werden. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg bot ihm eine Arbeit als Kirchenjurist an. Dort leitete er später die Geschäftsstelle „Konferenz der Kirchenleitungen in der DDR“. In den 70er Jahren wurde Stolpe in die Menschenrechtskommission des Weltkirchenrates berufen. 163
Ein ausgezeichneter Landrat Landrat Reinking erhält inzwischen Besuch und eine nicht ganz rühmliche Auszeichnung. Der Flüchtlingsrat des Landes Brandenburg verleiht jährlich eine Art Orden. Dieses Jahr geht er an Reinking. Die Mitglieder der Organisation überreichen ihm den „Denkzettel gegen strukturellen und systeminternen Rassismus“.1 Der Landrat bringe die Familie laut Urteil der Jury in eine „furchtbare Situation“. Er wolle sie abschieben, obwohl sie seit elf Jahren in Deutschland lebe, die Eltern arbeiteten, ein Kind die Schule besuche und das andere die Kindertagesstätte. Nach Paragraph 30, Absatz 4 Ausländergesetz hätte er angeblich die Möglichkeit gehabt, eine Aufenthaltsbefugnis anzuweisen. Danach kann Ausländern, die seit mindestens zwei Jahren unanfechtbar ausreisepflichtig sind und eine Duldung besitzen, eine Aufenthaltsbefugnis erteilt werden. Oder er hätte laut Flüchtlingsrat über das Innenministerium eine Entscheidung nach Paragraph 32 erwirken können. Die oberste Landesbehörde könne unter anderem aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen anordnen, dass eine Aufenthaltsbefugnis erteilt oder verlängert wird. Zur Übergabe des Denkzettels kommt ein halbes Dutzend Journalisten. Auch Schmidt will sich das Ereignis nicht entgehen lassen. Er begleitet die Fotografen und Reporter ins Landratsamt. Alle sind da – bis auf einen.
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Der Flüchtlingsrat verteilt anlässlich der Auszeichnung am 19. März 2002 eine Pressemappe mit verschiedenen Dokumenten.
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Die Medienleute, die Mitarbeiter des Flüchtlingsrates und Pfarrer Schmidt können Landrat Reinking nicht finden. Aber sein Pressesprecher Jürgen Krüger meldet sich zu Wort. Er äußert sich kurz gegenüber den Journalisten. Er will aber nicht gefilmt werden. Im Zimmer 240, dem Beratungsraum, gibt er mit schwarzem Anzug, schwarzer Krawatte und weißem Hemd eine Erklärung ab. Ein Kameramann des ORB steht für Stephanie Wätjens Reportage mit laufender Kamera auf dem Gang vor Raum 240. Die Tür zum Besprechungsraum bleibt offen. Er filmt die Gruppe mit dem Pfarrer, die am Eingang dem Pressesprecher zuhört. Krüger ist von hier nicht zu sehen, aber zu hören. Doch viel ist es nicht – der Pressesprecher fasst sich kurz. „Das Problem ist, der Landrat ist nicht bereit, sie zu empfangen. Mehr habe ich Ihnen überhaupt nicht zu sagen. Sie unterstellen dem Landrat Rassismus.“ Viel mehr wird von Krüger im Filmbeitrag später nicht zu hören sein. Die Gruppe verlässt den Raum. Der Pressesprecher schaut durch den Türrahmen. Er entdeckt den Kameramann und macht einen Schritt zurück. Zwei Sekunden später tritt er aus dem Raum und eilt zum ORB-Mitarbeiter. „Ich habe Ihnen gesagt, hier wird nicht gefilmt, dann möchte ich das also auch so haben.“ Krüger drückt die rechte Hand auf das Objektiv der Kamera. Dann läuft er an dem Kameramann vorbei. Der Sender wird diese Szene später ausstrahlen. Die denkwürdige Auszeichnung für den Landrat ändert nichts. Der Rechtsanwalt der Familie erhält Ende Mai ein Einschreiben mit Rückschein.1 „Landkreis Märkisch1
Schreiben vom 28. Mai 2002
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Oderland. Der Landrat“, steht links neben einem Wappen auf dem Briefkopf. Für Rechtsanwalt Odenthal gehören diese Briefe zum Alltag. Ein Blick in sein Büro zeigt, dass Familie Nguyen kein Einzelfall ist. Bunte Aktendeckel liegen auf bis zu zwei Meter aufeinander gestapelt in zwei Räumen verteilt. Aus den Papierbündeln schauen gelbe und rote Zettel heraus – auf einem dieser Zettel stehen die Namen von Tuan und Ha. In der Anrede des Einschreibens sind die Namen aller vier Familienmitglieder aufgelistet. „Die Abschiebung in Ihr Heimatland Vietnam, am 09. Juli 2002, kündige ich Ihnen hiermit an. (...) Auf Grund des Rückübernahmeabkommens mit Vietnam sind Sie am 09. Juli 2002 zur Rücknahme nach Vietnam vorgesehen. Die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe sind entfallen.“ In Klammern ist zu lesen, um welche Gründe es sich handelt. „Passlosigkeit des Kindes: Nguyen, Nhat Thao.“ „Zum organisatorischen Ablauf der Abschiebung erhalten Sie gesondert Informationen.“ Es ist nicht die erste Ankündigung einer Abschiebung für Tuan und Ha. Sie kennen den Inhalt der „gesonderten Informationen“. Sie wissen, wie viel Kilogramm Gepäck sie kostenfrei mitnehmen dürfen und wie lange der Flug nach Hanoi dauert. * Ravindra Gujjula hat inzwischen eine neue Unterstützerin gefunden. Er hat der Bundestagsabgeordneten Petra Bierwirth vor einiger Zeit von der Familie erzählt und der Sozialdemokratin sämtliche Dokumente zugeschickt, die 166
er von der Familie hatte. Petra Bierwirth hat ihm zugehört, die Dokumente gelesen und setzt sich seither für ein Bleiberecht ein. Die SPD-Frau kritisiert in aller Öffentlichkeit die Entscheidungen des SPD-Landrates. Nicht zuletzt mit einer Petition will sie das deutlich machen.1 Ein paar Tage nachdem der neue Abschiebetermin eingetroffen ist, setzen sich die Mitglieder der immer größer werdenden Unterstützergruppe zusammen. Sie formulieren die Petition und schicken den Text an die Mitglieder des Kreistages, an die Abteilungsleiter der Verwaltung und an den Landrat. „Da wir nach wie vor der Meinung sind, dass die vorgesehene Abschiebung der Familie Nguyen einen unverantwortlichen Eingriff in das Leben von vier Menschen darstellt, melden wir uns erneut nachdrücklich zu Wort.“ Die Abschiebung sei weder zwingend vorgeschrieben noch sei sie die einzige Lösung im Rahmen des Gesetzes. In der Petition versuchen die Unterzeichner, auf eine andere Weise als sonst zu argumentieren. Der erste überhaupt mögliche Ausreisetermin sei der 18. Januar 2000 gewesen. Erst nach neun Jahren in Deutschland war laut den Unterzeichnern das „Prozedere der Ausreiseformalitäten“ abgeschlossen. „Sie hatten somit keine andere Chance, als ihr Leben hier zu gestalten.“ Dann sprechen sie die bisher immer wieder angeführten Gründe an: die Asthmakrankheit des Sohnes, die Entwicklung sowie Integration der Familie und die Altfallregelung. Im Falle der Altfallregelung sprechen sie in der
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Schreiben vom 5. Juni 2002
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Petition einen Fehler an, den ihnen kürzlich das Arbeitsamt schriftlich bestätigte. Ein einfacher Fehler, der Folgen hatte. Ha hatte vor dem Stichtag der Altfallregelung offiziell einen Antrag auf Arbeitsgenehmigung gestellt. Das Landratsamt fragte damals beim Arbeitsamt in Frankfurt/Oder nach, ob sich Ha um Arbeit bemüht hätte. Dort sagten die Mitarbeiter allerdings nein. Die Gründe kamen erst viel später ans Tageslicht. Im Arbeitsamt kam es zu einer Namensverwechslung. Ha stellte den Antrag unter ihrem Mädchennamen, Thanh Ha Hoang – die Gerichte und Behörden sprachen sie in diversen Schreiben bisher ebenso mit diesem Namen an. Gegenüber der PDS-Landtagsabgeordneten Kerstin Kaiser-Nicht bestätigt das Arbeitsamt, dass Ha „einen Antrag auf Arbeitsgenehmigung“ gestellt habe.1 Das habe Ha am 2. November 1999 getan, 17 Tage vor Ablauf der Frist zur Altfallregelung. Der Leiter des Arbeitsamtes Konrad Tack spricht den Fehler gegenüber der Landtagsabgeordneten Kerstin Kaiser-Nicht offen an. Stephanie Wätjen filmt Tacks Äußerungen für ihre Reportage. Auf seinem Tisch liegen ein gutes Dutzend gestapelter gelber Aktendeckel. Er spricht mit einer klaren, kräftigen Stimme, während sich die Finger der linken Hand auf dem Tisch auf und ab bewegen. Die Auskunft an die Ausländerbehörde sei falsch gewesen. „Wir haben gesagt, es hätten angeblich keine Anträge vorgelegen. Und diese Aussage ist auf Grund einer Namensverwechslung erfolgt. [Sie] ist erst aufgeklärt
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Schreiben vom 19. März 2002
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worden und damit auch die falsche Auskunft korrigiert worden, im März 2002.“ Gegenüber der Bundestagsabgeordneten Petra Bierwirth wird er diesen Fehler mit Nennung der genauen Daten schriftlich noch einmal darstellen.1 Es wird heißen: „Am 17. August 2001 wurde auf Grund einer Namensverwechslung von meinem Amt gegenüber der Ausländerbehörde eine falsche Auskunft gegeben. Diese wurde inzwischen der Ausländerbehörde gegenüber korrigiert – am 19. November 1999 lag ein Antrag auf Erteilung einer Arbeitserlaubnis in meinem Amt vor. (...)“ Kerstin Kaiser-Nicht informiert nach dem Gespräch mit Arbeitsamtschef Tack den Landrat über diesen Fehler.2 „Es bestand oder besteht von Ihrer Seite Korrekturbedarf“, erklärt sie ihm schriftlich. Kaiser-Nicht unterzeichnet zudem die Petition. Auf der Unterschriftenliste sind schlussendlich außer den Namen mehrerer Landtagsabgeordneter auch die des festen Unterstützerkreises zu finden. Sie nennen eine Abschiebung der Familie „ein höchst fatales Signal“. Doch wieder ergibt das Engagement keine Veränderung. Das Ende der Duldungsdauer rückt wieder einmal näher. Pfarrer Schmidt und Sabine Grauel gehen die Ideen aus – Bürgermeister Gujjula noch nicht. Er verständigt sich mit der Bundestagsabgeordneten Petra Bierwirth. Gujjula und Bierwirth haben ein neues Vorhaben. Sie wissen, sich bei Stolpe damit unbeliebt zu machen. Beide wollen den Ministerpräsidenten ohne Termin aufsuchen. Sie wollen ihm die Familie vorstellen und ihn bitten, sich für ein Bleiberecht einzusetzen. 1 2
Schreiben vom 7. Mai 2002 Schreiben vom 21. März 2002
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Flucht im Tretboot Die Bemühungen um einen Termin bei Stolpe scheitern immer wieder. Petra Bierwirth schreibt Briefe und sie ruft bei Stolpe im Büro an. Dann hört sie, dass Stolpe demnächst im brandenburgischen Eberswalde vorbeischauen will. Sein Büro kündigt für Mitte Februar 2002 einen Besuch auf dem Gelände der nahenden Landesgartenschau an. Gujjula, Bierwirth, Schmidt und Familie Nguyen warten am Tag der Besichtigung auf dem Gelände. Sie gedulden sich eineinhalb Stunden. Aber sie gedulden sich nicht alleine – Stephanie Wätjen vom ORB will das Überraschungstreffen von Familie Nguyen mit Stolpe aufzeichnen. Das große Dienstauto von Stolpe fährt vor. Er steigt aus und der Bürgermeister von Eberswalde führt ihn über das Gelände. Sein Weg führt aber nicht an den Wartenden vorbei. In Wätjens Beitrag wird es später heißen: „Manfred Stolpe ist ihre letzte Hoffnung. Sie wollen ihn um Hilfe bitten, aber der Bürgermeister von Eberswalde lässt die Familie stehen. Er weist dem Landesvater lieber einen anderen Weg.“ Stolpe schreitet zusammen mit einem ganzen Tross von Lokalpolitikern, Journalisten und Fotografen das Gelände der Landesgartenschau ab. 890 verschiedene Pflanzenarten sollen hier in über zwei Monaten Blühen. Familie Nguyen und ihre Begleiter suchen Stolpe auf dem Gelände und finden ihn etwa eine halbe Stunde später. Er spricht zu der sichtlich kleiner gewordenen Gruppe 170
an einem Anlegesteg für Tretboote. Alles, was ab jetzt geschehen wird, zeichnet Wätjens Kameramann auf. Bierwirth geht als Erste auf Stolpe zu. Der schaut zunächst recht ernst. Petra Bierwirth: „Herr Ministerpräsident, eine Minute, gerne, ich möchte Sie ...“ Stolpe begrüßt die Bundestagsabgeordnete seiner Partei mit einem Händeschütteln. Dann entdeckt er die hinter Bierwirth auf ihn zukommende Gruppe und lächelt. Manfred Stolpe: „Hallo Herr Bürgermeister, mit ihren Neubürgern hier, ja?“ Stolpe gibt Gujjula, Ha, Tuan und Duc Toan die Hand. Sie begrüßen sich und sprechen teilweise gleichzeitig. Ravindra Gujjula: „Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, wir haben keine bessere Gelegenheit gefunden, Sie ...“ Stolpe: „Das wäre aber kein Problem gewesen, sich mit mir zu verabreden.“ Stolpe hält den rechten Zeigefinger hoch und bewegt ihn auf und ab. Gujjula: „Ist das versprochen?“ Stolpe: „Das wäre kein Problem gewesen.“ Gujjula: „Ist das versprochen?“ Stolpe: „Das machen wir mal gesondert.“ Mehrere sprechen gleichzeitig, Stolpe lächelt. Stolpe: „Heute wollen wir uns alle freuen, darüber, dass in ...“ Gujjula: „Wir freuen uns darüber auch mit.“ Stolpe: „... zehn Wochen Landesgartenschau ist.“ Gujjula: „Wir freuen uns darüber auch mit.“ Stolpe: „Das andere können wir bei anderer Gelegenheit wirklich in Ruhe bereden.“ 171
Bierwirth: „Wie schnell können wir das machen, wir haben nicht mehr so viel Zeit. Das ist das Problem.“ Gujjula: „Er hat nur bis zum 3.4., können wir vorher einen Termin machen?“ Stolpe: „Ja sicher.“ Gujjula: „Dann rufen wir Sie ...“ Stolpe: „Sie kommt doch jederzeit an mich ran. Sie müssen das ja nicht unbedingt heute hier machen.“ Stolpe deutet mit einem Finger auf Bierwirth. Mehrere reden durcheinander. Bierwirth: „Und ist das versprochen?“ Stolpe: „Sicher, wir haben doch immer gehalten, was wir versprochen haben.“ Stolpe reicht einigen die Hand zum Abschied und dreht sich von ihnen weg. Er geht an Bierwirth und Gujjula vorbei. Stolpe: „Also dann, wir sehen uns.“ Er hat die ersten drei Stufen der Treppe in Richtung Tretboote hinter sich gebracht. Dann stellt ihm die Journalistin laut eine Frage. Stephanie Wätjen: „Herr Ministerpräsident, die Familie erhofft sich ja Hilfe von Ihnen, können Sie Ihnen helfen?“ Stolpe dreht sich um und steigt während der ersten Worte der Antwort die drei Stufen wieder herauf. Stolpe: „Verehrteste, Sie wissen genau, dass die Bundestagsabgeordnete mehr Möglichkeiten hat als ich. Sie muss dafür sorgen, dass wir ins Gesetz eine Härtefallklausel reinkriegen, dann läuft das alles von alleine.“ Stolpe dreht sich erneut um und läuft die Treppen wieder herunter – dieses Mal bis zur letzten Stufe. Unten angekommen, steigt er in ein rotes Tretboot. Er setzt sich 172
mit dem langen schwarzen Mantel hinein und fährt durch einen Tunnel davon. Die Reporterin konfrontiert die Bundestagsabgeordnete mit Stolpes Aussagen. Sie fragt Bierwirth, was sie von Stolpes Äußerungen halte. Bierwirth beantwortet die Frage sichtlich erregt. „Wir haben ja erst diese Altfallregelung gehabt und ich bin der Auffassung, auch diese Altfallregelung lässt Ausnahmebestimmungen gerade ja für diese Familie zu. Da müssen wir ja jetzt nicht noch eine Härtefallklausel einführen. Und da muss mir jetzt nicht der Ministerpräsident erzählen, ich soll mich im Bundestag dafür einsetzen, dass wir eine Härtefallregelung bekommen. Alle Möglichkeiten sind schon da, die müssen wir nur ausschöpfen, wenn wir es denn wollen.“ Aber sie nehme Stolpe beim Wort. Sie mache mit seinem Büro einen Termin und werde mit der Familie nach Potsdam fahren. Im ORB-Beitrag wird später eine Frauenstimme das erste Treffen zwischen Stolpe und Familie Nguyen zusammenfassen. „Das Fazit dieser Begegnung: Enttäuschung. Der Landesvater hat sich kaum Zeit für sie genommen.“ * Manfred Stolpe schreibt einige Wochen später an Petra Bierwirth einen Brief.1 Er bedankt sich für das Interesse an einem persönlichen Gespräch über die „ausländerrechtliche Angelegenheit der Familie Nguyen“. Ein Gespräch könne auf Grund der „eindeutigen Sach- und Rechtslage“ kein anderes Ergebnis bringen. 1
Brief vom 18. März 2002
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Über die Landesgartenschau wird einige Monate später eine Pressemitteilung ausführlich informieren.1 78.000 Bratwürste und 7.750 Kohlrouladen werden auf dem Gelände bis dahin gegessen. 132.000 Gläser Bier und 220.000 Gläser alkoholfreie Getränke werden getrunken. Auch von den Tretbooten wird zu lesen sein: „Maximal 1.540-mal täglich steuerten begeisterte Besucher die jeweils eingesetzten Tretboote zielsicher durch die unterirdischen Kanäle des ‚Alten Walzwerkes‘. Eine Gruppe nicht mehr ganz nüchterner Besucher meinte hierbei einen Kaiman zu sichten, ein Baby hingegen konnte bei der Fahrt in aller Ruhe gestillt werden.“ Von Stolpes Versprechen am Anlegesteg für Tretboote wird nichts in der Pressemitteilung stehen. Das hat seine Gründe: Das vom Ministerpräsidenten versprochene Treffen wird nie stattfinden.
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Presseerklärung vom 13. Oktober 2002
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Schulhof-Gespräche / Das „drohende Schicksal“ Tuan und Ha erzählen ihrem Sohn von der neuen Ankündigung. Die Behörden planen die Abschiebung der Familie zu Beginn seiner Sommerferien. Er muss sich also in den letzten Schultagen von seinen Klassenkameraden verabschieden. Bisher haben es seine Eltern vermieden, ihm gegenüber die ständigen Duldungsfristen zu erwähnen. Sie haben oft an eine Lösung in letzter Minute geglaubt, dieses Mal sind sie pessimistisch. Die kurzfristig eintreffenden Verlängerungen der Duldung sind nicht nur für Familie Nguyen und Familie Schmidt unerträglich. Tuans Arbeitgeber fehlt die Möglichkeit, mit seinem Mitarbeiter auf Dauer rechnen zu können. Solange die Behörden Tuan dulden, solange wird er arbeiten. Darauf kann sich sein Chef verlassen. Aber langfristige Arbeits- und Urlaubsplanungen sind unmöglich. Bei Ha sieht es nicht anders aus. Sie arbeitet im Schichtdienst für einen großen Obsthandel. Die Frühschicht beginnt vier Uhr. Die zehn Kilometer zum Arbeitsplatz legt sie anfangs mit dem Fahrrad zurück. Jetzt holen sie Arbeitskollegen von zu Hause ab. Oder Tuan fährt sie, wenn er nicht arbeiten muss. Mit dem ersten gesparten Geld kauften sie sich einen alten Opel mit 160.000 Kilometern. Pro Stunde erhält Ha 5,94 Euro. Transporter liefern Äpfel und Birnen in Kisten an. Ha füllt das Obst in Schalen ab und verpackt diese mit Folie – ein Kilo pro Schale. Für Arbeitssuchende in Brandenburg herrschen nicht sehr rosige Zeiten. Sie ist froh, überhaupt eine Arbeit zu haben. Ihrem Chef kann sie jedoch nicht mitteilen, ob 175
sie in ein paar Wochen noch für ihn arbeiten wird. Über die Duldungsfrist hinaus ist auch für sie eine Planung unvorstellbar. * Duc Toan hat die letzten Klassenarbeiten des vierten Schuljahres hinter sich. Irgendwann schaut Stephanie Wätjen mit ihrem Filmteam auch bei Duc Toan in der Schule vorbei. Ein paar Klassenkameraden sagen ihre Meinung auf dem Schulhof in die Kamera. Duc Toan hat den meisten von ihnen bereits im Unterricht erklärt, wann er Deutschland wahrscheinlich verlassen muss. Ein Mädchen mit einer roten Kapuzenjacke erzählt von Duc Toan. Alle seien traurig, wenn er gehen müsse. Wieso? Er sei „einfach ein guter Freund“. Ein Junge mit blonden Haaren stimmt seiner Klassenkameradin zu. Er ist zwei Köpfe größer als alle anderen auf dem Schulhof. Duc Toan sei der „Klassenbeste“. „Und wenn er denn weggehen würde, würde einfach aus unserer Klasse jemand fehlen. Das würden wir nicht sehr schön finden.“ Ein anderer Junge mit großen braunen Augen und einer Zahnlücke meldet sich zu Wort. Aufgeregt wippt er vor der Kamera mit seinen beiden Füßen auf und ab. Er gehört zu Duc Toans besten Kameraden. „Na, er ist ja mein Freund und ich kann ihn ja jetzt nicht einfach losschicken.“ Er zeigt dabei mit seiner Hand in eine Richtung. „Würde er Dir fehlen?“, fragt Stephanie Wätjen. Der Junge wartet nicht lange auf eine Antwort. „Ja“, mehr sagt er nicht. 176
* Knapp drei Wochen vor der geplanten Abschiebung trifft eine Benachrichtigung vom Landratsamt ein.1 Der genannte Abschiebetermin werde „aufgehoben“. Wobei das Wort „aufgehoben“ die Sache nicht trifft. Die Behörden verschieben den Termin. „Die Abschiebung in Ihr Heimatland Vietnam kündige ich Ihnen nunmehr für den 10. September 2002 an.“ Zum organisatorischen Ablauf würden sie „gesonderte Informationen“ erhalten – wie immer. Die Zeugnisse teilt die Klassenlehrerin im Juli aus. Einen Tag des Schuljahres und drei Einzelstunden hatte Duc Toan gefehlt. Für diese Zeit lag eine Entschuldigung seiner Eltern vor. In Deutsch und Sport erhält er eine Zwei – seine schlechtesten Noten. Im Sachunterricht, in Musik, Kunst und Mathematik bringt er eine Eins mit nach Hause. Seine Einstellung zeige „außerordentlichen Lernwillen“.2 Er habe Durchhaltevermögen und handle „sehr verantwortungsbewusst und zuverlässig“. Er sei „tolerant, kooperativ, hilfsbereit gegenüber anderen“. „In Konflikten“ ist er nach Angaben seiner Klassenlehrerin „an einem Kompromiss interessiert“. Duc Toan kann nicht alle Konflikte lösen. Den bald zwölfjährigen Konflikt seiner Eltern mit den Behörden versteht er immer noch nicht so richtig. Der Rechtsanwalt Thomas Petzold verfasst zu diesem Konflikt ein sechsseitiges Papier.3 Er hat sich zuvor nicht mit dem Fall beschäftigt, sondern wird auf Grund einer 1
Schreiben vom 11. Juni 2002 Einschätzung vom 3. Juli 2002 3 Schreiben vom 8. September 2002 2
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Anfrage von politischer Seite tätig. „Überlegungen zu den Möglichkeiten der Erlangung eines rechtmäßigen ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus für die Familie Nguyen, Altlandsberg“ sind seine Ausführungen überschrieben. Kurz gefragt: Wie kann die Familie bleiben? Allein das „drohende Schicksal“ des Sohnes rechtfertige eine Entscheidung zu Gunsten der Familie. „Der Sohn der Familie Nguyen kann als vollständig integriert in die Gesellschaft angesehen werden, was unter anderem auch daran deutlich sichtbar wird, dass der Sohn trotz der seit Jahren drohenden Abschiebung und der damit verbundenen psychischen Belastungen überdurchschnittlich gute schulische Leistungen erreicht (...).“ Er kenne nicht die wesentlichen Lerninhalte der vietnamesischen Schule. Er wäre dort gezwungen, die Schule von neuem zu besuchen. Der Rechtsanwalt spricht in diesem Zusammenhang von einem „dramatischen Bruch seiner bisherigen Lebensentwicklung“. Hinzu komme die gesundheitliche Verfassung des Jungen. Seine ärztlich attestierten Krankheiten bedürften „ständiger medizinischer Überwachung“. Mit an „Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ könne vorhergesagt werden, „dass eine dramatische Verschlechterung des Gesundheitszustandes“ im Falle einer Abschiebung eintreten würde. Der Rechtsanwalt zählt weitere Gründe auf. Er erwähnt die gemeinnützige Arbeit in den Heimen und die acht Jahre, in denen es der Familie „überhaupt nicht möglich war, nach Vietnam auszureisen“. Erst Mitte der 90er Jahre sei das Abkommen über die „Rückführung“ von Menschen aus Vietnam entstanden. Bis alle Formalitäten erledigt gewesen seien, seien weitere Jahre vergangen. 178
Eine weitere Möglichkeit sieht er in dem neuen Zuwanderungsgesetz, das am 1. Januar 2003 in Kraft treten werde. Paragraph 25 enthalte eine neue Härtefallregelung. Die Bundesländer dürften dann unter Beachtung humanitärer Aspekte ein Bleiberecht gewähren. Brandenburg könnte somit eine Härtefallkommission einrichten, die über derartige Fälle zu entscheiden hätte. Im fünften Absatz heißt es dazu: „Abweichend von den in diesem Gesetz festgelegten Erteilungs- und Verlängerungsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel kann einem Ausländer auf Ersuchen einer von der Landesregierung durch Rechtsverordnung bestimmten Stelle eine Aufenthaltserlaubnis erteilt oder verlängert werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet rechtfertigen.“
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Abgesprochene Empörung Beim Thema Zuwanderungsgesetz sorgt das Bundesinnenministerium in einem Schreiben an Bierwirth für Ernüchterung.1 „Ob Brandenburg von dieser Möglichkeit Gebrauch machen wird, ist von der Landesregierung zu entscheiden.“ Gemeint ist die Möglichkeit, nach Berücksichtigung der humanitären Aspekte ein Bleiberecht für Familie Nguyen zu gewähren. Das Zuwanderungsgesetz ist bereits im März 2002 Thema im Bundesrat gewesen. Tuan und Ha haben die Abstimmung damals in den Abendnachrichten gesehen. Bei der Stimmabgabe des Landes Brandenburg kommt es zu einem Eklat. Stolpe stimmt für das Gesetz, Schönbohm dagegen. Bundesratspräsident Klaus Wowereit wertet die Stimme von Stolpe, nicht die von Schönbohm. Auch Familie Schmidt und Sabine Grauel verfolgen das Wortgefecht – ihnen ist dabei bewusst, wie wichtig die Abstimmung im Bundesrat für Familie Nguyens Zukunft ist.2 Klaus Wowereit (SPD): „Rheinland-Pfalz hat gebeten, über die Frage der Zustimmung durch Aufruf der Länder abzustimmen. Ich bitte den Schriftführer, die Länder aufzurufen.“ Manfred Weiß (CSU, Bayern, Schriftführer): „Baden-Württemberg?“ „Enthaltung.“ „Bayern?“ „Nein.“ 1
Schreiben vom 18. Juli 2002 Die Zitate sind dem stenografischen Bericht der Sitzung entnommen. Der Bericht wurde in der Pressemitteilung vom 25. März 2002 des Bundesrates veröffentlicht. Die Sitzung fand bereits am 22. März statt.
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„Berlin?“ „Ja.“ „Brandenburg?“ Alwin Ziel (SPD, Brandenburg, Arbeits- und Sozialminister): „Ja!“ Jörg Schönbohm (CDU, Brandenburg): „Nein!“ Wowereit: „Damit stelle ich fest, dass das Land Brandenburg nicht einheitlich abgestimmt hat. Ich verweise auf Artikel 51, Absatz 3, Satz 2, Grundgesetz. Danach können Stimmen eines Landes nur einheitlich abgegeben werden. Ich frage Herrn Ministerpräsidenten Stolpe, wie das Land Brandenburg abstimmt.“ Manfred Stolpe (SPD, Ministerpräsident von Brandenburg): „Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich hiermit Ja.“ Schönbohm (Brandenburg): „Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident!“ Wowereit: „Damit stelle ich fest, dass das Land Brandenburg mit Ja abgestimmt hat.“ Peter Müller (CDU, Saarland): „Das ist unmöglich!“ Roland Koch (CDU, Hessen): „Das geht wohl gar nicht!“ Weitere Zurufe: „Verfassungsbruch! Das gibt es doch nicht!“ Wowereit: „Herr Ministerpräsident Stolpe hat für Brandenburg erklärt, dass er, dass das Land Brandenburg mit Ja abstimmt. Das ist nicht ...“ Koch: „Herr Schönbohm hat widersprochen! Nein, das geht nicht, Herr Präsident!“ Wowereit: „Das ist so. Dann geht es weiter in der ...“ Müller: „Selbst Sie sind an die Verfassung gebunden, Herr Präsident!“ Koch: „Nein, das geht nicht!“ 181
Weiterer Zuruf: „Völlig unmöglich! Sie kennen die Verfassung nicht!“ Wowereit: „Dann geht es weiter. Dann geht es weiter in der Abstimmung.“ Müller: „Nein!“ Koch: „Nein, Herr Präsident! Sie brechen das Recht!“ Wowereit: „Nein!“ Koch: „Herr Präsident, nein!“ Wowereit: „Ich habe bei der zweiten Frage gefragt, ob Herr Ministerpräsident Stolpe für Brandenburg eine Erklärung abgibt. Das hat er gemacht. Und ...“ Müller: „Auch Sie sind an das Grundgesetz gebunden, Herr Präsident!“ Koch: „Das geht nicht! Nein, Herr Präsident, nein!“ (Weitere Zurufe) Wowereit: „Und jetzt ist festgestellt ...“ Müller: „Das Grundgesetz gilt auch für Sie!“ Wowereit: „Es ist festgestellt ...“ Koch: „Jawohl! Das ist ja unglaublich! Das ist glatter Rechtsbruch!“ Wowereit: „Ich kann ...“ Koch: „Das ist unglaublich!“ Wowereit: „Ja, Herr ... Bitte sehr ...“ Koch: „Herr Präsident, unterbrechen Sie, damit wir das beraten! Das gibt es nicht!“ Wowereit: „Bitte sehr, Herr Koch, ich bitte Sie, sich auch zu mäßigen.“ Koch: „Nein, ich mäßige mich nicht!“ Wowereit: „Ja.“ Koch: „Da ist offensichtlich und gewollt das Recht gebrochen! Das geht nicht!“ Weitere Zurufe: „Ein vorbereiteter Rechtsbruch!“ 182
„Rechtsbeugung!“ Wowereit: „Also noch mal ...“ Koch: „Wenn Herr Schönbohm eben geschwiegen hätte, mag das sein! Aber er hat gesagt: Ich nicht!“ Wowereit: „Ich kann ...“ Koch: „Es sind vier Stimmen! Sie sind unterschiedlich abgegeben und das haben Sie zur Kenntnis zu nehmen!“ Wowereit: „Ich kann ... Ich kann auch ...“ Müller: „Unterbrechen Sie die Sitzung, dass diese Frage geklärt wird! Das geht so nicht!“ Koch: „Das ist ja wohl das Letzte!“ (Weitere Zurufe) Wowereit: „Ich kann auch Herrn Ministerpräsidenten Stolpe noch mal fragen, ob das Land noch Klärungsbedarf hat.“ Koch: „Das Land hat keinen Klärungsbedarf! Sie manipulieren eine Entscheidung des Bundesrates! Was fällt Ihnen ein!“ Zuruf: „Verfassungsbrecher!“ Wowereit: „Nein!“ Koch: „Herr Präsident, nein!“ (Weitere lebhafte Zurufe) Wowereit: „Herr Ministerpräsident Stolpe.“ Stolpe: „Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich hiermit Ja.“ Koch: „So! Und was sagt Herr Schönbohm?“ Wowereit: „So, dann ist das so festgestellt. Ich bitte fortzufahren in der Abstimmung.“ Zuruf: „Unerhört!“ Wowereit: „In der Abstimmung fortzufahren.“ Bernhard Vogel (CDU, Thüringen): „Ich bitte um das Wort zur Geschäftsordnung!“ 183
Wowereit: „Sie können sich anschließend, nach der Abstimmung, zur Geschäftsordnung melden. Wir sind jetzt in der Abstimmung.“ Weiß, Schriftführer: „Bremen?“ „Enthaltung.“ „Hamburg?“ „Enthaltung.“ „Hessen?“ „Enthaltung.“ „Mecklenburg-Vorpommern?“ „Ja.“ „Niedersachsen?“ „Ja.“ „Nordrhein-Westfalen?“ „Ja.“ „Rheinland-Pfalz?“ „Ja.“ „Saarland?“ „Nein.“ „Sachsen?“ „Nein.“ „Sachsen-Anhalt?“ „Ja.“ „Schleswig-Holstein?“ „Ja.“ „Thüringen?“ „Nein.“ Wowereit: „Das ist die Mehrheit. Der Bundesrat hat dem Gesetz zugestimmt. Jetzt rufe ich Herrn Ministerpräsident Vogel zur Geschäftsordnung auf.“ Koch: „Eiskalter Rechtsbruch! Eiskalt!“ Edmund Stoiber (CSU, Bayern): „Das hat Konsequenzen!“ * Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber hatte Recht. Die ersten Konsequenzen gab es schon ein paar Tage nach der turbulenten Bundesratsabstimmung – aber nicht derart, wie es Stoiber vermutlich prognostizierte. Ein prominentes Mitglied aus der Schwesterpartei CDU äußerte sich. Der saarländische Ministerpräsident Peter
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Müller nannte den Tumult im Bundesrat ein „legitimes Theater“.1 „Das Parlament“ schrieb einige Tage später Näheres zu Müllers Äußerungen.2 Ministerpräsident Müller und CSUGeneralsekretär Thomas Goppel „haben eingeräumt, dass die Empörung im Bundesrat nicht spontan gewesen sei“. Man habe schon in der Nacht vor der BundesratsAbstimmung erfahren, „wie Wowereit sich wahrscheinlich verhalten werde“. Doch die Debatte zum angeblich inszenierten Theaterstück verschwand bald aus den Schlagzeilen. Es wurde ruhig um das Zuwanderungsgesetz – die Richter des Bundesverfassungsgerichtes sollten entscheiden, ob es im Januar 2003 in Kraft treten wird.
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Zahlreiche Zeitungsmeldungen werden in diesen Tagen zu Peter Müllers Äußerungen veröffentlicht. Die „tageszeitung“ titelt am 26. März 2002: „Union gibt zu: Es war alles Theater.“ „Saarlands Ministerpräsident: Empörung im Bundesrat war legitimes Theater“, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“ am selben Tag. 2 „Das Parlament“ vom 2. April 2002, Nummer 13-14
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60 Kilo nach zwölf Jahren Deutschland Anfang September hält Tuan die Details zur Abschiebung in den Händen.1 Auf dem Schreiben findet er kein Aktenzeichen, dafür eine E-Mail-Adresse, auslaenderwesen@(...). In neun Tagen soll die Abschiebung stattfinden. 16 Uhr müssen sie sich im Warteraum der Ausländerbehörde einfinden. Ein Vertreter der Ausländerbehörde werde sie zum Flughafen begleiten. „Mitgeführtes Reisegepäck ist mit Namen, Vornamen und der Wohnanschrift im Heimatland zu versehen.“ Maximal 20 Kilogramm Gepäck seien pro Person ab zwei Jahren erlaubt. Das Mädchen wird erst im Oktober zwei Jahre alt. Tuan, Ha und Duc Toan dürfen je 20 Kilo mitnehmen. Drei mal 20 macht 60 Kilogramm Gepäck. 60 Kilogramm für eine vierköpfige Familie. 60 Kilogramm nach rund zwölf Jahren Deutschland. Sie überlegen, was sie im Fall der Fälle einpacken sollen. Ein paar Kleider für die ersten Wochen, die Babysachen für das Mädchen, Medikamente für Duc Toan, zumindest genug Medizin für die nächsten Monate. Der fast neue Tisch in der Küche bliebe zurück. Ebenso Geschirr, die komplette Einrichtung im Wohnzimmer, das Bett im Schlafzimmer, die Waschmaschine, Duc Toans Spielsachen. Vieles erhielten sie damals vom Sozialamt, von Freunden und mit Hilfe von Pfarrer Schmidt. Manches haben sie aber auch mit dem ersten selbst verdienten Geld gekauft.
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Schreiben vom 6. September 2002
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Den kompletten Hausstand würden sie in Altlandsberg zurücklassen. Um Duc Toans Spielsachen oder Bücher zu transportieren, müssten sie ein kleines Vermögen aufbringen. Jedes Kilogramm, das die 60er Marke überschreitet, wird Geld kosten – im Brief der Ausländerbehörde liest Tuan wie viel. Für „darüber hinausgehende Gepäckmengen erheben die Fluggesellschaften Gebühren, ca. 30,00 Euro pro Kg, diese sind durch Sie selbst zu tragen“. 20 Bücher wiegen 14 Kilogramm, das macht 420 Euro Transportkosten. Die Lieblingsspielsachen bringen noch einmal zehn Kilo auf die Waage – 300 Euro. Wenn er auf ein paar der Spielzeugautos und Plastikfiguren verzichtet, knapp fünf Kilo – 150 Euro. Doch um das Gepäck machen sie sich am wenigsten Sorgen. Der Pfarrer will es noch immer nicht so weit kommen lassen. Er sucht sieben Tage vor der angekündigten Abschiebung nochmals den Ministerpräsidenten auf. Der hat inzwischen einen neuen Namen. Manfred Stolpe ist vor den Bundestagswahlen abgetreten. Matthias Platzeck ist sein Nachfolger. Stolpe erklärte bei einem Landesparteitag der SPD seinen Rücktritt. Nicht wenige vermuteten damals, jüngste Äußerungen des Bundespräsidenten hätten dabei eine Rolle gespielt. Johannes Rau kritisierte unter anderem das Verhalten von Stolpe bei der Abstimmung im Bundesrat zum Zuwanderungsgesetz.1 Rau erklärte: „Ich rüge das Verhalten des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg und seines Stellvertreters. Ich rüge und ermahne aber auch alle
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Veröffentlichung des Bundespräsidialamtes vom 20. Juni 2002.
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übrigen, die zu diesem Ansehensverlust beigetragen haben.“ Stolpe bestreitet einen Zusammenhang. „An der Spitze der Regierung sollten wir einen Generationswechsel vollziehen“, zitiert die Nachrichtenagentur „dpa“ Stolpes Entscheidung.1 Auch sein Nachfolger Platzeck betont gegenüber Reportern, der Stabwechsel sei seit langem geplant gewesen.2 Pfarrer Schmidt passt den neuen Landeschef in Libbenichen ab. Am Tag des offenen Denkmals schaut sich Platzeck mit einer Gruppe Reportern und Besuchern das historische Windrad der Gemeinde an. Der Pfarrer hat in den vergangenen Tagen oft an das letzte Treffen mit einem Ministerpräsidenten gedacht. Es dauerte knapp zwei Minuten. Kaum einer der am Gespräch Beteiligten brachte einen Satz zu Ende. Er selbst kam gar nicht zu Wort. Zum Schluss radelte der Ministerpräsident mit einem roten Tretboot davon. Statt des versprochenen persönlichen Gespräches gab es eine schriftliche Absage. Platzeck kommt in seine Nähe. Pfarrer Schmidt nutzt die Chance und läuft auf ihn zu, beide begrüßen sich kurz. Der Pfarrer drückt dem Ministerpräsidenten einen Hefter in die Hand. Danach geht Platzeck weiter und Schmidt nach Hause. Er hatte den Hefter am Tag zuvor angefertigt. Darin enthalten sind Kopien von Zeitungsausschnitten, von Briefen und einige persönliche Zeilen an den neuen Ministerpräsidenten. „Ich möchte Sie herzlich bitten, sich der bedrückenden Problematik dieser Familie anzunehmen 1
„Deutsche Presse-Agentur“ („dpa“) vom 22. Juni 2000 Details dazu veröffentlicht unter anderem die „Süddeutsche Zeitung“ vom 24. Juni 2002.
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und auf eine positive Lösung hinzuwirken. Noch sind es vier Menschen unserer Landes Brandenburg.“ Eine Reaktion bleibt zunächst aus. Pfarrer Schmidt stellt sich inzwischen wieder einmal auf ein neues Kirchenasyl ein. Er räumt ein paar Kisten aus dem Gästezimmer, das ohne Gäste als Abstellraum dient. Birgit Schmidt bezieht das Bett und spricht mit den Kindern darüber, dass sie bald wieder Besuch bekommen würden. Marie-Luise freut sich schon auf Duc Toan. Der Pfarrer spricht mit seiner Frau und Sabine Grauel über die Gestaltung des Kirchenasyls. Mahnwachen, Unterschriftenaktionen und einen Fürbittegottesdienst erzielten damals nur einen Teilerfolg – es gab eine Verlängerung der Duldung, aber kein Bleiberecht. Am späteren Abend hat er eine Idee. Er würde während des Kirchenasyls in den Hungerstreik gehen. Seine Frau überlegt, wie sie gemeinsam hungern könnten, ohne dabei die Kinder zu vernachlässigen. Sie wollen so lange nichts essen, bis der Landrat Familie Nguyen eine neue Duldung erteilt. Zum Hungerstreik kommt es nicht. Drei Tage vor der nahenden Abschiebung entscheidet der Landrat, dass die Familie bleiben kann. Wieso und wie lange, das lässt Reinking seinen Pressesprecher Jürgen Krüger der „Märkischen Oderzeitung“ erzählen.1 „Aus humanitären Gründen hat der Landrat die Duldung der Familie bis zum 24. Januar 2003 verlängert.“ Pfarrer Schmidt entdeckt im zweiten Abschnitt der zweiten Spalte des Zeitungsberichts, dass die Übergabe seines Hefters vor dem Windrad doch Erfolg gehabt haben 1
„Märkische Oderzeitung“ vom 13. September 2002
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könnte. „Die gestrige Entscheidung sei nach mehreren Gesprächen mit Ministerpräsident Matthias Platzeck getroffen worden, machte Krüger deutlich.“ In dem Artikel ist auch vom neuen Zuwanderungsgesetz zu lesen. „Sollte dann eine Entscheidung aus humanitären Gründen möglich sein, habe der Kreis andere Gesetzesgrundlagen zum Handeln, so der Pressesprecher.“ Nicht nur Sabine Grauel kann sich an andere Äußerungen zum Thema erinnern. * Das Gästezimmer bleibt somit leer. Marie-Luise muss auf ihren Spielkameraden Duc Toan verzichten. Die Familie könne jetzt endgültig bleiben. Darin ist sich Olaf Schmidt nach den jüngsten Äußerungen aus dem Landratsamt so sicher wie schon seit Monaten nicht mehr. Er wartet auf Januar, auf das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes. Er gehört bald zu den wenigen der Unterstützergruppe, die daran noch glauben. In den Tagen vor Weihnachten berichten die Medien, dass das neue Gesetz wohl nie in Kraft treten wird. Das Bundesverfassungsgericht beschäftigt sich zwar noch damit. Doch Gerüchte sind seit Tagen im Umlauf, wonach die Karlsruher Richter das Gesetz für nichtig erklären werden. Über das Verhalten in Karlsruhe können die Medienleute nur spekulieren – klarer zu erkennen ist Schönbohms Haltung zum Zuwanderungsgesetz. Nicht nur sein Verhalten im Bundesrat spricht Bände. Im November druckte die „Junge Freiheit“ ein Interview mit dem
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brandenburgischen Innenminister ab.1 Zuwanderung müsse sich „am nationalen Interesse orientieren“. Schon deshalb sei das „rot-grüne Zuwanderungsgesetz völlig unausgereift“. „Es ist eine Verschränkung aus 68erIdeologie und der linken Irrlehre des Multikulturalismus.“ Als Pfarrer Schmidt von Schönbohms jüngsten Äußerungen hört, reagiert er gelassen. Ihm sind seit dem Kirchenasyl die Ansichten des Innenministers wohl vertraut. Doch weder Schönbohm noch die Gerüchte um die Gerichtsentscheidung nehmen ihm den Optimismus – bis zum letzten Augenblick glaubt der Pfarrer an das Inkrafttreten des Gesetzes: Er wartet bis zur Urteilsverkündung. Sabine Grauel versucht ihn mehrfach, vom Gegenteil zu überzeugen, doch er lässt sich davon nicht abbringen. Der Unterstützerkreis von Familie Nguyen sammelt inzwischen weitere Unterlagen. Sie wollen noch mehr Beweise dafür finden, dass die Familie von Anfang an um Arbeit bemüht war. Sie wollen bei einem Scheitern des Zuwanderungsgesetzes nicht mit leeren Händen dastehen. Und sie wollen noch mehr Material vorzeigen als bei den letzten Gesprächen und Schreiben. Sie wissen, dass das, was die Familie jetzt leistet, weder die Ausländerbehörde noch das Innenministerium interessiert. Es geht bei der Entscheidung um ein Bleiberecht um die Zeit davor. Deswegen suchen sie dort nach undichten Stellen und versuchen, diese zu begründen. Has Antrag auf Arbeitsgenehmigung vom November 1999 betraf zum Beispiel eine Beschäftigung, die nur einige Stunden pro Tag beanspruchte. Die Absicherung des Lebensunterhaltes wäre mit dieser Arbeit nicht gesichert 1
„Junge Freiheit“ Nummer 47/2002 vom 2. November 2002
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gewesen. Daher sammeln sie weitere Argumente für das Bemühen der Familie um Arbeit. Der Heimleiter des Flüchtlingsheimes verfasst in diesem Zusammenhang ein neues und nach Ansicht von Olaf Schmidt vor allem wichtiges Schreiben.1 „Wir als Heimleitung (...) können bestätigen, dass die Familie Nguyen ständig bemüht war, Arbeitsmöglichkeiten zu suchen. Leider war und ist es in unserer Region, bedingt durch die hohe Arbeitslosigkeit der deutschen Bevölkerung, so gut wie unmöglich, über das Arbeitsamt eine Beschäftigung im Landkreis (...), in dem sie zur damaligen Zeit nur hätten arbeiten dürfen, zu erhalten.“ Familie Nguyen sei zudem kein Einzelfall. Darauf macht er im nächsten Satz aufmerksam. „Unsere Erfahrungen sagen, dass bis zur Einführung der Altfallregelung für Asylbewerber so gut wie keine Arbeitserlaubnisse vom Arbeitsamt erteilt wurden.“ Viele Flüchtlinge hatten demnach gar keine Chance, zu einem so genannten Altfall zu werden. Es hätte in diesem Zusammenhang Bearbeitungsfristen von „mehreren Wochen, gar Monaten“ gegeben. Die Unterstützer finden zudem schriftliche Zusagen von Imbiss-Inhabern. Danach hätten Ha und Tuan weit vor November 1999 nach einer Arbeitsstelle bei ihnen persönlich nachgefragt. „Ich hätte Herrn Nguyen an meinem Imbissstand beschäftigt, wenn er eine gültige Arbeitserlaubnis gehabt hätte. Er hätte im August 1999 bei mir Arbeit als Imbissverkäufer bekommen und ca. 1200 DM
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Schreiben vom 16. September 2002
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brutto verdienen können“, schrieb einer der Inhaber.1 „Im Juni 1999 fragte Frau Hoang Thanh Ha bei mir wegen einer Arbeitsstelle nach. Leider konnte ich sie nicht einstellen, da sie keine Arbeitserlaubnis hatte“, erklärte ein anderer.2 Die Unterstützergruppe bittet einen Sozialarbeiter des Diakonischen Werkes in Potsdam um eine schriftliche Stellungnahme. Er berichtet daraufhin von seinen Erfahrungen zum Thema.3 „Wir können Ihnen bestätigen, dass uns durch unsere Arbeit mit Flüchtlingen im Land Brandenburg im Jahr 2001 mehrere Entscheidungen von Ausländerbehörden bekannt geworden sind, in denen ohne Nachweis von Arbeitsbemühungen, jedoch aber auf Grund des Nachweises eines Einstellungswunsches des Arbeitgebers eine vorläufige Aufenthaltsbefugnis erteilt worden ist.“ Einstellungswünsche für Familie Nguyen äußerten zum Beispiel die Imbiss-Betreiber – darauf wollen die Unterstützer bei einem Scheitern des Gesetzes aufmerksam machen. Allen Flüchtlingen sei nach Angaben des Sozialarbeiters ein mehr als sechsjähriger Aufenthalt in Deutschland gemeinsam gewesen. Sie erhielten nach dessen Worten eine Arbeitsgenehmigung – die unterschiedlichen Entscheidungen der Ausländerbehörde machten das
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Schreiben vom 14. Februar 2002. Es handelt sich um den Imbissbesitzer, bei dem Tuan umgehend nach dem Erhalt der Arbeitserlaubnis eine Arbeit aufnahm. 2 Schreiben vom 14. Februar 2002. Es heißt darin weiter: „Mit einer Arbeitserlaubnis würde ich auch gegenwärtig Frau Ha gern in meiner Firma anstellen.“ 3 Schreiben vom 7. August 2002
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möglich. „Allen Flüchtlingen ist es dadurch gelungen, aus dem Bezug von Sozialhilfe zu kommen.“ * Ende Dezember passiert das, was Pfarrer Schmidt nicht glauben wollte. Das Bundesverfassungsgericht trifft eine Entscheidung: Das Zuwanderungsgesetz ist nichtig. Daran schuld ist nicht der Inhalt des Gesetzes, sondern sein Zustandekommen.1 Es wird somit im Januar nicht in Kraft treten. Entweder erst irgendwann nach zähen Verhandlungen oder nie. Olaf Schmidt hört im Radio davon, Familie Nguyen sieht es in den Fernsehnachrichten. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schreibt:2 „Die Mehrheit der Richter ist der Ansicht, Brandenburg habe seine vier Stimmen in der Ländervertretung nicht einheitlich abgegeben, wie es das Grundgesetz vorschreibt.“
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In der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichtes vom 18. Dezember 2002 steht: „Es ist wegen der in ihm enthaltenen Bestimmungen über das Verwaltungsverfahren ein so genanntes zustimmungspflichtiges Gesetz, das jedoch im Bundesrat nicht die erforderliche Mehrheit der Stimmen erhalten hat.“ 2 „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 19. Dezember 2002
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Zwischen Wartemarken und Träumen Ende Januar 2003 besucht Pfarrer Schmidt zusammen mit Tuan die Ausländerbehörde. Das Ergebnis dieses Treffens vermeldet die Nachrichtenagentur „epd“ am selben Tag.1 „Die seit mehr als zehn Jahren in Brandenburg lebende und nach einem Kirchenasyl bundesweit bekannt gewordene vietnamesische Familie Nguyen hat erneut kein dauerhaftes Bleiberecht erhalten.“ Die Behörden verlängerten die Duldung um weitere drei Monate. Die Treffen in der Behörde laufen immer gleich ab. Hinfahren, im Gang warten, aufgerufen werden, eintreten, „Guten Tag“ sagen, sich hinsetzen, ein neues hellgrünes Stück Papier empfangen, aufstehen, „Auf Wiedersehen“ sagen, rausgehen, den Gang entlang laufen, nach Hause fahren. Längere Gespräche gibt es bei diesem behördlichen Routine-Akt schon seit einiger Zeit nicht mehr. Auch dem Pfarrer ist irgendwann die Lust am Diskutieren vergangen. In diesen Tagen hört er von einem neuen Kirchenasyl im brandenburgischen Schwante. Er erfährt davon erst, nachdem das Kirchenasyl mit einem Polizeieinsatz beendet werden sollte. Drei Polizisten wollten einen fünfjährigen Vietnamesen und seinen 48-jährigen Vater im Pfarrhaus festnehmen. Die Beamten fanden weder Sohn noch Vater vor. „Die Zeit“ berichtet unter der Überschrift „Der Geist von Schwante“ über den Eingriff der Polizei.2 Die Wochenzeitung bringt den Einsatz in Verbindung mit der Vergangenheit des Ortes. Im Pfarrhaus von Schwante sei 1 2
„Evangelischer Presse Dienst“ („epd“) am 20. Januar 2003 „Die Zeit“ vom 9. Januar 2003
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am 7. Oktober 1989 konspirativ die Ost-SPD gegründet worden. Der Landrat des dortigen Kreises, Karl-Heinz Schröter, habe zu den frühen Mitgliedern der Partei gehört. „Im Morgengrauen (...) schickte Schröter nun die Polizei ins Schwanter Pfarrhaus, um zwei Kirchenasylanten verhaften zu lassen (...).“ Der Bruch des Kirchenasyls durch Polizeigewalt sorgt für harsche Kritik. Ein Leser der „Berliner Zeitung“ blickt bei seinem Leserbrief in die Geschichte zurück.1 „Die Brandenburger Polizei mag sich auf die Schulter klopfen, schlussendlich wird sie sich gefallen lassen müssen, in ihrem Vorgehen mit Nazis und Stalinisten verglichen zu werden. Diese waren die einzigen im vergangenen Jahrhundert, die es in Deutschland wagten, den Schutzraum Kirche zu verletzen.“ Schwante verschwindet bald aus den Schlagzeilen, aber nicht aus den Köpfen der Unterstützer von Familie Nguyen. Bürgermeister Ravindra Gujjula spricht mit Pfarrer Schmidt über ein Kirchenasyl in Altlandsberg. Dann redet er mit dem Pfarrer seiner Stadt. Gujjula nennt in dem Gespräch den Abschiebetermin für Familie Nguyen. Der stehe wieder unmittelbar bevor. Altlandsbergs Pfarrer und Bürgermeister sind nicht immer derselben Meinung, doch dieses Mal schon. Der Pfarrer lässt zwei Zimmer im Pfarrhaus renovieren. Das Ereignis von Schwante macht ihnen Kummer – dennoch bereiten sie alles für ein Kirchenasyl vor. Gujjula spricht mit einigen Bürgern darüber. Die meisten kennen inzwischen Familie Nguyen. Einige haben in der Zeitung von ihnen gelesen, andere haben die 1
„Berliner Zeitung“ vom 11. Januar 2003
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Familie zum ersten Mal bei einem kleinen Auftritt während eines Festes in der Stadthalle gesehen. Manche essen regelmäßig im Imbiss, in dem Tuan arbeitet, zu Mittag. Gujjula findet umgehend Mithelfer für das bevorstehende Kirchenasyl. Mitglieder eines Seniorenvereins stellen einen Plan auf, wer zu welcher Zeit sich um die Familie kümmern wird. Andere bereiten sich auf Aktionen vor, mit denen sie auf das Kirchenasyl aufmerksam machen wollen. Während die Altlandsberger mit dem Schlimmsten rechnen, sitzen Pfarrer Schmidt und Tuan im Warteraum der Ausländerbehörde. Der schmale Raum zieht sich in die Länge. Die eine Seite ist weiß gestrichen, auf der anderen klebt eine gleichfarbige Tapete. An die gelöcherten Platten an der Decke sind Neonröhren geschraubt. Wartende sitzen auf drei roten Metallbänken. Irgendwo dazwischen steht ein heller Blechmülleimer. Auf einem kleinen quadratischen Tisch liegen manchmal Reste einer ausgelesenen Zeitung. Eine weiße Tür befindet sich am Ende des Raumes; sie führt ins Büro. Jemand hat mit durchsichtigem Klebeband einen Zettel an die Tür befestigt, die Sprechzeiten. Links neben dem Türrahmen hängt ein hellgrauer Kasten mit der Aufschrift „Wartemarken“. Wer den silbernen Knopf drückt, erhält eine Marke. Eine Leuchtdiode zeigt an, ob das Gerät funktioniert. Ein paar Zentimeter über dem Eingang hängt ein dunkelgrauer Kasten, der die Nummern der Wartemarken anzeigt. An diesem Tag ist wenig los – die Geräte sind ausgeschaltet, nichts leuchtet. Wenn die Behörde die Duldung nicht verlängert, dann will Olaf Schmidt am Abend beim Umzug zu dem 197
Altlandsberger Pfarrer helfen. Sein eigenes Gästezimmer hat er dann zwar umsonst freigehalten, doch das bereitet ihm am wenigsten Sorgen. Manchmal warten sie zehn Minuten vor der Tür, selten bis zu 30. Beim Warten haben sie Zeit zum Sprechen. Pfarrer Schmidt fragte Tuan einmal, ob er für die Zukunft Träume habe. Ja. Und was für welche? Er wolle mit Ha einen eigenen Imbiss aufmachen. Wo? Egal wo, irgendwo in Deutschland, irgendwo, wo seine Familie eine Zukunft habe. Er träume davon, seinen Vater und seine Mutter zu besuchen. Vor 17 Jahren habe er Vietnam verlassen, seither habe er seine Eltern nur auf Bildern gesehen. Mit einem Bleiberecht in Deutschland dürfe er einreisen und wieder ausreisen. Und er träume davon, seinen Sohn in einigen Jahren an einer Universität zu sehen. Pfarrer Schmidt und Tuan sind an der Reihe. Sie gehen über die Türschwelle, vor der ein gelbschwarz gestreiftes Klebeband warnt. Dann treten sie in das Büro der Ausländerbehörde. Ein paar Augenblicke später verlassen sie das Zimmer wieder. Sie laufen durch den schmalen Warteraum am Blechmülleimer und dem hellgrauen Kasten mit den Wartemarken vorbei, den Flur entlang, raus aus dem Gebäude zum Parkplatz. Die Behörde hat die Duldung um ein paar weitere Monate verlängert.
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Epilog Has Mutter wohnt am Stadtrand von Hanoi. Sie lebt zusammen mit ihrem Sohn, seiner Frau und deren Kind in einer 45-Quadratmeter-Wohnung. Has Mutter bekommt umgerechnet 20 Euro Rente im Monat. Das Essen bereitet sie vor der Haustür auf einem Gaskocher zu. Wäscheleinen sind von dem mehrgeschossigen Wohnblock zur gegenüberliegenden unverputzten Mauer gespannt. Über den Vietnamkrieg spricht hier kaum jemand mehr. Er ist vor über 25 Jahren zu Ende gegangen. Vielen Menschen geht es heute um einen anderen Kampf – den Kampf ums Überleben. An die Kriegsjahre wurde Has Mutter dennoch vor einem Jahr zurückerinnert. Sie erhielt eine Nachricht vom Militär. Soldaten hätten die Überreste ihres Mannes gefunden, die Knochen von Has Vater. Er sei 1969 in Kambodscha gefallen, keiner wisse Genaueres.1 Über 30 Jahre wartete Has Mutter auf ein Zeichen. Hoffnung hatte sie keine mehr, nur Ungewissheit. Nun hatte sie Gewissheit. Die Überreste von Has Vater wurden ein paar Tage später auf dem Soldatenfriedhof von Thanh Hoa beigesetzt. Einige Wochen später erhielten Ha und Tuan ein Foto von der Beisetzung.
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BBC News Online berichtete am 8. Juli 2002 über neue Rückführungen von sterblichen Überresten. Es soll sich um Soldaten handeln, die bei der vietnamesischen Invasion in Kambodscha 1979 ums Leben kamen. Vermutlich stießen sie hier auf die Überreste von Has Vater, der seit 1969 als vermisst galt.
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Danksagung Ein besonderes Dankeschön geht an Dr. Ümit Yazicioglu, der mich auf den Fall aufmerksam machte. Er hatte die Idee, darüber ein Buch zu schreiben. Ines, Katja und Kristin danke ich für das Lesen des Manuskriptes und die vielen wichtigen Anregungen. Hong-Phuc sage ich herzlichen Dank für die Hilfe beim Übersetzen vietnamesischer Texte. Ihm danke ich besonders für den Einblick in das Leben der Vietnamesen, für die Deutschland zur Heimat wurde oder schon immer war. Hoang-Yen habe ich zu danken für die sprachmittlerische Hilfe kurz vor Redaktionsschluss. An Rechtsanwalt Klemens Kruse (Deutscher Journalisten-Verband, Berlin) geht ein großes Dankeschön für die Beantwortung der rechtlichen Fragen zur Buchveröffentlichung. Meiner Lektorin Anne Voggenreiter danke ich für die ausgezeichnete Zusammenarbeit. Die Veröffentlichung längere Textstellen von Zeitungsund Agenturmeldungen wurde von den betreffenden Verlagen freundlicherweise genehmigt.
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Literatur zum Kirchenasyl Bei der folgenden Liste handelt es sich um eine Auswahl – sie ist nach Erscheinungsdatum sortiert. Manche der Bücher werden heute nicht mehr verlegt. In größeren Bibliotheken sind jedoch alle noch zu finden. Just, Wolf-Dieter / Sträter, Beate (Herausgeber): Kirchenasyl. Ein Handbuch, Karlsruhe: von Loeper Literaturverlag, 2003 Grefen, Jochen: Kirchenasyl im Rechtsstaat. Christliche Beistandspflicht und staatliche Flüchtlingspolitik. Kirchenrechtliche und verfassungsrechtliche Untersuchung zum so genannten Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin: Duncker & Humblot, 2001 Görisch, Christoph: Kirchenasyl und staatliches Recht, Berlin: Duncker & Humblot, 2000 Schultz-Süchting, Nikolaus: Kirchenasyl. Zeitgeschichtliche und rechtliche Aspekte, Frankfurt am Main: Peter Lang, 2000 Müller, Markus H.: Rechtsprobleme beim „Kirchenasyl“, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 1999 Bell, Roland / Skibitzki, Frieder: „Kirchenasyl“ – Affront gegen den Rechtsstaat?, Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz, 1998
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Stukenborg, Gabriela: Kirchenasyl in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Sanctuary-Bewegung in tatsächlicher und normativer Hinsicht, Berlin: Duncker und Humblot, 1998 Siegmund, Andreas: Verfassungsrechtliche Aspekte des Kirchenasyls. Ziviler Ungehorsam, Art. 4 GG und die Ombudsfunktion der Kirche, Konstanz: Hartung-Gorre Verlag, 1997 Guth, Hans-Jürgen / Rappenecker, Monika (Herausgeber): Kirchenasyl. Probleme – Konzepte – Erfahrungen, Mössingen-Talheim: Talheimer Verlag, 1996 Pilgram, Martin (Herausgeber): Wir wollen, dass ihr bleiben könnt. Kirchenasyl in Gilching – Ein Beispiel, Idstein: Komzi Verlag, 1995 Barwig, Klaus / Bauer, Dieter R. (Herausgeber): Asyl am Heiligen Ort. Sanctuary und Kirchenasyl. Vom Rechtsanspruch zur ethischen Verpflichtung, Ostfildern: Schwabenverlag, 1994 Just, Wolf-Dieter (Herausgeber): Asyl von unten. Kirchenasyl und ziviler Ungehorsam – Ein Ratgeber, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1993
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Fotos, Leserbriefe, Pressestimmen im Internet unter ... www.asylimnamendesvaters.de
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