Zur Bedeutung der Gefühle im Buddhismus Autor: Asanga
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Zur Bedeutung der Gefühle im Buddhismus Autor: Asanga
In unserer Welt zunehmender Gefühlsverarmung und -verflachung sowie emotionaler Verwundungen haben westliche Psychologen auf die Bedeutung von Gefühlen für das Leben des Menschen aufmerksam gemacht. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts kam C. G. Jung zu dem Ergebnis, dass Gefühle eine der vier Hauptfunktionen darstellen, mit denen sich ein Mensch in der Welt orientiert und zum Handeln veranlasst wird. Psychotherapeuten wie Janov und Cathriel haben emotionale Therapieformen entwickelt, bei denen Verletzungen des Gefühls aufgearbeitet werden sollen. Und in seinem Bestseller Emotionale Intelligenz stellte Goleman [1] die These auf, dass es nichts nutzt, intelligent zu sein, „wenn man ein emotionaler Trottel ist“. Viele europäische Buddhisten kamen zum Buddhismus aus scheinbar rationalen Gründen. Sie wurden angezogen von einer Religion, die etwas Besonderes unter den Weltreligionen darstellt, indem sie ohne das Konstrukt eines Schöpfergottes auskommt. Viele hatten Schwierigkeiten gehabt mit dem christlichen Gottesbild und fühlen sich wohler in einer Religion, die nicht daran gebunden ist, dass uns irgendein Gott etwas vorschreibt, Wohlverhalten verlangt oder einen bestimmten Glauben von uns fordert. Und so erscheint der Buddhismus als eine sehr rationale Religion mit seiner Analyse des Ungenügenden, Unbefriedigenden (dukkha), den Ursachen, die zur Verhaftung am Ungenügenden führen und deren Aufhebung mit dem achtfachen Pfad, der mit der vollkommenen Ansicht beginnt. Aber schon in dieser Art von Hinwendung zum Buddhismus ist ein emotionaler Befreiungsakt verborgen: Die Ablösung von einem uns gängelnden, einengenden Gotteskomplex hin zu Selbstverantwortung und Selbstbestimmung. Wenn von „Ansicht“ als Anfang des buddhistischen Heilsweges gesprochen wird, so meinen viele, dass es sich herbei zunächst um eine intellektuelle Erkenntnis handele. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass auch hier bereits gefühlsmäßige Komponenten eine entscheidende Rolle spielen: Wir sind im Lauf des Lebens enttäuscht worden und so zu der Überzeugung gelangt, dass das gewöhnliche Leben letztlich Ungenügen und Leiden beinhaltet. Wir haben emotionale Verwundungen im Leben davongetragen und leiden darunter, keinen Zugang zum Transzendenten, Transpersonalen zu finden. Das alles hat mit Gefühl zu tun. Insofern steht am Anfang unseres Weges als westliche Buddhisten immer auch die Erfahrung, dass in unserem Leben etwas nicht ganz stimmt und wir uns auf einen spirituellen Weg machen sollten, weil all das, was uns zuvor im Leben begegnete, keinen dauerhaften Frieden, keine innere Ruhe oder keinen Zugang zum Unbegrenzten bietet. Wenn wir uns die Legenden, die sich um den historischen Buddha Shakyamuni ranken, anschauen, so beginnen die Wege seines inneren Aufbruchs mit emotionalen Erlebnissen. Das erste davon wird in eine unendlich ferne Vergangenheit gerückt: Vor zahllosen Weltperioden lebte der Buddha Dipankara, und – begeistert von seiner Lehre, Erscheinung und Persönlichkeit – beschloss der Jüngling Sumedha, einstmals ein Buddha zu werden. Die Jatakas über die früheren Leben des Buddha Shakyamuni erzählen in ergreifenden Geschichten, wie sich der Bodhisattva durch unzählige Leben der Meditation und im Dienste anderer Wesen auf die Erleuchtung als Buddha vorbereitet. Es ist hier nicht entscheidend, ob diese Geschichten „wahr“ sind, sondern hier wird auf eine das Gemüt ansprechende Weise dargestellt, wie der Weg zu Erleuchtung aussieht – wie lange es auch dauern mag. Wenn wir uns nun das Leben und die Legenden des historischen Buddha anschauen [2], so beginnt er seinen Weg vom Königssohn und Prinzen hin zur Buddhaschaft ebenfalls mit emotionalen Erlebnissen. Aus der Geborgenheit und relativen Sicherheit des Königshofes heraus soll er auf vier Ausfahrten mit Alter, Krankheit, Tod und schließlich auch mit einem Wandermönch in Berührung gekommen sein (diese Ausfahrten sind sicherlich symbolisch zu verstehen). Er wurde durch diese Erlebnisse tief erschüttert über das Ungenügen des Lebens und die Schalheit seines Lebens in Luxus. Der Anfang seines inneren Weges beginnt nach der Legende also mit einer emotionalen und nicht mit einer intellektuellen Erkenntnis. Dies erscheint mir im Kern nicht sehr weit entfernt von unseren eigenen Lebenserfahrungen, wie ich sie oben beschrieben habe.
Das zweite große emotionale Erlebnis hatte er offenbar noch früher, möglicherweise noch in der Pubertät: Während des Festes der Getreideaussaat wandte er sich ab – der lauten Menschenmenge überdrüssig –, setzte sich unter einen Rosenapfelbaum und verfiel in tiefe Meditation. Niemand in diesem Leben hatte ihm gezeigt, wie man meditiert. Und dennoch geriet er in tiefe Versenkungszustände. Fromme orthodoxe Buddhisten würden hier natürlich sofort darauf aufmerksam machen, dass der Buddha schon in vorausgegangenen Leben Meditationserfahrung gewonnen hatte. Aber ist es nicht vielleicht überhaupt eine strukturelle Möglichkeit menschlichen Bewusstseins, in Meditationszustände spontan zu kommen, wenn wir – vielleicht zufällig – uns vom lärmenden Treiben abgewandt haben? Es ist psychologisch interessant, dass er offenbar dieses Erlebnis völlig vergaß, als er heiratete und ihm ein Sohn geboren wurde. Erst nachdem er sieben Jahre durch Nordindien gezogen war und die Lehren der berühmtesten Yoga-Meister seiner Zeit kennen gelernt hatte, ohne Erleuchtung zu erlangen, besann er sich auf dieses RosenapfelbaumErlebnis und erkannte es als Anfangspunkt eines eigenen Weges. Nachdem er alles gelernt hatte, was er von anderen lernen konnte, vertraute er letztlich seiner Emotion und Intuition. Auf die Bedeutung des Rosenapfelbaum-Erlebnisses hat Lama Govinda aufmerksam gemacht [2]. Doch dann geschieht etwas, was mythologisch zu verstehen ist: Nachdem er sich unter dem Bodhibaum niederlässt, kommt der Herr des Todes, Mara, und sagt, er habe kein Recht, dort zu sitzen, weil er keine Basis auf der Erde habe. Da ruft der Buddha die Erdgöttin an, die aufsteigt und bezeugt, dass er das Recht besitze, weil er sich durch viele Leben hindurch um Erleuchtung und Befreiung bemüht habe. Das bedeutet, dass der Buddha (und auch wir, wenn wir den inneren Weg gehen wollen) sich seiner Vergangenheit bewusst werden musste. Er wandte sich den Kräften der Erde, der Mütterlichkeit, des nagenden Grundes zu. Dies ist etwas, was viele vergessen, wenn sie intellektuell versuchen, den Buddha-Dharma zu durchdringen, ohne auf ihr eigenes Geprägtsein und Gewordensein sowie die Erfahrungen der Vergangenheit zurückzugreifen. Die Erfahrungen unseres Lebens – oder der Leben, die wir bereits hinter uns haben – sind Teil unseres Weges. Erst aus der Fülle des Sich-Erinnerns und Erlebens des Vergangenen kann das Neue, über die Welt Hinausgehende erwachsen. Wichtig ist mir an diesem alten Mythos, dass jeder seinen eigenen Weg zum Dharma auf der Basis seiner eigenen Vergangenheit und Geprägtheit finden kann, und dass wir einerseits (der „negative Aspekt“) erkennen, dass vieles in unserem Leben begrenzt, leidvoll, ungenügend und unbefriedigend ist. Der andere, positive Aspekt, der aber hinzukommen muss, ist, dass es einen Weg gibt und dass wir bereits selbst Augenblicke der inneren Stille schon gekannt haben. Jeder von uns hat „Rosenapfelbaum-Erlebnisse“ gehabt. Maslow nannte sie „Gipfelerlebnisse”. Aber so wie der Buddha vergessen wir diese oft und erinnern uns lange nicht daran. Schon als Kind können wir z.B. von Naturerlebnissen bewegt gewesen sein beim Anblick eines Sonnenaufganges, des Meeres oder des Waldes. Oder das erste frische Verliebtsein, bei dem wir nicht nur dem geliebten Menschen gegenüber geöffnet waren, sondern die ganze Welt umarmen konnten in einem Gefühl, wie auf Wolken getragen zu sein. Darin deutet es sich an, wie es sich anfühlen könnte, über die Grenzen des eigenen Ichs zu gehen. Andere erleben Momente der Stille und der inneren Ruhe und Kraft in Situationen äußerster Verzweiflung und Trauer. Auch dies sind „Rosenapfelbaum-Erlebnisse“. Diese frühen Erlebnisse und Erfahrungen können Ausgangspunkte eines meditativen Weges werden, wenn wir uns ihrer erinnern. Es ist aber ein Unterschied, ob ich Augenblicke der Stille und der Ruhe und Beglückung in der Liebe erfahren habe, im Anblick eines Sonnenunterganges, in der Trauer um einen geliebten Menschen oder in der Musik. Im ersteren Falle könnte z.B. maitri bhavana ein Ausgangspunkt der Meditation sein, im zweiten meditative Schaubildentfaltung, im dritten Satipathana-vipassana und im vierten Mantra-Meditation. Ein weiterer emotional wichtiger Aspekt unseres Weges ist, dass wir über die eigenen Begrenzungen hinaus gehen und unsere Erkenntnisse, unsere Liebe auch anderen Wesen zur Verfügung stellen und entgegen bringen, so wie es der Buddha nach seinem eigenen Erleuchtungserlebnis tat. Es war dieser Aspekt, der seinen klarsten Ausdruck in der Entfaltung des Mahayana-Buddhismus fand.
Die Bedeutung der Gefühle nach dem Abhidhamma Die Gruppe der Gefühle und Empfindungen (vedana) ist eine der fünf khandas, eine der fünf Hauptgruppen, die die Persönlichkeit des Menschen bilden. Die fünf khandas sind: die Form, der Körper (rupa); die zweite große Gruppe ist der Bereich der Wahrnehmung (sañña); der dritte der Bereich der Gefühle und Empfindungen (vedana); der vierte Bereich umfasst den Bereich des Unbewussten (sankhara, Geistesformationen); und der fünfte das Bewusstsein (viññana). Somit stellt der Bereich der Gefühle einen großen Anteil an dem dar, was uns Menschen ausmacht. Wir sollten uns daher bewusst sein, dass Gefühle ein wichtiger Teilaspekt in unsere Persönlichkeit sind. Es soll hier darauf aufmerksam gemacht werden, dass selbst in den trockenen Abhidhamma-Texten von 121 Bewusstseinsklassen gesprochen wird und die menschlichen Gefühle so aufgeteilt werden: 63 Bewusstseinsstufen sind freudvoll, 55 sozusagen neutraler Natur und nur 3 leidvoll [3]. Es darf jedoch auch nicht verschwiegen werden, dass in manchen Formen des Buddhismus, insbesondere in den monastischen Traditionen, den Gefühlen ein gewisses Misstrauen entgegengebracht wird, in denen vedana als Empfindung verstanden wird, das Begehren entstehen lässt und damit Haften und Bindung an die Welt (vedana paccay tanha). Ich bin der Meinung, dass es um richtigen Umgang mit unseren Gefühlen geht und dass sich daran entscheidet, ob sie uns in unentwirrbare Verstrickungen führen oder unser Herz dem Leben und unseren Mitmenschen öffnen. Das Ziel kann keine kalte Indifferenz sein, bei der wir zwar nicht mehr leiden, aber auch nicht mehr am Leben teilhaben. So bemerkt Lama Govinda: „Ein Mensch, der […] keine von Liebe getragenen persönlichen Beziehungen zu irgend jemandem entwickelte, ist, so empfinde ich, selbst wenn er ein ‚vollkommener Heiliger’ wäre, der niemanden verletzt und nie üble Taten begeht, ein kaltes, monströses Wesen ohne menschliche Züge. Ich ziehe deshalb den weinenden Nanda all jenen kaltblütigen Arahats vor, die – nach dem Bericht des Parinibbana-Sutta – mit steinernen, unbewegten Gesichtern um den sterbenden Buddha herumsaßen, eingehüllt in ihre eigene Heiligkeit und Vollkommenheit. Ich würde all diese erstarrten Arahats für eine Träne Anandas hergeben, denn er war der einzige, der menschlich geblieben war, der seine menschlichen Eigenschaften ungeachtet seines tiefen Verständnisses der Buddhalehre bewahrt hatte.“ [4]
Der Umgang mit Gefühlen in einem westlichen Buddhismus – Gefahren und Chancen Die erste Gefahr, der ein westlicher Schüler des Dharma in Bezug auf die Gefühle ausgesetzt ist, besteht im Vorgang der Verdrängung. Dabei werden sogar Teile der buddhistischen Lehre in den Dienst der Abwehr von Gefühlen gestellt. Der Vorgang der Verdrängung verläuft unbewusst und hat zum Ziel, Gefühle, die unangenehm, schmerzlich oder peinlich sind, unter die Oberfläche unseres Bewusstseins rutschen zu lassen, so dass sie uns nicht mehr zu quälen scheinen. Sammeln sich jedoch zu viele dieser verdrängten Erfahrungen und Persönlichkeitsanteile im Unbewussten, so können diese dort eine Eigendynamik entwickeln und zu seelischen Störungen oder psychosomatischen Krankheitsbildern führen. Reaktionsweisen, die diesen unbewusst ablaufenden Verdrängungsprozess fördern, werden Abwehrmechanismen genannt. Zu diesen gehören z.B.: •
die Projektion: der andere, nicht ich, hat den Fehler
•
das Rationalisieren: „hervorragende“ Argumente werden für mein Handeln und Denken gefunden, wie zweifelhaft dieses auch sein mag
•
das Vergessen: ich erinnere mich tatsächlich nicht mehr bewusst an das peinliche oder verletzende Ereignis
•
das Ungeschehenmachen: die Erinnerung wird verfälscht.
Bei Schülern des Buddha-Dharma sowie bei anderen spirituell Suchenden sind es vor allem „negative“ Gefühle wie Wut, Sexualität und Narzissmus-Egoismus, die der Verdrängung anheim fallen können, wobei sogar Teile des Buddha-Dharma als Rechtfertigung (Rationalisierung) herangezogen werden. So beschließen manche z.B. Mönch oder Nonne zu werden, weil sie in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen und mit der Sexualität nicht zurecht kamen und nun meinen, aus edlen Motiven heraus den monastischen Weg zu gehen, während sie eigentlich der Auseinandersetzung mit der eigenen Beziehungsunfähigkeit und den Trieben aus dem Wege gehen. Andere Dharma-Freunde gehen mit einem Lächeln durch das Leben und meinen, keine Wut und Aggressionen mehr zu empfinden, während sie sich insgeheim und mit der Inbrunst tiefster Überzeugung – oder sogar lautstark – über die „niederen Menschen“ wie Weintrinker, Fleischesser oder andere „Lüstlinge“ empören. Wieder andere frönen unbewusst ihrem Narzissmus, indem sie scheinbar völlig selbstlos kostenlose Dharma-Unterweisungen und Meditationsunterricht abhalten „im Dienste des Bodhisattva-Ideals“, während sie sich – ihnen nicht bewusst – in der Bewunderung seitens der Anhängerinnen und Anhänger sonnen. Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um anzudeuten, wie unheilvoll sich Verdrängung für einen spirituell Suchenden auswirken kann. Der zweite Fallstrick eines spirituell suchenden Menschen besteht aus der übermäßigen Unterdrückung von Gefühlen und Eigenschaften, die der Betreffende als schädlich für sich und andere ansieht. Im Gegensatz zur unbewusst ablaufenden Verdrängung spürt hier der Dharma-Anhänger, dass diese Eigenschaften, wie z.B. Wut, Narzissmus, Sexualität oder Machtstreben als starke Faktoren in ihm vorhanden sind und beschließt nun, diese Dinge mehr oder minder gewaltsam zu unterdrücken. Geschieht das auf rigide, sich selbst gegenüber unnachgiebige Weise, so benötigt der Mensch eine ungeheure seelische Energie, um diese Bändigung der Gefühle zu bewerkstelligen. Es ist tragisch, dass gerade die ernsthaftesten spirituellen Sucher der Gefahr der Unterdrückung besonders ausgesetzt sind. Durch den ungeheuren Aufwand an seelischer Energie, die sie zu dieser Unterdrückungsleistung benötigen, um peinlichst genau die silas und z.B. tantrischen Gelübde einzuhalten, werden sie verkrampft, ungelenk, bitter ernst und eingeengt. Sie verzweifeln daran, dass sie trotz der Ernsthaftigkeit ihrer Bemühungen keine tiefer gehenden Fortschritte auf dem inneren Weg machen, für den kaum noch Kraft übrig ist. Die Unterdrückung von Gefühlen und Eigenschaften führt in der Regel nicht zu neurotischen Störungen, häufig aber zu psychosomatischen Krankheitszuständen. Ferner fördert die Unterdrückung von Gefühlen öfter einen spirituellen Narzissmus, indem der Betreffende sich als „inneren Lohn“ erhaben fühlt über die „wie Tiere lebende“ Menschheit. Eine weitere Gefahr lauert auf den spirituellen Sucher in der Auffassung vom „Aus1eben“ von Gefühlen unter der Maske von pseudoreligiösen Lehren. Im Bereich des Buddha-Dharma finden wir insbesondere zwei gefährliche Tendenzen in dieser Richtung: Die erste meint, dass ein im Dharma stehender Mensch „ganz spontan im Hier und Jetzt“ leben und agieren müsste. Unkontrolliertes und ungehemmtes Ausagieren von Gefühlen wird nach dieser Auffassung beinahe als Vorstufe der Heiligkeit gepriesen. Aus tiefenpsychologischer Sicht ist dies jedoch eine Rationalisierung, um ohne schlechtes Gewissen alles tun zu dürfen, was man sich sonst nicht zugestehen würde. Die zweite Tendenz des „Auslebens“ von Gefühlen im Bereich des Buddha-Dharma bezieht sich auf die Sexualität. Diese möchte ich als Pseudo-Tantra bezeichnen. Da wird behauptet, man könne, ja müsse, durch eine besondere Form von tantrischer Sexualität Fortschritte auf dem spirituellen Weg machen. Die Problematik und Tragik, die hierbei aufbrechen kann, hat June Campbell [5] für den Bereich des tibetischen Buddhismus ergreifend und anschaulich sichtbar gemacht. Ich denke, man muss sich darüber klar werden, dass ein solches Ausleben von Gefühlen unter der Maske des Religiösen etwas darstellt, was jegliche Chance der inneren Weiterentwicklung blockiert und eine Beziehung zum Gegenüber (sei es mit oder ohne Sexualität) blockiert. Der scheinbar sexuelle Weg des Tantra hingegen beinhaltet, dass ich in meinem eigenen Inneren die männlichen und weiblichen Seiten in Vereinigung und Einklang bringen muss, um eine innere Weiterentwicklung anzustoßen. Eine solche innere Einswerdung des Menschen kann sich im Übrigen auch in einer verbesserten Partnerschaft nach außen zeigen.
Wenn nun Verdrängung von Gefühlen zu neurotischen Störungen führt, Unterdrückung zur Verkrampfung und das unkontrollierte Ausleben uns nur weltlicher werden lässt, so stellt sich die Frage, wie wir mit unseren Gefühlen umgehen können. Der entscheidende Dreh- und Angelpunkt, um mit Gefühlen gut umgehen zu können, beginnt mit der Bewusstwerdung der Gefühle, so wie es bereits der Buddha im Prozess des Satipathana – insbesondere im Zusammenhang mit der Atemmeditation – angedeutet hat. Wir sollten lernen, sowohl in der Meditation wie auch im täglichen Leben uns unserer Gefühle bewusster zu werden, den Strom des Entstehens und Vergehens von Stimmung und Gefühlen wahrzunehmen, zu beobachten und zu erleben (die westliche Psychologie nennt dies: Metakognition der Gefühle). Wenn wir uns die Anweisungen des Majjhimanikya 118 zum meditativen Umgang mit Gefühlen, anschauen, stellen wir fest, dass der Buddha zunächst die Anweisung gibt, sich mit „positiven“ Gefühlen zu beschäftigen („heiter“, „selig“) und die Aufmerksamkeit auf ihr Entstehen und Vergehen zu richten. Andere Gefühle könnten dem Anfänger der Meditation Angst machen bzw. ihn aus der Meditation herauswerfen. Hat nun der Meditierende gelernt, seine „angenehmen“ Gefühle wahrzunehmen, wird er dann angehalten, das Entstehen und Vergehen von allen Formen von Gefühlen zu betrachten (Gedankenverbindungen wahrnehmend). Und schließlich wird der Meditierende aufgefordert, einen „besänftigenden“ Einfluss auf seine Emotionen zu nehmen. Es ist in diesem Zusammenhang bedeutsam, dass der Buddha nicht die Anweisung gibt, die Gefühle aufzulösen, wie er dies in Bezug auf Gedanken fordert („Gedanken lösend will ich einatmen… ausatmen…“). Es soll hier also in der Meditation eine gewisse Kontrolle über die Gefühle ausgeübt werden, sie werden jedoch nicht ausgelöscht oder unterdrückt [6]. Die Wahrnehmung der Gefühle sollte für uns westliche Buddhisten jedoch nicht nur auf unsere Meditationspraxis auf den Meditationssitz beschränkt bleiben. Es könnte z.B. praktikabel sein, sich zu jeder vollen Stunde zu fragen, in welchem Gefühlszustand ich mich gerade befinde, um auf diese Weise allmählich zu einer größeren Bewusstheit der Gefühle auch im Alltag zu gelangen. Durch die Bewusstwerdung unserer Gefühle erlangen wir neben der üblichen „willentlich-denkerischen“ Entscheidungsfreiheit allmählich auch eine emotionale Entscheidungsfreiheit. Erst, wenn wir wissen und gewahr werden, was in uns vor sich geht, haben wir die Freiheit, über unsere Gefühle zu entscheiden, ob wir sie in diesem Augenblick unterdrücken wollen, kontrolliert ausleben oder in etwas anderes verwandeln. Wenn ich mir der Gefühle bewusst werde und merke, wie sie entstehen und vergehen, gelange ich an die Wurzeln emotionalen Erlebens. Hiermit aber entsteht Freiheit, den Gefühlen ihren angemessenen Platz zu geben. So stellt sich für einen spirituell Suchenden z.B. die Frage: Wo ist Wut notwendig im Leben, wo will und muss ich wütend sein? Wann ist Leidenschaft am Platze, und wann nicht? Dann begreife ich den ungeheuren Wert des Reichtums der Gefühle, der nach buddhistischer Auffassung ein Fünftel unserer Persönlichkeit ausmacht. In der Erkenntnis meiner Gefühle kann ich mein Leben wahrnehmen und beobachten, und es verringert sich die Angst vor dem Verletztsein. Wir werden weniger leicht erschüttert und doch tiefer empfindend. Wer sich seiner Gefühle bewusst wird, kann beobachten, erleben, mitfühlen und mitleiden – und dann in der Welt handeln. Die Bewusstwerdung der Gefühle gibt uns Freiheit, so zu handeln, wie wir es aus unserem Herzen heraus möchten, und wir lernen, uns selber zu verzeihen, wenn wir etwas gemacht haben, was wir eigentlich nicht wollten. Wir erleben, wie wenig eigentlich von unserem bewussten Wollen und Denken im Leben geschieht, und dass wir viel mehr von unseren Gefühlen geprägt sind. Indem ich meinen Gefühlen zuschauen lerne, bin ich nicht mehr von ihnen getrieben. Wenn wir so unsere Gefühle erleben, werden wir auch den so genannten negativen Gefühlen ihren Platz geben können und uns klar darüber sein, dass sie da sind (und wohl auch da sein müssen, solange wir leben und nicht Erleuchtete sind). Es ist von tiefer Bedeutung, dass in den ikonographischen Darstellungen Tibets, die die höchsten transzendentalen Weisheiten symbolisieren, schreckensvolle zornige Gottheiten mit blutgetränkten Schädelschalen, Flammen und Schwertern, Dämonen vernichtend, dargestellt werden. So wird deutlich, dass selbst im Stadium der Beinahe-Erleuchtung Leidenschaft und Aggression ihren Platz haben können und haben müssen. Wir dürfen nicht leidenschaftslose Menschen werden in dem Sinne, dass wir ohne Gefühle durchs Leben gehen, sondern dass wir uns dem Leben und dem Sturm der Gefühle stellen im Akt der Bewusstwerdung.
In seinem Gedicht Entwerden (Shiva, der Macht der Verwandlung gewidmet) schreibt Lama Govinda: „Erlöse mich vom Tod der Beharrung zum Sturme des Lebens, dem Sturm, der Bäume entwurzelt, dem Sturm, der, was klammert, zerreißt, dem Sturm, der, was haftet, zerwirbelt“. [7]
Aus der Bewusstwerdung der Gefühle entwickelt sich nach Salloway die emotionale Intelligenz, die er in fünf Bereiche gliedert: 1. Erkennen der eigenen Emotionen 2. Emotionen handhaben, sodass sie angemessen sind (nach innen und außen) 3. Emotionen in die Tat umsetzen und in den Dienst eines Zieles stellen 4. Empathie – sich einfühlen können, was andere fühlen 5. Umgang mit Beziehungen als Fähigkeit, mit den Emotionen anderer umzugehen
Wenn wir den Gefühlen in uns den adäquaten Platz gegeben haben und damit ein emotional schwingungsfähiges Ich-Bewusstsein aufgebaut haben, können wir uns der Entwicklung altruistischer, über uns selbst hinausgehender Gefühle als Wege zur Freiheit von Einengung und Begrenzung zuwenden. Solche Wege können sein: 1. Hingabe an ein höheres Ziel (z.B. Meditation, aber auch Andacht; etwa im Sinne einer Puja). Weniger geeignet halte ich für uns westliche Buddhisten hingegen die übermäßige Verehrung eines Guru, der idealisiert wird (oft in einem Maße, das unweigerlich zu Enttäuschungen führen muss) 2. die intensive Praxis der Brahmaviharas (wobei man sich selbst mit einbeziehen muss) 3. das Bodhisattva-Ideal [8] 4. soziales Engagement, beginnend mit dem kleinen Kreis der eigenen Familie und Gesellschaft, in der wir leben und dann darüber hinaus [9]
Literaturverzeichnis: 1
GOLEMAN, David: Emotionale Intelligenz (DTV München 2000)
2
GOVINDA, Anila Li Gotami und GOVINDA, Lama Anagarika: Der Legendenkranz vom Leben des Buddha (Li und Lama Govinda Stiftung, München 1997; zu beziehen über das Ordenssekretariat)
3
GOVINDA, Lama Anagarika: Die Dynamik des Geistes (O.W. Barth-Verlag 1992)
4
GOVINDA, Lama Anagarika: Buddhistische Reflexionen, Essay: Liebe und Anhaften, S. 113. (O. W. Barth-Verlag 1996)
5
CAMPBELL, June: Göttinnen, Dakinis und ganz normale Frauen (Theseus-Verlag Berlin, 1997)
6
NEUMANN, Karl Eugen: Die Reden des Buddha – Mittlere Sammlung (Beierlein-Steinschufte, Hirnschrot 1995)
7
GOVINDA, Lama Anagarika: Mandala und Lotos (O. W. Barth-Verlag, die Neuauflage erscheint im Herbst 2001)
8
ASANGA: Zur psychologischen Bedeutung des Bodhisattva- Ideals (Der Kreis Nr. 213, 32)
9
KOTLER: Arnold: Mitgefühl leben. Engagierter Buddhismus heute (Fischer Taschenbuch, Frankfurt 1999)