Thomas Druyen · Wolfgang Lauterbach Matthias Grundmann (Hrsg.) Reichtum und Vermögen
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Thomas Druyen · Wolfgang Lauterbach Matthias Grundmann (Hrsg.) Reichtum und Vermögen
Eine Zusammenarbeit folgender Universitäten:
mit freundlicher Unterstützung durch:
Für das Zustandekommen dieses Bandes auf Grundlage der im September 2007 durchgeführten Fachtagung „Reichtum und Vermögen in Deutschland“ sind die Herausgeber vielen Beteiligten zu Dank verpflichtet. Ein erster, besonderer Dank gilt Monika Schnetkamp für ihre Unterstützung bei der Finanzierung der Tagung. Wir bedanken uns ferner bei einer Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen, die uns mit Rat und Tat, Kritik und Hilfe zur Seite gestanden haben. Darüber hinaus gilt unser spezieller Dank Hedwig Hoff-Weikart als Hauptorganisatorin der Tagung und allen anderen, die daran mitgewirkt haben.
Thomas Druyen Wolfgang Lauterbach Matthias Grundmann (Hrsg.)
Reichtum und Vermögen Zur gesellschaftlichen Bedeutung der Reichtums- und Vermögensforschung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15928-7
Inhalt
Prolog Thomas Druyen
9
I. Einleitung Wohlhabend, Reich und Vermögend – Was heißt das eigentlich? Wolfgang Lauterbach und Miriam Ströing
13
Entstehung und Verbreitung von Vermögenskultur und Vermögensethik Thomas Druyen
29
II. Sozialstruktur und Sozialprofil Reiche und Superreiche in Deutschland – Begriffe und soziale Bewertung Ernst-Ulrich Huster
45
Die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland in den letzten Dekaden Richard Hauser
54
Wohlhabend durch Bildung und Beruf. Oder: Wer sind die Hocheinkommensbezieher? Alexander Tarvenkorn und Wolfgang Lauterbach
69
Zur verbesserten Erfassung von Nettohaushaltseinkommen und Vermögen in Haushaltssurveys Jürgen Schupp/Joachim R. Frick/Jan Goebel/Markus M. Grabka/ Olaf Groh-Samberg und Gert G. Wagner Reichtum in der Schweiz Ueli Mäder
85
97
III. Zufall oder Strategie? Zur Genese von Reichtum Vermögensbildung als gesellschaftspolitische Notwendigkeit Rüdiger von Rosen
109
6 Vermögensforschung und Sozialer Wandel. Anmerkungen zu einer Soziologie des „Reichtums und Vermögens“ Wolfgang Lauterbach
Inhalt
119
Reich durch Erbschaft und Schenkung? Marc Szydlik
135
Vermögen und Besteuerung Jens Beckert
146
Freiheit, Gleichheit, Machbarkeit – Die öffentliche Debatte um die Vermögensbesteuerung Roelf Bleeker-Dohmen und Hermann Strasser
158
IV. Lebensstil und Gesellschaftliches Engagement Stifterinnen und Stifter im deutschen Stiftungswesen. Eine Analyse der Motive, Ziele und Werte Eva Schulze Das gesellschaftliche Engagement von vermögenden Personen Martina Kischel Handlungsvermögen und Wohlfahrtsproduktion – Was leisten Vermögende für die gesellschaftliche Wohlfahrt? Matthias Grundmann
173
184
200
Unglaubliche Vermögen – Elitärer Reichtum Peter Imbusch
212
Reichtum und Eliten im europäischen Vergleich Michael Hartmann
231
Die Soziologie der antiken Reichtumsphilosophie. Reichtum und Vermögen im Spiegel der Kulturgeschichte Robert Velten Distinktion und Inszenierung in der Reichtumsgesellschaft Sebastian Steinzen Reichtum und Lebensstil – ein Überblick vor dem Hintergrund soziologischer Theorieansätze und empirischer Befunde der Lebensstilforschung Werner Georg
242
255
266
Inhalt
7
V. Ausblick „Vermögen in Deutschland“ (ViD) – eine quantitative Studie Wolfgang Lauterbach und Melanie Kramer
279
Autorenverzeichnis
295
Prolog Thomas Druyen
Die diesem Buch zugrunde liegende Fachtagung „Reichtum und Vermögen in Deutschland“ war ein großartiger Auftakt, um die mythische Thematik des Reichtums stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen. Aufbauend auf den vorliegenden Erkenntnissen wird es in Zukunft auch darum gehen, den Lebensstil und die Verhaltenskodizes der bislang wenig analysierten Klientel der „Superreichen“ stärker in den Blick zu nehmen. Kurz zur Erklärung: Die im Jahre 2003 von mir initiierte Vermögenskulturforschung hat es sich zur Aufgabe gemacht, gerade die Lebenswelten von Millionären, Multimillionären und Milliardären mit interdisziplinären Ansätzen zu hinterfragen. Man geht davon aus, dass im Jahre 2008 ca. elf Millionen Menschen dieser Gruppe zuzuordnen waren. Die aus vielfältigen Gründen verschlossenen Kreise besitzen großen materiellen und strukturellen Einfluss, so dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung unverzichtbar erscheint. Dies gilt umso mehr, da Anzahl und geografische Verbreitung bis zur Finanzkrise kontinuierlich gestiegen sind. Diese Entwicklung verleiht der Frage nach Lebenspraxis und Verantwortungsübernahme, vor allem auch vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse, eine besondere Bedeutung. Da es von vornherein unmöglich war, die gesamte Verbreitungspalette jener Superreichen zum Gegenstand der Forschung zu machen, entstand die Idee, den Vermögensbegriff nach aristotelischem Vorbild als Abgrenzungsmerkmal in Anspruch zu nehmen, also neben der materiellen Dimension auch die immaterielle Seite des Vermögens wie Erfahrung, Wille und Kompetenz in die Arbeit zu integrieren. So entstand eine klare Differenzierung zwischen Reichen und Vermögenden. Zu den Vermögenden gehören eben jene, die als Mäzene, Stifter, Spender, Sponsoren, Sozialunternehmer oder generell als Förderer in Erscheinung treten. In diesem Sinne bedeutet Vermögensforschung speziell die interdisziplinäre Untersuchung jener Reichen, die ihre vermögenskulturelle Verantwortung wahrnehmen. Dies soll und darf keineswegs davon ablenken oder gar kompensieren, dass Reichtum auch eigensinnig, missbräuchlich und manipulativ verwendet werden kann. Aber von der bewussten Auseinandersetzung mit konstruktiven Beispielen der Vermögensverwendung erhoffen wir uns soziologische, ökonomische und psychologische Erkenntnisse, die die weitgehend tabuisierte Welt des Reichtums und Vermögens weiter enträtseln. Die ungeheure Sprengkraft der Finanzkrise dokumentiert unzweifelhaft, dass es unverzichtbar ist, die Verwendungen exorbitanter Gewinne zu analysieren. Diese Fokussierung der Vermögenskulturforschung wird in der folgenden Publikation nur am Rande gestreift. Die Teilnehmer der Fachtagung haben sich darüber hinaus mit vielschichtigen Fragen zum Thema Reichtum und Vermögen auseinandergesetzt. Die Tagungsergebnisse werden in diesem Buch veröffentlicht, und so leistet „Reichtum und Vermögen“ einen umfassenden Überblick über den aktuellen Forschungsstand. Der herzliche Dank gilt allen Beteiligten und den Protagonisten der Reichtumsforschung, die die Grundlagen geschaffen haben, dem beschriebenen Mythos mehr Transparenz zu verleihen.
I. Einleitung
Wohlhabend, Reich und Vermögend – Was heißt das eigentlich? Wolfgang Lauterbach und Miriam Ströing
1
Einleitung
Die Auseinandersetzung mit Reichtum ist seit einigen Jahren ebenso Bestandteil der politischen und wissenschaftlichen Diskussion wie die Beschäftigung mit Armut, die diesbezüglich bereits auf eine lange Forschungstradition zurückblicken kann (vgl. z.B. Huster, Boeckh und Mogge-Grotjahn 2008; Lohmann 2008; Sander und Weth 2008). Vor der Beauftragung der Deutschen Bundesregierung im Januar 2000 mit der Erstellung eines Armuts- und Reichtumsberichts sind Aspekte des Reichtums dagegen kaum thematisiert worden (vgl. Deutsche Bundesregierung 2001: 1f.). Dies ist umso erstaunlicher, da die Gruppe der Reichen in den letzten Jahren stetig gewachsen ist, von weltweit 4,5 Millionen Personen mit einem Netto-Finanzvermögen von mindestens einer Million US-Dollar (1996) auf 10,1 Millionen Menschen im Jahre 2007 (vgl. Capgemini und Merrill Lynch 2006, 2008; siehe auch Abbildung 1). Aufgrund steigender Einkommens- und Vermögensungleichheiten wurde zudem ein politischer und wissenschaftlicher Diskurs darüber neu entfacht, welcher Grad sozialer Ungleichheit konstruktiv und welches Ausmaß destruktiv wirkt (vgl. Huster und Eißel 2001: 2). Vor diesem Hintergrund ist es gerade wichtig, das noch immer lückenhafte Wissen über Reichtum und Reiche zu vergrößern. Denn ohne dieses Wissen ist sowohl die wissenschaftliche als auch die politische und öffentliche Diskussion um Themen wie die sich spreizende Einkommensschere, die angemessene Höhe der Erbschaftssteuer oder auch die aktuelle Finanzkrise nicht adäquat möglich. Ebenso ist in diesem Zusammenhang die Diskussion um das Modell der Zivil- beziehungsweise Bürgergesellschaft1 und somit um die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung seitens der Bürger von Bedeutung, da bei reichen Personen diesbezüglich schon rein monetär hohe Potenziale liegen. Wie Ernst-Ulrich Huster bereits vor mehr als zehn Jahren feststellte, wird eine Erforschung des Reichtums schon dadurch erschwert, dass keine angemessene Datenbasis vorliegt (vgl. Huster 1997: 35). Diese Sachlage hat sich bis heute nicht geändert, wie im 3. Armuts- und Reichtumsbericht vermerkt wird. Hohe Einkommensbezieher legen zum einen ungern ihre Einkünfte offen und zum anderen basieren die Quellen überwiegend auf
1 In seinem gegenwärtigen Gebrauch ist der Begriff der Bürger- beziehungsweise Zivilgesellschaft positiv besetzt und beschreibt den Raum gesellschaftlicher Selbstorganisation zwischen Staat, Ökonomie und Privatheit. Gemeint sind Vereine, soziale Beziehungen und Nichtregierungsorganisationen, öffentliche Diskurse und gemeinwohlorientierte Initiativen und Gruppen. (Vgl. Kocka 2002: 16f.) Auch gesellschaftliches Engagement von Unternehmen wird diskutiert (vgl. Backhaus-Maul 2006: 36). Die Definition besteht in Zusammenhang mit einer Diskussion über Gemeinwohl und dem Versuch, das Spannungsverhältnis zwischen positiver und negativer Freiheit neu auszutarieren, in dem das Engagement für die Gemeinschaft eine besondere Bedeutung erhält (vgl. Münkler 2002: 30f.).
14
Wolfgang Lauterbach und Miriam Ströing
Selbstauskünften beziehungsweise Steuerehrlichkeit. Die wenigen vorliegenden Daten2 bereiten außerdem auch deshalb Probleme, weil etwa die Altersversorgung bei Selbständigen privatrechtlich und bei abhängig Beschäftigten sozialrechtlich geregelt wird. Somit sagt die absolute Einkommenshöhe wenig über das verfügbare Einkommen aus. Darüber hinaus sind Vermögenswerte nur schwer erfassbar, wenn sie im Grenzbereich zwischen privat und geschäftlich anzusiedeln sind. (Vgl. Huster und Eißel 2001: 14f., siehe auch Huster in diesem Band) Auch in aktuellen Veröffentlichungen wird konstatiert, „dass die Daten- und Erkenntnislage im Bereich des privaten Reichtums mit Blick auf besonders hohe Einkommen und Vermögen kurzfristig nur schwer zu verbessern ist.“ (Deutsche Bundesregierung 2008: 4) Der Auswertung vorliegender Daten bezüglich des „Reichtums“ ist die Frage nach seiner Definition vorgelagert. Ab wann sind Personen überhaupt als reich zu bezeichnen? Wodurch zeichnet sich diese Gruppe aus? Wie lassen sich Reiche nochmals differenzieren und nach welchen Kriterien? Begriffe wie wohlhabend, reich, superreich (vgl. z.B. Huster 1997, 2001; siehe auch Huster in diesem Band), vermögend (siehe auch Druyen in diesem Band), HNWIs, U-HNWIs3 sowie die Abgrenzung von Reichtum über Einkommens- oder Vermögenswerte bilden eine Vielzahl an Definitionsmöglichkeiten, die oftmals methodisch und zum Teil inhaltlich hergeleitet werden. Im Prolog wurde die neue Auseinandersetzung mit der Klientel der Superreichen bereits angedeutet. Die damit verbundene und erweiterte Vorstellung der Vermögensforschung wird in Druyen’s folgendem Artikel näher erläutert. Bisher sind in der Reichtums- und Vermögensforschung jedoch überwiegend materielle Aspekte diskutiert worden. Durch die Idee der Vermögenskultur inspiriert haben wir am Forum für Vermögensforschung begonnen, einen erweiterten Vermögensbegriff in Anspruch zu nehmen. Vermögen bedeutet für uns demnach auch immer gesellschaftliche Verantwortungsübernahme, Kompetenzausübung und die praktische Umsetzung. Es lässt sich konstatieren, dass eine gewisse Unübersichtlichkeit besteht, die von einem fehlenden Konsens bezüglich geeigneter Reichtumsgrenzen begleitet wird. Einigkeit besteht hinsichtlich der Feststellung, dass die Diskussion um die Definition von Reichtum nicht abgeschlossen ist und weiterer Beschäftigung bedarf (vgl. Deutsche Bundesregierung 2005: 12). Wie im nächsten Kapitel noch deutlich werden wird, kann der erstmals verwirrenden Fülle an verschiedenen Definitionen von Reichtum jedoch beigekommen werden, wenn man sie in argumentative Zusammenhänge bringt. Ziel dieses Beitrags ist es, zunächst einen Überblick über die Definitionen von Reichtum zu bieten und diese zu systematisieren. Im Anschluss wird der Fokus auf die Vermögensforschung und die Inhalte dieses Buches gelegt, woraufhin im dritten Kapitel die Ausrichtung und Ziele der Vermögensforschung erläutert werden. Abschließend werden die Buchbeiträge dieses Bandes „Reichtum und Vermögen“ kurz vorgestellt. Die Beiträge dieses Buches sind das Produkt der Fachtagung „Reichtum und Vermögen in Deutschland“, die im September 2007 am Institut für Soziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster stattfand. 2
Gegenwärtige Analysen zur Einkommens- und Vermögensverteilung beziehen sich insbesondere auf die Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), des sozio-ökonomischen Panel (SOEP), der Einkommensteuerstatistik (EST) oder der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR). (Mehr zur Datenlage siehe Lauterbach und Kramer in diesem Band) 3 HNWIs stehen für „High Net Worth Individuals“, unter die all diejenigen fallen, die mindestens 1 Million USDollar Finanzvermögen aufweisen (exklusive Sammlerstücke, Gebrauchsgegenstände, langlebige Konsumgüter und als Hauptwohnsitz dienende Immobilien). U-HNWIs sind „Ultra-High Net Worth Individuals“ mit einem Netto-Finanzvermögen von mindestens 30 Millionen US-Dollar. (Vgl. Capgemini und Merrill Lynch 2008: 3)
Wohlhabend, Reich und Vermögend – Was heißt das eigentlich?
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Monetäre Reichtumsgrenzen
Im Folgenden wird es darum gehen, die bestehenden Definitionen von Reichtum und verwandten Begrifflichkeiten darzustellen und in einen inhaltlichen und methodischen Zusammenhang zu bringen. Das Ergebnis der Ausführungen ist die Vorstellung einer Reichtumspyramide, in der Reichtum und seine Binnendifferenzierungen auf der Basis bestehender Reichtumsdefinitionen systematisch dargestellt und definiert werden. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass neben der Herleitung von Reichtumsgrenzen anhand materieller Ressourcen auch Ansätze existieren, immaterielle Kennzeichen4 von Reichtum einzubeziehen, zum Beispiel über den Einbezug des Modells von Verwirklichungschancen (vgl. z.B. Arndt u.a. 2006; Sen 1999; Volkert 2005). Bei der vorliegenden Betrachtung wird jedoch die monetäre Definition von Reichtum fokussiert. Das Problem der Herleitung einer geeigneten unteren Reichtumsgrenze besteht in der Tatsache, dass man es mit einem vielschichtigen Begriff zu tun hat, der nicht einfach analog zu Armutsfragen an ein etabliertes Forschungsfeld geknüpft werden kann (vgl. Deutsche Bundesregierung 2005: 11f.). Zudem geht es bei der Bestimmung von Reichtum nicht wie bei Armutsdefinitionen um einen klar ermittelbaren Betrag, der zur Deckung eines gesellschaftlichen Mindestbedarfs5 benötigt wird, sondern um einen „fließenden“ Übergang. Reichtum kann eben nicht durch eine eindeutige Grenze bestimmt werden, denn das „mehr als notwendig Vorhandene“ ist individuell verschieden. Zudem ist es gerade erstrebenswert, hohe Einkommen oder Vermögen zu erzielen, um sich vom Alltagsnotwendigen teilweise oder ganz zu befreien. Es ist die liberale Sichtweise, nach der „jedermann nach Kräften sucht, sein Kapital (…) und Erwerbstätigkeit selbst so zu leiten, daß ihr Erzeugnis den größten Wert erhält. So arbeitet auch jeder notwendig dahin, das jährliche Einkommen der Gesellschaft so groß zu machen, als er kann.“ (Smith, 1923, IV Buch: 235)
Es ist festzuhalten, dass sich Armut wie Reichtum im Wesentlichen über die Verfügbarkeit materieller Ressourcen in Form von Einkommen und Vermögen bemessen lässt (vgl. Deutsche Bundesregierung 2001: 7f.). Deshalb kann die Betrachtung materiellen Reichtums einerseits aus einer Einkommens- und andererseits aus einer Vermögensperspektive erfolgen. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei Einkommen um eine Fließ- und bei Vermögen um eine Bestandsgröße handelt. Wohlstand oder Reichtum, der ausschließlich auf Einkommen basiert, ist nur denkbar, wenn die Person erwerbstätig ist. Einkommensreichtum schwindet, wenn die Einkommensquelle (insbesondere Erwerbstätigkeit) nicht mehr vorliegt. Zwar kann auch Vermögen „schwinden“, aber als Bestandsgröße ist Vermögen in der Regel dauerhafter als Einkommen und eine Person, die über Vermögen verfügt, ist teils 4 „Es lassen sich darunter [unter Vermögen, Anm.d.A.] (…) nicht nur finanzielle Ressourcen verstehen, sondern auch Zeitbudgets, emotionale Kompetenzen, Generationenwissen und vieles mehr. Das reicht vom Einfachen und Naheliegenden wie dem Alters- oder Gesundheitsvermögen bis zum Komplexen und Kreativen.“ (Druyen 2007: 67, vgl. hierzu auch Druyen in diesem Band) 5 Es gibt absolute Armut und relative Armut. Mit absoluter Armut ist die Gefährdung des physischen Überlebens gemeint (vgl. Weischer 2007: 59). Diese Form der Armut ist in westlichen Gesellschaften heutzutage selten beziehungsweise das Phänomen relativer Armut tritt häufiger auf. Daher wird in entsprechenden Analysen in der Regel relative Armut thematisiert. Armut ist dieser Sichtweise nach relativ zu dem zu betrachten, was in einer bestimmten Gesellschaft als Mindestbedarf oder Existenzminimum gesehen wird. Arm sind demnach Personen, die diesen Mindestbedarf nicht aus eigener Kraft bestreiten können. (Vgl. Weischer 2007: 59)
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Wolfgang Lauterbach und Miriam Ströing
oder ganz unabhängig von Einkommensbezügen. Des Weiteren muss bedacht werden, dass Einkommen und Vermögen in Wechselwirkung zueinander stehen, denn Einkommen kann zu Vermögen führen und Vermögen wiederum kann Einkommen generieren (vgl. Deutsche Bundesregierung 2001: 63). So werden Haushalte älterer Personen von Hauser und Wagner beispielsweise danach klassifiziert, ob das vorhandene Vermögen die Überbrückung kurzfristiger Notlagen ermöglicht, ob es einen entscheidenden Beitrag zur Alterssicherung leisten kann oder darüber hinaus sogar ausreicht, um die Altersphase weitgehend abzusichern (vgl. Hauser und Wagner 1992: 594f.).
2.1 Einkommensbasierte Reichtumsgrenzen Bezüglich der Messung von Reichtum über das Einkommen liegen Ansätze vor, die in den meisten Fällen relativ zum Mittelwert beziehungsweise zum Median des monatlichen oder jährlichen Durchschnittseinkommens der Bevölkerung oder der Erwerbstätigen erfolgen. Eine häufige Grenzziehung orientiert sich am durchschnittlichen Einkommen. Denn ein hohes Einkommen kann als Reichtum begriffen werden, wenn es bei Übersteigen eines durchschnittlichen und angestrebten Konsumbedarfs beispielsweise der Ersparnisbildung und für andere Zwecke dienlich sein kann. (Vgl. Deutsche Bundesregierung 2001: 63) Analog zum Messkonzept relativer Einkommensarmut wird ein Messkonzept relativen Reichtums angeführt und die sogenannte 200 Prozent-Grenze vorwiegend verwendet (vgl. z.B. Deutsche Bundesregierung 2001, 2005, 2008; Huster 1997, 2001; Schupp u.a. 2003). Demnach wird als relativ einkommensreich bezeichnet, wer mindestens 200 Prozent des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens verdient. Das Nettoäquivalenzeinkommen ist ein bedarfsgewichtetes Personeneinkommen, das genutzt wird, um Struktureffekte auszuschalten (vgl. Deutsche Bundesregierung 2008: 277f.), womit gemeint ist, dass das Haushaltseinkommen auf die Zahl der im Haushalt lebenden Personen bezogen wird (vgl. Schupp u.a. 2003: 11). So werden Personeneinkommen von beispielsweise Alleinlebenden mit denen vierköpfiger Familien vergleichbar. Zu diesem Zweck wird das Haushaltsnettoeinkommen durch Bedarfsgewichte geteilt, um altersspezifische Bedarfe und Einsparungen gegenüber einem Einpersonenhaushalt zu berücksichtigen (vgl. Deutsche Bundesregierung 2008: 17).6 Da die Definition „relativer Armut“ oft bei Unterschreiten der Hälfte des Durchschnittseinkommens erfolgt, ist es naheliegend, als „relativ reich“ zu bezeichnen, wer mindestens das Doppelte des Durchschnitts verdient (vgl. Huster 1997: 51f.). Diese Begrenzung ergibt sich zudem aus der theoretischen Überlegung, dass je niedriger das Einkommen ist, desto höher der Anteil ausfällt, der für die Befriedigung des unumgänglichen Grundbedarfs wie Wohnen, Essen, Energie et cetera aufgewendet wird und dass bei steigendem Einkommen ein gehobener Konsum möglich wird, der diesen Grundbedarf übersteigt (vgl. Huster und Eißel 2001: 19f.). Andere Möglichkeiten, höhere Einkommen, Einkünfte und Äquivalenzeinkommen zu definieren, bieten die Millionengrenze, die obersten 1 beziehungsweise 5 Prozent, der 6 Die derzeit am meisten verwendete Skala für Äquivalenzgewichtungen ist die neue OECD-Skala, die dem Haupteinkommensbezieher den Gewichtungsfaktor 1, den übrigen Haushaltsmitgliedern von mindestens 14 Jahren den Faktor 0,5 und Haushaltsmitgliedern unter 14 Jahren den Faktor 0,3 zuweist (vgl. Deutsche Bundesregierung 2008: 277f.). Die neue OECD-Skala wurde 1998 auf politischer Ebene für formell gültig erklärt (vgl. Dennis und Guio 2004: 6).
Wohlhabend, Reich und Vermögend – Was heißt das eigentlich?
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Höchststeuersatz, die obersten 10 Prozent (Dezil-Betrachtung) oder die 150-Prozent-Grenze7 (vgl. Deutsche Bundesregierung 2001: 36). Im Zusammenhang mit der Ermittlung der 150- beziehungsweise 200-Prozent-Grenze anhand eines durchschnittlichen Einkommenswertes kann statt des Mittelwertes auch der Median zugrunde gelegt werden, um gegen den Einfluss so genannter „Ausreißer“ gefeit zu sein. Die Betrachtung von Brutto- anstelle von Netto-Werten ist ebenfalls zu beobachten. Auch eine 300-Prozent-Grenze wird zur Identifizierung von Reichtum herangezogen: „Besonders reich könnten Menschen bezeichnet werden, die mehr als das Dreifache des durchschnittlichen Einkommens (300-%-Grenze) verdienen.“ (Merz, Hirschel und Zwick 2005: 39). Eine Übersicht über die Höhe des realen Durchschnittseinkommens, der 200 Prozent-Grenze und der 300 Prozent-Grenze bietet Tabelle 1. Hier sind die aktuellsten Ergebnisse über das Mindesteinkommen zum Erreichen der jeweiligen Grenze abgebildet. Tabelle 1: Reales, monatliches Äquivalenzeinkommen 1985 bis 2006 (in Euro)8 Mittelwertbasierte Reichtumsgrenze 100-Prozent-Grenze 200-Prozent-Grenze 300-Prozent-Grenze
1985
1989
1993
1997
2001
2005
2006
1.045 2.090 3.135
1.193 2.386 3.579
1.273 2.546 3.819
1.318 2.636 3.954
1.392 2.784 4.176
1.409 2.818 4.227
1.413 2.826 4.239
Anmerkung: Für die Jahre 1985 bis 1989 nur Westdeutschland. Quelle: Eigene Berechnungen, abgewandelt aus: Goebel, Habich und Krause 2008: 164.
Die folgende Tabelle 2 stellt eine Rangfolge der in der Literatur verwendeten Reichtumsgrenzen dar, die sowohl für das Einkommen als auch für das Äquivalenzeinkommen, brutto wie netto, gilt. Demnach lässt sich erkennen, dass die einkommensreichsten 10 Prozent der Bevölkerung das 1,8-fache des Mittelwerts erreichen. Das einkommensreichste Prozent der Bevölkerung erreicht das 4,5-fache Einkommen im Vergleich zum Durchschnitt. Somit liegen die reichsten 10 Prozent und das reichste Prozent der Bevölkerung bezüglich Einkommen relativ weit auseinander. Ebenso fällt auf, dass der Abstand zwischen den einkommensreichsten 10 und 5 Prozent mit 55 Prozentpunkten wesentlich kleiner ausfällt als der zwischen den einkommensreichsten 5 und 1 Prozent mit 212 Prozentpunkten. Tabelle 2: Rangfolge einkommensbasierter Reichtumsgrenzwerte (2003) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Reichsten 1 Prozent (450 Prozent des Mittelwerts) 300 Prozent des Mittelwerts Reichsten 5 Prozent (238 Prozent des Mittelwerts) 200 Prozent des Mittelwerts Reichsten 10 Prozent (183 Prozent des Mittelwerts) 150 Prozent des Mittelwerts
Quelle: Abgewandelt aus: Merz, Hirschel und Zwick 2005: 95.
7 Auch die Herleitung der 150-Prozent-Grenze erfolgt analog zu Konzepten der Armutsmessung (vgl. Merz 2002: 22). 8 Unter Zugrundelegung der neuen OECD-Skala (siehe Fußnote 5) lässt sich Folgendes modellieren: Ein VierPersonen-Haushalt (Eltern, zwei Kinder unter 14 Jahren) hat 2006 monatliche Netto-Einkünfte von 2.967 Euro (1.413 * (1,0 + 0,5 + 0,3 + 0,3)), wenn ein durchschnittliches reales Äquivalenzeinkommen erlangt wird. Für die Überschreitung der 200-/300-Prozent-Grenze werden 5.935/8.902 Euro benötigt.
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Wolfgang Lauterbach und Miriam Ströing
2.2 Vermögensbasierte Reichtumsgrenzen Im Folgenden wird die Perspektive gewechselt und anstelle des Einkommens das Vermögen betrachtet. Nur zur Erinnerung, wir meinen noch das „materielle“ Vermögen. Bei dieser Abgrenzung von Reichtum wird häufig der Millionärs-Begriff verwendet. Das Beispiel der Währungsumstellung im Januar 2002 macht jedoch die Problematik dieser Definition deutlich: Durch die Einführung des Euro kam es praktisch zu einer Verdopplung dieser Schwelle, ohne dass eine substanzielle Neubewertung von Vermögensbeständen stattgefunden hätte. Ferner ist bedeutsam, dass die nominale Wertsteigerung von Immobilien- und Geldvermögen quasi von selbst zu einem Anwachsen von Haushalten, deren Vermögen die Millionengrenze überschreitet, führt. So ist es innerhalb von fünf Jahren (1998 bis 2003) zu einem Anstieg der Zahl privater Haushalte mit einem Nettogesamtvermögen von mindestens 510.000 Euro von rund 1,1 auf rund 1,6 Millionen gekommen. (Vgl. Deutsche Bundesregierung 2005: 46f.) Hohe Vermögen werden oft auch mit finanzieller Unabhängigkeit von einem Erwerbseinkommen verbunden. Basierend auf einer Idee von Huster und Eißel müsste man, je nach Kapitalverzinsung, zwischen ca. 610.000 und 1.230.000 Euro anlegen, um Einkünfte zu erwirtschaften, welche die einkommensbasierte 200 Prozent-Grenze überschreiten. (Vgl. Huster und Eißel 2001: 21) In diesem Zusammenhang würden diejenigen als reich bezeichnet, die aus ihrem Vermögen Einkünfte generieren, welche wiederum die 200 ProzentEinkommensgrenze überschreiten. Es entstünde somit ein Hocheinkommen aus Vermögen. Der für Unabhängigkeit vom Erwerbseinkommen zugrunde zu legende Betrag variiert je nach angelegter Kapitalverzinsung und der angesetzten Einkommensgrenze. Nach dem zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wäre jemand, der über einen langen Zeitraum allein aufgrund seines Vermögens ein zumindest durchschnittliches Konsumniveau aufrecht erhalten kann, als reich zu bezeichnen. Der dafür notwendige Vermögensbetrag läge bei einer 5-prozentigen Verzinsung bei etwa 1,2 Millionen Euro. (Vgl. Deutsche Bundesregierung 2005: 46f.) Die Dezil-Betrachtung wird zur Beschreibung der Verteilung des Vermögens einer Gruppe der Gesellschaft genutzt, um ihren jeweiligen Anteil am Gesamtvermögen zu benennen. Sie wird sowohl bei der Einkommens- als auch bei der Vermögensbetrachtung angewandt. (Vgl. Deutsche Bundesregierung 2001: 52) Innerhalb des seit 1997 jährlich erscheinenden World Wealth Report von Capgemini und Merrill Lynch wird eine Binnendifferenzierung von Reichtum anhand von Vermögen vorgenommen. Es wird zwischen „High Net Worth Individuals“ (HNWIs) und „Ultra-High Net Worth Individuals“ (U-HNWIs) unterschieden. Mit HNWIs sind Personen gemeint, die über mindestens 1 Million US-Dollar Netto-Finanzvermögen (Finanzvermögen exklusive Sammlerstücke, Gebrauchsgegenstände, langlebige Konsumgüter und als Hauptwohnsitz dienende Immobilien) verfügen. U-HNWIs weisen ein Netto-Finanzvermögen von mindestens 30 Millionen US-Dollar auf. 2007 gab es weltweit 10,1 Millionen HNWIs (europaweit 3,1 Millionen) und 103.300 U-HNWIs (europaweit 25.000). (Vgl. Capgemini und Merrill Lynch 2008: 3f.) Anhand von Abbildung 1 ist die Entwicklung der HNWIs europa- und weltweit abgebildet. Ihre weltweite Anzahl hat sich zwischen 1997 und 2007 ungefähr verdoppelt.
Wohlhabend, Reich und Vermögend – Was heißt das eigentlich? Abbildung 1:
19
High Net Worth Individuals (HNWIs, in Millionen)
Anmerkung: „High Net Worth Individuals“ (HNWIs) sind Personen, die mindestens 1 Million US-Dollar Finanzvermögen aufweisen (exklusive Sammlerstücke, Gebrauchsgegenstände, langlebige Konsumgüter und als Hauptwohnsitz dienende Immobilien). Quelle: Abgewandelt aus: Capgemini und Merrill Lynch 2000, 2003, 2006, 2008.
Bezüglich der Reichtumsdefinition anhand von Vermögen sei auf die Schwierigkeit der Messung hingewiesen, da bisher keine Einigkeit darüber besteht, was materielles Vermögen genau beinhaltet. Es gibt Sachvermögen (Konsumtivvermögen und Produktivvermögen), Geld- oder Finanzvermögen, Human- oder Arbeitsvermögen, Versorgungsvermögen, staatliches Vermögen und Umweltvermögen (vgl. Huster und Eißel 2001: 16f.). Selbst bei der Beschränkung auf „harte“ Vermögensarten (Sachvermögen, Geldvermögen) bleiben große Unsicherheiten, und so zeigt sich etwa beim Vergleich der Geldvermögensbestände der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe mit der Finanzierungsrechnung der Deutschen Bundesbank eine Differenz von ca. 47 Prozent. Somit beschränkt sich die Auskunft der EVS über die Geldvermögensbestände der Haushalte auf weniger als die Hälfte dieser Bestände. (Vgl. Huster und Eißel 2001: 16f.) Mit dem dritten Armuts- und Reichtumsbericht erfolgt eine neuartige Differenzierung der Einkommens- und Vermögensberechnung in Deutschland, nämlich die integrierte Betrachtung sowohl des Einkommens als auch des Vermögens. Dabei wird das Vermögen in Einkommensgrößen umgerechnet. Dieses Verfahren bietet mehrere Vorteile. Zum einen lässt sich ein umfassendes Bild von finanziellem Reichtum am besten durch die gemeinsame Betrachtung von Einkommen und Vermögen erstellen. Geht Einkommensarmut in den meisten Fällen mit Vermögensarmut einher, sind diese Zusammenhänge bezüglich Einkommensreichtum zu überprüfen, und es zeigt sich, dass hier mehr Variation besteht. Zum anderen wurde bei der Ermittlung des frei verfügbaren Einkommens innerhalb dieser Betrachtung berücksichtigt, dass für Arbeitnehmer und Selbständige nicht die gleichen Regelungen zur Alters- und Krankheitsvorsorge bestehen. Außerdem werden die Ergebnisse zwischen Altersgruppen vergleichbar gemacht, indem die Vermögensbestände unter Einbezug der Lebenserwartung verrentet werden. So erhält man genauere Angaben zu den real verfügbaren Mitteln der Personen. Nach dieser Betrachtung werden übrigens mehr Personen (anhand der 200-Prozent-Grenze) als reich eingestuft als bei der alleinigen Analyse des Einkommens. So sind 38 Prozent derjenigen, die in der integrierten Analyse als reich zu definieren sind, nach der bloßen Betrachtung der Einkommensverteilung nicht reich. Damit
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Wolfgang Lauterbach und Miriam Ströing
steigt der Anteil der als reich zu betrachtenden Personen um nahezu 40 Prozent. (Vgl. Deutsche Bundesregierung 2008: 31f.) Es lässt sich der Schluss ziehen, dass verschiedenste Möglichkeiten bestehen, Reichtumsgrenzen zu definieren, die entweder anhand von Konventionen oder analog zur Armutsmessung hergeleitet werden.
2.3 Systematisierung der Reichtumsgrenzen: Die Reichtumspyramide Anhand der hier aufgeführten Abgrenzungsmöglichkeiten kann eine Systematik entwickelt werden, die den Forschungsstand zusammenfassend darstellt. Daher haben wir ein Modell zur Identifizierung von Reichtum an sich sowie zur Binnendifferenzierung Reicher entwickelt: die Reichtumspyramide. Denn bei Betrachtung der Fülle an Definitionen wird ersichtlich, dass Reichtum in den unteren Grenzbereichen am sinnvollsten anhand von relativen Einkommensbetrachtungen identifiziert werden kann und die oberen Dimensionen anhand von absoluten Vermögensanschauungen ausgemacht werden sollten (siehe Abbildung 2). Abbildung 2:
Die Reichtumspyramide Milliardäre 1 Mrd. $ verfügbares Kapitalvermögen superreich 300 Mio. $ verfügbares Kapitalvermögen U-HNWIs (Ultra-High Net Worth Individuals) 30 Mio. $ Netto-Finanzvermögen
superreich
HNWIs (High Net Worth Individuals) 1 Mio. $ Netto-Finanzvermögen affluent 500.000 $ verfügbares Kapitalvermögen
reich
sehr wohlhabend 300 % des Durchschnitts
wohlhabend wohlhabend 200 % des Durchschnitts
überdurchschnittlich
Durchschnitt Quelle: Eigene Darstellung (Lauterbach, Kramer und Ströing).
Hinsichtlich der unteren Grenzbereiche wird die Orientierung am Durchschnitt anhand von realem Äquivalenzeinkommen präferiert. Somit handelt es sich um eine relative, einkommensbasierte Differenzierung der Bevölkerung analog zum Armutsbegriff. Wessen reales Äquivalenzeinkommen über dem Durchschnitt liegt, verzeichnet zwar überdurchschnittli-
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che Einkünfte, wird jedoch noch nicht mit einem spezifischen Reichtumsbegriff betitelt. Personen, deren Einkünfte das Doppelte des Durchschnitts erreichen, werden als wohlhabend bezeichnet, und wessen Einkommen das Dreifache des Durchschnitts erlangt oder darüber hinausgeht, gilt als sehr wohlhabend. Die Begrifflichkeit des Reich-Seins wird hier bewusst noch nicht verwendet. Schwierig an dieser Methode ist die interne Differenzierung von Reichen ab einer bestimmten Schwelle. Denn während Einkommensarmut in fast allen Fällen auch mit Vermögensarmut einhergeht, kann eine differenzierte Darstellung finanziellen Reichtums nur erfolgen, wenn auch das Vermögen betrachtet wird (vgl. Deutsche Bundesregierung 2008: 31). Definitionen absolute, vermögensbasierte Differenzierung superreich Milliardäre superreich
reich U-HNWIs HNWIs affluent
Milliardäre besitzen ein verfügbares Kapitalvermögen (Definition siehe „affluent“) von mind. 1 Mrd. US-Dollar. „superreiche“ Personen besitzen ein verfügbares Kapitalvermögen von mind. 300 Mio. US-Dollar.
„Ultra-High Net Worth Individuals“ verfügen nach Capgemini und Merrill Lynch (z.B. 2008) über ein Netto-Finanzvermögen (Finanzvermögen exklusive Sammlerstücke, Gebrauchsgegenstände, langlebige Konsumgüter und als Hauptwohnsitz dienende Immobilien) von mind. 30 Mio. US-Dollar. „High Net Worth Individuals“ verfügen nach Capgemini und Merrill Lynch (z.B. 2008) über ein Netto-Finanzvermögen (Finanzvermögen exklusive Sammlerstücke, Gebrauchsgegenstände, langlebige Konsumgüter und als Hauptwohnsitz dienende Immobilien) von mind. 1 Mio. US-Dollar. „affluent“-Personen besitzen ein verfügbares Kapitalvermögen von mind. 500.000 USDollar. Das verfügbare Kapitalvermögen ist „die Summe der Geldanlagen eines Haushalts ohne den Rückkaufwert von Lebensund privaten Rentenversicherungen sowie nach Abzug eventueller privater Kreditverpflichtungen.“ (Lauterbach und Kramer in diesem Band). Mit dieser Grenze ist eine weitgehende Unabhängigkeit vom Erwerbseinkommen gewährleistet. relative, einkommensbasierte Differenzierung
wohlhabend sehr wohlhabend wohlhabend
Die Begriffe beziehen sich auf das durchschnittliche, reale Äquivalenzeinkommen, das beispielsweise im Jahr 2006 bei Wohlhabenden (200-Prozent-Grenze) 2.826 Euro und bei sehr Wohlhabenden (300-Prozent-Grenze) 4.239 Euro betrug (siehe auch Tabelle 1).
überdurchschnittlich Durchschnitt
Die Begriffe beziehen sich auf das durchschnittliche, reale Äquivalenzeinkommen, das etwa im Jahr 2006 1.413 Euro betrug (siehe auch Tabelle 1).
Ab einer bestimmten Dimension des Reichtums ist die Höhe des Vermögens entscheidender als die Höhe des Einkommens. Zudem lassen sich in den oberen Bereichen anhand des Einkommens keine größeren Unterschiede mehr ausmachen, die jedoch offensichtlich bestehen. Das heißt, dass die Erwerbseinkommen beispielsweise von HNWIs und U-HNWIs sehr wahrscheinlich gar nicht so weit voneinander entfernt liegen, sehr ähnlich oder sogar gleich sind. Im Vergleich dazu ist die Höhe ihrer Vermögen jedoch sehr unterschiedlich und definiert eine andere Dimension des Reichtums. Wer beispielsweise ein Einkommen
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Wolfgang Lauterbach und Miriam Ströing
von 300 Prozent des Durchschnitts erreicht, aber kein nennenswertes Vermögen aufweist, ist sehr wohlhabend. Wer darüber hinaus jedoch über ein Netto-Finanzvermögen von 1.000.000 US-Dollar verfügt, ist den HNWIs zuzuordnen. Der Reichtum ist bei dieser Person also ungleich höher als bei Personen, die „lediglich“ sehr wohlhabend sind. So greifen die Reichtumsforscher in diesen Einkommens-Bereichen auf die Betrachtung von Vermögen zurück. Hierbei wird die untere Grenze bei einem verfügbaren Kapitalvermögen von 500.000 US-Dollar angesetzt. Diese Definition geht darauf zurück, dass die Begrifflichkeit der „affluent“-Personen im Bankenwesen in Zusammenhang mit beschriebener Vermögenshöhe üblich ist. Sie gelten nicht mehr als wohlhabend, sondern als reich. Reichtum ist hier also mit einer absoluten, vermögensbasierten Differenzierung verknüpft. Dies erklärt sich dadurch, dass Reichtum an seiner Untergrenze innerhalb der Pyramide mit weitgehender finanzieller Unabhängigkeit vom Erwerbseinkommen gleichgesetzt wird, wodurch das Einkommen an dieser Stelle zusätzlich an Bedeutung für die Ressourcenausstattung verliert. Die nächsten beiden internen Reichtumsgrenzen entstehen in Anlehnung an die Setzung durch den World Wealth Report von Capgemini und Merrill Lynch. So sind „High Net Worth Individuals“ (HNWIs) in diesem Fall Personen, die mindestens über 1 Million US-Dollar Netto-Finanzvermögen9 verfügen. Wer die 30 MillionenGrenze überschreitet, gehört zu den „Ultra-High Net Worth Individuals“ (U-HNWIs). Es folgt die Bezeichnung von Personen mit einem Minimum von 300 Millionen US-Dollar an verfügbarem Kapitalvermögen. Sie werden als superreich bezeichnet und zeichnen sich dadurch aus, dass an dieser Schwelle ein Grad an Reichtum erreicht wird, der einen erkennbaren Unterschied hinsichtlich der Lebenswelt dieser Personen markiert. Es lässt sich basierend auf den Erfahrungen aus Interviews mit Mitgliedern benannter Gruppe feststellen, dass hier eine neue „Distanz zur Notwendigkeit“ (mehr dazu z.B. in Bourdieu 1992) erreicht wird10. Die Gruppe mit dem größten Reichtum innerhalb dieser Differenzierung bilden Milliardäre (Personen mit einem verfügbaren Kapitalvermögen von mindestens einer Milliarde US-Dollar). Es bleibt zu erwähnen, dass in der Sphäre des Superreichtums Größenordnungen ab 300 Millionen, 500 Millionen, 1 Milliarde bis hin zu 10 Milliarden USDollar existieren, in denen eine Vermögensvernichtung nur noch in absoluten Ausnahmen möglich ist. Im Gegensatz dazu sind bei durchschnittlichen Millionärshaushalten substantielle Einbussen bis hin zum kompletten Verlust möglich. Es lässt sich konstatieren, dass die Fülle an Reichtumsdefinitionen zunächst unübersichtlich erscheint. Durch die Reichtumspyramide ist es jedoch gelungen, die Abgrenzungen systematisch in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen und zudem Binnendifferenzierungen der Gruppe wohlhabender und reicher Personen vorzunehmen. Dabei liegt der Fokus auf der Differenz zwischen Wohlhabenden und Reichen. Der Grund dafür liegt darin, dass wohlhabende Personen durch ihr Erwerbseinkommen wohlhabend sind. Bei Reichen (über 500.000 US-Dollar Vermögen) hat das Einkommen hingegen eine wesentlich geringere Bedeutung für das Gesamtvermögen. Sowohl Einkommens- als auch Vermögensaspekte werden in den Blick genommen und die Dimensionen, die Wohlstand und Reichtum ausmachen, adäquat erfasst. Neuartig und ein entscheidender Vorzug der Reichtumspyramide ist, dass differenziert wird, welche Dimensionen über das Einkommen rela9 Als Netto-Finanzvermögen ist das Finanzvermögen exklusive Sammlerstücke, Gebrauchsgegenstände, langlebige Konsumgüter und als Hauptwohnsitz dienende Immobilien definiert (vgl. Capgemini und Merrill Lynch 2008: 3). 10 Interviews mit Superreichen werden von T. Druyen an seinem Lehrstuhl an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien durchgeführt.
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tiv zum Durchschnitt ermittelt werden können und welche Dimensionen aufgrund ihres Ausmaßes nicht mehr über das Einkommen, sondern über Vermögenswerte ausgemacht werden. So lassen sich hier auf einen Blick die verschiedenen Dimensionen monetären Reichtums erfassen.
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Kennzeichen der Vermögensforschung
Neben dem Begriff der Reichtumsforschung, in der Phänomene des Einkommens- und Vermögensreichtums untersucht werden (vgl. Weischer 2007), ist seit einigen Jahren die Vermögensforschung Teil einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Gruppe Reicher und Vermögender in der Gesellschaft (z.B. Druyen 2007; siehe auch Druyen in diesem Band). Die Entwicklung der Vermögensforschung geht auf die Veränderung der Vermögenskonzentration in Form der wachsenden Gruppe der Reichen (siehe auch Abbildung 1) und der zunehmenden Einkommens- und Vermögensungleichheiten einerseits und auf die Diskussion um die Zivilgesellschaft und das steigende Interesse an gesellschaftlichem Engagement andererseits zurück. Neuartig an dieser Forschungsrichtung im Vergleich zur Reichtumsforschung ist die Differenzierung zwischen Reichtum und Vermögen (siehe auch Druyen in diesem Band). Mit dem Reichtumsbegriff ist die materielle Dimension angesprochen, also, je nach Definition, ein bestimmtes Maß an Materiellem im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen oder mit dem Überschreiten absoluter (materieller) Vermögensgrenzen. „Alles, was mit materiellen und zählbaren Aspekten in Zusammenhang steht, sollte unter der Bezeichnung des Reichtums gefasst werden: Geld, Besitz, Einkommen, alle objektiven Variablen, die in irgendeiner Form messbar sind.“ (Druyen 2007: 38)
Der hier intendierte Vermögensbegriff geht aber – wie bereits erwähnt – über die bisher verwandten materiellen Dimensionen weit hinaus. Es geht um ein Verständnis von Vermögen durchaus im Aristotelischen Sinne (siehe auch Druyen in diesem Band; vgl. Jansen 2002). So „nutzt der Vermögende seine vielfältigen Möglichkeiten, um Verantwortung zu übernehmen und Zukunft zu gestalten. (…) Man vermag etwas zu tun.“ (Druyen 2007: 197). Die immaterielle Seite dieses erweiterten Vermögensbegriffes bezieht sich in erster Linie auf eine individuelle und gesellschaftliche Inanspruchnahme von Werten zur konkreten Ausübung von Verantwortung. Vermögen entspricht auf diese Weise sowohl dem persönlichen Willen als auch der materiellen Wirklichkeit, etwas „Sinnstiftendes“ zu tun. Dies kann über Mäzenatentum, Spenden, Stiftertum, Sozialunternehmertum, Ehrenamt oder jegliche andere Form sozialen Engagements erfolgen. So lässt sich feststellen, welche Reichen zu Vermögenden geworden sind. Bezüglich Stiftertum lässt sich beispielsweise feststellen, dass ein Großteil der Stifter (79 Prozent) zum Zeitpunkt der Stiftungsgründung ein Privatvermögen von 250.000 Euro oder mehr aufweist und somit sehr wahrscheinlich mindestens der Gruppe der sehr Wohlhabenden zuzuordnen ist. Knapp zwei Fünftel (39 Prozent) verfügen sogar über ein Privatvermögen von zwei Millionen Euro und mehr und sind somit vermutlich HNWIs oder sogar U-HNWIs, vielleicht sogar Superreiche oder Milliardäre. (Vgl. Timmer 2005: 52)
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Die Beschäftigung mit der immateriellen Dimension des Vermögens wurde mit dem Begriff der Vermögenskultur versehen und umfasst die Auseinandersetzung mit sozialen Netzwerken, gesellschaftlichem Engagement sowie den Einstellungen und Lebensstilen Vermögender. Vermögensforschung als Kulturforschung meint insbesondere die Auseinandersetzung mit der Verantwortungsübernahme Vermögender für die Gesellschaft. Die Reichtumsforschung wurde im Zuge der Entwicklung der Vermögensforschung um die immaterielle Dimension erweitert, da diese als Voraussetzung für die Entwicklung einer Vermögenskultur betrachtet werden kann. Darüber hinaus lässt sich Vermögensforschung als eine Sozialstrukturforschung begreifen. Denn um Vermögende auszumachen und mehr über ihre Herkunft, ihre Lebenshaltung und ihre Sozialisationsbedingungen zu erfahren, sind die Reichen und deren finanzielle Position in der Gesellschaft genauer zu untersuchen. Speziell stellt sich die Frage, warum einige Personen Verantwortung übernehmen und andere nicht. Schließlich ist von Interesse, was Reiche von Vermögenden letztlich unterscheidet, gerade vor dem Hintergrund der Debatte um eine Zivilgesellschaft. Vermögensforschung als Kulturforschung meint auch die Analyse familialer und unternehmerischer Netzwerke sowie dynastischer Traditionen. Die Zielsetzungen der Vermögensforschung werden in Abbildung 3 veranschaulicht. Abbildung 3:
Kennzeichen der Vermögensforschung Vermögensforschung
Reichtum Sozialstrukturforschung materiell
Vermögen Kulturforschung immateriell
Verteilung Genese Verwendung
Familiale und unternehmerische Netzwerke gesellschaftliches Engagement Einstellungen und Lebensstile
Quelle: Eigene Darstellung.
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Vorstellung der Buchbeiträge
Mit der Herausgabe des vorliegenden Buches wird das Ziel verfolgt, einen umfassenden Überblick über die aktuelle Lage der Reichtums- und Vermögensforschung zu bieten. So wird die Basis sichtbar, auf der derzeit laufende und zukünftige Forschungsvorhaben aufbauen. Inhalt dieses letzten Kapitels ist die Vorstellung der Beiträge dieses von Thomas Druyen, Wolfgang Lauterbach und Matthias Grundmann herausgegebenen Buches „Reichtum und Vermögen. Zur gesellschaftlichen Bedeutung der Reichtums- und Vermögensforschung“. Im folgenden Kapitel von Thomas Druyen wird die „Entstehung und Verbreitung von Vermögenskultur und Vermögensethik“ dargestellt. Im Mittelpunkt steht die Erläuterung eines erweiterten Vermögensbegriffes und seine gesellschaftliche Verwendung. Der Autor
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dokumentiert die Entstehungsgeschichte sowie die neue Idee einer Vermögenskulturforschung. Auf die Einleitungsbeiträge folgt ein Kapitel, in dem „Sozialstruktur und Sozialprofil“ Wohlhabender und Reicher thematisiert werden. Den Einstieg leistet der Artikel von Ernst-Ulrich Huster: „Reiche und Superreiche in Deutschland – Begriffe und soziale Bewertung“. Der Autor steigt ein mit einer Darlegung der Unschärfen bei der Definition von Reichtum und thematisiert die problematische Datenlage. Daraufhin wird eine weitere Differenzierung der Gruppe der Reichen vorgenommen. Des Weiteren nimmt Huster eine Bewertung vor und diskutiert die Funktionen von Reichtum hinsichtlich ihrer Bedeutung für soziales Engagement, Innovationen und Konsum. Abschließend erläutert er das gesellschaftliche Interesse an der Erforschung von Reichen. Es folgt eine Auseinandersetzung über „Die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland in den letzten Dekaden“, die von Richard Hauser vorgenommen wird. Neben der Beschreibung der Einkommensverteilung anhand von Lohneinkommen, Markteinkommen, Marktäquivalenzeinkommen und Nettoäquivalenzeinkommen wird auch Einkommensarmut thematisiert. Darauf folgend wird der Wandel der Vermögensverteilung dargestellt. In dem Artikel „Wohlhabend durch Bildung und Beruf oder: Wer sind die Hocheinkommensbezieher?“ untersuchen Alexander Tarvenkorn und Wolfgang Lauterbach anhand der Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) die sozialen Merkmale von Personen mit hohen Erwerbseinkommen und arbeiten aus, was sie von denjenigen unterscheidet, die diesbezüglich ein durchschnittliches Niveau aufweisen. Jürgen Schupp, Joachim R. Frick, Jan Goebel, Markus M. Grabka, Olaf Groh-Samberg und Gert G. Wagner thematisieren in ihrem Artikel „Zur verbesserten Erfassung von Nettohaushaltseinkommen und Vermögen in Haushaltssurveys“ die Schwierigkeiten der zuverlässigen Erhebung hoher Einkommen und Vermögen bei Surveys. Sie diskutieren dies und zeigen auf, wie im Rahmen des SOEP damit umgegangen wird. In diesem Zusammenhang wird die Hocheinkommensstichprobe des SOEP vorgestellt, indem sie eingeordnet wird, Aussagen zur „statistischen Power“ gemacht werden und die Einkommensverteilung mit und ohne benannte Stichprobe dargestellt wird. Auch die Vermögensbilanz des SOEP wird in den Blick genommen. Zum Abschluss des zweiten Buchkapitels thematisiert Ueli Mäder „Reichtum in der Schweiz“. Zunächst beschreibt er die Konzentration des Vermögens in diesem als reich charakterisierten Land. Daraufhin erfolgt eine Typologie der Reichen auf Basis von qualitativen Studien in Form von 30 Interviews mit reichen Personen. Diese Analyse schließt Mäder mit zehn Thesen über Reiche ab. Das nächste und dritte Buchkapitel widmet sich der Erlangung von Reichtum: „Zufall oder Strategie? Zur Genese von Reichtum“. Den Einstieg in den neuen Themenkomplex bildet ein Aufsatz von Rüdiger von Rosen über „Vermögensbildung als gesellschaftspolitische Notwendigkeit“, in dem es um die Bedeutung der Aktie für die Vermögensbildung geht. Nach einem statistischen Überblick über die Vermögensbildung in Deutschland wird die Aktie als Instrument der Altersvorsorge und der Mitarbeiterbeteiligung vorgestellt. Anschließend erfolgt eine Analyse vermögenspolitischer Instrumente. Es schließen sich Überlegungen zu „Vermögensforschung und Sozialer Wandel. Anmerkungen zu einer Soziologie des Reichtums und Vermögens“ von Wolfgang Lauterbach an. Nachdem er die Bedeutsamkeit der Frage nach der Entstehung von Reichtum aufzeigt, wird die Zunahme von Wohlstand und Reichtum beschrieben. Daraufhin werden Ursachen für die aktuelle Entwicklung in vier Schritten aufgezeigt. Zunächst wird der demografische Wandel be-
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Wolfgang Lauterbach und Miriam Ströing
schrieben. In einem zweiten Schritt dient die Modernisierung der Gesellschaft als Erklärung. Ein dritter Schritt zeigt die Bedeutung der sozialen Herkunft Reicher und zuletzt werden Erbschaften und der Generationenzusammenhang diskutiert. Daraufhin widmet sich Lauterbach den Konsequenzen dieser Ursachen für die Vermögensforschung. Marc Szydlik beantwortet im Folgenden die Frage „Reich durch Erbschaft und Schenkung?“. Nachdem er Verteilung und Höhe von Schenkungen und Erbschaften darstellt, werden Prognosen gestellt. Zuletzt wird die Frage beantwortet, ob Erbschaft(en) oder Schenkung(en) zu Reichtum führen können oder nicht. Jens Beckert greift die aktuelle Debatte um „Vermögen und Besteuerung“ auf. Hierbei konzentriert er sich auf die Erbschaftssteuer. Beckert zeigt den Diskurs um die Erbschaftssteuer, wobei er Folgen für die Familie, ökonomische Folgen, Folgen für die politische Ordnung und den Zusammenhang zwischen der Erbschaftssteuer und gesellschaftlichen Werten thematisiert. In ihrem Artikel „Freiheit, Gleichheit, Machbarkeit – die öffentliche Debatte um die Besteuerung der Vermögenden“ gehen Roelf Bleeker-Dohmen und Hermann Strasser ebenfalls auf die Debatte um die Besteuerung Vermögender ein, indem sie eine Medienanalyse der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und der Tageszeitung (TAZ) der Jahre 1994 bis 2003 durchführen. Im Zuge dieser Analyse stellen sie die Entwicklung der Debatte sowie deren Argumentationsstränge dar. Im nächsten Kapitel des Buches „Reichtum und Vermögen“ wird anhand von sieben Aufsätzen „Lebensstil und Gesellschaftliches Engagement“ thematisiert. Die ersten beiden Artikel diskutieren gesellschaftliches Engagement, wobei Eva Schulze mit ihrer Arbeit über „Stifterinnen und Stifter im deutschen Stiftungswesen. Eine Analyse der Motive, Ziele und Werte“ den Anfang macht. Die Autorin geht auf die Merkmale von Stifterinnen und Stiftern, deren Motive zur Stiftungsgründung und deren Zufriedenheit mit der eigenen Stiftungsarbeit ein und arbeitet jeweils geschlechtsspezifische Unterschiede heraus. Abschließend widmet sie sich der Frage, ob diese Unterschiede mehr oder weniger Relevanz im Vergleich zu Persönlichkeitsfaktoren aufweisen. Es folgt ein Aufsatz von Martina Kischel, die sich mit gesellschaftlichem Engagement insgesamt auseinandersetzt: „Das gesellschaftliche Engagement von vermögenden Personen“. Auf die Darstellung individuellen gesellschaftlichen Engagements folgt eine Untersuchung der Wertvorstellungen, Motive und Erwartungen, die mit sozialer Verantwortungsübernahme verbunden werden. Matthias Grundmann geht in seinem Artikel „Handlungsvermögen und Wohlfahrtsstaatsproduktion – Was leisten Vermögende für die gesellschaftliche Wohlfahrt?“ auf die gesellschaftliche Teilhabe Vermögender vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Ungleichheiten ein. Es werden zunächst der Begriff des Wohlfahrtsstaates und die gesellschaftliche Teilhabe Vermögender diskutiert. Daraufhin geht der Autor auf Handlungsvermögen und politische Verantwortung ein, um dann die gesellschaftliche Bedeutung von Vermögenden zu erläutern. Der folgende Aufsatz „Unglaubliche Vermögen – elitärer Reichtum“ von Peter Imbusch beinhaltet eine Auseinandersetzung mit dem Lebensstil reicher Personen. Zunächst werden jedoch die Beschäftigung mit der Reichtumsthematik seitens der Sozialwissenschaften legitimiert und empirische Befunde zur Reichtums- und Vermögensverteilung aufgezeigt. Darauf folgt die Darstellung reicher Milieus und luxuriöser Lebensstile mit einer anschließenden internen Differenzierung des Reichtums. Michael Hartmann untersucht des Weiteren „Reichtum und Eliten im europäischen Vergleich“, wobei er anfangs auf die Einkommens- und Vermögensungleichheiten in Europa eingeht. Daraufhin thematisiert er Eliten im Zusammenhang mit Politik, Macht und Reichtum. Einen philosophischen
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Zugang zu dem Themenkomplex des Reichtums bietet Robert Velten mit seinem Artikel „Die Soziologie der antiken Reichtumsphilosophie. Reichtum und Vermögen im Spiegel der Kulturgeschichte“. Er bettet die antike Reichtumsphilosophie als Thema in die Vermögensforschung ein, zeigt die Bewertung des Reichtums auf und beschreibt die Ethik der Vermögenskultur in der antiken Philosophie. Sebastian Steinzen wiederum blickt auf die aktuellen Begebenheiten des „Leben in einer Reichtumsgesellschaft“. Er untersucht die Reichtumsgesellschaft, indem er zuerst ihre Merkmale aufzeigt und die Teilhabe an dieser Gesellschaft beschreibt. Daraufhin thematisiert er demonstrativen Konsum als Mittel sozialer Distinktion und die Inszenierung der eigenen Person. Außerdem geht er auf Superreiche als „Ikonen der Reichtumsgesellschaft“ ein. Eine Auseinandersetzung mit dem Lebensstil der Reichen erfolgt durch Werner Georg mit seinem Artikel „Gibt es eine Kultur des Reichtums?“ sowohl theoretisch als auch empirisch. Abschließend wird von Wolfgang Lauterbach und Melanie Kramer die Studie „Vermögen in Deutschland (ViD)“ vorgestellt. Dies erfolgt zunächst über ihre Einbettung in einen aktuellen Stand der Forschung. Es folgt die Darstellung der Verortung in der Reichtumspyramide, der Stichprobenziehung sowie der Umsetzung materieller und immaterieller Aspekte der Vermögensforschung.
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Entstehung und Verbreitung von Vermögenskultur und Vermögensethik Thomas Druyen
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Einleitung
Die Idee, sich mit der Entwicklung einer Vermögenskultur zu beschäftigen, entstand im Jahre 2002. Dabei erschien es mir zentral, die Haltung und das Handeln derjenigen Personen, die als sehr wohlhabend galten, sozial- und kulturwissenschaftlich näher zu betrachten. Ausgangspunkt dieser Überlegungen war die überraschende Feststellung, dass es im deutschsprachigen und europäischen Raum keine Auseinandersetzung mit Vermögensgrößen jenseits der zehn Millionengrenze gab sowie kaum verbindliche Vorstellungen, wann Reichtum eigentlich beginnt, obwohl eine dementsprechende Armutsforschung (z.B. Hanesch 2000; Deutsche Bundesregierung 2001, 2005; Huster, Boeckh und Mogge-Grotjahn 2008) bereits umfassend vorlag. Dieses offensichtliche Defizit verdiente demnach eine besondere wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die durch meine langjährige Tätigkeit im Private Banking eine weitere Betrachtungsperspektive erhielt. Mein persönlicher Zugang zu Personen aus reichen und sehr reichen Verhältnissen verstärkte die Ansicht, dass dieser Klientel eine besondere Verantwortung zukommt. Problematisch war jedoch die kommunikative Abschottung dieser Gruppen. Gerade dieser Umstand hatte ja dazu geführt, dass kaum statistisches und wissenschaftliches Material zur Verfügung stand. Ursprünglich stand demzufolge die Absicht im Zentrum, über die sozialwissenschaftliche Erforschung des Wirkens Reicher und Superreicher eine Ethik des Reichtums zu entwickeln. Die Verfeinerung dieser Intention zur Vermögenskultur vollzog sich auf zwei Ebenen, einer immateriellen und einer materiellen. Im Zuge meiner wissenschaftlichen Forschung für das Buch „Olymp des Lebens – das neue Bild des Alters“ ergab sich die Notwendigkeit, nicht nur die Belastungen des demografischen Wandels für die Gesellschaften zu untersuchen, sondern auch das Potential der immer älter werdenden Bürger herauszuarbeiten. So erhellte sich der Zusammenhang, dass die Erfahrungen und Kompetenzen der Menschen in der zweiten Lebenshälfte durchaus als praktisches Vermögen anzusehen waren. Neben diesen einerseits immateriellen Werten stand aber auch eine ungeheure materielle Vermögenskonzentration bei sehr wohlhabenden Älteren, die durch Vererben, Unternehmensnachfolgen und Zustiftungen den Prozess der Zukunftsgestaltung entscheidend mit beeinflussen würden. Die Chance der Entwicklung einer Vermögenskultur bestand im Aufbau einer sinnstiftenden Wertearchitektur, die die menschlichen und unternehmerischen Errungenschaften einer Gesellschaft zur Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität nutzen könnte. In diesem Sinne sollte sich eine Vermögenskulturforschung auf die potentielle Wechselwirkung zwischen Vermögen und Gesellschaft konzentrieren und diesen Transfer in den Bereichen der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft, der Kultur, der Privatsphäre und zwischen den Generationen untersuchen. Den Begriff des Vermögens habe ich bewusst gewählt, um
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die unterschiedlichen Aspekte des Reichtums transparent zu machen; denn Reichtum steht in einer Relation zum Vermögen wie die Klugheit zur Weisheit. Die Begriffe des Reichtums und der Klugheit dokumentieren lediglich eine Quantität oder ein bestimmtes Maß an verfügbaren Ressourcen, während Vermögen und Weisheit bereits ihre verantwortungsvolle Umsetzung bedeuten. Aber der Vermögensbegriff ist noch weiter gefasst; neben der sinnvollen Anwendung monetärer Möglichkeiten stehen die Talente, Tugenden und Kompetenzen, die der Einzelne und die Gemeinschaft anzuwenden imstande sind. Also ist gelebte Vermögenskultur auch ein Bekenntnis und eine Leistungsbereitschaft Vermögender, Mehrwert zu erzeugen und Verantwortung zu übernehmen und beinhaltet demnach ganz allgemein die Förderung und Pflege von materiellen und immateriellen Werten zum Schutze der individuellen, familiären und gesellschaftlichen Zukunftsgestaltung. Im Folgenden werde ich einige vermögenskulturelle Anschauungen vermitteln, die einen ersten Überblick gewährleisten. Immanuel Kant (1991 [1788]) verweist auf eine starke Neigung des Menschen, sich in besonderer Weise um die Tugendhaftigkeit der anderen zu kümmern – und so gleichzeitig um die eigene Glückseligkeit. Der Philosoph meinte, ein Großteil der „Übel dieser Welt“ würde verschwinden, wenn man das genannte Verhältnis einfach umdreht: Statt sich über vermeintliche Verfehlungen anderer aufzuregen, lieber „vor der eigenen Haustüre kehren“, statt krampfhaft um den eigenen Erfolg zu kämpfen, sich lieber um das Glück der anderen sorgen. Tatsächlich sind in dem philosophischen Bonmot die Leitlinien einer allgemeinen Vermögenskultur angesprochen: auf der einen Seite die Besinnung auf die eigenen Tugenden und Potentiale, auf der anderen Seite deren Erschließung für den gemeinschaftlichen Nutzen. Unsere Chance für eine bessere Zukunft liegt in einem Perspektivwechsel: Es gilt, die im Überfluss vorhandenen Fähigkeiten und Talente wiederzuentdecken, die wir in der Fixierung auf unsere abgesonderte Individualwelt aus dem Blick verloren haben. Es lassen sich darunter, wie wir sehen werden, nicht nur finanzielle Ressourcen verstehen, sondern auch Zeitbudgets, emotionale Kompetenzen, Generationenwissen und vieles mehr. Das reicht vom Einfachen und Naheliegenden wie dem Alters- oder Gesundheitsvermögen bis zum Komplexen und Kreativen wie dem Wahloder Vorstellungsvermögen. Von einer funktionierenden Vermögenskultur kann man sprechen, wenn all diese verschiedenen Vermögen ineinander greifen, miteinander vernetzt sind und synergetisch zusammenwirken. Die bewusste Hinzufügung des Wortes „Kultur“ mag zunächst erstaunen. Für den Soziologen Max Weber ist Kultur „ … ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens…“ (Weber 1968: 180). In unserer Begabung, bewusst zur Welt Stellung zu beziehen und ihr einen Sinn zu verleihen, eröffnet sich uns der Urgrund dieser Vermögenskultur. Meines Wissens gibt es keinen zusammenfassenden Begriff für jene Fähigkeiten, die den Menschen in erster Linie auszeichnen: über sich selbst nachzudenken und andere zu erkennen, dem Leben Sinn zu verleihen und es einem bewussten Willen entsprechend zu gestalten. Genau das aber ist es, was ich unter Vermögenskultur verstehe. Sie ist der individuelle Wille, Werte und Fähigkeiten in ein sinnvolles Gemeinschaftsleben einzubringen. Nur die aus unserem Vermögen heraus gestalteten Werte sind einsichtsfähig. Wir vermögen etwas zu tun, weil wir es wollen. Wir vermögen etwas zu tun, weil wir es können. Wir vermögen etwas zu tun, weil wir bereit sind, etwas zu leisten. Wenn ich folgend von der Umsetzung der Vermögenskultur spreche, handelt es sich eigentlich um eine Vermögenskulturpraxis. Um die Handhabung dieses Begriffs zu erleich-
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tern, verwende ich das Wort „Vermögenspraxis“. Wie wir sehen werden, führt uns diese konkrete Verwirklichung zu verschiedenen Ebenen, auf denen Verantwortung übernommen werden muss. Den Ausgangspunkt bildet die persönliche Ebene der Vermögenspraxis. Der Unergründlichkeit unseres Seelenlebens verleihen wir Kontur, indem wir uns ein Gerüst aus verlässlichen Werten schaffen. Aus unseren persönlichen Talenten und den kulturellen Gegebenheiten formen wir jene Persönlichkeit, die uns immer weiter aus der Unmündigkeit herausführt. So ist nicht gesagt, dass es für die Chefin einer Werbeagentur in München leichter ist, dem Leben ein zufriedenstellendes Design zu geben, als für eine Krankenschwester in Bangladesch. In letzter Konsequenz verdankt sich der Seelenfrieden vor allem der Frage, ob der Mensch das Maß dessen, was er vermag, ausschöpft. Auf der nächsten Ebene haben wir es mit der gesellschaftlichen Vermögenspraxis zu tun. Jedes Land, jede Regierung, jedes Unternehmen, jede Schule und jede Familie steht in der Pflicht, die Fähigkeiten und Fertigkeiten derer ans Licht zu bringen, die ihnen anvertraut sind. Eine funktionierende Gesellschaft ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass unterschiedliche Vermögensarten wie Humanvermögen, Sozialvermögen, Urteilsvermögen oder Familienvermögen bewahrt und gemehrt werden. Dazu bedarf es nicht zuletzt der Gabe, die widerstrebenden Interessen von Einzelnen und Gruppen miteinander zu vereinen. Eine in diesem Bewusstsein gestaltete Gesellschaft schafft den vielfältigen Vermögen ihrer Mitglieder auch eine marktwirtschaftliche Plattform. Noch bestimmen die Gesetze des Marktes, wen oder was wir gerade als Talent oder Erfolg bewerten. In einer gesellschaftlichen Vermögenspraxis spielt aber der Gedanke der menschlichen Entwicklung die Schlüsselrolle. Bildung, Weiterbildung, lebenslanges Lernen und vor allem das zu tun, wozu man befähigt ist und was man wirklich will, werden die Gestaltung des Lebenslaufes nachhaltig verändern. Auf der dritten Ebene der Vermögenspraxis kommt das Verhältnis der Generationen ins Spiel. Da unser Leben zyklisch verläuft, besitzt die vorherige Generation immer einen Erfahrungsvorsprung. Pubertät, Lehre, Studium, Berufseintritt, Arbeitsplatzwechsel, Partnerschaften, Kindererziehung – beim Eintritt in noch unbekannte Lebensphasen kann uns dieses Wissen anderer Orientierung vermitteln. Die Nutzung des gegenseitigen Vermögens, gelebtes Leben als Kompetenz zu begreifen, fördert den gegenseitigen Respekt. Ob dies nun in Form von Patenschaften selbst gesucht oder von „pfiffigen Leuten“ professionell organisiert wird, wir sprechen von echter Wertschöpfung. Der gesamte Komplex des Dialogs der Generationen entzieht sich weitgehend staatlicher und institutioneller Einwirkung. Wir haben es mit einer neuen privaten Plattform zu tun, die von eigenen Initiativen abhängig sein wird. Begreifen wir das Gefühl der Solidarität als ein selbst bestimmtes Vermögen, rückt der Traum von der Bürgergesellschaft in greifbare Nähe. Auf der vierten Ebene haben wir es mit wissenschaftlicher Vermögenspraxis zu tun. Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass viele wissenschaftliche Erkenntnisse dem alltagstauglichen Menschenverstand kaum zugänglich sind und gleichzeitig die Wissenschaft selbst immer wieder an ihre eigenen Grenzen stößt. Eine wissenschaftliche Vermögenspraxis soll in der Lage sein, dem Bürger komplizierte Zusammenhänge nachvollziehbar zu erläutern, damit sie erfolgreich umgesetzt werden kann. Vermögenskultur und Vermögenspraxis stehen noch am Anfang ihrer Entwicklung. Zwar haben uns die Jahrhunderte einen reichen Vorrat an Werten, Tugenden und Vorbildern tradiert, aber zwischen diesen idealen Entwürfen und unserer aktuellen Lebensweise
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bestehen große Differenzen. Bisher ist es nur unzureichend gelungen, die überlieferte Kultur praktisch umzusetzen und in unserem Wesen zu verinnerlichen. In diesem Sinne sind Vermögensforschung und Vermögenspraxis Methoden der Werte- und Willensfindung, die den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen Rechnung tragen.
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Reichtums- und Vermögensforschung
Nach eingehender Beschäftigung mit der zugrunde liegenden Thematik durch Gespräche mit Milliardären und der Bearbeitung von Biographien sehr wohlhabender Personen sowie Familiendynastien erfolgte die Schlussfolgerung, dass es „die Reichen“ gar nicht gibt. Zwischen hoch vergüteten Vorstandsvorsitzenden und Oligarchen, zwischen weltberühmten Fußballprofis und Medienmogulen, zwischen Börsengurus und Stahlmagnaten liegen individuelle und biografische Welten, die sich nicht angemessen unter einem einzigen Oberbegriff subsumieren lassen. Zahlenmäßig haben wir es weltweit mit zirka 110.000 Personen zu tun, die sich auf einer Vermögensskala zwischen 30 Millionen und 50 Milliarden USDollar bewegen (Capgemini und Merrill Lynch 2008). Darunter befinden sich genauer betrachtet zurzeit 1.200 Milliardäre (aktuell: laut neuestem Forbesbericht hat sich die Anzahl der Milliardäre im Rahmen der Finanzkrise Stand März 2009 auf 793 reduziert). All diese Leute als reich „über einen Kamm zu scheren“ ist etwas anderes, als alle Personen über ein Meter neunzig als groß zu bezeichnen. Um die rätselhafte Welt der dort herrschenden Größenordnungen zu durchdringen, bedarf es weiterer Kriterien und Differenzierungen. Die theoretische wie empirische Unschärfe des bisherigen Reichtumsbegriffs, der höchst unterschiedliche Gruppen zu einer zusammenfasst, markiert nicht nur ein politisches und wissenschaftliches Defizit. Es gilt, zwischen denen zu unterscheiden, die wesentlich zum Wohlstand und Wachstum der Gesellschaften, in denen sie leben und wirken, beitragen und denen, die sich auf Kosten anderer persönlich bereichern. Wenn wir unter den Kapitalstarken die Vorbildlichen nicht von den Halbseidenen unterscheiden können, weil sie unsichtbar bleiben oder wir keine Kriterien der Bewertung haben, überlassen wir die politische Meinungsbildung dem Boulevard. Aus diesen Gründen erscheint es notwendig, nicht nur die Reichtumsforschung systematisch weiterzuentwickeln, sondern diese durch eine eigenständige Vermögensforschung zu ergänzen. Der Vermögensbegriff erlaubt uns, nicht nur die Summe des materiellen Besitzes zu erfassen, sondern auch seine qualitative Verwendung und seine individuellen Voraussetzungen zu erforschen. Wenn wir lernen, Reiche von Vermögenden zu unterscheiden, verringert sich die Gefahr oberflächlicher Urteile und mythischer Stereotype. So kann sowohl eine vorbildliche Vermögenspraxis anschaulich gemacht als auch maßlose oder kriminelle Aneignungen leichter geahndet werden. In diesem Sinne dient die Vermögensforschung der wissenschaftlichen Grundlegung philanthropischen Verhaltens und verantwortungsbewussten Handelns. Durch die Identifizierung des konstruktiven Umgangs mit Besitz und Potential als gemeinschaftsbildende Qualität besteht die Möglichkeit, die Distanz – aufgrund von Neid oder Abschottung – zwischen gesellschaftlichen Milieus zu verringern. Es herrscht zwar kein Mangel an Schriften zum Thema Reichtum (z.B. Bensch 1995; Huster 1997; Carnegie 2000), aber bis heute besteht Uneinigkeit. Die Bundesregierung konstatiert: „Die jüngere deutsche Reichtumsforschung steht vor ausgeprägten konzeptio-
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nellen Hürden. Es besteht kein Konsens darüber, was Reichtum an Vermögen konkret sein soll; noch weniger ist eine Einigung in Fragen der Operationalisierung und Messung von Reichtum in Sicht.“ (Deutsche Bundesregierung 2005: 45) Ernst-Ulrich Huster bestätigt diese allgemeine Situationsbeschreibung: „Es gibt in Deutschland aber eine nur anfänglich entwickelte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fragen des Reichtums. Damit geht einher, dass bereits die empirischen Grundlagen jedes Nachdenkens über Reichtum außerordentlich spärlich sind. Reichtum ist und bleibt ein scheues Wild, das man mit dem Nachtsichtgerät suchen muss“ (Huster 2002: 2; siehe auch Huster in diesem Band). Zumindest herrscht Einigkeit darüber, dass die Dimensionen des faktisch bestehenden Reichtums weitgehend im Verborgenen liegen. Die offen bleibenden Fragen stehen in einem seltsamen Verhältnis zur Fülle auffindbaren Materials; allein zum Stichwort „Reichtum“ erhält man bei Google rund 2,5 Millionen Hinweise. Dass ein derart allgegenwärtiges Thema – insbesondere der Superreichtum – wissenschaftlich noch nicht umfassend ausgeleuchtet wurde, ist nur so zu erklären, dass hier ein potentieller Konfliktstoff vom kollektiv geträumten Traum des großen Geldes (siehe auch Beckert in diesem Band) aufrechterhalten wird. Zunächst gilt es zu konstatieren, dass wir derzeit nicht in der Lage sind, die Schwelle, an der Reichtum beginnt, eindeutig zu beziffern. Die amtlichen Angaben zur Einkommens- und Vermögensverteilung bilden die Wirklichkeit nicht zureichend ab. Die meisten Datenquellen erfassen lediglich das Einkommen und die amtlichen Stichproben basieren auf freiwilliger Beteiligung. Seit Abschaffung der Vermögensteuer gibt es keinerlei gesicherte Datenbasis zur Erfassung des Vermögens der Superreichen. Richard Hauser (siehe auch Hauser in diesem Band) hat bereits vor einigen Jahren darauf hingewiesen: „ … die Vermögenssteuerstatistik wurde bisher im Abstand von ungefähr drei Jahren durchgeführt; da seit 1997 die Erhebung der Vermögenssteuer allerdings ausgesetzt ist, bezieht sich der vorerst letzte Datensatz auf 1993.“ (Hauser und Becker 2001: 47) Die sozialstatistische Datenlage verschafft nicht einmal ansatzweise gesichertes Wissen über den Umfang und die Verteilung von Reichtum. In den Regionen jenseits der ZehnMillionen-Grenze gibt es weder verlässliches Zahlenmaterial noch fundierte Milieustudien. So darf es schon als verdienstvoll begriffen werden, wenn ein Nachschlagewerk als Eintrag statt einer Definition die Feststellung einer Lücke bringt. In der aktuellen Auflage des Evangelischen Soziallexikons heißt es: „Unter Reichtum wird ein – bislang wissenschaftlich und politisch nicht näher bestimmtes – weit überdurchschnittliches Ausmaß an materiellen Ressourcen verstanden. Ein Konzept für Reichtum, das diesen wissenschaftlich untersuchbar macht, ist bislang nicht gefunden und allgemein akzeptiert.“ (Wagner 2001: 1314) Die Unwissenheit über die wahren Dimensionen großen Reichtums entspringt aber nicht allein einer paradoxen gesellschaftlichen Gemütslage oder gar dem Versuch bewusster Irreführung. Uns fehlt bisher schlicht die Möglichkeit, sie zu messen. Ein Besitz zwischen 200 Millionen und 20 Milliarden entzieht sich nicht nur der bürokratischen Einsicht, sondern manchmal auch der persönlichen Beurteilungsfähigkeit. Einige Reiche wissen nicht einmal genau, wie groß das persönliche Vermögen ist. Das verdeutlicht der legendäre Ausspruch von Gloria von Thurn und Taxis: „Wer weiß, wie viel er hat, ist nicht wirklich reich.“ Es gibt nicht nur eine geringe Zahl solcher Superreicher, sondern auch nur wenig Fachleute, die sich mit den entsprechenden Größenordnungen auskennen. Und wer einen finanztechnischen Rat geben kann, hat in der Regel von der gesellschaftlichen Bedeutung
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solcher Dimensionen wenig Kenntnis. Um die Reichtumsverteilung zu analysieren und die seltene Form des Superreichtums wenigstens vorstellbar zu machen, bedarf es der Sozialwissenschaften. Aber bislang gibt es weder Wissenschaftler, die in dieser „Höhenluft“ Erfahrung haben, noch eine Bereitschaft der betreffenden Klientel, entsprechende Auskünfte zu geben. Die Schwellenängste sind vor dem Hintergrund eines überhitzten und voyeuristischen Interesses nachvollziehbar. Dem Analytiker fehlen wesentliche Beurteilungskriterien, da weder über die Grenzen von Reichtum noch über ein gerechtes Maß für angemessene Verteilung Konsens herrscht. Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, habe ich im Jahre 2004 am Institut für Soziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster begonnen, Seminare für die neue Vermögenskultur anzubieten. Ich wollte herausfinden, ob sich diese Thematik für den universitären Alltag eignet. Gemeinsam mit den Studenten haben wir Familiendynastien und Konzerneigner, Stiftungen und Adelshäuser analysiert. Wir haben Vermögende zur Diskussion in unsere Veranstaltungen eingeladen und öffentliche Befragungen durchgeführt, um zu erfahren, was die Menschen über Reichtum denken. Daraus ergaben sich Examensarbeiten und Promotionsthemen und insgesamt die klare Einsicht, dass es sich nachhaltig lohnt, Vermögen und Reichtum differenziert zu behandeln. Im Jahre 2005 habe ich diese Kurse zusätzlich auch am Institut für Kultur und Medienmanagement der Freien Universität Berlin angeboten. Vor dem Hintergrund ebenfalls positiver Resonanz schien es lohnenswert, diese Aktivitäten weiter auszubauen. Mit der Unterstützung der Stiftung Dialog der Generationen ist es 2006 gelungen, das Forum für Vermögensforschung an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster zu etablieren. Gemeinsam mit den Kollegen Wolfgang Lauterbach und Matthias Grundmann begannen wir, Vermögenskultur und Vermögensforschung als interdisziplinäre Disziplin aufzubauen. Wir sichten die für dieses Thema relevanten Publikationen und versuchen, die einzelnen Arten und Klassen von Reichtum in einer neuen Systematik zu definieren. Hierzu arbeiten wir an einer Reichtumspyramide, anhand der monetäre Reichtumsgrenzen erschlossen werden. Am Ende wollen wir einen systematischen Überblick bieten können, inwieweit und wie sich Lebenswelten von Personen mit einem Vermögen zwischen etwa drei Millionen oder mehreren Milliarden voneinander unterscheiden. Ein weiterer Schwerpunkt ist die bereits angesprochene Differenzierung zwischen Reichtum und Vermögen. In Ermangelung eines systematischen Überblicks aller konstruktiven Transferleistungen von Vermögenden in die Gesellschaft untersuchen wir unter anderem genau diesen Aspekt in der empirischen Studie „Vermögen in Deutschland (Vid)“. Es geht hierbei um die Frage und den Nachweis, wie viele und welche Projekte in den Bereichen der Medizin, der Bildung, der Humanität und der Kultur durch Stiftungen, Institutionen und persönliche Zuwendungen von Vermögenden ermöglicht werden. Mit Hilfe standardisierter Interviews analysieren wir die Motivation und die Sinnhaltigkeit philanthropischen Verhaltens. Zudem werden innerhalb der Studie wichtige Fragen zu Genese, Verwendung und Höhe des Vermögens der Befragten geklärt. Gerade in diesem Bereich besteht zurzeit noch ein deutliches Forschungsdefizit und auch die Bundesregierung führt im 3. Armuts- und Reichtumsbericht an, „(…) dass die Daten- und Erkenntnislage im Bereich des privaten Reichtums mit Blick auf besonders hohe Einkommen und Vermögen kurzfristig nur schwer zu verbessern ist.“ (Deutsche Bundesregierung 2008: 4) Neben der dringend notwendigen Forschung legen wir Wert auf die Lehre und Vermittlung dieser Inhalte an Studenten und eine interessierte Öffentlichkeit. Nur so können
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wir den „Mythos des Reichtums“ durch eine konkrete Vermögenskultur gesellschaftlich vermitteln. Ein weiteres Institut für Vermögensforschung ist nun an der Universität Potsdam unter Leitung von Prof. Dr. Wolfgang Lauterbach im Aufbau begriffen. Gemeinsam mit der Stiftung Dialog der Generationen wollen wir langfristig ein europäisches Netzwerk universitärer Institute für Vermögensforschung errichten. Mit diesem Koordinatensystem vermögenskultureller Forschung möchten wir dazu beitragen, die Lebenswelt der Vermögenden nicht nur transparent, sondern auch für Wissenschaftsunterstützung, Talentförderung und gesellschaftliche Verantwortungswahrnehmung aufnahmefähig zu machen. Aber eine differenzierte Darstellung aller Reichtums- und Vermögensebenen erfordert nicht nur wissenschaftliche Anstrengungen, sondern auch ein verändertes Denken bei Politik und Verwaltung. Erst wenn die staatlichen Repräsentanten bereit sind, die sensiblen Grenzen zwischen Reichtum und Vermögen anzuerkennen, kann ein vernünftiger Prozess der Aufklärung in Gang kommen. Ein klares Bekenntnis zu Vermögenden einerseits und dementsprechende Sanktionen für Missbrauch und Vorteilsnahme andererseits sind nur die ersten Schritte. Auch die Finanzmärkte insgesamt sollten den Bürgern in ihrer Wirkungsweise verdeutlicht werden, um geeignete Finanzprodukte für sich selbst überhaupt erkennen zu können. Die gegenwärtige Finanzkrise dokumentiert unausweichlich, dass mangelnde Transparenz und weitreichendes Unverständnis zu globalen Verwerfungen führen, die in ihrem Zerstörungspotential unabsehbar sind. Und solange amtliche statistische Angaben zur Einkommens- und Vermögensverteilung nicht nur halbherzig und unvollständig sind, sondern bestimmte Größenordnungen gar nicht erst erfassen, kann zum Beispiel von einer Steuergerechtigkeit nicht die Rede sein. Die Steuergesetzgebung kann erst dann als konstruktives Gestaltungselement umfassend genutzt werden, wenn die begründeten Zweifel nicht offensichtlicher sind als eine glaubwürdige Fairness im Umgang mit allen gesellschaftlichen Schichten.
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Vergleichende Vermögenskultur
Mich beschäftigen über die quantitativen Dimensionen der Vermögensforschung hinaus vor allem die qualitativen Aspekte und in erster Linie die Frage, was Reiche und Vermögende zur gesellschaftlichen Gesamtentwicklung beitragen. Ob jemand Ultra-Millionär oder Milliardär ist, hat auf den ersten Blick vergleichsweise wenig Relevanz für die Gesellschaft. Entscheidend ist die Art und Weise, wie sich der Umgang mit der vorhandenen Substanz gestaltet. Von dieser Perspektive aus kommt man immer wieder zu der bereits eingeführten Aufteilung in zwei Kategorien: Reiche und Vermögende. Während der Reiche Gewinne für sich selber nutzt, übernimmt der Vermögende gesellschaftliche Verantwortung. Demgegenüber verbleiben zum Beispiel reine Finanztransaktionen im „Hamsterrad“ der Reichtumsanhäufung. Wer in einem solchen Bewusstsein egozentrischer Selbstgenügsamkeit stecken bleibt, verkennt die Notwendigkeit der existenziellen Gemeinschaftlichkeit. Auf diese Weise gelebter Reichtum steht außerhalb einer kulturellen Mitverantwortung. Der Unterschied zwischen Reichen und Vermögenden, Superreichen und Hochvermögenden bedarf weiterer Aufklärung. Es sollte deutlich werden, wie fundamental sich die Lebenshaltungen von Reichen und Vermögenden unterscheiden. Hier haben wir es mit zwei grundverschiedenen Mentalitäten zu tun. Selbstsucht und Ignoranz sowie Verantwor-
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tung und Weitblick stehen sich in dieser Konstellation konträr gegenüber. Es ist das Ziel der Vermögensforschung, diese unterschiedlichen Lebenswelten klar voneinander abzugrenzen und das Leistungsspektrum derer in Augenschein zu nehmen, die das Prinzip der Koexistenz unterstützen und zu verwirklichen helfen. Vor diesem Hintergrund wurde es höchste Zeit, eine wissenschaftliche Plattform zu etablieren, die sich eingehend mit der vermögenden Person als Träger und Protagonist der hier angesprochenen Vermögenskultur betätigt. Dies tun wir nun seit Anfang 2007 an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien. Und vorerst sind wir europaweit die einzigen mit dieser fachspezifischen Disposition. Als Gründer und Leiter des Lehrstuhls für vergleichende Vermögenskultur ist es meine Aufgabe, die Lebensverhältnisse derjenigen Begüterten, die meiner Konfiguration der Vermögenskultur entsprechen (im materiellen Sinne ca. jenseits der 100 Millionen), im Speziellen zu erforschen. Das Medium, um die entsprechenden Arbeitsergebnisse zu generieren, ist das sozialpsychologische Tiefeninterview. Erst wenn es durch die systematische Befragung einer Vielzahl von Vermögenden gelingt, einen gesicherten Erkenntnisstand der vielgestaltigen Lebenswelten dieser Klientel aufzubauen, wird es möglich sein, über die neue Rolle des so genannten Philanthropen fundiert und nachhaltig zu diskutieren. Die überwiegend anonymisierten Interviews finden vordringlich im deutschsprachigen Umfeld statt. Die bewusste Wahl des Begriffs »vergleichende Vermögenskultur« weist jedoch darauf hin, dass das Phänomen Vermögen in möglichst vielen Facetten zum Ausdruck gebracht werden soll. Entsprechend liegt im Fokus dieses Lehrstuhls die unterschiedliche individuelle Vermögenspraxis der Generationen, der Kulturen in Europa, Asien und Amerika sowie ein Vergleich der verschiedenen Konfessionen und ihrer Haltungen zum Thema Reichtum und Vermögen. Nicht zuletzt wird sich die Frage stellen, wie auch Menschen, die über keine materiellen Spielräume verfügen, nichtsdestoweniger im Rahmen ihrer Persönlichkeitsentwicklung ihr individuelles Vermögen ausüben und ausleben können. Ziel dieser wissenschaftlichen Herausforderung ist sowohl die Etablierung eines gesamtgesellschaftlichen Vermögensbegriffs im Sinne eines Wertebewusstseins als auch die Erkundung einer bisher weitgehend unsichtbar gebliebenen Klientel, ohne deren tätige Mithilfe eine konzertierte Gemeinschaft nicht realisierbar erscheint. Bei aller humanitären und wissenschaftlichen Gesinnung sollte nicht übersehen werden, dass gerade privater Reichtum und seine Inanspruchnahme für den Wohlstand eines Landes unverzichtbar ist. Ein großer Teil des Kapitals, von Immobilien und Rentenoptionen einmal abgesehen, steckt als Gegenwert in Unternehmen, die unserer Gesellschaft Arbeitsplätze stellen. Die Tatsache, dass Arbeit und Beschäftigung in absehbarer Zukunft weiterhin im Zentrum des gesellschaftlichen Lebens stehen werden, führt zwangsläufig zu der Erkenntnis, dass jedem Beschäftigungsplatz ein doppelter Vermögenswert innewohnt – als Plattform sowohl wirtschaftlicher Produktivität als auch sozialer und persönlicher Integration. Insofern dient eine ernsthafte Vermögenskultur immer auch der Pflege und Förderung des gesamten gesellschaftlichen Humanvermögens. Vermögenskultur ist die bewusste Pflege und Veredelung von materiellen und immateriellen Werten zur persönlichen und gesellschaftlichen Zukunftsgestaltung. Es schien mir inspirierend, nicht nur nach Problemen zu suchen, sondern nach Werten und Fähigkeiten, wie sie durch den Begriff des Vermögens hervorragend repräsentiert wurden. Um die vielfältigen Vermögen der Gesellschaften zu schützen, bedarf es eines klaren Willens und einer nachhaltigen Verantwortung, die für mich durch den Begriff der Kultur sinnvoll zusam-
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mengefasst wurden. Der Kulturbegriff ist seit langem ein Objekt der Auseinandersetzung. Es besteht vor allem der Eindruck der Verwässerung, so als sei alles Kultur. In der gesamten Debatte scheint es nur eine Übereinstimmung zu geben, nämlich die verbreitete Auffassung, dass dieser Terminus eigentlich nicht definierbar ist. Kultur im vorliegenden Zusammenhang ist als die Pflege und Veredelung des Geistes, des Willens, der Werte, der Tugenden und der menschlichen Errungenschaften gemeint, sofern dies dem Wohl des Gemeinwesens dient. Eine gelebte Vermögenskultur vertritt treuhänderisch die Interessen der kommenden Generationen, schützt den Gestaltungsraum von Talent und Begabung und versucht unentwegt, rohe Verhältnisse zu humanisieren. Aus dem Veredelungsgedanken kulturellen Handelns heraus ergibt sich automatisch eine Verantwortung für jede Form der Vermögensbildung. Die Identifikation und Förderung von Vermögen kann somit als eine Hauptaufgabe der Kultur angesehen werden. Über welche Arten des Vermögens der Mensch auch immer verfügt, in welchem Land oder in welcher Zeit er auch immer lebt, er entscheidet über den Umgang mit seinem Vermögen nach bestimmten Werten. Eine Vermögenskultur, so wie ich sie verstehe, entspringt der bewussten Entscheidung, die positiven Werte eines Individuums und einer Gesellschaft zu aktivieren. Bei der Beschäftigung mit dem Vermögensbegriff darf die Seite der Selbstbestimmung nicht unerwähnt bleiben. In dieser Hinsicht hilft die Vermögenstheorie von Aristoteles (1995) (siehe auch Ludger 2002), der sich als einer der wenigen großen Denker eingehend zu diesem Thema geäußert hat. Für ihn war Vermögen ein Prinzip der Bewegung und der Veränderung. Nach seinem Verständnis konnte nur derjenige, der sein Vermögen ausübt und in Gebrauch nimmt, es wirklich besitzen. In diesem Sinne verstand Aristoteles unter einem Vermögen eine besondere Eigenschaft, die einen Menschen dazu befähigt, sich oder andere zu verändern und sich selbst zu bestimmen. Insofern bildet Vermögen den Horizont des Individuums und ist demnach eine Herausforderung, die im aristotelischen Sinne verwirklicht werden will. Mit diesem Denkmuster erhalten wir eine gute Orientierung für die Idee der Vermögenskultur. Für jeden Menschen stellt sich nun die Frage, wie er mit seinen Ressourcen und Kompetenzen umgehen und wie er sie über einen bestimmten Selbstzweck hinaus kultivieren will. Grenzen wir den Vermögensbegriff weiter ein. Der Volkswirtschaftler Hans-Günter Krüsselberg kommt zu folgender Definition: „Vermögen ist jenes durch konkret verfügbare produktive Faktoren verkörperte Handlungspotenzial in den Händen von privaten Haushalten, Unternehmen oder des Staates, welches maßgeblich über die Lebenschancen, den Platz und den Einfluss von Menschen in ihrer Gesellschaft bestimmt.“ (Krüsselberg 1997: 184) An dieser Aussage wird die Dimension des Phänomens Vermögen ebenso deutlich wie die Tatsache, dass die Entfaltung der menschlichen Existenz ohne eine vorgängige Bewusstwerdung des Vermögens kaum möglich ist. Das vorhandene Vermögen sichert die Überlebensfähigkeit der Gesellschaft und bedarf gerade deshalb ihres Schutzes und ihrer Kontrolle. Die Vermögenden selbst stehen in einer einzigartigen Verantwortung. Und die Selbstverpflichtung zur Identifikation besonderer Potentiale zählt zu den vordringlichen Zielen der Vermögenskultur. Vorläufig könnte man es so formulieren: Vermögenskultur ist die Förderung und Pflege materieller und immaterieller Werte, von Beziehungen und Netzwerken zum Schutz der individuellen, familiären und gesellschaftlichen Zukunftsfähigkeit.
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Vermögensethik
Grundvoraussetzung jeder Ethik ist eine Bereitschaft des Menschen, das als gut oder richtig Erkannte zum Prinzip des eigenen Wirkens zu machen. Diese Einbettung richtet sich nach gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen, die sich im Laufe der Zeit verändern können. Über die Wurzel im griechischen Wort Ethos verweist der Begriff auch auf Sitte und Moral als Orientierungsmuster, in denen sich die Sinn- und Wertvorstellungen einer Handlungsgemeinschaft widerspiegeln. Die meisten sittlichen Regeln hat der Mensch verinnerlicht. Sie bestimmen sein Handeln ebenso stark wie die Grammatik das Sprechen. Ethik basiert auf zwei miteinander verwobenen Fragen: Was ist das Gute, und wie kann es verwirklicht werden? Ihre eigentliche Aufgabe setzt ein, wenn ein moralischer Sinn seine Gültigkeit und Orientierungsfähigkeit eingebüßt hat und die Unterscheidung zwischen Gut und Schlecht nicht mehr zweifelsfrei gewährleistet ist. Im Umgang mit der eigenen Sprache wird das Problem anschaulich: Ist man sich nicht sicher, ob ein bestimmter Ausdruck falsch oder richtig verwendet wird, kann man eine Grammatik zur Hand nehmen. Hat man aber ein sittliches oder moralisches Problem, sind die Lösungswege komplizierter. An dieser Schnittstelle kann der gesunde Menschenverstand Hilfestellung geben, indem er sein intuitiv zum Guten hin gewendetes Vermögen in die Waagschale wirft. Der Mensch lernt von früh an, dass es innerhalb einer Gemeinschaft Regeln gibt, ohne deren Beachtung ein Zusammenleben unmöglich wird. Die moralische Einsicht begreift diese jedoch nicht als Zwang, sondern als garantierten Rahmen für die größtmögliche Freiheit ihrer Mitglieder. Diese Grunderfahrung besagt, dass menschliche Handlungs- und Willensfreiheit nicht unbegrenzt ist, sondern sich an den Ansprüchen der Mitmenschen orientiert. Die Herausforderung besteht darin, vor diesem Hintergrund zu eigenen Entscheidungen zu gelangen, ohne sich bevormunden oder entmündigen zu lassen. Mit Immanuel Kant (1991 [1788]) könnte man sagen, dass die Mündigkeit des Individuums darin liegt, sich des Vermögens seines Verstandes selbständig zu bedienen. Insofern schreibt uns die Ethik nicht vor, was gut ist, sondern ebnet lediglich den Weg, auf dem etwas als gut Erkanntes erreicht werden kann. Ethik betreibt selber keine Moral, sondern vermittelt die Vermögenspraxis, mit Moral adäquat umzugehen. Unter Moral versteht man die Gesamtheit der Werte und Normen, die eine kulturelle Gemeinschaft verbindlich anerkennt. Ein wesentliches Ziel der Ethik ist somit die Aufklärung menschlicher Praxis hinsichtlich ihrer moralischen Qualität. In diesem Zusammenhang bedeutet Vermögensethik die positive Beurteilung und Akzeptanz menschlicher Fähigkeiten und Werte sowie den Willen, diese Vermögen zu schützen und zu fördern. In der Regel entscheiden die meisten von uns ohne langes Nachdenken, ob etwas gut oder schlecht ist. Hier grenzen sich Fragen der Moral nicht wesentlich von Fragen des Geschmacks oder des täglichen Lebens ab. Niemand wird zögern, Ehrlichkeit und Treue für gut, Diebstahl oder Mord für schlecht zu halten. Zugleich entwickeln alle Kulturen ihren eigenen moralischen Sinn und ihr spezifisches Urteilsvermögen. Mit diesen Prägungen sind Gefühle und Empfindungen verbunden, die die Angehörigen der jeweiligen Kultur verinnerlicht haben. Diese sittlichen Kräfte, die die Lebenshaltungen von Menschen bestimmen, sind unterschwellig immer präsent, ohne dauernd bewusst zu sein. Aber wenn diese sittlichen Prägungen in Grenzsituationen irritiert werden, entsteht im positiven wie im negativen Sinne die Gefahr der Manipulation. Ein Beispiel wäre die Ablehnung Andersdenkender aus Angst, sie könnten die eigene Überzeugung ins Wanken bringen.
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Die zentrale Idee der Aktivierung des Vermögensbegriffs zielt darauf, durch die Identifikation konkreter Vermögenswerte das ethisch und moralisch Gute alltagspraktisch zu erfassen. Das Wort „Vermögen“ eignet sich für dieses Ziel in dreifacher Hinsicht: Einerseits repräsentiert es materiellen wie immateriellen Wert, andererseits dokumentiert es jenes Handlungspotential, das in jedem Einzelnen und in jeder Gesellschaft steckt. Vor allem aber ist das, was man vermag, immer in die Zukunft gerichtet. Daher ist das Vermögen immer auch ein Wertauftrag, den es zu erfüllen gilt. Die Ethik selbst bedarf der Moral, um ihre Aufgabe in der Praxis zu erfüllen. Aber Begriffe wie Würde, Ehre oder Gerechtigkeit besitzen in unterschiedlichen Kulturen voneinander abweichende Bedeutungen. Sowohl der palästinensisch-israelische Konflikt als auch die Konfrontation zwischen Islamisten und westlichen Nationen deuten auf fundamental entgegengesetzte Lesarten hin. Darüber hinaus sind zentrale Werte immer wieder zeitgeistigen Interpretationen ausgeliefert. Wir sehen das an der immer wiederkehrenden Gerechtigkeits-Diskussion in Deutschland. Niemand scheint in der Lage, diesen grundlegenden Begriff allgemeingültig zu entschlüsseln. Stattdessen beobachten wir eine Inflation von Teilaspekten, die aus dem umfassenden Phänomen herausgebrochen werden: Wie sie auch heißen – Zugangsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit, Familiengerechtigkeit, Bildungsgerechtigkeit –, sie alle besitzen eine eigene Logik, die zeigt, dass schon innerhalb eines Landes viele unterschiedliche Interessengruppen Anspruch auf ihre eigene Variation von Gerechtigkeit erheben. Friedrich Nietzsche hat einen wichtigen Hinweis gegeben, der wiederum in die vermögensethische Richtung weist: Die Lehre von der Gleichheit ist das Ende der Gerechtigkeit. Dem stimme ich vollkommen zu, denn die Menschen sind nicht gleich. Gerade die jeweilige Einzigartigkeit der Menschen macht die Suche nach ihrem persönlichen Vermögen zu dem weitreichenden Versuch, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. „Jedem das Seine“ ist eine angemessene Gerechtigkeitsformel, wenn man diesem Eigenen mit einer grundsätzlichen Form des Respekts begegnet. Vermögensethik denkt also mehr aus dem Inneren des Menschen heraus und versucht, das Gute anhand seiner Potentiale zu deuten. Um das erkannte Gute auch lebenspraktisch zu verwirklichen, muss die Vermögensethik über ihren theoretischen Radius hinauskommen. In diesem zweiten Schritt geht es um eine Verdichtung, Verdeutlichung und nähere Bestimmung des Erkannten. Sie muss anschaulich und fest umrissen sein, um im gegenwärtigen Zeitalter der Orientierungslosigkeit Stellung zu beziehen. Die zentrale Herausforderung liegt in der Überwindung des existenziellen Gegensatzes zwischen moralischem Kleinmut und technologischem Größenwahn. Diese schwerwiegende Diskrepanz belastet unsere Gegenwart, da wir uns stärker von selbst verursachten Sachzwängen dominieren lassen, als uns zu moralischen Konsequenzen durchzuringen. Ob es um die Folgen der Finanzkrise, der Klimaveränderung, der Gen- und Atomtechnologie, um unsere Energieversorgung oder unsere Weltraummissionen geht, eins müssen wir klären: Wollen wir das menschliche Schicksal dem Fortschritt unterordnen, oder nutzen wir den Fortschritt für die Verbesserung der gegenwärtigen Lebensbedingungen? Ich will diesen Punkt jetzt nicht weiter ausführen, aber frei nach Bertolt Brecht rate ich, lieber mehr zu können, als man macht, als mehr zu machen, als man kann. Diese kluge Losung sollte nicht als prinzipielles Verweigerungsdogma missverstanden werden, sondern lediglich zum dynamischen Innehalten anregen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Problemlagen und eines akuten Mangels an politischen Zukunftsvisionen bedarf es einer globalen Vermögensethik. Sie kann dazu beitragen, die weltumspannenden Gegensätze zwischen
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Armut und Reichtum, Isolation und Teilhabe zu verringern und ihre Anschlussfähigkeit konsequent sicherzustellen. Ziehen wir nämlich jetzt nicht die wohlverstandenen Konsequenzen aus unserem Verhalten, werden wir unausweichlich mit den unabsehbaren Folgen konfrontiert. Bevor uns die Zeit davonläuft, sollten wir vermögensethische Entscheidungen treffen, um einen den Erfordernissen angepassten Lebensstil zu entwickeln. Um ein gelingendes Leben für viele zu ermöglichen, müssen wir uns alle bewegen. Der Wille zum Guten kann nicht länger erhofft oder delegiert werden, er wird zur Herausforderung für jeden Einzelnen. Zum Abschluss erlaube ich mir den Hinweis, dass Vermögensethik und Vermögenskultur die Dimensionen des Habens und Seins gemeinsam verinnerlichen. Wahrscheinlich erinnern sich Viele in diesem Zusammenhang an eines der bedeutendsten Werke von Erich Fromm: „Haben oder Sein“ (2006 [1976]). Seine Feststellung, dass das „ …physische Überleben der Menschen von einer radikalen seelischen Veränderung des Menschen abhängt“ (Fromm 2006 [1976]: 23), war vor dreißig Jahren visionär und ist heute aktueller denn je. Fromm meinte allerdings realistisch, dass „ …die Alternative Haben oder Sein dem gesunden Menschenverstand nicht einleuchtet“ (Fromm 2006 [1976]: 29), da man alltagssprachlich davon ausgehe, dass wer nichts habe, auch nichts sei. Fromm sah die Haben-Orientierung grundsätzlich negativ, da sie die Gier nach Geld, Ruhm und Macht zum beherrschenden Lebensthema hochstilisiere. Das unentwegte „Habenwollen“ mache den Konsum zur Falle ohne Ausweg, denn je mehr man habe, desto mehr wolle man, ohne darin jedoch Befriedigung zu finden. In der Existenzweise des Seins erkannte Fromm zwei unterschiedliche Formen: eine lebendige und authentische Bezogenheit zur Welt als Gegenteil zum bloßen Haben und das wahre Wesen einer Person als Gegenteil zum Schein. Die Bedeutung dieses Werkes von Fromm und die Gültigkeit vieler darin geäußerter Gedanken bleiben wegweisend. Durch die Konzentration auf die verschiedenen Vermögensdimensionen ergab sich für mich allerdings eine veränderte Perspektive. Das Haben als eine Chance, über Werte und Fähigkeiten zu verfügen, wird zu einer Ressource des Willens und der Verantwortung. Nicht mehr die pathologische Anhäufung bestimmt die Dynamik, sondern der Nutzen des Mehrwerts für persönliche und gesellschaftliche Entwicklungen. Dieses Bewusstsein des Habens entspricht der materiellen Seite der Vermögenskultur. Bei der Bedeutung des Seins stimme ich wieder mit Fromm überein, dass es um die wahre Natur, um das wahre Vermögen des Individuums geht. Zu den tragenden Elementen des Seins gehören Werden, Aktivität und Bewegung. Das Sein impliziert Veränderung und ist immer in die Zukunft gerichtet. Diese Eigenschaften korrelieren mit der Vermögenstendenz, das, was man vermag, nach vorne gerichtet umzusetzen. Insofern entspricht diese Vorstellung des Seins der immateriellen Seite der Vermögenskultur. Vor diesem Hintergrund stellt sich für den gegenwärtigen Menschen die Aufgabe, Haben und Sein in einen dynamischen Zusammenhang zu bringen. Wenn es gelingt, die menschlichen Vermögen und das materielle Vermögen vom Haben ins Sein zu transferieren, haben wir die historische Chance unserer Zeit ergriffen. Die Kultur des Vermögens kann als ein Koordinatensystem verstanden werden, um den menschlichen Werten und Fähigkeiten eine klare Zielrichtung zuzuweisen. Es wird in Zukunft großer Anstrengungen bedürfen, um unmissverständlich und radikal zu verdeutlichen, dass das Humanvermögen der Menschen die am weitesten verbreitete und am wenigsten genutzte Ressource des Erdballs darstellt. Es mag paradox scheinen, aber in Zukunft hängt alles von der Frage ab, was wir vermögen.
Entstehung und Verbreitung von Vermögenskultur und Vermögensethik
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Literatur Aristoteles, 1995: Philosophische Schriften (in 6 Bänden). Hamburg: Felix Meiner Verlag. Bensch, Hans-Georg, 1995: Vom Reichtum der Gesellschaften. Mehrprodukt und Reproduktion als Freiheit und Notwendigkeit in der Kritik der politischen Ökonomie. Lüneburg: zu Klampen. Capgemini und Merrill Lynch, 2008: World Wealth Report 2008. Capgemini und Merrill Lynch. Carnegie, Andrew, 2000: Die Wahrheit über Reichtum und Geld. Zusammengestellt, bearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Mario Florin. Zürich: Oesch. Deutsche Bundesregierung (Hg.), 2001: Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Deutsche Bundesregierung (Hg.), 2005: Lebenslagen in Deutschland. Der zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Deutsche Bundesregierung (Hg.), 2008: Lebenslagen in Deutschland. Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Fromm, Erich, 2006 [1976]: Haben oder Sein. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Hanesch, Walter, 2000: Armut und Ungleichheit in Deutschland: der neue Armutsbericht der HansBöckler-Stiftung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag. Hauser, Richard und Becker, Irene, 2001: Zur Verteilungsentwicklung in Deutschland. In: Stadlinger, Jörg (Hg.): Reichtum heute. Münster: Westfälisches Dampfboot. Huster, Ernst-Ulrich; Boeckh, Jürgen und Mogge-Grotjahn, Hildegard (Hg.), 2008: Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Huster, Ernst-Ulrich und Volz, Fritz Rüdiger (Hg.), 2002: Theorien des Reichtums. Münster (u.a.): LIT Verlag. Huster, Ernst-Ulrich, 1997: Reichtum in Deutschland. Die Gewinner der sozialen Polarisierungen. Frankfurt (u.a.): Campus Verlag. Jansen, Ludger, 2002: Tun und Können. Ein systematischer Kommentar zur Aristoteles Theorie des Vermögens. Frankfurt am Main: Hänsel-Hohenhausen. Kant, Immanuel, 1991 [1788]: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Krüsselberg, Hans-Günter, 1997: Ethik, Vermögen und Familie. Stuttgart: Lucius und Lucius-Verlag. Weber, Max, 1968: Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnisse. In: Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wirtschaftslehre. Tübingen: Mohr Siebeck-Verlag. Wagner, Gert G., 2001: Reichtum. In: Evangelisches Soziallexikon. Stuttgart: Kohlhammer Verlag.
II. Sozialstruktur und Sozialprofil
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Unschärfen bei der Begriffsbestimmung
Kaum ein Begriff löst so heftige Assoziationen aus wie der des Reichtums bzw. in Varianten des Reichseins, oder gar des Superreichtums. Ferdinand Lundbergs Klassifizierung der Wohlhabenden (Lundberg 1971) mit diesen Kategorien ist auch in Deutschland aufgegriffen worden (Jungblut 1973), doch bleibt sie unscharf. Ist schon Reichtum in der Kontroverse – die Berichte von Joachim Merz u.a. zeigen empirisch die Spannweite möglicher Reichtumsgrenzen – so erst recht der Begriff des Superreichen: die Grenze für die Wohlhabenden (150 Prozent des durchschnittlichen, nach Haushaltsgröße gewichteten Nettoeinkommens), die 200-Prozent-Grenze für die (‚armen‘) Reichen, die 300-Prozent-Grenze, die reichsten Ein-Prozent, die Einkommensmillionäre, die Milliardäre, die oberen 10.000 etc. (Merz und Zwick 2007). Dabei bekommt man schon allein im geschichtlichen Längsschnitt Probleme bei der Grenzfindung. Das Handbuch der Millionäre – gemeint waren Einkommensmillionäre – Preußens aus dem Jahr 1912 verzeichnete insgesamt 13.662 Personen (Martin 1913). Nur was ist heute eine Million im Vergleich zur Goldmark vor dem Ersten Weltkrieg? Und meint man heute DM oder Euro? Geht es um Einkommen und/oder Vermögen? Begriffe wie Millionär etc. sind immer auch relativ, umgekehrt geht von ihnen nach wie vor eine erhebliche Faszination aus, wie zahlreiche Shows und der Kampf um Jackpots allwöchentlich beweisen. Das eigentliche Problem aber liegt bei den empirischen Quellen zum Reichtum (vgl. Huster in: Huster (Hg.) 21997). Es gibt in der bundesdeutschen Sozialstatistik nur wenige Ansätze, die Entwicklung des Reichtums zu beschreiben und zu analysieren. Hohe Einkommensbezieher lieben das Diskrete, vor allem, wenn es um die Offenlegung ihrer Einkünfte geht. Durchgängig basieren Quellen zum Reichtum auf Selbstauskünften (EVS, Panel) bzw. auf der Steuerehrlichkeit (Einkommenssteuer, Erbschaftssteuer, früher Vermögenssteuer). Dabei gehen in diese Sozialstatistiken unterschiedliche Wertentscheidungen und Festlegungen zum Einkommensbegriff ein, die Gewichtung der Haushaltsmitglieder, den Zeitpunkt der Erhebung etc., so dass sowohl im nationalen Längsschnitt wie in internationalen Vergleichen voneinander abweichende Ergebnisse heraus kommen (Hauser 2008; Strengmann-Kuhn und Hauser 2008). Es sind aber nicht nur die Quellen, sondern die Daten selbst, die Probleme bereiten. Man denke etwa an die Altersversorgung: Selbständigenhaushalte regeln dieses im Regelfall auf privatrechtlicher Basis, abhängig Beschäftigte dagegen vorrangig öffentlich-sozialrechtlich. Folglich sagt die absolute Höhe der Nettoeinkommen (Einkommen nach Steuern und Sozialabgaben) wenig über das verfügbare Einkommen aus, hat doch der abhängig Beschäftigte im Regelfall schon seinen Beitrag zur Altersvorsorge weitestgehend geleistet, während der Selbständige dieses dann erst selbst tun wird. Dieses hat Konsequenzen bis hin
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zum Besitz von Immobilien oder sonstigen Werten als Beitrag zur Altersvorsorge. Umgekehrt muss gefragt werden, welcher Grad der Altersabsicherung öffentlich- und welcher privatrechtlich erreichbar ist, sowie: Was geschieht mit den Anwartschaften im Todesfalle, was ist vererbbar, was nicht? Des Weiteren sind Vermögenswerte dann nur schwer erfassbar, wenn sie im Grenzbereich zwischen privater und geschäftlicher Nutzung anzusiedeln sind. Und schließlich ist mit einzubeziehen, dass die Lebensqualität aller Menschen in unserer Gesellschaft ganz wesentlich von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen bestimmt wird, die nicht dem Einkommen des einzelnen zuzurechnen sind, ohne die allerdings der Gebrauch des je individuellen Einkommens weit weniger Ressourcen mobilisieren würde. Was nützt ein Privatjet, wenn es nicht national und weltweit ein Netz entsprechender Landepisten gibt? Hier bedarf es eines Mix zwischen öffentlicher und komplementärer privater Investitionen. Dieses gilt besonders für Bildung, Kultur, Sport, die Verkehrsinfrastruktur u.a.m. Reiche können sich zwar zunehmend von der öffentlichen Infrastruktur im umfassenden Sinne zumindest teilweise lösen (private Konzerte mit großen Stars, private Bildungseinrichtungen, Spitzenversorgung im Gesundheitsbereich etc.), doch benötigen sie diese allgemeinen Einrichtungen gleichwohl für den Erhalt oder gar die Mehrung ihres Reichtums (Qualifizierung des Personals, allgemeines Gesundheitswesen, öffentlich finanzierte Forschung etc.). Insgesamt gilt: Je mehr Eigenkapital ‚investiert‘ werden kann, umso mehr öffentliche Leistungen können abgefragt oder auch eingefordert werden. Es gibt auch die andere Perspektive auf Reichtum, die sich nicht mit gesamtgesellschaftlichen Verteilungsvorgängen und -ergebnissen beschwert, sondern nur danach fragt: Wie kann privates Vermögen vermehrt werden – unter Zuhilfenahme professioneller Anlageberater etc.? So werden in der Kredit- und Versicherungswirtschaft Berechnungen zu den jährlichen Sparvolumina, Vermögensbeständen einschließlich der Möglichkeit der Umschichtung der Portfolios und der Vererbungsmasse angestellt, teilweise auch publiziert. Der Begriff Reichtum oder Superreichtum kommt da nicht vor, an deren Stelle tritt der Begriff des Vermögens, dessen Höhe keiner Bewertung unterworfen wird, sondern nur unterschiedliche Beratungsformen und Angebote nach sich zieht. Diese – aus der Perspektive der Anlageberatung – interessebedingten Schätzungen haben gleichwohl für die wissenschaftliche Diskussion eine Bedeutung, können sie doch die öffentlich erhobenen, auf Selbstauskünfte und Steuerehrlichkeit beruhenden Daten korrigieren helfen. Zugleich richtet diese Herangehensweise den Blick auf den Status quo, nicht die Genese, auf die Absicherung und Vermehrung, nicht auf deren Verwendung im gesellschaftlichen Kontext.
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Differenzierung innerhalb der Gruppe der Reichen
Vieles spricht für eine Differenzierung im Bereich der wohlhabenden Haushalte, nämlich einmal jene große Gruppe – ca. 9 Prozent der Haushalte (Grabka und Frick 2008: 103) –, deren verfügbares Einkommen über der 200-Prozent-Grenze liegt (Nettoeinkommen im Monat ca. 6.100 € für einen Vierpersonenhaushalt, zwei Kinder unter 14 Jahren) und die sich damit einen vom Durchschnitt der Bevölkerung deutlich abgesetzten Lebensstil leisten können (frei nach Brecht: „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!“ – Brecht 1967, Band 2: 447), und jener Gruppe, deren Einkommen (auch Einkommen aus Vermögen einschließlich Produktivvermögen) selbst wieder zur Mehrung des Vermögens führt, ein-
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schließlich dessen investiven Einsatzes. Die Anzahl dieser Haushalte ist eine Teilgruppe der reichen Haushalte und über die allgemeinen sozialstatistischen Daten wie EVS und SOEP nur noch schwer quantifizierbar. Nimmt man die EVS zur Grundlage, zeigt sich, dass dieser hier beschriebene Effekt etwa bei einem Jahreseinkommen von über 250.000 € eintritt, Einkommen via Vermögensbildung also selbst wieder zur Quelle neuen Einkommens wird. Michael Hartmann hält eine Reichtumsgrenze bei 200 Prozent des durchschnittlichen nach Haushaltsgröße gewichteten Einkommens für zu niedrig, erst recht die angeführte für Superreichtum (Hartmann 2007). Sicher ist der Begriff Superreichtum nicht mit einem derartigen Schwellenwert zu fassen. Gleichwohl bedarf es klarer Kriterien, um eine soziale Gruppe von einer anderen zu differenzieren. Und diese Schwelle könnte der Übergang von einem deutlich gegenüber der Allgemeinheit abgesetzten Konsum einschließlich höherwertiger Kapitalanlagen zu produktiv-investivem Verhalten liegen. Letzteres meint nicht nur Realinvestitionen, sondern auch die Beteiligung an den nationalen und internationalen Kapitalmärkten in einem größeren Umfang und mit dem Ziel, das eingesetzte Kapital zu vermehren. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass insbesondere im Bereich der Selbständigen die Verteilung besonders ungleich, also innerhalb dieser Gruppe eine große Spreizung anzutreffen ist. Im Jahr 2003 ist der Einkommensanteil der reichsten 10 Prozent in dieser Gruppe mehr als 100 mal so groß wie der der ärmsten 10 Prozent der Selbständigen. Betrachtet man nun noch die Einkommensanteile und deren Entwicklung in den letzten 10 Jahren, so wird dieser Konzentrationsprozess noch deutlicher. Der Einkommensanteil der reichsten 10 Prozent am Gesamteinkommen ist von 1992 – 2003 von 30 auf 33 Prozent angewachsen, also eine Steigerung um 12 Prozent; der Anteil der reichsten 5 Prozent von 20 auf 23 Prozent, was einer Steigerung von 14 Prozent entspricht, der Anteil des reichsten ein Prozent am Einkommenskuchen hat in dieser Dekade sogar um 21 Prozent zugenommen. Joachim Merz: „Das bedeutet, dass insbesondere die Konzentration der ganz hohen Einkommen über diese Dekade zugenommen hat.“ (Merz 2007: 38) Dieses heißt insgesamt, dass eine Gruppe, die ca. 9 Prozent der Bevölkerung umfasst, eben die der Reichen, deutlich ausdifferenziert werden muss. Die 200-Prozent-Grenze leistet eine erste Annäherung, weil sie insbesondere auf der Ebene der gehobenen Lebensführung eine Grenze markiert. Daneben gibt es eine Grenze, wo Einkommen selbst wieder zu diversen Formen von Einkommen führt, von eher konventionellen bis hin zu ertrags-, aber auch risikoträchtigeren Portfolios. Und dann kommt eine Ebene, bei der sich ganz offensichtlich Einkommens- und Vermögenswerte anhäufen, die sich ganz deutlich von den allgemein vorherrschenden Leistungs-Gegenleistungs-Vorstellungen absetzen. Wenn allerdings – je nach Berechnungsmodus bzw. sozialstatistischer Grundlage leicht voneinander abweichend – ca. 9 Prozent der Bevölkerung ein Einkommen haben, das oberhalb der 200-Prozent-Grenze liegt, dann sind dieses bis zu 7 Mio. Personen. Bei den Berechnungen von Joachim Merz sind es knapp 8 Prozent und damit über 6 Mio. Personen (Merz 2007: 36; vgl. auch Bundesregierung, 3. Armuts- und Reichtumsbericht 2008). Wenn man, wie Irene Becker und Richard Hauser, nicht nur das Einkommen, sondern auch das Vermögen mit einbezieht, dann kommt man 1998 auf 1,1 Millionen Haushalte mit 1,8 Mio. Personen, die sowohl über ein Einkommen verfügen, das diese 200-Prozent-Grenze überschreitet, als auch über ein Vermögen von – damals – mindestens eine Millionen DM, damit in etwa das Doppelte dessen, was nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsge-
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richts erbschaftssteuerfrei bleiben solle, nämlich ein eigen genutztes durchschnittliches Einfamilienhaus (Hauser und Becker 2001: 171; vgl. Becker und Hauser 2003). Reichtum, zumindest der gemessen an dieser 200-Prozent-Grenze, ist in Deutschland ein Massenphänomen. Dieser Reichtum ist eindeutig stärker in Westdeutschland als in Ostdeutschland anzutreffen.
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Bewertung und Bewertungsmaßstäbe des Reichtums
Dabei sind Quellen, deren Daten und deren Würdigung mehr als andere Fakten und Zusammenhänge wertbesetzt und folglich in der sozialen Kontroverse: Ist etwas ein Unternehmensertrag oder ein Profit? Ist etwas eine angemessene Kapitalverzinsung oder eine moralisch unrechtmäßige Bereicherung? Handelt es sich um eine legitime Verteilungsdiskussion oder um eine Neidhammel-Debatte? Sind dabei ‚Reichtumsforscher‘ oder die „rotgrünen Neidexperten“ am Werk (Kubicki 1998: 1)? Die „Tageszeitung“ überschrieb eine Rezension über die 1. Auflage des Buches „Reichtum in Deutschland“, gleichsam antithetisch zum Untertitel: „Der diskrete Charme der sozialen Distanz“ (Huster 1993), kurz und bündig mit: „Die Obszönität des Reichtums“ (TAZ 27.11.1993). Folglich ist schon die wissenschaftliche, geschweige denn die politische Kontroverse über Verteilungsfragen außerordentlich schwierig. Weite Teile der bundesdeutschen Verteilungsdiskussion in Vergangenheit und Gegenwart lassen sich derartigen Schemata zuordnen. Auch die Ergebnisse der Verteilungsprozesse werden kontrovers beurteilt. Konstatierte die SPD-Bundestagsfraktion in ihrer Großen Anfrage in der 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages zur „Entwicklung der Vermögen und ihrer Verteilung“ eine Spaltung der Gesellschaft, die „immer besorgniserregendere Formen“ annehme (SPD-Bundestagsfraktion 1995), bezeichnete die damalige CDU/CSU/FDP-Bundesregierung dieses Bild schlicht als „falsch“ (Bundesregierung 1996). Dies war wohl auch der Grund, warum es das Sozialwort der Kirchen aus dem Jahr 1997 mit dem einen Satz bewenden ließ: „Nicht nur Armut, sondern auch Reichtum muss ein Thema der politischen Debatte sein.“ Man beließ es bei einer Aufforderung, andere mögen etwas tun, ohne sich selber in die Diskussion und damit in die Kritik zu begeben (Rat der EKD und Deutsche Bischofskonferenz 1997). Artikel 14 des Grundgesetzes stellt das Eigentum – nicht den Reichtum – unter seinen Schutz, bindet dieses zugleich an das Gemeinwohl. Allerdings stellt privater materieller Reichtum sehr wohl Eigentum dar (Volz 21997). Daraus ergeben sich zwei systematische Fragen: Wann ist privater Reichtum ein schützenswertes Gut? Und: Wie kommt privater Reichtum dieser Sozialbindung nach? Reichtumsforschung unterscheidet zunächst und vor allem zwischen legal erworbenem Reichtum und illegal angehäuften Besitztümern. Früher galt Reichtum als ein Kriterium für die Zugehörigkeit zur Elite der Nation. Würden wir dieses auch heute gelten lassen, dann wäre die Mafia markanter Teil der Elite der Nation (Henke 21997)! Ohne hier in die Materie näher einsteigen zu wollen: Die Grenzen zwischen legitimem und illegitimem Reichtum werden auch in Deutschland ganz offensichtlich angesichts geöffneter Märkte, dem Wettlauf zwischen Geschäftsusancen unterschiedlicher Volkswirtschaften und Gesellschaftssysteme und unter Zuhilfenahme von flexibel zu interpretierenden Regelungen im nationalen Steuerrecht immer fließender (See 1992; Ludwig 1992). Das, was dann etwa bei der Geldanlage in europäischen Steuerparadiesen immer mal wieder in Gestalt von Steuerhinterzie-
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hung auffliegt (fr-online 14. März 2008), sieht eher nach der Spitze eines goldenen Eisberges, denn nach einer Ausnahme aus, die das saubere Geschäftsgebaren der ehrbaren Kaufmannszunft bestätigt. Daneben geht es um die Funktion von Reichtum in der Gesellschaft, im Bereich Ökonomie, im Bereich Mäzenatentum und im Bereich Fortentwicklung von Konsum. Unbestritten bedeutet der Kapitaleinsatz in Wirtschaftsunternehmen eine wichtige privatwirtschaftliche und zugleich soziale Funktion. Dabei ist dieser Kapitaleinsatz, wie die Zahl der Insolvenzen zeigt, immer auch an Risiken gebunden. Mehr noch in anderen Ländern, aber auch in Deutschland war und ist soziales Kapital gefordert, um Wissenschaft, Kunst und auch soziale Anliegen zu fördern. Und schließlich war und ist Reichtum ein Trendsetter im Konsum. Aber in all diesen Funktionen ist Reichtum längst nicht mehr unumstritten. So stellt sich die Frage, ob Reichtum im Bereich der Ökonomie wirklich noch diese Innovationsfunktion hat, ob diese nicht längst an kleinere, risikobereite Wirtschaftseinheiten übergegangen ist. Auch widerstreiten hier soziale Interessen stärker denn je, und zwar keinesfalls nur in dem klassischen Gegenüber von Lohnarbeit und Kapital. Es muss nicht mal der große Reichtum sein, der um seiner Erträge willen auf arbeitsplatzvernichtende Produktivitätssteigerungen und Kostenreduzierungen drängt. Es kann auch der in großen Fonds angehäufte ‚kleine‘ Wohlstand der Vielen sein, der sich in entsprechenden aggressiven Marktstrategien betätigt. Ob dann die private Altersvorsorge der Großeltern etwa zu Lasten der Arbeitsplätze der Enkel geht, gerät zumindest stärker ins öffentliche Blickfeld. Keineswegs erst die Doping-Fälle etwa im Radrennsport machten deutlich, dass Mäzenatentum konditioniert ist. Auch stellt sich die Frage, was denn eines Sponsorentums würdig ist: die große mediale Veranstaltung, das Sportereignis oder soziale Problemlagen? Das, was etwa die Tageszeitung Frankfurter Rundschau alljährlich in ihrer Weihnachtsaktion „Not gemeinsam lindern“ in Form vieler kleiner Einzelspenden zusammen bekommt, spenden große Mäzene allein für ein kulturelles und/oder sportliches Highlight. Und schließlich: Welcher Konsum wird von Reichen gefördert? Auto-Mobilität oder eine ökologisch bilanzierte Mobilitätsförderung in und für die gesamte Gesellschaft? Wird der so forcierte Konsum nicht eher zum weiteren Ausdruck einer sich stärker sozial polarisierenden Gesellschaft? Allein bei den Kommunikationstechnologien sorgt nicht nur der Einsatz immer neuerer Innovationsschritte, sondern auch der bei ihrer Anwendung vorausgesetzte Wissens- und Sachverstand für eine deutlich feststellbare ‚digital divide‘ in der Gesellschaft (Henke (u.a.) 2008). Reichtum, erst recht besonders hervorgehobene Einkommens- und Vermögenspositionen, sehen sich stärker dann in Frage gestellt, wenn genau diese gesellschaftlichen Erwartungen nicht mehr erfüllt zu sein scheinen. Und hier spitzt sich die öffentliche Auseinandersetzung zwischen Apologeten und Kritikern zu.
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Das gesellschaftliche Interesse
Wo liegt nun ein gesellschaftliches Interesse an der Betrachtung dieses obersten Einkommenssegmentes? Zahlen des SOEP zeigen, dass die Einkommensentwicklung für die unteren 20 Prozent der Gesellschaft in den letzten Jahren rückläufig ist und dass der Zuwachs an Wohlstand vor allem dem obersten Quintil zukommt (Bach und Steiner 2007). Die Real-
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einkommen der ‚Otto- und Emmanormalverbraucher‘ stagnieren dagegen seit geraumer Zeit, während sich der unbestreitbare volkswirtschaftliche Wohlfahrtszuwachs vor allem bei den Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen niederschlägt. Hauptursache dafür ist zum ersten die – im Verhältnis zur Einkommensverteilung – doppelt so starke Konzentration der Vermögen, so dass auch deren Erträge vor allem den schon Wohlhabenden zukommen (Bundesregierung 2. Armuts- und Reichtumsbericht 2005: 36; Grabka und Frick 2007; Stein 2004). Hinzu kommen steuerliche Entlastungen in den letzten zwei Jahrzehnten (Abschaffung der Vermögenssteuer, Absenkung des Spitzensteuersatzes etc.). Betrug der Anteil der Gewinnsteuern am gesamten staatlichen Steueraufkommen 1989 noch ca. 21 Prozent, so sank dieser bis 2002 auf ca. 10 Prozent. Inzwischen ist dieser Anteil wieder gestiegen – auf Grund der guten Gewinnlage der Wirtschaftsunternehmen – liegt aber immer noch deutlich unter der Marke vor Herstellung der deutschen Einheit. Dieter Eißel berechnet seit Jahren die beim Staat verursachten Steuerausfälle, denen Mehrbelastungen bei den breiten Einkommensbeziehern in Gestalt steigender Verbrauchssteuern und Sozialabgaben gegenüberstehen (Eißel 2006). Gleichwohl hält sich der Mythos, der Reichtum ächze bei uns unter der Steuerschraube (Eißel 21997). Dabei hat das Handelsblatt schon vor geraumer Zeit hier eher von einem „Phantomschmerz“ gesprochen (Mundorf 2001). Experten wie die Finanzwissenschaftler Lorenz Jarass und Gustav M. Obermair werden deutlicher, wenn auch nur als Frage: „Wie kann der Staat sicherstellen, dass alle hohen Einkommen und Vermögen mindestens so stark zur Finanzierung des Standorts Deutschland herangezogen werden wie bislang schon die kleinen und mittleren Lohnempfänger und deren Arbeitgeber?“ (Jarass und Obermair 2002: 15) Auch internationale Vergleiche etwa bei der Vermögens-, vor allem bei der Erbschaftssteuer werfen mehr Fragen auf, als dass diese den Status quo in Deutschland als horrenden Belastungsalbtraum für Reiche und Superreiche erscheinen lassen (Eißel 2006: 111 ff.; Huster und Eißel 2001). Es wird vielmehr die Frage nach einer möglichen Gerechtigkeitslücke diskutiert. Der Reichtum wird nicht in Frage gestellt, wohl aber wird dessen Beitrag zur Bewältigung der öffentlichen Aufgaben als zu niedrig empfunden (Sozialbericht NRW 2004 und 2007). Es war kein geringerer als Adam Smith, der für „Die Einkünfte des Herrschers oder des Staates“ den Grundsatz festlegte: „Die Untertanen jedes Staates müssen zur Unterstützung der Staatsgewalt möglichst genau nach Verhältnis ihres Vermögens beitragen, d.h. nach Verhältnis der Einkünfte, die ein jeder unter dem Schutz des Staates genießt. Die Staatsausgaben sind in Bezug auf die einzelnen Bürger einer großen Nation ungefähr das, was die Wirtschaftsausgaben in Bezug auf die Miteigentümer eines großen Gutes sind, die sämtlich nach Verhältnis ihres Anteils an dem Gute zu jenen Ausgaben beisteuern müssen.“ Smith fordert eine deutliche Ungleichmäßigkeit in der Höhe der Steuern, „welche dadurch entsteht, dass eine Steuer selbst auf die Art des privaten Einkommens, auf welche sie gelegt ist, ungleich fällt.“ Aber: „Die Steuer, die jeder einzelne Bürger zu zahlen verbunden ist, muss genau bestimmt und nicht willkürlich sein.“ (Smith 1973, II. Teil, 5. Buch: 187). Bleibt auch der aus der katholischen Soziallehre herrührende Begriff des „Gemeinwohls“ mehr eine Grundnorm, die aus sich heraus keine konkreten Forderungen entlässt, setzt Adam Smith zumindest eine materiell überprüfbare Norm. Diese Norm wird letztlich an erlassene Auflagen zur „Unterstützung der Staatsgewalt“ – heute würde man sagen: Steuergesetze – in doppelter Weise gebunden: Zum einen dürfen diese Auflagen seitens des Staates nicht willkürlich, also einzelfallbezogen sein, zum anderen haben sie einen verpflichtenden, nachprüfbaren Charakter für den Steuerpflichtigen. Adam Smith begründet die
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Steuern letztlich mit dem Nutzen, den der Einzelne aus den Leistungen des Staates zieht und begründet damit auch deren Ungleichheit: Wer mehr Nutzen daraus zieht, muss auch mehr an den Staat abführen. Diese Grundsätze, in die aktuelle Verteilungsdiskussion in Deutschland und darüber hinaus übertragen und dann auch in der Wirklichkeit umgesetzt, würden sicher nicht nur bestehende, nicht nur empfundene Ungleichgewichte abschwächen, sondern auch kritische Anfragen an den Reichtum deutlich reduzieren. Wie ist die offensichtlich zunehmende Gerechtigkeitslücke zu schließen? Sicher nicht durch immer neue Steuern, es muss aber in Deutschland beim Steuerrecht endlich das gelten, was den liberalen Rechtsstaat seit John Locke insgesamt auszeichnen soll, nämlich die Allgemeingültigkeit der Gesetze (Locke dt. 1967). Wie erreicht man hier eine größere Erfassung gesetzlich geforderter Steuereinnahmen, statt zu bewirken, dass die Steuerehrlichen noch mehr zahlen und die Steuerunehrlichen noch mehr Reichtum anhäufen können? Und hier kommt dann auch die privatwirtschaftliche Vermögensberatung ins Blickfeld: Nicht Vermögensberatung oder -vermehrung an sich kann in einer Gesellschaft ein Problem sein, die mit Artikel 14 des Grundgesetzes das Eigentumsrecht garantiert, sondern nur die Beratung der Kreditinstitute, die sich über jene bei Locke klassisch formulierte Allgemeingültigkeit von (Steuer-) Gesetzen erhebt und ‚Kunden‘ dabei behilflich ist, sie gezielt zu ignorieren und dem Kaiser eben nicht zu geben, „was des Kaisers ist“ (Matthäus 22, 21). Bereits in den 1960er Jahren, in einer Zeit von Vollbeschäftigung und allgemein steigendem Wohlstand, forderte Ralf Dahrendorf soziale Differenzierung und Hierarchisierung, zugleich aber benötige eine Gesellschaft einen festen Boden und ein schützendes Dach. Er als Liberaler wünsche sich, dass die Spanne zwischen Boden und Dach möglichst groß sei, gleichwohl bedürfe es dieses Daches (Dahrendorf 1965: 96). Will man eine Debatte abwenden, Spitzengehälter etwa sollten staatlich begrenzt werden, muss dieses Dach – ganz im Sinne Adam Smiths – vor allem durch das Steuerrecht ausgestaltet werden. Versuche, dieses von den Betroffenen in Frage zu stellen, bedeuten dann mehr als nur ein Steuerdelikt: Die Legitimität von Reichtum wird dadurch insgesamt in Frage gestellt.
Literatur Bach, Stefan und Steiner, Viktor, 2007: Zunehmende Ungleichheit der Markteinkommen: reale Zuwächse nur für Reiche. In: DIW-Wochenbericht Nr. 13/2007 vom 28. März 2007. Becker, Irene und Hauser, Richard, 2003: Anatomie der Einkommensverteilung. Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichproben 1969 – 1998, Berlin. edition sigma. Brecht, Bertolt, 1967: Gesammelte Werke, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bundesregierung, 2008: Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn 2008 (Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache). Bundesregierung, 2005: Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn 2005 (Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Drucksache Nr. 15/5015). Bundesregierung, 1996: Antwort auf die Große Anfrage der Abgeordneten Ottmar Schreiner, Gerd Andres, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD – Drucksache 13/3885 – Entwicklung der Vermögen und ihrer Verteilung. Dahrendorf, Ralf, 1965: Gesellschaft und Demokratie, München: Piper. Eißel, Dieter, 21997: Reichtum unter der Steuerschraube? Staatlicher Umgang mit hohen Einkommen und Vermögen, in: Huster (Hrsg.) 21997. Eißel, Dieter, 2006: Verteilungspolitik im Zeichen des Neoliberalismus in: Ruhl u.a. (Hg.) Münster.
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Reiche und Superreiche in Deutschland – Begriffe und soziale Bewertung
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Die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland in den letzten Dekaden Die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland
Richard Hauser
1
Einführung
Lassen Sie mich meinen Vortrag über die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland mit einem Zitat beginnen, in dessen Licht die Ergebnisse schärfer hervortreten: In seinem Werk „Die Gesetze“ schreibt der griechische Philosoph Platon: „So empfiehlt es sich aus verschiedenen Gründen, da ja auch die Gelegenheit zum Emporkommen bei der geschilderten Ordnung der Dinge für alle gleich ist, vier verschiedene Vermögensklassen zu bilden als Grundlage für abgestufte staatliche Pflichten und Rechte. Die Grenze des Reichtums für die oberste Klasse, welche nicht überschritten werden darf, soll der vierfache Wert des Landanteils eines Bürgers sein; die Grenze der Armut nach unten bildet eben diesen Wert selbst, der ja nicht verringert werden darf. Wer auf irgend welche Weise mehr erwirbt, als innerhalb der bezeichneten Grenzen liegt, hat das Übermaß dem Staat zu übergeben.“ (Platon; nachgedr. 1985)
Soweit Platon, der von 427 bis 347 vor Christus lebte. Seine Überlegungen bezogen sich zwar nur auf die Situation der Freien in der Polis und nicht auf die unfreien Heloten, aber es ist doch bemerkenswert, dass Platon nur eine maximale Vermögensspanne von 1 zu 4 unter den Freien für politisch akzeptabel hielt, wenn das Gemeinwesen nicht Schaden nehmen sollte. Analysen zur Verteilung von Einkommen und Vermögen und zur Vererbung besitzen also nicht nur wirtschaftliche Relevanz, sondern sie sind auch staatspolitisch wichtig. Meine Aufgabe hier ist es, Ihnen Informationen über den Stand der Dinge zu vermitteln. Ich stütze mich dabei auf die Einkommens- und Verbrauchsstichproben (EVS) des Statistischen Bundesamtes, die seit 1962/63 im Fünf-Jahres-Abstand bei 40.000 bis 60.000 Haushalten alle Informationen erheben, die für eine Deskription der personellen Einkommens- und Vermögensverteilung erforderlich sind, wenn diese Erhebung auch einige Schwächen aufweist, die bisher nicht beseitigt werden konnten. Seit 1993 erfasst diese Stichprobe auch die Haushalte der neuen Bundesländer sowie die der Ausländer.1 Die jüngste EVS stammt aus dem Jahr 2003, so dass die Ausführungen nur die drei Dekaden von 1973 bis 2003 umfassen.
1 Diese Stichprobe erfasst folgende Personengruppen nicht: Erstens Haushalte mit sehr hohen Nettoeinkommen (im Jahr 2003 lag diese Abschneidegrenze bei ca. € 17.500 pro Monat); zweitens wohnsitzlose Personen (Obdachlose); drittens Personen, die in Einrichtungen (z.B. Altersheime, Pflegeheime, Arbeiterunterkünfte, Krankenhäuser, Klöster, Kasernen) leben. Bis einschließlich 1988 wurden auch Personen in einem Haushalt mit ausländischem Haushaltsvorstand nicht erfasst.
Die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland
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Im Einzelnen werden die folgenden Fragen behandelt:
Wie hat sich die personelle Verteilung der Einkommen entwickelt? Wie groß ist der untere Randbereich der Einkommensverteilung, der das Ausmaß der Einkommensarmut kennzeichnet? Wie hat sich auf gesamtwirtschaftlicher Ebene das Nettovermögen des Haushaltssektors entwickelt? Wie sieht die personelle Verteilung der Vermögen aus?
2
Die Rahmenbedingungen
Die Darstellung beginnt für Westdeutschland mit dem Jahr 1973, in dem noch Vollbeschäftigung und hohes Wachstum bei geringer Preisniveausteigerung herrschte. Im Jahr 1990 trat dann durch die Wiedervereinigung eine große Zäsur ein, durch die die Fläche, die Bevölkerungszahl, die Wirtschaftskraft und die sozialpolitischen Probleme Deutschlands einschneidend verändert wurden. Angesichts der zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung und auch zwei Jahrzehnte danach noch bestehenden Diskrepanzen zwischen den alten und den neuen Bundesländern bei der Arbeitsproduktivität, bei der durchschnittlichen Lohnhöhe, beim Preisniveau, bei der Arbeitslosigkeit und bei der Verteilung der Einkommen und Vermögen werden die beiden Landesteile getrennt betrachtet, soweit es die Statistiken zulassen. Für die Jahre 1998 und 2003 werden auch Verteilungsergebnisse für Gesamtdeutschland präsentiert. Die personelle Verteilung der Einkommen muss auf drei verschiedenen Ebenen betrachtet werden: Erstens auf der Ebene der Verteilung der Markteinkommen auf die Bezieher, zweitens auf der Ebene der Verteilung der so genannten Marktäquivalenzeinkommen auf alle Personen in der Bevölkerung und drittens auf der Ebene der Verteilung der Nettoäquivalenzeinkommen auf alle Personen.2 Die personellen Verteilungen der Äquivalenzeinkommen beruhen zum einen auf der wirtschaftlichen Entwicklung und den Wirkungen der verschiedenen, die Wirtschaftsordnung kennzeichnenden Teilordnungen,3 die die Verteilung der Markteinkommen beeinflussen, und zum anderen auf den Korrekturen der Markteinkommensverteilung durch das Steuersystem und das System der sozialen Sicherung.
2
Bei der Ermittlung der Markt- und der Nettoäquivalenzeinkommen werden alle einem Haushalt zufließenden Einkommen zusammengefasst und mit Hilfe einer Äquivalenzskala auf die Haushaltsmitglieder verteilt. Als Gewichtungsschema wird die so genannte modifizierte OECD-Skala verwendet, die der ersten erwachsenen Person im Haushalt ein Gewicht von 1,0, weiteren Personen über 13 Jahren Gewichte von 0,5 und jüngeren Kindern Gewichte von 0,3 verleiht. Das Haushaltseinkommen wird dann durch die Summe der Gewichte der Haushaltsmitglieder geteilt und das Ergebnis jedem Haushaltsmitglied als Wohlfahrtsindikator zugeordnet. Diese modifizierte OECD-Skala wird von der Europäischen Union den vergleichenden Analysen zur Armutsbekämpfung zugrunde gelegt. Begründet wird dieses Gewichtungsschema damit, dass beim gemeinsamen Wirtschaften im Haushalt Einsparungen entstehen, so dass ein Zwei-Personen-Haushalt weniger als das Doppelte des Einkommens braucht wie ein Ein-Personen-Haushalt, um das gleiche Wohlfahrtsniveau zu erreichen. Außerdem wird unterstellt, dass jüngere Kinder einen geringeren Bedarf als ältere Kinder und Erwachsene besitzen. 3 Dies sind vor allem die Wettbewerbsordnung, die Geldordnung, die Kapitalmarktordnung, die Bodenordnung, die Unternehmensordnung, die Arbeitsmarktordnung, die Sozialordnung, die Außenwirtschaftsordnung und das Steuer- und Abgabensystem.
56
3
Richard Hauser
Die Entwicklung der personellen Einkommensverteilung 1973-2003
3.1 Die Verteilung der Lohneinkommen auf die Bezieher Die Verteilung der Markteinkommen auf die Bezieher stellt die Basis für die Verteilung der Marktäquivalenzeinkommen auf alle Personen dar. Dabei sind die Lohneinkommen die dominierende Größe. In Abbildung 1 (basierend auf Tabelle A1 im Anhang, vereinfacht) ist die Ungleichheit der Verteilung der Lohneinkommen auf die jeweiligen Bezieher für den Zeitraum von 1973 bis 2003 dargestellt (mittlere Linie). Dabei beziehen sich die Angaben von 1973 bis 1993 auf Westdeutschland und von 1998 bis 2003 auf Gesamtdeutschland. Als zusammenfassendes Verteilungsmaß, das die Ungleichheit in einer einzigen Zahl ausdrückt, wird hier der Gini-Koeffizient verwendet.4
Gini-Koeffizienten in Prozent
Abbildung 1:
Die Verteilung der Lohneinkommen auf die Bezieher sowie der Marktäquivalenzeinkommen und der Nettoäquivalenzeinkommen auf die Personen
50 40 30 20 10 0 1973
1978
1983
Marktäquivalenzeinkommen Nettoäquivalenzeinkommen
1988
1993
1998
2003
Lohneinkommen
Anmerkungen: Angaben für 1973 bis 1993 nur für Westdeutschland, für 1998 bis 2003 für Gesamtdeutschland. Die in Deutschland lebenden Ausländerhaushalte wurde nur in den Jahren 1998 und 2003 einbezogen; vorher nur deutsche Haushalte. Quelle: Tabelle A1 im Anhang.
Anhand der mittleren Linie in Abbildung 1 kann man zunächst feststellen, dass die Ungleichheit bei der Verteilung der Lohneinkommen in Westdeutschland von 1973 bis 1993 zugenommen hat. Hierzu haben sowohl die Zunahme der Halbtagstätigkeiten und der ge4 Der Gini-Koeffizient kann zwischen 0 Prozent und 100 Prozent liegen. 0 Prozent bedeuten völlige Gleichheit der Verteilung, 100 Prozent bedeuten, dass das gesamte Einkommen oder Vermögen bei einer einzigen Person konzentriert ist. Je höher der Gini-Koeffizient also ist, desto ungleicher ist die Verteilung. Die Werte weiterer Verteilungsmaße finden sich in Becker und Hauser (2003) sowie in Hauser und Becker (2005). Für eine umfangreiche Darstellung der Verteilungsmaße und ihrer implizierten normativen Prämissen vgl. Sen (1975).
Die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland
57
ringfügigen Beschäftigungen als auch eine Zunahme der Ungleichheit unter den in Vollzeit Beschäftigten, d.h. eine Spreizung der Lohnstruktur, beigetragen. Von 1993 auf 1998 zeigt sich eine sprunghafte Zunahme der Ungleichheit, weil nunmehr West- und Ostdeutschland zusammengefasst betrachtet werden. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass die ostdeutschen Löhne um über ein Viertel unter den westdeutschen lagen. Von 1998 bis 2003 erkennt man, dass die Ungleichheit bei der Verteilung der Lohneinkommen in Gesamtdeutschland nochmals zugenommen hat, obwohl die ostdeutschen Löhne etwas aufgeholt haben. Erwähnt sei noch, dass die Ungleichheit der Markteinkommen aus selbständiger Tätigkeit, die sowohl die Einkommen der Landwirte als auch der selbständigen Gewerbetreibenden, der Inhaber von Personengesellschaften und der freien Berufe umfassen, deutlich höher ist als die Ungleichheit der Lohneinkommen. In Ostdeutschland sind diese Einkommenskategorien sogar noch ungleichmäßiger verteilt als in Westdeutschland. Dies wird hier nicht dargestellt.
3.2 Die Verteilung der Markteinkommen unter Berücksichtigung des Haushaltszusammenhangs Die zweite Stufe des Verteilungsprozesses wird durch die Verteilung der Marktäquivalenzeinkommen auf alle Personen in der Bevölkerung charakterisiert. Die entsprechenden Werte des Gini-Koeffizienten ergeben die oberste Line in Abbildung 1. In diesem Fall müssten alle Haushalte ohne Markteinkommen, vor allem Haushalte von Alten, Arbeitslosen und Erwerbsunfähigen, von Transfers ihrer Verwandten, von ihren Vermögenseinkommen oder vom Verbrauch des früher ersparten Vermögens leben oder – soweit sie das nicht können – ihren Konsum einschränken.5 Zunächst lässt sich feststellen, dass die Ungleichheit der Marktäquivalenzeinkommen noch größer ist als die Ungleichheit der Lohneinkommen und dass sie im Zeitablauf deutlich zugenommen hat. Diese Zunahme der Ungleichheit ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen: Zunächst spiegelt sich hierin die bereits genannte Zunahme der Ungleichheit bei der Verteilung der Markteinkommen auf die Bezieher. Die wichtigste Rolle spielten aber Veränderungen bei der Beschäftigung. 1973 herrschte noch Vollbeschäftigung, während von 1974 bis 1991 in Westdeutschland die Arbeitslosenquote in Stufen stark angestiegen ist. 1990 lag sie bei 7,2 %. Nach der Wiedervereinigung nahm die Arbeitslosenquote in Gesamtdeutschland bis zum Jahr 2003 von 7,3 % (1991) auf 11,6 % zu.6
3.3 Von der Verteilung der Marktäquivalenzeinkommen zur Verteilung der Nettoäquivalenzeinkommen – die umverteilende Wirkung des Staates Die Verteilung der Markteinkommen wird durch das Wirken der progressiven direkten Steuern und des Systems der sozialen Sicherung modifiziert. Die beitragsfinanzierten Sozi5 Das Herausrechnen von Steuern, Sozialabgaben und Sozialleistungen überzeichnet die Ungleichheit der Verteilung der Marktäquivalenzeinkommen, denn die Haushalte würden bei Fehlen von Sozialversicherungen und steuerfinanzierter Transfers durch höheres Sparen soweit wie möglich Eigenvorsorge betreiben. 6 Alle Angaben nach Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Statistisches Taschenbuch 2006, Tab. 2.10.
58
Richard Hauser
alversicherungssysteme sind dabei überwiegend nach dem Prinzip der versicherungstechnischen Äquivalenz konstruiert, d.h., dass sich die von ihnen im Risikofall gewährten Sozialleistungen an den früheren Einkommen bzw. an den davon gezahlten Beiträgen orientieren.7 Die steuerfinanzierten Sozialleistungen (z.B. Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe, Wohngeld und die Leistungen des Familienlastenausgleichs) sind dagegen überwiegend am Bedarfsprinzip orientiert. Sie sollen die Lage der Anspruchsberechtigten verbessern, sofern deren eigene Einkommen unzureichend sind; viele dieser Sozialleistungen nehmen daher mit steigendem eigenem Einkommen und dem Einkommen der Unterhaltsverpflichteten ab und fallen ganz weg, wenn eine bestimmte Einkommensgrenze überschritten wird. Ebenso schwächt die progressive Einkommensteuer die Unterschiede zwischen den Markteinkommen ab, da sie nach dem Prinzip der steuerlichen Leistungsfähigkeit konstruiert ist und daher mit zunehmenden Markteinkommen einen größer werdenden Anteil als Steuerzahlung beansprucht. Die Ungleichheit der Verteilung des Nettoäquivalenzeinkommens auf alle Personen und die Entwicklung im Zeitablauf seit 1973 gehen aus der untersten Linie der Abbildung 1 hervor. Diese Werte des Gini-Koeffizienten zeigen immer noch eine beachtliche Ungleichheit der Verteilung der Nettoäquivalenzeinkommen an, wenn sie auch weit niedriger ist als die Ungleichheit der Verteilung der Marktäquivalenzeinkommen. Bis 1993 nahm die Ungleichheit in Westdeutschland leicht zu. In Ostdeutschland war sie anfangs geringer als in Westdeutschland, aber sie nahm bis 1998 stärker zu (vgl. Tabelle A1). Betrachtet man Gesamtdeutschland ab 1998, so sank die Ungleichheit zunächst etwas, um dann aber wieder leicht anzusteigen. Wenn man den starken stufenweisen Anstieg der Arbeitslosenquote bedenkt, dann ist die geringe Zunahme der Ungleichheit der Nettoäquivalenzeinkommen erstaunlich. Wie stark die Ungleichheit durch das soziale Sicherungssystem sowie die progressiv ausgestaltete Einkommensteuer reduziert wird, erkennt man aus der Differenz zwischen den Werten der Gini-Koeffizienten für die Marktäquivalenzeinkommen (oberste Linie) und die Nettoäquivalenzeinkommen (unterste Linie). Der Sozialstaat besaß also in diesem Zeitraum – wie es seinen Zielen entspricht – eine stark ausgleichende Wirkung. Er konnte die zunehmende Ungleichheit der Marktäquivalenzeinkommen weitgehend kompensieren. Diese ausgleichende Funktion des Sozialstaates hat seit dem Einsetzen der Arbeitslosigkeit sogar deutlich zugenommen, wie man aus dem größer werdenden Abstand zwischen den GiniKoeffizienten für die Marktäquivalenzeinkommensverteilung und die Nettoäquivalenzeinkommensverteilung erkennt. Diese ausgleichende Wirkung des Sozialstaats wäre noch größer gewesen, wenn die in den 90er Jahren bei verschiedenen Sozialleistungen vorgenommenen Kürzungen nicht stattgefunden hätten. (Vgl. Hauser und Becker 2005) Die geringe Zunahme der Ungleichheit auf gesamtwirtschaftlicher Ebene darf man jedoch nicht dahingehend missverstehen, dass sich auch für die einzelnen Personen kaum 7 Dies gilt insbesondere für die Gesetzliche Rentenversicherung, die Gesetzliche Unfallversicherung, die Arbeitslosenversicherung und das Krankengeld der Gesetzlichen Krankenversicherung. Dagegen sind die Gesundheitsund Pflegeleistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Gesetzlichen Pflegeversicherung im Risikofall für jeden Versicherten gleich, obwohl die Finanzierung ebenfalls über einkommensproportionale Beiträge geschieht. In diesen beiden Zweigen der Sozialversicherung wird daher eine beachtliche Umverteilung – sowohl zu Gunsten der Bezieher niedriger Arbeitseinkommen als auch zu Gunsten von beitragsfrei mitversicherten Familienangehörigen – vorgenommen. Diese Umverteilung wird mit dem Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit begründet. Da jedoch Sachleistungen gewährt werden, wird diese Umverteilung in der auf monetäre Größen beschränkten Abbildung 1 und Tabelle A1 nicht sichtbar.
Die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland
59
etwas geändert hätte. Vielmehr herrschte eine hohe Einkommensmobilität (vgl. Wagner und Krause 2001). Die einkommensmäßigen relativen Auf- und Abstiege, die während dieser Zeit in großer Zahl vorkamen, haben sich lediglich gegenseitig kompensiert. Dies bedeutet, dass sich die Struktur der „Plätze“ in der Einkommenshierarchie nur wenig geändert hat, dass aber die Inhaber dieser „Plätze“ ständig wechselten. Dies gilt stärker im untersten als im obersten Einkommensbereich. (Vgl. Hauser und Becker 2005: 210-224) Wir haben es also in Deutschland keineswegs mit einer in Bezug auf die Nettoeinkommen völlig immobilen Gesellschaft zu tun.
3.4 Einkommensarmut Werfen wir noch einen Blick auf die unterste Gruppe in der Einkommenshierarchie, die so genannten Einkommensarmen. Zur Abgrenzung dieser Gruppe orientieren wir uns an einer Armutsrisikogrenze, die die Europäische Union festgesetzt hat. Diese Grenze liegt bei 60 % des Median der Nettoäquivalenzeinkommen.8 Die Linien in Abbildung 2 (basierend auf Tabelle A2 im Anhang) kennzeichnen die Höhe unterschiedlich berechneter Armutsrisikoquoten. Die mit „regional“ gekennzeichneten Linien stellen Armutsrisikoquoten dar, die auf Basis des Medians des jeweiligen Landesteils ermittelt wurden. Man sieht, dass in Westdeutschland von 1973 bis 1998 der Anteil der Einkommensarmen kontinuierlich von 8,7 auf 13,1 % angestiegen ist. In Ostdeutschland ergab sich von 1993 bis 1998 ebenfalls eine Zunahme von 6,1 auf 8,4 %, auch wenn diese ostdeutsche Armutsrisikoquote deutlich unter der westdeutschen verblieb. Bei der Berechnung dieser Armutsrisikoquoten wurde unterstellt, dass es sich noch um zwei getrennte Landesteile handelt, in denen sich die Armen jeweils an den durchschnittlichen Lebensverhältnissen in ihrem Landesteil orientieren. Diese Annahme wird im Zeitverlauf immer unrealistischer. Sie widerspricht auch dem Ziel der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Daher ist es angebracht, nach Ablauf einer begrenzten Anpassungsfrist alternativ die Armutsrisikoquoten auf der Basis des gesamtdeutschen Medians zu ermitteln. Dies sind die mit „gesamtdeutsch“ benannten Linien. Hier sind die ostdeutschen Quoten weit höher als die westdeutschen, und sie nehmen mit dem allmählichen wirtschaftlichen Aufholen ab. Allerdings fand dieser Aufholungsprozess schon vor der Jahrtausendwende ein Ende, so dass man eine wieder ansteigende Armutsrisikoquote in Ostdeutschland konstatieren muss.
8 Der Median ist jenes Einkommen, das die genau in der Mitte liegende Person erhält, wenn man alle Personen nach der Höhe ihrer Nettoäquivalenzeinkommen anordnet. Der Median teilt also die Bevölkerung in zwei gleich große Hälften.
60
Richard Hauser
Abbildung 2:
Armutsrisikoquoten in Westdeutschland, Ostdeutschland und Gesamtdeutschland von 1973 bis 2003
25 Westdeutschland regional 20 Ostdeutschland regional
15
Westdeutschland gesamtdeutsch
10
5
Ostdeutschland gesamtdeutsch
0 1973
1978
1983
1988
1993
1998
2003
Gesamtdeutschland
Quelle: Tabelle A2 im Anhang.
In Gesamtdeutschland stiegen die Armutsrisikoquoten von 1998 bis 2003 ebenfalls von 12,1 % auf 13,5 %. Aus Analysen auf Basis des Sozio-ökonomischen Panels geht überdies hervor, dass die gesamtdeutsche Armutsrisikoquote bis 2006 nochmals steil angestiegen ist (vgl. DIW Berlin 2007). Für den Anstieg der Armutsrisikoquoten dürfte in erster Linie die Zunahme der Arbeitslosigkeit – insbesondere der Langzeitarbeitslosigkeit – verantwortlich sein. Aber auch Veränderungen der Haushaltsstruktur – insbesondere der zunehmende Anteil Alleinerziehender – spielen eine Rolle. Und schließlich muss die Kürzung verschiedener Sozialleistungen, die im Rahmen der Sparpolitik seit Ende der 90er Jahre vorgenommen wurde, als weitere Ursache erwähnt werden.
4
Die Entwicklung der Vermögensverteilung
Der Besitz von Vermögen stellt einen weiteren Aspekt der Lebenslage von Personen und Haushalten dar. Aus der Sicht eines Vermögensbesitzers kann man von neun Funktionen sprechen, die Vermögen erfüllt:
Erstens kann man aus Vermögen Einkommen in Form von Zinsen, Dividenden, Mieten, Pachten und ausgeschütteten Gewinnen erzielen (Einkommenserzielungsfunktion); zweitens kann Sachvermögen selbst genutzt werden (Nutzungsfunktion); drittens kann Vermögen aufgelöst und verbraucht werden; es dient daher der individuellen Unabhängigkeit und zur Absicherung gegen Risiken (Sicherungsfunktion); viertens ermöglicht der Besitz von Vermögen die Wahl zwischen einer unselbständigen Tätigkeit oder einer selbständigen Existenz als Freiberufler oder Gewerbetreibender (Wahlfreiheitsfunktion);
Die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland
61
fünftens verleiht Vermögen, insbesondere der Besitz von größerem Produktiv- und Unternehmensvermögen, wirtschaftliche und gegebenenfalls auch politische Macht (Machtfunktion); sechstens verleiht der Besitz von Vermögen gesellschaftliches Prestige und gewährleistet damit einen höheren Rang in der gesellschaftlichen Hierarchie (Prestigefunktion); siebtens kann Vermögen als Starthilfe für die Kinder und zu deren sozialer Platzierung in der gesellschaftlichen Hierarchie verwendet werden (soziale Platzierungs- und Statuserhaltungsfunktion); achtens kann Vermögen vererbt werden und damit der Übertragung aller genannten Funktionen auf die Erben, in der Regel den Ehegatten und die Kinder, dienen; und neuntens kann Vermögen gespendet werden, sei es für gemeinwohlorientierte Zwecke oder für destruktive Aktivitäten.
Zwar werden einige dieser Funktionen nur bei hohem Vermögen tatsächlich wirksam, aber auch der Besitz eines kleinen Vermögens verbessert bereits die Lebenslage eines Haushalts ganz wesentlich. Das gesamte im Inland belegene Volksvermögen ist letztlich im Besitz von vier so genannten Letzteigentümersektoren: dem Haushaltssektor, den Organisationen ohne Erwerbszweck, dem Staatssektor sowie dem Ausland, d.h. den im Ausland ansässigen Eigentümern. Der Unternehmenssektor sowie der Finanzsektor tauchen hier nicht auf, weil sie ihrerseits im Eigentum der vier Letzteigentümersektoren stehen, auch wenn diese Eigentumsrechte teilweise erst über eine längere Kette von Finanzbeziehungen vermittelt werden. Eine umfassende Volksvermögensrechnung für Deutschland, die diese Vermögensbeziehungen darstellt, gibt es bisher leider nicht.9 Aber es liegen Schätzungen der Deutschen Bundesbank für den Haushaltssektor vor. Tabelle 1 zeigt einige Ergebnisse. Angaben im Billionenbereich und deren Veränderungen im Zeitablauf sind wenig anschaulich. Viel aufschlussreicher sind relative Zahlen, die zustande kommen, wenn man das Nettovermögen privater Haushalte zum Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen (BIP) in Beziehung setzt. Damit umgeht man gleichzeitig das Problem der Berücksichtigung von Preisniveausteigerungen bei der Vermögensbewertung. Die letzte Zeile in Tabelle 1 zeigt, dass das Nettovermögen privater Haushalte (ohne das Gebrauchsvermögen) etwa beim Dreifachen des BIP lag, wobei sich diese Relation von 1991 bis 2003 noch um ein Zehntel erhöhte. Die Vermögensneubildung führte also zu einer die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts übersteigenden Vermögenszuwachsrate.
9 Nach Abfassung dieses Beitrags hat die Deutsche Bundesbank im Monatsbericht Januar 2008 eine umfassende Volksvermögensrechnung veröffentlicht.
62
Richard Hauser
Tabelle 1: Vermögen privater Haushalte in Deutschland 1991 bis 2003 (in Mrd. Euro, DM-Werte in Euro umgerechnet) Vermögenskategorie
1991
1994
1997
2000
2003
Sachvermögen1)
3.347
3.943
4.317
4.586
4.768
Geldvermögen
2.022
2.516
3.105
3.637
3.919
624
741
827
915
978
5.994
7.200
8.250
9.138
9.665
824
1.074
1.287
1.495
1.551
Nettovermögen (einschl. Gebrauchsvermögen)
5.170
6.126
6.963
7.643
8.114
Nettovermögen (ohne Gebrauchsvermögen)
4.545
5.385
6.135
6.728
7.136
2,96
3,02
3,20
3,26
3,30
Gebrauchsvermögen Bruttovermögen Verpflichtungen2)
Anteil des Nettovermögens (ohne Gebrauchsvermögen) am Bruttoinlandsprodukt
1) Einschließlich Wohngrundstücke und gewerbliche Grundstücke, jedoch ohne unbebaute sowie land- und forstwirtschaftlich genutzte Grundstücke. 2) Wohnungsbaukredite und sonstige Verbindlichkeiten, im Wesentlichen für gewerbliche und konsumtive Zwecke. Quellen: Deutsche Bundesbank 2006, unveröff. Berechnungen. Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Stöß. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Statistisches Taschenbuch 2006, Bonn.
Das Bruttovermögen wird vom Sachvermögen, in erster Linie Haus- und Grundbesitz sowie Unternehmensvermögen, dominiert. Aber der Zuwachs des Geldvermögens war in dieser Periode mit etwa 94 % deutlich stärker als der Zuwachs des Sachvermögens mit nur 42,4 %. Das Gebrauchsvermögen spielte dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Auch die Schulden der Haushalte – in erster Linie Wohnungsbaukredite, gewerbliche Kredite und Konsumentenkredite – machten nur einen Bruchteil des Bruttovermögens aus. Dieses gesamte Haushaltsnettovermögen wird im Durchschnitt alle dreißig Jahre an die nächste Generation vererbt oder schon vorzeitig verschenkt. Die Einkommens- und Verbrauchsstichproben (EVS) des Statistischen Bundesamtes erfassen nur einen Teil des Vermögens der Haushalte; denn einerseits werden Unterangaben gemacht und andererseits sind die reicheren Schichten nicht repräsentativ vertreten. Trotzdem lassen sich aus dieser Datenquelle einige Ergebnisse ableiten, die als eine Untergrenze der Vermögenshöhe und der Ungleichheit der Vermögensverteilung anzusehen sind. Einen Eindruck von der Höhe des Nettovermögens pro Haushalt und von der Ungleichheit der Verteilung der Nettovermögen auf Haushalte gewinnt man bei einem Blick auf Tabelle 2.
Die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland
63
Tabelle 2: Die Verteilung des Nettovermögens auf Haushalte in Westdeutschland, in Ostdeutschland und in Gesamtdeutschland Westdeutschland Verteilungsmaß
1973
1)
1983
2)
19883)
19934)
19984)
20034)
Arithm. Mittel (in 1000 €)
51,3
120,2
82,9
125,4
129,2
148,8
Gini-Koeffizient (in Prozent)
74,8
70,1
66,8
62,5
64,1
65,7
Ostdeutschland Arithm. Mittel (in 1000 €)
36,4
45,6
59,6
Gini-Koeffizient (in Prozent)
71,8
68,2
67,1
Arithm. Mittel (in 1000 €)
113,7
133,4
Gini-Koeffizient (in Prozent)
66,5
67,5
Gesamtdeutschland
Anmerkung: Die Berechnungen beruhen auf den Einkommens- und Verbrauchsstichproben des Statistischen Bundesamtes. Bei negativem Nettovermögen wurden für die Berechnung des Gini-Koeffizienten Null-Werte verwendet. Es muss darauf hingewiesen werden, dass diese Schätzungen größere Ungenauigkeiten enthalten können; insbesondere werden durch die EVS die Haushalte mit den höchsten Einkommen und Vermögen nicht erfasst, so dass es sich bei der durch die Gini-Koeffizienten charakterisierten Ungleichheit um eine Untergrenze der „wahren“ Ungleichheit handeln dürfte. Quellen: 1) Mierheim und Wicke (1978) S. 58-59 (nur deutsche Haushalte, einschl. geschätztem Betriebsvermögen); 2) Schlomann (1992), S. 136-139 (nur deutsche Haushalte, einschl. geschätztem Betriebsvermögen); 3) Hauser und Stein (2001), S. 50 (1988 nur deutsche Haushalte, alle Angaben ohne Betriebsvermögen); 4) Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (2005), Tabellen I.7 und I.10 (alle Haushalte, ohne Betriebsvermögen) basierend auf Westerheide, Ammermüller und Weber (2005).
Diese hier zusammengestellten Ergebnisse beruhen auf verschiedenen Studien, die nicht voll vergleichbar sind. Daher ist der Rückgang des Gini-Koeffizienten in den 70er und 80er Jahren nicht verlässlich interpretierbar. Da aber von 1993 bis 2003 gleichartige Methoden angewendet wurden, kann man sagen, dass die Ungleichheit der Nettovermögensverteilung in Westdeutschland zugenommen hat, während sie in Ostdeutschland abnahm. Dabei hat sich eine Annäherung vollzogen. Das gesamtdeutsche Bild der Ungleichheit der Vermögensverteilung unterschied sich 2003 nicht mehr wesentlich von der Ungleichheit in den Landesteilen. Die hier nachgewiesene Ungleichheit wäre vermutlich etwas geringer, wenn das Gebrauchsvermögen auch erfasst worden wäre. Unbestreitbar ist auch, dass das Nettovermögen pro Haushalt stark angestiegen ist. Das durchschnittliche Nettovermögen pro Haushalt wies im Jahr 2003 in Gesamtdeutschland
64
Richard Hauser
mit € 133.400 eine beachtliche Höhe auf. Dabei machte das Nettovermögen pro Haushalt in den neuen Bundesländern mit € 59.600 nur zwei Fünftel desjenigen in den alten Bundesländern mit € 148.800 aus.10 Dies beruht auf fünf Faktoren (vgl. Hauser (u.a.) 1996):
Die geringeren Möglichkeiten zur Vermögensakkumulation in der ehemaligen DDR und die Umstellung größerer Geldvermögen nur im Verhältnis 2 : 1; die geringere Sparfähigkeit nach der Wiedervereinigung wegen der niedrigeren Einkommen und der prioritären Beschaffung von Gebrauchsvermögen, das nicht in diesen Zahlen enthalten ist; die geringere Verbreitung von Grundbesitz, der allerdings für die Eigentümer nach der Wiedervereinigung gewaltige Wertsteigerungen erfuhr; der geringere Besitz von Unternehmen, da diese neu aufgebaut werden mussten; der Erhöhung des Nettovermögens Westdeutscher durch die Naturalrestitution früheren Eigentums und durch Entschädigungszahlungen.
Wenn auch erkennbar ist, dass nach der Wiedervereinigung ein Aufholprozess stattgefunden hat, so ist doch zu erwarten, dass dieser Prozess noch mindestens eine Generation weitergehen muss, bis ein ungefährer Gleichstand beim Durchschnittsvermögen in West- und Ostdeutschland erreicht sein wird. Die Verteilung der Nettovermögen ist weit ungleichmäßiger als die Verteilung der Nettoäquivalenzeinkommen. Diese starke Konzentration des Nettovermögens wird in einer Dezilsdarstellung besonders gut sichtbar.11 Legt man die Dezilsdarstellungen für das Nettovermögen pro Kopf und das Nettoäquivalenzeinkommen der Personen nebeneinander, so wird der Unterschied zwischen den beiden Verteilungen besonders gut sichtbar. Dies ist aus der folgenden Abbildung 3 zu erkennen. Wenn wir nur einmal auf die Randbereiche blicken, sehen wir, dass beim Nettoäquivalenzeinkommen das unterste Dezil einen Anteil von 4 % aufweist, während es beim Nettovermögen einen negativen Anteil zeigt, d.h. die Schulden sind dort größer als das Bruttovermögen (ohne Gebrauchsvermögen). Beim obersten Dezil sind die Verhältnisse umgekehrt: Am Nettoäquivalenzeinkommen hat das oberste Dezil einen Anteil von 22,4 %, während es beim Nettovermögen 46,5 % besitzt. Erst das siebte Dezil besitzt beim Nettoäquivalenzeinkommen einen Anteil, der ungefähr seinem Bevölkerungsanteil entspricht, während der Nettovermögensanteil immer noch etwas geringer ist.
10
Es ist darauf hinzuweisen, dass die Einkommens- und Verbrauchsstichproben nur einen Teil des im Besitz von Haushalten befindlichen Vermögens erfassen. Die Schätzungen der Deutschen Bundesbank liegen deutlich höher. 11 Dabei werden alle Personen nach der Höhe des ihnen zugeordneten Pro-Kopf-Nettovermögens aufgereiht und dann wird für jedes Zehntel der Personen bestimmt, wie hoch dessen Anteil am gesamten Nettovermögen ist. Würde eine völlige Gleichverteilung herrschen, dann besäße jedes Zehntel der Personen auch ein Zehntel des gesamten Nettovermögens. Die Verteilung ist umso ungleicher, je stärker die Anteile der unteren Zehntel nach unten und die Anteile der oberen Zehntel nach oben von diesem Richtwert abweichen. In gleicher Weise lässt sich auch eine Dezilsdarstellung für die Verteilung der Nettoäquivalenzeinkommen auf die Personen ermitteln.
Die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland Abbildung 3:
65
Dezilsverteilung der Nettoäquivalenzeinkommen auf Personen und der ProKopf-Nettovermögen auf Personen in Gesamtdeutschland im Jahr 2003
50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 -5 1. Dezil 2. Dezil 3. Dezil 4. Dezil 5. Dezil 6. Dezil 7. Dezil 8. Dezil 9. Dezil
10. Dezil
Legende: Anteil des Nettoäquivalenzeinkommens pro Person (hell) bzw. des Nettovermögens pro Kopf (dunkel) eines Dezils am gesamten Nettoäquivalenzeinkommen aller Personen bzw. am Nettovermögen aller Personen. Quelle: Hauser (u.a.) 2008: Tab. 79 und 82.
Erinnert man sich an das von Plato vorgeschlagene Verhältnis von 1 zu 4, lässt sich feststellen, dass das Verhältnis der Einkommensanteile zwischen unterstem und oberstem Dezil mit 1 zu 5,6 nicht allzu stark hiervon abweicht. Beim Vermögen ist die Diskrepanz jedoch enorm. Auch wenn man die unteren drei Dezile zusammenfasst, so beläuft sich deren Anteil am Nettovermögen nur auf 0,9 %. Das Verhältnis dieser drei untersten Dezile zum obersten Dezil beträgt also 1 zu 51,6. Auf die Vermögensverteilung bezogen trifft daher das von Glotz stammende Diktum voll zu: „Wir leben in einer Zwei-Drittel-Gesellschaft“.
Literatur Becker, Irene und Hauser, Richard, 2003: Anatomie der Einkommensverteilung. Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichproben 1969-1998. Berlin: edition sigma. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), 2001: Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Bd. 1 und 2, Bonn: Eigenverlag. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hg.), 2005: Lebenslagen in Deutschland. Der zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn: Eigenverlag. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2006: Statistisches Taschenbuch 2006. Bonn: Eigenverlag. DIW Berlin, 2007: Armut verfestigt sich. In: Wochenbericht Nr. 12.
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Richard Hauser
Hauser, Richard (u.a.), 1996: Ungleichheit und Sozialpolitik, Berichte zum sozialen und politischen Wandel in Ostdeutschland. Opladen: Leske + Budrich. Hauser, Richard und Stein, Holger, 2001: Die Vermögensverteilung im vereinigten Deutschland. Frankfurt/New York: Campus. Hauser, Richard und Becker, Irene, 2001: Einkommensverteilung im Querschnitt und im Zeitverlauf 1973-1998, hrsg. vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung. Bonn: Eigenverlag. Hauser, Richard und Becker, Irene, 2005: Verteilung der Einkommen 1999-2003, hrsg. vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung. Bonn: Eigenverlag. Hauser, Richard (u.a.), 2008: Integrierte Analyse der Einkommens- und Vermögensverteilung, hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Bonn: Eigenverlag. Mierheim, Horst und Wicke, Lutz, 1978: Die personelle Vermögensverteilung in der Bundesrepublik Deutschland. Tübingen: Mohr-Siebeck. Platon, 1985: Die Gesetze – 5. Buch, 744b. In: Ritter, Constantin: Platos Gesetze 1. Teil, Darstellung des Inhalts, Neudruck der Ausgabe Leipzig 1886. Aalen. Schlomann, Heinrich, 1992: Vermögensverteilung und private Altersvorsorge. Frankfurt/New York: Campus. Sen, Amartya, 1975: Ökonomische Ungleichheit. Frankfurt/New York: Campus. Stein, Holger, 2004: Anatomie der Vermögensverteilung. Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichproben 1983-1998. Berlin: edition sigma. Wagner, Gert und Krause, Peter, 2001: Einkommensverteilung und Einkommensmobilität, hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Bonn: Eigenverlag. Westerheide, Peter; Ammermüller, Andreas und Weber, Andrea, 2005: Die Entwicklung und Verteilung des Vermögens privater Haushalte unter besonderer Berücksichtigung des Produktivvermögens, hrsg. vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung. Bonn: Eigenverlag.
Die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland
67
Anhang Tabelle A1: Die Verteilung der Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit auf die Bezieher sowie der Marktäquivalenzeinkommen und der Nettoäquivalenzeinkommen auf alle Personen von 1973 bis 2003 (GiniKoeffizienten in Prozent) Verteilung der Einkommensarten Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit (auf die Bezieher)1) Marktäquivalenzeinkommen (auf alle Personen)2) Nettoäquivalenzeinkommen (auf alle Personen)3) Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit (auf die Bezieher)1) Marktäquivalenzeinkommen (auf alle Personen)2) Nettoäquivalenzeinkommen (auf alle Personen)3)
1973 29,7
1978 29,9
Westdeutschland 1983 1988 1993 30,7 31,6 31,7
37,8
41,9
42,3
44,4
43,5
24,2
24,2
24,6
25,0
26,2
1998 32,0 39,7 43,5 43,6 26,4 25,7
2003 42,2
28,7 35,7
40,3
46,4
48,2
50,9
19,9
21,6 21,1
22,6
39,6
42,3
44,9
47,2
25,5
25,7
Ostdeutschland 27,1
46,1 25,8
Gesamtdeutschland Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit (auf die Bezieher)1) Marktäquivalenzeinkommen (auf alle Personen)2) Nettoäquivalenzeinkommen (auf alle Personen)3)
Anmerkungen: Die Berechnung von Äquivalenzeinkommen erfolgte mit der neuen OECD-Skala (1 Person 1,0, weitere Personen über 13 0,5, jüngere Kinder 0,3). 1) Erste Zeile: 1973 – 1998 nur deutsche Haushalte; zweite Zeile: Angaben einschließlich Ausländern und einschließlich Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung und unterstellte Sozialbeiträge für Beamte sowie einschließlich geringfügiger Beschäftigungen und Nebentätigkeiten. 2) Erste Zeile: nur deutsche Haushalte; zweite Zeile: alle Haushalte einschließlich Ausländer. 3) Erste Zeile: nur deutsche Haushalte; zweite Zeile: alle Haushalte einschließlich Ausländer; nur Angaben für die ersten beiden Quartale. Quellen: Becker und Hauser (2003), Tab. 5.1a, 5.1b, 5.4a, Hauser und Becker (2001), Tab. 6.1.5, 6.1.7, 6.2.5, 6.2.7 und Hauser/Becker (2005), Tab. 3.1.1.1, 3.1.2.3, 3.1.3.3.
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Richard Hauser
Tabelle A2: Armutsrisikoquoten in Westdeutschland, Ostdeutschland und Gesamtdeutschland von 1973 bis 2003 (Bevölkerungsanteile in Prozent) Armutsrisikoquote gemäß EUDefinition (60 % des Median)1) Armutsrisikoquoten bezogen auf den Median des jeweiligen Landesteils2) Armutsrisikoquoten bezogen auf den gesamtdeutschen Median3)
1973
1978
8,7
9,0
Westdeutschland 1983 1988 1993
1998
11,0
12,0
13,1
9,1
11,0
6,1
8,4
22,0
17,1
19,3
12,1
13,5
11,8
2003
12,2
Ostdeutschland Armutsrisikoquoten bezogen auf den Median des jeweiligen Landesteils2) Armutsrisikoquoten bezogen auf den gesamtdeutschen Median3)
Gesamtdeutschland Armutsrisikoquoten bezogen auf den gesamtdeutschen Median3)
Anmerkungen: Leere Zellen: nicht verfügbar oder nicht anwendbar. 1) Die Armutsrisikoquote ist definiert als der Anteil der Bevölkerung, dessen Nettoäquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Medians beträgt. Die Berechnung des Nettoäquivalenzeinkommens erfolgte mit der neuen OECDSkala (1 Person 1,0, weitere Personen über 13 Jahre 0,5, jüngere Kinder 0,3). 2) In Westdeutschland bis 1998 nur deutsche Haushalte; in Ostdeutschland alle Haushalte. 3) Alle Haushalte.1998 und 2003 nur beruhend auf den Daten für zwei Quartale. Quellen: Hauser und Becker (2001), Tab. 7.1.2, 7.2.2 und Hauser und Becker (2005), Tab. 3.2.1.2.
Wohlhabend durch Bildung und Beruf. Oder: Wer sind die Hocheinkommensbezieher? Wohlhabend durch Bildung und Beruf
Alexander Tarvenkorn und Wolfgang Lauterbach
1
Einleitung
Seit geraumer Zeit rücken die Hocheinkommensbezieher und einkommensstarken Haushalte immer stärker in den Fokus öffentlicher und wissenschaftlicher Diskussionen. Hierzu tragen wesentlich die drei seit 2001 veröffentlichten Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung sowie die Debatte um die sich weiter spreizende Schere zwischen „Arm und Reich“ bei. Die Motive für die Beschäftigung mit Bevölkerungsgruppen, die in Armut oder nahe der Armutsgrenze leben, sind eindeutig: Es sollen Handlungsanweisungen und Änderungsvorschläge erarbeitet werden, um Folgen der Armut abzumildern oder sogar ihre Entstehung zu verhindern (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008: I; StrengmannKuhn 2003: 200; Merz, Hirschel und Zwick 2005: 1). Bei der Betrachtung reicher Bevölkerungsgruppen stellt sich hingegen die Frage, weshalb sich Wissenschaft und Politik mit diesem Teil der Bevölkerung auseinandersetzen sollten. Ein Argument ist darin zu finden, dass die ungleicher werdende Vermögensverteilung nur dann zu verstehen ist, wenn auch die Gruppe der Einkommensreichen betrachtet wird. Auch wenn die Zahl der sehr reichen Menschen in der Gesamtbevölkerung eher gering ist, gibt es trotz steigender Armut und einem Wohlstandsrisiko der Mittelschicht einen Zuwachs bei der Gruppe der Wohlhabenden und Reichen (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008). Zum anderen wird häufig die These vertreten, dass der Zusammenhalt einer Gesellschaft und die Akzeptanz ihrer Staats- und Gesellschaftsform auch davon abhängt, inwiefern gerade einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen soziale Unterschiede und damit auch wohlhabendere Schichten und Menschen akzeptieren (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008: 27; Merz, Hirschel und Zwick 2005: 1). Die Akzeptanz von Einkommensunterschieden hängt insbesondere davon ab, welche Möglichkeit Menschen haben, selbst in höhere Einkommensgruppen aufzusteigen und mobil zu sein. Soziale Mobilität ist gerade in Industriegesellschaften ein Indikator für die Offenheit einer Gesellschaft, in der durch „achievement“ und nicht durch „ascription“ eine Hocheinkommens-Position auf dem Arbeitsmarkt erworben werden kann. (Vgl. Esser 2000: 113f und 210; Treiman und Yip 1989) Der umgekehrte Fall – Immobilität und Geschlossenheit – ist hingegen ein wesentlicher Faktor, weshalb Gesellschaftsformen nicht akzeptiert werden (vgl. Joas und Kohli 1993). Im Hinblick auf die dargestellte Notwendigkeit, sich mit Einkommensreichen zu beschäftigen, geht es in diesem Beitrag darum, Erklärungsansätze zu finden, aus welchen Gründen Erwerbstätige in die Gruppe der Hocheinkommensbezieher gehören, während andere auf einem durchschnittlichen Niveau verharren. Wie unterscheiden sich Angehörige der Mittel- und Oberschicht voneinander? Angenommen wird, dass Faktoren aus unter-
70
Alexander Tarvenkorn und Wolfgang Lauterbach
schiedlichen Lebensbereichen die Höhe des Erwerbseinkommens maßgeblich beeinflussen. Sind es speziell Bildungserträge oder sind es Einflüsse des Arbeitsmarktes, wie etwa die Zugehörigkeit zum betriebsinternen Arbeitsmarkt, die Hocheinkommen begünstigen?
2
Ausgangslage und Fragestellungen
In der Literatur wird die Gruppe der Hocheinkommensbezieher1 in der Regel kaum gesondert betrachtet. Innerhalb der Mobilitäts-, Bildungs- und Arbeitsmarktforschung werden allerdings Argumente diskutiert, die speziell auf die Gruppe der Hocheinkommensbezieher angewandt werden können. Im Folgenden werden Argumente dieser theoretischen Debatten auf die Frage zugespitzt, was den Hocheinkommensbezug begünstigt.
2.1 Bildungserträge und Hocheinkommen Über die veränderte Bedeutung von Bildungsabschlüssen für die Position auf dem Arbeitsmarkt in Folge der Bildungsexpansion der 1960er Jahre ist in Deutschland viel diskutiert worden. Die Frage, ob durch die Bildungsexpansion eine Entwertung der Bildungsabschlüsse oder eine stärkere Bindung zwischen der schulischen und beruflichen Qualifikation und der erreichten Position auf dem Arbeitsmarkt erfolgt ist, ist durch empirische Ergebnisse weitgehend beantwortet worden. Diese weisen dabei in eine nahezu einheitliche Richtung: Trotz großer Veränderungen im deutschen Bildungssystem nimmt der Einfluss der Bildung auf die erreichte Berufsposition nicht ab, sondern eher zu. Sie bleibt einer der bedeutsamsten Faktoren für die Zuweisung von Chancen und damit Verdienstmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt. (Vgl. Mayer und Pollmann-Schult 2004; Müller 1998; Butz 2001) Inzwischen hat sich in vielen Untersuchungen gezeigt, dass der Grundgedanke der Humankapitaltheorie (vgl. Becker 1993: 16) daher nach wie vor gilt: Demnach führt eine längere zeitliche Investition in den Erwerb von Bildung zu besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt und damit zu höherem Erwerbseinkommen. Schulabsolventen mit einem beruflichen Abschluss verdienen bis zu 1,7-mal so viel gegenüber Hauptschulabsolventen ohne weitere Ausbildung; Universitätsabsolventen erreichen mindestens das Doppelte (vgl. Butz 2001: 109). Für die These des steigenden Ertrags durch Bildungsinvestitionen sprechen auch Erkenntnisse von Schupp u.a., die auf der Ebene der Haushalte nachweisen, dass mit steigendem Individual- und Haushaltseinkommen das durchschnittliche Bildungsniveau steigt (vgl. Schupp u.a. 2003: 57). Zu hohen Bildungsabschlüssen zählen insbesondere Hochschul- sowie Fachhochschulabschlüsse. Gerade Fachhochschulen haben in den letzten 20 Jahren einen immer größeren Zulauf erfahren und ihre Absolventen liegen in Bezug auf die Passung zwischen dem erreichten Ausbildungsabschluss und der ersten Erwerbstätigkeit sowie die durchschnittliche Einkommenshöhe beinahe gleichauf mit Hochschulabsolventen (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 184). Fachhochschulabsolventen weisen insbesondere in den ersten Berufsjahren überdurchschnittlich gute Verdienstmöglichkeiten auf. (Vgl. Tarvenkorn und Lauterbach 2009). Aus 1
Zur Definition dieses Begriffs und zur Grenzziehung siehe nächster Abschnitt.
Wohlhabend durch Bildung und Beruf
71
anderen Untersuchungen ist bekannt, dass gerade das anwendungsorientierte Wissen, das in Fachhochschulen vermittelt wird, zu einem sehr guten Einstieg in den Beruf führt. Das abstrakte und fachübergreifende Wissen, das an Universitäten vermittelt wird, wird hingegen vor allem in Berufen benötigt, die Aufstiegs- und bessere Verdienstmöglichkeiten eröffnen. Aus diesen Befunden lässt sich ableiten, dass in den ersten Berufsjahren vermehrt Absolventen von Fachhochschulen zu den Hocheinkommensbeziehern zählen, diese aber im späteren Berufsverlauf von den Hochschulabsolventen eingeholt werden (Tarvenkorn und Lauterbach 2009). Bildungsrenditen in Form von Hocheinkommen sind daher mit wesentlich höherer Wahrscheinlichkeit von Personen mit Hochschulabschlüssen zu erwarten. Im Gegensatz dazu ergibt sich, dass Fachhochschulabschlüsse vermutlich mehr Renditen erbringen als berufliche Abschlüsse im dualen oder vollzeitschulischen System, jedoch werden wahrscheinlich keine wesentlich höheren Einkommen erzielt. Der Humankapitaltheorie kann hier nur insofern gefolgt werden, als dass die Segmentierung des schulischen und beruflichen Ausbildungssystems zu unterschiedlichen „credentials“ führt, mit denen unterschiedliche Berechtigungen im Erwerb von Positionen und letztlich höhere Bildungserträge verbunden sind. (Vgl. Krais 1983: 199)
2.2 Betriebsinterne Arbeitsmärkte als Hocheinkommensquelle? Die Theorie der segmentierten Arbeitsmärkte liefert klare Hinweise auf die Beantwortung der Frage nach der Einkommensentwicklung im Lebensverlauf, speziell für den Hocheinkommensbereich (vgl. Sengenberger 1978, 1987; Szydlik 1990; Abraham und Hinz 2005). So zeigt die Theorie erstens, dass vor allem in betriebsinternen Arbeitsmärkten im Unterschied zu den fachlichen Arbeitsmärkten höhere Einkommen zu erzielen sind. Interne Arbeitsmärkte zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass hoch ausgebildete Personen in großen Firmen erwerbstätig sind. Diese wirken eher „geschlossen“, da zum einen qualitativ hohe Anforderungen an die Ausbildung der Mitarbeiter gestellt werden und dadurch kein beliebiger Austausch der Mitarbeiter möglich ist. Dies gilt vor allem dann, wenn Mitarbeiter hohes betriebsspezifisches Kapital akkumuliert haben. Dieses spezielle Kapital wird gerade durch die Dauer der Betriebszugehörigkeit erworben und macht einen Mitarbeiter „immer wertvoller“ für den Betrieb. Die Zahlung hoher Einkommen ist daher eine Grundvoraussetzung für die Mitarbeit in betriebsspezifischen Arbeitsmärkten (vgl. Zühlke und Gödecke 2000). Zum anderen verweist die Theorie auf den Aspekt der Mobilität und den damit verbundenen Einkommenseffekt. Besonders durch freiwillige Mobilität können größere Einkommenssprünge erzielt werden (vgl. Hacket 2005). Dies geschieht innerhalb des internen Marktes durch zwei Mechanismen. Erstens stellen interne Arbeitsmärkte in großen Firmen bessere Weiterbildungsmöglichkeiten und betriebsinterne Aufstiegsmöglichkeiten zur Verfügung. Interne Karriereleitern ermöglichen Arbeitnehmern durch den Wechsel der Tätigkeit Aufstiege, die in kleinen Firmen nicht möglich sind, denn diese können durch ihre Marktposition keine Aufstiegsmöglichkeiten anbieten. Zweitens ermöglichen aber auch gerade freiwillige zwischenbetriebliche Wechsel Einkommensverbesserungen. Die hohe Spezifität des Wissens und der Qualifikation sind Garanten für die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer. Hinsichtlich des Bezuges von Hocheinkommen lässt sich daraus die Erkenntnis ableiten, dass interne Arbeitsmärkte speziell hohe Einkommensbezüge ermöglichen. Diese können zusätzlich durch die Dauer der Betriebszugehörigkeit und den damit verbundenen Er-
72
Alexander Tarvenkorn und Wolfgang Lauterbach
werb von betriebsspezifischem Humankapital erhöht werden (vgl. Di Prete 1996; Funk 1999; Nollmann 2006). Der negative Einfluss ausbildungsinadäquater Beschäftigung für die Position auf dem Arbeitsmarkt und damit auch für das Erwerbseinkommen wurde bereits in anderen Untersuchungen nachgewiesen (vgl. Büchel 1996; Pollmann-Schult und Büchel 2002). Im Umkehrschluss wird im vorliegenden Beitrag der positive Einfluss von ausbildungsadäquater Beschäftigung auf die Zugehörigkeitschancen zur Gruppe der Hocheinkommensbezieher getestet. Weiterhin stellt Weth fest, dass sich die Einkommen seit Jahren zu Gunsten der Selbständigen verschieben (vgl. Weth 2007: 128). Ebenso wird bei Schupp u.a. der steigende Anteil Selbständiger sowie die Zunahme von Überstunden bei steigendem Haushaltsnettoeinkommen festgestellt. Bei Übertragung der Befunde zum Haushaltsnettoeinkommen auf die Bestimmungsfaktoren für das Erwerbseinkommen wird diesen beiden Faktoren ein Einfluss auf die Einkommensposition unterstellt und überprüft. Unabhängig vom Bildungsniveau, dem Arbeitsmarktsegment, der Beschäftigungsadäquanz oder der Selbständigkeit gilt es als weitgehend erwiesen, dass höhere Einkommen eher im fortgeschrittenen Lebensalter erzielt werden. Vor allem die zunehmende Verantwortungsübernahme und der Aufstieg in leitende Tätigkeiten dürften sich hier auswirken (vgl. Kohli 1992: 294). Es ist jedoch fraglich, inwieweit diese Einkommensanstiege im Lebensverlauf zum Bezug von Hocheinkommen führen. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich demnach mit der Frage, wie sich die Gruppe der Hocheinkommensbezieher von der Gruppe der Durchschnittsverdiener unterscheidet. Speziell werden Bildungs- und Arbeitsmarktfaktoren auf ihre Einflussstärke geprüft. Um dieser Fragestellung nachzugehen, werden zwei Herangehensweisen gewählt. Zum einen werden die Sozialprofile von Hocheinkommensbeziehern mit denen von Durchschnittsverdienern verglichen, um zu zeigen, dass sich mit der Höhe des erzielten Erwerbseinkommens die Zusammensetzung der verschiedenen Einkommensgruppen voneinander unterscheidet. Zum anderen wird analytisch ermittelt, inwieweit die Unterschiede in der Gruppenzusammensetzung Begründungen für die unterschiedlichen Einkommenshöhen sind und statistisch unter Kontrolle der genannten Einflussfaktoren Bestand haben. Dazu werden Chancen berechnet, statt in die Gruppe der Durchschnittsverdiener in eine der Gruppen der Hocheinkommensbezieher zu gehören.
3
Grenzziehungen und Datenbasis
Methodisch ist es nicht einfach, den aufgeworfenen Fragen und Thesen nachzugehen. Insbesondere bereitet die Frage der Definition von Hocheinkommensbeziehern Schwierigkeiten. Bei der Definition von „Haushalten im oberen Einkommensbereich“ und der Grenzziehung zu anderen Einkommensgruppen sind nach Schupp u.a. (2003: 9) drei konzeptionelle Entscheidungen bedeutsam: (1) Die Wahl des Einkommensbegriffes; (2) die Entscheidung, Einkommen als solches oder bedarfsgewichtete Äquivalenzeinkommen zugrunde zu legen; (3) die Festlegung der Schwelle zum „oberen Einkommensbereich“.
Wohlhabend durch Bildung und Beruf
73
Die Wahl, welches Einkommen man als unterscheidendes Kriterium nimmt, hängt grundsätzlich von der Fragestellung ab, der man nachgeht. In vielen Fällen ist die Zugrundelegung des Haushaltsnettoeinkommens oder des Äquivalenzeinkommens am sinnvollsten, da diese beiden Einkommensarten am ehesten alle Einkommensarten eines Haushaltes auch über das Erwerbseinkommen der beteiligten Personen hinaus berücksichtigen. Sie geben so am ehesten Auskunft über die tatsächlich zur Verfügung stehenden Einkünfte und den damit verbundenen Lebensstandard eines Haushaltes oder seiner Personen (vgl. Schupp u.a. 2003: 11). In diesem Beitrag geht es jedoch um die Frage, wodurch sich Erwerbstätige in unterschiedlichen Einkommensgruppen voneinander unterscheiden und wie die Chancen, einer der Gruppen anzugehören, beeinflusst werden. Es kommt also hier nur das individuelle Erwerbseinkommen als zuweisendes Kriterium in Betracht. Um eine größtmögliche Vergleichbarkeit untereinander zu gewährleisten, wird das Brutto-Erwerbseinkommen von Vollzeiterwerbstätigen als Kriterium gewählt.2 Die Frage, ab wann ein Erwerbseinkommen zum Bereich der „oberen Einkommen“ gehört, lässt sich jedoch nicht interessengeleitet durch die Fragestellung ermitteln, sondern muss gerade unabhängig davon gewählt werden. Würde die Grenze zwischen durchschnittlichem und überdurchschnittlichem Einkommen je nach Interessenlage verschiebbar sein, könnte man aufgrund der sich dann jeweils ändernden Gruppenzusammensetzung ein beliebiges Bild von den Hocheinkommensbeziehern erhalten. In der Literatur finden sich bereits häufig genutzte empirische Definitionen zur Abgrenzung von Reichtum (vgl. Lauterbach und Ströing in diesem Band). In diesem Beitrag wird als untere Grenze des Hocheinkommens die 200-ProzentGrenze zugrunde gelegt. Sie findet sich auch als Schwelle zum Einkommensreichtum in den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung (vgl. z.B. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2001: 36).3 Sie lässt sich logisch als Äquivalent zur Armutsgrenze herleiten, die je nach verwendeter Grenzziehung bei 50 oder 60 Prozent des Durchschnittseinkommens liegt. Somit wird angenommen, dass Wohlstand beim Doppelten des durchschnittlichen Einkommens beginnt. Sowohl die logische Herleitung als auch die Anschlussfähigkeit an andere Untersuchungen sprechen für die Verwendung dieser Grenze. In Bezug auf das Bruttoerwerbseinkommen wurde sie auch bereits von Merz, Hirschel und Zwick so verwendet (vgl. Merz, Hirschel und Zwick 2005: 154). Als weitere Schwelle wird die 300-Prozent-Grenze verwendet4. Sie findet bislang seltener Verwendung, da empirisch gesehen in vielen Datensätzen kaum Personen erhoben werden, die über ein derart hohes Einkommen verfügen. Hier wird sie jedoch genutzt, um aufzuzeigen, ob sich Erwerbspersonen mit einem derart hohen Einkommen in wesentlichen 2
Da es sich beim Erwerbseinkommen um ein personenbezogenes Einkommen handelt, entfällt die zweite Überlegung von Schupp u.a., ob man das einfache Einkommen oder ein bedarfsgewichtetes Äquivalenzeinkommen zugrunde legt, da ein solches nur auf Haushaltsebene errechnet werden kann. Durch die Wahl des Brutto-Einkommens entfallen ebenso die Überlegungen hinsichtlich der Unterschiede in der Besteuerung bei verschiedenen Familienständen, wie auch die durch unterschiedliche Einkommenshöhen verursachten Steuerunterschiede. Ebenso unberücksichtigt bleiben hier allerdings auch die Einkommensdifferenzen zwischen Angestellten und Selbständigen, die aufgrund der Befreiung von der gesetzlichen Krankenversicherung und der freien Versicherungswahl von Selbständigen gegenüber Angestellten besteht. 3 Allerdings bezieht sich diese Grenze im Armuts- und Reichtumsbericht auf das Haushalts-Nettoeinkommen und nicht auf das individuelle Erwerbseinkommen. 4 Siehe dazu genauer im nächsten Abschnitt.
74
Alexander Tarvenkorn und Wolfgang Lauterbach
Aspekten von der Vergleichsgruppe der Durchschnittsverdiener unterscheiden. Die Einteilung ähnelt damit dem „1-2-3-Konzept“ von Espenhorst (vgl. Huster 1997: 51), der Haushalte nach Haushaltseinkommen in diese Gruppen einteilt. Durch eine derartige Modellierung wird die Position vertreten, dass weitere Differenzierungen oberhalb der 200-ProzentGrenze notwendig sind. Denn die Faktoren, die die Zugehörigkeit einer dieser Gruppen bestimmen, wirken vermutlich vollkommen unterschiedlich. Somit liegt hier eine merkliche Unterscheidung zu vielen in der Literatur auffindbaren Herangehensweisen vor. Häufig wird die Gruppe jenseits der oft so bezeichneten relativen „Reichtumsgrenze“ von 200 Prozent des Durchschnitts so behandelt, als handle es sich um eine weitestgehend homogene Gruppe. Eine Betrachtung der uneinheitlichen Konzepte, eine Grenze zwischen durchschnittlichem und Hocheinkommen zu ziehen, zeigt jedoch, dass es schwierig ist, festzulegen, ab welcher Schwelle Wohlstand beginnt. Dies spricht ebenfalls für die These, dass sich die Gruppe der Einkommensbezieher oberhalb von 200 Prozent des Durchschnittes sehr different in Bezug auf Bildung, Beruf und soziodemographische Faktoren zusammensetzt. Und dass sie sehr wahrscheinlich wesentlich heterogener ist, als es bisher in den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung dargestellt wurde. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, nicht nur die Gruppe der Wohlhabenden5 über 200 Prozent des Durchschnittseinkommens von den Durchschnittsverdienern zu unterscheiden, sondern die Wohlhabenden nochmals bei 300 Prozent des Durchschnitts zu unterteilen, um die Heterogenität und die angenommene Verschiebung der Wirkung der einzelnen Faktoren bei steigendem Einkommen aufzeigen zu können. Die folgenden Berechnungen basieren auf den Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) der Welle X (2007). Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erhebt im SOEP seit 2002 in Form einer Zusatzstichprobe (Sample G) einkommensstarke Haushalte,6 wobei zur Definition dieser Gruppe das Haushalts-Nettoeinkommen zugrunde gelegt wird. 7 Dadurch ist die Möglichkeit gegeben, auch im Bereich von Hocheinkommen valide Berechnungen durchzuführen. Der hier verwendete Datensatz besteht jedoch nicht ausschließlich aus Befragten des Samples G, sondern aus allen Befragten des SOEP, die sich aufgrund der folgenden Auswahlkriterien einer der Gruppen zuordnen lassen. Zusammengestellt wurde die Grundgesamtheit der drei Gruppen nach folgenden Kriterien:
Vorliegen von Informationen zur Personen-Nummer, aktuellen Stichprobenregion, Brutto-Erwerbseinkommen, Bildungsabschluss und Wochenarbeitszeit; Vollzeiterwerbstätigkeit zum Befragungszeitpunkt (inkl. Selbständige); Alter zwischen 16 und 65 bei Angestellten (keine Altersbeschränkung bei Selbständigen)8.
5 Der Begriff „Reiche“ erscheint bei 200 Prozent des durchschnittlichen Bruttoerwerbseinkommens als unangemessen. 6 Dieses Zusatzsampel „G“ beinhaltet allerdings keine höheren Einkommensgruppen als die anderen Sample des SOEP. Es wurde lediglich eine weitere Gruppe einkommensstarker Haushalte überrepräsentativ erhoben, vgl. hierzu ausführlicher Schupp u.a. 2003. 7 Die meisten der wenigen Analysen, die es im Bereich hoher Einkommen gibt, beziehen sich wie die des SOEP auf die Höhe des Haushaltsnettoeinkommens. So z.B. auch der Mikrozensus. 8 Es wurde in Vergleichsmodellen überprüft, ob die fehlende Altersbeschränkung bei Selbständigen zu einer Verzerrung der Koeffizienten führt. Dies ist nicht der Fall.
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In dieser so gewonnenen Gesamtgruppe wurde ein durchschnittliches Brutto-Erwerbseinkommen von 3.168 € pro Monat ermittelt.9 Auf Basis dieses Betrags wurden alle Fälle ausgeschlossen, die unter dem Durchschnitt lagen. So wurde eine Gruppe von 2.787 Fällen aus der Welle X des SOEP ermittelt. Diese Grundgesamtheit wurde in drei Gruppen aufgeteilt, die sich wie folgt gliedern:10 Tabelle 1: Zusammensetzung und Definition der Vergleichsgruppen
Brutto-Erwerbseinkommen in € Fallzahl
Durchschnitt bis 200 % 3.168 bis 6.336 2.345
200 % bis 300 % 6.337 bis 9.504 325
über 300 % mind. 9.505 117
Quelle: DIW, SOEP 2007, eigene Berechnungen.
4
Deskriptive Befunde: Der Vergleich von Sozialprofilen
Im folgenden Abschnitt werden die drei Gruppen in ihren Profilen gegenübergestellt und verglichen. Der Vergleich erfolgt dabei getrennt nach den benannten beiden theoretischen Gesichtspunkten Bildung und Beruf. Vorab wird zusätzlich eine auf allgemeine soziodemographische Aspekte bezogene Beschreibung der Hocheinkommensbezieher vorgenommen, um generelle Unterschiede zu den Durchschnittsverdienern herauszustellen.
4.1 Allgemeine sozio-demographische Merkmale Bei den allgemeinen sozio-demographischen Merkmalen bestätigen sich zu großen Teilen die aus der Literatur bekannten Ergebnisse (vgl. Tabelle 2). So überwiegen in allen drei Gruppen die Anteile der Männer erheblich gegenüber denen der Frauen, wobei in der 200und 300-Prozent-Gruppe anteilsmäßig jeweils wesentlich mehr Männer vertreten sind als in der Durchschnittsgruppe. Ebenso steigt mit zunehmendem Alter das Einkommen, da man davon ausgehen kann, dass im Laufe ihrer Berufskarriere viele Erwerbstätige in höhere Positionen und damit in besser bezahlte Berufspositionen aufsteigen. Gleichfalls zeigt sich das vermutete Ergebnis, dass die Gruppe der Hocheinkommensbezieher deutlich stärker in Westdeutschland zu finden ist als in Ostdeutschland: Die Quote der Ostdeutschen an den untersuchten Gruppen bleibt weit unter dem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 20,2 Prozent (vgl. Statistisches Bundesamt 2006) und sinkt mit steigendem Einkommen von 9
Zum Vergleich: Hauser u.a. (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2007) ermittelten auf Basis des SOEP Welle W (2006) für alle Vollzeitbeschäftigten in unselbständiger Arbeit inkl. Einmalzahlungen ein reales JahresBruttoeinkommen von 35.329 € (entspricht mtl. 2.806 €). 10 Um auszuschließen, dass es aufgrund der stark unterschiedlichen Gruppengrößen Verzerrungen in den folgenden Ergebnissen gibt, wurden alle deskriptiven Auszählungen sowie alle Modelle der logistischen Regressionen ebenfalls drei Mal mit einer 300er Zufallsstichprobe aus der Gruppe „Durchschnitt bis 200%“ gerechnet. Hierbei gab es keine signifikanten Unterschiede in der Zusammensetzung der Gruppe bei den Sozialprofilen. Ebenso gab es keine starken Veränderungen der odds ratios oder der Signifikanzen in den Regressions-Modellen. Da es methodisch somit kein Argument gibt, die Gruppengrößen stärker angleichen zu müssen, wurde für eine möglichst genaue Widerspiegelung der Verteilung der drei Gruppen in der Bevölkerung dafür entschieden und dafür, die unterschiedlichen Gruppengrößen beizubehalten.
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13,6 Prozent bei der Durchschnitts-Gruppe über 10,2 Prozent bei der Gruppe mit mehr als 200 Prozent des Durchschnittseinkommens bis auf 6,8 Prozent bei der Gruppe der über 300 Prozent Verdienenden. Eine andere Tendenz zeigt sich beim Anteil von Erwerbstätigen mit anderer Nationalität als der deutschen in den einzelnen Gruppen. Erwartet man auch hier wieder in allen drei Gruppen einen äußerst geringen Anteil von Migranten bei abnehmender Tendenz von Gruppe zu Gruppe, so zeigen die Daten ein anderes Ergebnis. Zwar liegt der Ausländeranteil in der 200-Prozent-Gruppe unter dem in der Durchschnittsgruppe, übersteigt jedoch in der 300-Prozent-Gruppe deutlich den Anteil in der Durchschnittsgruppe. Es kann somit nicht geschlossen werden, dass es mit steigendem Einkommen immer schwieriger bzw. unwahrscheinlicher für Ausländer wird, zu dieser Einkommensgruppe zu gehören. Tabelle 2: Verteilung der allgemeinen sozio-demographischen Merkmale in den verschiedenen Gruppen Variable N Männer in % Durchschnittliches Alter in Jahren Ostdeutschland in % Andere Nationalität in % Lebt in einer Beziehung in % Personenzahl im Haushalt Kinderzahl im Haushalt Durchschnittliches Brutto-Erwerbseinkommen in € Abweichung des Bruttoerwerbseinkommens in %
Durchschnitt bis 200% 2345 77,2 46 13,6 4,6 73,9 4 1,7 4239 0,0
201 % bis 300 % 325 90,2 49 10,2 2,5 86,2 4 1,9 7507
über 300% 117 88,0 51 6,8 6,0 82,1 4 1,9 14517
177,1
342,5
Quelle: DIW, SOEP 2007, eigene Berechnungen.
Weniger bedeutsam sind die Unterschiede in den Haushaltszusammensetzungen der Vergleichsgruppen. Der Anteil derjenigen, die in einer Beziehung leben, ist in der 200-ProzentGruppe am größten und steigt nicht, wie möglicherweise durch das kontinuierlich steigende Durchschnittsalter anzunehmen ist, von Gruppe zu Gruppe weiter an. Die Anzahl der Kinder und die Anzahl der Gesamtpersonen im Haushalt unterscheiden sich zwischen den Gruppen kaum bzw. gar nicht. Betrachtet man hingegen die Durchschnittseinkommen in den Gruppen, zeigen sich wieder deutliche Unterschiede.11 So liegt der Abstand der Durchschnitts- zur 200-ProzentGruppe in ihren mittleren Brutto-Erwerbseinkommen mit lediglich 177 Prozent deutlich unter, der Abstand der Durchschnittsverdiener zur 300-Prozent-Gruppe allerdings mit 343 Prozent deutlich über den jeweiligen Abständen der zur Gruppendefinition verwendeten Durchschnittseinkommen. Besonders erwähnenswert ist, dass sich das Durchschnittseinkommen von der 200- zur 300-Prozent-Gruppe nochmals verdoppelt. Die Gruppe derjenigen, die mehr als 200 Prozent des Durchschnittseinkommens haben, entfernen sich also 11 Noch ein Mal zur Verdeutlichung: Die Gruppen wurden aufgrund des durchschnittlichen Brutto-Erwerbseinkommens aller Vollzeiterwerbstätigen gebildet. Die hier verglichenen Durchschnittseinkommen sind diejenigen innerhalb der jeweiligen Gruppen.
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vergleichsweise eher moderat von den Durchschnittsverdienern, wohingegen die Gruppe derjenigen, die mehr als 300 Prozent verdienen, sich wesentlich deutlicher nach oben entfernt.
4.2 Bildungsmerkmale Allgemeinhin wird angenommen, dass zu einem hohen Erwerbseinkommen auch ein hoher Bildungsabschluss nötig oder zumindest von Vorteil ist, um sich von seinen Mitbewerbern auf dem Arbeitsmarkt positiv abzuheben.12 Diese These findet sich auch in den hier verwendeten Daten bestätigt (siehe Tabelle 2): Der Anteil der Hauptschulabsolventen liegt deutlich unter dem der Absolventen anderer Schularten und nimmt noch weiter ab. Ebenso sinkt der Anteil der Realschulabsolventen von einem relativ geringen Anteil von ca. 25 Prozent mit steigendem Erwerbseinkommen weiter. Der Großteil der Erwerbstätigen mit überdurchschnittlichen Erwerbseinkommen hat Fachhochschulreife oder Abitur. Dabei springt der Anteil von der Durchschnitts- zur 200-Prozent-Gruppe nochmals deutlich von 52,9 auf 70,8 Prozent und bleibt dann zwischen der 200- und der 300-Prozent-Gruppe mit ca. 71 Prozent relativ gleich. Tabelle 3: Verteilung der Bildungsmerkmale in den verschiedenen Gruppen Variable Hauptschulabschluss/k.A. in % Realschulabschluss in % Abitur/Fachhochschulreife Keine Ausbildung Lehre Andere Ausbildung Beamtenausbildung Fachhochschulabschluss Universitätsabschluss Durchschnittliche Dauer der Ausbildung in Jahren
Durchschnitt bis 200 % 21,5 25,6 52,9 4 27,5 15,5 3,7 16,2 33,3 14
201 % bis 300 % 11,1 18,2 70,8 1,5 15,4 12,9 0,6 16,3 53,2 15
über 300 % 12 16,2 71,8 2,6 15,4 7,7 0 14,5 59,8 16
Quelle: DIW, SOEP 2007, eigene Berechnungen.
Ebenso zeigen Ergebnisse anderer Untersuchungen, dass hohe Erwerbseinkommen bei Absolventen des tertiären Sektors wesentlich häufiger vorkommen als bei anderen Berufstätigen (vgl. Wienert 2006: 109). Auch diese These bzw. dieses Ergebnis spiegelt sich in den hier verwendeten Daten wider. Der Anteil derer, die eine Lehre absolviert haben, sinkt von ca. einem Viertel in der Durchschnittsgruppe auf jeweils 15,4 Prozent in den beiden anderen Gruppen. Ebenso sinken die anderen Ausbildungsarten von einem bereits relativ geringen Anteil von Gruppe zu Gruppe weiter ab. Dies trifft auch – allerdings nur mit leichter Abnahmetendenz bei der 300-Prozent-Gruppe– für die Fachhochschulabsolventen zu, obwohl diese Ausbildung zum tertiären Sektor gehört. Lediglich der Anteil der Hochschulabsolventen startet bei über
12
Siehe weiter oben in diesem Beitrag.
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einem Drittel und nimmt von Gruppe zu Gruppe weiter zu bis auf weit über die Hälfte (59,8 Prozent) in der 300-Prozent-Gruppe. Als ein weiteres Indiz für die Richtigkeit der Annahmen, dass hohe Erwerbseinkommen häufig mit hohen Bildungsabschlüssen zusammenhängen, zeigt sich hier ein Anstieg der Ausbildungsdauer um jeweils ein Jahr von Gruppe zu Gruppe.
4.3 Berufsmerkmale Weniger einheitlich sind die Annahmen betreffend des Zusammenhangs zwischen hohen Erwerbseinkommen und dem ausgeübten Beruf. Es wird jedoch häufig die These geäußert, dass es vor allem die Selbständigen und Freiberufler sind, die besonders hohe Einkommen realisieren können.13 Dies kann durch die Daten der drei Vergleichsgruppen gestützt werden (vgl. Tabelle 3). Der Anteil der Selbständigen steigt von recht geringen 11 Prozent in der Durchschnittsgruppe um das fast Dreifache auf 31,4 Prozent in der mittleren Gruppe. Von dort zur höchsten Gruppe verdoppelt sich der Anteil der Selbständigen nochmals und liegt in der 300-Prozent-Gruppe schließlich bei 62,4 Prozent. Ebenso auffällig ist die Zunahme des Anteils derer, die mehr als 45 Stunden pro Woche arbeiten. Er steigt von knapp über der Hälfte in der Durchschnittsgruppe auf 85,9 bzw. sogar 89,7 Prozent in den beiden anderen Gruppen. Tabelle 4: Verteilung der Berufsmerkmale in den verschiedenen Gruppen Variable Arbeitsplatzwechsel im Berufsleben in % Tätigkeit im erlernten Job in % Tätigkeit in einem Betrieb mit mehr als 2000 Mitarbeitern in % Selbständig in % Wochenarbeitszeit über 45 Stunden in % Durchschnittswert auf der MPS
Durchschnitt bis 200 % 8 74,2 33,7 11 54,8 83
201 % bis 300 % 9,2 76,9 32,6 31,4 85,9 104
über 300 % 11,1 75,2 20,5 62,4 89,7 109
Quelle: DIW, SOEP 2007, eigene Berechnungen.
Weniger signifikant sind hingegen die Veränderungen zwischen den Gruppen, was den Anteil derjenigen betrifft, die in ihrem erlernten Job tätig sind oder die einen oder mehr Arbeitsplatzwechsel in ihrem Berufsleben erleben (siehe Tabelle 3). Auch der Anteil der Personen, die in einem Betrieb mit mehr als 2.000 Mitarbeitern arbeiten, unterscheidet sich zumindest zwischen der Durchschnitts- und der 200-Prozent-Gruppe kaum. In der 300-Prozent-Gruppe sinkt dieser Anteil jedoch erheblich von vorher durchschnittlich ca. 30 Prozent auf 20,5 Prozent. Dies könnte mit dem gleichzeitigen starken Anstieg der Selbständigen zu tun haben, die in den seltensten Fällen Inhaber von Betrieben mit mehr als 2.000 Mitarbeitern sind.
13
Vgl. dazu in diesem Beitrag Abschnitt 2.
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Statistische Analyse: Die Höhe des Brutto-Erwerbseinkommens
Im vorangegangenen Abschnitt wurden die Sozialprofile der drei Einkommensgruppen hinsichtlich ihrer Unterschiede zueinander verglichen. Im Folgenden wird gezeigt, inwiefern diese konstatierten Unterschiede nicht bloß Merkmale der jeweiligen Gruppen darstellen, sondern auch die Chancen beeinflussen, einer der Einkommensgruppen zuzugehören. Hierzu wurden in jeweils vier verschiedenen Modellen logistische Regressionen durchgeführt, die den Einfluss einzelner Variablen auf die Chancen angeben, anstelle zur Durchschnittsgruppe der 200- oder 300-Prozent-Gruppe anzugehören.14 Bei den allgemeinen sozio-demographischen Merkmalen fällt zunächst ein hoher Einfluss des Geschlechts auf das Erwerbseinkommen auf, der in beiden Modellen (1 und 4) für beide Gruppenvergleiche sichtbar ist. Danach haben Männer eine ca. 2,5-fach erhöhte Chance gegenüber Frauen, in die 200-Prozent-Gruppe, und eine doppelt so hohe wie Frauen, in die 300-Prozent-Gruppe zu gehören. Ebenso erhöhen sich die Chancen auf Zugehörigkeit zu einer der beiden Hocheinkommensgruppen mit zunehmendem Alter (siehe Modell 4). Es zeigt sich also, dass auch heutzutage Männer grundsätzlich ein höheres Erwerbseinkommen als Frauen im gleichen Job haben und dass höhere Erwerbseinkommen in Deutschland nach wie vor in höherem Alter erzielt werden. Ebenso zeigt sich in diesen Modellen bestätigt, dass die Chancen, ein hohes Erwerbseinkommen zu erlangen, für Ostdeutsche wesentlich geringer sind als für Westdeutsche (siehe Modell 4). Bei den Bildungsmerkmalen wird ein positiver Einfluss von Hochschulabschlüssen gegenüber berufsbildenden- oder Fachhochschulabschlüssen deutlich. Auffällig ist jedoch, dass der positive Einfluss von Hochschulabschlüssen nur bei den Chancen, in die 200Prozent-Gruppe zu gehören, signifikant ist. Bei den Chancen, in die 300-Prozent-Gruppe zu gehören, ist er je nach Modellzusammensetzung nicht oder nur auf einem 10-ProzentNiveau signifikant (vgl. Modelle 2 und 4). Hieraus lässt sich ableiten, dass der in der Wissenschaft bislang immer festgestellte positive Einfluss der Höhe des Bildungsabschlusses auf die Höhe des erzielten Erwerbseinkommens nur bis zur Einkommenshöhe von 300 Prozent zutrifft. Ab dieser Grenze scheinen andere Einflüsse an Bedeutung zu gewinnen. Dies spricht für die eingangs unterstellte stark heterogene Zusammensetzung der Gruppe der Wohlhabenden. Speziell die These, dass der Fachhochschulabschluss nicht für Hocheinkommen qualifiziert, bestätigt sich in den Befunden. Fachhochschulabsolventen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, überdurchschnittlich zu verdienen, jedoch zeigt sich kein signifikanter Einfluss, zur Gruppe derjenigen zu gehören, die mehr als das Dreifache des Durchschnittes verdienen. Betrachten wir die Berufsvariablen, so zeigt sich, dass einige einen wesentlich höheren Einfluss haben als die Bildungsvariablen. Dies gilt für beide Vergleichsmodelle. So erhöht die Berufsausübung in einem Betrieb mit mehr als 2.000 Mitarbeitern die Chance, in eine der hier gebildeten Hocheinkommensgruppen zu gehören, um ca. 1,5 für die 200-ProzentGruppe bzw. ca. 1,8 für die 300-Prozent-Gruppe (Modelle 3 und 4). Damit entsprechen die Befunde den Aussagen der Segmentationstheorie, speziell den Aussagen zu betriebsinter14 Dazu wurden in jeweils vier unterschiedlichen Modellen der Einfluss von verschiedenen Kombinationen von Variablen auf die Höhe des Einkommens berechnet. Jedes der Modelle wurde getrennt gerechnet, ein Mal für den Unterschied Durchschnitts- vs. 200-Prozent-Gruppe und ein Mal für die Durchschnitts- vs. 300-Prozent-Gruppe, sodass hier die odds ratios von insgesamt acht Modellen gezeigt werden.
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nen Arbeitsmärkten. Einen noch höheren Einfluss hat die Arbeitszeit, also ob man mehr oder weniger als 45 Stunden pro Woche arbeitet. Hier erhöht die Tatsache, mehr als 45 Stunden pro Woche zu arbeiten, die Chance um das ca. 6- bis 7- bzw. 17- bis 20-fache (Modelle 3 und 4). Bei dieser Variable zeigt sich im Gegensatz zu den allgemeinen soziodemographischen Merkmalen ein starker Unterschied zwischen den Werten der Chancen, in die 200- oder 300-Prozent-Gruppe zu gehören. Tabelle 5: Einflüsse auf die Chancen, statt zur Durchschnitts- zur 200-Prozent- bzw. 300Prozent-Gruppe zu gehören.15 Modell 1 Modell 2 Modell 3 Modell 4 Ø Ø Ø Ø Ø Ø Ø Ø 200 % 300 % 200 % 300 % 200 % 300 % 200 % 300 % Allgemeine sozio-demographische Merkmale männlich 2.65*** 2.01* 2.76*** 2.06** Alter in Jahren 1.22*** 1.14 1.35*** 1.30** Alter * Alter 1.0** 1.0 1.0*** 1.0** Ostdeutscher .77 .53* .54*** .35** Deutscher 1.82 .70 1.18 .48 Bildungsmerkmale Hauptschulabschluss .74 .86 .66* .60 Abi1.23 1.04 1.26 1.17 tur/Fachhochschulreife Ausbildung 1.63 .76 1.72 .89 Fachhochschulabschluss 2.19* 1.3 2.65* 1.76 Hochschulabschluss 3.36** 2.58 3.83*** 3.04* Berufsmerkmale Erwerbstätigkeit mit 1.03 1.26 1.52* 1.79 Wechsel Tätigkeit im erlernten 1.11 .97 .84 .68 Beruf Betrieb mit mehr als 2000 1.59*** 1.75** 1.53*** 1.88** Mitarbeitern Selbständig 15.86*** 97.44*** 15.27*** 82.04*** Mehr als 45 Stunden 7.45*** 19.88*** 6.13*** 16.15*** Wochenarbeitszeit Selbständigkeit * Mehr als 45 Stunden .17*** .11*** .22*** .15** Wochenarbeitszeit N 2670 2462 2670 2462 2670 2462 2670 2462 Pseudo R² .04 .04 .03 .04 .11 .23 .18 .30 Quelle: DIW, SOEP 2007, eigene Berechnungen, odds ratios. Signifikanzniveau * Statistisches Bundesamt, 2004: Erste Ergebnisse zur Erbschaft- und Schenkungsteuerstatistik 2002. Pressemitteilung Nr. 243 vom 27. Mai 2004. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt Deutschland, Pressestelle. Statistisches Bundesamt, 2006: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2006. Stuttgart: Metzler-Poeschel. Stenografische Berichte und Drucksachen über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, 1891– 1933. Szydlik, Marc, 2004: Inheritance and Inequality: Theoretical Reasoning and Empirical Evidence. In: European Sociological Review 20(1). 31-45. Wisman, Jim D. und Sawers, Larry, 1973: Wealth Taxation for the United States. In: Journal of Economic Issues 7. 417-436. Wolff, Edward N., 2002: Top Heavy: A Study of the Increasing Inequality of Wealth in America. 2. Auflage. New York: The New Press. Zelizer, Viviana, 1994: The Social Meaning of Money: Pin Money, Paychecks, Poor Relief, and Other Currencies. New York: Basic Books.
Freiheit, Gleichheit, Machbarkeit – Die öffentliche Debatte um die Vermögensbesteuerung Freiheit, Gleichheit, Machbarkeit
Roelf Bleeker-Dohmen und Hermann Strasser
1
Einleitung
Die jüngsten Debatten um Managergehälter und die Erbschaftssteuerreform haben nicht zuletzt wieder eindrücklich bewiesen, wie polarisierend die öffentliche Beschäftigung mit dem Reichtum ist. Ereignisse wie die Zumwinkel-Affäre und der Liechtensteiner Steuerhinterziehungsskandal zu Beginn des Jahres 2008 waren allerdings nicht geeignet, eine sachlichere Debatte darüber anzustoßen, wie eine gerechte Besteuerung und die angemessene Verteilung des Reichtums aussehen solle. Diese Debatten sind seit jeher stark emotional unterfüttert. Sie eignen sich als ideologische Instrumente umso mehr, je weniger die ganze Bandbreite der gesellschaftlichen Dimensionen der Vermögens- bzw. Erbschaftsbesteuerung in den Blick genommen wird. Denn die Besteuerung des Reichtums hat nicht nur Folgen für Wirtschaft und Politik, sondern auch für den Stellenwert der Familie und das Wertesystem, dessen diskursiver Spannungsbogen von der Machtkonzentration über das Eigentumsrecht bis zur Chancengleichheit reicht.1 Unser Anliegen ist es, zu verdeutlichen, welche dieser Ideologien (noch) eine Rolle spielen, welche Deutungen von Reichtum und seiner Verteilung medial in den Vordergrund rücken und welche Ansichten über Reichtum und Armut in konkreten Umverteilungsdebatten zur Geltung kommen – also gültig werden, Legitimität beanspruchen, den Wertekanon als die Büchse des gesellschaftlich Wünschenswerten zu beeinflussen und dadurch Wirklichkeit zu gestalten. In diesem Sinne verstehen wir unseren Beitrag als Analyse des Verhältnisses von Staat, Vermögenden und gesellschaftlicher Solidarität, aber auch als Kritik am Mangel einer Vermögenskultur in Deutschland. Wenn die Hundesteuer in einem Land wie Deutschland ertragreicher ist als die Erbschaftssteuer, Mehrwertsteuererhöhungen zustande kommen, Erbschafts- bzw. Vermögenssteuer aber nicht, dann stehen nicht Werthaltungen, sondern, wie wir zeigen werden, Machbarkeiten im Vordergrund.
2
Die Untersuchung
Zu diesem Zweck wurde ein Jahrzehnt der Berichterstattung über die Vermögenssteuerdiskussion (1994-2003) ausgewertet (vgl. Bleeker-Dohmen 2006). In diese Auswertung sind alle Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und der Tageszeitung (taz) eingeflossen, die in diesem Zeitraum bundesweit erschienen und in denen die Begriffe Vermögenssteuer und/oder Vermögensabgabe vorkommen. Um die entsprechenden Artikel aus1 So hebt auch Jens Beckert in seinem Beitrag zu diesem Band nicht zu Unrecht die Bedeutung des Vermögens für das Funktionieren der Gesellschaft hervor.
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zuwerten, wurde das digitale Archiv der FAZ und der taz nach diesen Codewörtern durchsucht.2 Berücksichtigt wurde jede Aussage, die sich mit den Codewörtern verbinden ließ oder direkt auf sie verwies. In der Analyse der Vermögenssteuerdebatten lässt sich klar identifizieren, um wen es geht, da die Vermögenssteuer erst ab einer bestimmten Höhe des Vermögens greift,3 also die Vermögenden betrifft und nicht allenfalls gut verdienende Angestellte oder mittelständische Selbstständige. Weil sich an der Besteuerung der Vermögenden die Geister geradezu idealtypisch scheiden, ist die Vermögenssteuerdebatte besonders geeignet, die unterschiedlichen Auffassungen der Sprecher zu verdeutlichen und ihr Gewicht in der medialen Debatte zu analysieren. Nicht zuletzt treten die Sprecher als Frontkämpfer im Schlachtfeld der Gemeinschaftsgestaltung auf, nicht immer erfolgreich, aber immer Wege aufzeigend und Spuren hinterlassend. Im Bestreben, die Muster der Debatten möglichst anschaulich nachzuzeichnen, haben wir die Deutungen der Sprecher in den Blick genommen. Dazu wurden im Vorfeld und nach ersten Probecodierungen Deutungsmuster entwickelt, die die typischen Argumentationszusammenhänge in der Vermögenssteuerdiskussion erfassen.
3
Die Debatten
In Deutschland befinden sich große Vermögen in privater Hand. Es ist nicht nur eine private, sondern auch eine politische Entscheidung, wie mit diesen Vermögen umgegangen wird. In jedem Fall werden damit Grundsatzfragen der gesellschaftlichen Gestaltung, die sich im Spannungsfeld von Freiheit und Gleichheit, Markt und Staat, Kapitalismus und Gerechtigkeit abspielen, berührt. Der politische Gestaltungsspielraum ist jedoch an das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gebunden. Die Steuergesetzgebung unterliegt verfassungsrechtlichen Vorgaben, nicht zuletzt was die Vermögenssteuer betrifft. Das wurde besonders deutlich, als der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts 1995 im Rahmen eines Urteils zur Vermögenssteuer Vorgaben zur Vermögensbesteuerung machte und eine Reform einforderte. Die politischen Parteien akzeptierten diese Vorgaben des Gerichts unter Berichterstatter Paul Kirchhof weitgehend widerspruchslos, konnten sich aber nicht auf die angemahnte Reform einigen, so dass die Vermögenssteuer ab 1997 als verfassungswidrig ausgesetzt wurde. Im Zeitraum dieser Untersuchung wurden insgesamt 2669 Aussagen (davon 1925 in der FAZ, 744 in der taz) zur Vermögenssteuer sowie einer zwischenzeitlich diskutierten 2 FAZ und taz erwiesen sich als Untersuchungsgegenstände insofern als besonders geeignet, weil sie zum einen zwei politische Richtungen abdecken, zum anderen auch aus praktischen Überlegungen: Keine vergleichbaren Tageszeitungen haben ihr Archiv so weitreichend digitalisiert wie diese beiden Tageszeitungen, weshalb sie für eine umfassende Auswertung vorrangig in Frage kommen. 3 Zuletzt wurde die Vermögenssteuer in Deutschland allerdings schon auf Vermögen ab 120.000 DM pro Kopf (inklusive im Haushalt lebender Kinder) erhoben (in Haushalten mit einem Ehepaar und zwei Kindern wäre das ein Freibetrag von vier Mal 120.000 DM, also 480.000 DM). In anderen Ländern liegen die Freibeträge deutlich höher, auch in der hier untersuchten Diskussion war von Freibeträgen teilweise ab 500.000 Euro – also einem rund doppelt so hohem Betrag – für eine vierköpfige Familie die Rede, z.B. in einem Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag von ver.di, IG Metall und Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahre 2002: „Die Reichen und Superreichen sollen hierdurch einen höheren Beitrag leisten. Mit einem Freibetrag von 500.000 EUR trifft die Vermögens- und Erbschaftssteuer die Masse der normalen Bürger nicht. Der Massenkonsum wird nicht beschnitten“ (http://www.jetzt-vermoegenssteuer.de/plaintext/03377b99881302538/03377b9988134c040/index.php).
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Roelf Bleeker-Dohmen und Hermann Strasser
Vermögensabgabe zur Finanzierung der Kosten der Deutschen Einheit ausgewertet. Ein erster Höhepunkt der Debatte lag im Jahr 1996, resultierend aus der Diskussion um eine verfassungsgemäße Reform der Vermögenssteuer. Die sozialdemokratische Bundesratsmehrheit verweigerte der Abschaffung der Vermögenssteuer ihre Zustimmung, so dass die Steuer lediglich ausgesetzt, aber nicht abgeschafft wurde. Dem Willen der konservativliberalen Bundesregierung, die sich für eine formelle Abschaffung eingesetzt hatte, war damit zwar nicht prinzipiell, jedoch faktisch entsprochen worden. Weitere Höhepunkte der Debatten gab es im Jahr 1999, als nach der Regierungsübernahme durch Rot-Grün insbesondere innerhalb der SPD die Umsetzung des Wahlversprechens Vermögenssteuer diskutiert wurde, und 2002, als drei wichtige Fragen zusammenfielen: Erstens debattierten die wiedergewählten Regierungsparteien SPD und Grüne die Umsetzung einer in ihren Parteiprogrammen – allerdings recht vage – anvisierten Vermögensbesteuerung; zweitens starteten die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten der Länder Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Hessen – teilweise vor dem Hintergrund von Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen – eine Kampagne für mehr Geld für Bildung, das unter anderem durch die Vermögenssteuer akquiriert werden sollte; und drittens forderte die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di im Zuge der Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst, die öffentlichen Kassen mit der Vermögenssteuer zu füllen, um die Lohnforderungen der Gewerkschaft bedienen zu können.
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Die Argumente
Die insgesamt 2669 Aussagen in den Vermögenssteuerdebatten wurden zunächst als Grundaussagen (Pro, Contra, Gegenfinanzierung, Reform, objektive Information, sonstige Aussage) erfasst. Ihre Analyse ergab, dass die Vermögenssteuer in 42,9% aller Aussagen abgelehnt und nur in 28,5% aller Aussagen befürwortet wurde. 2% verlangten bei Abschaffung der Vermögenssteuer eine Gegenfinanzierung, 3,1% hielten eine Beibehaltung bzw. (Wieder-)Erhebung der Steuer für sinnvoll, jedoch nur unter der Bedingung einer Reform. 8,8% der Aussagen enthielten objektive Informationen (vor allem die Benennung von Fakten und Zahlen), 14,6% dagegen weder eine klare Positionierung zur Vermögenssteuer noch objektive Angaben. Im zweiten Schritt wurden die weiterführenden Aussagen codiert und in Deutungsmustern zusammengefasst. Christiane Lüders und Michael Meuser (1997: 60f.) definieren „Deutungsmuster als eine sozialem Handeln zugrunde liegende, genauer: soziales Handeln erzeugende Regelstruktur (…), mit deren Hilfe Akteure ihren Alltag deuten, ordnen, organisieren bzw. ihre Deutungs- und Handlungsprobleme lösen“.4 Die weiterführenden Aussa4 Der Deutungsmusteransatz lässt sich auf die phänomenologische Wissenssoziologie von Alfred Schütz (1971: 5ff.) zurückführen. Die Bezugnahme auf das „verfügbare Wissen“, das unsere Vorfahren uns hinterließen und die „Konstruktionen, das heißt (…) Abstraktionen, Generalisierungen, Formalisierungen und Idealisierungen“, mit Hilfe derer Menschen ihre Umwelt zu erfassen suchten, sorgten dafür, dass immer wieder stabile Argumentationsmuster verwendet wurden. Derart stabile Deutungsmuster seien, wie auch Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1969: 3) argumentieren, das Resultat einer menschlichen (Re-) Produktion der sozialen Umwelt: „Insofern nämlich alles menschliche ‚Wissen’ schließlich in gesellschaftlichen Situationen entwickelt, vermittelt und bewahrt wird, muss die Wissenssoziologie zu ergründen versuchen, wie es vor sich geht, dass gesellschaftlich entwickeltes, vermitteltes und bewahrtes Wissen für den Mann auf der Straße zur außer Frage stehenden ‚Wirklichkeit’ gerinnt.“
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gen ließen sich in 1456 Fällen im Sinne der theoretischen Vorüberlegungen und im Verlaufe von Probecodierungen entwickelten Deutungsmustern erfassen. Das entspricht 54,5% aller erfassten Aussagen. 35,3% aller Aussagen, die in Deutungsmustern erfassbar waren, waren ablehnend und 19,2% befürwortend.
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Investoren schonen
Die Deutungsmuster wurden in Kategorien eingeteilt, die sich an so genannten Besteuerungsgrundsätzen von Eißel (1997) orientieren und zu den Kategorien „wirtschaftspolitisch“, „ethisch-sozialpolitisch“, „steuertechnisch“ und „steuerrechtlich“ zusammengefasst wurden. Innerhalb der wirtschaftspolitischen Deutungsmuster fand das Argument, die Reichen seien wichtige Investoren, bei weitem die häufigste Verwendung (10,6%). So appellierte zum Beispiel der langjährige Präsident des Zentralverbandes der Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer, Friedrich-Adolf Jahn, im November 1996 an den Vermittlungsausschuss des Bundestages, „nicht an der privaten Vermögenssteuer festzuhalten, wie dies die SPD verlangt. Nicht nur betriebliches, auch privates Vermögen sei investiv, wie gerade der achtzigprozentige Anteil Privater an der Wohnungsversorgung belege“ (FAZ vom 23.11.1996: 14). Solche Aussagen, die sich ausdrücklich auf privaten Reichtum bezogen, waren allerdings mit 3% deutlich unterrepräsentiert; mit 14,2% wurde weitaus häufiger explizit auf die Gefahr einer betrieblichen Vermögenssteuer hingewiesen. Auch die Gefährdung des Wirtschaftsstandortes Deutschland durch die Vermögenssteuer wurde genannt (4,7%). Wirtschaftspolitisch befürwortende Deutungen dagegen spielten kaum eine Rolle (insgesamt 2%); hierzu gehört die Forderung, die Erträge der Vermögenssteuer für staatliche Konjunkturförderungsmaßnahmen einzusetzen (1,2%). Der Bremer Ökonom Rudolf Hickel („AG Alternative Wirtschaftspolitik“) zum Beispiel rechnete vor, dass „mit Beschäftigungsprogrammen von jährlich 150 Milliarden Mark (…) die Zahl der Arbeitslosen bis zum Jahre 2000 um die Hälfte reduziert werden“ (taz vom 24.7.1999: 1) könne. Die ausdrückliche Verneinung des erwähnten Investitionsarguments, also der Behauptung, die Vermögenden würden mit ihren Investitionen die Wirtschaft zum Wohle aller ankurbeln, fiel mit 0,8% äußerst gering aus.
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Solidarität und Gerechtigkeit
Umgekehrt war es bei ethisch-sozialpolitischen Argumenten: Hier dominierten die Vermögenssteuerbefürworter. Am häufigsten vertreten war die Forderung nach Solidarität der Reichen mit den weniger Vermögenden (12,3%). Dieses Argument war als einzelnes Argument auch unter allen Deutungsmustern am häufigsten vertreten. Die Spanne der in ihr enthaltenen Argumente reicht von konkreten Vorstellungen, die etwa die Grünen in ihrem „Grundsicherungsmodell“ formulieren, deren Kosten durch die Wiedereinführung der Vermögens- und Erhöhung der Erbschaftssteuer gedeckt werden sollten (FAZ vom 17.11. 1997: 17), bis zu unverbindlichen Forderungen, wie sie im Kompromiss des SPD-Parteitages von 2003 zum Ausdruck kommen – „auf der Grundlage des Bundesverfassungsgerichts-Urteils sei ‚sicherzustellen‘, dass ‚große Einkommen und Vermögen ausreichender Weise ihren gerechten Beitrag für die Sicherung der Zukunft unserer Gesellschaft leisten‘“
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(taz vom 2.6.2004: 1). Hinzu kommt das inhaltlich verwandte Argument, die Reichen seien steuerlich zu wenig belastet und müssten über die Vermögenssteuer mehr beitragen (7,3%). So klagt ein taz-Kommentator: „Die Ideologie der Reichen lautet schlicht und unverbrämt: Gebt den Reichen und nehmt von den Armen. Die Sparvorschläge tangieren regelmäßig die Grundfeste des Sozialstaats, während die Wohlhabenden en passant neun Milliarden Mark Vermögenssteuer geschenkt bekommen“ (taz vom 4.12.1996: 10). Insgesamt verweist also jedes fünfte Argument in der Debatte auf die Notwendigkeit von Solidarität und den zu geringen Beitrag der Reichen, beides Argumente, die auf klassische Umverteilungsdebatten Bezug nehmen. Der Appell an die Verantwortung der Reichen bzw. deren sozialpolitische Einforderung spielte mit 0,8% kaum eine Rolle. 7,7% aller Aussagen sahen wir als ethische Argumente gegen die Vermögenssteuer. Die ethisch-sozialpolitischen Argumente enthalten die Vorwürfe, die Vermögenssteuer führe zu einer „Doppelbesteuerung“ (1,9%), bestrafe Sparer (1,7%), basiere auf Neid (1,6%; die ausdrückliche Ablehnung des Neid-Vorwurfs kam übrigens in nur 0,3% aller Argumente zum Ausdruck), bestrafe die Leistungsträger (1,6%) oder wirke enteignend (0,9%). Während das Argument der Doppelbesteuerung, dass also die Vermögenden bereits ihr Einkommen oder ihr vererbtes Vermögen versteuern mussten und mit der Vermögenssteuer ein weiteres Mal zur Kasse gebeten würden, sogar Zustimmung bei einem taz-Kommentator und der grünen Finanzexpertin Christine Scheel fand, schieden sich an den Argumenten „Neid“ und „Enteignung“ die politischen Geister: So selten etwa das Argument der Enteignung benutzt wurde, umso heftiger wurde es vorgetragen. So meldeten sich vor allem FAZ-Leser in vier Leserbriefen zu Wort, deren heftigste Kritik darin gipfelte, dass im Zusammenhang mit der Vermögenssteuer und anderen Abgaben von „Beraubung“ und „Plünderung“ gesprochen und Deutschlands Status als Rechtsstaat in Zweifel gezogen wurde. Die FAZ betitelte den Brief mit „Enteignet wird immer“ (FAZ vom 27.6.1996: 10). Diese Polemik ist ein Beispiel dafür, dass die Leser beider Zeitungen deren jeweilige Ausrichtung in einer Deutlichkeit formulieren durften, die in redaktionellen Meinungsbeiträgen eher vermieden und in der politischen Öffentlichkeit – mit wenigen Ausnahmen – erst recht kaum gepflegt wurde. Das Leistungsargument fand weniger Verwendung als der Hinweis auf die Doppelbesteuerung, was insofern erstaunlich ist, als es traditionell ein zentrales Argument der politischen Vertreter der Marktwirtschaft und der funktionalistischen Schichtungstheorie ist. Letztere erlangte insbesondere in der amerikanischen Nachkriegssoziologie große Bedeutung (vgl. Davis und Moore 1967: 347ff., Strasser 1985). Soziale Ungleichheit wurde dort als ein Werkzeug gerechtfertigt, mit dessen Hilfe die Gesellschaft sicherstelle, dass die wichtigsten Positionen von den fähigsten Personen gewissenhaft ausgefüllt würden. Um die dafür notwendigen Anreize zu schaffen, müsse ein gewisses Maß an institutionalisierter, weil dauerhafter und damit zu Leistung motivierender Ungleichheit, entstehen. Um es mit Josef Schumpeter (1919: 345f.) zu formulieren: „Der Steuerstaat darf den Leuten nicht so viel abfordern, dass sie das finanzielle Interesse an der Produktion verlieren oder aufhören, ihre beste Energie daran zu setzen.“ Der mittelstandspolitische Sprecher der CDU/CSU im Bundestag, Hartmut Schauerte, griff dieses Argument auf: Die Vermögenssteuer „werde den gutwilligsten Leistungsträger unserer Gesellschaft aus dem Land treiben“ (taz vom 22.11.2002: 7). Insgesamt blieb der Verweis auf den Leistungsgedanken allerdings unterrepräsentiert, vielleicht auch deshalb,
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weil er nah verwandt ist mit dem Argument der Investitionen und dem der drohenden Steuerflucht der Reichen.
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Geld für Bildung und den öffentlichen Dienst
In der Kategorie der steuertechnischen Deutungsmuster dominiert das befürwortende Argument des öffentlichen Haushalts (10,9%). Meist bezog es sich auf Refinanzierungsvorstellungen etwa von Bildung, wie es vor allem sozialdemokratische Ministerpräsidenten vortrugen, allen voran damals Sigmar Gabriel aus Niedersachsen. Immerhin ist die Vermögenssteuer eine Ländersteuer, kommt also jenen zugute – ein Grund, warum sich Gabriel, wie bereits erwähnt, auch medienwirksam mit seinem Parteifreund, Bundeskanzler und Vermögenssteuergegner Gerhard Schröder, anlegte. Für die taz war das allerdings eine parteiinterne Show: „Was ist denn los? Zunächst erscheint rätselhaft, was sich momentan beim Thema Vermögenssteuer tut. Erst preschen SPD-Ministerpräsidenten vor und werden prompt von Gerhard Schröder zurückgepfiffen. (…) Erstaunlicherweise geben die Gören nicht nach, sondern verlangen munter weiter ihre Ländersteuern und drohen sogar an, dass sie eine Bundesratsinitiative starten werden. Ja, hat denn der Kanzler gar keine Autorität? Noch bevor die zuschauenden Bürger diese Frage so recht durchdenken können, erfahren sie, dass es in Wahrheit so gewesen sei, dass Papa Schröder seinem Nachwuchs in Privatgesprächen ausdrücklich erlaubt hat, unartig zu sein. Es ist also Krawall auf Kommando“ (taz vom 8.10.2002: 14). Das Haushaltsargument wurde von Vertretern der Exekutive dominiert, die in erster Linie aus Landesregierungen stammten: 33 von 36 Sprechern der Exekutive, die dieses Deutungsmuster benutzten, waren Ministerpräsidenten oder Mitglieder der Landesregierungen, also Vertreter jener Ebene, denen die Einnahmen aus einer Vermögenssteuer zugute gekommen wären. Auch die Gewerkschaften waren mit dem Argument der Staatsfinanzen mit 11,4% überdurchschnittlich repräsentiert. Dies liegt vor allem daran, dass im Zuge des Tarifstreits im öffentlichen Dienst Ende 2002 die gewerkschaftlichen Tarifforderungen immer wieder mit der Forderung nach der Vermögenssteuer verknüpft wurden. Das Argument des öffentlichen Haushalts war das einzige steuertechnische ProVermögenssteuer-Argument. Auf der anderen Seite summierten sich ablehnende Deutungen auf 15,4%. Hier handelte es sich um Aussagen, die sich als typische „Sachzwänge“ beschreiben lassen: Die Erhebung der Steuer sei zu aufwändig (5,1%), sie produziere Steuerwiderstand (3,9%), treffe die Falschen (3,9%), es gebe gar keine politischen Mehrheiten dafür (2,4%) – übrigens ein häufiges Argument der Regierung Schröder ab 1999, die damit versuchte, die Verantwortung auf die Bundesratsmehrheit der CDU/CSU abzuwälzen.
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Hürden des Verfassungsgerichts
Bei den steuerrechtlichen Deutungsmustern ragte der bloße Hinweis auf die angebliche Verfassungswidrigkeit der Vermögenssteuer heraus (8,9%). Eine Konkretisierung dieser Verfassungswidrigkeit fand seltener statt. So war die Beanstandung der Ungleichbehandlung verschiedener Vermögenswerte, die immerhin Anlass und zentrales Moment des Urteils von 1995 war, mit 3,6% noch seltener präsent als die beiden anderen verfassungsge-
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richtlichen Vorgaben des Gerichts, die von vielen Kritikern als „nicht tragende Gründe“ (vgl. Betterman 1996) verworfen wurden. Zu diesen „nicht tragenden Gründen“ gehört zum einen die Erwartung, eine Vermögenssteuer dürfe nur die Erträge, nicht aber die Substanz von Vermögen angreifen (5,1%), zum anderen der so genannte Halbteilungsgrundsatz, der in 4,1% aller Deutungen benutzt wurde. Das Verfassungsgericht verwies auf die Begründung im Preußischen Ergänzungssteuergesetz, wonach „sie aus dem Einkommen zu tragen sei und nicht zu einer ‚schleichenden Vermögenskonfiskation‘ führen dürfe (…). Sie sollte aus dem Vermögensertrag bestritten werden können und nicht zu Eingriffen in die Vermögenssubstanz führen“ (BVerfGE 1995: 28). Darüber hinaus sei der Vermögensertrag „einerseits für die steuerliche Gemeinlast zugänglich, andererseits muss dem Berechtigten ein privater Ertragsnutzen verbleiben“. Daraus leitete das Verfassungsgericht den „Halbteilungsgrundsatz“ ab: Danach dürfe „die Vermögenssteuer zu den übrigen Steuern auf den Ertrag nur hinzutreten, soweit die steuerliche Gesamtbelastung des Sollertrages bei typisierender Betrachtung von Einnahmen, abziehbaren Aufwendungen und sonstigen Entlastungen in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand verbleibt und dabei insgesamt auch Belastungsergebnisse vermeidet, die einer vom Gleichheitssatz gebotenen Lastenverteilung nach Maßgabe finanzieller Leistungsfähigkeit zuwiderlaufen“ (BVerfGE 1995: 26). Nur einer der Verfassungsrichter widersprach diesen Vorgaben und reichte ein Sondervotum ein (Böckenförde 1995). Erstaunlicherweise wurde die ausdrückliche Zurückweisung des Halbteilungsgrundsatzes kaum aufgegriffen, und wenn, dann weniger in der Politik, die sich hier vom Verfassungsgericht in ihrem steuerpolitischen Handlungsspielraum entmachten ließ, sondern eher von Journalisten und den in den Medien zitierten Steuerrechtlern. Insgesamt kam die explizite Ablehnung des umstrittenen Halbteilungsgrundsatzes nur in 1,4% aller Deutungsmuster zum Tragen. Für die meisten Politiker ließ die Reformaufgabe des obersten Gerichts keinen Spielraum mehr zu, geschweige denn Widerspruch – oder zumindest behaupteten sie es, teilweise wohl froh, auf diese Weise die ungeliebte Steuer eliminieren zu können. Dagegen forderte Kerstin Müller, damals Fraktionssprecherin der Grünen, drei Jahre zuvor eine „verfassungskonforme Beibehaltung der Vermögenssteuer“ (taz vom 16.10.1996: 1). SPDFinanzexperte Joachim Poß betonte laut FAZ sogar, „die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stehe einer Wiedererhebung nicht entgegen. Das Gericht habe die damalige Fassung des Vermögenssteuergesetzes wegen der Ungleichbehandlung der verschiedenen Vermögensarten für verfassungswidrig erklärt. Der Halbteilungsgrundsatz gehöre hingegen nicht zu den tragenden Gründen der Entscheidung“ (FAZ vom 27.11.2002: 1). Müller und Poß repräsentierten die Politiker, die die Gestaltungsmöglichkeiten der Politik benannten, das System, dem schließlich ein „besonderes Zugriffsrecht auf die anderen Systeme“ (Gerhards 1993: 23) zugestanden wird. Sie betonten den Willen zur Beibehaltung der Vermögenssteuer unter weitgehender Berücksichtigung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben und widersetzten sich auch der Anerkenntnis des Halbteilungsgrundsatzes. Während die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Ungleichbehandlung und zur Substanzschonung kaum in Zweifel gezogen wurden, entbrannte um den Halbteilungsgrundsatz zumindest eine kurzfristige Debatte, in der Poß später auch Unterstützung vom Bundesfinanzgerichtshof erhielt. Dennoch blieben die den Halbteilungsgrundsatz verwerfenden Argumente unterrepräsentiert und spielten letztlich keine Rolle bei der Entscheidung über die Vermögenssteuer.
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Symbolische Debatte
Zwei Deutungsmuster waren keiner der vier Kategorien zuzuordnen. Das eine ist der Verweis auf die Vermögensbesteuerung in anderen Ländern. Mit einem Aussageanteil von 0,8% spielte dieses Argument kaum eine Rolle. Das andere Deutungsmuster beinhaltete die Aussage, die Vermögenssteuer sei eine symbolische Steuer. Diesen Vorwurf richteten sowohl Gegner einer Vermögensumverteilung als auch deren Befürworter an die Vermögenssteuer, die zwar unterschiedliche Interessen vertraten, aber sich darin einig waren, dass die Vermögenssteuer ihren Interessen nicht dienlich sei – entweder, weil sie als schädlich erachtet, oder aber, weil sie als Umverteilungsinstrument als unwirksam betrachtet wurde. Das Argument ging quer durch alle Parteien und Lager. Hans Eichel nannte als Bundesfinanzminister die Diskussion um eine Vermögensabgabe eine „Geisterdebatte ohne Hintergrund“ (taz vom 5.10.1999: 6). Aber während Eichel daraus keine Überlegungen über andere vergleichbare Vermögensbesteuerungen ableitete, konnte man einem taz-Kommentar die Enttäuschung darüber entnehmen, dass die Vermögenssteuer nur zu Wahlkampfzwecken missbraucht und eine echte Umverteilung gar nicht angestrebt werde. Mehr als die Hälfte aller Deutungsmuster mit Bezug auf die Symbolik erfolgten durch Journalisten (38 von 67). Diese Aussagen beinhalteten oft Kritik der journalistischen Beobachter an politischen Inszenierungen. Umverteilung lediglich zu inszenieren statt zu praktizieren, war ein Vorwurf an die Politik, den Vermögenssteuerbefürworter wie auch -gegner formulierten. Vor allem auf der Seite der Vermögenssteuergegner dominieren Sachzwänge: Es sei eben schädlich, die Reichen zu besteuern, denn das würde sich letztlich für alle negativ auswirken. Die Vermögenssteuerbefürworter rekurrieren viel stärker auf Gerechtigkeitsansprüche: Selbst das hier als steuertechnisches Argument erfasste Deutungsmuster des öffentlichen Haushalts ist auf Solidarität ausgerichtet, vor allem wenn es sich mit der Forderung „mehr Geld für Bildung“ verbindet – eine bei der Linken populäre Forderung zur Überwindung von Bildungsungleichheit. Dem gegenüber stehen die Sachzwänge von Steuerwiderstand und fehlenden Mehrheiten. Und über allem das Damoklesschwert der Verfassungswidrigkeit, das, nachdem die Politik lange genug uneinig geblieben war, niedersauste und die Vermögenssteuer zwar nicht abschaffte, aber ihre Aussetzung erreichte. Nach dem „Was“ werfen wir einen kurzen Blick auf das „Wer“ in den Debatten, auch um bereits angedeutete Zusammenhänge weiter zu konkretisieren.
10 Traditionelle Konfliktlinien Zentrale Annahme bei der Erfassung der Sprecher war, dass diese sich entsprechend ihrer Zugehörigkeit zu Teilsystemen, zum politischen Zentrum bzw. zur Peripherie und zu den politischen Konfliktlinien zuordnen lassen. Interessant war aufgrund ihrer Dominanz vor allem eine Analyse der Parteipolitik nach Exekutive, Legislative und Parteien außerhalb der Gremien. Die Parteipolitik dominierte die Debatte mit 49,6% aller 2669 Aussagen. Sprecher aus der Wirtschaft erreichten einen Anteil von 12,1%, aus der Wissenschaft 7,3%; hier handelte es sich meist um Gastkommentatoren oder Interviewpartner der Medien. Die Medien selbst – also Bericht erstattende oder kommentierende Journalisten – stellten einen
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Sprecheranteil von 20,7%. Der Anteil der Leserkommentare lag bei 4,1%, alle sonstigen Sprecher erreichten einen zu vernachlässigenden Anteil. Die Debatten um die Vermögenssteuer fanden also in erster Linie in der Parteipolitik statt. Auch die traditionellen Konfliktlinien in der Vermögenssteuerdiskussion sind noch klar erkennbar: Union (79,6% Contra-Aussagen) und FDP (91,9%) lehnten die Vermögenssteuer mehrheitlich deutlich ab, Grüne (53,7% Pro-Aussagen), SPD (59,2%) und insbesondere die PDS (97,9%) sprachen sich mehr oder weniger klar für sie aus. Noch klarer folgten die Arbeitgeberverbände und einzelne Arbeitgeber auf der einen und die Gewerkschaften (sowie die wenigen einzelnen Arbeitnehmer) auf der anderen Seite dieser traditionellen Konfliktlinie: Ihre Grundaussagen und Deutungsmuster stimmten überhaupt nicht überein. Die Ablehnung bzw. Befürwortung der Vermögenssteuer orientierte sich also durchaus an den erwartbaren Scheidelinien zwischen Links und Rechts, Arbeitnehmern und Arbeitgebern, Arbeit und Kapital. Die Bereitschaft der SPD und vor allem der Grünen, in Bezug auf die Vermögenssteuer vom Umverteilungsgedanken abzurücken, schlug sich jedoch in der Betrachtung zweier Zeitabschnitte nieder, die unter unterschiedlichen politischen Voraussetzungen standen: Von 1994 bis 1998 befanden sich die Grünen und die SPD auf Bundesebene in der Opposition, nach der Bundestagswahl vom September 1998 waren sie in der Regierungsverantwortung. Die damit einhergehende Veränderung ihrer mehrheitlichen Haltung zur Vermögenssteuer ist verblüffend deutlich: In der SPD fiel der Anteil von Pro-Aussagen von 73,1% in den Jahren 1994 bis 1998 auf 49,8% in den Jahren 1999 bis 2003, der Anteil von ContraAussagen stieg in diesen Zeiträumen von 7,1 auf 34,9%. Bei den Grünen fiel der Anteil an Pro-Aussagen von 71,9 auf 40%, der Anteil der Contra-Aussagen stieg von 14,1 auf 41,2%. Die PDS als durchgehende Oppositionspartei blieb sich dagegen weitgehend treu und ließ zu keinem Zeitpunkt Aussagen gegen die Vermögenssteuer verlauten. Mit der Nähe zum Zentrum verwischten sich die Konfliktlinien der politischen Entscheidungsorgane, vor allem in der Exekutive. So lehnen auch Sprecher aus traditionell die Vermögenssteuer befürwortenden Parteien mit der Übernahme regierungsverantwortlicher Positionen die Vermögenssteuer häufiger ab. Von Jürgen Habermas stammt die Unterscheidung zwischen „vermachteter“ und „autonomer Öffentlichkeit“. Für die Strukturierung einer öffentlichen Meinung seien „die Regeln einer gemeinsam befolgten Kommunikationspraxis von größerer Bedeutung“ (Habermas 1992: 438). Das bedeutet, dass die Akteure im Zentrum strategisch argumentieren, d.h. sie haben die Institutionen und Interessengruppen, die sie vertreten, und die ideologischen Vorgaben der von ihnen vertretenen Institution immer im Blick. Ihnen entsprechend argumentieren sie – möglicherweise auch gegen die eigene innere Überzeugung. Im Gegensatz dazu wirken die Strukturen der autonomen Peripherie so, dass die Akteure des Zentrums sich kommunikativ und relativ frei von Zwängen verhalten können (vgl. Gerhards u. a. 1998: 33), also das eigene Wollen in den Vordergrund rücken. Diese Unterscheidung ist nicht trennscharf zu ziehen, allerdings nimmt die Vermachtung mit der Nähe zum politischen Zentrum zu und führt zu immer geringerer Autonomie. Darüber hinaus besteht eine Differenz zwischen Zentrum und Peripherie, „als das Zentrum, das qua Position für die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidung verantwortlich ist, sich in erster Linie auf die Thematisierung und Bewertung verschiedener politischer Regelungsmodelle konzentriert, während sich die Peripherie auf die Deutung normativer Fragen spezialisiert, zu denen ‚Ideen‘ eingebracht werden“ (Gerhards u. a. 1998: 108).
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Die Vorstellung von der Vermachtung des für kollektiv verbindliche Entscheidungen zuständigen Zentrums, das strategisch argumentiert und in erster Linie politische Regelungsmodelle thematisiert, haben wir im Zusammenhang mit den Vermögenssteuerdebatten aufgegriffen: Demnach müssten sich Sprecher aus dem Zentrum vermehrt auf steuertechnische Deutungsmuster beziehen, Sprecher aus der Peripherie dagegen auf ethisch-sozialpolitische Argumente. Das Ergebnis der Medieninhaltsanalyse bestätigt tatsächlich die Hypothese vom strategisch argumentierenden Zentrum in vielen Punkten. Auch der Vergleich der verschiedenen Deutungsmuster innerhalb der Sprecherkategorien Exekutive, Legislative und Parteien zeigt, dass die steuertechnischen Varianten die ethisch-sozialpolitischen innerhalb der Exekutive stark überwogen (36,2 gegenüber 15,9%), die beiden Varianten innerhalb der Legislative nahezu ausgeglichen waren (31,6 steuertechnische gegenüber 30,8% ethisch-sozialpolitischen) und bei den Parteien klar die ethisch-sozialpolitischen gegenüber den steuertechnischen Deutungsmustern dominierten (58,9 gegenüber 21%). Außerhalb des parteipolitischen Systems lassen sich zumindest einige entsprechende Tendenzen ausmachen. Geht man davon aus, dass z.B. die Leser auf der ablehnenden wie auf der befürwortenden Seite kaum an strategische Überlegungen gebunden sind, wird diese Annahme bestätigt, wenn man sieht, dass auf beiden Seiten ein überdurchschnittlich hoher Anteil an ethisch-sozialpolitischen Deutungsmustern zum Tragen kam (65,5% bei den befürwortenden gegenüber 20,1% insgesamt, 27,1% bei den ablehnenden gegenüber 7,7% insgesamt). Es gibt also auch außerhalb des politischen Zentrums einige aussagekräftige Anhaltspunkte für die nahe liegende Annahme, dass ethisch-sozialpolitische Deutungen als interne Überzeugungen in erster Linie außerhalb des politischen Zentrums wirksam wurden. Mit anderen Worten, je näher die Sprecher den zentralen politischen Entscheidungsinstanzen stehen, desto mehr nehmen sie in ihren Deutungen Bezug auf externe Faktoren und Umsetzungsschwierigkeiten. Sie stellen Gerechtigkeitsansprüche in den Hintergrund und argumentieren vermehrt strategisch. Demgegenüber nehmen Sprecher, die den zentralen politischen Entscheidungsinstanzen weniger nahe stehen, eher Bezug auf eigene Überzeugungen und weniger auf externe Hindernisse und Umsetzungsprobleme.5 Ganz typisch hierfür ist das Deutungsmuster, für eine Vermögenssteuer gebe es keine Mehrheit. Es kam mit der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die SPD und die Grünen zu verstärkter Geltung. Von den insgesamt 35 Nennungen entfielen 22 auf Sprecher aus der SPD. Mehr als die Hälfte aller in diese Richtung zielenden Deutungsmuster, nämlich 19, stammen aus dem Jahr 1999 – dem Jahr, in dem sich die Bundesratsmehrheit zu Ungunsten von Rot-Grün verschob, so dass es überhaupt erst in diesem Zusammenhang wirksam werden konnte – weil die sozialdemokratischen Exponenten der Bundesregierung ihre Haltung gegen die Vermögenssteuer offensichtlich nicht selbst verantworten, sondern vor allem der Unions-Mehrheit im Bundesrat zuschreiben wollten. Daran wird deutlich, wie insbesondere die steuerpolitischen Argumente vom eigentlichen Sinn der Vermögenssteuer wegführten und nicht etwa deren Stärken und Schwächen betonten, sondern lediglich die Umsetzbarkeit in den Vordergrund rückten. Sozialdemokratische und grüne Spitzenpolitiker, vor allem Mitglieder der Exekutive, versuchten damit den Spagat zwischen der recht bald festgelegten
5 Die wirtschaftspolitischen und steuerrechtlichen Deutungsmuster ließen hier allerdings keinen so eindeutigen linearen Zusammenhang erkennen. Das dürfte daran liegen, dass sich zu viele interne und externe Faktoren mischten, weshalb sie auf der Achse der internen und externen Zurechnungen in der Mitte richtig eingeordnet sind.
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Ablehnung der Vermögenssteuer in der Bundesregierung und den immer lauter werdenden Forderungen nach sozialem Ausgleich aus den Reihen der eigenen Parteien. Die Politik hat die Spielräume, die selbst bei einer strengen Auslegung des Verfassungsgerichtsurteils von 1995 noch eine Reform der Vermögenssteuer erlaubt hätten, nicht genutzt, in weiten Teilen wohl nicht nutzen wollen. Zu den Vermögenssteuerdebatten passt daher, was Jürgen Habermas (2004) ganz allgemein über die Politik sagt: „Das eigentliche Problem ist die Selbstabdankung der Politik vor Sachzwängen, die sie selber erst freigesetzt hat.“
11 Und die Moral von der G’schicht: Freiheit, Gleichheit, Machbarkeit Ob die gesellschaftliche Haltung zum Reichtum und der politische Umgang damit in Deutschland generell so strukturiert ist, wie er in dieser Medieninhaltsanalyse der Vermögenssteuerdebatten nachvollzogen wurde, ist freilich nach wie vor eine empirische Frage. Die Erkenntnisse dieser Untersuchung stimmen aber durchaus mit einer generellen Entwicklung überein: Eigenverantwortung geht zunehmend vor staatlicher Hilfe, der vorhandene Reichtum in der Gesellschaft wird immer weniger dazu genutzt, staatliche Umverteilungsmaßnahmen durchzuführen. Insofern sind die Vermögenssteuerdebatten zwischen 1994 und 2003 ein geeignetes Bild des öffentlichen Verteilungskampfes, in dem Gerechtigkeitsfragen lediglich noch symbolischen Wert haben und Sachzwänge sich zu scheinbar unüberwindbaren Hindernissen auftürmen. Vor allem aber fliehen die, die sich einer Entscheidung am liebsten entziehen würden (und die das im Zusammenhang mit der Vermögenssteuerreform auch getan haben), gerne in Regelungsfragen: Treiben wir mit unserem Gerechtigkeitsanspruch nicht die Reichen aus dem Land? Lohnt sich der Aufwand der Erhebung überhaupt? Ist das verfassungsgemäß überhaupt machbar? Und haben wir überhaupt eine Mehrheit für unsere Absichten? Nur selten schien die alte Frage nach Freiheit oder Gleichheit in den Verteilungsdebatten durch. Das wäre aber umso dringender, um vom Zerrbild des selbstsüchtigen Reichen Abschied zu nehmen und zur zentralen Frage der Zivilgesellschaft, „was mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen angefangen wird“ (Druyen 2007: 27), zu kommen. Nur manchmal gaben sich die öffentlichen Akteure die Blöße oder die Größe zu Visionen, die über den politischen Alltag hinausgehen und die gerechte Gesellschaft betreffen. Die Befürworter der Vermögenssteuer haben dies mit ihren Solidaritätsadressen noch am ehesten getan – doch haben sie sich damit nicht durchsetzen können, so dass es in der Vermögenssteuerdebatte bei reiner Solidaritätsrhetorik geblieben ist.
Literatur Berger, Peter L. und Luckmann, Thomas, 1969: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M.: Fischer. Bettermann, August, 1996: Die Aufgabe: Fachgericht für Verfassungsrecht. Für einen geheimen Staatsrat in Karlsruhe ist kein Platz. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.12.1996. 13. Bleeker-Dohmen, Roelf, 2006: Der öffentliche Verteilungskampf. Eine Medieninhaltsanalyse der Vermögenssteuerdebatten zwischen 1994 und 2003. Berlin: Logos-Verlag.
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Böckenförde, Ernst W., 1995: Abweichende Meinung zum Beschluss des Zweiten Senats vom 22. Juni 1995, 2BvL 37/91, Karlsruhe. BVerfGE, 1995: Beschluss des Zweiten Senats vom 22. Juni, 2BvL 37/91, Karlsruhe. Davis, Kingsley und Moore, Wilbert E., 1967: Einige Prinzipien der sozialen Schichtung. In: Hartmann, Heinz (Hg.): Moderne amerikanische Soziologie. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag. 347357. Druyen, Thomas, 2007: Goldkinder: Die Welt des Vermögens. Hamburg: Murmann. Eißel, Dieter, 1997: Reichtum unter der Steuerschraube? Staatlicher Umgang mit hohen Einkommen und Vermögen. In: Huster, Ernst-Ulrich (Hg.): Reichtum in Deutschland. Die Gewinner der sozialen Polarisierung. Frankfurt a. M., New York: Campus. 107-123. Gerhards, Jürgen, 1993: Neue Konfliktlinien in der Mobilisierung öffentlicher Meinung. Eine Fallstudie. Opladen: Westdeutscher Verlag. Gerhards, Jürgen; Neidhardt, Friedhelm und Rucht, Dieter, 1998: Zwischen Palaver und Diskurs. Strukturen öffentlicher Meinungsbildung am Beispiel der deutschen Diskussion zur Abtreibung. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Habermas, Jürgen, 1992: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen, 2004: „Wähler sind nicht nur Kunden. Die nationalstaatliche Politik muss lernen, nicht wie ein Blinder in den globalen Räumen herumzutapsen.“ Interview in: Süddeutsche Zeitung vom 18.6.2004. 15. Lüders, Christiane und Meuser, Michael, 1997: Deutungsmusteranalyse. In: Hitzler, Ronald und Honer, Anne (Hg.): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung. Opladen: Leske + Budrich. Schumpeter, Joseph A., 1918: Die Krise des Steuerstaates. Graz (u.a.): Leuschner & Lubensky. Schütz, Alfred, 1971: Gesammelte Aufsätze I. Das Problem der Wirklichkeit. Den Haag: M. Nijhoff. Strasser, Hermann, 1985: Was Theorien der sozialen Ungleichheit wirklich erklären. In: Strasser, Hermann und Goldthorpe, John H. (Hg.): Die Analyse sozialer Ungleichheit: Kontinuität, Erneuerung, Innovation. Opladen: Westdeutscher Verlag. 155-172.
IV. Lebensstil und Gesellschaftliches Engagement
Stifterinnen und Stifter im deutschen Stiftungswesen. Eine Analyse der Motive, Ziele und Werte1 Stifterinnen und Stifter im deutschen Stiftungswesen
Eva Schulze
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Einleitung
Die vorliegende Arbeit ist eine erste umfassendere Beschreibung deutscher Stifterinnen im Vergleich zu Stiftern.2 Die zentralen Aspekte der Untersuchung sind das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Stifterinnen und Stiftern sowie die Motive, Ziele und Werthaltungen. Unterschiede zwischen geschlechts- und persönlichkeitsspezifischen Orientierungen werden herausgearbeitet. Die Analyse zeigt, dass das deutsche Stiftungswesen zwar noch eine Männerdomäne darstellt, jedoch mittlerweile zunehmend auch Stifterinnen mit eigenen Stiftungen aktiv sind. An der Befragung haben sich insgesamt 629 stiftende Personen beteiligt.3 Davon sind 69,5 % Männer und 30,5 % Frauen. Uns interessierte, wer diese Frauen sind, die Stiftungen gründen. Welche Ziele und Motive bewegen Frauen, wenn sie als Stifterinnen agieren? Stiften Frauen anders als Männer? Sind eher geschlechtsspezifische Unterschiede oder eher allgemeine personenspezifische Orientierungen prägend? Diese Fragen werden wir in diesem Aufsatz zu beantworten versuchen.
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Wer sind die Stifterinnen und Stifter?
Stifterinnen stammen vorwiegend aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Elternhäusern (85 % gegenüber 74 % bei den Männern). Kommen die Befragten aus dem kleinbürgerli1
Die vorliegende Arbeit ist die gekürzte und überarbeitete Fassung des Aufsatzes: Stiften Frauen anders? Untersuchung zu Frauen im deutschen Stiftungswesen, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, Wiesbaden, Jg. 32, 1-2/2007, S. 205-232. 2 Diese Analyse basiert auf der Auswertung der Daten der Bertelsmann Stifter-Studie, zu der das Berliner Institut für Sozialforschung BIS die Feldarbeit, die Datenaufbereitung und die Auswertung vorgenommen hat. Wir danken der Bertelsmann Stiftung für die Möglichkeit, diese Daten geschlechtsspezifisch auszuwerten. Die vorliegende Auswertung wurde von der Hans Böckler Stiftung gefördert. 3 Im Januar 2004 hat die Bertelsmann Stiftung 1.666 Fragebögen an Stifter und Stifterinnen verschickt. 629 Fragebögen kamen zurück und 306 Stifter waren mittlerweile verstorben. Die Rücklaufquote beträgt rd. 46 %. Als Grundgesamtheit wurde die Gruppe aller Stifter bestimmt, die seit 1990 einen substanziellen Betrag ihres Vermögens (mindestens 50.000 Euro) dauerhaft einem gemeinnützigen Zweck gewidmet haben. Die Gründung der Stiftung musste durch eine Einzelperson oder zusammen mit einem Partner erfolgt sein; Stifter, die zu Gruppenstiftungen beigetragen haben, gehören somit nicht zur Grundgesamtheit. Ohne Belang ist hingegen die Stiftungsform, zur Grundgesamtheit gehören Stifter aller Stiftungsformen, soweit sie die oben genannten Bedingungen erfüllen. Als Grundlage für die Identifizierung der betreffenden Stifter diente die Datenbasis des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen. Dieser führt eine in regelmäßigen Abständen aktualisierte Datenbank der selbstständigen Stiftungen in der Bundesrepublik Deutschland. Die Grundgesamtheit umfasst 1.666 Stifter.
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Eva Schulze
chen Milieu oder dem Arbeitermilieu, sind Männer mit 12,5 % etwas stärker vertreten als Frauen (4,3 %). Stifter wie Stifterinnen verfügen über ein insgesamt hohes Bildungsniveau, dennoch haben die Männer ein höheres Bildungsniveau als die Frauen (31,2 % Frauen und 38,6 % Männer haben einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss). Entsprechend ist bei den niedrigeren Bildungsabschlüssen der Frauenanteil größer: Realschulabschluss (Frauen 26,9 %; Männer 13,4 %). Gravierende Unterschiede existieren in den Familiengrößen. Zum Zeitpunkt der Stiftungsgründung hatte über die Hälfte der Frauen keine Kinder (56 %), bei den Männern waren es nur 35 %. Stifterinnen sind oder waren berufstätig. Nur ein kleiner Prozentsatz (6,1 %) gibt an, niemals berufstätig gewesen zu sein. Betrachtet man die berufliche Stellung, zeigen sich ebenfalls geschlechtsspezifische Unterschiede. Männer sind häufiger Unternehmer, am häufigsten sind sie Unternehmer mit mehr als 50 Mitarbeitern (26,7 %). Frauen üben demgegenüber mit 17 % stärker als Männer freiberufliche Tätigkeiten aus. Am zweitstärksten ist bei den Frauen die Kategorie der qualifizierten Angestellten (14,7 %) vertreten. Männer geben dagegen mit 17 % häufiger an, als leitender Angestellter tätig zu sein. Die meisten befragten Stifter und Stifterinnen hatten zum Zeitpunkt der Stiftungsgründung ein Privatvermögen zwischen 250.000 Euro und zwei Millionen Euro (46,0 % der Frauen und 38,3 % der Männer). Größere Vermögen (über 4 Millionen Euro) haben vor allem die Stifter (25,1 %; Frauen 14,4 %), während sich in der Gruppe mit einem Vermögen unter 250.000 Euro mehr Stifterinnen (45,4 %; Männer 29,7 %) befinden. Es gibt keinen Unterschied in der Anzahl der Frauen und Männer, deren Stiftungsvermögen zum Zeitpunkt der Stiftungsgründung zwischen 100.000 und 250.000 Euro betrug (20 %). Die meisten starten mit einem Vermögen von 50.000 bis 100.000 Euro: dies sind fast 29 % der Stifterinnen und 27 % der Stifter. Einige starten mit mehr als 500.000 Euro (unter 20 %) und nur wenige können schon zu Beginn der Stiftungsgründung mehr als 2,5 Millionen Euro vorweisen. Die Unterschiede zwischen Stiftern und Stifterinnen sind nicht groß.
3
Motive der Stiftungsgründung – für Frauen anders als für Männer?
Im Vordergrund der Stiftungsgründung stehen der Wunsch, etwas zu bewegen, Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Mitmenschen sowie das Interesse, ein konkretes Problem zu bekämpfen. Geschlechterdifferenzen spielen hierbei keinerlei Rolle (jeweils mehr als 50 %). Bei Frauen spielen für die Stiftungsgründung persönliche Gründe eine wichtigere Rolle. 49 % der Stifterinnen sagen, dass sie mit der Stiftungsgründung das Andenken an eine ihnen nahe stehende Person wahren wollten (Stifter 26 %). Auch die Familientradition spielt für die Frauen eine größere Rolle (20,4 % gegenüber 13,9 %). Kaum eine Rolle spielt ein Imagegewinn für das eigene Unternehmen, wie Abbildung 1 zeigt. Auch die Zielsetzung, mit einer Stiftungsgründung die Rolle der Frau in der Gesellschaft stärken zu wollen, ist eher nachrangig, wobei allerdings deutlich mehr Frauen als Männer dies als ein Motiv angeben (14,1 % gegenüber 6,0 %). Deutlich mehr Männer als Frauen (45,5 % gegenüber 32,3 %) geben an, dass sie mit ihrer Stiftungsgründung der Gesellschaft etwas zurückgeben wollen. Geringfügig mehr Frauen als Männer sagen, dass Mitleid mit Notleidenden ein Motiv für ihre Stiftungsgründung gewesen sei (39,5 % gegenüber 36,1 %).
Stifterinnen und Stifter im deutschen Stiftungswesen
175
Alle Befragten betonen die soziale Verantwortung von Vermögen, sei es in der direkten Aussage „Eigentum verpflichtet“ oder der Aussage, dass man sich für das Gemeinwohl engagieren solle, wenn man dazu die finanziellen Möglichkeiten hat. Demgegenüber wird die Vorstellung, seinen Kindern möglichst viel Vermögen zu vererben, von einem Großteil der Befragten abgelehnt. Differenzen zwischen Stiftern und Stifterinnen sind dabei gering. Während die Stifter geringfügig mehr die soziale Verantwortung von Vermögen betonen, legen die Stifterinnen geringfügig mehr Wert darauf, dass Stiftende keine Vorteile aus ihrem gemeinnützigen Engagement ziehen sollten. Abbildung 1:
Motive für die Stiftungsgründung 66,7% 66,2% 67,4% 63,8%
Wunsch verspürt, etwas zu bewegen Aus Verantwortung gegenüber den Mitmenschen Stiftung gegründet Andenken an nahe stehende Person wahren Konkretes Problem bekämpfen Langfristig bestimmte Institution unterstützen Mitleid mit Notleidenden Der Gesellschaft etwas zurückgeben Durch religiöse Überzeugung motiviert Im Sinne der Familientradition handeln Aktivitäten aus dem Berufsleben durch die Stiftung fortführen Rolle der Frau in der Gesellschaft stärken Imagegewinn für das Unternehmen erzielen
25,5%
48,6%
50,0% 49,2% 50,3% 45,7% 36,1% 39,5% 45,5% 32,3% 27,9% 27,0% 13,9% 20,4% 27,9% 21,9% 6,0% 14,1% 3,1% 3,4%
Männer Frauen
Anmerkungen: Die Kategorien „trifft vollkommen zu“ und „trifft eher zu“ wurden zusammengefasst (N=329389). Quelle: Bertelsmann StifterStudie, eigene Berechnungen.
Die in der deutschen Forschungsliteratur vertretene Annahme, dass Frauen häufiger für soziale Zwecke stiften und Männer ihrerseits stärker im Bereich von Kunst und Kultur sowie Bildung und Erziehung tätig sind, lässt sich damit schwach bestätigen. Knapp die Hälfte der befragten Stifterinnen und 40 % der Stifter stiften für soziale Zwecke. 34 % der Männer stiften für Kunst und Kultur, während sich nur 23 % der Frauen dafür engagieren. Im Bereich Bildung und Erziehung gibt es geringe Unterschiede zwischen den Geschlechtern, wobei sich die Stifter etwas stärker in diesem Bereich engagieren (31 % der Frauen gegenüber 37 % der Männer). Nur geringe Unterschiede im Stiftungsverhalten zwischen Frauen und Männern sind in den Bereichen Wissenschaft und Forschung sowie Umweltschutz festzustellen (Abb. 2).
176
Eva Schulze
Abbildung 2:
Tätigkeitsfeld der Stiftung 40,2%
Soziales Bildung und Erziehung
30,7%
Wissenschaft und Forschung
31,0% 30,2%
Kunst und Kultur Umweltschutz Anderer Bereich
22,8% 7,1% 7,9%
49,2%
36,6%
34,2%
Männer 15,9% 13,2%
Frauen
(N=630, Mehrfachnennungen möglich) Datenquelle: Bertelsmann StifterStudie, eigene Berechnungen.
Die bemerkenswerteste Differenz zwischen Männern und Frauen ist der Wunsch, „das Andenken an eine nahe stehende Person zu wahren“. Während dies von den Männern nur zu gut einem Viertel als Motiv für eine Stiftungsgründung angegeben wird, ist es bei den Frauen knapp die Hälfte. Auch dies ist zwar ein soziales Motiv, allerdings kein allgemein gesellschaftliches, sondern auf die eigene Familie oder den engsten Freundeskreis bezogenes.
4
Zufriedenheit mit der eigenen Stiftungsarbeit – bei Frauen höher als bei Männern?
Sind Frauen zufriedener mit ihrer Stiftungstätigkeit als Männer? In welcher Form und in welchem Ausmaß engagieren sie sich für ihre Stiftung? Legen sie Wert auf öffentliche Präsenz oder wirken sie lieber im Hintergrund? Welche persönlichen Orientierungen haben sie in ihrem Leben? Alle Befragten, ob Männer oder Frauen, sind zufrieden mit ihrer Stiftung. Auffällig ist, dass Frauen in stärkerem Maße als Männer angeben, „sehr zufrieden“ zu sein (68,7 % gegenüber 59 %), während Männer häufiger als Frauen die Kategorie „eher zufrieden“ wählen (30,3 % gegenüber 19,8 %). Abbildung 3 verdeutlicht diese Unterschiede. Da, wie aus der Forschungsliteratur bekannt ist, gerade Frauen bei der Beantwortung von Fragen nicht zu Extremantworten neigen, ist dieses Ergebnis überraschend. Es könnte damit zusammenhängen, dass Frauen sich subjektiv noch stärker als Männer „sehr“ mit ihrer Stiftung identifizieren. Hinsichtlich des Ertrags der Stiftungsarbeit gibt es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Auf einer fünfstufigen Skala haben die Befragten bestimmt, was ihnen persönlich an der Stiftungsarbeit besonders wichtig ist. Für fast alle Stifterinnen und Stifter bedeutet Stiftungsarbeit, etwas Sinnvolles zu tun. Auch stimmten fast 90 % der Männer und Frauen darin überein, dass ihnen die Resultate, die die Stiftung erzielt, wichtig sind. 59 % der Stifterinnen und 69 % der Stifter ist es wichtig, gestaltend tätig zu werden.
Stifterinnen und Stifter im deutschen Stiftungswesen
177
Die sozialen Kontakte bei der Stiftungsarbeit sind für über 40 % der befragten Stifterinnen und Stifter von Bedeutung. Abbildung 3:
Zufriedenheit mit der Stiftung 59,0%
Sehr zufrieden Eher zufrieden
19,8%
68,7%
30,3%
8,3% 9,3%
Teils/teils Eher nicht zufrieden
1,9% 1,1%
Gar nicht zufrieden
0,5% 1,1%
Männer Frauen
(N=630) Datenquelle: Bertelsmann StifterStudie, eigene Berechnungen.
Abbildung 4:
Ertrag der Stiftungsarbeit für die Stiftenden
Die Abwechlsung vom Berufsalltag
10,1% 7,0% 97,3% 98,9%
Das Wissen, etwas Sinnvolles zu tun
89,3% 89,3%
Die konkreten Resultate, die meine Stiftung erzielt Die Möglichkeit, gestaltend tätig zu werden
69,0% 58,6% Männer
Die sozialen Kontakte
44,9% 42,9%
Frauen
Die Kategorien „trifft vollkommen zu“ und „trifft eher zu“ wurden zusammengefasst (N=424-585). Datenquelle: Bertelsmann StifterStudie, eigene Berechnungen.
Die Bewertung des Ausmaßes des persönlichen Engagements in der Stiftung (Abb. 5) weist dasselbe Phänomen auf, wie bereits in Abbildung 3 beschrieben. Bei insgesamt hohem Engagement von Männern wie Frauen für ihre Stiftungen wählen Frauen häufiger die Kategorie „sehr starkes Engagement“ (47,0 % gegenüber 41,7 %). Männer benutzen dagegen häufiger die Kategorie „starkes Engagement“ (32,0 % gegenüber 20,1 %). Trotz des hohen Engagements für ihre Stiftung legen Stifterinnen wenig Wert auf öffentliche Präsenz. Über die Hälfte der Stifterinnen (56,2 %) möchte anonym bleiben, während dies nur für 40,2 % der Stifter gilt. Insbesondere die Differenz bei der Aussage „Ich möchte anonym im Hintergrund bleiben“ ist zwischen Stiftern und Stifterinnen hochsignifikant.
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Abbildung 5:
Ausmaß des persönlichen Engagements in der Stiftung 41,7%
Sehr starkes Engagement
47,0% 32,0%
Starkes Engagement
20,1% 18,8% 19,5%
Teil/teils 5,6% 7,3%
Geringes Engagement
Männer Sehr geringes Engagement
2,0% 6,1%
Frauen
(N=577) Datenquelle: Bertelsmann StifterStudie, eigene Berechnung.
5
Geschlechtsspezifische Unterschiede weniger relevant als Persönlichkeitsfaktoren?
Die bisherigen Analysen zeigen deutlich, dass Frauen nicht sehr viel anders stiften als Männer. Wir wollen jetzt die Frage diskutieren, welche Persönlichkeitsfaktoren wesentlich für die Gründung einer Stiftung sind. Wir haben im Fragebogen eine Frage zu grundlegenden persönlichkeitsspezifischen Orientierungen. Die einleitende Frage lautet folgendermaßen: „Jeder Mensch hat ja bestimmte Vorstellungen, die sein Leben und Verhalten bestimmen. Wenn Sie einmal daran denken, was Sie in Ihrem Leben eigentlich anstreben: Wie wichtig sind dann die folgenden Dinge für Sie persönlich?“ Es werden insgesamt 14 Vorgaben angeboten, die auf einer 7Punkte-Skala von „außerordentlich wichtig“ bis hin zu „unwichtig“ beurteilt werden sollen. Wir haben diese 14 Werte oder Orientierungen einer Faktorenanalyse unterzogen, um zu Kern-Orientierungen zu kommen. Es lassen sich vier Faktoren extrahieren, die nach einer Varimax-Rotation folgende Orientierungen widerspiegeln: „Materialismus“, „Konservativismus“, „Selbstverwirklichung durch Arbeit“ und „Soziales demokratisches Engagement“ (siehe Tab. 1). Diese Dimensionen weisen durchaus Ähnlichkeiten mit den in der aktuellen Diskussion über Werte und Lebensstile gebräuchlichen Dimensionen auf.4
4 Die grundlegende Orientierung „Materialismus“ wird bestimmt durch die folgenden fünf Einstellungen (aufgelistet nach der Höhe ihrer Faktorladungen): „hohen Lebensstandard haben“, „Macht und Einfluss haben“, „das Leben genießen“, „nach Sicherheit streben“ und „sich und seine Bedürfnisse gegenüber anderen durchsetzen“. Die Orientierung „Konservativismus“ wird bestimmt durch Einstellungen wie „Gesetz und Ordnung respektieren“, „etwas im Beruf leisten“, „Fleiß und Ehrgeiz“, „an Gott glauben“ und etwas schwächer „nach Sicherheit streben“. Die Orientierung „Selbstverwirklichung durch Arbeit“ wird bestimmt durch Items wie „Phantasie/Kreativität entwickeln“, „sich selbst verwirklichen“, „etwas im Beruf leisten“ und „Fleiß und Ehrgeiz“. Die Orientierung „Soziales demokratisches Engagement“ wird bestimmt durch „sozial Benachteiligten und gesellschaftlichen Randgruppen helfen“, „sich politisch engagieren“ und „Tolerierung von Meinungen, denen man eigentlich nicht zustimmen kann“.
Stifterinnen und Stifter im deutschen Stiftungswesen
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Tabelle 1: Grundlegende Orientierungen, Rotierte Faktorenmatrix Materia- Konservatilismus vismus Gesetz und Ordnung respektieren hohen Lebensstandard haben Macht und Einfluss haben Phantasie/Kreativität entwickeln nach Sicherheit streben sozial Benachteiligten und gesellschaftlichen Randgruppen helfen sich und seine Bedürfnisse gegenüber anderen durchsetzen Fleiß und Ehrgeiz Tolerierung von Meinungen, denen man eigentlich nicht zustimmen kann sich politisch engagieren Leben genießen an Gott glauben etwas im Beruf leisten sich selbst verwirklichen
,318 ,809 ,680 ,150 ,643
,673 ,184
SelbstverwirkSoziales lichung Engagement (Arbeit) -,144 ,116 ,281 ,185 ,767
,432 ,120
-,149
,640
,112
,102
,257
,611
,416
,328
,241
,578
-,191
,311
,603 ,645
-,181 ,536 ,640
,654 ,189 ,313
,185 ,676 -,140 ,362
,704
Extraktions-Methode: Hauptachsenanalyse. Rotations-Methode; Faktorenladungen, die den jeweiligen Faktor konstituieren, sind in der Tabelle fett gedruckt. Datenquelle: Bertelsmann StifterStudie, eigene Berechnung.
Für die folgende Analyse werden diese vier persönlichkeitsspezifischen Orientierungen eingesetzt sowie die drei Sozialvariablen Bildung, Alter und Geschlecht. Mit diesen sieben Vorhersagevariablen haben wir Regressionsanalysen durchgeführt.5 Als zu erklärende Variablen wurden die Fragen nach den Gründungsmotiven und den konkreten Stiftungsanlässen sowie zu den Kriterien für die Projektauswahl benutzt. Tabelle 2 zeigt deutlich, dass die grundlegenden Orientierungen insgesamt eine größere Rolle als Erklärungsgründe für die Motive einer Stiftungsgründung spielen als der soziale Hintergrund der Befragten und insbesondere die untersuchten geschlechtsspezifischen Unterschiede. Die Orientierungen „Soziales Engagement“ und „Selbstverwirklichung durch Arbeit“ sind für die Motivation, eine Stiftung zu gründen, wesentlich. Eine materialistische Orientierung hat den geringsten Stellenwert zur Erklärung der Stiftungsgründung. Für die Konservativen spielen vor allem religiöse Überzeugung, aber auch Mitgefühl mit der Not und Verantwortungsbewusstsein gegenüber anderen Menschen eine Rolle. Diese drei Gründe sind auch für die sozial Engagierten wichtig. Bedeutsam sind für sie aber auch eine 5 Regressionsanalysen dienen der Berechnung von Zusammenhängen zwischen verschiedenen Vorhersagevariablen und einem Kriterium (der zu erklärenden Variablen) unter Ausschluss der wechselseitigen Zusammenhänge der Vorhersagevariablen. Während sich hinter einer einfachen Korrelation zwischen einer Vorhersagevariablen und einem Kriterium der Einfluss von anderen Vorhersagevariablen verbergen kann, sind die von Regressionsanalysen berechneten Beta-Koeffizienten Zusammenhangsmaße, die um den Einfluss aller anderen in die Regressionsanalyse eingehenden Vorhersagevariablen bereinigt sind.
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Stärkung der Rolle der Frau in der Gesellschaft, die Bekämpfung eines konkreten Problems, der Wunsch, der Gesellschaft etwas zurückzugeben und der Wunsch, etwas zu bewegen. Religiöse Überzeugungen spielen für die Materialisten und die an Selbstverwirklichung orientierten Stifter/innen keine Rolle. Auch Mitgefühl mit Notleidenden ist für die an Selbstverwirklichung interessierten Personen kein Grund, eine Stiftung zu gründen. Sie denken bei einer Stiftungsgründung vor allem an sich selbst, sie wollen das Gefühl haben, etwas zu bewegen, wollen einen Imagegewinn für das eigene Unternehmen erzielen und Aktivitäten aus dem Berufsleben fortführen. Für die Gründung einer Stiftung spielt das Alter erwartungsgemäß eine wichtige Rolle: Ältere geben häufiger als Jüngere an, durch die Stiftungsgründung das Andenken einer nahestehenden Person wahren sowie Aktivitäten aus dem Berufsleben fortführen zu wollen. Demgegenüber spielen bei den Älteren Mitgefühl mit der Not, die Bekämpfung eines konkreten Problems sowie die Fortführung einer Familientradition eine geringere Rolle als bei den Jüngeren. Die Gebildeteren betonen die Familientradition und wollen zugleich durch die Stiftungsgründung verstärkt auch Aktivitäten aus dem Berufsleben fortführen. Insgesamt ist der Einfluss von Bildung jedoch gering, denn – wie im ersten Abschnitt gezeigt – sind Stifter und Stifterinnen überwiegend hoch gebildet (die Varianz ist also gering). Tabelle 2: Motive für die Gründung einer Stiftung Geschlecht Selbstverwirk- Soziales Erklärte Materialis- Konservati1=Frau lichung Engage- Varianz in mus vismus 2=Mann (Arbeit) ment Prozent Das Andenken an eine nahe stehende Person wahren -.004 -.017 -.091 -.016 10.4 -.153 -.165 -.132 Mitleid mit Notleidenden -.043 -.009 -.000 26.4 -.129 -.238 -.273 -.347 Eine bestimmte Einrichtung langfristig unterstützen -.070 -.015 -.031 -.161 -.047 -.037 5.3 -.110 Religiöse Überzeugung -.025 -.004 -.048 32.1 -.202 -.334 -.238 -.335 Aktivitäten aus dem Berufsfeld fortführen -.050 -.017 -.037 -.005 12.7 -.153 -.229 -.214 Familientradition -.083 -.050 -.042 -.028 4.9 -.113 -.123 .102 Verantwortungsbewusstsein gegenüber Mitmenschen -.012 -.008 -.025 -.041 -.015 13.8 -.102 -.351 Bekämpfung eines konkreten Problems -.005 -.013 -.008 -.011 -.028 7.1 -.131 -.204 Der Gesellschaft etwas zurückgeben -.015 -.001 -.062 -.072 -.031 6.3 -.115 -.193 Die Rolle der Frau in Gesellschaft stärken -.035 -.001 -.008 -.078 -.089 7.9 -.173 -.205 Etwas bewegen wollen -.012 -.037 -.030 -.073 -.018 9.4 -.229 -.189 Imagegewinn für eigenes Unternehmen erzielen -.072 -.017 -.065 -.001 9.1 -.139 -.229 -.125 Alter
Bildung
Zusammenhänge, die größer als .10 sind, sind in der Tabelle fett gedruckt. Datenquelle: Bertelsmann StifterStudie, eigene Berechnungen.
Stifterinnen und Stifter im deutschen Stiftungswesen
181
Die Regressionsanalysen bestätigen nochmals die eher geringe Bedeutung des Geschlechts für die Stiftungsgründung. Zwar wollen die Stifterinnen die Rolle der Frau in der Gesellschaft etwas mehr stärken – was ein wenig überraschendes Ergebnis ist – und wollen mehr als Männer das Andenken an eine nahe stehende Person wahren und der Gesellschaft etwas zurückgeben. Bei weiteren zur Analyse herangezogenen Themenkomplexen (konkrete Anlässe für eine Stiftungsgründung; Kriterien für die Auswahl von Projekten) gibt es zwischen Männern und Frauen keinerlei signifikante Differenzen. Bei den konkreten Anlässen der Stiftungsgründung spielt erwartungsgemäß vor allem das Alter eine wichtige Rolle (Tab. 3). Ältere sagten signifikant häufiger als Jüngere, dass sie ihren Nachlass ordnen wollten und keinen entsprechenden Erben hatten. Für Jüngere ist ein plötzlicher Vermögenszuwachs wichtiger als für Ältere. Diese Ergebnisse leuchten unmittelbar ein, weil sie die unterschiedliche Lebenssituation von Jüngeren und Älteren widerspiegeln. Tabelle 3: Anlässe für die Stiftungsgründung/Orientierungen Geschlecht SelbstverwirkErklärte Materia- KonservatiSoziales 1=Frau lichung Varianz in lismus vismus Engagement 2=Mann (Arbeit) Prozent Persönlicher Schicksalsschlag -.065 -.045 -.029 -.057 -.012 5.8 -.153 -.137 Plötzlicher Vermögenszuwachs -.031 -.025 -.032 -.062 -.013 6.0 -.163 -.159 Nachfolge des Unternehmens regeln -.021 -.047 -.027 -.003 -.073 -.014 1.9 -.105 Persönlichen Nachlass ordnen -.018 -.080 -010 -.006 -.078 7.8 .184 -.121 Kein (geeigneter) Erbe vorhanden -.039 -.090 -.037 -.077 -.004 5.4 .138 -.106 Neue Aufgabe gesucht nach dem Ende der aktiven Berufstätigkeit -.074 -.097 -.084 -.046 7.8 .173 -.126 -.149 Alter
Bildung
Zusammenhänge, die größer als .10 sind, sind in der Tabelle fett gedruckt. Datenquelle: Bertelsmann StifterStudie, eigene Berechnungen
Wesentlich für die Projektauswahl sind persönlichkeitsspezifische Orientierungen (Tab. 4). Vor allem die „Sozial Engagierten“ sowie diejenigen, die an einer „Selbstverwirklichung durch Arbeit“ orientiert sind, haben hier sehr klare Kriterien. Dies zeigt ihr großes Engagement an der Stiftungsarbeit, während dieses Engagement für die „Materialisten“ eher geringer ist. Das Engagement von „Sozial Engagierten“ und an „Selbstverwirklichung durch Arbeit“ Interessierten ist unterschiedlich. Die „Sozial Engagierten“ wollen politischgesellschaftlich etwas verändern und mit den Mitteln der Stiftung konkrete Not lindern. Die an „Selbstverwirklichung durch Arbeit“ Interessierten wollen demgegenüber zwar auch politisch-gesellschaftlich etwas verändern, aber vor allem Innovationen voran bringen. Dazu möchten sie persönlich beurteilen, was die Stiftung fördert und auch die Empfänger der Mittel persönlich kennen lernen. Die Orientierungen „Konservativismus“ und „Materialismus“ erklären vergleichsweise wenig die Kriterien für die Projektauswahl.
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Tabelle 4: Kriterien für die Projektauswahl Alter
Bildung
Geschlecht SelbstverErklärte Materia- KonservatiSoziales 1=Frau wirklichung Varianz in lismus vismus Engagement 2=Mann (Arbeit) Prozent
Ich will etwas politisch-gesellschaftlich verändern -.005
-.001
-.067
-.037
-.182
-.260
11.6
-.155
-.169
-.004
6.9
-.121
-.249
-.254
15.2
-.021
-.035
-.106
-.067
3.2
-.007
-.024
-.277
-.004
8.3
-.038
2.5
-.100
Ich möchte persönlich beurteilen, was die Stiftung fördert -.004
-.061
-.021
-.101
Mittel der Stiftung sollen konkrete Not lindern -.072
-.062
-.027
-.067
Ich will Empfänger der Mittel persönlich kennen -.014
-.091
-.036
Ich will Innovationen voranbringen -.174
-.024
-.039
Verwendung der Mittel muss betriebswirtschaftl. Ansprüchen genügen -.063
-.067
-.029
-.093
-.027
-.036
Zusammenhänge, die größer als .10 sind, sind in der Tabelle fett gedruckt. Datenquelle: Bertelsmann StifterStudie, eigene Berechnungen
6
Schlussbetrachtung
Das deutsche Stiftungswesen ist zwar noch eine Domäne der Männer, jedoch sind mittlerweile zunehmend auch Stifterinnen mit eigenen Stiftungen aktiv. Die Analyse zeigt, dass der Unterschied zwischen den männlichen und weiblichen Stiftenden nicht so gravierend ist wie angenommen. Frauen und Männer verfolgen ähnliche Ziele und ihre Motivationen zur Stiftungsgründung unterscheiden sich wenig. Die wichtigsten Motive für eine Stiftungsgründung sind der Wunsch, etwas bewegen zu wollen, Verantwortung gegenüber den Mitmenschen zu übernehmen sowie ein konkretes Problem bekämpfen zu wollen. Die Annahmen, dass Frauen häufiger für soziale Zwecke stiften als Männer, während diese wiederum häufiger als Frauen für Kunst und Kultur sowie Bildung und Erziehung stiften, konnten nur tendenziell bestätigt werden. Der Wunsch, gezielt Frauen fördern zu wollen, ist für Frauen wichtiger als für Männer, spielt aber insgesamt in der Liste der Gründe auch bei Stifterinnen nur eine untergeordnete Rolle. Frauen stiften häufiger als Männer für gemeinnützige Einrichtungen. Sie gründen Stiftungen auch häufiger im Umfeld ihrer Familie – als Fortführung einer Familientradition und vor allem, um das Andenken an eine nahe stehende Person zu wahren. Insgesamt ist aber der Einfluss des Geschlechtes auf Stiftungsgründung und Stiftungsaktivitäten gering. Persönlichkeitsspezifische Orientierungen erklären die Motive der Stiftungsgründung wesentlich besser. Hier sind insbesondere die grundlegenden Orientierungen „Soziales Engagement“ und „Selbstverwirklichung durch Arbeit“ von Bedeutung. Die Kriterien für die Auswahl von Projekten und Fördermittelempfängern sind besonders wichtig für diejenigen, die eine hohe Selbstverwirklichung durch ihre Stiftungsarbeit
Stifterinnen und Stifter im deutschen Stiftungswesen
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erzielen sowie für die Stiftenden, die zu den sozial Engagierten zählen. Konkrete Anlässe zur Errichtung einer Stiftung werden vorwiegend durch das Alter bestimmt. Unterschiedliche Lebenssituationen führen zu unterschiedlichen Anlässen der Errichtung einer Stiftung. So möchten ältere Personen z.B. ihren Nachlass ordnen oder haben keine geeigneten Erben und sehen ihr Vermögen in einer Stiftung sinnvoll aufgehoben. Jüngere hingegen stiften aufgrund eines plötzlichen Vermögenszuwachses. Wichtig festzuhalten ist die hohe Zufriedenheit, die stifterisches Engagement offensichtlich auszulösen vermag. Insbesondere Stifterinnen heben die Zufriedenheit, die die Stiftungsarbeit mit sich bringt, hervor. Die Chance, sich selbst zu verwirklichen und bestimmte Ziele eigenhändig umsetzen zu können, ist für sie besonders attraktiv. Deutlich wird dies auch bei der Gegenüberstellung von Erwartungen an die Stiftung und dem Grad der Erfüllung dieser Erwartung: Das Wissen, etwas Sinnvolles zu tun, gibt nahezu allen Stifterinnen und Stiftern Befriedigung. Noch besteht ein zahlenmäßiges Missverhältnis zwischen Stifterinnen und Stiftern. Gerade in Anbetracht niedrigerer ökonomischer Ressourcen haben Frauen im Stiftungswesen allerdings schon sehr viel geleistet. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass bis 2010 über 1000 Milliarden Euro an die nächste Generation vererbt werden, ist für Stiftungen insgesamt ein gewaltiges Potenzial zu erkennen. Es ist zu erwarten, dass in diesem Zuge auch Frauen vermehrt zu Stifterinnen werden und das noch ungleiche Verhältnis von Stifterinnen und Stiftern nivelliert wird. In Anbetracht der großen gesellschaftlichen Bedeutung von Stiftungen und der hohen Zufriedenheit mit ihrem Engagement bei den befragten Stifterinnen und Stiftern kann es in diesem Prozess nur Gewinner(innen) geben.
Das gesellschaftliche Engagement von vermögenden Personen Martina Kischel
1
Einleitung und Fragestellungen
In Deutschland gibt es 798.000 Millionäre (2006) (Capgemini und Merrill Lynch 2007); 122 Einzelpersonen oder Familien verfügen über ein Vermögen von mindestens einer Milliarde Euro (Manager Magazin Spezial 2007). Die reichsten 10 % der Bevölkerung besitzen annähernd 60 % und das oberste Prozent mehr als 20 % des gesamten Vermögens (vgl. Grabka und Frick 2007; vgl. auch SPD-Bundestagsfraktion 2007).1 Diese Zahlen machen die ambivalente Bedeutung von Reichtum deutlich: zum einen die Potenziale von Reichtum (bspw. als Handlungsmöglichkeiten, die mit Reichtum verbunden sind; siehe auch Grundmann in diesem Band), zum anderen eine starke Ungleichverteilung von Reichtum in der Bevölkerung. Die Folgen einer solchen Ungleichverteilung macht der dritte Armuts- und Reichtumsbericht in seiner bisherigen Kurzfassung deutlich: „Werden Unterschiede zwischen Arm und Reich als zu groß und schwer überwindbar wahrgenommen, kann dies die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft und der Demokratie in Frage stellen.“ (Bundesregierung 2008a: XV)
Reichtum findet nur dann gesellschaftliche Akzeptanz, wenn auch deutlich gemacht werden kann, welchen Anteil reiche und vermögende Personen am Gemeinwohl haben, z.B. indem sie Teile ihres privaten Reichtums für gesellschaftliche Zwecke zur Verfügung stellen und so gemeinwohlorientiert handeln. Allerdings, und das stellt der zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2005) fest, bestehen in Hinblick auf eine Reichtumsberichterstattung erhebliche Forschungsdefizite.2 Es fehlen ausreichend präzise Daten über den Reichtum in der Bevölkerung und damit auch über die genaue Verwendung dieser materiellen Ressourcen in und für die Gesellschaft. Als gesellschaftliches Engagement wird zunächst die Bereitstellung von finanziellen Mitteln in Form von Stiftungsgründungen und Spenden an gemeinnützige Organisationen bezeichnet, also für soziale und gesellschaftliche Zwecke. Dieses Engagement ist nicht auf materiellen Gewinn ausgerichtet3 und gemeinwohlorientiert4. 1 Forschungen über Reichtum zeigen zudem den starken Zusammenhang von Einkommen und Vermögen: „Das Vermögen ist in Deutschland weitaus stärker konzentriert als das verfügbare Einkommen. Dabei besteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen der Höhe des verfügbaren Einkommens und dem individuellen Netto-Vermögen.“ (Grabka und Frick 2007: 672) 2 Zum Abbau der Forschungsdefizite siehe auch SPD-Bundestagsfraktion (2007). 3 Sponsoringaktivitäten sind demnach ausgeschlossen, da sie auf einer Gegenleistung beruhen. 4 Hier wird der Begriff der „Gemeinwohlorientierung“ verwendet (vgl. dazu Strachwitz 2004; zur Diskussion des Begriffes Anheier und Then 2004; Münkler und Bluhm 2001; Münkler und Fischer 2002) und nicht der Begriff der Gemeinnützigkeit, da dieser dem rechtlichen Hintergrund entspricht, bspw. im Steuerrecht.
Das gesellschaftliche Engagement von vermögenden Personen
185
Deutsche geben jährlich schätzungsweise 16,6 Milliarden Euro für gemeinnützige Zwecke (Fundraising Akademie 2006: 2), wenn das Spendenvolumen, das Kirchensteueraufkommen, das Ausgabevolumen von Stiftungen und das Gründungs- und Zustiftungsvolumen betrachtet wird. Allerdings beruhen diese Angaben über das finanzielle Volumen privater Mittel der Bevölkerung für den öffentlichen Bereich auf Schätzwerten, denn bisher gibt es aufgrund mangelnder Transparenz (des Dritten Sektors) kaum verlässliche Daten. Als reich bzw. vermögend werden in Anlehnung an die Beratungsfirmen Merrill Lynch und Capgemini zunächst Personen bezeichnet, die über mindestens 1 Million USDollar verfügen. Als High Net Worth Individuals (HNWI) werden Privatanleger mit einem Finanzvermögen von mehr als 1 Million US-Dollar bezeichnet, wobei selbstbewohnte Immobilien und Verbrauchsgüter nicht einberechnet sind (vgl. Capgemini und Merrill Lynch 2007). Wer über 30 Millionen US-Dollar verfügt, gehört zu den Ultra-HNWIs (Ultra High Net Worth Individuals). Es handelt sich dabei um das „verfügbare Kapitalvermögen“ oder Eigenkapital, das einer Person zur Verfügung steht. Für die eigene Fragestellung ist die Einbeziehung und Abgrenzung der Befragungspersonen insofern notwendig, da das gesellschaftliche Engagement unmittelbar von den verfügbaren monetären Ressourcen abhängt.5 Allerdings verfügt die bisherige Forschung nicht über ausreichend empirische Daten, die Aussagen über hohe und sehr hohe Einkommen und Vermögen zulassen würden, da „die Datenlage über Reichtum, sei es Reichtum an Einkommen oder Reichtum an Vermögen, äußerst spärlich und sehr beschränkt“ (DIW 2003) ist. In der Konsequenz führt die mangelnde Datenlage dazu, dass es nicht möglich ist, Aussagen über das gesellschaftliche Engagement für die Teilgruppe der reichen bzw. vermögenden Personen zu machen. Aus diesem Grund enthält dieser Beitrag erste Überlegungen zu einem Forschungsprojekt, das am Forum für Vermögensforschung am Institut für Soziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität durchgeführt wird und das gesellschaftliche Engagement von reichen bzw. vermögenden6 Personen in Deutschland untersucht. Der Fokus liegt dabei nicht auf der Darstellung des Stiftungs- und Spendenwesens, sondern auf der individuellen Perspektive des Stifters bzw. Spenders. Um die Frage zu beantworten, wie sich vermögende Personen gesellschaftlich engagieren, wird einerseits das individuelle Engagement von Stiftern und Spendern dargestellt: der Umfang des finanziellen Engagements bei Stiftungsgründungen und Spenden und das mit dem Engagement verbundene persönliche bzw. zeitliche Engagement. Neben der Möglichkeit Geld zu spenden, um sich gemeinwohlorientiert zu engagieren, ist es auch möglich, Zeit zu „spenden“, sodass im Weiteren das individuelle Engagement in Form des bürgerschaftlichen bzw. freiwilligen Engagements dargestellt wird (vgl. Abschnitt 1).
5
Interview mit einem Steuerberater und Wirtschaftsprüfer. Aus Platzgründen muss hier auf die systematischen Ausführungen zum Reichtums- bzw. Vermögensbegriff verzichtet werden. Konzeptionell werden die Begriffe „Reichtum“ und „Vermögen“ unterschieden. Reichtum beschreibt lediglich individuelle ökonomische Ressourcen, Vermögen beschreibt sowohl ökonomische, kulturelle, soziale und zeitliche Ressourcen als auch den Umgang mit diesen Ressourcen: Vermögende Personen unterscheiden sich von (ausschließlich) reichen Personen dadurch, dass sie nicht nur „reich“ sind, sondern sich finanziell einbringen und sich darüber hinaus auch bei ihrem gesellschaftlichen Engagement selbst einbringen (persönlich + zeitlich) können. Der Unterschied zwischen Reichtum und Vermögen lässt sich folgendermaßen zuspitzen: Reiche haben Geld – Vermögende setzen ihr Geld und ihre eigenen Potenziale für das Gemeinwohl ein! Auf diese Weise wird eine eher ökonomisch ausgerichtete „Reichtumsforschung“ um soziale, kulturelle und zeitliche Aspekte erweitert. Aus diesem Grund wird im Folgenden nur von „vermögenden Personen“ gesprochen. 6
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Weitere Ausführungen dienen dazu, Befunde zu Wertvorstellungen und Motiven des gesellschaftlichen Engagements darzustellen und auf das gesellschaftliche Engagement von vermögenden Personen zu übertragen (Abschnitt 2). Im letzten Abschnitt (Abschnitt 3) werden die zentralen Argumente zusammenfassend dargestellt sowie offene Fragen und weiterer Forschungsbedarf formuliert.
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Individuelles gesellschaftliches Engagement
Um das individuelle gesellschaftliche Engagement darstellen, gilt es zunächst, das individuelle stifterische Handeln von Privatpersonen in den Blick zu nehmen. Auf diese Weise beantworten wir die Frage, welche privaten finanziellen Mittel in Stiftungen fließen. Die umfangreichste Befragung in diesem Bereich ist die StifterStudie der Bertelsmann Stiftung (Timmer 2005). Datengrundlage7 bildet eine schriftliche Befragung von Stiftern, die seit 1990 eine gemeinnützige Stiftung gegründet haben. Auswertungen zeigen, dass über drei Viertel der Stiftungen über ein relativ geringes Vermögen (Vermögen der Stiftung bis 500.000 Euro zum Zeitpunkt der Gründung) verfügen; aber fast ein Viertel (23 %) der Stifter stattet die Stiftung bei der Gründung mit mindestens 500.000 Euro bis über 2,5 Millionen Euro aus (Timmer 2005: 90). Allerdings bringen Stifter bei der Stiftungsgründung nicht sofort ihr gesamtes Vermögen ein: die meisten Stiftungen werden auf Zuwachs gegründet. Stifter beginnen mit einem kleineren Betrag, den sie später aufstocken; nur 11 % schließen eine Aufstockung aus (Timmer 2005: 90). Dass sich Stifter nicht nur finanziell engagieren, zeigen die Befunde zum persönlichen (bzw. zeitlichen) Engagement: Die meisten Stifter gründen heutzutage ihre Stiftung zu Lebzeiten: „… das Erstvermögen ist nur eine Initialzündung, die durch weitere Beiträge des Stifters oder erst mit seinem Testament zu einer großen Stiftung wird“ (Bundesverband Deutscher Stiftungen 2007: 175).
Damit nutzen Stifter häufiger8 die Möglichkeit, die Stiftung aktiv mitzugestalten und sich persönlich und zeitlich einzubringen. Nach Angaben des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen wurden fast 80 % der Stiftungen zu Lebzeiten der Stifterin oder des Stifters gegründet; von den seit 1990 ins Leben gerufenen Stiftungen sind es sogar 87 % (Bundesverband Deutscher Stiftungen 2007: 30). Ebenso zeigt sich ein starker Zusammenhang zwischen der Stiftungsgröße (Stiftungsvermögen) und dem Umfang des zeitlichen Engagements (vgl. Timmer 2005: 109). „Zeitlich engagieren sich diejenigen am stärksten, die am meisten investieren, nämlich die Gründer von Stiftungen mit einem Kapital von mehr als 2,5 Millionen Euro. Von dieser Ausnahme abgesehen kann man sagen: je kleiner das Vermögen, desto höher das zeitliche Engagement. Denn das 7 Es liegen Angaben von 576 Stiftungen vor, davon sind 488 selbstständige Stiftungen, 72 unselbstständige Stiftungen, 4 Stiftungs-GmbHs und eine Stiftung e.V., 11 Stiftungen haben zur Rechtsform keine Angabe gemacht. Ausgewählt wurden ausschließlich Stiftungen, die seit 1990 von einer natürlichen Person zu Lebzeiten gegründet wurden. Es wurden mindestens 50.000 Euro dauerhaft einem gemeinnützigen Zweck gewidmet. 8 Wenn das Verhältnis der Stiftungsgründungen „Stiftungen von Todes wegen“ zu „Stiftungen inter vivos“ betrachtet wird (vgl. Timmer 2005; Berechnungen basierend auf Zahlen des Bundesverbandes deutscher Stiftungen).
Das gesellschaftliche Engagement von vermögenden Personen
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zweitstärkste Engagement weisen die Stifter mit der geringsten Kapitalausstattung auf, danach nimmt das Engagement mit der Höhe des Stiftungsvermögens stetig ab, um bei den größten Stiftungen wieder plötzlich zuzunehmen.“ (Timmer 2005: 110)
Geringeres Kapital bzw. fehlende finanzielle Mittel können durch Zeitspenden ersetzt werden: „Eine Stiftung mit einem Vermögen von 50.000 Euro kann aus den Erträgen nicht wirklich etwas bewegen. Sie haben aber dennoch zwei Möglichkeiten: Entweder es arbeiten dort großartige Typen mit genialen Ideen. Dann fließen ihnen Spenden zu, hoffentlich nicht nur für Projekte, sondern auch, um das Stiftungsvermögen zu erhöhen.“ (Bundesverband Deutscher Stiftungen 2007: 175)
Allerdings zeigen die Ergebnisse auch das starke zeitliche Engagement bei Stiftungen über 2,5 Millionen Euro, also die Gleichzeitigkeit von finanziellem und persönlichem bzw. zeitlichem Engagement. Das Engagement besteht nicht nur aus der Gremienarbeit der Stiftung, sondern geht nach den Auswertungen der StifterStudie (Timmer 2005: 110) darüber hinaus, z.B. durch die aktive Suche nach Projekten oder Fördermittelempfängern; ein Teil der Stifter unterstützt die Projektarbeit aktiv oder betreibt Fundraising. In diesem Fall bringt der Stifter seine Zeit, seine eigenen Ideen, sein Wissen, seine Erfahrungen usw. ein. Handelt es sich bei Stiftern um vermögende Personen? Auswertungen der StifterStudie zeigen, dass 40 % der Befragten zum Zeitpunkt der Stiftungsgründung über ein Privatvermögen (liquide Mittel, Immobilien etc.) zwischen 250.000 und 2 Millionen Euro verfügen, 17 % verfügen über 2 Millionen bis 4 Millionen Euro, 22 % geben an, über mehr als 4 Millionen Euro zu verfügen (vgl. Timmer 2005: 52). Aussagen über den Zusammenhang von Privatvermögen der Person und der Höhe des Stiftungsvermögens lassen sich nicht machen. „Die Tatsache, dass gut ein Fünftel der Befragten ein Privatvermögen von weniger als 250.000 Euro hat, zeigt allerdings, dass Stiften heute nicht mehr ein Privileg der sehr reichen Bevölkerungsschichten ist.“ (Timmer 2005: 52)
Also: „Viele Vermögende stiften – aber nicht alle Stifter sind vermögend.“ (Timmer 2005: 14) Neuste Untersuchungen zeigen allerdings, dass mit der Höhe des Vermögens das gemeinwohlorientierte Engagement durch die Gründung einer Stiftung steigt (Bertelsmann Stiftung 2008).9 Neben der Möglichkeit über Stiftungen finanzielle Mittel (Stiftungsvermögen; Zustiftungen) gemeinwohlorientiert einzusetzen, besteht die Möglichkeit, über private Spenden10 finanzielle Mittel für gemeinnützige Zwecke zur Verfügung stellen. Daher wird das individuelle Spendenverhalten in den Blick genommen. 9 Befragung von „vermögenden Gebern“ in Großbritannien, der Schweiz und Deutschland (34 Personen mit einem Kapitalvermögen von 100 Millionen bis zu 2,5 Milliarden US-Dollar). Ab einem Vermögen über 250 Millionen US-Dollar wird zu 100 % gemeinwohlorientiertes Engagement durch die Gründung einer Stiftung realisiert. 10 Hier wird aus analytischen Gründen zunächst ein enger Spendenbegriff (Geldspende) zugrunde gelegt, im Gegensatz bspw. zum Maecenata Spendengutachten (Sprengel und Strachwitz 2006), dort wird im Anschluss an die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ (2002) ein weiter Spendenbegriff zugrunde gelegt: als Spenden werden Geld-, Sach- und Zeitspenden bezeichnet.
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Die Befunde zum Spendenverhalten zeigen allerdings ein ambivalentes Bild: Zum einen wird vereinzelt in der Öffentlichkeit über Millionenspenden im Kunst- und Kulturbereich oder für Universitäten berichtet (Haibach 2006). Zum anderen lag nach einer Pressemitteilung des Deutschen Spendenrats und der Gesellschaft für Konsumforschung (2007) im ersten Halbjahr 2007 der Durchschnittsbetrag einer Einzelspende bei 27 Euro. Auswertungen mit anderen Datenquellen kommen zu etwas höheren Werten: „Laut Deutschem Spendenmonitor lag die durchschnittliche Spendenhöhe von Mitte der Neunzigerjahre bis zum Jahr 2000 bei rund 80 Euro je SpenderIn, seitdem stieg sie auf eine Höhe von etwa 100 Euro an. 2005 lag sie sogar bei 108 Euro.“ (Haibach 2006: 162)
Auswertungen mit dem Freiwilligensurvey (2004) kommen auf 130 Euro pro Spender11 (vgl. Priller und Sommerfeld 2005) beziehungsweise auf eine durchschnittliche Spendenhöhe pro Kopf der Bevölkerung von maximal 64 Euro, je nach Berechnungsvariante (vgl. Haibach 2006: 162). Diese Befunde zur Spendenhöhe machen die Spannbreite der Spenden sehr deutlich. Dass diese Befunde so uneindeutig sind, ist insbesondere auf das Fehlen einer nationalen Spendendatenbank zurückzuführen (vgl. Priller o.J.). So existieren recht unterschiedliche Datenquellen zur Erfassung von Spenden und zum Spendenverhalten in Deutschland: die Laufende Wirtschaftsrechnung (LWR), die Spendenerfassung über die Steuerstatistik, der Freiwilligensurvey, der Emnid-Spendenmonitor, der Gfk-Charity*Scope und die Arbeitsgemeinschaft „Spenden in Deutschland“ (Priller o.J.; vgl. dazu auch Sprengel und Strachwitz 2006). In den Spendenstatistiken werden nur Durchschnittswerte für Spenden erhoben, zudem bergen die Angaben einen erheblichen Nachteil: „Die vorhandenen Angaben zum Spenden in Deutschland sind widersprüchlich und weisen erhebliche Lücken auf. Es fehlen noch immer gesicherte Aussagen zur Gesamtsumme der Spenden in Deutschland, zu ihrer Strukturierung nach Verwendungsbereichen, zu Veränderungen des Spendenverhaltens (…)“ (WZB 2005).
Das hat zur Folge, dass die Gesamtheit der Spenden in Deutschland nicht erhoben wird (im Gegensatz zu den USA, wo in dem Buch „Giving USA“ jährlich der finanzielle Umfang der „Philanthropie“ veröffentlicht wird; vgl. dazu Haibach 2006: 155), sodass auch über sehr hohe Spenden keine verlässlichen Aussagen getroffen werden können. Anhaltspunkte über „Großspenden“ stammen vor allem aus dem Bereich des Fundraising, also aus der Sicht der spendensammelnden Organisationen, die „Großspender“ betreuen: Die Definition einer Großspende hängt von der spendensammelnden Organisation ab, deren Jahresspendenhöhe und der Varianz in der Spendenhöhe. „Bei vielen Organisationen, deren Spendeneinnahmen in erster Linie auf vielen Kleinspenden beruhen, fängt die Einstufung als TopspenderIn ab einer Spendenhöhe von 200 bis 300 Euro pro Jahr an. Manchmal wird auch unterschieden zwischen High Donors, einem mittleren Segment, das zwischen 200 Euro und vielleicht 5.000 Euro spendet, und Major Donors, dem oberen Seg11
Die Spendenhöhe wurde in drei Kategorien abgefragt (1-100 Euro, 101-500 Euro, 501 Euro und mehr). Da die letzte Kategorie offen abgefragt wurde, musste sie durch Schätzwerte ersetzt werden. Wird die obere Kategorie durch den Spendenhöchstbetrag aus der Laufenden Wirtschaftsrechnung der amtlichen Statistik ersetzt (2003: 1.232 Euro), so wird eine durchschnittliche Spendenhöhe von 130 Euro pro Spender ermittelt.
Das gesellschaftliche Engagement von vermögenden Personen
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ment, dessen Spenden über 5.000 Euro pro Jahr liegen. Doch auch hier variieren die Beträge.“ (Haibach 2006: 317)
Einzelspenden können durchaus auch bei Beträgen über 100.000 Euro bis in Millionenhöhe liegen, beispielsweise im Hochschul- oder Kulturbereich (vgl. dazu Haibach 2006). Ein Wirtschaftsprüfer und Steuerberater berichtet in einem Interview von einer Spendenhöhe zwischen 10.000 und 100.000 Euro bei Privatpersonen.12 Besteht ein Zusammenhang zwischen der Spendenhöhe und den finanziellen Möglichkeiten einer Person? Priller und Sommerfeld (2005) stellen fest, dass Personen in Haushalten mit höherem Einkommen nicht nur häufiger spenden, sondern dass ihre Spende auch häufiger höher ist und der Anteil der Spenden am Einkommen bei den höchsten befragten Einkommensgruppen höher ist als bei den unteren Einkommensschichten. Eine Auswertung, wie hoch die höchsten Spenden im oberen Einkommensbereich waren, wurde mit den Daten allerdings nicht durchgeführt; Rückschlüsse auf die Gruppe der reichen bzw. vermögenden Personen können nicht gezogen werden. Grund für die mangelnde Datenlage scheint die „Tabuisierung von Reichtum“ zu sein: „Klagelieder über Finanzprobleme sind allgegenwärtig, doch kaum jemand redet darüber, dass er oder sie Vermögen besitzt, und auch über das Spendenverhalten reicher Menschen ist wenig bekannt.“ (Haibach 2006: 165)
Liegt es daran, dass Reichtum zur Privatsache erklärt wird? „Wer viel Geld gibt, «outet» sich als vermögend – und wer tut das schon gerne, wenn ringsum berechtigterweise über Geldmangel geklagt wird?“ (Bosch 2007: 27) Personen, die viel Geld spenden, möchten nicht öffentlich in Erscheinung treten, möchten teilweise selbst gar nicht als „Großspender“, „Mäzen“ oder „Philanthrop“ dargestellt werden und anonym bleiben.13 Zur Begründung, gesellschaftliches Engagement im Verborgenen zu betreiben, wird auch häufig die „Angst vor Neid“ angeführt. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Spenden und persönlichem bzw. zeitlichem Engagement? Davis und Etchart (2007) bezeichnen persönliches Engagement in Verbindung mit finanziellen Zuwendungen als „engagierte Philanthropie“. Personen bringen ihre Zeit, ihre beruflichen Erfahrungen, ihre Netzwerke usw. ein und sind damit nicht nur „Geldgeber“, sondern „aktive Spender und Stifter“, bspw. für die Beratung und Unterstützung in Managementfragen gemeinnütziger Organisationen. Bosch (2007) verweist auf die „social change philanthropy“, bei der Personen ihr Vermögen zielgerichtet und strategisch für gemeinnützige Zwecke einsetzen.14 Die Wirksamkeit einer Spende sei nicht nur an der 12
Ausschnitte aus einem Interview mit einem Wirtschaftsprüfer und Steuerberater in Nordrhein-Westfalen auf die Frage, was eine Großspende sei: „Es müsste zumindest eine fünfstellige Zahl sein. (…) Ab zehntausend würde ich mal sagen. (…) Zwischen 10.000 und 100.000. Darüber kann ich mich eigentlich nicht erinnern. (…) Bei Privatpersonen kommt das sehr selten vor. (…) Großspenden werden eher von Unternehmen getätigt. (…) Bei Privatpersonen da kann es schon mal sein, dass einer sich irgendeiner Organisation besonders verbunden fühlt oder einem sozialen Zweck und sagt gut, da geb ich jetzt mal einen außergewöhnlichen Betrag. Aber auch das ist eigentlich die Ausnahme.“ 13 Erfahrungen aus persönlichen Gesprächen mit Fundraisern. 14 Vgl. zum zielgerichteten Spenden auch Haibach (2006), bei der jeder Spender, ausgehend von seinen wichtigsten Werten, seinen ganz persönlichen Spendenplan erstellen soll (in Anlehnung an ein Arbeitsbuch aus den USA „Inspired Philanthrophy“ von Tracy Gary und Melissa Kohner, das als „Fortbildungsprogramm“ für Spenderinnen und Spendern dient).
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Größe der Summe zu bemessen, sondern „persönliches Engagement und gezielter finanzieller Einsatz“ (Bosch 2007: 24) seien oft wichtiger. Der Bedarf eines planvollen Vorgehens von Spendern als „soziale Investoren“ (Bertelsmann Stiftung 2008, Epkenhans 2008) wird zunehmend im Bereich der Beratung und Dienstleistung gesehen. Rosenbladt (2001: 59) sieht einen Zusammenhang zwischen Geld- und Zeitspenden: „Geld spenden und Zeit ‚spenden‘ können im Einzelfall alternative Formen von Gemeinsinn darstellen. In der Tendenz sind es aber dieselben Personen, die das eine und das andere tun.“ (A.a.O) Bürgerschaftliches bzw. freiwilliges Engagement ist somit eine Alternative zur Geldspende. Mit bürgerschaftlichem Engagement werden Tätigkeiten bezeichnet, die über eine aktive Teilnahme im Sinne von „Mitmachen“ in Vereinen usw. hinausgehen, es geht dabei um Aufgaben, Arbeiten und Funktionen, die die Befragten freiwillig und ehrenamtlich ausüben (vgl. Rosenbladt 2001: 43; Gensicke 2006: 10).15 Diese Form des gesellschaftlichen Engagements zeichnet sich dadurch aus, dass man „Zeit, Arbeit, teilweise auch Geld, Ideen, Emotionen“ (Rosenbladt 2001: 112) investiert, also sich vor allem sowohl persönlich als auch zeitlich engagiert.16 Allerdings liefern Daten der Freiwilligensurveys keine Anhaltspunkte zum bürgerschaftlichen Engagement vermögender Personen. Ostrower (1997, 2002) konnte für die USA zeigen, dass US-amerikanische Eliten vor allem prestigeträchtige Ämter und Funktionen übernehmen.
3
Gesellschaftliches Engagement: Wertvorstellungen, Motive, Erwartungen
Die bisherigen Überlegungen dienten vor allem dazu, das Forschungsfeld „gesellschaftliches Engagement“ darzustellen. Außerdem lieferten die Ausführungen Hinweise darauf, wie sich vermögende Personen engagieren (könnten). In diesem Abschnitt steht die Frage im Vordergrund, welche Faktoren dazu führen, dass sich vermögende Personen so engagieren wie sie es tun. Die Vermutung ist, dass Vermögende eine spezifische Form (bspw. Stiftungsgründung mit aktiver Rolle bei der Umsetzung) des Engagements wählen, weil sie nur auf diese Weise ihre Wertvorstellungen in die Praxis umsetzen können. Sowohl Ergebnisse zum bürgerschaftlichen Engagement als auch zum Stiftungswesen zeigen, dass mit gesellschaftlichem Engagement Wertvorstellungen verwirklicht werden: 15 Bürgerschaftliches Engagement ist freiwillig, nicht auf materiellen Gewinn ausgerichtet, gemeinwohlorientiert, öffentlich bzw. findet im öffentlichen Raum statt und wird in der Regel gemeinschaftlich bzw. kooperativ ausgeübt (Enquete-Kommission 2002). Empirische Erhebungen zum bürgerschaftlichen Engagement sind vor allem die Freiwilligensurveys von 1999 und 2001 (Rosenbladt 2001, Enquete-Kommission 2002, Gensicke 2006; Gensicke et al. 2006). 16 Folgende Engagementformen lassen sich unterscheiden: politisches Engagement, soziales Engagement (z.B. auch in der „Tafel“-Bewegung), Engagement in Vereinen, Verbänden und Kirchen (z.B. Vorstandstätigkeiten, Geschäftsführungs- und Leitungsfunktionen), Engagement in öffentlichen Funktionen (z.B. als Schöffe, ehrenamtlicher Richter usw.), Formen der Gegenseitigkeit (z.B. Nachbarschaftshilfen), Selbsthilfe, bürgerschaftliches Engagement in und von Unternehmen (vgl. Enquete-Kommission 2002: 64ff.). Aber auch „das Engagement von Stiftern und Mitgliedern von Kultur- und sonstigen Fördervereinen“, als philanthropisches Engagement bezeichnet, und das Engagement in Bürgergesellschaften, als „über den eigenen Kreis hinauswirkende Engagement von und in Gesellschaften organisierten Bürgern z.B. in Rotary oder Lionsclubs“ gehören zum bürgerschaftlichen Engagement (Enquete-Kommission 2002: 66, FN 10). Neben den Männergesellschaften (Rotary Club und Lions Club) gibt es auch von Frauen organisierte Gesellschaften wie Inner Wheel, Zonta International oder Soroptimisten.
Das gesellschaftliche Engagement von vermögenden Personen
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„Das Individuum will mit seiner freiwilligen Tätigkeit bestimmte wertgestützte Motive verwirklichen.“ (Gensicke 2000: 229-230) Auch Stifter wollen ihre Wertvorstellungen in gelebte Praxis umsetzen (Mohn 2007: 141; vgl. auch Adam 2001). Zunächst soll die Frage beantwortet werden, welche Werte17 dem jeweiligen Engagement zugrunde liegen. In Bezug auf bürgerschaftliches Engagement konnten Analysen mit Daten des „Speyerer Werte- und Engagementsurveys“ („Wertesurvey 1997“) zeigen, dass bürgerschaftliches Engagement als „individuelle Wertrealisierung und idealistische Investition“ (Gensicke 2000: 250) angesehen werden kann: Diese Vermutung wird durch das Vorhandensein einer Mischung aus idealistischen Motiven und Motiven der Selbstentfaltung bestätigt; es ist weniger als Bürgerpflicht zu sehen. Werden die Befragten gefragt, was es für sie bedeutet, sich freiwillig zu engagieren, zeigt sich eine einheitliche Motivstruktur in einigen wesentlichen Punkten: Eine hohe Bedeutung hat das „Spaßmotiv“ sowie das Motiv mit dem Engagement „anderen Menschen zu helfen“ (Gensicke 2000: 252). Durch eine Faktorenanalyse wurden vier Motivgruppen festgestellt: Hilfsbereitschaft und Gemeinwohl, persönliche Interessen, Bürgerpflicht und aktiv bleiben.18 Auswertungen mit dem Freiwilligensurvey kommen zu dem Ergebnis, dass Engagierte sich sowohl selbst entfalten als auch anderen helfen wollen: „Demnach sind Gemeinwohlorientierung und das Interesse an Selbstentfaltung keine einander widersprechenden, konkurrierenden Werte, sondern werden von den Engagierten miteinander verbunden und bilden ein gemeinsames Motivbündel für Engagement.“ (Enquete-Kommission 2002: 115)19
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Nach Klages (1985: 12) sind Werte das „Wertungs-, Bevorzugungs- und Motivationspotential“ im Menschen. Wertorientierungen werden als „individuelle Präferenzen“ des Menschen definiert, „nach denen Menschen in einem übergreifenden Lebenskontext ihre Wahrnehmungen und ihr Handeln ausrichten“ (Klages und Gensicke 2006: 333). Pflicht-, Akzeptanz- und Sicherheitswerte sowie Werte der Selbstentfaltung und des gesellschaftlichen Engagements erwiesen sich als vereinbar (die sogenannte „Wertesynthese“): „Wertorientierungen, die auf soziale Konvention, auf Sicherheit und Leistung zielten, erwiesen sich somit, empirisch gesehen, mit Wertorientierungen vereinbar, die auf individuelle Entfaltung und öffentliches Engagement gerichtet sind, und das auf einem beiderseits deutlich überdurchschnittlichen Niveau.“ (Klages und Gensicke 2006: 339) 18 Gensicke (2000: 254) unterscheidet folgende Muster der Engagementmotive: 1) Hilfsbereitschaft und Gemeinwohl: Anderen Menschen helfen, etwas Nützliches für das Gemeinwohl tun, praktische Nächstenliebe, mehr für den Zusammenhalt der Menschen tun (sich als Bürger selbst um etwas kümmern). 2) persönliche Interessen: Eigene Fähigkeiten und Kenntnisse einbringen, interessante Leute kennenlernen, eigene Interessen besser durchsetzen, interessanter leben (eigene Probleme besser lösen), (dass es Spaß macht). 3) Bürgerpflicht: Der Bürgerpflicht nachkommen, sich soziales Ansehen erwerben, Staat und Gemeinden helfen Geld zu sparen, (dringende Probleme in die eigene Hand nehmen), (eigene Probleme besser lösen), (sich als Bürger selbst um etwas kümmern). 4) aktiv bleiben: Sich aktiv halten, aus den eigenen Wänden herauskommen, sich neben Beruf und Freizeit mehr auslasten, seinem Leben mehr Sinn geben, (Dass es Spaß macht), (Interessanter zu leben). Gensicke (2000: 255) betont allerdings auch, dass sich nicht prüfen lässt, „ob die genannten Motive nur Wünsche darstellen und in welchem Maße diese Wünsche in der Realität des Engagements auch befriedigt werden.“ Vergleiche dazu die Auswertungen mit den Freiwilligensurveys, die zeigen, dass die Erwartungen an das Engagement auch befriedigt werden. 19 „Je mehr man freiwillig engagiert ist, um so wichtiger ist einem die Solidarität mit den Schwachen („sozial Benachteiligten und gesellschaftlichen Randgruppen helfen“), zugleich aber auch die eigene Entfaltungsmöglichkeit, und zwar nicht primär im Sinne von „Macht und Einfluss haben“, sondern im Sinne von „die eigene Phantasie und Kreativität entwickeln“ (Rosenbladt 2001: 60 ff.). Rosenbladt (2001) bezeichnet dieses „Bündel von Eigenschaften“, diese Wertorientierungen, als Gemeinsinn, als „Disposition zum sozialen Verhalten“, wobei die Wahrscheinlichkeit, dass Engagierte diese Orientierungen aufweisen, besonders hoch ist, aber nicht jeder Engagierte entspricht dieser „Idealvorstellung“.
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Auswertungen mit dem Freiwilligensurvey von 2004 ergeben, dass das Motiv „die Gesellschaft zumindest im Kleinen mitgestalten“ und „mit anderen Menschen zusammenkommen“ für die Befragten gleich wichtig ist (Gensicke 2006: 14), verbunden mit den Erwartungen, „dass die Tätigkeit Spaß macht“, „dass man damit anderen Menschen helfen kann“, „dass man etwas für das Gemeinwohl tun kann“ und „dass man mit sympathischen Menschen zusammenkommt“ (Gensicke u.a. 2006: 86). So gilt auch für Stifter, dass sie sich sowohl selbst verwirklichen als auch anderen helfen wollen: „Die Orientierungen ‚soziales Engagement‘ und ‚Selbstverwirklichung durch Arbeit‘ sind für die Motivation, eine Stiftung zu gründen, wesentlich.“ (Schulze und Meyer 2007: 221)20 Es lässt sich somit schlussfolgern, dass gesellschaftliches Engagement stark damit verbunden ist, sich selbst zu entfalten bzw. zu verwirklichen. Gesellschaftliches Engagement, und das gilt sowohl für das bürgerschaftliche Engagement und damit für „Zeitspenden“ als auch für Stiftungsgründungen und somit für „Geldspenden“, ist mit dem Motiv der Selbstentfaltung („Spaß“)/Selbstverwirklichung verbunden. Wobei unter „Spaß“ das „Erlebnis aktiven und erfolgreichen persönlichen Wirkens“ (Klages 2001: 8) zu verstehen ist. Gensicke u.a. konnten für freiwillige Tätigkeiten verschiedene Muster der Erwartungen an die freiwillige Tätigkeit herausarbeiten: es wird zwischen Gemeinwohlorientierung, Geselligkeitsorientierung und Interessenorientierung unterschieden (vgl. Gensicke u.a. 2006: 86ff.)21. Wobei vor allem bei Interessenorientierten das „Einbringen ihrer persönlichen Interessen bzw. die Erzielung eines persönlichen Nutzens“ (Gensicke u.a. 2006: 88) im Vordergrund steht, aber auch das Bedürfnis nach eigener Verantwortung. Bei einer Stiftungsgründung denken die an Selbstverwirklichung interessierten Personen „vor allem an sich selbst, sie wollen das Gefühl haben, etwas zu bewegen, wollen einen Imagegewinn für das eigene Unternehmen erzielen und Aktivitäten aus dem Berufsleben fortführen“ (Schulze und Meyer 2007: 222),
sie orientieren sich somit stark an eigenen Interessen.22 Sigmund (2001: 227) beschreibt Stifter als „kulturelle Unternehmer“, die ihren Reichtum durch ihre unternehmerische Tätigkeit durch eine Kombination aus Kreativität und Risikobereitschaft erwirtschaftet haben (vgl. dazu auch Landes 1999) und einen Teil ihrer Gewinne in Stiftungen geben und sich auf diese Weise altruistisch zu engagieren, also gemeinwohlorientiert sind. 20 Durch Faktorenanalyse ermittelte Faktoren für „Selbstverwirklichung durch Arbeit“ sind „Phantasie/Kreativität entwickeln“, „sich selbst verwirklichen“, „etwas im Beruf leisten“, „Fleiß und Ehrgeiz“, für „soziales demokratisches Engagement“ die Faktoren „sozial benachteiligten und gesellschaftlichen Randgruppen helfen“, „sich politisch engagieren“, „Tolerierung von Meinungen, denen man eigentlich nicht zustimmen kann“ (Schulze und Meyer 2007: 228, Anmerkung 4). 21 „Gemeinwohlorientierung bedeutet, Engagierte wollen mit ihrer Tätigkeit in besonderem Maße etwas für das Gemeinwohl sowie für andere Menschen tun. Geselligkeitsorientierung bedeutet, die Tätigkeit soll besonders den Kontakt zu sympathischen Menschen vermitteln sowie Spaß und Freude vermitteln. Interessenorientierung bedeutet, die Tätigkeiten sollten es bevorzugt ermöglichen, berechtigte eigene Interessen zu vertreten, eigene Probleme zu lösen sowie auch einen beruflichen Nutzen daraus zu ziehen.“ (Gensicke u.a. 2006: 87) 22 Während für die Sozialengagierten bei einer Stiftungsgründung die religiöse Überzeugung, Mitgefühl mit Notleidenden, Verantwortungsbewusstsein gegenüber anderen, aber auch die Stärkung der Rolle der Frau in der Gesellschaft, die Bekämpfung eines konkreten Problems, der Wunsch, der Gesellschaft etwas zurückzugeben und der Wunsch, etwas zu bewegen, bedeutsam sind (Schulze und Meyer 2007: 222). Sie orientieren sich somit eher an Gemeinschaftsinteressen.
Das gesellschaftliche Engagement von vermögenden Personen
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„All diese Stifter verbindet typischerweise die Kombination von bürgerlichem Unternehmertum, ausgeprägtem Individualismus und einem spezifischen Sendungsbewusstsein das sich zum einen in ihrer immer wieder hervorgehobenen altruistischen und philanthropischen Motivation manifestiert, ihren Besitz der Allgemeinheit zu Gute kommen zu lassen, indem sie Teile ihres Vermögens für gemeinnützige Zwecke zur Verfügung stellen.“ (Sigmund 2000: 344)
Auf diese Weise bringen sie ihre unternehmerischen Fähigkeiten in andere gesellschaftliche Bereiche ein und versuchen „in gesellschaftsreformerischer Absicht zwischen diesen Sphären zu vermitteln“ (Sigmund: 2000: 344). Durch eine Stiftungsgründung möchte der Stifter einerseits seine unternehmerischen Fähigkeiten in das stifterische Handeln einbringen, andererseits seine eigenen Werte, Anliegen und Ideen verwirklichen und vermitteln (Sigmund 2000: 344). Bei Stiftern scheint Selbstverwirklichung eher durch unternehmerische Aspekte oder berufliche Erfahrungen umgesetzt zu werden, während Selbstverwirklichung bei bürgerschaftlich Engagierten darauf ausgerichtet ist, dass das Engagement auch einen Nutzen für den Beruf hat und um eigene Problem zu lösen (vgl. Gensicke u.a. 2006: 86ff.). Die weitere Forschung muss zeigen, inwieweit es vermögenden Personen wichtig ist, sich selbst zu verwirklichen. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie sie diesen Wunsch nach Selbstverwirklichung umsetzen: durch Zeit, Ideen, berufliche Erfahrungen? Analysen zum bürgerschaftlichen Engagement stellen eine Pluralisierung und Individualisierung des Engagements fest, die auch Veränderungen der „Motive und der biografischen Muster der Engagierten“ (Enquete-Kommission 2002: 109ff.) bewirkt. So ist ein Wandel von pflichtbezogenen Motiven hin zu stärker selbstbezogenen Motiven für das Engagement festgestellt worden (Enquete-Kommission 2002: 115).23 Hintergrund dieses Motivwandels wird in einem umfassenden gesellschaftlichen Wandel gesehen, „bei dem Pflicht- und Akzeptanzwerte an Bedeutung verlieren und Selbstentfaltungswerte eine immer stärkere Rolle spielen“ (vgl. Klages und Gensicke 1998). Dieser festgestellte Strukturwandel bezieht sich darauf, dass es Veränderungen in den Formen des Engagements gegeben hat: freiwilliges bzw. bürgerschaftliches Engagement ist mehr als die Übernahme von Ehrenämtern.24 Bei diesem Engagement steht nicht mehr die Dienst- oder Pflichterfüllung im Vordergrund, dementsprechend treten „altruistische Begründungen und Orientierungen“ in den Hintergrund (Enquete-Kommission 2002: 115). Trotzdem bleibt das Motiv der „Bürgerpflicht“ ein Bestandteil der Motive. So lassen sich auch Engagementmotive unterscheiden, die eher als aufgabenbezogene Gesellschaftsgestaltung bezeichnet werden und Engagementmotive, die eher auf die gemeinschaftsbezogene Gesellschaftsgestaltung ausgerichtet sind (vgl. Gensicke u.a. 2006: 81ff.). Das erste Muster (aufgabenbezogen) verknüpft die Motive „Ich will durch mein Engagement die Gesellschaft zumindest im Kleinen gestalten“ und „Mein Engagement ist auch eine Form von politischem Engagement“, es gibt also
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„Im Zuge dieser Veränderungen treten altruistische Begründungen und Orientierungen einer Dienst- und Pflichterfüllung in den Hintergrund, während das Engagement zunehmend mit Erwartungen einer Bereicherung der eigenen Lebenserfahrung, einer Erweiterung der individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen sowie dem Wunsch einer Mitgestaltung des persönlichen Lebensumfeldes verbunden wird.“ (Enquete-Kommission 2002: 115) 24 Zur Begriffsgeschichte des bürgerschaftlichen Engagements, der freiwilligen Arbeit und des Ehrenamts siehe Anheier und Toepler (2003). Analysen der freiwilligen, ehrenamtlichen Tätigkeiten bzw. Auskünfte der Engagierten über die von ihnen übernommenen Arbeiten und Aufgaben und wie sie sich selbst bezeichnen wollen siehe Rosenbladt (2001), Gensicke u.a. (2006).
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ein Motivmuster, sich sozial gestaltend aber auch politisch zu engagieren, verbunden mit einer Verpflichtung: „Ein deutlicher Zusammenhang dieses gesellschaftspolitischen Grundverständnisses des freiwilligen Engagements besteht auch zum pflichtorientierten Verständnis des freiwilligen Engagements als einer ‚Aufgabe, die gemacht werden muss‘.“ (Gensicke u.a. 2006: 84)
Damit stellt sich die Frage, inwieweit vermögende Personen es als Pflicht sehen, sich gesellschaftlich zu engagieren und inwieweit diese Motive in Kontrast dazu stehen, die Gesellschaft verändern zu wollen.25 So konnte auch für Stifter gezeigt werden, dass vor allem das inhaltliche Anliegen im Vordergrund steht: „Stifter möchten etwas bewegen, ein bestimmtes Problem angehen oder eine Institution fördern und wählen dafür die Stiftung als Instrument. Der Zweck, das persönliche Anliegen ist von größer Bedeutung.“ (Timmer 2006: 261)
Hier liegt eine starke gesellschaftsgestaltende Orientierung zugrunde. Gerade die Gründung einer Stiftung ermöglicht es, dass „das Geld für sehr lange dem von mir gewählten Zweck zugute kommt“ (Timmer 2006: 261). Hier stehen vor allem die Langfristigkeit und Nachhaltigkeit und die Kontroll- und Einflussmöglichkeiten im Vordergrund, die durch die Rechtsform an sich verwirklicht werden können. Stiftungen seien dementsprechend ein „elitäres Instrumentarium“ und dienen als eine Art „Selbstermächtigung“ auf der „Suche nach Außergewöhnlichkeit“ oder dem „Gefühl, ein Stück Macht auszuüben“ (Schulze u.a. 2004: 155). Die Anerkennung gesellschaftlichen Engagements etabliert sich in Deutschland zunehmend: jährliche Auszeichnungen für bürgerschaftliches Engagement, für Projekte von Bürgerstiftungen oder für Stiftungen auf Stiftertagen. Aber wie wichtig ist die Anerkennung für den Engagierten selbst? Sigmund (2000; 2001) bezeichnet Stifter als Grenzgänger, die sich zwischen altruistischem Anspruch und symbolischer Anerkennung bewegen. Stifter haben primär das Interesse, symbolisches Kapital anzuhäufen und gesellschaftliche Anerkennung zu erfahren (im Sinne von Bourdieu ökonomisches Kapital in symbolisches Kapital umzuwandeln; vgl. Bourdieu 1983). Für das bürgerschaftliche Engagement konnte gezeigt werden, dass es vor allem für Interessenorientierte wichtig ist, Anerkennung zu finden. „Personen, die besonders am Gemeinwohl orientiert sind, kommt es dagegen auf die Anerkennung ihrer Tätigkeit deutlich weniger an“ (Gensicke u.a. 2006: 89). Sehr vermögende Personen scheinen sich allerdings eher im Hintergrund zu halten: „Gemeinwohlorientiertes Handeln wird zwar grundsätzlich positiv bewertet, kulturelle Traditionen und eine in manchen Ländern nicht zuletzt geführte Neiddebatte verhindern allerdings häufig eine umfassende Kommunikation und damit aktives Werben für die gute Tat.“ (Bertelsmann Stiftung 2008: 7)
25 Zum Zusammenhang von Einkommen und politischem und zivilgesellschaftlichem Engagement siehe Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung (2008b).
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Auch scheint es kaum Prominente zu geben, die als Vorbilder dienen: „… im deutschsprachigem Raum fehlt es allerdings bislang, abgesehen von wenigen Ausnahmen, an öffentlich bekannten und profilierten Persönlichkeiten, die durch ihr persönliches Engagement als Vorbild wirken“ (Haibach 2006: 417).
Reez und Ruzicka (2006) unterscheiden fünf verschiedene Personentypen, die nach verschiedenen „inneren Motiven des Gebens“ unterschieden werden: es gibt drei aktive, einen passiven und einen suchenden Personentyp. Während der „Macher-Typ“ (aktiv) vor allem gewohnt ist „selbst zu handeln, zu gestalten, Verantwortung zu übernehmen und Kontrolle auszuüben“ (Reez und Ruzicka 2006: 250) und ihm so aus Fundraisingsicht eher die Möglichkeit des Mitwirkens gegeben werden sollte (hier als Person also seine eigenen beruflichen Erfahrungen einbringen wird), will der „Wohltäter-Typ“ (aktiv) „wahrgenommen werden, sich präsentieren und positionieren“ (Reez und Ruzicka 2006: 250), und hat damit eher das Bedürfnis nach öffentlicher Anerkennung. Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass bürgerschaftlich Engagierte und Stifter ihre Wertvorstellungen in die Praxis umsetzen wollen. Gesellschaftliches Engagement ist vor allem im Feld von Gemeinwohlorientierung und Selbstverwirklichung anzusiedeln, wobei vor allem die Frage im Vordergrund steht, auf welche Weise Personen sich selbst verwirklichen. Aus dem Bereich des Fundraising ist bekannt, dass es folgende Inhalte gibt, für die Fundraising betrieben werden: Charity (Menschen in Notlagen helfen), Change (gesellschaftliche und politische Veränderungen bewirken) und Eigeninteresse (Haibach 2006: 421). Das entspricht auf der individuellen Ebene den Orientierungen „Hilfsbereitschaft und Gemeinwohl“, „eigene Interessen“ und „Pflicht“ (womit auch religiöse Aspekte einbezogen werden können) bzw. „Gesellschaftsgestaltung“. Zusätzlich müsste das Motiv „Kontaktmöglichkeiten“ aufgenommen werden, um den Geselligkeitsaspekt zu berücksichtigen sowie Aspekte der Anerkennung. Bisher unberücksichtigt blieb die Frage, welchen Einfluss der Erwerb des Reichtums auf die Art des Engagements hat. Gibt es Unterschiede zwischen Personen, deren Reichtum über Generationen weitergegeben wurde (und spielen dann familiäre Traditionen des Engagements eine Rolle), ob das Geld geerbt wurde oder selbst erarbeitet wurde? In einer Studie über hochvermögende Personen wird zwischen „Neuen Gebern“ bzw. „New Philanthropists“ und denjenigen unterschieden, „die auf institutionelle Stiftungen und auf langjährige Erfahrungen zurückgreifen“ (Bertelsmann Stiftung 2008: 7). „Die ersten setzen oftmals zu einem frühen Lebenszeitpunkt Teile ihres Vermögens ein, das sie nicht selten in relativ kurzer Zeit erworben haben. (…) Andere Geber können auf bereits vorhandene Strukturen zurückgreifen. Sie nutzen die familiären Erfahrungen, um ihre eigenen philanthropischen Interessen zu verfolgen.“ (Bertelsmann Stiftung 2008: 7)
Damit stellt sich die Frage, welchen Einfluss der berufliche Erfolg oder Familientraditionen auf die Art des Engagements haben. Der Grund, sich gesellschaftlich zu engagieren, kann von unterschiedlichen Motiven beeinflusst sein, so können auch Erlebnisse in der Lebensgeschichte Anlass oder Auslöser für das Engagement sein. 82 % der Stifter gaben an, dass die Gründung ihrer Stiftung einen konkreten Anlass hatte (Timmer 2005: 35ff.). Wird die individuelle Perspektive der vermögenden Personen analysiert, muss ebenso berücksichtigt werden, dass auch bestimmte Le-
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benssituationen oder äußere Einflüsse (Tod eines nahen Menschen, Ende der Berufstätigkeit usw.) ein Motiv sein können, sich gesellschaftlich zu engagieren. Aus diesem Grund wird das gesellschaftliche Engagement auch als eine biografische Entscheidung angesehen; Untersuchungen sind auf die individuelle Perspektive des Engagements gerichtet.
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Zusammenfassung
Diesem Beitrag liegt die Frage zugrunde, welchen Anteil reiche bzw. vermögende Personen am Gemeinwohl haben. Ausgehend vom gesellschaftlichen Engagement durch Stiftungsgründungen und Spenden werden Befunde über die privaten finanziellen Mittel, die auf diese Weise dem Gemeinwohl zugute kommen, dargestellt. Dabei zeigt sich, dass finanzielles Engagement auch mit zeitlichem und persönlichem Engagement verbunden ist. Auf diese Weise wird der Gegenstandsbereich des gesellschaftlichen Engagements von vermögenden Personen systematisiert. Um die Frage zu beantworten, welche Handlungsorientierungen dem Engagement zugrunde liegen, wurden Wertorientierungen, Motive und Erwartung dargestellt. Dabei konnte herausgearbeitet werden, dass Gemeinwohlorientierung und Selbstverwirklichung nicht im Widerspruch zu einander stehen. Um im Weiteren die Frage beantworten zu können, warum sich vermögende Personen für die Gesellschaft engagieren, müssen ihre individuellen „Gründe“ für das Engagement herausgearbeitet werden. Damit steht die Frage im Vordergrund, wie vermögende Personen ihr eigenes Engagement reflektieren. Wie aus den bisherigen Ausführungen schon deutlich geworden ist, hängen dabei Wertorientierungen, Motive und Erwartungen eng zusammen. Hacket und Mutz (2002) unterscheiden zwischen den Erwartungen an das Engagement und handlungsleitenden Motiven. „Erwartungen bilden sich in der Regel erst dann, wenn das Interesse bereits geweckt ist und Motive bereits entstanden sind. Motive sind gleichsam tiefer liegende Sinnstrukturen des Antriebs, und aufgesetzt darauf bilden sich explizierbare Erwartungen.“ (Hacket und Mutz 2002: 43)
Motive sind demnach implizite Muster (die nicht bewusst verfügbar sind) der Handlungsorientierung, die den Sinn des gesellschaftlichen Engagements erschließen, und damit auf die Bedeutung und die Relevanz des Engagements der vermögenden Personen verweisen. Darauf aufbauend bilden sich die Erwartungen, die mit dem Engagement verbunden sind. Es sind die bewusst verfügbaren Annahmen darüber, weshalb man sich engagiert, also das im Bewusstsein festsitzende Selbstbild (Hacket und Mutz 2002: 44). Auch bei Werten handelt es sich um die „allgemeinsten Grundprinzipien der Handlungsorientierung und der Ausführung bestimmter Handlungen“ (Korte und Schäfers 2008: 37), allerdings sind sie nicht verhaltenswirksam, sondern dienen als ideeller Maßstab der Orientierung:26 „Werte sind Vorstellungen vom Wünschenswerten, kulturelle und religiöse, ethische und soziale Leitbilder, die die gegebene Handlungssituation sowohl steuern als auch transzendieren.“ (Korte und Schäfers 2008: 37) 26 Vgl. zur Entstehung der Werte Joas (1997). Normen und Werte werden als „das Gute“ und „das Rechte“ bezeichnet.
Das gesellschaftliche Engagement von vermögenden Personen
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Weiterer Forschungsbedarf bezieht sich insbesondere auf die Erhebung der Handlungsorientierung vermögender Personen in Bezug auf ihr gesellschaftliches Engagement. Um die Frage zu beantworten, warum sich vermögende Personen für die Gesellschaft engagieren, müssen demnach Antworten auf folgende Fragen gefunden werden:
Wie sehen sich Vermögende selbst? (Selbstbild/Erwartungen) Welche Bedeutung hat das Engagement für die Vermögenden? Welche gesellschaftliche Relevanz liegt dem Engagement zugrunde? Welchen Sinn verbinden sie mit dem Engagement? (implizite Muster/Motive) Welche ideellen Wertmaßstäbe bzw. Leitbilder liegen dem Engagement zugrunde? (Werte)
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Handlungsvermögen und Wohlfahrtsproduktion – Was leisten Vermögende für die gesellschaftliche Wohlfahrt? Handlungsvermögen und Wohlfahrtsproduktion
Matthias Grundmann
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Einleitung
Die Frage nach den wohlfahrtsstaatlichen Leistungen der Vermögenden wird zunehmend virulent. Nicht zuletzt die zunehmende wirtschaftliche Spaltung der Bevölkerung in Arm und Reich lässt Zweifel an der Wohlfahrtsstaatsorientierung Vermögender aufkommen. Diese werden u.a. durch die Einkommens- und Ressourcenverteilung der Bevölkerung und die exorbitant ungleichen Gewinn- und Gehaltszuwächse geschürt, die seit etwa zwei Dekaden zu beobachten sind (Andreß und Kronauer 2006: 44). Sie zeigen nämlich, dass sich die Einkommensschere immer weiter spreizt (Andreß und Kronauer 2006) und gleichzeitig die finanziellen Zuflüsse der Vermögenden in die „Sozialkasse“ abnehmen bzw. von jeher vor allem von den Arbeitnehmern getragen werden (Lessenich 2005: 46). Diese Entwicklung kann jedoch nicht den Vermögenden selbst angelastet werden. Sie hat ihre Wurzeln in einem fürsorglichen Sozialstaatsverständnis, dass die Last der sozialen Fürsorge dem politischen Gemeinwesen zuweist. Sie ist demnach politischer Natur. Dass sich das politisch verordnete Wohlfahrtsstaatsmodell in Zeiten globalen Wirtschaftens und politischen Handelns nicht mehr aufrechterhalten lässt, zeigt die Dauerkrise des Sozialstaats ebenso unverkennbar wie die Suche nach neuen Modellen, vor allem solchen, die Bürgerinnen und Bürger wieder aktiv in die Pflicht nehmen will. Der so genannte „aktivierende Sozialstaat“ setzt auf Ko-Investition seiner Bürger (Priddat 2003; Lamping u.a. 2002). Damit wird der Sozialstaat, mithin das politische Verständnis der Wohlfahrtsproduktion, durch Verweis auf die zentrale Mitverantwortung aller Bürgerinnen und Bürger für die politische Verfassung des Staates, hier vor allem die Demokratie, legitimiert. Erst die Demokratie nämlich ermöglicht den freiheitlichen Zusammenhalt der Gesellschaft und garantiert den Bürgerinnen und Bürgern weit reichende Verwirklichungs- und Entfaltungspotentiale (Sen 1995; dt. 2002). Was aber folgt aus diesem Wohlfahrtsstaatsmodell für die Vermögensforschung? Zunächst stellt sich die Frage, welchen Beitrag Vermögende für die Sicherung und Aufrechterhaltung eines Wohlfahrtsstaats leisten, der auf die Mitwirkung seiner Bürgerinnen und Bürger angewiesen ist und sich über die politische Teilhabe legitimiert (Lessenich 2003). Zudem ist herauszuarbeiten, welche Handlungsbefähigungen mit einem solchen Wohlfahrtsstaatsmodell verbunden sind. Des Weiteren ist zu spezifizieren, ob und auf welche Weise das potenzielle Handlungsvermögen, dass Reiche besitzen, auch tatsächlich mit den Handlungsbefähigungen korrespondieren, die sich aus dem Modell des aktivierenden Wohlfahrtsstaats herleiten lassen. Schließlich ist herauszuarbeiten, ob und wie sich Vermögende wohlfahrtsstaatlich engagieren und ob es in der Gruppe der Vermögenden womöglich jene gibt, die ihrer gesellschaftspolitischen Aufgabe gerecht werden und solche, die sich ihrer Verantwortung entziehen.
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Um diese Frage zu beantworten, werden zunächst die gesellschaftspolitischen Implikationen angesprochen, die sich aus dem Modell des aktivierenden und demokratischen Wohlfahrtsstaats für die Vermögenskulturforschung ergeben. Im Anschluss daran werden die mit den Wohlfahrtsstaatsmodellen unterstellten Handlungsbefähigungen der aktiven Bürgerinnen und Bürger skizziert und mit dem potenziellen Handlungsvermögen der Reichen verbunden. Auf diese Weise wird auch die gesellschaftspolitische Bedeutung der Reichen und Vermögenden sichtbar. Anhand vorliegender empirischer Befunde über das gesellschaftliche Engagement Vermögender wird schließlich skizziert, ob und in welchem Umfang Reiche ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung nachkommen.
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Wohlfahrtsstaat und gesellschaftliche Teilhabe Vermögender
Stephan Lessenich hat unlängst für einen demokratischen Sozialstaat plädiert (Lessenich 2005). Denkt man den Sozialstaat von der demokratischen Idee her, lässt er sich, so Lessenich: „als Ausdruck und Garant der wechselseitigen Anerkennung und gegenseitigen Solidarität einander verpflichtender, politisch gleicher und sozialpolitisch gleichberechtigter Bürgerinnen und Bürger“ charakterisieren und legitimieren (Lessenich 2005: 46). Die Vorstellungen Lessenichs schließen an die Analysen und Überlegungen des Wohlfahrtsökonomen und Friedensnobelpreisträgers Amartya Sen (1995) an, der herausgearbeitet hat, wie sehr die Idee der Demokratie an den Verwirklichungschancen der Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft gebunden ist. Diese Verwirklichungschancen, die sich vor allem an den Möglichkeiten der gesellschaftlichen, mithin politischen und ökonomischen Teilhabe messen lassen, hängen auch davon ab, wie sehr sich Reiche und Vermögende dem Staat, in dem sie leben, verpflichtet fühlen und zur Wohlfahrtssicherung beitragen. Darauf verweist auch Lessenich, dem zufolge der moderne Sozialstaat nur dann eine Zukunft hat, wenn er auf einer demokratischen Sozialordnung aufbaut, die durch den politischen Willen und die intellektuelle Anstrengung gerade auch derjenigen Bevölkerungsgruppen gestützt wird, die nicht auf Sozialleistungen angewiesen sind. Es fragt sich allerdings, ob die Reichen und Vermögenden diesen Willen und die notwendigen Handlungsbefähigungen besitzen, die für die Förderung des Gemeinwohls notwendig sind. Zunächst kann angenommen werden, dass gerade Reiche aufgrund ihrer Ressourcenausstattung besonders befähigt sind, zur Sicherung des demokratischen Gemeinwesens beizutragen, in dem sie sich entsprechend stark für die Wohlfahrtsproduktion engagieren. Daher folgert Sen, dass den Vermögenden eine besondere politische Verantwortung zukommt, weil sie in der Lage sind, die suboptimalen Verwirklichungschancen, die in einer Gesellschaft gegeben sind, aufzudecken und nach Wegen zu suchen, diese zu verbessern (Sen 1995: 335f). Diesbezüglich spricht er nicht nur die Verantwortung der Reichen an, sondern all Jener, die Entscheidungen treffen und deren Aufgabe es ist, auch die „Bedeutung gemeinsames Menschseins gebührend zu berücksichtigen“ (Sen 1995: 336). Damit verweist er zudem auf die sozialen Aspekte, die dem Kapitalismus und der Demokratie als Basis einer auf Freiheit basierenden Sozialordnung zugrunde liegen. Kurzum: Der verantwortliche Umgang mit ökonomischen, kulturellen und sozialen sowie persönlichen Ressourcen trägt zur Stärkung einer gerechten Ökonomie bei, die sich in den gesellschaftlichen Teilhabechancen nicht nur der Reichen und Vermögenden, sondern aller Bürgerinnen und Bürger eines Gemeinwesens äußern (Otto und Ziegler 2008).
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Unter dem Gesichtspunkt der Wohlfahrtsproduktion relativiert sich dann auch das Problem ungleich verteilter Ressourcen (Rawls 1971; Nussbaum 1999, 2006), weil sich Reichtum durch die Wohlfahrtsorientierung Vermögender nicht mehr einfach als egoistische Ansammlung von Ressourcen definieren lässt, die der Gesellschaft entzogen werden, sondern als eine Anhäufung von Ressourcen, die in die Gesellschaft zurück fließen. Dieser Rückfluss von Kapitalien ermöglicht und sichert erst die Teilhabechancen, die ein demokratisches Gemeinwesen auszeichnen (Sen 1992). Damit ist zugleich ein universalistischmoralischer Anspruch verbunden, auf den demokratisch verfasste Gesellschaften aufbauen und die sich, grob gesagt, an der Orientierung an den Menschenrechten äußert. Vermögen wird demnach auch durch die moralische Haltung und die Handlungsbefähigungen begründet, die Personen zur Verfügung stehen, um „ein tugendhaftes“ Leben zu führen, also ein Leben, das sich an den eigentümlichen dispositionalen Anlagen der Lebensführung orientiert, gleichwohl aber offen lässt, was für den Einzelnen als gutes Leben gilt. Diese moralische Bestimmung gesellschaftlicher Teilhabechancen findet sich auch im aktuellen Diskurs über die Transformation des Wohlfahrtsstaats (Opielka 2006) und in Gerechtigkeitsdiskursen, die hinsichtlich des Verwirklichungsansatzes eben auch in Rechnung stellen, dass die Bewertung des guten Lebens relativ, vor allem kultur- und milieuabhängig ist (Nussbaum 1999). Ausgehend von den Überlegungen Sen’s und Lessenich’s kann zunächst konstatiert werden, dass Reichen eine enorme politische Bedeutung für den Erhalt demokratischer Sozialordnungen – und damit auch zur Sicherung des Wohlfahrtsstaates – zukommt. Wie aber können die Reichen ihrer politischen Verantwortung gerecht werden, wenn Reichtum dadurch angehäuft wird, dass Ressourcen (Unternehmensgewinne) nicht in den Erhalt der reproduktiven Sozialleistungen – hier vor allem in den Erhalt von Unternehmen und der Arbeitskräfte – sondern in die eigene Tasche fließen? Wie können also Reiche selbst der gesellschaftlichen Spaltung in Arm und Reich entgegenwirken, die sich zurzeit vollzieht? Wie kommen sie ihrer Verantwortung für den Sozialstaat nach? Was heißt in diesem Zusammenhang eigentlich aktivierender Sozialstaat für die Reichen? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich zunächst versuchen, die Gruppe der Reichen und Vermögenden genauer zu spezifizieren und zwar in Hinblick auf ihr potenzielles gesellschaftliches Handlungsvermögen.
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Handlungsvermögen und politische Verantwortung
In der Alltagssprache werden Reichtum und Vermögen oft synonym gebraucht. Dabei wird jedoch übersehen, dass sich Reiche sehr wohl auch nach ihrem Handlungsvermögen unterscheiden. Das wird deutlich, wenn Reichtum und Vermögen differenzierter betrachtet werden. Der Begriff des Vermögens zielt zunächst auf unterschiedliche Aspekte des Reichtums. Mit ihm wird zum einen die Quantität an ökonomischen Ressourcen erfasst. In diesem Sinne sprechen wir von Reichtum. Mit dem Begriff des Vermögens wird zum anderen auch ein Reichtum an Handlungsvermögen umschrieben. Diese lässt sich, dem Wort gemäß, darüber konkretisieren, was eine Person zu tun vermag. Das wiederum ist nicht nur von den verfügbaren ökonomischen Ressourcen, sondern in hohem Maße auch von kulturellen und sozialen Kapitalien (Bourdieu 1982, 1983) abhängig. Mehr noch: Selbst diese
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Kapitalien sind an persönliche Befähigungen gebunden, die es mitunter erst ermöglichen, die Kapitalien aufeinander zu beziehen und das Handlungsvermögen, das ihnen innewohnt, auch zu verwirklichen. Der zugrunde liegende Vermögensbegriff ist also mehrdimensional, wobei jedoch dem ökonomischen Kapital (also dem rein monetären Reichtum) eine besondere Bedeutung zukommt. Es eröffnet nämlich in besonderem Maße Handlungsspielräume und Verwirklichungschancen, die sich zunächst allein darüber ergeben, dass man mit Geld fast alles kaufen kann. Konkreter: Wenn hinreichend ökonomische Ressourcen zur Verfügung stehen, lassen sich auch politische Ideen – wie z.B. die Idee des Wohlfahrtsstaates oder der Demokratie – besser realisieren. Zudem lässt sich z.B. soziales und kulturelles Handlungswissen (z.B. über den Nutzen eines demokratischen Gemeinwesens für die Wohlfahrt) leichter gesellschaftlich umsetzen. Demgegenüber können solche Ideen und ein spezifisches Handlungswissen verpuffen, wenn Personen zwar über bestimmte Befähigungen, soziale Netzwerke oder kulturelle Ressourcen verfügen, diese jedoch nicht umgesetzt werden können, weil die ökonomischen Ressourcen dazu fehlen. Wenn man diese differenzierte Betrachtung von Reichtum und Vermögen zugrunde legt, lassen sich idealtypische „Vermögenspotentiale“ in der Bevölkerung bestimmen (siehe Abbildung 1). Abbildung 1:
Vermögenspotentiale und Verwirklichungschancen
Ressourcen/ Verwirklichungschancen Hoch Mittel Niedrig nicht vorhanden
Ökonomisch
Kulturell
Sozial
Persönlich
+ + -
+ + -
+ + -
+ + -
+ bedeutet: Verfügbarkeit über Ressourcen, - bedeutet: mangelnde Ressourcen
Dieser Typologie zufolge ist Vermögen durch die Verfügbarkeit materieller und immaterieller Handlungsressourcen bestimmbar, die einer Person zur Verfügung stehen, um sich selbst zu verwirklichen bzw. sich für die gesellschaftliche Wohlfahrt einzusetzen (was sich keineswegs widerspricht). Bezogen auf die differenzierte Betrachtung von Reichtum und Vermögen lassen sich so auch Reiche von Vermögenden unterscheiden. So zeichnen sich die Vermögenden durch hohe Verwirklichungschancen aus, die sich aus der Verfügbarkeit ökonomischer, kultureller, sozialer und persönlicher Handlungsressourcen speisen. Im Falle der zwar nicht Reichen aber dennoch Vermögenden (z.B. Politiker, Kulturschaffende), wie sie oben beschrieben wurden, sind die Verwirklichungschancen allein hinsichtlich der Realisierungschancen aufgrund fehlender ökonomischer Ressourcen eingeschränkt. Dahingehend verfügen Reiche, die nur über Geld verfügen, über ein eher niedriges Handlungsvermögen und damit eingeschränkte Verwirklichungschancen. Folgt man einer solchen Typologie, lässt sich die These vertreten, dass sich Vermögende von den „einfachen Reichen“ dadurch unterscheiden, dass sie eben nicht nur über ökonomische, sondern auch über soziale und kulturelle Ressourcen und schließlich auch über spezifische persönliche Handlungsbefähigungen (Wissen, Fertigkeiten) verfügen. Hier setzt der Begriff des Handlungsvermögens an1: Der verantwortungsvolle Umgang mit 1 Der Beitrag, den Bevölkerungsgruppen oder einzelne Menschen zur Wohlfahrtsproduktion leisten, wird seit einigen Jahren mit dem Begriff des Humanvermögens umschrieben (vgl. dazu Kaufmann 2002). Mit Humanver-
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Vermögen erfordert Kompetenzen und Tugenden, die nicht allein über ökonomische Kapitalien definierbar sind. Die Erfahrungen und Kompetenzen der Menschen – gerade auch derjenigen, die Vermögen erworben haben und verwalten – haben durchaus einen lebenspraktischen Sinn. Handlungsvermögen äußert sich dann auch darin, wie Vermögend-Sein kultiviert wird. Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von Vermögenskultur (siehe auch Druyen in diesem Band). Dieses äußert sich darin, wie Vermögende ihre ökonomischen Ressourcen gesellschaftlich einsetzen. Weil das eben auch persönliche Kompetenzen erfordert, sind für die hier in Frage stehenden Zusammenhänge von Handlungsvermögen und Wohlfahrtsstaatsproduktion auch die spezifischen Handlungsbefähigungen und Wertorientierungen in den Blick zu nehmen, die dazu beitragen, dass Handlungsressourcen nicht nur für die individuelle, sondern auch für die gesellschaftliche Wohlfahrt eingesetzt werden. Diese lassen sich mit dem Begriff des Vitalvermögens (Handlungswissen, Bildung, soziomoralische Kompetenzen) und des Arbeitsvermögens (z.B. Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Handlungskontrolle) konkretisieren. Eine solche differenzierte Betrachtung von Reichtum und Vermögen erlaubt es nun, jene Prozesse detaillierter zu beschreiben, über die materieller Reichtum in immateriellen Reichtum transformiert wird. Konkreter: wir können analysieren, auf welche Ressourcen jene Reichen zurückgreifen, die sich gesellschaftlich engagieren und damit ihr gesellschaftspolitisches Handlungsvermögen unter Beweis stellen. So können wir etwa die Annahme formulieren, dass es vielen Reichen entweder an dem nötigen Handlungsvermögen (z.B. Bildung oder Persönlichkeitseigenschaften) fehlt, das für eine gemeinwohlorientierte Verwendung ihres Geldes notwendig ist oder aber am politischen Willen mangelt, ihr Geld z.B. mittels „Berater“ entsprechend einzusetzen. Des Weiteren können wir annehmen, dass vitales Vermögen und Arbeitsvermögen allein nicht ausreicht, um einen nachhaltigen Beitrag zur Wohlfahrtsproduktion zu erzielen. So besitzen z.B. Akademiker mitunter ein hohes soziales und kulturelles Kapital. Ihnen fehlt jedoch das nötige ökonomische Kapital, um ihre Ziele nachhaltig umzusetzen. Die Beispiele verdeutlichen, dass sich Vermögend-Sein eben auch darin zeigt, wie ökonomische, kulturelle, soziale und persönliche Ressourcen aufeinander bezogen werden und dadurch Reichtum, Vitalvermögen und Arbeitsvermögen für die Wohlfahrtsproduktion eingesetzt werden können.
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Die gesellschaftliche Bedeutung von Vermögenden
Die Herleitung von Handlungsvermögen über eine differenzierte Betrachtung von Vermögensarten korrespondiert mit der eingangs skizzierten Idee einer „Teilhabegesellschaft“ (Grözinger, Maschke und Offe 2007), die dem Modell des aktivierenden Sozialstaats zugrunde liegt. Diesem Modell zufolge lässt sich Wohlfahrtsproduktion als Arrangement staatlichen, marktlichen, verbandlichen und privaten Handelns fassen (Kaufmann 2003: 42), eine Lesart, die auch für das Verhältnis von Vermögen und Wohlfahrt bedeutsam ist. Denn aus ihm leitet sich ab, wie Vermögensformen in Ermöglichungsformen transformiert mögen sind im Allgemeinen jene Ressourcen angesprochen, die einer Gesellschaft zur Wohlfahrtsproduktion zur Verfügung stehen. Das Konzept des Handlungsvermögens schließt an diese Überlegungen an, fokussiert dabei aber auf die Handlungsressourcen einzelner Personen. In diesem Sinne ist es anschlussfähig an die Agencyforschung, die auch für Sens Verwirklichungsansatz fruchtbar gemacht werden kann (Grundmann 2008).
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werden können: Durch die Stärkung des Stiftungswesens, die Anerkennung privater und verbandlicher Wohlfahrtspflege, die Investitionen in den Dritten Sektor und durch die Stärkung von Nichtregierungsorganisationen als sozialpolitische Akteure. Diese Vorstellungen sind durchaus anschlussfähig an Sens Modell der Wohlfahrtsökonomie und sein Modell der Teilhabegerechtigkeit. Die zentrale politische Bedeutung der Wohlfahrtsökonomie besteht demnach nämlich nicht mehr lediglich darin, die Bedürfnisbefriedigung zum Gegenstand von Verteilungsgerechtigkeit zu machen, sondern darin, inwieweit Bürger in ihren Teilhabemöglichkeiten gestärkt werden. Das erfordert nicht nur einen stetigen Gerechtigkeitsdiskurs, sondern auch, Vermögen und die damit einhergehende Verteilungsproblematik politisch und moralisch zu rechtfertigen. Sen begründet die damit verbundene Orientierung an den Teilhabechancen mit dem Verweis, dass die Sicherung des privaten Reichtums erst durch die Wahrung gesellschaftlicher Wohlfahrt auf Dauer zu stellen ist. Denn die Demokratie als Basis für den modernen Wohlfahrtsstaat garantiert eben auch die privaten Eigentumsrechte. Diese wiederum müssen dann allerdings auch im Sinne einer Ermöglichungskultur zur Stärkung gesellschaftlicher Partizipation auch sozial Benachteiligter eingesetzt werden. Die Bedeutung von Handlungsvermögen und Wohlfahrtsstaatsproduktion wird den bisherigen Überlegungen zufolge also sichtbar, wenn wir untersuchen, wie Vermögen eingesetzt wird2. Dazu zählt zum einen die Sicherung und das Bewahren von Vermögen, zum anderen aber auch der Einsatz von Vermögen für öffentliche Belange. In diesem Sinne werden Reiche im sozialpolitischen Diskurs und damit auch in der Sozialstrukturforschung als Versorgungsklasse definiert (Lepsius 1979), weil sie massiv zur Finanzierung des Sozialstaats beitragen bzw. auf dessen Leistungen gar nicht angewiesen sind. In diesem Sinne tragen alle Reichen unmittelbar zum Gemeinwohl bei. Gleichwohl bezieht sich die Sozialstrukturforschung bisher nur auf die Erfassung des ökonomischen Kapitals. Allein diese grobe Messung ermöglicht es aber, das enorme Förderpotential der Reichen für die allgemeine Wohlfahrt zu verdeutlichen. So vereint das „reichste Zehntel annähernd 60 Prozent und das oberste Prozent allein mehr als 20 Prozent des gesamten Vermögens auf sich“ (Grabka und Frick 2007: 668). Gemessen an diesem ökonomischen Kapital müssten die Reichen jedoch deutlich mehr Geld in die Gesellschaft zurück fließen lassen, als sie es dem heutigen Stand der Forschung nach tatsächlich tun. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass sich die gesellschaftliche Bedeutung von Vermögen nach unserem Verständnis auch darin äußert, wie sich Vermögende gesellschaftlich engagieren. So legen Auswertungen der Bertelsmann StifterStudie nahe, dass sich Reiche, die ihr Vermögen in eine Stiftung überführen, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung sehr wohl bewusst sind. Ein Großteil der Stiftungen ist gemeinnützigen Zwecken gewidmet. Sie werden aufgrund einer Selbstverpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl und aus Verantwortung gegenüber den Mitmenschen gegründet (Schulze und Meyer 2007). Darüber hinaus spielt neben der finanziellen Förderung auch persönliches Engagement eine Rolle. So ist zu vermuten, dass Vermögende ihr gesellschaftliches Engagement durch Übernahme von Ehrenämtern oder Verbandsaktivitäten unter Beweis stellen. Das gilt sicherlich nicht nur für Reiche, sondern betrifft auch jene Vermögenden, die über hohe kulturelle und soziale Kapitalien verfügen (wie z.B. Prominente, Politiker, Professoren). Diese Art bürgerschaftlichen Engagements liegt in lebenspraktischen Motiven und den Möglich2 In diesem Sinne verstehen wir Vermögensforschung auch als Sozialstruktur- und als Kulturforschung und zwar deshalb, weil sie sowohl materielle als auch immaterielle Aspekte des Reichtums betrachtet.
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keiten ihrer Verwirklichung begründet. Solche fokussierten Motive (Corsten und Kauppert 2007) dürften bei Vermögenden besonders ausgeprägt sein, da sie damit nicht nur ihr Vermögen legitimieren, sondern auch der eigenen Lebensführung einen spezifischen Sinn verleihen. Kurzum: Sie verbinden die für Gemeinwohlorientierung typischen altruistischen Motive mit Eigennutz und der Einsicht, dass die eigenen Erfahrungen zielgerichtet auch für die Förderung sozialer Projekte eingesetzt werden können. Bürgerschaftliches Engagement resultiert demnach vor allem aus dem Bestreben, sich selbst und seine Vorstellungen nicht nur im Privaten, sondern auch gesellschaftlich zu verwirklichen. Damit ist unmittelbar das oben definierte Handlungsvermögen Reicher angesprochen, dass sich vor allem bei denjenigen Reichen nachweisen lassen dürfte, die sich darüber Rechenschaft ablegen, was mit ihrem Geld geschieht, wie es eingesetzt werden kann und welche persönlichen Beiträge sie selbst zur Verwirklichung ihrer Vorstellungen beitragen. Der verantwortungsvolle Umgang mit Vermögen äußert sich demnach also nicht nur in der Reproduktion und Sicherung sowie der Stabilisierung des privaten Reichtums. Seine Bedeutung zeigt sich vor allem auch darin, ob und inwieweit es in sozial nachhaltige Projekte investiert wird (siehe auch Kischel in diesem Band).
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Persönlichkeitsprofile Vermögender
Die Befunde zum bürgerschaftlichen Engagement Reicher belegen, dass sich die Bedeutung von Vermögen für die Wohlfahrtsstaatsproduktion keineswegs in ökonomischen Transferleistungen erschöpft. So zeigen Studien über bürgerschaftliches Engagement, dass dieses von den sozialen und kulturellen Kapitalien (z.B. soziale Netzwerke und Bildungsniveau) abhängt. Dass das auch für Reiche gilt, legen erste Auswertungen der Bertelsmann StifterStudie nahe, die zeigen, dass die Bereitschaft zum Stiften auch von der Bildung und von Persönlichkeitseigenschaften wie z.B. Wertorientierungen abhängen (Schulze und Meyer 2007). Bereits die Tatsache, dass sich die Gruppe der Stifter auch nach soziodemographischen Merkmalen wie Alter und Kinderlosigkeit konkretisieren lässt (Haibach 2006: 188f), macht deutlich, dass es sich hierbei um ganz persönliche Formen des gesellschaftlichen Engagements handelt. Solche persönlichen Motive lassen sich bezogen auf Reiche und Vermögende aufgrund der mangelnden Datenbasis nur indirekt bestimmen. Anhand einer Studie über Reiche in der Schweiz (Mäder und Streuli 2002, siehe auch Mäder in diesem Band) lässt sich allerdings ein sehr grobes und sicher auch nur vorläufiges Persönlichkeitsprofil von Reichen erstellen. Demnach haben Reiche in der Regel ein hohes Selbstbewusstsein und erleben sich als äußerst selbstwirksam. Angesichts ihrer Handlungspotentiale, die sich allein aus ihrem Reichtum ergeben, ist das nicht besonders verwunderlich. Reiche beschreiben sich darüber hinaus selbst häufig als offensiv und konfliktfähig. Sie haben eine ausgeprägte Prestigeorientierung und eine Sensibilität für moralische/ökologische/politische Fragen, die mit Reichtum einhergehen. Gleichwohl sind diese Persönlichkeitseigenschaften in der Gruppe der Reichen ungleich verteilt. Dabei lassen sich hinsichtlich der gesellschaftlichen Verantwortung, die Reiche übernehmen, die „alten Reichen“ (Geldadel, Familiendynastien und Jene, die ihren Reichtum geerbt haben) von den „neuen Reichen“ (die vor allem durch wirtschaftlichen Aufschwung, Finanzspekulationen und durch Vermarktung ihrer Person (wie z.B. Medienstars) unterscheiden. Demnach findet sich in der Gruppe der alten Reichen
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der moralische Reiche. Sein Credo lautet: Reichtum verpflichtet. Zudem finden sich dort auch eher die verantwortungsvollen Reichen, die darauf Wert legen, dass Reichtum bewahrt und gleichzeitig sozial verantwortlich eingesetzt wird. Von diesen Typen unterscheiden sich die bescheidenen Reichen, die bewusst ein normales Leben führen und ihren Reichtum keineswegs zur Schau stellen. Sie betätigen sich häufig auch als „ganz normale Bürger“, in dem sie entsprechenden Aktivitäten nachgehen. In dieser Gruppe finden sich vor allem Reiche, die ihr Vermögen geerbt haben oder aber Landwirte, die z.B. durch steigende Bodenpreise reich geworden sind. In der Gruppe der neuen Reichen, die ihr Vermögen durch wirtschaftlichen Aufschwung erzielt haben, ist der leistungsorientierte Reiche besonders dominant. Dieser definiert seinen Reichtum als persönlichen Verdienst. Schließlich lässt sich noch die Gruppe der extrovertierten Reichen unterscheiden, die ihren Reichtum offensiv zur Schau stellt. Hierzu gehören vor allem Personen, die durch die mediale Vermarktung ihrer Person reich geworden sind. Diese grobe Zusammenfassung von Reichtumstypen enthält bereits Hinweise darauf, wie die Reichen mit ihrem Geld umgehen, mithin ihr Vermögen kultivieren. Denn es gibt Reiche, die ihr Vermögen tatsächlich gemeinwohlorientiert einsetzen und andere, die eher auf die Mehrung ihres Reichtums bzw. auf die Zurschaustellung des Reichtums fokussiert sind. So haben Mäder und Streuli (2002) festgestellt, dass vor allem die „Neuen Reichen“ eine ausgesprochen geringe Gemeinwohlorientierung aufweisen. Hingegen sind „alte“ Reiche und Reiche, die ihr Vermögen geerbt haben, in hohem Maße sozial und bürgerschaftlich engagiert. Bei all diesen Unterschieden eint Reiche jedoch ein ausgeprägtes Bewusstsein für ihre gesellschaftliche Sonderstellung. Das äußert sich zum einen in dem Bedürfnis nach sozialer Abgrenzung, zum anderen aber auch in einem eigenen Lebensstil, der sich insbesondere an hochkulturellen Lebenspraxen orientiert. Mitunter führt das zu gesellschaftlichem Rückzug (Bedürfnis nach Anonymität und Unauffälligkeit gerade auch in der Lebensführung). Es kann sich aber ebenso in einem ausgesprochenen Mäzenatentum oder, wie im Falle des Promikults, in der medial vermarkteten Zurschaustellung des Reichtums äußern.
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Schluss: Vermögenskultur als Ermöglichungskultur?
In dem vorliegenden Beitrag wurde das potenzielle gesellschaftliche Handlungsvermögen Reicher und deren Beitrag zur Stabilisierung demokratischer Sozialordnungen thematisiert. Dabei zeigt sich, dass sich – ähnlich wie die Bevölkerung in Arm und Reich aufspaltet – auch die Gruppe der Reichen aufspalten lässt und zwar in jene, die ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden und einen Teil ihres Reichtums in die Gesellschaft zurück fließen lassen und jenen, die dem Sozialstaat eher Ressourcen entziehen als zuzuführen. Daher lässt sich zunächst und mit aller Vorsicht moralisierend feststellen, dass es gemessen daran, wie Reiche sich für die Wohlfahrt einsetzen, „gute“ und „schlechte“ Reiche gibt. Allerdings reichen die vorliegenden Daten nicht, um diese Spaltung empirisch abzusichern, zumal sie eben auch zeigen, wie differenziert die Gruppe der Reichen und Vermögenden eigentlich ist. Daher scheint es dringend erforderlich, die bestehenden Forschungslücken aufzufüllen und unser Wissen über die Reichen und Vermögenden substanziell anzureichern. Wir wissen zu wenig darüber, wie sich Reiche und Vermögende gesellschaftspolitisch verorten und wie sie ihre gesellschaftspolitische Verantwortung wahrnehmen. So
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ist zu vermuten, dass sich Reiche und Vermögende in ihren Handlungsbefähigungen, einschließlich ihrer Bildung, ihrem Wissen und ihrer Moral deutlich unterscheiden lassen. Diesbezüglich vertrete ich die These, dass sich Vermögende gegenüber den „einfachen“ Reichen dadurch auszeichnen, dass sie ihr Handlungsvermögen dadurch unter Beweis stellen, dass sie gesellschaftspolitische Verantwortung übernehmen – konkret: sich ihrer Verantwortung für das demokratische Gemeinwesen auch bewusst sind. Diese Verantwortung dürfte sich zudem darin äußern, dass sie sich einem politischen Gemeinwesen zugehörig fühlen, sich also als Bürger eines Staates verstehen. Demgegenüber stehen wiederum jene Reiche, die sich dieser bürgerschaftlichen Identität verweigern, indem sie sich dem „globalen“ Markt anvertrauen und sich in entsprechende Staaten einkaufen, die ihnen Steuerfreiheit gewähren. Erst durch genauere Daten lässt sich also auch die Gruppe der Reichen und Vermögenden hinreichend präzise analysieren und die Frage beantworten, ob das gemessen am Reichtum geringe gesellschaftliche Engagement Reicher aus der Unfähigkeit bzw. mangelnden Handlungsbefähigung der Reichen (Bildungs- und Wissensdefiziten, niedriger Moralorientierung) oder aber aus politischem Unwillen erklärt werden kann, in dem sich letztlich ein undemokratisches politisches Bewusstsein äußert. Aufgrund fehlender empirischer Studien, in denen die Wohlfahrtsorientierung Vermögender detailliert untersucht wird, lässt sich gegenwärtig nicht bestimmen, in welchem Ausmaß sich Reiche gesellschaftlich engagieren. Wir wissen aber, dass sie sich mitunter in einem sehr hohen Maße für gesellschaftliche Projekte einsetzen. Wir können also davon ausgehen, dass Vermögende sehr wohl zur Steigerung der Wohlfahrtsproduktion beitragen, obwohl wir nicht sagen können, für welche Gruppe der Reichen das gilt. Anzunehmen ist aber, dass sich nicht alle Reichen gleichermaßen für die Förderung der sozialen Wohlfahrt einsetzen, andere wiederum sich auf ganz spezifische Art und Weise gesellschaftlich engagieren. Das gilt vor allem dann, wenn sich der verantwortungsvolle Umgang mit Vermögen in der Förderung sozial nachhaltiger Projekte niederschlägt, die die gesellschaftliche Teilhabe erhöhen. Dazu gehören nicht nur Stiftungen, die bereits zu einem Großteil diesem Zwecke gewidmet sind (z.B. Förderung von Wissenschaft und Forschung; Bildung und Erziehung), sondern auch die gezielte Förderung von Schulen, Kirchengemeinden, Interessenverbänden etc. oder die Unterstützung einzelner Personen, wie es für das Mäzenatentum gewöhnlich gilt. Das sich dieses Engagement vor allem auch auf fokussierte Motive bezieht, die sehr wohl in der Biographie Vermögender begründet sind, unterstreicht unsere Annahme, dass sich Vermögende von den „einfachen Reichen“ nicht nur durch materiellen Reichtum, sondern auch durch ein spezifisches Handlungsvermögen auszeichnen, das sich vor allem in der Wohlfahrtsförderung äußert. Bezogen auf das hier zugrunde gelegte Modell der Teilhabegesellschaft liegt der Beitrag der Vermögenden für die Wohlfahrtsproduktion in der Förderung einer Bürgergesellschaft, die sich durch Selbsthilfe und Teilhabeaktivitäten auszeichnet. Dabei geht es offensichtlich nicht um die Kompensation fehlender staatlicher Sozialleistungen, sondern gerade auch darum, die persönlichen Vorstellungen gesellschaftlicher Teilhabe im Sinne fokussierter Motive umzusetzen und andere daran zu beteiligen. Hier wird der eingangs formulierte Beitrag Vermögender zur Stärkung gesellschaftlicher Verwirklichungschancen sichtbar. Solche Hilfeleistungen sind nicht neu, erhalten im Kontext einer unterstellten Teilhabegesellschaft jedoch einen anderen als bloß karitativen Sinn. Sie lassen sich nämlich als ein
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politischer Wille verstehen, der sich an der Idee eines demokratischen Sozialstaats orientiert, wie sie eingangs formuliert wurde. Diese fast schon idealistisch anmutende Vorstellung von gesellschaftlicher Teilhabe und Wohlfahrtsproduktion ist in vielfacher Hinsicht anschlussfähig an eine ökonomische Konzeption von Wohlfahrt, der Idee eines demokratischen Sozialstaats und an aktuelle Studien über bürgerschaftliches Engagement und das Stiftungswesen. Dabei ist die Einsicht bedeutsam, dass eine Demokratie vom Willen und der Kraft ihrer Bürgerinnen und Bürger zur persönlichen Mitverantwortung lebt, was den Willen zur Gestaltung der Gesellschaft ebenso umfasst wie das Bestreben nach Selbstverwirklichung. Gerade aber die Gruppe der Reichen wäre in der Lage, einen Teil des Kapitals, dass der Gesellschaft entzogen und in ihre privaten Hände gegeben wurde, gezielt wieder in die Gesellschaft zurück fließen zu lassen. Das jedoch setzt eine spezifische Vermögenskultur und entsprechende persönliche Kompetenzen voraus, die zu erwerben es Reichen nicht schwer fallen dürfte. Eine so verstandene Vermögensforschung ergänzt die bisherige Reichtumsforschung, die sich bisher vor allem auf die Verteilung ökonomischen Kapitals und die Frage der Verteilungsgerechtigkeit gestützt hat. Mit der Vermögensforschung wollen wir diese Engführung aufheben und auch die kulturellen und sozialen Praktiken der Vermögensverwendung betrachten. Damit wollen wir dazu beitragen, dass das gesellschaftliche Engagement Reicher herausgestellt wird und damit auch öffentlich gewürdigt werden kann. Zudem wollen wir Reiche dazu anregen, sich gesellschaftlich zu engagieren. Schließlich geht es aber auch darum, jene Blockaden aufzudecken, die dieses Engagement verhindern. Dazu bedarf es jedoch einschlägiger empirischer Studien, mit denen die bisher nur spekulativen Begründungen für das verhältnismäßig geringe Engagement Reicher genauer untersucht werden kann. Wie gesagt: Leider wissen wir bisher zu wenig über die Gemeinwohlorientierung Reicher. Das liegt sicher auch daran, dass Reiche mitunter, wie ausgeführt, eher im Verborgenen agieren und ihr Engagement deshalb weniger auffällt. Insgesamt können wir über mögliche Gründe für ein geringes gesellschaftliches Engagement und eine zurückhaltende Wohlfahrtsförderung von Reichen nur spekulieren. Vielleicht gehen Reiche aufgrund ihres hohen Steueraufkommens davon aus, bereits übermäßig viel zur Allgemeinheit beizusteuern und sich deshalb nicht weiter engagieren. Wie gesagt: Reiche werden aus diesem Grund ja auch der Versorgungsklasse zugeordnet und dementsprechend auch nicht besonders in die Pflicht genommen. In diesem Zusammenhang könnte auch das politische Bewusstsein als Grund für ein zögerliches Engagement angeführt werden, dass sich in Deutschland häufig auf ein Staatsverständnis bezieht, nach dem der Staat für die soziale Fürsorge mithin auch die allgemeine Wohlfahrt verantwortlich ist. Die Selbstverständlichkeit einer Gemeinwohlorientierung gerade auch Wohlhabender, erst recht aber von Reichen, Superreichen und Milliardären, wie wir sie aus den USA kennen, ist hierzulande wenig ausgeprägt. Schließlich lassen sich aber auch die hier vorgelegten Überlegungen als Grund für die möglicherweise sehr unterschiedliche Bereitschaft zur Wohlfahrtssicherung und Gemeinwohlorientierung Reicher anführen. Denn wir können davon ausgehen, dass Reichtum allein nicht ausreicht, um jenes Handlungsvermögen auszubilden, das Wohlfahrtsförderung und Gemeinwohlorientierung auszeichnet. Dazu gehört eben auch eine persönliche Haltung und ein Wille, der den Eigennutz in Form von Gewinnmaximierung hinten anstellt. Diese Haltung ist mitunter konträr zu den Handlungsrationalitäten, die den Erwerb materiellen Reichtums erst möglich machen. Ob es Reichen also möglicherweise an der Fähigkeit oder dem Willen fehlt, ökonomisches Kapital kulturell und sozial nachhaltig einzusetzen und so
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dessen individuelle Verwertung in eine gesellschaftliche Nutzung zu transformieren, ist daher auch eine offene empirische Frage, deren Beantwortung auch den Reichen und Vermögenden selbst am Herzen liegen müsste.
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Unglaubliche Vermögen – Elitärer Reichtum Peter Imbusch
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Einleitung
Reichtum und das Streben nach großen Vermögenswerten ist in den letzten 25 Jahren zum gesellschaftlichen Leitbild par excellence avanciert. Volkswirtschaftlich gesehen ist der „Wealth of Nations“ schon seit Adam Smiths Zeiten ein unhinterfragtes Ziel, auf gesellschaftlicher und individueller Ebene haben sich die Leitwerte – zumindest bei Betrachtung der vergleichsweise egalitären Gesellschaften Westeuropas – spätestens seit den 1980er Jahren deutlich verschoben (vgl. Imbusch und Rucht 2007; Barlösius, Müller und Sigmund 2001). Die positiven Funktionen von Reichtum erscheinen quasi selbstevident und die Tatsache des Reichtums wird selbst dort zunehmend weniger hinterfragt, wo die Folgen manifeste und zunehmende soziale Ungleichheiten sind (Wilterdink 1995; Bergmann 2004; BMAS 2001, 2008). Auch haben sich neue Legitimationsmuster der Anhäufung von Vermögen herausgebildet, Reichtum und Luxus gelten mehr denn je als Zeichen individuellen Erfolgs und der Markt für Luxusgüter entwickelt sich jenseits der normalen Konjunkturverläufe weitgehend krisenfrei. Vordergründige und moralgesättigte Skandalisierungen des Reichtums finden sich allenfalls noch in denjenigen Medien, die zwar mit beträchtlicher Faszination aus einer Schlüssellochperspektive über manch dekadenten Lebensstil berichten, ansonsten aber selbst vom exklusiven Einblick in das Leben der Reichen und Superreichen profitieren. Ausdruck dessen ist auch der Boom an Ratgeber-Literatur nach dem Motto „Wie angele ich mir einen reichen Mann?“, die allerdings nur selten soziologisch instruktiv ist (Ausnahmen: Sayles 2000; Payne 2005). Andernfalls gewähren nur noch unterhaltsame „Society-Romane“ (Sykes 2004, 2006; Weisberger 2003, 2005; Wille-Gut 2004; Robski 2005; Wang 2006) beizeiten stereotype Einblicke in das Leben einer Gruppe, deren herausgehobenes Kennzeichen geradezu ihre öffentliche Unsichtbarkeit ist – sieht man einmal von den jährlichen Auflistungen der Superreichen in Wirtschaftsmagazinen wie Forbes und dem Manager Magazin ab. Im folgenden möchte ich mich näher mit der Gruppe der Reichen und ihrem Reichtum in internationaler Perspektive auseinandersetzen und sie als eigenständige soziale Kategorie betrachten, die soziologisch schwer fassbar ist, die in den herkömmlichen Statistiken und Sozialstrukturmodellen zumeist nicht differenziert wird, und über die wenig gehaltvolles und gesichertes Wissen existiert. Dabei zeigt sich zunächst, dass Reiche nicht nur in gesellschaftlichen Eliten zu finden sind, sondern sich über eine größere Spanne von Schichten, Klassen und Milieus verteilen (Imbusch 2002). Obwohl Reiche keineswegs zwingend oder gar automatisch zu den gesellschaftlichen Eliten gehören, bilden sie gleichwohl eine Elite der besonderen Art, weil Reichtum etwas unverwechselbar Elitäres hat. Worin genau dieses Elitäre besteht und was damit gemeint ist, welche habituellen Brechungen damit bei einzelnen Gruppierungen von Reichen einhergehen, soll in dem Beitrag ebenso zur Sprache kommen wie die unterschiedlichen Lebensstilmuster der Reichen. Das Elitäre des Reichtums zeigt sich dabei weniger im Vergleich von reichen und nichtreichen Bevölkerungs-
Unglaubliche Vermögen – Elitärer Reichtum
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gruppen, sondern kann vielmehr an einer beispielhaften Binnendifferenzierung der Reichen verdeutlicht werden. Denn innerhalb der nach oben offenen Reichtumsskala gibt es nicht nur die größten sozialen Ungleichheiten, sondern gerade hier spielen sich Status- und Konkurrenzkämpfe ab, offenbaren sich die Stilmerkmale des Reichtums, hier finden sich die demonstrativen Formen des Müßiggangs und des ostentativen Konsums, die vor allem der Distinktion und Abgrenzung untereinander dienen.
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Reichtum als Thema – Reichtum als Rätsel
Warum sollten sich Sozialwissenschaftler überhaupt mit Reichtum beschäftigen? Die Reichen stellen kein soziales Problem im herkömmlichen Sinne dar, sie benötigen keine staatliche Fürsorge wie etwa Arme, sie rebellieren nicht gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten oder protestieren gegen ihren sozialen Status, sie brauchen keine externe Stimme, um sich Gehör zu verschaffen und sie stellen in den meisten Gesellschaften kein Unruhepotenzial, geschweige denn eine Bedrohung der sozialen Ordnung dar. Lange Jahre sind sie überhaupt kein Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung gewesen, und in den herkömmlichen Sozialstrukturanalysen wurde ihnen nur wenig Beachtung geschenkt (vgl. Geißler 2006; Hradil und Imbusch 2003). In der Ungleichheitsforschung tauchten sie zwar in den abgestuften Statussystemen und gesellschaftlichen Hierarchien aufgrund von Indikatoren wie Einkommen, Vermögen, Besitz regelmäßig auf (Hradil 1987, 2001), gleichwohl beleuchtete man nur selten ihre Charakteristika, so dass der Reichtum bis heute eine sozialstrukturelle Grauzone darstellt. Die Reichen bzw. der Reichtum sind zudem ein schwieriger empirischer Untersuchungsgegenstand (Atkinson 2005, 2007; Cagetti und de Nardi 2005; Milanovic 2005), weil es sich um eine sehr disparate Gruppierung handelt, bei der erhebliche Abgrenzungs- und Definitionsprobleme bestehen, Reichtum ein höchst relatives Phänomen ist, und es erhebliche Zugangsprobleme zum Untersuchungsfeld gibt. Hinzu kommt ein Mangel an empirischem Material. Reichtum konstituiert sich nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher Formen von Kapital, so dass analytisch wenigstens Geldvermögen, Betriebsvermögen, Anlagevermögen, Immobilien, Grund und Boden, kulturelles und soziales Kapital differenziert werden müssen, um zu einer Binnendifferenzierung der Reichen zu gelangen. Gleichwohl sind in den letzten Jahren etliche Untersuchungen zur langfristigen Einkommens- und Vermögensverteilung für verschiedene Länder durchgeführt worden (z.B. Atkinson 2004; Atkinson und Piketty 2007; Bach u.a. 2007; Becker 2000; Dell u.a. 2005; Hauser und Stein 2001; Heady u.a. 2005; Kopczuk und Saez 2004; Piketty u.a. 2006; Piketty und Saez 2007; Ohlsson u.a. 2008; Piketty 2001, 2003; Roine und Waldenström 2008) und ist auch die weltweite Reichtumsverteilung thematisiert worden (Bourguignon und Morrison 2002; Brandolini u.a. 2006; Davies u.a. 2007, 2008; Milanovic 2005; Cornia und Court 2001; Held und Kaya 2007). In Deutschland ist es im Kontext der Verschärfung sozialer Ungleichheiten zu einer eher indirekten Thematisierung des Reichtums und zu Diskussionen über seine Legitimität und damit zusammenhängend Fragen nach sozialer Gerechtigkeit gekommen (Andersen 2001; Capéau und Decoster 2004; Druyen 2007; Huster 1993; Papcke 2001; Schui und Spoo 1996; Rügemer 2002; Stadlinger 2001; Volkert 2005). Selten wurden die Reichen jedoch als eigene soziale Gruppe untersucht, wurde die
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Entstehung und Reproduktion von Reichtum beleuchtet, noch seltener nach den Zusammenhängen von Reichtum, Macht und Einfluss gefragt (Imbusch 1998). Warum sollten sich also Sozialwissenschaftler mit dem Reichtum beschäftigen? Meines Erachtens lassen sich vier Gründe benennen (vgl. Waldenström 2008):
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Erstens lässt sich der pragmatische Tatbestand nennen, dass man in sozialstruktureller Hinsicht und für Analysen zu sozialer Ungleichheit – wie über jede andere soziale Gruppe oder Schicht auch – Daten über die Reichen und ihren Reichtum benötigt, um zu verlässlichen Klassen- oder Schichtungsmodellen der Gesellschaft zu gelangen und die langfristige Entwicklung von Ungleichheiten feststellen zu können. Zweitens zeigen schon bisher verfügbare empirische Daten, dass es unter den reichen Vermögensbesitzern bzw. den höchsten Einkommensbeziehern eine beträchtliche Heterogenität zwischen verschiedenen Gruppierungen gibt. Diesbezüglich wäre es nicht nur wichtig zu wissen, wie diese großen Unterschiede zustande kommen, sondern auch zu überlegen, welche Dynamiken solche Ungleichheiten besitzen und wie sie sich eigentlich erklären lassen. Drittens nehmen die Höhe der Einkommen und die Spreizung des Reichtums der begütertsten Bevölkerungsschichten Einfluss auf die Variationsbreite von Ungleichheitsmaßen wie den Gini-Koeffizienten oder andere Dezils- oder Quintils-Maße. Einkommens- und Reichtumssurveys sind bislang auch deshalb wenig verlässlich, weil sie den Reichtum aufgrund unterschiedlicher Faktoren nur unvollkommen abbilden und deshalb dazu neigen, ihn zu unterschätzen. Dies führt etwa zu Verzerrungen in der gemessenen Ungleichheit. Viertens schließlich bilden die Reichen eine wichtige Gruppierung der Gesellschaft, die einen Großteil der Steuerbasis eines Landes zur Verfügung stellen, häufig Besitzer oder Eigentümer von Unternehmen sind und als solche nicht nur über einen überproportionalen ökonomischen Einfluss, sondern auch über beträchtliche politische Macht verfügen. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist also verbessertes Wissen über die höchsten Einkommen und Vermögen von essentieller Bedeutung.
Empirische Befunde zur Reichtums- und Vermögensverteilung
Schaut man sich die empirischen Befunde zur Reichtums- und Vermögensverteilung an, ist man gut beraten, einschränkend auf den vorläufigen und tentativen Charakter etwaiger Aussagen aufmerksam zu machen. Dies nicht nur, weil die Datenlage nach wie vor lückenhaft ist und wichtige Aspekte des Reichtums nur ungenügend oder gar nicht erfasst werden, sondern auch, weil die verfügbaren Daten international häufig nicht oder nur schwer vergleichbar sind und sich Schwächen der Datenerhebung in den Aussagen zur Einkommensund Reichtumsverteilung reproduzieren. Gleichwohl können eine ganze Reihe von Trends und Tendenzen als relativ gesicherte Erkenntnisse gelten (vgl. Atkinson und Piketty 2007; Davies u.a. 2008; Saez o.J.; Wolff 1998): Die historische Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung lässt sich auf einer globalen oder einer nationalen Ebene abbilden und weist dementsprechend starke Variationen auf. Betrachtet man zunächst einmal die globale Ungleichheit im historischen Längsschnitt, lässt sich deren Entwicklung beispielweise mittels des Gini-Koeffizienten
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nachzeichnen oder an der Entwicklung des Pro-Kopf-Einkommens, gemessen als Verhältnis der obersten 5% der Einkommensbezieher zu den untersten 20%. Berechnet man die globale Ungleichheit über den Gini-Koeffizienten, ergibt sich für die Jahre 1820 bis 1992 zunächst einmal eine beträchtliche Steigerung der Ungleichheit von 0.5 (1820) bis zu 0.7 (1992). Auch in Bezug auf die zweite Kennziffer ergibt sich eine beträchtliche Ausweitung der Ungleichheit: Lag das Pro-Kopf-Einkommen der obersten 5% der Einkommensbezieher 1820 noch 7-mal höher als das der untersten 20% der Einkommensbezieher, so hatte sich dieser Anteil bis 1992 kontinuierlich auf das 16-fache ausgeweitet (Jolly 2006; Bourguignon und Morrison 2002). Schaut man sich dagegen einzelne Länder genauer an, ergibt sich für den besagten Zeitraum ein differenzierteres Bild: In den USA stieg die Ungleichheit der Einkommen (diesmal gemessen als Anteilsverhältnis der obersten 5% zu den untersten 10% der Einkommensbezieher) zunächst bis 1930 stark an, fiel daraufhin bis 1980 ab und stieg danach wieder beträchtlich an. In Großbritannien verringerten sich die Einkommensdisparitäten von einem sehr hohen Niveau bis 1980 und stiegen danach erneut an. Auch andere westeuropäische Länder folgen diesem Trend, so dass verallgemeinernd festgestellt werden kann, dass insbesondere die Nachkriegszeit einkommensnivellierend wirkte, jedoch die 1970er Jahre einen Wendepunkt dieser Entwicklung darstellten. Danach wurden die Einkommensdifferenzen wieder größer (Bourguignon und Morrison 2002). Betrachtet man die Einkommens- und Reichtumsverteilungen auf gesellschaftlicher Ebene, stellt man leicht fest, dass diese auch im Innern einzelner Länder sehr ungleich sind. So ist in den USA der Reichtum in den Händen einer kleinen Zahl von Familien konzentriert: Das reichste 1% der Bevölkerung besitzt mehr als 38% der Vermögenswerte, auf das oberste Dezil entfallen über 70%; die untersten 40% der Bevölkerung müssen sich dagegen mit weniger als 1% des Reichtums begnügen (Xiao Di 2007; historisch informiert Phillips 2002; Danziger u.a. 1989). In Deutschland entfallen dagegen auf das oberste Dezil knapp 60% der Vermögenswerte, auf das oberste Prozent allein mehr als 20% des gesamten Vermögens. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung verfügt dagegen über kein oder nur ein sehr geringes individuelles Netto-Vermögen (auf die untersten 70% entfällt ein Anteil am Gesamtvermögen von weniger als 10%) (Grabka und Frick 2007). Generell gilt, dass der Reichtum stärker konzentriert ist als die Einkommen. Das zeigt sich etwa an den Gini-Koeffizienten, die in Bezug auf die Vermögenskonzentration auf der Welt durchgängig um ca. 0.2 höher liegen als bei der Einkommenskonzentration. Obwohl also die Einkommen schon sehr ungleich verteilt sind, ist die Ungleichheit im Hinblick auf die Vermögenswerte noch um ein Vielfaches größer. Betrachtet man bei der Reichtumsverteilung wieder die obersten 10% der Bevölkerung und zieht ländervergleichende Daten heran, stellt man fest, dass die Schweiz das Land mit der größten Vermögenskonzentration ist (auf die Top 10 entfallen dort 71,3% der Vermögenswerte), gefolgt von den USA (70%). Andere europäische Länder weisen Werte zwischen 50% und 70% auf (Davies u.a. 2008). Insgesamt wird geschätzt, dass der Gini-Koeffizient für Vermögen global betrachtet bei über 0.8 liegt. Aber Reichtum ist nicht nur stärker konzentriert als Einkommen, der Reichtum ist auch intern sehr ungleich verteilt und stark konzentriert. Das wird etwa deutlich, wenn man das oberste Dezil der Bevölkerung selbst noch einmal unterteilt und die obersten 5% oder das oberste 1% näher betrachtet. Dann ergibt sich beispielsweise für die Schweiz, dass zwar das oberste Dezil über 70% des Reichtums auf sich vereint, die obersten 5% allein aber noch 58%, das oberste 1% noch knapp 35% und 0,1% der Bevölkerung immerhin noch
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16% der Vermögenswerte besitzt. In Frankreich gehören 10% der Bevölkerung über 60% aller Vermögenswerte, dem höchsten 1% immerhin noch über 21%. In Spanien entfällt zwar auf die obersten 10% lediglich ein Anteil von knapp 42%, das oberste 1% verfügt aber immer noch über mehr als 18% (Davies u.a. 2007). Es ist also nicht nur eine starke gesellschaftliche Ungleichverteilung und Konzentration der Vermögen feststellbar, sondern auch eine starke Konzentration innerhalb der reichsten Bevölkerungsgruppen. Diese starke Konzentration der Vermögenswerte bei den Reichsten der Reichen ist verallgemeinerbar und findet sich in ähnlicher Form überall auf der Welt (Atkinson 2006). Interessante Erkenntnisse gewinnt man zudem, wenn man die globalen Einkommensund Vermögensverhältnisse näher betrachtet. Diesbezüglich hat jüngst eine Studie von UNU-WIDER (United Nations University – World Institute for Development Economics Research) ergeben, dass im Weltmaßstab bereits ein „Vermögen“ von 2.200 $ ausreicht, um einen Haushalt der oberen Hälfte „der Vermögenden“ zuzuordnen. Um zu den reichsten 10% der Weltbevölkerung zu zählen, benötigt man jedoch ein Vermögen von mindestens 61.000 $, die Zugehörigkeit zum reichsten 1% der Welt verbürgt ein Vermögen in Höhe von 500.000 $. Darüber verfügen weltweit immerhin 37 Mio. Menschen. 13,7 Mio. Menschen besitzen weltweit ein Vermögen im Wert von 1 Mio. US-$; 470.000 eines von 10 Mio. US-$; 16.000 eines von 100 Mio. US-$ und lediglich 550 Menschen besitzen weltweit über 1 Mrd. US-$ Vermögen. Insgesamt betrachtet verfügt damit 1% der Weltbevölkerung über 40%, die reichsten 10% über 85% des Vermögens. Die untere Hälfte der Weltbevölkerung besitzt dagegen lediglich 1,1% des globalen Reichtums (Davies u.a. 2008). Instruktiv ist auch die Verteilung dieses Reichtums nach verschiedenen Weltregionen. Der Reichtum findet sich im Grunde hochkonzentriert v.a. in Nordamerika, Europa und den „high-income-countries“ des asiatisch-pazifischen Raumes (insbesondere Japan, Südkorea, Taiwan, Australien und Neuseeland). Jede dieser Ländergruppen stellt ungefähr ein Drittel der Mitglieder der weltweit reichsten 10% der Bevölkerung. Menschen aus diesen Ländern verfügen über beinahe 90% des weltweiten Reichtums. Obwohl in Nordamerika nur 6% der Weltbevölkerung leben, entfallen auf diese Region 34% des weltweiten Reichtums. Ähnlich disproportional stellen sich die Zahlen für Europa und Asien dar: Bei einem Anteil von knapp 10% der Weltbevölkerung hat Europa einen Anteil von knapp 30% am Reichtum. Auf die besagten asiatischen Länder entfällt zwar noch ein Anteil am Reichtum von über 25%, allerdings findet sich dort auch über die Hälfte der Weltbevölkerung. Dagegen entfallen auf alle anderen Weltregionen zusammen nur 10% des Reichtums (Davies u.a. 2008; Beaverstock u.a. 2004). Interessanter als dieses Zurückbleiben einzelner Weltregionen sind allerdings die in den letzten Jahren eingetretenen Verschiebungen: Hier wäre insbesondere der steigende Anteil russischer, chinesischer und indischer Multimillionäre zu erwähnen (paradigmatisch Hoffman 2002; Midgley und Hutchins 2005). Sowohl in Russland als auch in China (Li und Zhao 2007; Wan u.a. 2004) ist es im Zuge der Transformationsprozesse zu einer beträchtlichen Erhöhung der Einkommensungleichheiten gekommen, die im Gefolge auch viele Multimillionäre hervorgebracht hat. Von Bedeutung ist nicht zuletzt auch die unterschiedliche Zusammensetzung des Reichtums in den verschiedenen Weltregionen (Subramanian und Jayaraj 2006; Torche und Spilerman 2008).
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Reiche Milieus und luxuriöse Lebensstile
Geben diese statistischen Daten schon einen recht guten Eindruck von der sehr ungleichen Einkommens- und Reichtumsverteilung sowohl innerhalb einzelner Länder als auch im internationalen Staatensystem, so bleibt doch eine rein zahlenmäßige Betrachtung der Verteilungsrelationen relativ unbefriedigend. Um diese Daten mit Leben zu füllen, bietet sich eine Betrachtung der Lebensstile und Milieus der Reichen an (vgl. etwa Böhnisch 1999; Mäder und Streuli 2002; Schilliger 2005, 2007). Erst eine genauere Analyse der Lebensstilisierungsmuster und der dazugehörigen Habitus’ innerhalb der Reichen kann das Elitäre des Reichtums und die Möglichkeiten, die unvorstellbare Vermögen eröffnen, angemessen zum Ausdruck bringen. Weit besser als klassentheoretische Positionen, die dazu tendieren, Eliten oder herrschende Klassen und Reichtum mehr oder weniger gleich zu setzen oder schichtungstheoretische Ansätze, die u.a. aus den Abstufungen von Einkommen oder Vermögenswerten den Reichen einen hohen sozialen Status zuschreiben, ermöglichen es Lebensstil- und Milieuanalysen, das Besondere des Reichtums zu verstehen. Lebensstilkonzeptionen greifen zur Analyse der ‚oberen Ränge‘ der Gesellschaft erheblich besser als in der ‚Mitte der Gesellschaft‘ oder gar ‚unten‘, weil das Faktum des Reichtums in besonderer Weise soziale Möglichkeitsräume öffnet, aus denen bestimmte Lebensstile überhaupt erst erwachsen können. Lebensstile sollen hier als individuelle Gestaltungsmuster der Lebensführung verstanden werden, die sich aus einer bestimmten sozialen Lage (Ressourcenausstattung und deren Faktorkombination), subjektiver und kollektiver Sinnhaftigkeit und Weltdeutung sowie einer manifesten Stilisierungspraxis ergeben. Erst das Zusammenspiel bestimmter objektiver Lebensbedingungen mit subjektiven Prinzipien der Lebensführung und den Möglichkeiten zu einer bestimmten Lebensstilisierung macht schließlich Lebensstile unverwechselbar (vgl. Müller 1989, 1992; Simmel 1992). Die begriffliche Unterscheidung von Lebensführung, Lebensstil und Lebensformen bietet zudem die Möglichkeit, soziokulturelle Gestaltungsdimensionen in ihrem Verhältnis zueinander zu betrachten. Das Elitäre des Reichtums soll über die typischen Lebensstile reicher Personen, die innere Differenziertheit möglicher Lebensformen und die sich daraus ergebende Autonomie und Handlungsspielräume verdeutlicht werden. Da bisher wenig über die Lebensstile oder die Lebensführung reicher Personen bekannt ist, soll zunächst das vorhandene Wissen systematisiert werden. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, was es jenseits schillernder Differenzen an verbleibenden Gemeinsamkeiten gibt, damit idealtypisch angesichts eines hoch-individualisierten Reichtums überhaupt von einem Lebensstil der Reichen sinnvollerweise gesprochen werden kann. Es wäre also zu zeigen, worin ein solcher Lebensstil zum Ausdruck kommt und wie er sich offenbart (Präsentationsformen und Repräsentationsfunktionen; vgl. dazu allgemein Berger 1988/89; Barlösius 2005). Dabei muss insbesondere auf interne Differenzen innerhalb des Reichtums geachtet werden: Denn wenn es stimmt, dass Reichtum quer zu den herkömmlichen sozialstrukturellen Untergliederungen liegt und die möglichen Prinzipien der Lebensführung und Lebensgestaltung auch von sehr unterschiedlichen Reichtumsgrundlagen und Reichtumsquellen abhängen, wird man erhebliche Unterschiede in den Lebensstilen der Reichen erwarten können. Gerade die gravierenden Unterschiede innerhalb des Reichtums legen es nahe, dass Reichtum nicht nur einen einzigen Lebensstil konstituiert (und schon gar nicht automatisch für ‚Stil haben‘ sorgt), sondern ganz verschiedene Stile und Lebensführungsmuster hervorbringt. Reichtum in seinen unter-
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schiedlichen materiellen und ideellen Facetten bildet die Grundlage für die Konstitution entsprechender sozialer Milieus und für gehobene Lebensstile. Kaum ein soziologischer Ansatz vermittelt einen besseren Eindruck von den allgemeinen Stilelementen des Reichtums als die streng relational gefasste, soziokulturell orientierte Gesellschafts- und Ungleichheitstheorie von Pierre Bourdieu (1982; Müller 1992). Im sozialen Raum sind die Individuen nach Bourdieu einmal vertikal, einmal horizontal positioniert (die Zeitachse bleibt hier außer Acht). Die vertikale Dimension sozialer Ungleichheit ergibt sich aus dem Gesamtvolumen an Kapital, über das ein Einzelner verfügt. Die unterschiedliche Zusammensetzung der Kapitalausstattung ergibt die horizontale Dimension sozialer Ungleichheit. Aus der positiven Ausstattung und Zusammensetzung einzelner Kapitalarten erwachsen dann jene privilegierten Lebenslagen, die nicht nur objektiv bessere Lebenschancen mit sich bringen, sondern sich auch zu vorteilhaften Handlungsbedingungen von Personen und Gruppen verdichten (Schwingel 1993). Die Reichen wären nach Bourdieu allen sozialen Risikolagen enthoben, in Abhängigkeit von der jeweiligen Konvertibilität ihres Kapitals verfügen sie über beträchtliche Substitutionsmöglichkeiten bzw. Kompensationsbedingungen, die ihnen auf der Basis grundlegender Wohlhabenheit ein ökonomisch unbelastetes Leben jenseits materieller Zwänge ermöglicht. Bourdieu geht dabei wesentlich von einer Wahlverwandtschaft von Klasse und Lebensstil aus und verortet den Habitus einer frei gewählten Distanz zu den Zwängen des Lebens insbesondere im Großbürgertum. Im Sinne der Entfaltung sozialer Möglichkeitsräume würde sich ein durch Reichtum gekennzeichneter, hier zunächst idealtypisch skizzierter, gehobener Lebensstil durch folgende Elemente oder Komponenten auszeichnen:
Eine aufgrund der Verfügung über beträchtliche ökonomische Ressourcen durchgängig feststellbare „Distanz zur Notwendigkeit“ (Bourdieu 1982: 100): Dies betrifft sowohl die Enthobenheit von einschränkenden sozialen Zwängen als auch die Freiheit von Arbeit, der höchstens noch freiwillig und nicht primär aus ökonomischen Motiven heraus nachgegangen wird (vgl. Goblot 1994: 67 ff.). Die Distanz zur Notwendigkeit manifestiert sich dabei in ostentativen Akten der Verschwendung und Vergeudung sowie nicht zuletzt in allen möglichen Ausprägungen eines zweckfreien Luxus (Veblen 1986; vgl. auch Lamnek 1995; Luthe 1985; Reis und Moore 2005). Demonstrative Formen des Müßiggangs und ostentativer Konsum: Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass soziale Klassifikationen nicht zuletzt nach der Bedeutung und der Art der sichtbaren Ausgaben vorgenommen werden, insbesondere, wenn ihnen das Merkmal der Zweckfreiheit anhaftet. Durch eine hohe Zeitautonomie sowie die Ausstattung mit reichlich Ressourcen gewinnen Müßiggang und Konsum einen prestigefördernden Nutzen, der im beiden gemeinsam zugrundeliegenden Prinzip der Vergeudung von Gütern und Verschwendung von Zeit und Mühen wurzelt (Veblen 1986: 93). Von besonderem Interesse sind dabei all jene Ausgaben, die Zeit kosten, ohne unmittelbar auf Gewinn zu zielen, und die den Reichtum in besonderer Weise zur Schau stellen: z.B. mondäne Feste, Luxus- und Vergnügungsreisen, der demonstrative Konsum wertvoller Güter sowie schließlich all jene Formen der „stellvertretenden Muße“ (Veblen 1986: 71) und des „delegierten Konsums“ (Halbwachs 2001: 37), die den Gattinnen oder Hausangestellten zu Gute kommen, aber eindeutig auf den vorgängig akkumulierten Reichtum zurückverweisen. Ein müßiggängerisches Leben
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und ostentative Formen des Konsums stellen seit je her den unmittelbarsten und überzeugendsten Beweis von Reichtum und überlegener Macht dar (Veblen 1986: 54). Luxusgeschmack: Der aus der Freiheit geborene Luxusgeschmack steht den aus Notwendigkeit und Zwang geborenen Geschmacksvarianten diametral entgegen. Geschmack kann sich auf ganz unterschiedliche Gegenstandsbereiche beziehen. Generell wirkt er als „praktischer Operator für die Umwandlung der Dinge in distinkte und distinktive Zeichen, der kontinuierlichen Verteilungen und diskontinuierlichen Gegensätze: durch ihn geraten die Unterschiede aus der physischen Ordnung der Dinge in die symbolische Ordnung signifikanter Unterscheidungen.“ (Bourdieu 1982: 284). Die Auswahl des Mobiliars, der Kleidungsstil und die Art zu Essen und zu Trinken etwa sind nicht nur deshalb untrügliche Zeichen des Geschmacks, weil sich in diesen Merkmalen die sich bereits bei ihrer Auswahl niederschlagenden ökonomischen und kulturellen Zwänge objektivieren, sondern auch deshalb, weil sich in ihnen gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegeln und habituell verfestigte Sympathien oder Antipathien gegenständliche Gestalt gewinnen. Indem die Reichen über gesellschaftlich anerkannte Statussymbole verfügen (vgl. allgemein Kuhlbrodt 2001) und diese zur distinguierenden Lebensstilisierung einzusetzen vermögen, entstehen nicht nur ästhetische Distanzierungsmöglichkeiten von der alltäglichen Lebenswirklichkeit; als Ausweis von Geschmack, Raffinesse, Verfeinerung werden sie zugleich zu Gradmessern eines ‚guten Geschmacks‘. Komfortable äußere Lebensverhältnisse: Reichtum bevorzugt bestimmte Sozialräume als Bewegungs- und Aktionssphären. Dies schlägt sich zunächst in der Wahl bestimmter Wohnformen wie frei stehenden Anwesen und repräsentativen Herrschaftshäusern oder Villen und privilegierter Wohnlagen nieder. Bereits in der äußeren Gestaltung dieser wesentlich durch Exklusivität geprägten Wohnformen treten alle distinktiven Zeichen zu Tage. Immer häufiger finden sich ‚gated communities‘ – sei es in Form von vollkommen abgeschnittenen Vierteln oder in Form bewachter ‚privatisierter‘ Straßenzüge mit entsprechenden Zugangsbarrieren. Zweit- und Drittwohnungen und Luxusapartments an geografisch weiter entfernt gelegenen Orten und Feriendomizile gehören zum Standard einer reichen Lebensführung. Zurückgezogenheit und Abgeschiedenheit stellen sich nicht nur über die meist mehr als weniger strikte topographische Trennung (oder gar das Vorhandensein natürlicher Raumgrenzen) zwischen Reich und weniger Reich bzw. Arm her, sondern auch über die mangelhafte Erreichbarkeit bestimmter Viertel mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Soziale Distanz entsteht nicht zuletzt über respektheischende und auf Distinktion angelegte, mit einer solchen Umgebung einhergehende Mentalitäten der Exklusivität. Freizeitaktivitäten und Sport: Die Freizeitaktivitäten der Reichen dürften sich auf ein breites Spektrum von Möglichkeiten und Angeboten erstrecken, welches an dieser Stelle kaum gehaltvoll differenziert werden kann. Nutzbringender scheint es deshalb zu sein, einen Bereich – den Sport – auszuwählen und die entsprechenden Aktivitäten auf ihre offensichtlichen oder verborgenen Stilelemente zu befragen, die dazu beitragen, sie als typische Sportarten der ‚besseren Gesellschaft‘ erscheinen zu lassen. Die Reichen neigen typischerweise jenen Sportarten zu, die ein hohes Prestige und eine gewisse aristokratische Etikette verbürgen, mittels derer nicht nur Distinktionsgewinne erzielt werden können, sondern die auch die Akkumulation sozialen Kapitals ermöglichen. Der ‚Horror vor plebejischen Massenansammlungen‘ und ‚Kollektivdisziplinen‘
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Peter Imbusch sowie der Wunsch, unter ‚Ihresgleichen‘ zu bleiben, treibt die Privilegierten zum einen dazu, „immer woanders, immer höher und immer ferner, immer zu anderen als den normalen Zeiten und anderen als den normalen Orten die Exklusivität oder den Vorrang der neuen Erfahrungen und noch unberührten Räume zu suchen.“ (Bourdieu 1982: 343) Zum anderen werden exklusive Sportarten wie Golf, Polo, Reiten, Segeln, Fechten, Fliegen etc. bevorzugt, andere, ihren noblen Gout durch Vermassung längst verloren habende wie Tennis oder Skifahren entweder aufgegeben oder an exklusive Orte verlegt. Dies können eigens dafür vorgesehene Örtlichkeiten oder separierte Privatclubs sein, in denen man mit ausgewählten Persönlichkeiten auf der Basis eines frei bestimmbaren Aufwandes und meistens nicht unerheblicher Investitionen (an Lernzeit und Lernanstrengung, aber auch finanzieller Art) seinen bevorzugten Sport betreibt. Die ausgewählten Sportarten zeichnen sich jedenfalls durch höchst ritualisierte und ungeschriebene Gesetze des fair play dominierte Wettbewerbssituationen aus, in denen jede Art des direkten Kontaktes zwischen den Gegnern verbannt, jeder anatomische Gebrauch des Körpers verpönt und jedes physische und verbale Gewaltmoment von vornherein diskreditiert ist, so dass die sportliche Betätigung den Anschein eines höchst gesitteten gesellschaftlichen Verkehrs gewinnt, der den sonstigen gepflegten gesellschaftlichen Umgang und seine spezifischen Formen Nachdruck verleiht, quasi verdoppelt (vgl. Bourdieu 1982: 343 ff.). Distinktive Verhaltensstandards: Reichtum geht in der Regel nicht nur mit konservativ-gehobenen Wertorientierungen einher und schlägt sich in mehr oder weniger sicheren Geschmackspräferenzen nieder, sondern ist auch in Bezug auf das habituelle Verhalten auf natürliche Distinktion angelegt. ‚Klasse‘ besitzen – also von Rang sein oder über Prestige verfügen – und ‚Stil‘ haben – also den sicheren Umgang mit gesellschaftlichen Gepflogenheiten spielerisch und locker zu beherrschen – selbst, wie noch zu zeigen sein wird, nur ein Teil der Reichen; umgekehrt sind die „feinen Leute“ (Girtler 1989), die ihr Leben nach den vielfältigen Grundsätzen der Vornehmheit gestalten, in vielen Schichten und sozialen Bereichen anzutreffen. Dennoch lassen sich typische Formen distinktiven Verhaltens unterscheiden, die sich erst vor dem Hintergrund vollkommener materieller Abgesichertheit herausbilden und dann jene Zwanglosigkeit im Sinne natürlicher Ungezwungenheit aufgrund der Unbelastetheit mit finanziellen Sorgen und der Distanz gegenüber materiellen und zeitlichen Zwängen zu konstituieren vermögen. Diese Art der Distinktion vermeidet jedes allzu öffentliche oder gar aufdringliche Sich-Zeigen oder Präsentieren, sondern pflegt eher die ‚leisen Töne‘. Das distinktive Verhalten zeichnet sich dabei „durch betonte Diskretion, Schlichtheit und understatement aus, durch Verschmähung alles ‚Übertriebenen‘, ‚Angeberischen‘, ‚Prätentiösen‘, das sich gerade durch seine Distinktionsabsicht dequalifiziert als eine der verabscheuungswürdigsten Formen des ‚Vulgären‘ und damit als Gegenteil schlechthin von ‚natürlicher‘ Eleganz und Distinktion: der Eleganz ohne Streben nach Eleganz und der Distinktion ohne Absicht zur Distinktion.“ (Bourdieu 1982: 388) Erst als verwirklichte Übereinstimmung dessen, was man ist, mit dem, was man hat, stellen sich jene Formen der Lässigkeit, des Charmes, der Umgänglichkeit, von Eleganz und Freiheit ein, die Natürlichkeit verbürgen und sich schließlich selbst in der körperlichen Hexis in Form von Statur, Haltung, Auftreten, angenehmem Äußeren, Umgangsformen und Lebensart, Diktion und Aussprache niederschlagen (vgl. Bourdieu 1982: 388 ff., 398, 531, 691, 159).
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Interne Differenzierungen des Reichtums
Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass Reichtum eine große Spannweite aufweist. Reich kann man sich fühlen oder sein, wenn man ein Einkommen von 1 Mio. € erhält, wenn man über ein Vermögen von 100 Mio. € Euro verfügt oder wenn man zu den wenigen internationalen Milliardären zählt. Wer oder was als reich gilt, ist immer ein stückweit abhängig vom Standpunkt des Betrachters und seinen Werten, den normativen Konstruktionen einer Kultur und ihren Bewertungen sowie der generellen Akzeptanz oder Legitimität sozialer Ungleichheiten. Alle Objektivierungsversuche des Reichtums mittels verallgemeinerbarer Maßstäbe sind jedenfalls bislang wenig konsensuell geblieben – auch wenn sie für die pragmatische Festlegung von Reichtumsgrenzen unerlässlich sind. Aus den bisherigen Überlegungen dürfte ebenfalls deutlich geworden sein, dass die Ungleichheit innerhalb der Gruppe der Reichen immens und um ein Vielfaches größer ist als die unter der nicht reichen Population. Innerhalb der nach oben offenen Reichtumsskala gibt es nicht nur die größten sozialen Ungleichheiten, sondern gerade hier spielen sich tiefgreifende Status- und Konkurrenzkämpfe ab, hier herrscht soziale Distanz nicht nur zu den „unteren“ Gesellschaftsklassen, sondern auch untereinander. Der luxuriöse Lebensstil und dessen habituelle Ausformungen dienen v.a. zur Distinktion. Wenn man Reichtum lebensweltlich angemessen erfassen will, muss man ihn intern differenzieren, da es keinen Sinn macht, den einfachen Einkommensmillionär und den Multimilliardär der gleichen sozialen Kategorie zuzuordnen, weil die Unterschiede zwischen ihnen erheblich größer sind als etwa zwischen Mitgliedern der oberen Mittelschichten und einfachen Arbeitern oder gar Armen. Nur der Blick von außen auf die Gruppierung der Reichen neigt dazu, diese aufgrund ihrer Enthobenheit über Gebühr zu vereinheitlichen. Für eine interne Differenzierung des Reichtums scheint es zunächst einmal zweckmäßig, die Reichen nach der Höhe ihres Vermögens zu klassifizieren (Davies 2008; Davies und Shorroks 2000). Aufschluss über diese Art der Schichtung der Reichen geben in der Regel Rankings, wie sie Forbes, das Manager Magazin oder auch spezielle Rating-Agenturen alljährlich über die Reichen veröffentlichen. Aus diesen auf seriösen Schätzungen beruhenden Recherchen geht etwa hervor, dass der Club der Vermögenden unaufhaltsam wächst und sich die Zahl der Milliardäre seit Mitte der 1990er Jahre mehr als verdoppelt hat: Mittlerweile leben 946 Milliardäre auf der Welt, die über das unvorstellbare Vermögen von 3.500 Milliarden US-$ verfügen. Lange Jahre wurde die Liste der reichsten Personen von Bill Gates angeführt. Dieser wurde jedoch inzwischen (siehe Tabelle 1) von Warren Buffet und Carlos Slim überrundet, und deren Vermögen verblasst noch neben den rund 83 Milliarden Dollar der Familie Walton (den Eigentümern des US-Einzelhandelsgiganten Wal-Mart) und den Mitgliedern der nicht angeführten Königshäuser in Saudi-Arabien und Brunei. Abgesehen davon, dass diese Rankings nur einen kleinen Ausschnitt aus der Welt des Reichtums zeigen, indem sie sich v.a. auf die Reichsten der Reichen konzentrieren, gibt es noch weitere Probleme mit den Rankings: Sie konzentrieren sich v.a. auf den individuellen Reichtum, erfassen aber nicht das Familienvermögen; sie legen durch ihren Zuschnitt auf hochrangige Wirtschaftsführer die Vermutung nahe, dass Reichtum ausschließlich aufgrund unternehmerischer Tätigkeit entsteht bzw. geschaffen wird und unterschätzen damit den Anteil ererbten bzw. dynastischen Vermögens (vgl. Smith 2001).
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Aufgrund von Rankings, wie sie Forbes oder das Manager Magazin bereitstellt, ließe sich allerdings eine Unterteilung der Reichen nach bestimmten Vermögensklassen vornehmen, um zu entsprechenden Differenzierungen zu gelangen. So haben manche etwa zwischen Reichen, Super-Reichen und Ultra-Reichen unterschieden – ohne allerdings dadurch den sozialen Charakteristika dieser Untergruppen nähergekommen zu sein (vgl. Frank 2007; Haseler 1999; Lundberg 1988; Packard 1989; Thorndike 1980). Tabelle 1: Die 15 reichsten Personen der Welt (2008)
1
Warren Buffet
62,0
2 3 4
Carlos Slim Heliú Bill Gates Lakshmi Mittal
60,0 58,0 45,0
5
Mukesh Ambani
43,0
6
Anil Ambani
42,0
7 8 9 10 11 12 13 14
Ingvar Kamprad Kushal Pal Singh Oleg Deripaska Karl Albrecht Li Ka-Shing Sheldon Adelson Bernard Arnault Larry Ellison Roman Abramowitsch
31,0 30,0 28,0 27,0 26,5 26,0 25,5 25,0
Herkunft des Vermögens Berkshire Hathaway Telmex Microsoft Arcelor Mittal Reliance Industries Reliance Industries IKEA Dehli Land & Finance Lmtd. RUSAL Aldi Süd Cheung Kong Las Vegas Sands MHLV Oracle
23,5
Gazprom Neft
Rang Name
15
Vermögen in Mrd. US-$
Land USA Mexiko USA Indien Indien Indien Schweden Indien Russland Deutschland Hong Kong USA Frankreich USA Russland
(Quelle: Forbes Magazine: World Billionaires (www.forbes.com)
Ich möchte eine andere Differenzierung vorschlagen und versuchen, die Reichen intern nach Lebensstilgesichtspunkten zu klassifizieren. Sinnvoll scheint dabei eine Unterteilung der Reichen in folgende Gruppen zu sein, bei denen jeweils eigene und typische Lebensstile vermutet werden dürfen: a.
Der ‚alte Reichtum‘: Auf den bereits generationenübergreifenden Reichtum einiger Familiendynastien mit klangvollen Namen, die es in allen Ländern der Welt gibt, dürften wohl alle Kennzeichen eines gehobenen Lebensstils, wie sie Bourdieu seinerzeit beispielhaft für die französische Bourgeoisie untersucht hatte, allgemein zutreffen: absolute Distanz zur Welt der Notwendigkeit, demonstrativer Müßiggang und ostentativer Konsum, Luxus-Geschmack und Luxus-Bedürfnisse, äußerst komfortable Lebensverhältnisse, elaborierte Freizeitaktivitäten und insgesamt distinktive Verhaltensstandards dürften die typischen Merkmale einer Gruppierung sein, die sich aufgrund ihrer Vermögens- und/oder Besitzverhältnisse wenn nicht alles, so doch ziemlich vieles leisten kann. Ihr Einkommen und ihr Vermögen stellen insofern eine besondere Form des Reichtums dar, als es selbst immer wieder zu einer eigenständigen Quelle von Einkommen und Vermögen wird (Huster 1993: 12). Ein wichtiges Distinktionskriterium
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des ‚alten Geld-Adels‘ gegenüber anderen Gruppen reicher Personen, insbesondere solcher der reichen Oberschicht, ist zudem die Differenzierungslinie zwischen geerbtem und erworbenem Kapital. Innerhalb des Makromilieus der Reichen kommt es also nicht nur darauf an, mehr oder minder reichlich über Geld oder Besitz zu verfügen, sondern mindestens so sehr auch auf die Art und Weise, warum und wie man sein Vermögen besitzt. Nicht nur zwischen der bloßen Menge, also den verschiedenen absoluten Höhenstufen des Reichtums, sondern auch an dessen Herkunft, also dem Verhältnis von ererbtem und verdientem Kapital, verläuft also eine jener Differenzierungslinien, die für ‚feine Unterschiede‘ innerhalb des Reichtums sorgt (Bourdieu 1982; Fussel 2000: 35). Wenn diese Gruppierung der Reichen überhaupt arbeitet, übt sie ‚leichte‘ und reizvolle Tätigkeiten aus (Aufsichtsrat, Kontrollgremien in Banken und Unternehmen, Stiftungsvorsitze, ‚Botschafter‘-Posten, Vorsitze in bestimmten Forschungsinstituten etc.), die v.a. repräsentativen Charakter besitzen und zugleich hochkulturellen Standards genügen; sie lebt allerdings wesentlich von den Erträgen des ererbten Kapitals und ist bereit, einen Gutteil davon für Charity-Aktivitäten zu geben. Der Lebensstil dieser Reichsten der Reichen, die Paul Fussel zu Recht die „Unsichtbaren“ nennt, schwankt zwischen still gelebter Extravaganz und vornehmer Zurückgezogenheit. Beizeiten trifft man sogar auf asketische Lebensformen aus Gründen ethischer Lebensführungsmaximen oder gar deshalb, weil es für den vorhandenen Reichtum einfach nichts mehr zu kaufen gibt. Da sich die Reproduktion des Reichtums quasi von selbst vollzieht, hat vom ‚alten Adel‘ „niemand den geringsten Zweifel an seinem eigenen Wert und alles versteht sich von selbst.“ (Fussel 2000: 39) Dies ist zugleich die Grundlage für jene liberal-konservativen Geisteshaltungen und darauf aufbauenden Wertesysteme sowie für jenes ungezwungene Verhalten, welches die Ungebundenheit gegenüber sozialen Zwängen am sichtbarsten bestätigt und Besitz und Kapital am unzweifelhaftesten bezeugt. Die ‚arbeitenden Reichen‘: Innerhalb des Makromilieus der Reichen gibt es eine zweite Gruppe, die ich die ‚arbeitenden Reichen‘ nennen möchte, weil diese ihren Reichtum durch mehr oder minder große Eigenleistungen erworben bzw. ‚verdient‘ haben. Diese Gruppierung, die sich aus Mitgliedern des gehobenen Bürgertums bis hin zu den gutsituierten Teilen des bürgerlichen Mittelstands erstreckt (Unternehmer, Freiberufler, hohe Angestellte und Beamte, teilweise Handwerker und ‚Emporkömmlinge‘) mag sich zwar auch eines geerbten finanziellen Grundstocks erfreuen, lebt aber ansonsten von ihren erarbeiteten Einkommen. Im Gegensatz zum ‚alten Geldadel‘ sind die ‚arbeitenden Reichen‘ eine sicht- und wahrnehmbare Gruppierung, auch wenn sie selten oder nur schwer Zugang zu jenen Kreisen finden, weil diese sie als nicht standesgemäß erachten bzw. ihnen der richtige ‚Stallgeruch‘ fehlt. Zudem haftet ihnen ein beträchtliches Stigma an: Auch wenn sie mehr arbeiten, als sie aufgrund ihrer Vermögensverhältnisse müssten, arbeiten sie aber dennoch, sei es um einen bestimmten, einmal erreichten Lebensstandard und Lebensstil aufrecht zu erhalten und zu ‚pflegen‘, sei es aus professioneller Berufung (Weber 1988). Dementsprechend weist der Reichtum dieser Gruppierung eine große Variationsbreite auf und reicht von einfachen Einkommensmillionären über die Vermögensmillionäre mit gleichzeitigem beträchtlichen Einkommen bis hin zu zig-millionen- oder gar -milliardenschweren Besitztümern. Mitten durch diese Gruppe verläuft die „magische Grenze, ... wo das ‚quantitative‘ Verhältnis von Arbeit und Einkommen dehnbarer (und) der Zusammenhang von ‚Güterversorgung‘ und ‚Lebensstel-
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c.
Peter Imbusch lung‘ qualitativ andersartig wird.“ (Egger 2001: 141) Hinweise auf die gesellschaftliche Stellung der zu dieser Kategorie gehörigen Subgruppe kann auch hier die Art der Ausgaben liefern, in denen sich ein bestimmter Lebensstil manifestiert: die ostentativ zur Schau gestellten Ausgaben für Luxusgüter; die Art und der Umfang der Bedienstetenkultur; die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Quanten an freier Zeit, welche eine Verfeinerung der Lebensführung und Sublimierung der Genüsse ermöglicht; die auf das objektive Einkommen und das Ausmaß der Güterversorgung verweisende Höhe der Ausgaben und das sich darin ausdrückende Maß der Entsetzung von sozialen Zwängen – alles Indikatoren, die für höchst differenzierte Lebensstile sorgen, für Lebensstile allerdings, denen noch ein wie immer rudimentäres bürgerliches Arbeits- und Leistungsethos zugrunde liegt. Die ‚typischen Neureichen‘: Stellen die ‚arbeitenden‘ Reichen für den ‚alten Geldadel‘ bereits teilweise typische ‚Emporkömmlinge‘ dar, so sind die ‚Neureichen‘ das eigentliche ‚Schreckgespenst‘ der beiden zuvor genannten Gruppierungen, weil sie zwar reich geworden, in ihrem ganzen Habitus und Stil jedoch den alten Herkunftsmilieus verhaftet geblieben sind. Zugleich versuchen sie jedoch zwanghaft, sich ihrem neuen Milieu anzupassen bzw. sich darin zurecht zu finden. Den vorhandenen Mitteln zur Verwirklichung eines gehobenen Lebensstils stehen damit mangelhaftes Wissen (und Können) um die Stilisierungsmöglichkeiten und Distinktionsnotwendigkeiten entgegen, die ein ums andere Mal dazu führen, dass sich die Neureichen nicht adäquat bzw. standesgemäß verhalten, sich durch ihren Habitus und Geschmack ‚verraten‘. Dieses von Bourdieu mit dem Begriff Hysteresis-Effekt betitelte Phänomen (Bourdieu 1982: 238) eines Festhaltens an überkommenen oder nicht mehr situationsadäquaten, weil anderen ‚Welten‘ entstammenden Bewertungs- und Wahrnehmungsschemata lässt sich beispielhaft verdeutlichen: „Wenn ein rasch erworbenes Vermögen einem Mann den Wunsch einflößt, wie ein Bourgeois zu leben, so stellt sich dem seine ganze Erziehung in den Weg; grobe Manieren oder ungeschlachte Ausdrücke verraten ihn; er tritt in Fettnäpfchen, begeht faux-pas, haut daneben oder schlägt über die Stränge. Oder aber, falls er sich entsprechend angepasst hat, ist es seine Frau, die hinterherhinkt. Das Hauptproblem, ein Bourgeois zu werden, liegt eben gerade darin, dass man es nicht isoliert wird. Man ist zunächst Mitglied einer Familie, bevor man Mitglied einer Klasse ist. ... Beim sozialen Aufstieg muss man seine Frau, seine Brüder und Schwestern mitziehen, seine Umgebung abschütteln, mit bestimmten Freunden brechen oder sie zumindest auf Distanz halten. Von einer Klasse zu einer anderen zu wechseln, heißt zunächst, sich der früheren zu entledigen, denn sonst wird man seitens der neuen, die keine ‚gemischte Gesellschaft‘ duldet, erst gar nicht akzeptiert. Hierfür bedarf es oft einer oder zweier Generationen. Derjenige, der dann wirklich ein Bourgeois geworden ist, ist eben kein Parvenue.“ (Goblot 1994: 36 f.)
Weil dem Neureichen sein früherer Habitus anhaftet und ihm für sein neues Leben Stilsicherheit und ‚Klasse‘ fehlen, die er sich zwar zeitaufwendig aneignen kann, aber nicht natürlich erworben hat, kann er zwar einen bestimmten Lebensstil nachahmen, tritt dabei aber häufig übertrieben, angeberisch, überkorrekt und prätentiös auf und wirkt gerade durch seine bemühte Art, sich zu Distinguieren, vulgär oder durch sein fehlendes Gespür für Situationen fehl am Platz, lächerlich oder blamabel. Fast immer geht ihm der ‚praktische Sinn‘ für Bedeutungen ab, die jenseits des Notwendigen und Nützlichen liegen, und damit gerade die entscheidende subjektive Lebenseinstellung als Voraussetzung einer objektiven Lebensführung. In jüngster Zeit ist insbesondere im Zuge der Globalisierung eine neue Generation
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von Super-Reichen entstanden, die jung, arbeitsam, verschwenderisch – eben neureich – ist (Brooks 2001) und vom alteingesessenen Reichtum zwar respektiert, aber keineswegs akzeptiert wird. Die ‚Erfolg-Reichen‘: Als eine vierte Spezies von Reichen können schließlich all jene Stars aus unterschiedlichen Branchen gelten, die es über ihren persönlichen Erfolg zu einem erklecklichen Reichtum gebracht haben. Stars aus dem Show-Geschäft, der Medienbranche oder Spitzensportler bestimmter Sportarten, die dem eingangs skizzierten medial vermittelten Bild vom Reichtum vielleicht noch in einigen der aufgeführten Aspekte am ehesten entsprechen mögen, stellen deshalb eine distinkte Gruppe dar, weil ihr Reichtum nicht primär von Erbfolgen oder Leistungskriterien, sondern von relativ kontingenten Erfolgskriterien der Marktgesellschaft abhängig ist (vgl. Neckel 2001). Das soll natürlich nicht heißen, dass Stars nichts ‚leisten‘, sondern lediglich andeuten, dass Leistungen von Stars sich erst über wenig beeinfluss- und planbare, intervenierende Erfolgsvariablen (Vermarktungsstrategien, Publikumsgeschmack, erfolgreiches Management, richtige Auswahl der Sportart etc.) in Reichtum und schließlich in eine beträchtliche soziale Distanz gegenüber der Alltagswirklichkeit übersetzen. Die Großverdiener unter den Stars der Filmbranche und bestimmter Sportarten sind zwar einerseits wie kaum eine zweite Gruppe von Reichen exponierte öffentliche Personen, andererseits aber führen gerade sie oft ein vollkommen zurückgezogenes Leben fern jeder Öffentlichkeit, so dass deren Lebensstile höchst unterschiedlich ausfallen. Es kann jedoch vermutet werden, dass sich die favorisierten Lebensstile der einzelnen Gruppen zunächst an dem klassen-, schichtungs- oder milieumäßigen Hintergrund orientieren, dem die Stars entstammen und je nach Erfolgsbranche auch mehr oder minder lange bestehen bleiben – selbst wenn man sich den ‚Luxus‘ eines größeren Hauses in einem besseren Viertel, einer Zweit- oder Erstwohnung an einem klimatisch oder steuerlich begünstigten Ort, teure ‚Schlitten‘ und vieles andere mehr leisten kann. Neben dem Herkunftskriterium – bei dem auch nicht übersehen werden darf, dass nicht wenige der erfolgreichen Stars durchaus aus ‚gutem Hause‘ stammen – dürften bei den Stars für die Art ihres Lebensstils die zeitliche Dauer der gehobenen Verdienstmöglichkeiten von besonderer Relevanz sein, lassen sich doch etwa auf dem Gebiet des Spitzensports höchste Einkommen immer nur transitorisch erzielen. Dies gilt zumindest partiell auch für das Showgeschäft, die Musik- und die Filmbranche. In Bezug auf die Verstetigung eines gehobenen Lebensstils ist zudem von Bedeutung, dass die Transformationsmöglichkeiten ihrer je spezifischen Kapitalarten für diese Gruppe der Reichen in der Regel deutlich begrenzter sind, als für die anderen genannten Kategorien reicher Personen, so dass diesbezüglich besondere Umsicht in Bezug auf die Verstetigung des Reichtums geboten und erforderlich ist. Eine solche Klassifizierung und Unterteilung der Reichen hat den Vorteil, dass sie sowohl auf gesellschaftlicher als auch internationaler Ebene dazu dienen könnte, „die Reichen“ entlang struktureller Unterscheidungen zu differenzieren. Legte man über diese Schematisierung das Einkommens- bzw. Vermögenskriterium – also den Umfang, die Höhe und die Zusammensetzung des Vermögens –, ließe sich der Reichtum national wie international recht gut abbilden und in seiner Differenziertheit erfassen.
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Resümee
Lässt man die zentralen Befunde dieses Beitrags Revue passieren, erkennt man nicht nur, dass es weltweit eine kleine Schicht außerordentlich reicher Menschen gibt, die über ein unglaubliches Vermögen verfügt und sich quasi alles leisten kann. Sie pflegt einen privilegierten Lebensstil, der sich durch eine größtmögliche Distanz zu allem Alltäglichen und den Zwängen des Lebens, aber auch zu anderen Klassen und Schichten auszeichnet. Gleichwohl ist sie weit davon entfernt, eine einheitliche, homogene Gruppierung zu sein. Es zeigt sich auch, dass die sozialen Unterschiede zwischen den Reichen außerordentlich groß sind, die Spannweite ihrer Vermögen immens ist und sich ihre jeweiligen Lebensformen auf den verschiedenen Reichtumsniveaus ebenfalls stark unterscheiden. Die Merkmale der Lebensstilisierung und die Muster der Distinktion zielen dabei wesentlich darauf ab, die ständigen Status- und Konkurrenzkämpfe unter Ihresgleichen zu bestehen – nicht darauf, sich von den nichtreichen Bevölkerungsgruppen abzusetzen, von denen sie in sozialer Hinsicht ohnehin weit entfernt sind. Die latenten Wettbewerbssituationen unter den Reichen, die manifesten und reproduktionsbedürftigen Hierarchien, die sichtbaren und unsichtbaren Zugangsbarrieren zwischen verschiedenen Mitgliedern dieser Gruppen sowie das beständige Streben nach Status und Ansehen sind dauerhafte und charakteristische Merkmale einer Schicht, die v.a. über ihren Konsum für die Außenwelt sicht- und wahrnehmbar wird: Jeder Blick auf den boomenden Markt für Luxusgüter und ihre entsprechenden Kategorien vermag zumindest einen Eindruck vom Elitären des Reichtums zu vermitteln, der gegenwärtig mehr denn je mit Charity- und anderen philanthropischen Aktivitäten nach legitimatorischer Anerkennung heischt, ansonsten aber eine abgeschlossene soziale Welt für sich bildet, zu der hohe Zugangsbarrieren bestehen.
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Reichtum und Eliten im europäischen Vergleich1 Michael Hartmann
1
Einkommens- und Vermögensungleichheit in Europa
Anfang März 2008 wurden kurz nacheinander eine Studie des DIW (Grabka und Frick 2008) und Zahlen des Statistischen Bundesamtes veröffentlicht, die sehr deutlich machen, wie sich die Einkommensschere in Deutschland binnen weniger Jahre auseinander entwickelt hat. Auf der einen Seite greift Armut in der Bevölkerung immer stärker um sich, auf der anderen nimmt die Zahl der Wohlhabenden und Reichen ebenfalls deutlich zu. Wer massiv verliert, das ist der klassische Durchschnittsverdiener, die typische deutsche Mittelschicht. Die Studie des DIW zeigt anhand der sehr detaillierten Daten der seit 1984 durchgeführten repräsentativen Befragung SOEP, dass sich seit der Jahrtausendwende ein dramatischer Wandel abzeichnet. Während die Einkommensstruktur in den eineinhalb Jahrzehnten bis 2000 nur geringfügige Veränderungen aufwies, hat seit der Jahrtausendwende der Anteil des untersten Achtels der Bevölkerung (mit weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Einkommens) ebenso wie der des obersten (mit mindestens dem doppelten Durchschnittseinkommen) massiv zugenommen, im ersten Fall um über die Hälfte auf 11,4%, im zweiten Fall um über ein Drittel auf 9,2%. Stark geschrumpft ist gleichzeitig der Anteil der Durchschnittsverdiener (90 bis 110% des Durchschnittseinkommens) von über 19 auf nur noch gut 14% (Grabka und Frick 2008: 103). Zu diesem Ergebnis, das in den Medien unter dem Tenor „Verschwinden der Mittelschicht“ heftig diskutiert wurde, passt die fast zeitgleich veröffentlichte Mitteilung des Statistischen Bundesamtes, dass die Bruttolöhne und -gehälter 2007 das vierte Jahr in Folge gesunken sind, und zwar nominell um 0,8% und real sogar um 1,2%. Die soziale Spaltung der deutschen Gesellschaft hat sich dementsprechend vertieft. Seit 1998 ist der Anteil der Armen von gut 12 auf über 17% gestiegen. Gleichzeitig nahm auch das Nettovermögen der Bundesbürger massiv zu, allein zwischen 1998 und 2003 um 17% auf insgesamt fünf Billionen Euro. Die Verteilung dieses Vermögens fällt allerdings höchst ungleich aus. Die vermögendsten 10% der Bevölkerung besitzen mittlerweile nicht nur fast 60% dieses Vermögens, sie haben ihren Anteil seit 1998 auch deutlich erhöhen können. Die ärmsten 10% haben ebenfalls eine Steigerung zu verzeichnen: Ihre Schulden haben sich vervielfacht; Nettovermögen besitzen sie keines. Die gesamte untere Hälfte der Bevölkerung verfügt noch nicht einmal über 1% des Nettovermögens der Bundesbürger (Grabka und Frick 2007: 667 ff.; Groh-Samberg 2007: 177ff.; SPD-Bundestagfraktion 2007: 105).
1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete und aktualisierte Fassung eines Artikels in Heft 3/2008 der WSI-Mitteilungen (Hartmann 2008).
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Michael Hartmann
In einer ganzen Reihe europäischer Länder sieht die generelle Entwicklung ähnlich aus. Was die konkrete Verteilung von Armut und Reichtum angeht, gibt es allerdings von Land zu Land große Unterschiede (Tabelle 1). So liegt die Armutsquote in Großbritannien, Portugal oder Spanien bei um die 20%. Sie ist fast doppelt so hoch wie die der Tschechischen Republik oder der skandinavischen Staaten. Bei alleinstehenden Personen mit abhängigen Kindern liegen die Werte für Deutschland, Großbritannien und Irland mit 44 bis 54% sogar ungefähr dreimal so hoch wie in Dänemark, Finnland, Luxemburg, Schweden und Ungarn mit 15 bis 19% (Liddle und Lerais 2006: 55). Beim Reichtum ist es genau umgekehrt. Das oberste Fünftel der Bevölkerung vereint in Portugal ein mehr als sieben Mal höheres Einkommen auf sich als das unterste Fünftel, in Großbritannien und Spanien ein mehr als fünf Mal höheres. In den skandinavischen Ländern und der Tschechischen Republik ist es dagegen „nur“ das 3,3- bis 3,6-Fache. Tabelle 1: Einkommensungleichheit in Europa 2004 (*2003)
Skandinavien Dänemark Finnland Norwegen Schweden Osteuropa Bulgarien Polen Rumänien Tschechien Ungarn Mitteleuropa Belgien Deutschland Niederlande Österreich Westeuropa Frankreich Großbritannien Irland Südeuropa Griechenland Italien Portugal Spanien
Einkommen: oberstes zum untersten Fünftel
Löhne: oberstes zum untersten Zehntel
GiniKoeffizient in %
Armutsquote in %
3,4 3,5 3,6 3,3
2,1 2,0 2,0 2,0
0,24 0,25 0,26* 0,23
11 11 11 11
4,0 5,0* 4,6* 3,4* 3,3*
4,4 4,7 5,1 2,8 3,4
0,26* 0,31* 0,31* 0,24* 0,23*
15 18 18 9 12
4,0 4,4 4,0* 3,8
2,6 3,2 2,8 3,0
0,26 0,28 0,27* 0,26
15 16 12 13
4,2 5,3* 5,0
3,4 3,2 3,9
0,28 0,35* 0,32
13 19 21
6,0 5,6 7,2 5,1
2,6 2,5 3,3 3,2
0,33 0,33 0,38 0,31
20 19 21 20
Quelle: European Commission 2005: 180ff.; Guio 2005: 4f. und Angaben von Eurostat.
Reichtum und Eliten im europäischen Vergleich
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Die Eliten und die Politik
Angesichts der immer weiter zunehmenden Kluft zwischen Reich und Arm in Europa stellt sich die Frage, inwieweit die Eliten diese Entwicklung spürbar beeinflussen oder eventuell sogar steuern können. Die beträchtlichen Differenzen zwischen den einzelnen europäischen Staaten, soweit es die Verteilung der jeweiligen nationalen Einkommen und Vermögen angeht, zeigt eines deutlich: Auch wenn die Eliten all dieser Länder bestimmten Rahmenbedingungen unterliegen (wie beispielsweise der Finanzmarktsituation oder der allgemeinen Wirtschaftslage), die sie durch ihre Entscheidungen nur teilweise bestimmen können, so bleiben ihnen doch ganz offensichtlich nicht unerhebliche Handlungsspielräume. Typisch ist die aktuelle Diskussion über die Rolle von Private Equity und Hedgefonds oder die Steuerpolitik. Politiker wie Topmanager weisen immer wieder darauf hin, dass sie selbst Getriebene der Entwicklung seien. Der Druck der Finanzmärkte, so das stets wiederkehrende Argument, lasse ihnen einfach keine Wahl. Eine solche Argumentation ist nicht einfach von der Hand zu weisen. Spektakuläre Einflussnahmen von Hedgefonds zeigen das ebenso wie die bei multinationalen Konzernen übliche Verschiebung von Gewinnen in steuergünstige Länder. Unter kapitalistischen Bedingungen werden von Menschen geschaffene Verhältnisse zu äußeren, scheinbar naturgesetzlichen Zwängen, denen sich auch Topmanager oder Spitzenpolitiker nicht einfach entziehen können. Allerdings zeigen schon Beispiele wie die massiven Stellenstreichungen bei BMW und der Verkauf der Pharmasparte von Altana, dass das Argument mit dem Druck der Finanzmärkte nicht so schlüssig ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Beide Unternehmen unterliegen diesem Druck nämlich nicht, weil die Familie Quandt ganz eindeutig die Kontrolle ausübt und von niemandem zu einer Änderung ihrer Unternehmenspolitik gedrängt werden kann. Auch waren beide Konzerne profitabel. Es war ganz offensichtlich ausschließlich oder zumindest vorrangig das Bedürfnis nach einem höheren Gewinn seitens der Familienmitglieder, der in beiden Fällen für die weit reichenden Entscheidungen ausschlaggebend war. Wer mit dem Druck der Finanzmärkte argumentiert, sollte außerdem nicht vergessen, dass politische Entscheidungen zur Deregulierung dieser Märkte geführt haben. Die Deregulierung war nicht quasi „naturgesetzlich“ vorgegeben. Das gilt vor allem hinsichtlich ihrer konkreten Form und ihres Ausmaßes, und zwar bis heute, wie die Debatte um die Aktivitäten der zahlreichen Steueroasen oder die Kontrolle von Hedgefonds unmissverständlich demonstriert. Zudem war und ist der schnelle und umfassende Erfolg dieser Fonds untrennbar verknüpft mit der stark steigenden Zahl an Multimillionären, die lukrative Anlagemöglichkeiten für ihr Geld suchen. Er steht also in direktem Zusammenhang mit der wachsenden Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, und Letzteres wiederum mit politischen Entscheidungen, vor allem in der Steuerpolitik. Gerade die deutschen Finanzminister sind in den letzten 15 Jahren nicht müde geworden, auf externe Zwänge hinzuweisen, die sie zu einer nachhaltigen Senkung der Spitzensteuersätze oder zum Verzicht auf eine Vermögenssteuer nötigten. Sie zelebrierten sich als Getriebene einer Entwicklung, waren in Wirklichkeit aber häufig eher die Treibenden. Aktuelle Vergleiche der effektiven Steuersätze, die vom Bundesfinanzministerium regelmäßig veröffentlicht werden, verdeutlichen das anschaulich. Die Steuerquote lag in Deutschland schon 1995 deutlich unterhalb des Niveaus der meisten Industrieländer. In Europa wiesen nur Spanien und die Schweiz niedrigere Quoten auf. Auch bei Berücksichtigung der Sozialabgaben ändern sich die Verhältnisse nicht wesentlich. Die Unterschiede
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Michael Hartmann
werden allerdings geringer. Akuter, von außen erzwungener Handlungsbedarf war und ist dennoch nicht zu erkennen. Man hat die Steuersätze trotzdem deutlich gesenkt. Deutschland weist mittlerweile eine Steuerbelastung von nur noch 20,8% auf,2 während in den meisten anderen Ländern die Quote nicht nur gleich geblieben ist, sondern sich vielfach sogar noch erhöht hat. Bei der Gesamtbelastung inklusive der Sozialabgaben zeigt sich dasselbe Bild. Sie ist hierzulande von 37,2 auf nur noch 34,7% gesunken, während sie in den meisten anderen Ländern leicht (auf Werte zwischen knapp 40 und gut 50%) gestiegen ist. Selbst Spanien hat mit 35,8% inzwischen eine höhere Abgabenquote als Deutschland zu verzeichnen (Bundesministerium der Finanzen 2005: 8f.; dies. 2007: 56). Nach einem Jahrzehnt Steuerreformen liegt Deutschland unter den Industriestaaten in puncto Steuerquote am unteren Ende der Skala und hinsichtlich der gesamten Abgabenlast im unteren Drittel. Eine OECD-Studie macht auf einen weiteren entscheidenden Aspekt aufmerksam. Die Steuerreformen in Deutschland, so die Kernaussage, hätten eine drastische soziale Schieflage zur Folge. Entlastet worden seien in erster Linie die gut verdienenden Angestellten, Freiberufler und Unternehmer (Dunkel 2007). Besonders begünstigt von den Steuerreformen wurden vor allem die Reichen und Superreichen. Die effektive steuerliche Belastung des reichsten Promilles der Bundesbürger ist zwischen 1992 und 2002 von 41,0 auf 36,1% gesunken. Die 400 reichsten Deutschen sind noch stärker entlastet worden. Ihr effektiver Steuersatz reduzierte sich allein in den vier Jahren zwischen 1998 und 2002 von 41,0 auf nur noch 34,3%. Bei den 40 reichsten Deutschen ist in diesen vier Jahren sogar ein Rückgang der Steuererbelastung von 45 auf 32% zu verzeichnen (Bach; Corneo und Steiner 2008: 17). Sie haben eine Entlastung um fast 30% erfahren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass 2002 erst die erste Stufe der Senkung des Spitzensteuersatzes von 53,0 auf 48,5% realisiert war. Durch die weitere Senkung auf inzwischen nur noch 42% dürfte die steuerliche Belastung der Reichen und Superreichen seit 2002 noch einmal verringert worden sein. Überhaupt nicht entlastet, sondern sogar stärker als zuvor belastet worden, sind dagegen alleinerziehende Geringverdiener. Eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern und rund zwei Dritteln des Durchschnittseinkommens muss mit gut 21% heute um ein Fünftel höhere Abgaben entrichten als im Schnitt der OECD-Länder (Dunkel 2007). Die im europäischen Vergleich sehr hohe Armutsquote für diese Personengruppe resultiert zu einem beträchtlichen Teil aus der Steuerpolitik der letzten Bundesregierungen. Von Sachzwängen kann also nicht die Rede sein. Die Eliten sind keine quasi neutralen Sachwalter externer Zwänge, sie verfolgen durchaus gezielt eigene Interessen.
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Eliten und Macht
In welchem Ausmaß ihnen die Durchsetzung ihrer Interessen gelingt, hängt vor allem von zwei Faktoren ab: der Homogenität der zentralen Eliten zum einen sowie den gegebenen gesamtgesellschaftlichen Kräfteverhältnissen zum anderen. Homogene Eliten zeichnen sich durch eine gehobene soziale Herkunft aus Bürger- oder Großbürgertum aus, den gemeinsamen Besuch exklusiver Bildungsinstitutionen sowie den regelmäßigen Wechsel zwischen Spitzenpositionen in den verschiedenen zentralen Sektoren; sie sind also in ihren Einstellungen und Interessen deutlich homogen. Es dürfte auf der Hand liegen, dass sie damit auch bei der Interessendurchsetzung erfolgreicher sind als diejenigen, die aus unterschiedlichen 2
Diese Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2005.
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Gesellschaftsschichten und -klassen stammen, relativ weit verbreitete Bildungstitel aufweisen und ihre gesamte Karriere in nur einem Bereich absolvieren. Die Realisierung der Elitenziele hängt allerdings von den je nach Land und historischer Phase unterschiedlich starken Gegenkräften ab. Entscheidend sind in dieser Beziehung drei Punkte: erstens die in der breiten Bevölkerung verankerten Wertvorstellungen und die generell vorhandene Bereitschaft zum Widerstand; zweitens die dauerhafte Organisierung gegenläufiger Interessen vor allem in Form von Gewerkschaften; und drittens das Verhältnis der breiten Bevölkerung zu den parlamentarischen Möglichkeiten der Einflussnahme, d.h. zu Wahlen und Parteien. Betrachtet man die Eliten in Europa, so lassen sich vier Grundtypen von Elitenbildung und Elitenhomogenität erkennen. Es gibt erstens Eliten mit einer einheitlichen Ausbildung in Elitebildungseinrichtungen, einer in allen Bereichen durchgängig hohen sozialen Rekrutierung aus Bürger- und Großbürgertum und zusätzlich auch noch einer hohen sektorübergreifenden Mobilität (Frankreich). Zweitens gibt es Eliten, die zwar eine ähnlich exklusive soziale Herkunft quer durch alle Bereiche aufweisen, jedoch entweder intersektoral nicht mobil sind (Großbritannien) oder aber keine Elitebildungsstätten besucht haben (Spanien, Portugal). Drittens gibt es Eliten, die weder mobil noch in Eliteinstitutionen ausgebildet sind, sozial aber, vor allem soweit es die Wirtschaft betrifft, ebenfalls vom Nachwuchs des Bürger- und Großbürgertums dominiert werden (Deutschland, Italien, Niederlande). Deutschland ähnelt aufgrund der bürgerlichen Prägung, die auch die Spitzen in Verwaltung und Justiz charakterisiert, sowie der in den letzten Jahren beobachtbaren Verbürgerlichung der politischen Elite dabei Frankreich, Großbritannien und Spanien am stärksten. Viertens schließlich gibt es Eliten, die nicht nur die normalen Bildungseinrichtungen absolviert und ihre Karrieren fast ausschließlich in einem Sektor gemacht haben, sondern auch sozial erheblich durchlässiger sind als die schon genannten Eliten (Skandinavien). Die übrigen Länder bilden entweder Mischformen aus den Typen drei und vier oder sie sind (wie die neuen EU-Mitglieder in Osteuropa) noch dabei, eine spezifische Form von Elitenbildung zu entwickeln (Hartmann 2007: 83ff.). Tabelle 2: Die soziale Rekrutierung der politischen Eliten (Staatspräsident, Ministerpräsident, Premierminister, Bundeskanzler) Europas seit 1945 (in %) Frankreich Großbritannien Spanien Portugal Deutschland Italien Niederlande Belgien Österreich Schweiz Dänemark Finnland Norwegen Schweden Polen Ungarn
Großbürgertum 52,5 45,5 40,0 22,2 8,7 23,0 28,6 28,5 20,0 15,4 22,2 -
Quelle: Eigene Recherchen des Autors.
Bürgertum 27,5 27,2 20,0 66,7 31,2 39,1 15,4 21,4 12,5 14,3 15,4 15,4 11,1 66,7 40,0
Mittelschichten 15,0 18,2 40,0 11,1 43,8 30,4 30,8 28,6 37,5 42,9 53,8 46,1 33,3 20,0
Arbeiterklasse 5,0 9,1 25,0 21,7 30,8 21,4 50,0 14,3 30,8 80,0 23,1 33,3 33,3 40,0
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In Hinblick auf die Homogenität der Eliten bilden diese vier Typen zugleich eine Hierarchie, an deren Spitze die französischen Eliten als die homogensten stehen, dicht gefolgt von den britischen, portugiesischen und spanischen Eliten. Darauf folgen (mit mehr oder minder großem Abstand) die deutschen, italienischen und niederländischen Eliten. Und am Ende dieser Skala rangieren als die sozial zugänglichsten und heterogensten die Eliten aus Skandinavien und einigen osteuropäischen Staaten. Die Mehrzahl der europäischen Länder unterscheidet von Frankreich, Großbritannien, Portugal und Spanien eine erheblich breitere soziale Rekrutierung der Eliten. Das gilt vor allem für die Politik. Während sich die Eliten in den erstgenannten vier Staaten überwiegend aus dem Bürger- und Großbürgertum rekrutieren, besetzen in den übrigen Ländern traditionell Mittelschicht- und Arbeiterkinder die Mehrzahl der politischen Spitzenpositionen. Am stärksten sind Letztere in Skandinavien und Österreich vertreten (Tabelle 2). In Deutschland und Italien, den beiden einzigen großen westeuropäischen Staaten mit einer traditionell relativ offenen politischen Elite, ist in den letzten Jahren allerdings ein neuer Trend zu erkennen. Die Verankerung der Parteien in der Bevölkerung nimmt drastisch ab, der Anteil der Bürger- und Großbürgerkinder in den Regierungen gleichzeitig erheblich zu. Am deutlichsten wird das beim Vergleich der großen Koalitionen unter Kiesinger und Merkel. Während das Bundeskabinett vor 40 Jahren noch zu fast zwei Dritteln von Politikern gebildet wurde, die in den breiten Mittelschichten oder der Arbeiterklasse aufgewachsen waren, liegt ihr Anteil heute nur noch bei gut 30%. Umgekehrt stellen Großbürgerkinder, die damals überhaupt nicht vertreten waren, heute jeden achten Minister und Bürgerkinder über die Hälfte statt einem guten Drittel der Kabinettsmitglieder. Die Bundesregierung hat sich in ihrer sozialen Zusammensetzung den Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und Spaniens stark angenähert. In Italien ist die Entwicklung in den letzten 15 Jahren ähnlich verlaufen. Ein Verbürgerlichungsprozess der politischen Eliten bei gleichzeitig massivem Verlust an Parteimitgliedern ist auch in Belgien, den Niederlanden und selbst den skandinavischen Staaten zu beobachten. Von den Kabinettsmitgliedern der aktuellen großen Koalitionen in den Niederlanden und Österreich kommen im Unterschied zu Deutschland allerdings immer noch gut 60% aus der breiten Bevölkerung. Tabelle 3: Die soziale Rekrutierung der Topmanager 2005 (in %) Großbürgertum Bürgertum Mittelschichten/Arbeiterklasse
F 57,0 30,3 12,7
GB 53,2 31,2 15,6
ESP 55,0 30,0 15,0
D 51,7 33,3 15,0
IT 51,6 16,1 32,3
SWE 28,6 21,4 50,0
Quelle: Eigene Recherchen des Autors.
In der Wirtschaft sieht es generell etwas anders aus. Die Topmanager in Deutschland und Italien rekrutieren sich zu einem fast identischen Prozentsatz wie die in Frankreich, Großbritannien oder Spanien aus dem Großbürgertum. Berücksichtigt man noch den Nachwuchs des Bürgertums, existiert zwischen Deutschland und diesen drei Ländern kein Unterschied mehr. Die italienische Wirtschaftselite dagegen ist mit einem gut doppelt so hohen Prozentsatz an Managern aus den Reihen der Mittelschichten und der Arbeiterklasse sozial zumindest etwas zugänglicher. Deutlich offener dagegen ist die Wirtschaftselite in den meisten anderen Staaten, vor allem in den skandinavischen. So stammt zum Beispiel in Schweden
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jeder zweite Spitzenmanager aus der breiten Bevölkerung und nur jeder vierte aus dem Großbürgertum (Tabelle 3).
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Elitenmacht und Reichtum
Da die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums in der Regel der beste Indikator für die Macht der Eliten ist, müsste die Hierarchie der Elitetypen weitgehend parallel zu einer Hierarchie der nationalen Einkommensunterschiede verlaufen. Das bestätigt sich im Großen und Ganzen auch. Es gibt in puncto Einkommensungleichheit ebenfalls vier klar voneinander getrennte Gruppen. Die geringsten Einkommens- wie Lohndifferenzen zwischen oben und unten und die niedrigsten Armutsquoten weisen die skandinavischen Länder auf. Mit Tschechien und Ungarn folgen zwei ehemalige Ostblockländer relativ dicht auf. Dann kommt ein breites Mittelfeld, zu dem mit Ausnahme der britischen Inseln alle traditionellen EU-Staaten zählen. Großbritannien und Irland bilden zusammen mit den südeuropäischen Ländern die Schlussgruppe (s. Tab. 1). Vergleicht man diese vier Ländergruppen mit den Elitetypen, so fallen die Parallelen sofort ins Auge. Auf der einen Seite des Spektrums stehen die skandinavischen Staaten. Sie haben die sozial durchlässigsten und inhomogensten Eliten und weisen gleichzeitig das geringste Maß an sozialer Ungleichheit auf. Auf der anderen Seite stehen Großbritannien, Spanien und Portugal. Ihre Eliten zeichnen sich durch eine hohe soziale Herkunft und große Homogenität aus. Die Spaltung zwischen Reich und Arm fällt dann auch erwartungsgemäß sehr scharf aus. Dazwischen liegt ein breites Mittelfeld. Es wird sowohl in puncto Elitenherkunft und -homogenität als auch in Bezug auf Einkommensdifferenzen und Armutsquote von Deutschland angeführt. Erklärungsbedürftig sind allerdings die Ergebnisse für Italien und vor allem Frankreich. Italien fällt aus dem Rahmen, weil die Kluft zwischen Reich und Arm deutlich tiefer ist als es angesichts der Elitenstruktur zu erwarten gewesen wäre. Bei Frankreich ist es genau umgekehrt. Beide Fälle zeigen, dass sich im Großen und Ganzen zwar eindeutige Parallelen zwischen Elitentypus und dem Umfang der gesellschaftlichen Ungleichheit ziehen lassen, man dabei aber nie die jeweilige Tradition der einzelnen Länder und die dort herrschenden Kräfteverhältnisse ignorieren darf. In Italien sind es in erster Linie zwei Faktoren, die die doch überraschend große Kluft zwischen Reich und Arm erklären. Das ist zum einen der für ein entwickeltes Land mit 30% der Erwerbstätigen sehr hohe Anteil an kleinen, schlecht verdienenden Selbstständigen; zum anderen ist es die schlechte finanzielle Absicherung vieler Arbeitsloser. Die durchschnittliche Lohnersatzquote, d.h. Höhe und Dauer von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe verglichen mit den Nettoeinkommen, liegt in Italien mit 6% weit unterhalb des europäischen Durchschnitts von gut 70% (Jörgensen und Schulz zur Wiesch 2006: 14). Dass Frankreich eine weit ausgeglichenere Einkommensverteilung aufweist als die beiden Länder Europas, die ihm in puncto Elitenherkunft und -homogenität am ähnlichsten sind – Großbritannien und Spanien –, liegt vor allem an der außergewöhnlich starken Staatsorientierung der Bevölkerung, von der die Eliten zunächst profitieren. Die Staatsorientierung bildet nicht nur die Grundlage des extrem zentralisierten Elitebildungssystems, d.h. letztlich die Basis der hohen Homogenität wie Mobilität der französischen Eliten, sie
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verleiht ihnen auch öffentliche Legitimität, wie Bourdieu in seinen Schriften immer wieder betont (Bourdieu 2004). Die für Eliten ideologisch wie materiell sehr vorteilhafte Staatsorientierung hat aber auch eine Kehrseite. Die Bevölkerung fordert die damit einhergehenden Ansprüche an den Staat in bestimmten Abständen auch immer wieder handfest ein, wie z.B. beim großen Streik 1995 gegen die Rentenpläne der damaligen Regierung Juppé. Der Staat ist zwar der entscheidende Adressat der Forderungen, seine Spitzenvertreter wie auch die Eliten ganz allgemein werden aber sehr misstrauisch beäugt. Daher kommt es regelmäßig zu massiven Konflikten, die sich in Generalstreiks, großen Demonstrationen und teilweise auch gewalttätigen Unruhen ausdrücken. Durch sie werden den Plänen der Eliten immer wieder Grenzen gesetzt. Die latente und auch immer wieder manifest werdende Protestbereitschaft erheblicher Teile der Bevölkerung engt den Spielraum für extreme Einkommensdifferenzen nach angelsächsischem Muster spürbar ein. Wie stark dieser Faktor die Einkommensverteilung beeinflusst, zeigt ein Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich. In beiden Ländern gelangten in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre „linke“ Koalitionen an die Regierung, 1997 unter Jospin und 1998 unter Schröder. Die Folgen für die Einkommensverteilung waren jedoch höchst unterschiedlich. Die Steuer- und Sozialpolitik der rot-grünen Berliner Regierung verschärfte die Einkommensungleichheit in Deutschland ganz massiv. Die Differenz zwischen den Einkommen des obersten und des untersten Fünftels der Bevölkerung stieg zwischen 1998 und 2004 mit über 20% mehr als doppelt so stark an wie in jedem anderen Land Westeuropas, und das schon vor dem Inkrafttreten von Hartz IV. Sie erreichte damit einen Wert, wie er in Frankreich vor dem Regierungsantritt Jospins 1997 bestand. In Frankreich ging die Einkommensdifferenz bis 2002 dagegen sogar um ca. 10% zurück, sodass sie – auch wenn unter Raffarin, dem konservativen Nachfolger Jospins, eine leichte Gegenbewegung einsetzte – 2004 immer noch geringer war als 1997. Und was noch bemerkenswerter ist: Die Einkommensdifferenz in Frankreich war damit niedriger als in Deutschland. Der große Streik von 1995 wirkte in dieser Hinsicht spürbar nach. Zwar sorgt der schwache gewerkschaftliche Organisierungsgrad in Frankreich für große Gehalts- und Lohnunterschiede (s. Tab. 1); in Bezug auf die Gesamteinkommen wird das aber durch die relativ umfassenden staatlichen Sozialleistungen mehr als wettgemacht. Das französische Beispiel demonstriert unübersehbar, wie wichtig nationale Traditionen sind. Die Macht, die die nationalen Eliten auszuüben vermögen, hängt stark von den Traditionen ab; denn sie prägen nicht nur die spezifisch nationalen Typen von Elitebildung und damit die Rekrutierung und Homogenität der jeweiligen Eliten; sie prägen vielmehr auch die Einstellung und das Verhalten der Bevölkerung diesen Eliten gegenüber, d.h. die Stärke potenzieller Gegenkräfte. Die relativ geringen sozialen Differenzen in den skandinavischen Ländern lassen sich nicht ohne die lange egalitäre Tradition der skandinavischen Gesellschaften, die Tradition des Wohlfahrtsstaates, die Dominanz der sozialdemokratischen Parteien und die Stärke der Gewerkschaften erklären. Die egalitäre Grundeinstellung der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit, eine unter besonderen historischen Bedingungen entstandene Mischung aus bäuerlichen und proletarischen Elementen, zeigt sich in vielen Aspekten des täglichen Lebens. Zwar verliert diese Tradition auch in Skandinavien an Bedeutung, sie prägt die Gesellschaften aber immer noch stark. Auch der Wohlfahrtsstaat genießt in Skandinavien nach wie vor eine große Wertschätzung. Die für seine Finanzierung notwendigen, im internationalen Vergleich außergewöhn-
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lich hohen Einkommenssteuern werden von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung bis heute akzeptiert. Die großen Erfolge der skandinavischen Bildungssysteme, die es im Unterschied gerade zum deutschen Bildungssystem schaffen, die Bedeutung der sozialen Herkunft für die Bildungskarrieren deutlich zu reduzieren und einen großen Prozentsatz der Bevölkerung zu hohen Bildungsabschlüssen zu führen, passen ebenfalls ins Bild. Zu guter Letzt sind auch die skandinavischen Gewerkschaften ausgesprochen erfolgreich. Sie sind nicht nur diejenigen in Europa mit dem weitaus höchsten Organisationsgrad (zwischen 60 und 80%); sie gehören auch zu den ganz wenigen, die in den letzten zwei Jahrzehnten keinen spürbaren Rückgang zu verzeichnen hatten (Carley 2004; Ebbinghaus und Visser 2000). Die im europäischen Vergleich hohe soziale Durchlässigkeit der Eliten in diesen Ländern ist das Produkt dieses spezifisch skandinavischen Modells, trägt aber auch zu seiner Stabilität und Kontinuität bei. Man darf dabei allerdings zwei Punkte nicht übersehen. Zum einen ist die politische Aktivität der breiten Bevölkerung auch in den skandinavischen Ländern in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich zurückgegangen. Die traditionell außerordentlich mitgliederstarken Parteien haben seit 1980 zwischen gut einem Viertel und ungefähr der Hälfte ihrer Mitglieder verloren, obwohl sie immer noch einen mehr als doppelt so hohen Anteil der Bevölkerung organisieren wie etwa in den Niederlanden oder Deutschland (Lucardie 2006: 347; Steffen 2006: 97). Zum anderen sind die Veränderung der Kräfteverhältnisse zulasten der breiten Bevölkerung und der Siegeszug neoliberalen Gedankenguts auch an Skandinavien nicht spurlos vorüber gegangen. Die letzte sozialdemokratische Regierung in Schweden hat die Erbschaftssteuer weitgehend abgeschafft, die neue konservative Regierung will auch die Vermögenssteuer abschaffen. Die Unternehmenssteuern sind ebenfalls schon unter den Sozialdemokraten spürbar gesenkt worden, liegen real allerdings mit gut 33% immer noch deutlich über dem EU-Durchschnitt von ca. 25% (European Commission 2007: 92, 219). Auch angesichts der sehr hohen Einkommenssteuersätze gerade für Spitzenverdiener, die in Dänemark in den letzten Jahren sogar noch einmal auf jetzt 59% angehoben worden sind, ist all das zwar nicht so problematisch wie die Steuersenkungen in Deutschland oder gar den angelsächsischen Ländern; es zeigt jedoch, dass kein Modell auf ewig existieren muss. Das gilt für den Wohlfahrtsstaat genauso wie für die Rekrutierung und Homogenität der Eliten. Wie eine Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse den Prozess der Elitenbildung beeinflusst, kann man in den letzten Jahren in Deutschland und Italien sehen.
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Fazit
Die augenblickliche Entwicklung stimmt eher pessimistisch. Der fast überall zu beobachtende, vielfach dramatische Rückgang der Gewerkschaftsmitglieder, die massiv gesunkene Bereitschaft der breiten Bevölkerung zum politischen Engagement, die auf fast allen Ebenen wachsende Macht der großen Unternehmen, die zunehmenden Lobbyaktivitäten bei den nationalen Regierungen wie bei der EU in Brüssel sprechen nicht gerade für eine Verbesserung der Situation, soweit es die Lebenslage der breiten Bevölkerung oder ihre Einflussmöglichkeiten angeht. Die Lage wird noch dadurch verschärft, dass die zentralen Instanzen der EU-Bürokratie nur in vergleichsweise geringem Maße demokratischem Einfluss seitens der Bevölkerungen der EU-Mitgliedsstaaten unterliegen. Die Europäische Kommission wie auch die
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hohen Beamten sind für die breite Bevölkerung noch weniger greifbar als die nationalen Regierungs- und Verwaltungsspitzen, beeinflussen aber mit ihren Entscheidungen das normale Leben in Europa immer stärker. Die überwiegend bürgerlich-großbürgerliche Herkunft der meisten EU-Kommissare und der nationalen Eliten der wichtigen EU-Staaten erleichtert dabei die Verständigung über die zentralen Ziele deutlich. Nur mit länderübergreifenden massiven Protesten konnten in den letzten Jahren Pläne der EU-Kommission zum weiteren Abbau sozialer Leistungen und Rechte verhindert werden. In der Regel wurden die (vielfach unter erheblichem Einfluss der Unternehmenslobby verfassten) neuen Richtlinien verabschiedet und dann in nationales Recht umgesetzt.
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Die Soziologie der antiken Reichtumsphilosophie. Reichtum und Vermögen im Spiegel der Kulturgeschichte Die Soziologie der antiken Reichtumsphilosophie
Robert Velten
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Die antike Reichtumsphilosophie als Thema der Vermögensforschung
Wenn wissenschaftliche Forschung nicht innerhalb lange währender Paradigmen verläuft, wie Kuhn (1973) postuliert, so doch mindestens in Begriffsstrukturen, die nicht mit jeder Forschungsarbeit neu erschaffen werden, sondern die sich innerhalb einer Forschungsrichtung etablieren. Auch wenn ihre Protagonisten bisweilen dazu neigen, die jeweils Anwendung findenden Forschungsverfahren dahingehend zu überhöhen, findet wissenschaftliche Forschung zudem nicht in einem apriotisch reinen Vernunftsraum statt, sondern innerhalb einer mehr oder weniger kontingenten Kultur, die der Forschung den entscheidenden Rahmen setzt, der sich idealerweise fortwährend erweitert. Einerseits stellt die Kultur der Forschung grundlegende Denkweisen, das allgemeine Vokabular und auch die Instrumente zur Verfügung, andererseits die Aufmerksamkeit, das Interesse und die damit verbundene Erwartung eines brauchbaren Ergebnisses. Dementsprechend ist dem selbstverständlich nur in Teilen erfolgversprechenden im Interesse objektiver Ergebnisse sinnvollen Emanzipationsversuch einer Forschungsrichtung gegenüber ihrer Bestimmtheit durch die übergeordnete Kulturkontingenz gedient, wenn immerhin diese Bestimmtheit an allen für relevant erkannten Stellen und mit allen sinnvollen Mitteln analysiert wird. Das bedeutet für die Vermögensforschung, dass sie mit ihrer soziologischen, sozialhistorischen, wirtschaftswissenschaftlichen und philosophischen Ausrichtung hervorragend interdisziplinär positioniert ist, um als Wissenschaft Erkenntnisse zu liefern, die unterschiedlichen Plausibilitätsprüfungen standhalten. Dass eine solche Befundsqualität, Ergebnisse, die interdisziplinär überzeugen, nicht selbstverständlich ist, zeigt gerade die historische, noch disziplinär aufgespaltene Vermögensforschung. Nicht selten hat sie sich wechselseitig unter Ideologieverdacht gestellt. So haben etwa kapitalismusbejahende und kapitalismuskritische Forschungsansätze beiderseits plausible Ergebnisse zu Tage gefördert, die trotz ihrer durchaus logischen Vereinbarkeit selten gegenseitig ernst genommen wurden. Stattdessen entsteht in Einzelfällen sogar der Eindruck, die jeweils paradigmatisch oder ideologisch oppositionelle Forschungsrichtung übersehe die Ergebnisse der anderen geradezu programmatisch. Datenselektion, Betrachtungszeitraumwahl und Fragestellung scheinen sich im Interesse eines mindestens von einer Seite angenommenen Kampfes zu gestalten, der zwar verbissen geführt wird, jedoch längst keine Zuschauer mehr findet1. 1 Ich möchte für meinen persönlichen Eindruck an dieser Stelle keine Beispiele anführen, jedoch darauf verweisen, dass die Zahl der Textrezeptionen, die dem dargestellten Gesamteindruck zu Grunde liegen, für beide Forschungsansätze in die Hunderte geht.
Die Soziologie der antiken Reichtumsphilosophie
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In diesem Zusammenhang ist die Etablierung einer interdisziplinären Vermögensforschung, die sich auch über ihre kulturelle Bedingtheit und ihre tradierten Begriffsstrukturen klar wird, ein Fortschritt. Vermögen und Vermögende sind Gegenstand der Forschung. Erforscht wird aber auch, was innerhalb unserer Kultur unter Vermögen verstanden werden kann, wie Vermögende wahrgenommen werden und welche Erwartungen von unterschiedlicher Seite Vermögenden gegenüber bestehen. Dazu gehört auch die Betrachtung der historischen Genese dieser kulturellen Begebenheiten, weil sie das Verständnis vertieft und den Wahrnehmungsraum erweitert. Ein Rückgriff auf die Geschichte, insbesondere auf die Geschichte des Denkens, erlaubt Vergleiche, liefert möglicherweise Ideen, Bestätigungen oder Falsifikationen für heutige grundsätzliche Annahmen. Abendländische Geistesgeschichte beginnt wesentlich in der Antike, dem tausend Jahre währenden Zeitfenster, in dem die fassbaren Kulturäußerungen und ihre Wandlungen relativ zahlreich und vor allem grundlegend für spätere Zeiten sind. In dieser Zeit gibt es noch keine deutlich von der Philosophie getrennte theoretische Wissenschaft, ihre sämtliche Entwicklung findet entweder direkt in den philosophischen Schulen oder in ihrem nahen geistigen Umfeld statt. Gerade die Ökonomie ist sehr eng mit der Philosophie verflochten, was sich gut an der Tatsache veranschaulichen lässt, dass die erste nennenswerte ökonomische Abhandlung in Form eines sokratischen Dialogs vorliegt, dem Oekonomikos von Xenophon. Vor diesem Hintergrund ist eine Erforschung der antiken Philosophie nicht nur in philosophiegeschichtlicher Hinsicht interessant. Die Antike verdient im Rahmen der Vermögensforschung auch deshalb besondere Beachtung, weil eine wesentliche Determinante des Reichtums, die Entstehung der Geldwirtschaft, in diese Zeit fällt. Es ist desweiteren zu bemerken, dass der Forschung trotz der eingeschränkten Quellenüberlieferung viel Untersuchungsmaterial zur Verfügung steht. Eine große Zahl Philosophen und Theoretiker hat sich mehrfach zum Reichtum geäußert, beispielsweise Demokritos, die Kyniker, Platon, Aristoteles und Seneca. Eine quantitative Auswertung repräsentativer philosophischer Texte der Antike im Umfang von 7853 Seiten ergab, dass Wörter im Umfeld von Reichtum insgesamt 825-mal genannt wurden2. Ein Teil der Wortnennungen fällt zwar nicht in den Kontext theoretischer Reichtumsbehandlung, der Textkorpus enthält andererseits bei weitem nicht alle überlieferten Texte, die sich mit Reichtum befassen. Das theoretische Interesse am Reichtum war in der Antike in jedem Fall größer, als es heute greifbar ist, denn einige Philosophen haben diesem Thema sogar monographische Abhandlungen gewidmet, die jedoch verschollen sind. Einer noch disziplinär aufgespaltenen Vermögensforschung, die sich der Antike als ihrer kulturellen Wurzel zuwenden wollte, stünden im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Einzeldisziplinen verschiedene Methoden zur Verfügung, Untersuchungsgewohnheiten, die erkennbar einer über Generationen von Forschern tradierten Norm folgen: Einerseits kann das Thema Vermögen philosophiegeschichtlich untersucht werden, das heißt, man betrachtet hauptsächlich die greifbaren philosophischen Gedanken und ihre Beziehung zueinander. Der historischen Entwicklung dieser Gedankeninhalte unterstellt man dabei gewöhnlich, dass sie hauptsächlich einer von sozialen Tatsachen weitgehend losgelösten, rein geistigen Logik folgen. Ein philosophischer Gedanke entsteht in dieser Vorstellung zum Beispiel als 2 Basis der kürzlich von mir durchgeführten Untersuchung waren ins Deutsche übersetzte, digitalisierte Texte der Digitalen Bibliothek (Philosophie von Platon bis Nietzsche, Berlin 2004) unter Verwendung von 42 verschiedenen Suchbegriffen und ihren Flexionsformen.
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Lösung eines historisch vorangegangenen geistigen Problems3. Andererseits kann eine wirtschafts- oder sozialgeschichtliche Untersuchung angestrengt werden, die jedoch kaum auf die ideengeschichtlichen Zusammenhänge eingehen kann. Soziologische Herangehensweisen schließlich erwecken im Extremfall den Eindruck, dass das Meiste, was Individuen äußern und denken, auf ihre soziale Stellung und auf ihren Wunsch, diese zu verbessern, zurückzuführen sei. Auch wenn diese Charakterisierungen streng betrachtet etwas überspitzt sind, wird doch deutlich, dass eine zu starke disziplinäre Beschränkung der Forschung dem Plausibilitätsgrad ihrer Ergebnisse nicht dienlich sein kann. Durch die unterschiedlichen Schwerpunkte der verschiedenen Forschungsmethoden werden möglicherweise bestehende Zusammenhänge systematisch übersehen, die eine interdisziplinäre Vermögensforschung demgegenüber herausstellen kann. Dementsprechend ist eine Betrachtung der antiken Reichtumsphilosophie wünschenswert, die sowohl soziologisch als auch philosophisch und wirtschaftlich orientiert ist. Eine solche Untersuchung wird auf Ergebnisse der bisherigen disziplinären Forschung zurückgreifen können, muss aber im Hinblick auf das spezielle Thema „Reichtum“ manche Forschungslücke schließen4. Insbesondere im deutschsprachigen Raum sind monographische Abhandlungen über Reichtum in den genannten Disziplinen selten5. Die wenigen außerordentlich wertvollen Betrachtungen, die sich auf kulturhistorische Weise mit Themen beschäftigen, die im weitesten Sinne mit Reichtum und Vermögen verwandt sind, behandeln große Zeiträume sehr exemplarisch, so dass darin etwa Aristoteles für die ganze Antike stehen kann6. Auch der vorliegende Beitrag muss sich im Gegensatz zu der zugrunde liegenden Forschungstiefe, fünfzig Primärautoren und eine weit größere Menge Forschungsschrifttum wurden untersucht, auf der Darstellungs- und Belegebene auf eine thematisch eng gefasste, auf wenige, nicht einmal vollständig behandelte Philosophen konzentrierte, teilweise bloß zusammenfassende Besprechung beschränken7. Von den zwei wesentlichen Kultursträngen, die die Antike geprägt haben und bis in die späte Neuzeit hinein einflussreich blieben, dem griechisch-römischen und dem jüdisch-christlichen, wird im folgenden nur der erstere Beachtung finden. Anhand zweier zentraler Themen, Reichtumsbewertung und Vermögenskultur, wird aber ein erster, keineswegs erschöpfender Einblick in die Soziologie der antiken Reichtumsphilosophie ermöglicht.
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Die Bewertung des Reichtums in der antiken Philosophie
Wenn Reichtum zum Gegenstand antiker Theorie wird, so im Rahmen einer langen, an der Lebenspraxis orientierten, ethischen Tradition, die nach den Grundsätzen des gelingenden 3 Politische und Lebensweltliche Ereignisse werden durchaus mit der philosophischen Entwicklung in einen Zusammenhang gebracht, jedoch eher beiläufig und epochenübergreifend. Eine frühe Ausnahme ist die nicht immer sehr genaue, jedoch in diesem Zusammenhang herausragende Philosophiegeschichte Russels. 4 Meine Magisterarbeit war die erste breitere philosophiegeschichtliche Untersuchung des Reichtums in der Antike. 5 Druyen, Huster, Krysmanski, Mäder, Papcke und andere soziologische Forscherpioniere widmen sich größtenteils der Gegenwart. Brandt, Große-Kracht, Heinsohn und Steiger, D. Kramer, Kraus, Racek, Schui, Volz u.a. berühren mehr oder weniger stark das Thema Reichtum in der Geistesgeschichte. 6 Priddat zum Beispiel widmet der Antike in seiner „Theoriegeschichte der Wirtschaft“ nur acht Seiten. 7 Eine nicht auf die Antike beschränkte, vollständigere Untersuchung und eine breitere Darstellung unternehme ich gegenwärtig im Rahmen meiner Dissertation.
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Lebens und nach der besten Staatsordnung fragt. Der Reichtum wird, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ausschließlich vor diesem Hintergrund behandelt. Eine ökonomische Diskussion, eine Erklärung der Genese des grundsätzlichen Phänomens findet kaum statt, höchstens wird Reichtum als Folge guten Wirtschaftens beschrieben. Lebhaft diskutiert wird aber die Frage nach dem Stellenwert des Reichtums im Hinblick auf das gute Leben. Ist Reichtum für den Einzelnen und für den Staat überhaupt ein erstrebenswertes Gut? Es kann nicht überraschen, dass diese Frage, wenn Reichtum als eine in Relation zum jeweiligen Standard weit überdurchschnittliche Verfügungsgewalt eines Individuums über materielle Ressourcen verstanden wird, in den über tausend Jahren der Antike von den Theoretikern in dieser Hinsicht unterschiedlich beantwortet wird. Von vehementer Ablehnung über Gleichgültigkeit reicht das Spektrum bis hin zu einer mehr oder weniger problematisierten Bejahung, die sich jedoch nie weit von totaler Gleichgültigkeit zu entfernen scheint. Auch im Hinblick auf die gesellschaftliche Stellung der Philosophen selbst ergibt sich kein ganz homogenes Bild. Immerhin zeigt sich die zunächst merkwürdige Auffälligkeit, dass die meisten Philosophen selbst reich waren und sich zugleich dem Reichtum gegenüber verächtlich geäußert haben oder Theorien vertraten, aus denen heraus Reichtum für unwichtig oder bedrohlich gelten konnte. „Möge es euch nie an Reichtum fehlen, Ephesier, damit eure Verlotterung an den Tag kommen kann“ (Heraklit aus Ephesus, Fragmente, Über die Natur: 125a. In: Diehls 1922) spottet beispielsweise der wohlbeerbte Herakleitos den eigenen Landsleuten. „Steht es mit dem Unterschied von Reichtum und Tugend nicht so, dass sie gleichsam auf die Schalen einer Waage gelegt sind, von denen die eine steigt, während die andere sinkt?“ fragt Platon (Politea, Achtes Buch: 550st). Seine eigene Antwort darauf: „Sehr richtig.“ Abwertende Äußerungen dieser und anderer Art gehören trotz der Existenz gegenläufiger Äußerungen derselben Autoren, oft sogar in demselben Werk, geradezu zum Charakter der antiken Reichtumsphilosophie. Und dies, obwohl die Liste der materiell vermögenden Philosophen lang ist8 und philosophieren den Besitz von Reichtum geradezu vorausgesetzt hat, weil es arbeitsfreie Zeit erforderte, Bücher sehr teuer waren, eine Minderheit schriftkundig war und die meisten Lehrer hohe Honorare gefordert haben. Dieser uneindeutige und zum Teil scheinbar paradoxe Befund findet in der Tat an vielen Stellen augenscheinliche Bestätigung. Er ist allerdings zum Großteil die Folge einer nicht ausreichend in unser heutiges Verständnis übersetzten Begrifflichkeit, von der die antiken Denker ausgegangen sind. Zum einen ergibt er sich aus der oben genannten, zunächst unproblematisch erscheinenden Definition von Reichtum, zum anderen aus unserer Vorstellung von „gut“ und „Gutsein“. Die Vorstellungen von „Reichtum“ und „Gutsein“ müssen bei den einzelnen Philosophen aus ihrer epochalen und soziologischen Situation heraus analysiert und hinterfragt werden. Dann erst zeigen sich deutliche Gedankentraditionen, die zusammen mit der sozialen Stellung der Philosophen ein klares und plausibles Bild ergeben, das wesentlich vermögensfreundlicher ist. Die durchweg kritisch wirkende Bewertung von Reichtum in der antiken Philosophie kann bei sorgfältiger Betrachtung Stück für Stück als eine eigentlich ziemlich deutliche und eindeutige Bejahung des Reichtums entlarvt werden. 8 Die Vermögensausstattung der einzelnen Philosophen lässt sich häufig aus den theoretischen Texten selbst und aus übergeordneten Zusammenhängen naheliegend ableiten. In Einzelfällen liefert die historische Forschung Hinweise. Eine wertvolle Quelle sind die in dem Buch „Leben und Meinungen berühmter Philosophen“ zusammengebrachten Zeugnisse des frühen antiken Biographen Diogenes Laertius.
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Wenn stoische Philosophen dem Reichtum vehement absprechen, ein „Gut“ zu sein, heißt das nicht, dass Reichtum nicht der Armut vorgezogen werden sollte. Es heißt lediglich, dass Reichtum kein sittliches Gut ist, nicht zu den Dingen gehört, die einen Menschen in ethischer Hinsicht bessern. „Der Reichtum, behaupte ich, ist kein Gut“ schreibt Seneca (Vom glücklichen Leben: 24), „denn wäre er das, so würde er die Menschen gut machen“. Marcus Aurelius äußert sich dazu ähnlich: „Reichthum und Armuth und alles dieses wird den guten wie den bösen Menschen ohne Unterschied zu Theil, als Dinge, die weder sittliche Vorzüge noch sittliche Mängel begründen: also sind sie auch weder gut noch böse“ (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, II: 11). Wie viele andere antike Philosophen auch, glauben die Stoiker, dass Reichtum sehr wohl etwas im heutigen Sinne Gutes hat und zumindest dem nützen kann, der damit umzugehen versteht, dem Philosophen. Seneca spricht offen aus, was viele Philosophen vor ihm lieber stillschweigend vorausgesetzt haben: „Wie kann aber ein Zweifel darüber bestehen, daß dem Weisen der Reichtum mehr Gelegenheit bietet, seinen Geist vielseitig zu entfalten, als die Armut [...] seinen Beitrag liefert zur andauernden Fröhlichkeit, die aus der Tugend entspringt. Der Reichtum regt den Weisen an und heitert ihn auf, ähnlich wie den Seereisenden ein günstiger, die Segel schwellender Wind, oder wie ein heiterer Tag und sonniger Platz im Winter bei Frost.“ (Seneca Vom glücklichen Leben: 22)
Die Ablehnung des Reichtums muss ferner von der Ablehnung der Gier als unerwünschtem Seelenzustand sondiert werden. Viele kritische Äußerungen im Zusammenhang mit Reichtum und Gelderwerb geschehen im Zusammenhang mit Gier, die als Verfehlung des innerhalb der antiken Ethik grundsätzlich hochgeschätzten rechten Maßes angesehen wurde. „Wenn Geldgier nicht im Genughaben ihre Grenze findet, ist sie viel schlimmer als äußerste Armut. Denn größere Begierden erwecken größere Bedürfnisse“ meint Demokritos (Fragmente, [Stobaeus]: 219. In: Diehls 1922). Gier ist eine Folge des Ungleichgewichtes der Seele, eine Verfallserscheinung. Bei Platon entsteht sie durch eine ungünstige Struktur der Seelenteile. Der Geldgierige räumt der Begierde gegenüber dem Ehrgefühl und der Vernunft Priorität ein. „Den vernünftigen und den zornesmutigen Seelenteil [lässt er] ihre Stelle tief unten zu beiden Seiten von dem Throne [des „begehrlichen, geldgierigen“ Seelenteils] einnehmen und erniedrigt sie so zu Sklaven; den ersteren lässt er nun auf nichts anderes sinnen und trachten, als auf Vergrößerung seines geringen Geldbesitzes, den letzteren aber nichts anderes bewundern und ehren als Reichtum und solche, die darüber verfügen, und der Ehrgeiz darf sich nun auf nichts anderes richten als auf den Besitz von Geld und was dazu verhilft“ (Platon, Politea, Achtes Buch: 553). Ein weiterer Teil der Abwertung des Reichtums betrifft in unzähligen Passagen antiker Philosophie nur den Reichtum, der auf ungerechte Weise erworben wurde, wobei allerdings Erbschaft grundsätzlich als ein gerechter Weg der Reichtumserlangung angesehen wird. Eine strenge Unterscheidung der Ablehnung von Gier und Unrecht einerseits und generellem Reichtum andererseits ist aber noch nicht der wesentliche Punkt, der die nach wie vor bei vielen Protagonisten auffällig verbleibende Ablehnung des Reichtums erklären könnte. Zu oft wird die Gier in Verbindung mit Reichtum gebracht, zu viele Äußerungen gegen den Reichtum bleiben ungeklärt. Diese Äußerungen können auch nicht immer mit übergeordneten philosophischen Theorien erklärt werden, weil sie bisweilen polemischer Natur sind. Auch eine Neidmotivation kann aufgrund der häufig auffallend guten materiellen Situation der Philosophen kaum unterstellt werden.
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Stattdessen müssen zwei Reichtumsarten auseinander gehalten werden, die in der Antike an vielen Stellen den entscheidenden Unterschied ausmachen: Es gibt Reichtum durch Handel und Reichtum durch Grundbesitz. Ersterer ist egalitärer, letzterer aristokratischer Natur. Der Grundbesitz war in den griechischen Stadtstaaten und im Römischen Reich die wirtschaftliche Basis der Aristokratie. Die Erträge durch Grundbesitz sicherten der Oberschicht ihre beherrschende Stellung innerhalb der antiken Gesellschaft, denn sie erlaubten ihren Beziehern, sich prestigeträchtigeren Aufgaben wie der Kriegführung oder der Politik innerhalb des Staates zu widmen, weil zu ihrer Erzielung weder ständige Aufmerksamkeit noch Arbeit erforderlich war. Tatsächlich leisteten Sklaven einen Großteil der Arbeit und die Erträge flossen anders als beim Fernhandel ausreichend stetig. Dem Grundbesitzer geht es dabei weniger um die Vergrößerung, als um den Erhalt der Einkünfte9. Der Zugang zu Grundbesitz war in vielen Gesellschaften streng geregelt und einer kleineren Gruppe vorbehalten, Grundeigentum wurde über Generationen vererbt, sein Besitz adelte (vgl. Austin und Vidal-Naquet 1984: 6, 125). Demgegenüber stand der Handel allen freien Bewohnern des Staates offen. Besonders der Fernhandel erforderte ein höheres Maß an Einsatz, Risikobereitschaft, Flexibilität und Weltoffenheit, konnte aber viel schneller als der Grundbesitz neuen Reichtum generieren. Diese Eigenschaft verlieh ihm eine adelsordnungsgefährdende Potenz und machte ihn zum Feind der landbesitzenden Aristokratie, die ihren politisch beherrschenden Einfluss und ihr erstrangiges Ansehen zu erhalten trachtete. In Theben gab es sogar ein Gesetz, das nur denen Ämter zu bekleiden erlaubte, die zehn Jahre lang keine Marktgeschäfte mehr betrieben hatten. (vgl. Aristoteles, Politik, 1278a) Diese Unterscheidung von Reichtum durch Handel gegenüber Grundbesitz wird zwar in den Texten selten offen angesprochen, sie wird aber mit einer solchen Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, dass ihre Relevanz umso offenkundiger zu Tage tritt. Insbesondere die Entwicklungen der ersten Jahrhunderte der griechischen Antike lassen sich nur mit dieser Unterscheidung verstehen. In den frühesten greifbaren Texten wird Reichtum noch nicht negativ bewertet. Die Homerischen Epen zeigen Reichtum als ein uneingeschränkt begrüßenswertes Statussymbol (vgl. Austin und Vidal-Naquet 1984: 34; Baloglou und Constantinidis 1993: 10). Bei Hesiod (20ff.) taucht sogar der Gedanke der positiven motivationalen Wirkung des Reichtums anderer auf die eigene Leistungsbereitschaft auf. Reichtum ist ein Zeichen von Erfolg und Adel. Die agrarisch-aristokratische Harmonie scheint ungetrübt. Mit dem Aufkommen von Geldwirtschaft10 und der zunehmenden Bedeutung des Handels allerdings ändert sich diese Situation schlagartig. „Now that the inferior people have become wealthy, the strategie is to claim that money is really not everything“ vermutet Gill (1994: 24) und sieht die Werke Homers, Theognis und Platons im Zusammenhang mit einer rhetorischen Propaganda, die die aristokratische Ideologie transportieren soll. Gill zufolge reagiert die Aristokratie auf die durch demokratische Bewegungen aufkommende Macht-Konkurrenz mit unverhohlenen Proklamationen: Der Reichtum verderbe nur die schlechteren Menschen, der Adel allein könne mit Reichtum fertig werden und auch Armut besser ertragen. Außerdem tue der Adel mehr für das Gemeinwohl (vgl. Gill 1994: 26). Wenn auch Gill zu weit geht, wenn er Platon unterstellt, in seinem Staatsentwurf sei „birth fundamental“, also die Herkunft für die Auswahl der Herrscher von entscheidender 9
Diesen Eindruck vermittelt unter anderem Xenophons Schrift Oekonomikos. Ich verweise auf das ungewöhnliche Buch eines Top-Managers und Finanzwissenschaftlers: Wielens: Geld und Spiritualität, 2004, S.19. 10
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Bedeutung, und nicht ihr während eines langen Ausbildungsprozesses erkanntes geistiges Talent, so trifft seine Charakterisierung des aristokratischen Dünkels bei Platon doch voll ins Schwarze, wie folgende Passage aus der Politeia verdeutlicht: „[Die Philosophie] erfreut sich nach wie vor eines Ansehens, mit dem die übrigen Künste sich an Großartigkeit nicht messen können: Das macht denn viele begehrlich nach ihr, die, bei unzulänglicher Begabung nicht nur körperlich heruntergekommen sind durch ihre Fachtätigkeit und Werktagsarbeit, sondern auch, durch das Geisttötende derselben, an der Seele geknickt und verkümmert sind. Oder ist das nicht unausbleiblich? ADEIMANTOS: Gewiß. SOKRATES: Nehmen sich diese nun, deiner Meinung nach, viel anders aus, als ein zu Gelde gekommener Schmiedegesell, ein unansehnlicher Kahlkopf, der, eben erst aus dem Gefängnis entlassen, aber in einem Bade gesäubert und neu gekleidet, wie ein Bräutigam herausgeputzt, die verarmte und von ihren Verwandten verlassene Tochter seines Herrn heiraten will? ADEIMANTOS: Nicht viel anders“ (Platon, Politea, Sechstes Buch: 495).
Wer seinen Reichtum nicht von seinen Vätern ererbt, sondern ihn sich selber verdient hat, gerät bei Platon in Verdacht, die Polisordnung zu gefährden: „SOKRATES: ... Wenn wir wollten, könnten wir ja auch die Ackersleute mit Prachtgewändern bekleiden, ihnen Goldschmuck umlegen und sie ermächtigen, ganz nach ihrem Wohlgefallen den Boden zu bearbeiten, auch die Töpfer sich [...] lagern lassen, am Feuer zechend und schmausend, die Töpferscheibe zur Seite gestellt zu ganz beliebigem Gebrauch, und so auch alle andern glücklich machen, auf daß die ganze Stadt im Glück schwimme. [...] So würde der Bauer nicht mehr Bauer und der Töpfer nicht mehr Töpfer sein und überhaupt keiner mehr die Rolle spielen, die er spielen muss, wenn das Ganze bestehen soll [...] Wenn ein Töpfer reich geworden ist, glaubst du da etwa, er werde dann noch Lust verspüren, sich mit seiner Kunst abzugeben? ADEIMANTOS: Gewiß nicht“ (Platon, Politea, Viertes Buch: 420f.)11.
Dem Neureichen haftet außerdem ein Makel an, der den Vertretern des alteingesessenen Reichtums nicht zukommt: „Hast Du denn, sagte ich, mein Kephalos, dein Vermögen zum größeren Teil ererbt oder selbst hinzuerworben? Mit dem Zuerwerben, sagte er, mein Sokrates, hat es bei mir nicht viel auf sich [...] Der Grund meiner Frage, sagte ich, war folgender: Ich hatte den Eindruck, als machest du dir aus dem Gelde nicht sonderlich viel. Das aber ist in der Regel bei denen der Fall, die es nicht selbst erworben haben. Wer es selbst erworben hat, der schätzt es doppelt so hoch als die anderen. Denn wie die Dichter ihre eigenen Gedichte und die Väter ihre Kinder lieben, so ist auch den Erwerbenden das Geld ihr Ein und ihr Alles. [...] Es ist also nicht leicht, mit ihnen überhaupt auch nur zu verkehren. Denn sie kennen nichts anderes als das Lob des Reichtums.“ (Platon, Politea, Achtes Buch: 330)
Bei Platon ist ein Staat, in dem Reiche und Reichtum viel gelten, eine Verfallsform eines besseren Staates, in dem der Reichtum idealerweise abgeschafft ist. Seine Beschreibung der Oligarchie erinnert an das negative Bild vom Reichtum, das in heutiger Zeit gelegentlich medial transportiert und mehr oder weniger konstruiert wird: Die „Verehrer von Gold und
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Aristoteles benutzt in seiner Nikomachischen Ethik (Viertes Buch, zweites Kapitel, 1120b) passagenweise nahezu dieselben Worte.
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Silber [...], da sie ja im Besitz von Vorratshäusern und Schatzkammern sind, wo sie es sicher verbergen können, und Wohnungen, eingehegt von Umzäunungen haben, richtige Sondernester, in denen sie [...] allen möglichen Aufwand machen können“ (Platon, Politea, Achtes Buch: 548) halten sich im Verborgenen. Der Staat verliert seine Geschlossenheit, die Gemeinschaft ist gespalten, es entsteht eine Kluft zwischen Reichen und Armen. Allen vor Augen steht nur das eine Ziel, möglichst reich zu werden. Diese Zitate aus der Politeia könnten durch eine Vielzahl von Passagen aus anderen platonischen Dialogen flankiert werden, die sich zum Teil noch deutlicher gegen den Reichtum richten. Es dürfte jedoch bereits an dieser Stelle deutlich sein, dass Platon zwar ein vehementer Feind der egalitären Variante des Reichtums ist, jedoch Verfechter einer Staatsordnung ist, die den Reichtum, verstanden als ein Versorgtwerden mit ansehnlichen Gütern ohne Arbeit, einer sehr kleinen Personengruppe zusichert, die sich dann ganz selbstverständlich der Politik und der Philosophie widmen kann, und deren Vertreter infolgedessen allein im Besitz des wahrhaft Guten und Schönen sein können. Die bei Platon zum Ausdruck kommende Verknüpfung von Philosophie und Adel, verbunden mit einer massiven Geringschätzung von Reichtum durch Arbeit, Handwerk und Handel findet sich auch bei einem anderen prominenten Vertreter der Philosophie, bei Aristoteles. Anders als Platon war Aristoteles nicht selbst von höchster Geburt, entstammte aber einer Arztfamilie und war zwanzig Jahre lang Schüler des Platon. Er war auch Berater an zwei verschiedenen Königshöfen und hat sich dementsprechend lange im hocharistokratischen Umfeld bewegt. „Das auf Gelderwerb gerichtete Leben hat etwas Unnatürliches und Gezwungenes an sich“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, Erstes Buch: 1096a) stellt Aristoteles fest. Auch er will die Philosophie davon befreit wissen. In Anlehnung an seinen Lehrer unterscheidet er drei Lebensweisen, von denen die der theoretischen Erkenntnis gewidmete die Wertvollste ist, ganz im Gegensatz zu der, die sich dem wirtschaftlichen Erfolg verschrieben hat. Ist Reichtum demnach unwichtig für einen der Philosophie ergebenen Menschen? Die Antwort fällt eindeutig aus. Im Gegenteil kann der Mensch sich erst dann dem theoretischen Leben widmen, wenn er „so ziemlich alles zur Annehmlichkeit und (höheren) Lebensführung Nötige“ (Aristoteles, Metaphysik, Buch I: 982b) besitzt. Ohne eine zur Zeit des Aristoteles nicht bei jedermann vorauszusetzende materielle Grundausstattung kann auch kein gutes Leben geführt werden (vgl. Aristoteles, Politik: 1323a). Wie subtil Aristoteles vom selbstverständlichen Reichtum der Philosophen ausgeht, zeigt folgendes Zitat aus der Nikomachischen Ethik: „Indessen darf man, wenn man ohne die äußeren Güter nicht glückselig sein kann, darum nicht meinen, daß dazu viele und große Güter erforderlich wären. Denn daß einer ein volles Genüge und die Möglichkeit der Betätigung habe, liegt nicht an Reichtum und Überfluß: man kann, auch ohne über Land und Meer zu herrschen, sittlich handeln; denn auch mit mäßigen Mitteln lässt sich der Tugend gemäß handeln. Man kann das deutlich daran sehen, daß die Privatleute den Fürsten im rechten und tugendhaften Handeln nicht nachstehen, sondern eher vorauszueilen scheinen. Es genügt, wenn die dazu nötigen Mittel vorhanden sind.“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, Zehntes Buch: 1179a)
Eindeutig wendet sich Aristoteles gegen eine zu starke Begrenzung des Kreises derer, denen man das Gutsein zusprechen kann und öffnet ihn insoweit, als dass Herrschaft und Großgrundbesitz keine notwendigen Voraussetzungen zur Aufnahme mehr darstellen. Es
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müssen allerdings schon „nötige Mittel“ vorhanden sein. Angesprochen bleiben bestenfalls freie und wohlhabende Männer, eine Minderheit, gegenüber der viel größeren Zahl von Barbaren, Sklaven, Frauen, Kindern, ausländischen Arbeitern, Bettlern und solchen, die sich ihr tägliches Brot durch Arbeit verdienen müssen. Die griechische Terminologie unterscheidet in diesem Zusammenhang passenderweise zwischen Plousios, Penes und Ptochos. Mit Plousios ist ein vermögender Mensch bezeichnet. Penes kommt von Penia, dem griechischen Wort für Armut. Ein Penes ist jedoch nicht in dem Sinne arm, als dass es ihm am Nötigsten mangelt, wie dem Ptochos, sondern als dass er für seine Auskommen – durchaus auch als Hof- und Sklavenbesitzer – schuften muss (vgl. Finley 1993 [1977]: 39). Ganz im Gegensatz zum Plousios, der Aristoteles bei seinen Betrachtungen vorschwebt. Wer glücklich und gut sein will, braucht kein Reicher unter den Reichen zu sein. Es reicht schon, wenn er nur reich ist. Die scheinbare Abwertung des Reichtums – es heißt ja, solcher sei nicht wirklich notwendig und sein Erstreben von zwanghaftem Charakter – erscheint also bei einer differenzierten Betrachtung der Äußerungen des Aristoteles in einem ganz anderen Licht. Reichtum ist und bleibt eigentlich eine notwendige Voraussetzung für ein gutes Leben, insbesondere für ein philosophisches Leben, also für ein nach Aristoteles höheres und bestes Leben. Dieser Befund wird umso mehr einleuchten, wenn man sich vor Augen führt, was man sich in der Antike unter einem philosophischen Leben vorstellte. Den Philosophen kennzeichnete nicht bloß seine Bildung oder seine Ansichten, sondern ein ganzer Lebenswandel12. Die Philosophen einer Schule bildeten eine – im Grunde genommen fast klösterliche – Lebensgemeinschaft mit strengen, oft aristokratisch-asketischen Verhaltensregeln, die eine entsprechende Erwerbslebensferne aufweisen. Im Rahmen dieses Beitrags konnten nicht alle antiken Reichtumsphilosophien dargestellt werden. Es gibt durchaus Strömungen, wie die kynische, die Reichtum tatsächlich ablehnen oder für gleichgültig erachten und ihre Lebensführung dementsprechend ausgerichtet haben. Anhand der bisherigen Darstellung prominenter und wirkungsmächtiger Fälle muss jedoch deutlich geworden sein, dass ein wesentlicher Teil der offenkundigen Reichtumsmissachtung in der antiken Philosophie nicht eigentlich einer Geringschätzung des Reichtums an sich entspringt, sondern einer Einschränkung seiner sittlichen Güte und einer Ablehnung verschiedener, gelegentlich mit dem Reichtum einhergehender Tendenzen, wie Fixierung auf materielle Werte, unrechte Besitzaneignung, vor allem aber soziale Mobilität. Bildung galt durchweg für wichtiger als Reichtum, war jedoch eine Ressource, die im Wesentlichen nur den seit längerer Zeit Vermögenden zur Verfügung stand. Bildung wurde als der feine Unterschied gegenüber den aus wirtschaftlichen Gründen Emporgekommenen proklamiert, war Distinktionskriterium derer, die in ihrem Namen sprechen konnten. Das Beziehen von überdurchschnittlichen Einkünften rechtfertigt noch kein hohes Ansehen. Dieses steht allein dem Gebildeten zu, der den weltlichen Reichtum selbstverständlich auch noch besitzt. Besondere Ehre kommt, wie es beispielsweise Cicero (De officiis, erstes Buch: 66; ebd., zweites Buch: 37) an mehreren Stellen anmerkt, dem zu, der äußere Güter gering achtet. Gewissermaßen gehört es zum guten Ton, Reichtum nicht zu achten, ihn aber im Stile eines schweigenden Gentlemans zu genießen. Auch Cicero bevorzugt Reichtum durch Grundbesitz. Handel, Zinsnahme und andere kapitalistische Tendenzen wurden von denen abgelehnt, die durch diese aufkommenden Neuerungen die Staatsordnung und damit 12 Besonders herausgestellt hat diesen Zusammenhang: Hadot: Wege zur Weisheit - oder was lehrt uns die antike Philosophie? 1999.
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ihre soziale Stellung gefährdet sahen. Reichtum wurde nicht als Manifestation sozialer Ungleichheit abgelehnt, sondern im Gegenteil als egalisierende gesellschaftliche Kraft, als Katalysator sozialer Mobilität. Die antiken Philosophen haben sehr wohl erkannt, dass materieller Wohlstand ohne Arbeitszwang eine Voraussetzung für Philosophie ist und die hochkulturellen theoretischen und künstlerischen Errungenschaften dementsprechend ein Resultat des Reichtums sind. Arbeitende Philosophen hat es nicht gegeben. Die Bewertung des Reichtums ist nicht vor dem Hintergrund seiner Existenz überhaupt, sondern vor dem Hintergrund seines „rechten“ Platzes zu betrachten.
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Die Ethik der Vermögenskultur in der antiken Philosophie
Auch die Antike kannte die kultivierte Verwendung des Vermögens im Sinne der Gesellschaft. Zuwendungen und Rechtshilfen Vermögender an Einzelne, die weniger gut gestellt waren, kamen ebenso vor wie regelmäßige, von Vermögenden geförderte kulturelle Feste, sogenannte Liturgien. Auch Stiftungen hat es gegeben (vgl. Laum 1914). Die antike Philosophie hat diese Bräuche durchweg unterstützt und spendables Verhalten mit ethischer Theorie untermauert. Demokritos zum Beispiel, selbst sehr vermögend, sieht im freiwilligen sozialen Vermögenstransfer das Ideal der menschlichen Gemeinschaft verwirklicht: „Wenn die Vermögenden es über sich gewinnen den Unvermögenden vorzustrecken und beizuspringen und wohl zu tun, so liegt bereits hierin das Mitleid und das Nichtalleinsein und die Verbrüderung und die gegenseitige Hilfe und die Eintracht der Bürger und andere gute Dinge, die Niemand [alle] aufzählen könnte.“ (Demokrit, Fragmente: 225. In: Diehls 1992)
Aristoteles (Nikomachische Ethik, Viertes Buch: 1120) und Cicero betonen, dass angemessene Wohltätigkeit nicht ohne Lohn für den Gewährenden bleibt. Im Gegenteil fallen dem Wohltätigen Ehre, Dankbarkeit und Aussicht auf Gegenleistungen zu. Die Gegenleistungen aber sollen nicht das Motiv für die Wohltat sein. „Durch nichts anderes aber können diejenigen, die an der Spitze des Gemeinwesens stehen, leichter das Wohlwollen der Menschen gewinnen als durch Uneigennützigkeit und Selbstlosigkeit“ beobachtet Cicero (De officiis: 2, 77). Wohltätigkeit fordert nichts zurück, bringt jedoch Achtung und Dankbarkeit. Es ist jedoch „ein Irrtum zu glauben, dass Schenken [...] eine leichte Sache“ sei, mahnt Seneca (Seneca, Vom glücklichen Leben, 24). Stattdessen ist es eine Kunst. So können Cicero und andere Philosophen viele Hinweise geben, welche Wohltaten dem Gewährenden am meisten Ehre einbringen. An dieser Stelle genügt es jedoch, festzuhalten, dass Wohltaten als Transformation von Kapital angesehen werden, als Wandlung von materiellem zu kulturellem und vor allem sozialem Kapital13. Mit dieser Art Wohltätigkeit wird nach den Pythagoreern ein Kreis geschlossen, der die gemeinschaftliche Ordnung gemäß einer kosmischen Harmonie aufrechterhält: „Zwietracht verhindert es, Eintracht fördert es, wenn sich ein vernünftiger Ausgleich finden lässt. Denn dann kann das eine nicht über das andere Oberhand nehmen, sondern es herrscht Gleichheit. [...] Daher nehmen also die Armen von den Vermögenden und die Reichen geben 13
Zu dem zugrundeliegenden Kapitalbegriff vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, [1979].
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Robert Velten den Bedürftigen ab, weil beide (dank der Ausgleichsüberlegung) sich darauf verlassen, daß sie so das gleiche besitzen werden“ (Archytas, Fragmente. In: Fuhrmann 1991: 84).
Gerade die Vermögenden, da sie materieller Sorgen enthoben sind, können einem anderen, höheren Bedürfnis folgen und ihre Güter mit anderen teilen. So erkennt Aristoteles: „Der Reiche, der Herrscher und der Mächtige scheint der Freunde ganz besonders zu bedürfen. Denn was nützte ihm die Gunst des Schicksals, wenn ihm die Möglichkeit entzogen würde, jenes Wohltun zu üben, das man am besten und lobenswürdigsten gegen Freunde beweist?“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, Achtes Buch: 1155a)
Die Großzügigkeit findet grundsätzlich Zuspruch als eine Tugend, eine Eigenschaft, die dem guten Menschen zukommt. Bei Aristoteles findet der vortreffliche Mensch in seiner Verhaltensgewohnheit jeweils die Mitte zwischen zwei Extremen. Geiz und Verschwendungssucht sind als äußerste Pole des möglichen Umgangs mit Vermögen lasterhafte Eigenschaften, die das Glück des Inhabers vereiteln. Demgegenüber trifft die Freigebigkeit das rechte Maß: „Man schätzt die Freigebigkeit nach dem Vermögen. Denn sie beruht nicht auf der Größe der Gabe, sondern auf der Gesinnung des Gebers, und mit der steht es bei dem Freigebigen so, daß er nach dem Maße seines Vermögens gibt. Darum kann es gar wohl geschehen, daß die kleinere Gabe einer größeren Freigebigkeit entspringt, weil sie aus geringeren Mitteln verabreicht wird“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, Viertes Buch: 1120b).
Aristoteles beschreibt sogar eine Tugend, die nur dem Reichen unter den Reichen zukommen kann, die Hochherzigkeit. Im Unterschied zu der Freigebigkeit strebt sie eine „gewisse Großartigkeit“ an. Sie ist verwandt mit der „Hohen Gesinnung“ (Aristoteles, Rhetorik: 1366), die sich in Bezug auf den betriebenen Vermögensaufwand zeigt. Aristoteles unterscheidet also sehr genau zwischen einem bloß spendablen Verhalten und einer im rechten Verhältnis zum Vermögen stehenden Wohltätigkeit. Vermögenskultur (siehe auch Druyen in diesem Band) besitzt, wer aus hoher Gesinnung in angemessener Relation zu seinem Können wohltätig ist. Auch Sorgfalt hinsichtlich der Frage, wem gegeben werden soll, ist anzuraten. Seneca schreibt hierzu: „[Der Weise] wird seine Hand auftun für rechtschaffende Leute oder für solche, die er dazu machen kann, er wird seine Habe austeilen mit gewissenhafter Auswahl der Würdigsten, immer in dem vollen Bewusstsein, das er Rechenschaft ablegen muß, über Ausgaben so gut wie über Einnahmen [...] er wird offene, aber nicht durchlöcherte Taschen haben, aus denen viel herausgeht, aber nichts herausfällt.“ (Seneca 2004, Vom glücklichen Leben: 23)
Die europäische Kultur kann – das zeigt bereits diese kurz gehaltene Darstellung – auch hinsichtlich einer Ethik des Vermögens auf einen theoriehistorischen Fundus zurückgreifen, dessen umfangreiche Anfänge in der Antike liegen.
Die Soziologie der antiken Reichtumsphilosophie
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Robert Velten
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Distinktion und Inszenierung in der Reichtumsgesellschaft∗ Distinktion und Inszenierung in der Reichtumsgesellschaft
Sebastian Steinzen
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Einleitung
Aufgrund der Individualisierung der Lebensstile1 und der anteilsmäßig wachsenden Bedeutung reicher Personen und Haushalte (siehe auch Hauser bzw. Lauterbach und Ströing in diesem Band) ergeben sich Veränderungen hinsichtlich des gesellschaftlichen Umgangs mit der Reichtumsthematik (siehe auch Imbusch in diesem Band). Benannten Veränderungen gilt es in diesem Artikel näher auf den Grund zu gehen. Drückt man es provokant aus, lässt sich folgendes Gegenwartsmodell benennen: Wir leben in einer Reichtumsgesellschaft. Die Faszination des Geldes bestimmt unser tägliches Handeln. Prominente und Superreiche sind längst zu Vorbildern geworden, an denen sich der Normalbürger orientiert. Dass dieses Bild der Reichen ein auf Stereotypen und Klischees aufgebautes, von den Medien propagiertes Trugbild ist, bleibt dem unkritischen Betrachter verschlossen. Vor allem in Anbetracht dessen, dass es Superreiche (abgesehen von Prominenten und einigen Ausnahmen) in der Regel vorziehen, außerhalb der Öffentlichkeit zu stehen (vgl. Wenzel 2003: 225). In unserer auf Konsum ausgerichteten, kapitalistischen Gesellschaft sind vor allem die Allmachtfunktion des Geldes und die Strahlkraft von Reichtum und Luxus sichtbar. Es ist eine eigene Welt, in der die Reichen und Superreichen leben, und dennoch versucht der Normalbürger häufig das Unmögliche: er will den Superreichen nacheifern. Die Mittel sozialer Distinktion und Teilhabe sind demonstrativer Konsum (siehe auch Georg bzw. Imbusch in diesem Band) und Inszenierung. Somit betritt ein inszeniertes Ich die Bühne der Konsumgesellschaft. Der Kampf um Konsumprodukte gleicht dabei dem biblischen Tanz um das goldene Kalb. Und so erfährt der Superreiche seine Sonderstellung in der Sphäre des Religiösen als die Ikone der Reichtumsgesellschaft. Im vorliegenden Text wird ein Einblick darüber verschafft, welche Merkmale einer Reichtumsgesellschaft zuzuordnen sind und wie sich eine Teilhabe an ihr gestaltet. Darüber hinaus wird demonstrativer Konsum als Mittel sozialer Distinktion diskutiert. Zusätzlich wird beleuchtet, welche Rolle dabei die Inszenierung des Ichs spielt. Abschließend erfolgt die Identifizierung der Reichen und Superreichen als Ikonen der Reichtumsgesellschaft.
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Dank gilt Miriam Ströing für ihre hilfreiche Mitarbeit an diesem Artikel. Durch die Erhöhung des materiellen Lebensstandards, die Bildungsexpansion und den Ausbau des Wohlfahrtsstaates kommt es zu sozialstrukturellen Wandlungen, die sich auf die Organisation des individuellen Lebenslaufs auswirken (vgl. Müller 1997: 29ff.). So gewinnt der Lebensstil an Bedeutung und Geld als „Ikone der Moderne“ bewirkt neben der Pluralisierung individueller Verhältnisformen auch den „Verkauf von Persönlichkeitswerten“ (vgl. Papilloud und Rol 2003: 182f.). Gerhard Schulze resümiert eine Erlebnisorientierung, bei der die Gesellschaft nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Knappheit, sondern unter dem des Überflusses interpretiert wird (vgl. Schulze 2000: 15ff.). Anstelle von Rollen, Positionen und Konventionen rücken die Vorstellungen über die eigene Persönlichkeit in den Mittelpunkt der Identitätsbildung (vgl. Schulze 1990: 413). 1
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Merkmale der Reichtumsgesellschaft
„Geiz ist geil!“ schreit uns die Werbestimme entgegen. Doch es gibt etwas, das in dieser Gesellschaft noch „geiler“ ist als Geiz: Reichtum. Wer hat ihn noch nicht geträumt, den Traum vom großen Geld? Nicht mehr arbeiten zu müssen und ein Leben in Luxus zu führen, erscheint vielen als erstrebenswertes Lebensziel. „Die Menschen träumen seit eh und je einen goldenen Traum von Besitz und Wohlstand. Lockender Reichtum hat sie Berge versetzen und unvorstellbare Leiden erdulden lassen, hat die menschliche Tragikomödie auf jede nur denkbare Art bereichert. Hochverrat wechselte ab mit großen und weniger großen Gaunerstücken, Staatsaffären, kleinlicher Erbstreiterei, Heirat und Mord. Kein Zweifel: Mit der Liebe zum Geld präsentiert sich uns eine der mächtigsten und vielgestaltigsten Triebfedern menschlichen Handelns!“ (Heilbroner 1960: 13)
Reichtum ist allgegenwärtig, Reichtum fasziniert. Jeden Tag aufs Neue gibt es Millionen in Quizshows zu gewinnen. Eine gebannte Fernsehnation fragt sich jede Woche, wer der nächste Millionär wird und fiebert der Ziehung der Lottozahlen entgegen. Selbst im Nachtprogramm finden sich eine „Wanne voller Geld“ oder kleine und große Geldpakete, die, Reichtum verheißend, einen neuen Besitzer suchen. An den Börsen werden täglich Milliardenbeträge „um den Globus gejagt“. Milliarden werden verdient und, wie die aktuelle Finanzkrise eindrucksvoll zeigt, wieder verloren. Die ganze Gesellschaft ist von einem Fieber gepackt: der Jagd nach grenzenlosem Reichtum im globalisierten Spielcasino. Die Konkurrenz um den Erwerb von Reichtum kann als wichtigstes Entwicklungsprinzip der modernen Gesellschaft betrachtet werden (vgl. Deutschmann 2001: 30). Im Reichtum steckt die Hoffnung auf private Verfügung über alle menschlichen Möglichkeiten und so erhält Geld eine religiöse Aura. Wo vormals die Übersinnlichkeit der Religion die unbestimmbare in eine bestimmbare Welt transformierte, wird im Zuge gesellschaftlicher Entwicklung das höhere Wissen, die Industrie und letztlich das Kapital zur Domäne der Religion. (Vgl. Deutschmann 2001: 104ff.) Die Zahl der Superreichen ist nach wie vor beachtlich. Aktuell schätzt das Forbes Magazin die Anzahl der Milliardäre auf 793 mit einem Gesamtvermögen von 2,4 Billionen Dollar (vgl. Kroll, Miller und Serafin 2009).2 Der jüngste Milliardär ist übrigens ein Deutscher. Der 22-jährige Albert Prinz von Thurn und Taxis nimmt damit einen Platz ein, den im Jahr davor noch der 24-jährige Mark Zuckerberg, Gründer der Internetplattform Facebook, innehatte. 2004 gegründet wurde Zuckerbergs Unternehmen im Jahr 2007 schon mit unvorstellbaren 15 Milliarden Dollar bewertet. Den Verlust seines Platzes in der Liste der Milliardäre kann Zuckerberg freilich verkraften, verkaufte er doch einen Anteil seiner Firma an Microsoft und erzielte damit einen Gewinn von 240 Millionen Dollar.3 Es sind Menschen wie Zuckerberg oder die Google-Gründer Sergey Brin und Larry Page, jeder mit einem geschätzten Vermögen von 12 Milliarden Dollar, die zeigen, dass es keiner Arbeit über Generationen mehr bedarf, um immensen Reichtum anzuhäufen (vgl. Forbes Liste 2009).
2 Die aktuelle Finanzkrise hinterlässt auch hier ihre Spuren. So zählte die Liste im vergangenen Jahr noch 1.125 Milliardäre mit einem Gesamtvermögen von 4,4 Billionen Dollar. (Vgl. Forbes Liste 2008) 3 http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,513400,00.html.
Distinktion und Inszenierung in der Reichtumsgesellschaft
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Die Anziehungskraft des Reichtums hat sich stetig vergrößert und konnte sich längst in weiten Teilen unserer Gesellschaft etablieren. Wir erleben eine Omnipräsenz des Geldes in bisher unbekannter Dimension, ausgedehnt auf alle gesellschaftlichen Bereiche. Der Reichtumsforscher Ernst-Ulrich Huster bemerkt dazu: „Reichtum stellt ein wesentliches Leitbild in unserer Gesellschaft dar, seine Akzeptanz in der Gesellschaft ist gewachsen.“ (Huster 1993: 16) Ein Leben im Reichtum, so denken viele, ist ein Leben ohne Sorgen, ein Leben im Glück. Gerade in Zeiten, in denen der Sozialstaat an seine Grenzen stößt und die Angst vor der finanziell unsicheren Zukunft weite Teile der Bevölkerung umtreibt, muss der Reichtum als erlösender Retter einer härter werdenden Alltagsrealität erscheinen. Die Faszination des Reichtums erfasst dabei nicht nur einen kleinen Teil der Gesellschaft, sondern hat längst gesamtgesellschaftliche Verbreitung gefunden. „Vielmehr scheint im eigentlichen Wortsinn alle Welt fasziniert vom Erfolg und Glanz des Geldes (Zudem von einem pervertierten „Prinzip Hoffnung“, in demokratischen Zeiten zum neuen Geldadel zu zählen.), das nicht nur ungemein attraktiv, gerade zu sexy wirkt, sondern als Wertargument eine singuläre Überzeugungskraft gewonnen hat.“ (Papcke 2001: 354)
Der Reichtum ist zu einem gesamtgesellschaftlichen Leitbild geworden. Wir leben in einer Reichtumsgesellschaft, in der die Anziehungskraft des Geldes groß ist und unser Handeln von der Jagd nach Reichtum bestimmt wird. Die Boulevardmedien präsentieren uns regelmäßig das Leben der Reichen und Superreichen und zeigen uns eine Welt, in der alles möglich ist, solange man nur genug Geld besitzt. Doch nicht nur in der Welt der Superreichen spielt Geld eine übergeordnete Rolle. Unsere gesamte Gesellschaft wird durch Geld gelenkt. Der Soziologe Robert L. Heilbroner stellt dazu fest: „Diese Gesellschaft regelt ihre ständige Versorgung mit Hilfe eines Systems von Geldbelohnungen und -strafen. Über allem und jedem liegt ein Netz von Geldbeziehungen.“ (Heilbroner 1960: 34) Geld ist überall und es scheint, als mache Reichtum alles möglich. Die meisten Güter, aber auch Dienstleistungen, sind heutzutage käuflich. Das Kapital hat alle Bereiche der Gesellschaft durchdrungen und nur durch Geld kann der Einzelne überhaupt am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber nichts anderes: Armut bedeutet über den Mangel an Geld hinaus, was viel bedeutender ist, den Mangel an Teilhabe. Denn „kein Geld zu haben – das hatte Simmel sehr genau gesehen – bedeutet keineswegs nur eine materielle, sondern eine kulturelle ‚Deprivation‘“ (Deutschmann 2001: 26). Im dritten Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung wird festgestellt, dass Personen mit hohem Einkommen politische Gestaltungsmöglichkeiten stärker wahrnehmen als einkommensschwache Personen. Dasselbe gilt für die Partizipation an sozialen und kulturellen Angeboten (vgl. Deutsche Bundesregierung 2008: 130). Umgekehrt bedeutet dies, dass einkommensschwache Personen von dem Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung weitestgehend abgekoppelt sind. Dies betrifft nicht nur den Bereich der politischen Partizipation, sondern findet sich auch im sozialen oder kulturellen Bereich wieder (vgl. Deutsche Bundesregierung 2008: 132f.).
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Lebensstil und Konsum in der Reichtumsgesellschaft
Wie deutlich wurde, ist Reichtum ein gesellschaftliches Leitbild und neben Huster stellen auch andere Autoren eine „Renaissance“ des Reichtums fest, der eben auch offener gezeigt
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wird (vgl. Espenhorst 1997: 173). Doch wie wird Reichtum gezeigt? Hier kommt dem Lebensstil eine entscheidende Bedeutung zu. Der von Simmel eingeführte und durch Bourdieu stark geprägte Begriff umschreibt die Selbstpräsentation von Personen, mit der einerseits Individualität ausgedrückt und andererseits die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu demonstriert wird und so eine (sub-)kulturelle Einbindung in die Gesellschaft erfolgt (vgl. Marchert und Meuser 2007: 389). Offensichtlich ist nämlich, dass die Leitbildfunktion des Reichtums und die soziale Funktion des Besitzes nur greifen können, wenn dieser Reichtum auch nach außen sichtbar wird (vgl. Deutschmann 2001: 31). Diesem Zweck dient demonstrativer Konsum als Prestigemittel zur Sichtbarwerdung des Reichtums (vgl. Veblen 1993: 79ff.). In unserer auf Konsum ausgerichteten Gesellschaft macht Geld alles möglich. Die Verfügungsgewalt über Geld bestimmt den Lebensstandard und die Lebensqualität. Und wer über Reichtum verfügt, dem sind keine Grenzen gesetzt. Konsum dient einerseits der Darstellung der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe und andererseits zur Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Gruppen, in der Regel der Abgrenzung einkommens- oder vermögensschwächeren Gruppen gegenüber. Doch bringt die Art und Weise, wie gekauft und konsumiert wird, die Möglichkeit einer Nivellierung der Klassenunterschiede zwischen Arm und Reich mit sich? Andy Warhol bemerkte schon in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, dass „Konsumgüter den Ärmsten mit dem reichsten Konsumenten da auf eine Stufe stellen würden, wo das Produkt verbraucht wird“ (Firsching 2002: 2). Vor dem Kaufhausregal sind alle Menschen gleich. Das Produkt hebt die Klassengrenzen auf. An dieser Stelle kommt allerdings die Bedeutung des Geschmacks zum Tragen, der als höchste Ausprägung des Unterscheidungsvermögens zwischen gesellschaftlichen Gruppen sichtbar wird (vgl. Bourdieu 1992: 31). Mit Geschmack ist sowohl die Neigung als auch die Fähigkeit gemeint, sich (Konsum-)Güter und Verhaltensweisen anzueignen, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung ausdrücken. Auf diese Weise werden Produkte zu Unterscheidungsmerkmalen von Lebensstilen. (Vgl. Bourdieu 1992: 283) Zurück zu der Frage, ob die Möglichkeit der Nivellierung von Klassenunterschieden über den Konsum besteht. Auch wenn alle Menschen vor dem Kaufhausregal gleich wären, wie Andy Warhol festzustellen scheint, ist doch entscheidend, welches Produkt dem Regal entnommen wird. Eben hier zeigen sich die Unterschiede, denn es gibt keine stärkere Distinktion als die über den Geschmack, der durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe klassifiziert wird und klassifizierend wirkt (vgl. Bourdieu 1992: 25). In gewisser Hinsicht liegt Warhol dennoch richtig. Aufgrund der Tatsache, dass Mitglieder gesellschaftlicher Gruppen versuchen, der nächst-höheren anzugehören und durch den mittlerweile zu einer festen Begrifflichkeit gewordenen „Fahrstuhl-Effekt“4 können Individuen auch bezüglich Konsums stärker teilhaben, indem sie der nächst-höheren Gruppe „nacheifern“ (vgl. Schnierer 1996: 71f.). So verweist der Kaufpreis von Konsumprodukten heute kaum noch auf die persönlichen wirtschaftlichen Verhältnisse der Konsumenten (vgl. Schulze 1990: 416). Einerseits aufgrund ebenfalls des „Fahrstuhl-Effekts“ und der 4 Der von Ulrich Beck eingeführte Begriff des „Fahrstuhl-Effekts“ umschreibt die Folgen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus der fünfziger und sechziger Jahre sowie der Bildungsexpansion Ende der sechziger Jahre: Es kam zu Verbesserungen der Lebensbedingungen bei neuen oder bleibenden Ungleichheiten. Die Zunahme an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft und Massenkonsum wurde einschneidender erlebt als der Verbleib und die Neuentwicklung sozialer Ungleichheiten. Die wesentlichen Merkmale der Entwicklung sind die gestiegene Lebenszeit, die gesunkene Erwerbsarbeitszeit und ein Mehr an finanziellem Spielraum. Dies führt zu einem Umbruch des Verhältnisses zwischen Arbeit und Leben. (Vgl. Beck 1986: 122ff.)
Distinktion und Inszenierung in der Reichtumsgesellschaft
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gewünschten Distinktion nach unten passen die höher gestellten Gesellschaftsmitglieder ihren eigenen Konsum an: Der Reiche ist bemüht, keine Egalisierung zuzulassen. Er flüchtet sich in ausschweifenden demonstrativen Konsum von Luxusgütern, eine Bastion, in die ihm die Ärmeren aufgrund der unterschiedlichen finanziellen Mittel eben gerade nicht folgen können. In unserer Gesellschaft besitzt Geld über den gewöhnlichen Gebrauchswert hinaus eine Symbolfunktion und gerade diese Symbolfunktion gewinnt, so hat es den Anschein, zunehmend an Bedeutung. Wer mehr Geld besitzt, genießt einen höheren sozialen Status, desto größer ist das gesellschaftliche Ansehen, ein Umstand, den schon Homer zu beschreiben wusste, wenn er Odysseus erzählen lässt: „(…) da mehrte sich rasch das Vermögen im Hause; Fortan war ich geehrt und gefürchtet unter den Kretern.“ (Homer 2004: 231) Auch die Verschwendungssucht durch zur Schau gestellten Konsum ist keineswegs eine Entwicklung der Neuzeit. So lassen sich auch im Mittelalter genügend Beispiele für demonstrative Verschwendung der sozialen Elite finden.5 Geld teilt unsere Gesellschaft in Klassen. Und gerade durch den Konsum lässt sich die Zugehörigkeit zu einer Schicht scheinbar am besten verdeutlichen. Konsum fungiert als Zeuge des Reichtums und als Prestigemittel, da Luxus und die Annehmlichkeiten des Lebens denen vorenthalten bleiben, die es sich sowohl zeitlich6 als auch finanziell leisten können (vgl. Veblen 1993: 79ff.). Es macht eben einen Unterschied, ob ich als Zweitwagen einen Jaguar oder einen VW Golf besitze. Das Konsumprodukt wird zur Insigne ständischer Würde. Durch diese Insignien wird eine Unterscheidung der Klassenzugehörigkeit für alle sichtbar. Man zeigt, wer man ist, durch das, was man besitzt. Einer der ersten, die dies erkannten, war der amerikanische Volkswirtschaftler und Soziologe Thorstein Veblen. In seiner bereits 1899 erschienenen „Theory of the Leisure Class“ erläutert Veblen die Ursache und die Auswirkungen des demonstrativen Konsums auf die Gesellschaft. Aus seiner Sicht ist der zentrale Anreiz zur Akkumulation von Reichtum die Ehre, die er mit sich bringt (vgl. Veblen 1993: 43). Um diese Ehre nach außen sichtbar zu machen, muss der Reichtum zur Schau gestellt werden, was über demonstrativen Konsum möglich wird. Gerade unsere konsumorientierte Gesellschaft bietet offenbar eine Fülle von Möglichkeiten und Produkten, sich von anderen abzugrenzen. Markenlabel gewinnen eine zunehmende Bedeutung. Denn über den verschwenderischen Aufwand an Kleidungsstücken und Accessoires ist eine unmittelbare Demonstration des Konsums möglich, da hier die sofortige Schätzung des finanziellen Aufwands und so der finanziellen Mittel erfolgen kann (vgl. Veblen 1993: 164). So beginnt die soziale Distinktion bereits in der Schule. Nur wer die teuersten Sportschuhe der gerade angesagten Marke trägt, ist „in“. Wer keinen „iPod“ oder zumindest eines der neuesten Handys vorzeigen kann, wird ausgeschlossen. Die Zugehö5 „Der wegen seiner Gastfreundschaft bewunderte Graf Balduin von Guines bewirtete den Erzbischof von Reims und sein Gefolge so reich mit Speisen und Wein, dass sie nach Wasser verlangten, um nicht berauscht zu werden. Nun ließ er wasserhellen Wein einschenken, doch der Erzbischof gab mit der nochmaligen Bitte um Wasser zu erkennen, dass er die Täuschung durchschaute. Da zerschlug der Graf vor Dienern und Gästen alle scheinbar mit Wasser gefüllten Karaffen, und die Gäste bewunderten das stilvolle Eingeständnis sehr. Etwa zur selben Zeit ließ ein französischer Baron das Essen für 300 Ritter auf den Flammen von Wachskerzen kochen, und ein anderer verbrannte als Zeichen seiner Largesse dreißig Pferde vor seiner Burg.“ (Kramer 2001: 264) 6 Über demonstrativen Konsum hinaus ist demonstrativer Müßiggang ein Symbol für Reichtum. Er zeigt, dass man reich genug ist, um ein untätiges Leben zu führen beziehungsweise seine Zeit mit Tätigkeiten zu verbringen, die nicht unmittelbar zur Förderung des Lebens beitragen. (Vgl. Veblen 1993: 58f.)
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rigkeit zu einer spezifischen Gruppe erfolgt über das Produkt. Man erkennt ein Wechselspiel zwischen Konformität und Distinktion. Konformität deshalb, weil mir der Konsum eines spezifischen Produkts den Zutritt zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung überhaupt erst ermöglicht und ich mich erst dann zugehörig fühlen kann. Distinktion, weil man sich durch das „zur Schau stellen“ dieser Produkte von anderen Gruppen differenziert. Durch den Konsum der angesagten Trendprodukte erreicht der Einzelne die gesellschaftliche Teilhabe. Und je kostspieliger das Identifikationsprodukt ist, desto höher ist der soziale Rang innerhalb der Gruppe und unter den Gruppen selbst. Daher besitzen gerade Luxuslabel wie „Gucci“, „Dolce & Gabbana“ oder „Louis Vuitton“ eine solch hohe Anziehungskraft. Doch was als Bastion der Reichen gelten will, entpuppt sich bald als scheinbar trügerisches Mittel sozialer Distinktion. Längst sorgen Plagiate dafür, dass das Luxusprodukt für alle Klassen erschwinglich bleibt. Der Markt der Produktpiraterie wächst und verzeichnet jedes Jahr Milliardenumsätze und zeigt damit auf eindrucksvolle Weise, wie sehr der „Normalbürger“ bestrebt ist, ein Teil dieser Luxuswelt zu werden. Dem Konsumenten ist es dabei scheinbar egal, ob die Tasche oder die Uhr aus dem letzten Urlaub original sind oder nicht. Hauptsache man kann ein Accessoire der Reichtumsgesellschaft sein Eigen nennen und sich dazugehörig fühlen. Es handelt sich hier jedoch um einen Trugschluss. Denn gleich, wie geschickt die Imitation hergestellt ist, findet man das Original ungleich schöner und das Imitat wird als unwürdig empfunden (vgl. Veblen 1993: 165f.). Sobald die Fälschung entdeckt wird, geht der Nutzen des vermeintlichen Luxusprodukts als Mittel sozialer Distinktion verloren. Denn der Nutzen, den teure Güter verschaffen, ergibt sich letztlich aus ihrem Preis. Die Kostspieligkeit wird so zum Schönheitsmerkmal. (Vgl. Veblen 1993: 129ff.) Und gerade Mitglieder der Gruppe, an die der Wunsch nach Teilhabe gerichtet ist, werden den „Betrug“ als „Insider“ sofort erkennen und anstelle von Teilhabe erfolgt der Ausschluss. Aufgrund des gesteigerten Wohlstands bleiben jedoch nur noch wenige Produkte dem „Normalbürger“ komplett verschlossen. Vielleicht gehört die „Multimillionen Megayacht“ deshalb mittlerweile zur Standardausrüstung der Superreichen. Prominenz und Reiche gleichen Gejagten. Sie müssen immer neue Trends erfinden, um sich deutlich genug nach unten abzugrenzen. Die Reichen geben die Richtung des Konsums vor und der Rest der Gesellschaft folgt ihnen im Rahmen der Möglichkeiten. Im Zuge der sozialen Distinktion kommt es nun zu einer Art Wettrüsten, das selbst unter den Reichen bisweilen seltsame Blüten treibt (vgl. Heath und Potter 2005: 144). Promintente Beispiele bieten hier das sogenannte „Hearst-Castle“, eine verwirklichte Traumschlossphantasie des Zeitungsverlegers und Filmproduzenten William Randolf Hearst (1863-1951), oder das durch den MicrosoftGründer Bill Gates erbaute „cyber home“, welches sich durch die Verwirklichung seiner Zukunftsvision eines „digitalen“ Lebensstils auszeichnet (vgl. Wenzel 2003: 241ff.). Die Google Gründer Sergey Brin und Larry Page wiederum haben sich eine „Boeing 767“ zum Privatflugzeug umbauen lassen. Roman Abramowitsch, der sich als Hobby den Premiere League Fußballclub „FC Chelsea“ für 210 Millionen Euro leistete, lässt angeblich derzeit seine fünfte Megayacht bauen und Lakshmi Mittal, indischer Stahlmogul und viertreichster Mensch der Welt, ließ die Hochzeit seiner Tochter für angeblich 50 Millionen Euro eine Woche lang in Frankreich, unter anderem auf Schloss Versailles, ausrichten.7 Dem „Normalverdiener“ sind an dieser Stelle klare Grenzen gesetzt. Doch wenn man schon nicht 7 http://www.ftd.de/karriere_management/management/:Montagsportrt%20Lakshmi%20Mittal%20Der%20Radscha %20Stahls/8510.html?p=2.
Distinktion und Inszenierung in der Reichtumsgesellschaft
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selbst reich ist und der Zugang zu bestimmten Produkten verwehrt bleibt, so gibt es immer noch die Möglichkeit, wenigstens reich zu erscheinen.
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Die Inszenierung des Ichs in der Reichtumsgesellschaft
Dass die ganze Welt eine Bühne ist und jeder letztlich nur eine Rolle spielt, liest man schon bei Shakespeare. Doch gilt dies heute mehr denn je. „»Soviel Inszenierung war nie« möchte man meinen. Wohin man sich auch dreht und wendet, zu den Künsten oder zu den Wissenschaften, zur Politik, zur Populärkultur oder zum Sport, zur Religion, zur Natur oder schlicht zur Alltagssphäre, nahezu überall drängt sich der Faktor »Inszenierung« auf.“ (Früchtl und Zimmermann 2001: 9)
Aus individueller Sicht ist die Inszenierung des Selbst eine existenzielle Notwendigkeit, um die eigene Identität zu sichern. Gesellschaftlich betrachtet werden durch sie einerseits soziale Gemeinsamkeiten sichtbar und andererseits dient sie als Ausdruck der Klassenzugehörigkeit und als Distinktionsmittel. Im Zuge der Pluralisierung von Lebensformen und dem steigenden gesellschaftlichen Wohlstand wird die Frage nach der grundsätzlichen Existenz zu einer Frage nach Glück und gutem Leben zentral und somit gerät die Inszenierung des eigenen Ich ebenfalls in den Fokus. (Vgl. Früchtl und Zimmermann 2001: 10ff.) Die Welt ist zu einem Laufsteg geworden, auf dem sich die Menschen immer weiter veräußerlichen. In einer zunehmend künstlichen, durch Konsum geprägten Welt muss sich nun der einzelne in Szene setzen, will er als Individuum wahrgenommen werden. Um sich aber effektvoll in Szene zu setzen, bedarf es heutzutage etlicher Utensilien, die die Konsumgesellschaft bereitwillig liefert. Wie wichtig Produkte als Mittel sozialer Distinktion und für die Wahrnehmung der eigenen Identität sind, ist bereits gezeigt worden. Doch erst durch das „zur Schau stellen“ entfalten Konsumprodukte ihre ganze gesellschaftliche Kraft. Entscheidend ist aber nicht das zur Schau gestellte Produkt selbst, sondern wer man durch dieses Produkt wird. Denn die Grundbedürfnisse des Konsumenten sind im Wesentlichen gestillt. In einer Gesellschaft im Überfluss müssen sich die wenigsten Gedanken über die Grundversorgung, beispielsweise mit Lebensmitteln, machen. Es tritt eine Desorientierung beim Konsum auf. „Die Veränderung, die inzwischen eingetreten ist, ist so tiefgreifend, dass heute der einzelne oft gar nicht mehr weiß, was er sich eigentlich noch wünschen soll. Das, was er «will», muss erst durch Werbung und geschickte Verkäufer künstlich geweckt, muss ihm nahegebracht, muss geradezu hochgepäppelt werden.“ (Galbraith 1959:12)
Doch was der Konsument wirklich will ist gar nicht das Produkt, sondern das Image und das Prestige, das ihm durch das Produkt verliehen wird. „Geld unterliegt damit obskuren Regeln der Selbstdarstellung, dient nicht der Bedarfsdeckung.“ (Papcke 2001:350) Und eben diese Selbstdarstellung, diese Inszenierung ist ein Kernelement der Reichtumsgesellschaft. Da verwundert es kaum, wenn eine Modemarke mit dem Werbeslogan „Inscene yourself“ (deutsch: inszeniere dich selbst) für ihre Produkte wirbt. Nicht „sei du selbst“, sondern „inszeniere dich selbst“ ist das Motto der Gesellschaft, die die Welt als Schauspiel, als Bühne, als Fiktion betrachtet. Die nötigen Kostüme und Ausstattung besorgt die Indust-
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rie. Wer nicht auf der „Bühne“ steht, im Rampenlicht, ist „out“. Ob es eine Entwicklung hin zu einer sich immer weiter inszenierenden Gesellschaft gibt, darf hier gefragt werden. Der Philosoph Immanuel Kant stellte dazu fest: „Die Menschen sind insgesamt, je zivilisierter, desto mehr Schauspieler.“ (Kant 2000: 40) Die Inszenierung hat weite Teile der Gesellschaft erfasst. Selbst die Politik bleibt nicht von ihr verschont. „Dass Politiker bestimmte Rollen spielen, dass bei Parteitagen und anderen Anlässen jemand im Hintergrund Regie führt, dass Personen die politische Bühne betreten und von ihr auch wieder abtreten – all dies sind selbstverständliche sprachliche Wendungen unserer alltäglichen Politikbeschreibung. Insofern ist es nicht überraschend, wenn politische Entwicklungen und Entscheidungsprozesse nicht bloß mit Hilfe einer aus der Welt des Theaters übernommenen Metaphorik beschrieben wird, sondern auch von den politischen Akteuren nach dramaturgischen Vorgaben selbst inszeniert werden.“ (Münkler 2001:144)
Doch welche Rolle übernimmt das Geld im Spiel der Inszenierung?8 Welche Bedeutung hat Reichtum in einer sich inszenierenden, konsumorientierten Gesellschaft? Das Geld ist die wesentliche Grundvoraussetzung für die Inszenierung des Ichs. Geld dient letztlich nur als Mittel, um das sich inszenierende Ich mit einer Fülle von Requisiten auszustatten. Und je größer das Budget, desto bunter wird das Bühnenbild. Reichtum schließlich setzt der Inszenierung keinerlei Grenzen mehr. Wer in unserer Welt über genügend Geldmittel verfügt, ist in der Lage, sein eigenes grenzenloses Schauspiel zu schaffen. Ernst-Ulrich Huster bemerkt dazu: „Reichtum hat (…) eine eigenständige Qualität, er dient als Ressource für die Ausgestaltung der materiellen wie der immateriellen Lebensbedingungen bzw. der gesamten Lebenslage.“ (Huster 1993:43) Durch Geld wird man zum Regisseur seines eigenen Lebens, und die Handlung kann selbst bestimmt werden. Denn das Gute an Geld ist seine Flexibilität und dass es dadurch alles ermöglichen kann. „Geld ist (…) ein Objekt von vollständiger Elastizität, das sich den Bedürfnissen seines Eigentümers unbegrenzt anschmiegt und von ihm keine spezifische Qualifikation verlangt. Soweit das Geld reicht, legt es seinem Besitzer die Welt des Reichtums zu Füßen, erlaubt es ihm, sein Ich ungehindert in den Dingen auszuleben“ (Stadlinger 2001: 24).
Das Besondere an der Inszenierung ist aber, dass sich der Besitzer des Geldes nicht in den Dingen auslebt, sondern dass die Identität erst durch eben diese Dinge konstruiert wird. Der psychologische Fachausdruck für die Ausweitung der Persönlichkeit, ihrer Übertragung auf Gegenstände der Umwelt, heißt Projektion (vgl. Heilbroner 1960: 29). Das Descartesche „Ich denke, also bin ich“ ist längst abgelöst worden durch ein „Ich konsumiere, also werde ich“. Identifikation findet über die Produkte statt, die ich besitze. Die Produkte der Konsumgesellschaft haben so über ihren Gebrauchswert hinaus eine sinnstiftende Funktion, indem sie Identität überhaupt erst ermöglichen und erzeugen. „Das Konsumdenken entspringt dem Glauben, dass sich unsere individuelle Identität durch Güter ausdrückt und definiert. Wenn es sich mit einer kulturellen Obsession verbindet – dem Streben nach authentischem Selbstausdruck –, führt es zu einer Gesellschaft, die in allen möglichen Konsumfallen steckt.“ (Heath und Potter 2005: 227)
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Erwähnt sei hier auch durchaus das Problem der Plutokratie als Überschneidung von Reichtum und Politik.
Distinktion und Inszenierung in der Reichtumsgesellschaft
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Der Konsument glaubt nicht bloß ein Produkt zu kaufen, er will vielmehr sein eigenes Ich mit Hilfe des Produkts erschaffen. Das Design bestimmt das Bewusstsein. „Dieser Erwerb von Identität – von Bedeutungen statt von Gegenständen – ist nun das, was viele Kritiker an den Marken so irrational und ärgerlich finden.“ (Heath und Potter 2005: 258) Aber die Kritiker verkennen, wie wichtig das richtige Markenprodukt für die Identität des Einzelnen in einer sich inszenierenden Gesellschaft ist. Eine Verweigerung ist kaum noch möglich. Und sollte es doch einmal zur Rebellion gegen Markenzwang und Konsumterror kommen, gibt es bisweilen peinliche Überraschungen. Ein Beispiel bieten die Unruhen in Seattle im Jahr 1999, bei denen Demonstranten ein Gebäude der Firma „Nike“ demolierten. Wie Videoaufnahmen zeigen, trugen einige derjenigen, die Schaufenster eintraten, Schuhe eben genannter Firma. Wenn nun „Nike“ aber die „Wurzel allen Übels ist“, warum konsumiert man dann deren Produkte? (Vgl. Heath und Potter 2005: 17) Rebellion ist nicht möglich, aber vor allem: Sie ist gar nicht mehr erwünscht. Zu groß ist das Bedürfnis nach Produkten, die scheinbar das eigene Selbst verkörpern und als Mittel zur Inszenierung Verwendung finden.
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Superreiche – Die Ikonen der Reichtumsgesellschaft
Als Moses vom Berg Sinai hinabgestiegen war, musste er mit ansehen, wie das Volk Israel einen neuen Gott verehrte. Aus Gold hatten sie ein Kalb geschaffen und tanzten nun um das Götzenbild. Obwohl Moses das Kalb seinerzeit zerstören ließ, hat es die Zeit überdauert und glänzt heute strahlender denn je. In den modernen Konsumtempeln und Shopping Malls führt unsere Gesellschaft jeden Tag aufs Neue einen Tanz um neue Götter auf. Die Bedeutung von Religion schwindet und an ihre Stelle tritt die Verheißung des absoluten Reichtums als letzte große Religion der Moderne. (Vgl. Deutschmann 2001) Diese Entwicklung hängt damit zusammen, dass Religion mit seiner Funktion, aufgrund naturverhafteter, aus dem Geister- und Dämonendenken resultierender Erklärungen die unbestimmbare in eine bestimmbare Welt zu wandeln, im Zuge gesellschaftlicher Differenzierung zunehmend „rationalisiert“ und durch höheres Wissen abgelöst wird. Der mit Geld verbundene Glaube an seine allgemeine Macht löst religiöse Denkweisen ab. (Vgl. Deutschmann 2001: 104ff.) Reichtum und Konsum sind nicht nur Leitbilder, sondern zunehmend auch das Bindeglied dieser Gesellschaft. Was früher auch die Aufgabe der Religion war, nämlich die Zusammengehörigkeit einer spezifischen Gruppe zu definieren, wird in unserer heutigen Zeit durch Konsum bzw. Geld abgelöst. Reichtum gewinnt eine religiöse Aura, ein Umstand, den schon Marx zu beschreiben wusste. „Seine These war (…), dass der religiöse Götzendienst, dem die vormoderne Welt huldigte, in der bürgerlichen Gesellschaft nur durch einen neuen ersetzt wird: den ökonomischen.“ (Deutschmann 2001: 65) Das Heilsversprechen der Reichtumsgesellschaft entfaltet dabei seine ganze Kraft, denn Erlösung gibt es nicht erst im Transzendentalen, sondern im Hier und Jetzt. Nicht nach dem Tod wartet das Paradies; es ist käuflich und schon zu Lebzeiten verfügbar. Ein entscheidendes Merkmal der Reichtumsgesellschaft ist der stetige Konkurrenzkampf aller, die nächst-höhere Stufe an Prestige zu erreichen. Dabei erfolgt die Orientierung anhand der Gruppe an der Spitze dieser Stufen, welche von den meisten nie erreicht wird. (Vgl. Schnierer 1996: 72)
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Auf ihrer Suche nach Vorbildern, nach Heiligen, findet die moderne Konsumgesellschaft daher die Superreichen. „Entweder lenken uns diese neuen high and mighty ab vom eintönigen Alltag, indem man sich am Glück und Leid herausgestellter Ikonen weidet; oder wir teilen mit 78 Prozent der Amerikaner die Ansicht, jedermann könne so werden wie die Kometen am Showtime- beziehungsweise Einkommenshimmel, wenn sie/er sich nur genügend anstrenge, falls man eine profitable Idee habe oder das Glück uns hold sei – dieses flüchtigste aller Erdengüter“ (Papcke 2001: 346).
Es ist nicht verwunderlich, warum gerade Reiche und Prominente als häufigste Vorbilder bei Jugendlichen auf ihrer Suche nach Orientierung und Identität genannt werden. Längst sind Prominenz und Superreiche in die Sphäre des Sakralen entrückt. Die Verfügungsgewalt über nahezu unbegrenzte Geldmittel verleiht ihnen eine nahezu göttliche Macht. Denn: „Die im Geldvermögen angelegte »Utopie«, nämlich die Verheißung privater Verfügung über die Totalität menschlicher Möglichkeiten, holt das Reich Gottes auf die Erde und stellt es dem Individuum zur Disposition.“ (Deutschmann 2001: 104) Und wer verkörpert dieses Individuum besser als der Reiche? Mag in der Bibel auch stehen, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr ginge, als dass ein Reicher in den Himmel käme, in unserer Gesellschaft hat der Reiche gar nicht mehr das Bedürfnis auf transzendentale Erlösung: Er schafft sich seinen Himmel schon zu Lebzeiten auf der Erde. Mit seinen unbegrenzten Geldmitteln genießt er einen religiösen Status. „So, wie Gott nur noch sich selbst wollen kann, wird das Geld als »Gott der Waren« (Marx) sich selbst zur ersten Präferenz.“ (Deutschmann 2001: 89) Und der Superreiche ist derjenige, der als eine Art Metagott noch über diesem »Gott der Waren« steht, kann er doch unbegrenzt über ihn verfügen. In einer sich inszenierenden Gesellschaft schafft er sich seine Welt. Nahezu gottgleich fungiert der Reiche als Schöpfer der Welt im biblischen Sinn. Ausgestattet mit uneingeschränkter Macht, erschafft der Reiche künstliche Lebenswelten, in denen er sich bewegen kann. Durch den eigenen Jet, den eigenen Helikopter oder die Megayacht schafft er sich sogar seine eigene Infrastruktur. Aber eben nicht durch die Produkte, die in unserer heutigen Konsumgesellschaft massigfach und für jeden verfügbar sind und die er konsumiert oder zur Schau stellt, wird dem Superreichen die religiöse Aura verliehen, sondern letztlich ist es die völlige Verfügungsgewalt und Allmacht über seine Lebenswelt, die ihn von der irdischen Sphäre entrücken lässt. So ist der Superreiche das quasireligiöse Surrogat einer säkularen, konsumorientierten und sich selbst inszenierenden Gesellschaft. Er ist die Ikone der Reichtumsgesellschaft.
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Reichtum und Lebensstil – ein Überblick vor dem Hintergrund soziologischer Theorieansätze und empirischer Befunde der Lebensstilforschung Reichtum und Lebensstil
Werner Georg
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Theoretischer Hintergrund
Dieser Artikel geht der Frage nach, wie in der Theoriegeschichte der Soziologie der Lebensstil des wohlhabenden Teils der Bevölkerung beschrieben wurde und welche Konzepte hierfür ausschlaggebend waren. In einem zweiten Schritt wird die Bedeutung des Einkommens für zeitgenössische Lebensstiltypologien behandelt und vor dem Hintergrund des Ansatzes der „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze 1992) ein nachlassender Einfluss materieller Faktoren für den jeweiligen Lebensstil vermutet. Einer der ersten Soziologen, die sich mit dem Lebensstil des wohlhabenden Teils der Bevölkerung auseinander gesetzt hat, war Thorstein Veblen (1989). Er zeichnet in seiner Analyse die historischen Entwicklungsstufen nach, die zur Bildung der von ihm so benannten „Muße-Klasse“ (leisure class) führten. Im Kern zielt seine Beschreibung darauf ab, dass es zu einem neidvollen Vergleich zwischen sozialen Klassen kommt, in dessen Rahmen auf symbolischer Ebene das mit Reichtum verbundene Prestige dargestellt werden soll. Reichtum an sich ist nicht sichtbar. Will man sich das mit Reichtum verbundene Prestige aneignen, besteht die Notwendigkeit, auf symbolischer Ebene einen angemessenen Ausdruck für Reichtum zu finden. Eine Möglichkeit hierfür ist der „demonstrative Müßiggang“ (conspicious leisure). Muße hat in diesem Kontext eine expressive Bedeutung in der Weise, dass sie Distinktion von den mit produktiver Arbeit Beschäftigten anzeigt. Sie stellt somit ein Symbol für die Ehre dar, die Reichtum entgegen gebracht wird. Diese Ehre überträgt sich auf Tätigkeiten, die nicht dem Zwang zu unmittelbarer Nützlichkeit unterliegen und deren Gegenstand die unproduktive Verwendung von Zeit ist. Für die Aneignung eines elaborierten Systems von „guten Manieren“ in der Mußeklasse muss u.a. deshalb so viel Zeit aufgewendet werden, weil diese freie Zeit ein knappes Gut ist, das nur durch Reichtum erlangt werden kann. Ähnlich verhält es sich mit der Propagierung spezifischer Geschmacksnormen, die sich auf angemessene Konsumgüter und Kunstprodukte beziehen. Neben den Geschmacks- und Verhaltenscodes der Mußeklasse selbst, deren Funktion in der Demonstration von Reichtum durch von direktem Nutzen befreite Zeitverwendung liegt, existiert eine zweite Möglichkeit, Prestige nach außen darzustellen, nämlich im Rahmen der stellvertretenden Muße. Mit „stellvertretender Muße“ werden Tätigkeiten beschrieben, die von der Frau oder dem Dienstpersonal eines männlichen Mitglieds der Mußeklasse ausgeübt werden und deren Zweck darin besteht, „dem Herren des Haushalts finanzielle Prestige zu verschaffen, indem in demonstrativer Weise möglichst viel Zeit und Mühe für nichts vergeudet wird.“ (Veblen 1989: 71). In einer sich stationär reproduzierenden Gesellschaft mit niedriger räumlicher und sozialer Mobilität kann demonstrative Muße wirken, da die Mitglieder einer lokalen Gesell-
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schaft sich kennen. Mit der Auflösung ständischer Strukturen, der Steigerung von Mobilität und der Herausbildung von Massenmedien jedoch fehlt der Grad an intimer Vertrautheit, der eine Voraussetzung für die Wirkung der demonstrativen Muße darstellt. In diesem Stadium der Entwicklung ergänzt und ersetzt der „demonstrative Konsum“ (conspicious consumption) den demonstrativen Müßiggang. Demonstrativer Konsum hat, wie demonstrativer Müßiggang, eine expressive Symbolik im Hinblick auf soziales Prestige, d.h. er wirkt insbesondere in den Konsumbereichen, die auf eine öffentliche Darstellung abzielen, wie etwa Kleidung, Essen, Trinken und Möblierung. Die Funktion des demonstrativen Konsums ist dabei die gleiche wie die des demonstrativen Müßiggangs, nämlich in einem Fall Vergeudung von Zeit und Mühe und im anderen Fall Vergeudung von Gütern und Geld zum Zweck der Zurschaustellung von persönlichem Besitz. Um soziale Terrains abzustecken, bildet sich im Rahmen des demonstrativen Konsums ein ähnliches System legitimer Konsumnormen, wie dies für die Korrespondenz von Benimmregeln und demonstrativer Muße gilt. Dabei werden die Standards des legitimen Konsums – und hier sind Parallelen zu Bourdieu festzustellen – von der müßigen Oberklasse gesetzt, und adaptierte Stilelemente dieser Konsumnormen werden von den unteren Klassen übernommen. Die Definition legitimer Konsumnormen durch die Oberschicht ermöglicht dem geschulten Konsumenten die Identifizierung von Personen mit gleichem Prestige und von Emporkömmlingen, denen noch die verräterischen, an Effizienz orientierten Konsumnormen des Kleinbürgertums auf die Stirn geschrieben stehen. Der Inhalt dieser Normen bezieht sich bei Veblen vor allem auf die Zurückdrängung von nützlichen Eigenschaften der Konsumgüter zugunsten von zweckfreien, aber Seltenheit und Wert symbolisierenden Gütern. Dabei bilden sich in verschiedenen Klassen Geschmacksnormen auf der Grundlage der „finanziellen Lebenshaltung“ (Veblen 1989: 134) der jeweiligen Klasse. Wesentlicher Teil des Lebensstils von Klassen in modernen Gesellschaften ist für Veblen also das Konsumverhalten in öffentlich relevanten Bereichen. Kern dieses Verhaltens ist der Kampf um soziale Anerkennung und Prestige. Ein Kampfmittel der Oberschicht auf diesem Gebiet ist die Entwicklung und Durchsetzung legitimer Geschmacksnormen, wobei diese wesentlich durch dysfunktionale, aber auf Seltenheit und Wert abzielende Stilelemente geprägt werden. Jede Klasse eifert in dieser Auseinandersetzung den Geschmacksnormen der nächst höheren nach, wobei der Stil einer Klasse dadurch mitbestimmt wird, dass ihre finanziellen Ressourcen im Hinblick auf die Erlangung von Prestige optimiert werden. Auch bei Pierre Bourdieu (1986) ist die Verfügung über ökonomisches bzw. kulturelles Kapital mit einem prestigebezogenen Vergleich zwischen Klassen- bzw. Klassenfraktionen verbunden. Zusätzlich zur Verfügung über ökonomisches Kapital (wie dies bei Veblen der Fall ist) wird jedoch auch der Besitz von kulturellem Kapital als Ressource gesehen, wobei im Lebensstil die jeweilige Ressource eingesetzt wird, um sie gegen Sozialprestige (symbolisches Kapital) einzutauschen. Während Bourdieu der „herrschenden Klasse“ als ganzer – in Relation zu den unteren Klassen – einen „Sinn für Distinktion“ (Bourdieu 1986: 405) attestiert, gewinnt er im Rahmen einer Korrespondenzanalyse innerhalb der herrschenden Klasse eine Differenzierung, die aus zwei Antipoden besteht, denen er die Prädikate des „asketischen Aristokratismus“ und des „Sinns für Luxus“ zuordnet (vgl. Bourdieu 1986: 447). Der Lebensstil des „asketischen Aristokratismus“ bezieht sich auf die einkommensschwächsten und kulturell kompetentesten Mitglieder der herrschenden
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Klasse: Hochschullehrer und Kunstproduzenten. Die Vertreter des „Sinns für Luxus“ sind vor allem freiberuflich Tätige, deren kulturelle Kompetenz schwach ausgeprägt ist. Die Totalität der Unterschiede zwischen beiden Lebensstilen bringt Bourdieu auf den Nenner der „zwei Kulturen im ethnologischen Sinn“ (Bourdieu 1986: 442). Während der „asketische Aristokratismus“ der kulturellen Fraktion sich durch „Lektüre von Gedichten, philosophischen Essays, politischen Werken, Le Monde und (eher links gerichteten) Zeitschriften über Literatur und Kunst… Theaterbesuch vor allem klassischer und avantgardistischer Stücke… Museen, klassische Musik, Besuch auf dem Flohmarkt, Camping, Bergsteigen und Wandern“ (Bourdieu 1986: 442) auszeichnet, kommt der „Sinn für Luxus“ vor allem durch „Jagd, Pferdetoto, Lektüre, wenn überhaupt, von Erzählungen mit geschichtlichem Hintergrund… Geschäftsreisen und Speisen auf Spesen, Boulevard-Theater und Varieté, Unterhaltungssendungen im Fernsehen, Messeausstellungen, ‚Boutiquen‘, Luxuswagen und Yacht, 3-Sterne-Hotel und Badeorte“ (Bourdieu 1986: 442) zum Ausdruck. Diese Differenzierung, die sich in der Figur des puristischen Bildungsbürgers und des (Nach-Weberschen) modernisierten Besitzbürgers wieder findet, verweist auf eine Optimierung der jeweils dominierenden Ressourcen zur Erlangung eines Distinktionsgewinns. Während die erste Achse der Korrespondenzanalyse kulturelle und ökonomische Fraktion der herrschenden Klasse trennt, kann die zweite Achse als eine „Laufbahnachse“ verstanden werden, die Modi des Statuserwerbs – Selbstrekrutierung der Bourgeoisie versus Aufstieg durch Bildung – voneinander trennt (vgl. Bourdieu 1986: 412). Diese zeitbezogene Achse verweist auf meritokratische Modernisierungsprozesse im Zugang zur herrschenden Klasse, die insbesondere mit der Aufwertung der Cadres Superiour (akademische Führungskräfte) in der Privatwirtschaft zusammenhängt. Diese neue „amerikanisierte“ Gruppe akademischen Leitungspersonals, deren Genese und Repräsentationsarbeit Luc Boltanski (1990) eine Studie widmete, bezeichnet Bourdieu als „neue Bourgeoisie“. Beiden Ansätzen – Veblen und Bourdieu – ist gemeinsam, dass sie der ökonomisch wohlhabenden Klasse einen eindeutigen Habitus zuordnen, dessen Ziel die Erringung von Sozialprestige ist und dessen Inhalt die Zur-Schau-Stellung von Luxus darstellt. Neuere Ansätze der Theorie und Empirie von Lebensstilen bzw. sozialen Milieus kritisieren diese quasi ständische Zuordnung als veraltet und sozialen Wandlungsprozessen nicht gerecht werdend. In seiner „Erlebnisgesellschaft“ geht Gerhard Schulze (1992) beispielsweise davon aus, dass soziale Milieus sich nicht mehr durch „Beziehungsvorgabe“, also ein Hineingeboren-Sein, konstituieren, sondern durch Beziehungswahl, was den zunehmenden Optionschancen der gegenwärtigen Gesellschaft gerechter würde. Die von Schulze beschriebenen fünf Milieus (Niveaumilieu, Harmoniemilieu, Integrationsmilieu, Selbstverwirklichungsmilieu und Unterhaltungsmilieu) (Schulze 1992: 277 ff.) differenzieren sich nicht mehr entlang ständischer Berufs- bzw. Besitzgruppen, sondern nach Maßgabe von Alter, Bildung und alltagsästhetischem Stil. Betrachtet man diese fünf Milieus, so werden zwar am ehesten das Niveaumilieu und das Selbstverwirklichungsmilieu den ökonomisch wohlhabenden Gruppen der Gesellschaft zuzuordnen, jedoch konstituieren sich diese weniger nach Besitz als, wie oben dargestellt, nach Kohorten-Zugehörigkeit bzw. Lebenszyklus und dem Bildungsstand. Bereits bei Theodor Geiger (1932) findet sich der Gedanke der dominanten und subordinierten Schichtungsdeterminanten und deren historische Veränderbarkeit. Unter Bezug auf Geiger weist Geißler (1990: 92 ff.) darauf hin, dass Berufsschichtung und Bildungsschichtung sich zunehmend überlagern: „Auf lange Sicht dürfte die Prägekraft des Berufs für die Soziallage und die damit zusammenhängenden Mentalitäten Lebensstile
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und Lebenschancen zurückgehen.“ (ebda.). Auch Geißler, der eindeutig Anhänger des Schichtungsmodells ist, verweist darauf, dass Gestaltungsspielräume sich in den letzten Jahrzehnten erweitert haben (1990: 93) und sich die „Lösung aus materiellen Bindungen durch zunehmendem Wohlstand vergrößert“ (ebda.). Vor dem Hintergrund dieser Diskussion ist zu fragen, ob es, wie dies bei Veblen und Bourdieu aufscheint, nach wie vor einen relativ einheitlichen Habitus des wohlhabenden Teils der Bevölkerung gibt oder ob soziale Wandlungsprozesse auch zu einer Individualisierung von Reichtum geführt haben. So betont auch Bourdieu, dass der Raum der symbolischen Bluff-Strategien zur Symbolisierung von sozialem Status in den bezüglich der Ressourcenlage weitgehend unterdeterminierten Mittelschichten ist, wogegen in den unteren Schichten die Ressourcenarmut und in den oberen Schichten der Ressourcenüberschuss dominieren.
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Empirische Befunde
Ich möchte im Folgenden dieser Frage insofern empirisch nachgehen, als ich mit zwei Lebensstil- bzw. Milieumodellen die Determiniertheit durch das Einkommen bzw. andere soziodemographische Variablen untersuche. Die „Brille“, die ich im Rahmen dieser Perspektive aufsetze, ist dabei die der Lebensstil- bzw. Milieuforschung im Rahmen von Massendaten. Diese Perspektive ist in Bezug auf die Darstellung einer „Kultur von Reichtum“ insofern eingeschränkt, als wir es mit repräsentativen Datensätzen zu tun haben, in denen etwa Millionäre viel zu selten vorkommen, um deren Lebensstil bestimmen zu können. Vielmehr ist es in diesem Rahmen möglich, etwa die oberen 10 bzw. 25% der Einkommensverteilung im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zu einem spezifischen Lebensstil zu analysieren, wobei die hier vorgenommenen Segmentierungen auch auf relativ weit verbreiteten Lebensstilen beruhen. Wir untersuchen also im Folgenden die Auswirkung eines relativ hohen Einkommens auf die Wahl bzw. Zugehörigkeit zu einem spezifischen relativ allgemeinen Lebensstil auf der Ebene von Massendaten, eine Perspektive, wie sie etwa auch vom DIW bezüglich einer Zusatzstichprobe von einkommensstarken Haushalten im Rahmen des SOEP angenommen wird (vgl. DIW 2005). Bei den verwendeten Daten handelt es sich um die bisher größte Lebensstil-Studie, die in Deutschland durchgeführt wurde (Conrad und Burnett 1991). Man mag kritisieren, dass diese Daten älteren Datums sind, jedoch sind die Achsenzeit der unterstellten Wandlungsprozesse die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts und es gibt wenig Grund zu der Annahme, dass sich der hier unterstellte Wandel seit dieser Zeit erheblich verändert hat. Der Vorteil des verwendeten Datensatzes besteht darin, dass sowohl die in den Sozialwissenschaften weit verbreitete Sinus-Milieu-Typologie (auf der Grundlage von Wertorientierung) als auch eine auf alltagsästhetischen Dimensionen beruhende Lebensstil-Typologie (Georg 1998) mit Hilfe dieses Datensatzes generiert werden können.
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Abbildung 1:
Lebensstiltypologie nach Georg (1998)
hoher Status
kulturbezogenasketisch 11 %
hedonistischexpressiv 10%
Selbstdarstellung, Genuss, Avantgardismus 12 %
prestigebezogene Selbstdarstellung 11 %
zurückhaltendkonventionell 16 %
zurück familienzentriert 19 %
haltendpassiv 15 %
alt Quelle: Geißler 2006: 109.
Bei dem verwendeten Datensatz handelt es sich um die Studie „Life Style ’90“, die vom SINUS- Institut im Auftrag der Werbeagentur Conrad & Burnett durchgeführt wurde. Insgesamt wurden im August und September 1990 2000 Interviews realisiert, wobei die Nettoausschöpfungsquote 69% betrug und die Daten repräsentativ für die Westdeutsche Bevölkerung über 14 Jahren waren. In dieser bisher umfangreichsten Lebensstil-Studie wurde eine Vielzahl alltagsästhetischer Dimensionen erfasst, so etwa Freizeitaktivitäten, Musikinteressen, Themeninteressen in Zeitschriften, der Wohn- und Kleidungsstil (auch bildgestützt), Outfit und Körperinszenierung sowie Ess- und Trinkpräferenzen und der Konsumstil. In der nun folgenden Analyse wurden für die von Georg (1998) entwickelte Lebensstiltypologie auf der Grundlage von alltagsästhetischen Dimensionen und für die SINUSMilieus, die auf Wertevorstellungen basieren (Beispielimtems: „am liebsten würde ich alles hinschmeißen und abhauen“, „Lebenserfüllung ist nur durch Pflichterfüllung möglich“), multinomiale Logit-Modelle mit dem Einkommen als metrischer Variablen, zwei DummyVariablen, die die Zugehörigkeit zum oberen Dezil oder Quartil der Einkommensverteilung anzeigen, sowie weitere relevante sozio-demografische Variablen berechnet. Dabei wurde zunächst auf der Grundlage von Mac Fadden`s Pseudo R2 der univariate Zusammenhang mit der jeweiligen Typologie und in einem zweiten Schritt der partielle Effekt berechnet, der sich bei Ausschluss der Variablen aus der Gleichung ergab.
Reichtum und Lebensstil Abbildung 2:
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SINUS-Milieus in der Studie Life-Style 90
Soziales Prestige
Soziale Milieus in der Bundesrepublik: Soziale Stellung und Grundorientierung
Oberschicht
Konservatives gehobenes Milieu 9%
Obere Mittelschicht Mittlere Mittelschicht
Technokratisch liberales Milieu 9%
Kleinbürgerliches Milieu 28 %
Aufstiegsorientiertes Milieu 21 %
Untere Mittelschicht
Alternatives/ linkes Milieu 4 % Hedonistisches Milieu 9%
Traditionelles 10 % Arbeitermilieu
Unterschicht
Traditionsloses Arbeitermilieu 10 %
Sozial Verachtete
Postmaterielle Grundorientierung
Traditionelle Materielle Grundorientierung Grundorientierung Wertewandel Quelle: Schulze 1992: 391.
Tabelle 1: Erklärungskraft des Einkommens als metrische Variable, der Zugehörigkeit zu den oberen 25% und den oberen 10% der Befragten im Rahmen der Lebensstiltypologie von Georg (1998) (Mac Fadden’s Pseudo R2) Einkommen metrisch Oberstes Quartil Oberstes Dezil Berufsstatus Familienzyklus: ledig Familienzyklus: verh. Familienzyklus: Kind Bildung Geschlecht Alter Berufstätig Wohnortgröße
Pseudo R2 .006 .003 .005 .025 .047 .032 .035 .043 .030 .121 .035 .006
Chi2 38,73 19,28 31,34 216,68 289,50 199,19 215,03 235,33 186,74 741,87 216,68 40,61
Pseudo R2 .003 .001 .002 .007 .002 .002 .003 .020 .031 .049 .003 .004
Chi2 20,02 6,56 12,04 42,25 11,41 13,27 19,02 122,79 189,26 299,28 18,65 22,45
Anmerkungen: Chi2: 1437,22; df: 70; p > .00; Erklärungskraft des Gesamtmodells: .234.
Bei der Lebensstiltypologie von Georg werden 23.4% der Devianz durch die zehn Variablen der Gleichung erklärt. Während das Einkommen als einzelnes Merkmal sowohl als metrische Variable als auch als Dummy-Variable einen signifikanten Einfluss auf die Typologie ausübt, indiziert die Zugehörigkeit zum oberen Viertel bzw. zu den oberen 10% der Einkommensbezieher keinen relevanten Effekt mehr im partiellen Fall. Bei Kontrolle der
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übrigen Variablen der Gleichung sind insbesondere das Alter (.049), das Geschlecht (.031) und die Bildung (.020) bedeutsam für die Vorhersage des Lebensstils, während neben dem Einkommen der familiale und berufliche Lebenszyklus und der Berufsstatus sowie die Wohnortgröße diesbezüglich von untergeordneter Bedeutung sind. Bezüglich der Prädiktion der SINUS-Milieus fällt zunächst auf, dass diese nur halb so gut (.115) durch die zehn Variablen des Modells vorhergesagt werden können. Hinsichtlich des Einkommens ergibt sich ein ähnliches Bild wie bei der Typologie von Georg: zwar ist dieses Merkmal als einzelne Variable in allen drei Fällen signifikant, jedoch verfügt die Zugehörigkeit zu den oberen 10 oder 25% der Einkommensbezieher im partiellen Fall nicht mehr über einen signifikanten Einfluss. Wiederum sind das Alter (.027) und die Bildung (.012) die bedeutsamsten Prädiktionsgrößen, wogegen der Lebenszyklus, der Berufsstatus, das Einkommen und die Wohnortgröße von untergeordneter Bedeutung sind. Tabelle 2: Erklärungskraft des Einkommens als metrische Variable, der Zugehörigkeit zu den oberen 25% und den oberen 10% der Befragten sowie weiterer soziodemographischer Variablen im Rahmen der SINUS - Milieus (Mac Fadden’s Pseudo R2) Einkommen metrisch Oberstes Quartil Oberstes Dezil Berufsstatus Familienzyklus: ledig Familienzyklus: verh. Familienzyklus: Kind Bildung Geschlecht Alter Berufstätig Wohnortgröße
Pseudo R2 .013 .009 .007 .030 .017 .007 .007 .035 .006 .048 .014 .003
Chi2 72,83 52,12 41,75 170,36 96,46 40,69 41,15 198,86 36,50 273,76 78,13 16,04
Pseudo R2 .003 .002 .002 .008 .003 .001 .001; Erklärungskraft des Gesamtmodells: .115; Kritischer Wert p < .05: 14.07; p < .01: 18.48; p < .001: 24.32.
Am auffälligsten sind somit zwei Befunde der oben aufgeführten Modelle: einerseits können die auf Wertorientierungen beruhenden SINUS-Milieus durch die zehn sozio-demografischen Variablen nur halb so gut vorausgesagt werden wie die auf alltagsästhetischen Dimensionen beruhende Lebensstiltypologie von Georg. Aus diesem Ergebnis kann in Anlehnung an Bourdieu der Schluss gezogen werden, dass expressiv-ästhetische Merkmale offensichtlich stärker durch sozialstrukturelle Merkmale distinguiert und überformt werden als latente Wertorientierungen und sie somit intensiver auf ästhetische Teilungsprinzipien der sozialen Welt verweisen. Andererseits ist sowohl im Lebensstil- als auch im Milieumodell die Mitgliedschaft zu den wohlhabenden Einkommensbeziehern kein Merkmal, das die Gruppenzugehörigkeit in relevanter Weise vorherzusagen vermag. Vielmehr sind es in beiden Fällen das Alter und die Bildung (einmal das Geschlecht), die sich als die bedeutsamsten Prädiktoren erweisen. Der Befund, dass Alter und Bildung die wichtigsten sozialen Kontextmerkmale von Lebensstilen sind und das Einkommen eine geringe oder gar keine Bedeutung diesbezüglich besitzt, gehört zu den konsistentesten der bisherigen empirischen
Reichtum und Lebensstil
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Lebensstilforschung. Aus Tabelle 3 können entsprechende Koeffizienten für vier Lebensstil- bzw. Milieumodelle entnommen werden. Tabelle 3: Prädiktoren für die Milieu- und Lebensstilzugehörigkeit in verschiedenen Studien Variable Alter Bildung Partner Ledig Verheiratet Kind Berufstätig Geschlecht Bildung Lebenszyklus Status Einkommen Ort
Giegler 1994 (Eta2) .37 .32
Spellerberg 1996 (Kramer’s V) .41
.24 .23
.21 .20
.39 .40 .36 .24 .21
Georg 1998 (Pseudo R2 partiell) .049
SINUS (Pseudo R2 partiell) .027
.002 .002 .003 .003 .031 .020
.003 .001