Warum noch Philosophie?
Warum noch Philosophie? Historische, systematische und gesellschaftliche Positionen
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Warum noch Philosophie?
Warum noch Philosophie? Historische, systematische und gesellschaftliche Positionen
Herausgegeben von
Marcel van Ackeren Theo Kobusch Jörn Müller
De Gruyter
ISBN 978-3-11-022375-0 e-ISBN 978-3-11-022376-7
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Warum noch Philosophie? : historische, systematische und gesellschaftliche Positionen / herausgegeben von Marcel van Ackeren, Theo Kobusch und Jörn Müller. p. cm. In German; 1 contribution in English. Proceedings of a meeting held Nov. 24–26, 2008 at the Universität Bonn. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-022375-0 (pbk. : alk. paper) 1. Philosophy--Congresses. I. Ackeren, Marcel van. II. Kobusch, Theo. III. Müller, Jörn, 1969- B53.W355 2011 100--dc22 2011012988
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Cover image: EIGHTFISH/The Image Bank/Getty Images Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller Einleitung: „Warum noch Philosophie?“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Roland Bernecker Grußwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I.
PROBLEMSTELLUNG
Marcel van Ackeren, Jörn Müller Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen einer philosophischen und sozialen Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II.
PHILOSOPHISCHE POSITIONEN: DIE INNENPERSPEKTIVE
1.
Philosophie in Antike und Mittelalter
Ada Neschke-Hentschke Warum Philosophie? Die Antwort Platons im Licht der Differenz von Theorie und Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 John Marenbon Why Study Medieval Philosophy?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.
Philosophie in Neuzeit und Gegenwart
Ludwig Siep Warum praktische Philosophie der Neuzeit?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Ansgar Beckermann Philosophie als analytische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.
Philosophie und Wissenschaft(en)
Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften . . . . . . . . . 127 Rainer Enskat Philosophie und Wissenschaftstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Michael Quante Die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften. . . . . . . . . . 171
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4.
Inhalt
Philosophie und Lebenspraxis
Wilhelm Schmid Kann die Philosophie eine Hilfe für das Leben sein? . . . . . . . . . . . . . . . 187 Theo Kobusch Philosophie als Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 III. GESELLSCHAFTLICHE POSITIONEN: DIE AUSSENPERSPEKTIVE 1.
Philosophie und Politik
Christoph Böhr Die deliberative Gesellschaft: ein Brückenschlag von der philosophischen Reflexion zur politischen Konstitution. . . . . . . . . . . . . 217 2.
Philosophie und Nutzen
Jürgen Mittelstraß Vom Nutzen der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Martin Thomé Fragen, die keiner braucht? Zur Rolle der Philosophie im Wissenschaftssystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 3.
Philosophie und Bildung
Klaus Draken Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren? . . . . . . . . 281 Lutz Möller Philosophie und UNESCO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 4.
Philosophie zwischen Theorie und Praxis: Ein Disput
Karl Heinz Bohrer Welche Macht hat die Philosophie heute noch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Volker Gerhardt Die Macht liegt in der Vielfalt. Eine Antwort auf Karl Heinz Bohrers Kritik an der deutschen Philosophie der Gegenwart. . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Hinweise zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
Einleitung: „Warum noch Philosophie?“ Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller I. Das Thema „Die Wissenschaftskultur der Philosophie ist gefährdet.“ Unter dieser Titulatur wurde vor nicht allzu langer Zeit ein Interview veröffentlicht, das Julian Nida-Rümelin, der frühere Kulturstaatsminister, der Information Philosophie (H. 1, 2009) nach seiner Wahl zum Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Philosophie im Herbst 2008 gegeben hat. Die Philosophie – so seine Diagnose – laufe durch neuere Trends akut Gefahr, ihre bedeutende gesellschaftliche Rolle als Kulturgut zu verlieren und in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft (z. B. im Schulsektor) lediglich ein „Schattendasein“ zu führen. Es gebe zwar eine vielgestaltige, aber letztlich doch nur „kleinteilige öffentliche Rolle der Philosophie“. Deshalb müsse sie sich auch unter den neuen bildungspolitischen Vorgaben, etwa bei der Gestaltung von interdisziplinären Bachelor- und Master-Studiengängen, fundamental neu orientieren und sich zugleich grundlegenden Fragestellungen öffnen, ohne dabei ihre Geschichte und ihre eigene Wissenschaftskultur (z. B. in Form von Buchpublikationen, die in Anlehnung an die Naturwissenschaften zunehmend durch Artikel in Fachzeitschriften verdrängt werden) zu verleugnen. Eine wesentliche Wurzel dieser diagnostizierten Gefährdung der Philosophie im gesellschaftlichen Kontext und ihrer Wissenschaftskultur liegt nun in einer Frage, die in einer zunehmend von Utilitätserwartungen geprägten Forschungslandschaft in den vergangenen Jahren immer vehementer aufgekeimt ist: Warum soll eigentlich überhaupt philosophiert werden? Diese Frage zielt oft recht unmittelbar auf die (meist in einem Atemzug gleich als nicht vorhanden unterstellte) ökonomische Nutzendimension ab (Stichwort: „brotlose Kunst“), betrifft aber zugleich ein zentrales Problemfeld der Philosophie in toto: Aus welchen Gründen bzw. mit welchen Zielen und Absichten wird Philosophie denn überhaupt betrieben? Die Frage nach dem Warum der Philosophie lässt sich somit nicht auf eine bloße WozuFrage reduzieren. Und bei ihrer Beantwortung geht es auch nicht nur um die „extrinsische“ Legitimation der philosophischen Tätigkeit z. B. gegenüber Förderinstitutionen, sondern auch und wesentlich um ihr grundlegendes
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Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller
inhaltliches und methodisches Verständnis, also um eine intrinsische Dimension: Die Frage, warum Philosophie eigentlich betrieben wird, kann nur von einem Standpunkt aus beantwortet werden, der ein bestimmtes Verständnis von Philosophie (implizit) voraussetzt oder (explizit) artikuliert. Dieses Verständnis wird nun in einem Wechselspiel von Innen- und Außenperspektive konstituiert: Zum einen wird es geprägt vom Selbstverständnis der Philosophen, zum anderen aber auch von politischen und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen gegenüber der Philosophie. Das skizzierte Wechselspiel von Innen- und Außenperspektive in der Beantwortung der für diesen Band titelgebenden Frage soll nachfolgend in dreierlei Hinsicht zum Tragen kommen: (1) Die Frage nach den Gründen für das Philosophieren ist nicht so neu, wie sie manchmal erscheint: De facto hat sie eine lange Geschichte, insofern sie seit der Antike selbst immer wieder im Sinne der sokratischen Forderung nach dem Geben von Gründen bzw. dem Ablegen von Rechenschaft (logon didonai) in ihrer Selbstanwendung auf das eigene Tun explizit thematisch geworden ist. Eine grundlegende Besinnung auf die historische Dimension der Frage und ihre Beantwortung in verschiedenen Epochen kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, drohende Engführungen in der gegenwärtige Debatte zu erkennen und ggf. zu überwinden. (2) Die gegenwärtige philosophische Landschaft ist durch eine Vielzahl verschiedener Richtungen und Ansätze gekennzeichnet: „Das“ Selbstverständnis „der“ gegenwärtigen Philosophie gibt es somit wohl nicht. Je nach primärem Themengebiet und systematischer Ausrichtung werden die Gründe für das Philosophieren also verschieden ausfallen. Deshalb sollten verschiedene Ansätze gegenwärtigen Philosophierens auf ihre Absichten und Ziele bzw. auf ihr Selbstverständnis hin befragt werden. (3) Die Philosophie ist Teil einer Gesellschaft, die ihr mit verschiedenen Anspruchs- oder Erwartungshaltungen gegenüber tritt: Diese variieren natürlich je nach involviertem gesellschaftlichen Bereich (Bildung, Politik, Ökonomie, etc.), aber es ist unbezweifelbar, dass nach den Gründen für das Philosophieren nicht nur in der Philosophie selbst gefragt wird. Die Einholung dieser „Außenperspektive“ ist von großer Bedeutung, wenn die Philosophie sich nicht durch ein insulär formuliertes Selbstverständnis (oder gar durch eine weitgehende „Diskursverweigerung“ nach außen im Blick auf ihre eigene Rolle in der heutigen Welt) selbst in das von Nida-Rümelin befürchtete Abseits stellen möchte. Die Frage nach dem Warum der Philosophie weist somit (1) historische, (2) systematische und (3) gesellschaftliche Perspektiven auf, denen in
Einleitung: „Warum noch Philosophie?“
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unserem Band gleichermaßen Rechnung getragen werden soll. Die übergreifenden Leitfragen lauten dabei: Warum soll eigentlich überhaupt (noch) philosophiert werden? Aus welchen Gründen, mit welchen Zielen und Absichten wurde und wird Philosophie überhaupt betrieben? Dies involviert aus den oben angeführten Gründen in mancherlei Hinsicht auch die Beantwortung der Frage, was man denn überhaupt unter Philosophie versteht. Dabei haben wir die Autoren dieses Bandes dazu ermutigt, möglichst programmatische Stellungnahmen abzugeben und klare Positionen im Blick auf das „Was“ wie auch das „Warum“ der Philosophie zu konturieren. Die Beiträge des Bandes gehen teilweise auf eine Tagung zurück, die vom 24. bis 26. November 2008 im Fest- und Senatssaal der Universität Bonn abgehalten wurde. Die finanzielle Förderung der Tagung erfolgte durch den Stifterverband der Deutschen Wissenschaft, dem auf diesem Wege noch einmal herzlich für diese Unterstützung gedankt sei. Eine ideelle Förderung wurde der Veranstaltung zuteil durch die deutsche UNESCO-Kommission, deren Generalsekretär, DR. ROLAND BERNECKER, als Schirmherr fungierte. Aus diesem Grund ist den Beiträgen das Grußwort von Herrn Bernecker zur Eröffnung der Tagung vorangestellt, in dem er v. a. auf die Zielsetzung und die zunehmende Bedeutung des von der UNESCO ins Leben gerufenen „Welttags der Philosophie“ abhebt, der kurz zuvor am 20.11.2008 stattfand und in dessen Kontext die Veranstaltung angesiedelt war.
II. Die Beiträge Der erste Beitrag von MARCEL VAN ACKEREN und JÖRN MÜLLER in Teil I hat die Funktion, eine Art „Problemaufriss“ zu liefern und die wesentlichen philosophischen und sozialen Dimensionen der Frage nach dem Warum der Philosophie freizulegen, wie sie auch für die nachfolgenden Beiträge in grundlegender Weise relevant sind. Dabei wird u. a. versucht, dem oft übersehenen inneren Zusammenhang der beiden Fragen nachzuspüren, was Philosophie ist und warum sie eigentlich betrieben werden sollte. Ausgehend von einer Bestandsaufnahme des fragmentierten Selbstverständnisses der Philosophie in der Gegenwart wird ein Neuansatz vorgeschlagen, in dem Philosophieren als eine inhärent teleologisch-funktionale Tätigkeit gedeutet wird, deren Begriffsgehalt gar nicht unabhängig von der Frage nach ihrem Wozu bzw. Warum geklärt werden kann. Als hermeneutischer Passepartout für die Klärung dieser Frage wird die Auslotung des Verhältnisses von Theorie und Praxis angeregt, das von der Antike bis in die Gegenwart immer wieder den philosophischen Diskurs befeuert hat.
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Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller
Von hier aus lässt sich dann auch die „von außen“ gestellte Frage nach dem Warum der Philosophie und nicht zuletzt nach ihrem Nutzen im engeren Sinne des Wortes fruchtbar thematisieren. In Teil II des Bandes werden zuerst die historischen und dann die systematischen Bestimmungsversuche, also gewissermaßen die innerphilosophische Perspektive in Geschichte und Gegenwart konturiert. ADA NESCHKE-HENTSCHKE zeigt in ihrem Beitrag auf, dass in der klassischen griechischen Antike wesentlich eine anthropologische Fundierung der Philosophie angenommen wird. Aristoteles hat bekanntlich im ersten Satz seiner Metaphysik das natürliche Wissensstreben als Charakteristikum des Menschen akzentuiert; wie Neschke für Platon nachweist, ist die Frage nach dem Wesen des Menschen hierbei von Anfang an wesentlich praktisch motiviert, nämlich als Frage nach dem Guten des Menschen in Form von Leben und Handeln. Diese Frage ist zwar kein Privileg des Philosophen, sondern allen Menschen eingeschrieben, aber die besondere und alleinige Kompetenz der Philosophie, die Platon ihr in Gestalt der Dialektik dafür zuschreibt, liegt gerade darin, diese Frage allgemeingültig über die Erkenntnis der Idee des Guten beantworten zu können. Dabei gerät der Ausgang vom Leben und der bleibende Sitz in ihm für die philosophische Tätigkeit nie aus dem Blick: Die menschliche Praxis geht der Theorie voraus und stellt für diese zugleich auch wieder die zentrale Zieldimension dar, insofern Philosophie letztlich durch vernünftige Reflexion zum gelingenden Leben (eudaimonia) auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene befähigt. Der systematische Ursprungsort der Philosophie ist somit das Leben selbst. Mit besonderem Blick auf die mittelalterliche Philosophie diskutiert JOHN MARENBON die Problematik, aus welchen Gründen man „alte“ Texte als Philosoph überhaupt noch studieren sollte, und wirft damit letztlich die Frage auf: „Warum noch Geschichte der Philosophie?“ Er stellt verschiedene Strategien vor, mit denen die Legitimation philosophiehistorischer Lehre und Forschung regelmäßig betrieben wird, und prüft diese kritisch. Sein eigener Vorschlag besteht darin, dass die Auseinandersetzung mit historischen Texten erst grundlegend deutlich macht, was Philosophie als Spektrum menschlicher Tätigkeiten ist bzw. sein kann, die zwar durch keinen klar umrissenen Begriff vereinigt sind, wohl aber gewisse Familienähnlichkeiten aufweisen. Für die mittelalterliche Epoche betont er, dass trotz aller Überlappungen mit theologischen Fragestellungen ein philosophischer Kernbestand ausweisbar ist, der eine Auseinandersetzung mit den Texten unter philosophischem Gesichtspunkt weiterhin fruchtbar erscheinen lässt. In ähnlicher Weise fragt LUDWIG SIEP nach der Rechtfertigung für die Auseinandersetzung mit der praktischen Philosophie der Neuzeit. Er sieht
Einleitung: „Warum noch Philosophie?“
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hier wesentlich zwei gewinnbringende Dimensionen für die Gegenwart bzw. die heutige Philosophie: Zum einen hilft die Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen praktischen Philosophie dabei, eigene Denkvoraussetzungen und den moralisch-politischen Common sense bewusst zu machen und gegen Alternativen zu rechtfertigen; zum anderen lassen sich auf diese Weise wichtige Vorstufen für heute anerkannte Normen und Institutionen und damit auch gute Gründe für deren Legitimation finden. Siep zeigt dies an den beiden Beispielen der Herausbildung individueller Grundrechte und an der Problematik des „gerechten Krieges“ in völkerrechtlicher Perspektive auf. Generell betont er, dass die gegenwärtigen Probleme in Ethik und Politik nicht immer nur durch den engführenden Blick nach vorn dominiert werden sollten, sondern dass hier auch die Besinnung auf die praktische Philosophie der Neuzeit einigen Ertrag zu bringen vermag, selbst wenn diese keine unmittelbar praktikablen Lösungen anbietet. Für das 20. Jahrhundert und damit auch noch für die gegenwärtige Philosophie ist wohl kaum eine philosophische Richtung so einflussreich gewesen wie die analytische Philosophie und die ihr zugrundeliegende Auffassung, dass die Philosophie keine Aussagen über die Welt zu machen, sondern durch Sprachanalyse traditionelle philosophische Probleme „aufzulösen“ bzw. als sinnlos nachzuweisen hat. ANSGAR BECKERMANN zeichnet in seinem Beitrag nach, wie das Projekt der Abschaffung der Philosophie durch logische Analyse der Sprache gemeinsam mit dem empiristischen Sinnkriterium letztlich gescheitert ist. In jüngster Zeit ist die analytische Philosophie deshalb vermehrt zu traditionellen Fragestellungen zurückgekehrt, wie Beckermann an der religionsphilosophischen Diskussion der verschiedenen Formen klassischer Gottesbeweise demonstriert: „Back to the classics“. Was analytische Philosophie heute „ist“ und worauf sie abzielt, lässt sich nicht mehr in dieser Allgemeinheit sagen, sondern nur an Hand konkreter Argumentationen in den einzelnen Feldern bzw. Disziplinen der Philosophie aufzeigen. Die radikale Veränderung der analytischen Philosophie in den letzten Jahrzehnten lässt sich aber zumindest via negationis noch in eine Formel kleiden: „‚Metaphysik‘ ist kein Schimpfwort mehr, und das Ziel ist nicht mehr, Philosophie durch logische Analyse der Sprache zu überwinden“, wie Beckermann konstatiert. Eine grundlegende Bestimmung der Philosophie, nachdem sich in Neuzeit und Moderne die verschiedenen Natur- und zunehmend auch die Geistes- und Sozialwissenschaften als eigenständige Disziplinen sektoralisiert und aus der Philosophie emanzipiert haben, ist heute ihr Verhältnis zu den anderen Wissenschaften. Diesem Themenkomplex widmen sich die drei nächsten Beiträge: PAUL HOYNINGEN-HUENE und THOMAS REYDON skizzieren zwei gängige Modelle der interdisziplinären Kooperation der
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Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller
Philosophie mit den Einzelnwissenschaften: Während eine „normative Wissenschaftsphilosophie“ durch die richtungsweisende Reflexion „über“ die Einzelwissenschaften deren Erkenntnisfortschritt befördern möchte, wird eine „partizipative Wissenschaftsphilosophie“ gemeinsam „mit“ den Einzelwissenschaften selbst neue Erkenntnisse zu Tage zu fördern versuchen. Die eigene Antwort der beiden Autoren auf die Frage „Warum Wissenschaftsphilosophie?“ stellt in partieller Abgrenzung von diesen beiden Modellen die Idee einer fragenden Wissenschaft als kritische Reflexionsinstanz in den Vordergrund: Durch permanente Hinterfragung der einzelwissenschaftlichen Modelle und Begriffe kann sie sowohl zu einem tieferen Verständnis der involvierten Begriffe und Sachverhalte beitragen als auch ggf. auf Holzwege aufmerksam machen, die unbedacht beschritten worden sind. Als Kritikinstanz der Einzelwissenschaften vermag sie auf diese Weise einen indirekten Beitrag zu deren Entwicklung und Erkenntnisgewinnung zu leisten, ohne selbst positives Wissen über die Welt zu produzieren. Das Verhältnis zwischen Philosophie und allgemeiner Wissenschaftstheorie wird von RAINER ENSKAT thematisiert: Er kommt auf der Basis einiger Fallbeispiele (Duhem, Stegmüller) zu dem Resultat, dass sich das Verhältnis von Wissenschaftstheorie und theoretischer Philosophie, das meist im Fokus der Aufmerksamkeit steht, letztlich eher aporetisch darstellt. Angesichts dieser wissenschaftstheoretischen Inkompetenz im theoretischen Bereich rückt dann zunehmend die praktische Philosophie ins Blickfeld: In Abgrenzung von gängigen Beschreibungsmustern und Aufgabenzuweisungen (v. a. dem Kompensations- sowie dem Anti-Entfremdungsmodell) betont Enskat die fundamentale Trias kognitiver Habitus: Vorsicht, Umsicht und Rücksicht, als Bereich, für den die Philosophie als „wichtigste reflexive Hüterin und Anwältin der praktischen Urteilskraft“ weiterhin zuständig ist: Indem sie nach den kognitiven Voraussetzungen der Praxis (auch der wissenschaftlichen) fragt, orientiert erst die Philosophie die Wissenschaftstheorie grundlegend über den Ort der lebensweltlichen Praxis, an dem deren Tätigkeit angesiedelt ist. Eines der ebenso lebenspraktisch wie wissenschaftlich relevanten Themenfelder, in dem die Philosophie in jüngster Zeit ein neues Zuhause gefunden zu haben scheint, stellt der Bereich der Lebenswissenschaften dar. MICHAEL QUANTE untersucht im Rahmen einer normativen Reflexion in kritischer Absicht, wie die Philosophie ihre Rolle im Kontext der Lebenswissenschaften interpretiert und ausfüllen kann. Seiner Diagnose zufolge läuft die Philosophie hier gegenwärtig Gefahr, entweder durch Nachahmung oder Akkommodation Selbstaufgabe zu betreiben oder durch einen Eskapismus (z. B. in die Welt der ‚reinen‘ Begriffe) der Selbstmarginalisierung im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext Vorschub zu leisten. Er argumentiert statt dessen für die These, dass die Philo-
Einleitung: „Warum noch Philosophie?“
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sophie sich weder an die Methoden oder ontologischen Vorgaben der Naturwissenschaften anzupassen hat noch von deren empirischen Befunden gänzlich abstrahieren sollte. Da es der Philosophie sowohl eso- als auch exoterisch schadet, wenn sie sich der Herausforderung durch die Lebenswissenschaften nicht stellt und den an sie gesellschaftlich herangetragenen Auftrag der Orientierung nicht übernimmt, plädiert er für eine aktive Einmischung der Philosophie, die zwar nicht aus dem Gestus des überlegenen Experten, wohl aber auf Augenhöhe mit den wissenschaftlichen Spezialisten erfolgen sollte. Unmittelbare lebenspraktische Relevanz scheint die Philosophie schließlich dort zu besitzen, wo man ihr eine Funktion der „Lebenshilfe“ zuschreibt. Dies ist vor dem Hintergrund, dass sich etwa die antike Philosophie als Lebensform bzw. Lebenskunst verstand, zwar eine in ihrer eigenen Geschichte angelegte Möglichkeit, wird aber gerade in der modernen und gegenwärtigen Philosophie eher argwöhnisch beäugt. WILHELM SCHMID prüft die Potenziale der Philosophie in diesem Bereich und kommt zu dem Ergebnis, dass der Philosophie weiterhin sinnvoll die Rolle zugesprochen werden kann, Menschen bei der Klärung von Lebensfragen und damit bei ihrer individuellen Lebensorientierung zu helfen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das außerakademische philosophische (sokratische) Gespräch, in dem eine Klärung von Sinndimensionen wie auch von grundlegenden Begriffen geleistet wird: Auf diese Weise unterstützt Philosophie die Strukturierung des „logischen“ bzw. geistigen Raums, in dem die eigenständige Urteilskraft zu gewinnen ist, mit deren Hilfe das Individuum sein Leben dann neu orientieren kann. Philosophie ist dabei nicht normativ, sondern stets beratend tätig, und im günstigsten Fall führt dieser Beratungs- und Klärungsprozess auf Seiten der Gesprächspartner zur Entwicklung einer autonomen Lebensphilosophie, also zu einer reflektierten Auffassung vom eigenen Leben. Die von Schmid entwickelte Auffassung knüpft an seine Philosophie der Lebenskunst an, die er im Anschluss an Michel Foucaults Spätwerk entwickelt hat. Beide rekurrieren hierbei auf antike Vorläufer, insbesondere die Stoa. Wie THEO KOBUSCH in seinem Beitrag zeigt, sind die Differenzen zwischen antiker und moderner philosophischer Lebenskunst aber doch größer, als sowohl ihre gegenwärtigen Vertreter als auch deren sich zunehmend zu Wort meldenden Kritiker wahrnehmen. Die moderne Variante der Philosophie als Lebensform, die wesentlich an Nietzsche anknüpft, sieht die philosophische Lebenskunst in einer Art ästhetischen „creatio ex nihilo“, also einer Selbsterfindung bzw. -erschaffung im Vollsinne des Wortes: das Leben als Kunstwerk. Demgegenüber betont die in der hellenistischen und christlichen Philosophie ausgebildete Philosophie der Lebenskunst die Idee einer moralischen Selbsttransformation, die das
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Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller
eigentliche Ich des Menschen freilegt und dabei an dessen Vorgeschichte anknüpft. Damit steht auch ein anderer Begriff des Selbst im Vordergrund: Während die moderne Spielart auf das empirische Individuum abhebt, muss das Subjekt der antiken Selbsttransformation als ein allgemeines verstanden werden. Aufgrund dieser fundamentalen Divergenzen geht nach Kobusch die Kritik an der modernen Philosophie der Lebenskunst bei aller Berechtigung letztlich an ihrer antiken Variante und ihrer Fortführung durch die christliche Philosophie im Mittelalter vorbei. Da in dieser „vormodernen“ Lebensformphilosophie letztlich die strikte Scheidung von Theorie und Praxis überwunden wird – nämlich in der Konzeption einer das sittliche Selbst transformierenden „praktischen Metaphysik“, deren Resonanzen noch bis in das 20. Jahrhundert hörbar sind – ist sie in ihrer Lebensnähe zukunftsweisender als ihre selbsternannten modernen Erben mit ihrer tendenziell ästhetisierenden Sichtweise. Teil III des Bandes versammelt Beiträge, die sich der „Außenperspektive“ der Philosophie widmen, also der Frage, wie der Sinn und der Nutzen der Philosophie in verschiedenen gesellschaftlichen Segmenten wahrgenommen wird bzw. wie er sich in diesen Bereichen darstellt. Den Anfang macht dabei das Verhältnis von Philosophie und Politik: Aus der Sicht eines langjährigen (und in Philosophie promovierten) Politikers beleuchtet CHRISTOPH BÖHR die mögliche Rolle der Philosophie für Politik und Gesellschaft. Auf den ersten Blick erscheinen die beiden Sachbereiche nahezu inkompatibel, weil sie unterschiedliche Zielsetzungen erstreben und divergente Erfolgskriterien verwenden: In der Philosophie geht es um Erkenntnis, in der Politik prima facie um Macht. Doch Böhr sieht in der Ablösung des autoritativen durch ein deliberatives Paradigma von Gesellschaftlichkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Potenzial der Philosophie in drei Bereichen: (a) auf einer konstitutiven Ebene, insofern die Konstitution des (herrschafts-)freien Subjekts immer an den philosophisch zu begründenden Gedanken der Menschenwürde gebunden ist; (b) auf einer kritischen Ebene, weil die Philosophie am Besten dazu geeignet ist, die Autoreferentialität von bestimmten (vorzugsweise über die Medien ausgetragenen) gesellschaftlichen und politischen Diskursen zu enttarnen, die letztlich das für die Deliberation fundamentale Prinzip der Reziprozität konterkarieren; (c) auf einer maieutischen Ebene (im sokratischen Sinne), insofern freiheitlich-deliberative Gesellschaften bestimmter Prinzipien der Beratung bedürfen, welche die Philosophie nicht normativ vorgeben, bei deren diskursiver Geburt sie sich aber durchaus als Hebamme betätigen kann. Philosophie kann und soll also nicht selbst Realpolitik betreiben, wohl aber den auf politischer Ebene stattfindenden, für die deliberative Gesellschaft kennzeichnenden Prozessen der Selbstvergewisserung und –verständigung beratend und begründend zur Seite stehen.
Einleitung: „Warum noch Philosophie?“
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Der Frage, welchen Nutzen die Philosophie in der modernen Welt haben kann, ist der Beitrag von JÜRGEN MITTELSTRAß gewidmet. Er betont die Potenziale, die eine als voraussetzungslose, begründungsorientierte Form des Denkens verstandene Philosophie für eine ansonsten von (wissenschaftlichen und politischen) Tunnelblicken geprägte Gesellschaft bietet. Gerade weil sich in der modernen Welt wissenschaftliche, gesellschaftliche und politische Problemlagen in einer vielfältigen Weise überkreuzen, die ihre Lösung durch einen partikularisierten Sachverstand unmöglich erscheinen lässt (wie Mittelstraß es am Beispiel der Debatte über das Klonen aufzeigt), bedarf es der Philosophie als einer vernunftorientierten Orientierungsinstanz, z. B. im klugen Umgang mit technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen. Da Orientierungsprobleme aber stets auch begriffliche Schwierigkeiten involvieren, muss die Philosophie gerade dort in analytischer und konstruktiver Form auf Klarheit dringen, wo sich das alltägliche und das wissenschaftliche Bewusstsein mit gewohnten und akzeptierten Überzeugungen schon zufriedengegeben hat. Neben dieser aufklärerischen Funktion ist die Philosophie als Bildungsform auch geeignet, den der modernen Universität zugrundeliegenden Gedanken der „Bildung durch Wissenschaft“ selbst wieder nachhaltig zum Tragen zu bringen. MARTIN THOMÉ stellt der Philosophie aus der Sicht der Wissenschaftsförderung folgende Diagnose: Da Wissenschaft häufig über ihren Nutzen für die Lösung aktueller drängender Probleme definiert wird, die Philosophie aber vordergründig keinen Nutzen erbringt, droht ihre Bedeutung im Wissenschaftssystem ins Hintertreffen zu geraten. Die Philosophie dürfe auf diese Situation nun weder mit dem krampfhaften Versuch reagieren, doch noch ihre volkswirtschaftliche Utilität auszuweisen, noch solle sie ihre ‚Nutzlosigkeit‘ als Kriterium für ihre Schutzwürdigkeit ins Feld führen. Sie müsse sich vielmehr darauf besinnen, dass ihre Rolle im Wissenschaftssystem darin besteht, das ‚fragende Denken‘ als ihr Proprium zu kultivieren und dem wissenschaftlichen Denken den Horizont des Fragens offenzuhalten: Gerade weil der Wissenschaftsbetrieb heutzutage wesentlich als eine Art „Antwortmaschine“ mit immer enger abgestecktem Bedeutungsumfang strukturiert ist, liegt der Beitrag der Philosophie nicht in der Lieferung der besseren, abschließenderen und endgültigeren Antworten, sondern im Herausfinden und Formulieren der richtigen und guten (und d. h. wesentlich der wissenschaftlich und gesellschaftlich weiterführenden, neue Horizonte eröffnenden) Fragen. Als Instanz für die Formulierung von „Fragen, die alle brauchen“ kann sie zukünftig wieder eine maßgebliche Rolle im gegenwärtigen Wissenschaftssystem spielen. Obwohl Sokrates bekanntlich in der platonischen Apologie (33a) betonte, dass er eigentlich nie jemandes Lehrer gewesen sei, ist die Philoso-
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phie doch seit ihren Anfängen auf das Engste mit dem Bildungs- und Erziehungsbereich verknüpft. KLAUS DRAKEN widmet sich in seinem Beitrag der Bedeutung der Philosophie für den Schulunterricht, mit besonderem Blick auf die methodischen und didaktischen Vorgaben des Kernlehrplans für das 2007 an nordrhein-westfälischen Schulen für die Sekundarstufe I (Klassen 5–10) zusätzlich zum Philosophieunterricht der Oberstufe eingeführte Fach „Praktische Philosophie“: Dieses ist auf die nicht weltanschaulich bzw. religiös gebundene, argumentativ-diskursive Behandlung von Sinn- und Wertfragen verpflichtet. Methodisch steht dabei die Praxis des dialogischen Philosophierens im sokratischen Stil im Vordergrund, das den Schülern dazu verhelfen kann, sich Kompetenzen zu Problemlösungen in variablen Situationen anzueignen – in Zeiten eines tiefgreifenden Wandels der medialen Kommunikations- und Wissenskultur eine äußerst nachhaltige Aufgabe. Draken sieht im schulischen Philosophieunterricht deshalb auch das Potenzial, dass die Schüler im Rahmen sinngebender Reflexion „durch Philosophieren zu einer autonomen Persönlichkeit“ werden. Er reflektiert dabei aber auch den in den letzten Jahren vollzogenen Wandel an den Schulen selbst, in der Fachdidaktik sowie in der Lehrausbildung (Stichwort: polyvalenter Master of Education) und die sich daraus ergebenden Problemstellungen und Herausforderungen. Eine weitere Perspektive auf die Bedeutung der Philosophie für den Bildungsbereich präsentiert LUTZ MÖLLER aus Sicht der UNESCO, also der innerhalb der Vereinten Nationen für den Bereich Bildung, Wissenschaft und Kultur zuständigen Organisation: Er erläutert den Aufgabenbereich der nationalen UNESCO-Kommissionen sowie ihre Beziehung zur Philosophie, wobei ein gewisses Spannungsverhältnis sichtbar wird: Der prinzipiellen Anerkennung der selbstzweckhaften Freiheit der Philosophie als Wissenschaft steht in vielen Verlautbarungen und konkreten Projekten auch immer wieder das Anliegen gegenüber, die Philosophie direkt in den Dienst der Gesellschaft und der Ziele der Vereinten Nationen zu stellen, indem sie auf die Legitimation von Demokratie, Menschenrechten und einer „Kultur des Friedens“ verpflichtet wird. Möller reflektiert kritisch die hier sichtbar werdende Tendenz, die Philosophie als eine Art „intellektuelle Agentur des UN-Systems“ für eine Rechtfertigung heranzuziehen, die nicht wirklich in ihrem Feld liegt. Das politische Bildungsziel der UNESCO, die Förderung von unabhängigem und kritischem Denken als Gegengewicht zu fundamentalistischen Weltsichten, könne nur durch eine „authentische“ und d. h. nicht-instrumentalisierte Philosophie erreicht werden: Deren mögliche Aufgabe in diesem Kontext sieht Möller in der grundlegenden Klärung von Konzepten wie „Frieden“, „Dialog“ oder „Nachhaltigkeit“, die in der Politik der Vereinten Nationen eine zentrale Rolle spielen, ohne dabei doch wirklich hinreichend „durchdacht“ zu sein. Sein Beitrag schließt mit einer
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Aufforderung an die Philosophen, dass sie sich „fortlaufend mit diesen Fragen beschäftigen und gegebene Antworten auf diese Weltprobleme fortlaufend hinterfragen und sich einbringen“ sollten. Die Philosophen scheinen gut beraten, dieser Aufforderung nachzukommen. Im berühmt-berüchtigten „Elfenbeinturm“ ist eine zukunftweisende Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ der Philosophie jedenfalls nach unserer Auffassung kaum zu finden. Nur wenn sie sich der in dieser Frage artikulierten Herausforderung stellt, kann sie einen Einspruch einlösen, den Julian Nida-Rümelin in seinem eingangs zitierten Interview unzweideutig formuliert hat: Als „Mutterwissenschaft“ der heutigen Forschungslandschaft soll sie auch weiterhin eine „Orientierungs- und Integrationsdisziplin“ sein, und zwar in wissenschaftlicher ebenso wie in gesellschaftlicher Perspektive. Der Frage, inwieweit die gegenwärtige Philosophie einem solchen Anspruch überhaupt noch gerecht zu werden vermag, widmet sich die abschließende Debatte zwischen KARL HEINZ BOHRER und VOLKER GERHARDT. Die diesbezügliche Diagnose von BOHRER, dass die Philosophie gesellschaftlich und wissenschaftlich nicht mehr den Einfluss besitze, der ihr noch zum Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zukam, verbindet sich mit einer Beobachtung der Entwicklung innerhalb der Philosophie selbst in den letzten Jahrzehnten: den schleichenden Niedergang eines systematischen bzw. systembildenden Philosophierens. Diese sei zunehmend verdrängt worden durch eine an Nietzsche angelehnte essayistische bzw. aphoristische Form des Philosophierens, welche die Philosophie näher an die Literatur rücke. Diesen „Systemverlust“ deutet Bohrer nun keineswegs als einen Flurschaden, da – wie er in Anlehnung an Platons siebten Brief ausführt – eine „systematische Praxisphilosophie“, die (z. B. in Form der Mitwirkung an Ethikräten) auf gesellschaftliche bzw. politische Zusammenhänge Einfluss zu nehmen versuche, ohnehin der falsche Weg sei: Eine auf die Praxis abzielende Philosophie verliere ihren spezifischen Charakter, der letztlich in einer reinen Theorie zu suchen sei, die sich aber eher in Richtung der Kunst orientieren solle. Dem hält GERHARDT entgegen, dass dieser Versuch, die Philosophie von einer Kontaminierung durch die Praxis zu bewahren, ihr letztlich wesensfremd sei: Die im Blick auf die essayistische Richtung der Philosophie vollzogene Identifikation von Philosophie und Kunst verfehle den immer schon präsenten Anspruch der Philosophie, selbst eine auf Erfolg ausgerichtete Lebenspraxis zu sein. Kritisch sieht er dabei schon generell die von Bohrer vollzogene Abgrenzung von „systematischer Praxisphilosophie“ und „essayistischem Philosophiespiel“, die nicht wirklich trennscharf sei und letztlich das Selbstverständnis der Philosophie als „Einheit in Vielfalt“ verfehle. Auch die Diagnose des „Machtverlusts“ der Philosophie vermag er mit Blick auf die
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zunehmend interdisziplinäre und internationale Ausrichtung der Disziplin nicht zu teilen: Gerade die diese Tendenzen verkörpernden Ethikräte seien dadurch, dass sie zum auslegenden Teil der politischen Macht geworden sind, ein Indiz für den realen Einfluss der Philosophie. Dabei erkennt Gerhardt durchaus an, dass die Philosophie des kritischen Blicks von außen bedürfe, um nicht in fachinterne Selbstverständlichkeiten zu verfallen. In dieser Debatte spiegelt sich brennglasartig das diesem Band insgesamt zugrunde liegende Konzept der Verbindung von Innen- und Außenperspektive wider: Anstatt sich in ein insuläres Selbstverständnis und Gehaben zu verstricken, sollte die Philosophie sich bewusst auf die wissenschaftliche und gesellschaftliche Sicht von außen einlassen, wenn es um die Frage nach ihrem „Was“ und ihrem „Warum“ geht – obwohl das manchmal unbequem sein kann.
Für wertvolle redaktionelle Unterstützung bei der Erstellung dieses Bandes möchten wir uns herzlich bei Eike Brock und Thomas Grote bedanken.
Grußwort Roland Bernecker Ich freue mich, Sie im Namen der Deutschen UNESCO-Kommission zu dieser internationalen Tagung begrüßen zu dürfen, die sich als ein Beitrag zum UNESCO-Welttag der Philosophie versteht. Die Deutsche UNESCOKommission hat sehr gerne die Schirmherrschaft über diese Veranstaltung übernommen. In diesem Jahr finden weltweit in über 80 Staaten Veranstaltungen zu diesem UNESCO-Welttag statt. Die beeindruckende Liste der Tagungen zeigt: Es gibt offenbar eine ganze Reihe von aktuellen Fragen, auf die man mit Hilfe der Philosophie Antworten sucht. Als der Welttag der Philosophie 2005 von der UNESCO ausgerufen wurde, gab es auch kritische Stimmen, die fragten: Warum soll sich eine zwischenstaatliche Organisation der Vereinten Nationen, der 193 Mitgliedstaaten angehören, mit Philosophie beschäftigen? Hat sie nicht genug Anderes und vielleicht auch Besseres zu tun, als sich in philosophische Debatten einzumischen? In den Mandatsbereichen der UNESCO: Bildung, Wissenschaft, Kultur und Medien, gibt es für ein multilaterales Forum viele politische und praktische Fragen zu lösen. Auf diesen Einwand gibt es meines Erachtens eine eindeutige Antwort. Die politischen Systeme und die zwischenstaatliche Zusammenarbeit beruhen auf Grundlagen, Werten, Normen und orientieren sich an Idealen, über die wir uns auch in den zwischenstaatlichen Foren immer wieder neu verständigen müssen. In der Vielfalt der Kulturen suchen wir auch die universellen Werte, die, mit einem Ausdruck des UNESCO-Generaldirektors Matsuura, eine „gemeinsame Sprache der Menschheit“ sind. Dazu zählen insbesondere die universell geltenden Menschenrechte, die das Fundament der Vereinten Nationen bilden. Es gibt kein demokratisches Politikverständnis ohne dauernde Reflexion auf die Grundlagen unseres Zusammenlebens. Das wird uns in diesen Monaten wieder deutlich vor Augen geführt. Die einseitige Ausrichtung auf den wirtschaftlichen Erfolg schafft ein verkürztes Menschenbild und droht, unsere Gesellschaften zu zerreißen.
Redemanuskript des Grußworts, mit dem die Tagung „Warum (noch) Philosophie? Historische, systematische und gesellschaftliche Perspektiven“, die vom 24.–26. November 2008 an der Universität Bonn stattfand, eröffnet wurde.
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Roland Bernecker
Wir brauchen mehr Philosophie. Wir brauchen mehr Mut zu einem umfassenderen Nachdenken über Grundlagen und Finalitäten. Wir müssen uns beharrlicher üben in der Methode des freien, auf Argumente und Überzeugungskraft sich stützenden Austauschs. Wir brauchen Philosophie als Schule des kritischen Hinterfragens und des Weiterdenkens, des insistierenden Rückbezugs auf Sinn und Werte. Gerade auch die Einsicht in die Grenzen des menschlichen Wissens kann zu einer größeren Gelassenheit und Offenheit führen, die lernt, auch das Andere gelten zu lassen. Die großen politischen Konzepte unserer Zeit arbeiten auf der Grundlage bestimmter gesellschaftlicher, man könnte auch sagen: philosophischer Prämissen. Es lohnt sich, diese zu hinterfragen. 2005, 10 Jahre nach der Gründung der Welthandelsorganisation und des Abkommens über den Handel mit Dienstleistungen, hat die UNESCO einen Völkerrechtsvertrag über die kulturelle Vielfalt verabschiedet, der einen Kontrapunkt setzt zur Politik der stetig weitergreifenden Marktöffnungen. In ihrer Aufarbeitung der kulturellen Bildung sucht die UNESCO Antworten auf Bildungskonzepte, in denen die funktionale Verwertbarkeit von Wissen immer mehr in den Vordergrund gerückt wird. Die stetige Aufwertung des Religiösen mit seinem Anspruch der Nichthinterfragbarkeit seiner Prämissen ist eine Rückbesinnung auf fundamentale Wertbindungen, sie stellt jedoch auch wesentliche Grundzüge der Aufklärung in Frage – und damit den grundlegenden Anspruch des Menschen auf Selbstbestimmung. Wir brauchen die Philosophie heute mehr denn je. Das macht die Arbeit im zwischenstaatlichen Forum der UNESCO besonders deutlich. Wir brauchen eine starke Präsenz der Philosophie in unseren Bildungslandschaften, um vor allem jungen Menschen Freude am offenen und neugierigen Austausch und Vertrauen in das selbstbewusste Denken zu vermitteln. In einigen Teilen der Welt wird diese Offenheit zunehmend in Frage gestellt. Dies kann auch verstanden werden als Erwiderung auf ein westliches Gesellschaftsbild, das mit der Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen und einer zunehmenden Fixierung auf materielle Werte das Maß zu verlieren scheint. Die UNESCO befindet sich an der Schnittstelle zwischen konzeptioneller und politischer Arbeit. Es kann ihr nicht um akademische Zielsetzungen gehen. Sie muss mit ihren 193 Mitgliedstaaten daran mitwirken, tragfähige politische Normen und Instrumente zu entwickeln, die zu einer gerechteren und friedlicheren Welt führen sollen. Das ist letztlich, auf einer anderen Ebene, auch die Aufgabe der Philosophie, wenn man sie in ihrem ursprünglichen Sinn als Streben zur Weisheit versteht. Der UNESCO-Welttag der Philosophie ist erst wenige Jahre alt. Ich wage die Vorhersage, dass er in Zukunft für die Ziele der UNESCO immer wichtiger werden wird.
I. Problemstellung
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen einer philosophischen und sozialen Frage Marcel van Ackeren, Jörn Müller I. Ein Fach in der Krise? Glaubt man dem Feuilleton, muss es den Philosophen angst und bange sein: Sie sind, wie Thomas Assheuer es unzweideutig formuliert hat, gemeinsam mit den anderen Geisteswissenschaften1 in einen „brutalen Überlebenskampf“ verstrickt, der sich einem nachhaltigen Verlust lange Zeit unangefochtener gesellschaftlicher Selbstverständlichkeiten verdankt: „Es ist eben nicht mehr selbstverständlich, dass Philosophen, Altertumswissenschaftler, Kunsthistoriker und Germanisten selbstverständlich sind.“2 Auch wenn das Jahr 2007 zum „Jahr der Geisteswissenschaften“ ausgerufen worden ist: Vorüber sind offenbar die halkyonischen Tage, in denen man zumindest meinte, nach außen keine Rechenschaft über das eigene Tun geben zu müssen, weil dessen intrinsische Sinnhaftigkeit nicht ernsthaft bestritten schien. Die strukturelle Neukoppelung der Wissenschaften und Universitäten, bei der sie von ihrer früheren Anbindung an politische Institutionen sukzessiv gelöst und zunehmend im Feld von Markt und Wirtschaft neu verortet werden, erzeugt auf jeden Fall für die Geisteswissenschaften einen hohen Legitimationsdruck: Im Rahmen breiter Diskussionen über die Effizienz von Ressourcenallokation und Gelderverteilung ist das Überleben einzelner Institute und Fachbereiche elementar in Frage gestellt, wie die jüngsten Entwicklungen gezeigt haben. Nicht nur, aber gerade auch für die Philosophie als akademische Disziplin erhebt sich deshalb die Frage nach ihrer Existenzberechtigung: „Warum noch Philosophie?“ Diese Frage weist nun bei näherer Betrachtung mehrere Relevanzebenen auf:
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Vgl. Keisinger 2003. Assheuer 2004.
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(a) Die aktuelle Relevanz: Zum einen ist die Frage vor dem Hintergrund der oben dargestellten Situation natürlich ein aktueller Fingerzeig in Richtung der akademischen Philosophie, also eine Aufforderung an die philosophischen Institute und Lehrstühle, einen Sinn oder Nutzen nachzuweisen, der die finanzielle Subventionierung seitens der Gesellschaft legitim erscheinen lässt. Damit ist letztlich danach gefragt, welche genuinen Leistungen für die Philosophie nach der Sektoralisierung der Wissenschaften in der Neuzeit und Moderne eigentlich noch übrig bleiben. Ist sie nur noch eine Residualwissenschaft, eine Restewissenschaft,3 der es bleibt Inkompetenz zu kompensieren?4 Was ist Philosophie überhaupt bzw. was kann sie unter gegenwärtigen Bedingungen noch sein? (b) Die grundsätzliche Relevanz: Hinter dieser für den gesamten geisteswissenschaftlichen Sektor im Zuge der Ökonomisierung der Bildung sichtbar gewordenen Problematik verbirgt sich jedoch eine Fragwürdigkeit der Philosophie als ganzer (und eben nicht bloß als akademischer Disziplin), welche sie von ihren Anfängen an begleitet hat: Warum brauchen wir die Philosophie überhaupt? Diese Frage kann sowohl vor dem Hintergrund individueller als auch gesellschaftlicher Bedürfnisse bzw. Anforderungen formuliert werden. Jeder Versuch, von philosophischer Seite aus hier eine überzeugende Antwort zu geben, setzt jedoch eine Klärung dessen voraus, was hier eigentlich mit „Philosophie“ gemeint ist. Jeder hat eine mehr oder minder klare Vorstellung von dem, was Historiker und Germanisten tun, aber als Philosoph schallt einem des Öfteren coram publico die Frage entgegen: „Was machst Du denn als Philosoph eigentlich?“ Diese Frage zielt nicht auf ein „Spezialgebiet“ innerhalb der philosophischen Forschung, das man bedient, sondern auf die Tätigkeit als ganze. (c) Die historische Relevanz: Man muss sich darüber im Klaren sein, dass diese Frage nach ihrem „Warum“ die Philosophie von ihren Anfängen an begleitet hat. Dies betrifft zum einen den stets virulenten Vorwurf, die Philosophie produziere bloß „nutzloses Wissen“ – ein Topos, der sich nicht erst der jüngsten Vergangenheit verdankt, sondern der bereits zum Bildungsgut der Antike gehörte. Zum anderen liegt diese historische Relevanz auch darin, dass die Philosophen selbst, seit es sie gibt, immer auch darüber nachgedacht haben, warum sie überhaupt philosophieren und ob die Philosophie einen Nutzen hat.5 3 4 5
Vgl. Lohmann/Schmidt 1998, 8. Vgl. Marquard 1976. Die philosophische Überlieferung im Abendland beginnt mit zwei Berichten über den ersten Philosophen Thales, die beide Aspekte widerspiegeln. Einerseits war er
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Die drei Aspekte zeigen, dass die Philosophie (a) einem wachsendem äußeren Legitimitätsdruck ausgesetzt ist. Die Frage „Warum Philosophie?“ ist jedoch keine ärgerliche Frage, die eigentlich nicht zum Kanon der philosophischen Fragen gehört, und erst durch eine äußerlich bedingte Krise aufgekommen ist.6 Denn sie fragt zugleich (b) nach dem, was Philosophie überhaupt ist bzw. unter den Bedingungen der Moderne noch sein kann. Und (c) zeigt die Frage, dass es zumindest eine historische Kontinuität gibt, die eben vielleicht spezifisch philosophisch ist: Im Gegensatz zu anderen Disziplinen gehört das Fragen nach der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns zum festen Bestand der kanonischen Fragen, und zwar seit es philosophische Fragen gibt. Die elementarste Frage, von deren Klärung alle weiteren Diskussionen über Sinn und Nutzen, über individuelle und gesellschaftliche Legitimation der Philosophie abzuhängen scheint, lautet dabei ebenso einfach wie unvermeidlich: „Was ist Philosophie?“ Was die gegenwärtige Philosophie hier als Antwort zu bieten hat, soll nachfolgend erst einmal kritisch gesichtet werden.
II. Was ist überhaupt Philosophie? Eine Bestandsaufnahme Von der Philosophie lässt sich gegenwärtig vor allem sagen, dass sie im Plural auftritt, und zwar in Gestalt zahlreicher „Bindestrich-Philosophien“: Kulturphilosophie, Rechtsphilosophie, Naturphilosophie, Politische Philosophie, Moralphilosophie, etc. Dies ist nun weniger ein Indiz für den brei-
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aufgrund seiner (astronomischen) Kenntnisse in der Lage, einen großen Nutzen zu erwirtschaften, weil er Vorhersagen über eine reichhaltige Olivenernte treffen konnte, so dass er die Olivenpressen zu billigen Preisen anmieten und dann zur Erntezeit für viel Geld verpachten konnte (vgl. DK 11 A 10). Andererseits machte ihn die Betrachtung der Sterne, die Theorie, „lebensuntauglich“, weil er so nicht mehr sah, was vor seinen Füßen lag und in Folge in einen Brunnen fiel, was ihm Gelächter einbrachte (vgl. DK 11 A 9). Zentrale Auseinandersetzungen zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen, aber auch philosophieinterne Diskussion ranken in der Antike um diese Themenfelder. Einerseits besteht etwa zwischen Platonikern, Aristotelikern, Kynikern, Epikureern, Stoikern und Skeptikern Einigkeit die Philosophie sei insofern besonders nützlich, weil sie glücklich mache. So haben die Stoiker die Philosophie als die Ausübung einer Kunst im Bereich des Nützlichen definiert (vgl. SVF 2, 35). Von sophistischer (vgl. z. B. Platon, Gorgias 484c–486d) oder rhetorischer Seite (vgl. Isokrates, Helena 4–5, und Diogenes Laertios, Vitae philosophorum VI 10) gab es wiederum heftige Einwände gegen den von Philosophen selbst (z. T. in Werbeschriften, wie dem aristotelischen Protreptikos) nach außen empfohlenen Nutzen der Philosophie. Vgl. Lübbe 1978.
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ten Anspruch der Philosophie als ganzer, sondern eher ein Zeichen der gegenwärtigen Arbeitsteiligkeit, die auch in der Philosophie massiv Einzug gehalten hat, und zwar nicht zuletzt im Bereich der professionellen akademischen Philosophie: Viele verstehen sich eben nur noch als Experten für eine bestimmte Art von Philosophie, die mehr oder weniger säuberlich von ihren anderen Teilbereichen oder Disziplinen getrennt ist. Aber wenn man hier von Disziplinen oder Teilbereichen spricht, unterstellt man damit doch implizit, dass für alle diese spezifischen Differenzen noch eine nächsthöhere Gattung existiert, die sie umfasst. Diese Frage nach der Einheit der Philosophie stellt sich gerade vor dem Hintergrund der sich immer weiter vertiefenden Arbeitsteiligkeit der Philosophen umso dringlicher: Liegt den verschiedenen Verwaltungseinheiten, den Instituten, Forschungsbereichen und Lehrstühlen für Philosophie wirklich noch ein Begriff von Philosophie zugrunde? Oder gibt es nur eine Pluralität von Philosophien, die unterschiedliche Ziele verfolgen?7 Und was ist mit den diversen Formen außerakademischen Philosophierens, den philosophischen Praxen und Zirkeln, sowohl für sich als auch in ihrem Verhältnis zum professionellen „Betrieb“ betrachtet? Auch mit Blick auf die Geschichte der Philosophie stellt sich die Frage nach ihrer inhaltlichen Bestimmung. Aus vielen Themenfeldern, welche die Philosophie zu ihrem Gegenstandsbereich zählte, hat sie sich zugunsten diverser Einzelwissenschaften zurückgezogen. So behandelt der Hauptteil des Corpus Aristotelicum Themen, die in den aktuellen systematischen Debatten der Philosophie keinen Stellenwert mehr haben.8 Ähnliches gilt natürlich für andere, heute eigenständige Disziplinen wie Astronomie oder Psychologie. Dass dieser Prozess der Geburt von Einzelwissenschaften aus dem Schoße der Philosophie schon abgeschlossen ist, muss nicht per se angenommen werden, aber weitere Entwicklungen in diesem Bereich würden zwar das kontinuierliche Innovationspotential der Philosophie betonen, aber tendenziell ihren eigenen, genuinen Arbeitskreis weiter einengen und damit die Problematik eher verschärfen. Angesichts der historisch erfolgten Einengung des Aufgabenfeldes und der heutigen Arbeitsteilung bleibt die Frage: „Was ist Philosophie?“ –
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„Wer in der inneren Vielfalt ‚der‘ Philosophie einen ‚Skandal‘ sieht, unterschiebt ihr dogmatisch einen einzigen Zweck.“ (Lenk 1974, 10) Den biologischen Schriften fällt mit mehr als 300 Bekkerseiten allein schon vom Umfange her das größte Gewicht innerhalb des Corpus Aristotelicum zu. So ist z. B. das Zentralwerk der aristotelischen Biologie, die Historia animalium (153 Seiten in der Edition von I. Bekker), umfangreicher als die noch in der heutigen AristotelesDiskussion dominanten Schriften, z. B. die Metaphysik (114 Bekker-Seiten) oder auch die Politik (91 Bekker-Seiten)
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als Suche nach Bestimmung dessen, was diese verschiedenen Institutionen und Tätigkeiten heute noch zu umfassen vermag – auf jeden Fall bestehen.9 Was hat die philosophische Selbstverständigung hier nun momentan zu bieten? Vielen gängigen Bestimmungen zufolge ist Philosophie eine Lehre, und zwar (a) vom Erkennen überhaupt oder von den Prinzipien der Einzelwissenschaften, indem ihre Grundlagen und Methoden überprüft und geklärt werden, (b) von einem allgemeinen Weltbild, dass die Erkenntnisse der Einzelwissenschaften zusammenfügt, (c) als Untersuchung der Normalsprache oder (d) von einer Idealsprache.10 Sehr ähnlich werden drei Paradigmen unterschieden: (a) ontologisch, (b) linguistisch und (c) mentalistisch.11 Bemerkenswert ist die Auffassung, dass Philosophie entweder eine Lehre oder aber ein Lebensmodell sei, aber immer nur eines von beiden und nie eine Kombination.12 Die eingangs skizzierte institutionelle Situation scheint somit den Umstand widerzuspiegeln, dass es keine Einigung darüber gibt, was Philosophie ist. Mit N. Luhmann kann festgehalten werden, dass auch in der Philosophie bestimmte Themen Trends haben (oder „in Mode“ sind); weiter wird es – zumindest den Philosophiehistoriker – nicht verwundern, dass auch das Verständnis dessen, was Philosophie im Kern ausmacht, eine Geschichte hat. Allgemeine Definitionen von Philosophie sind (oft notwendig) unzureichend oder problematisch, insofern sie Entscheidendes über (oder von) Philosophie nicht thematisieren. So suggerieren sie teilweise, dass es Philosophie objektiv und unabhängig von Menschen gäbe, so wie Planeten Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtung sein können, ohne dass sie in ihrer Existenz von dem jeweiligen Betrachter abhängen. Jedoch gibt es außerhalb von Menschen (Subjekten) keine Philosophie, insofern Philosophie eine menschliche Tätigkeit ist – und auch wenn das nach einem Truismus klingt, sind die Implikationen dieser Feststellung von höchst weitreichender Natur. Eine dieser Implikationen ist, dass die Frage, was Philosophie ist, sich nicht objektiv ein für alle Mal entscheiden lässt. Das liegt nun nicht nur
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Vgl. Zimmerli 1978 sowie neuerdings die Beiträge von Stekeler-Weithofer/Tetens 2010. Vgl. Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1998), Eintrag „Philosophie“, 498 f. Zum Selbstverständnis der verschiedenen philosophischen Strömungen und Richtungen des 20. Jahrhunderts vgl. Salamun 52009. Vgl. Ulfig 1992, Eintrag „Philosophie“, 319–322. Einen historischen Überblick, aus dem die Tendenz zur Theoretisierung gut hervorgeht, findet sich bei Sandkühler 1990 und besonders ausführlich ders. 1999. Vgl. Hügli/Lübcke 1992, 491 f.
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daran, dass es außerhalb von und ohne Menschen keine Philosophie gibt. Dies gilt auch für ein Philosophiekonzept, dem zufolge es nur um den Wahrheitswert von Sätzen geht. Sowohl die Referenzobjekte philosophischer Sätze und deren Wahrheitswert können vielleicht objektiv und unabhängig von Menschen bestehen. Aber Philosophie als Tätigkeit – soweit Sätze für sie konstitutiv sind – ist nur mit und durch den Menschen existent. Denn einerseits betreiben, so weit wir wissen, Tiere keine Philosophie (und Götter auch nicht, weil sie die Weisheit schon haben, nach welcher der Philosoph als Liebhaber der Weisheit strebt); zum anderen gab es die Philosophie nicht, bevor es den Menschen gab, und es gibt sie auch heute nicht unabhängig von uns, wie es Naturphänomene unabhängig vom Menschen gibt. Ferner gilt, dass die für die Philosophie charakteristischen Urteile in sprachlicher Form vorliegen und es also für das Erkennen dieser sprachlichen Ausdrücke als Philosophie Menschen geben muss, die diese Sprache verstehen. Die sprachlichen Zeichen werden erst zur Philosophie, wenn jemand ihre Bedeutung verstehend nachvollzieht. Insgesamt lassen sich die gängigen Philosophiedefinitionen primär dadurch charakterisieren, dass sie Philosophie in Analogie zu anderen Wissenschaften (die ja auch genuine Betätigungen des Menschen als Menschen sind) über (a) Gegenstand und/oder (b) Methode zu bestimmen versuchen. Beide Kriterien zeigen sich allerdings entweder hinsichtlich ihrer Trennschärfe nach außen oder bezüglich ihrer Inklusionskraft nach innen als problematische Orientierungsgrößen. Durch die neuzeitliche Sektoralisierung der Wissenschaften scheint es kaum noch Gegenstände zu geben, auf welche die Philosophie einen Alleinanspruch erheben kann, weshalb der Philosophie dann meist ein auf die Gesamtheit der Welt ausgerichteter „Totalitätsanspruch“ zugeschrieben wird: „Während wissenschaftliche Erkenntnisse auf je einzelne Gegenstände gehen, von denen zu wissen keineswegs für jedermann notwendig ist, handelt es sich in der Philosophie um das Ganze des Seins, das den Menschen als Menschen angeht, um Wahrheit, die, wo sie aufleuchtet, tiefer ergreift als jede wissenschaftliche Erkenntnis.“13 Doch das genau ist auch der Anspruch anderer „Welterklärungssysteme“, etwa der Religionen, so dass auch hier keine Monopolstellung der Philosophie beansprucht bzw. nachgewiesen werden kann. Natürlich kann hier durch eine Kombination der genannten Momente eine gewisse Abgrenzung erreicht werden, etwa in dem Sinne, dass die Philosophie das Ganze der Welt ausschließlich mit den Mitteln der Vernunft (und d. h. nicht zuletzt: unter Verzicht auf jegliche Form von supranaturaler göttlicher Offenbarung) zu erfassen versucht. Doch der Verweis
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auf eine spezifische Methodik, die im Erkenntnisvermögen der Vernunft begründet sein soll, erscheint vor dem Hintergrund der Diskussion um die vielfältigen Formen der Vernunft in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auch eher diffus;14 ob diese Vernunft nun deduktiv oder induktiv, synthetisch oder analytisch zu verfahren hat, ist schon philosophieintern ein stets umstrittenes Thema gewesen. Kurzum: Die Versuche einer Bestimmung der Philosophie über Gegenstand und Methode scheinen systematisch eher in der Aporie zu landen; historisch führen sie meist zu Verkürzungen, insofern sich das Verständnis der Philosophie in den seltensten Fällen auf die Frage nach Gegenständen oder Methoden reduzieren lässt.
III. Warum Philosophie? Ein Neuansatz Da sich Bestimmungen der Philosophie über Gegenstand und Methode eher als unzureichend erwiesen haben, erscheint es fruchtbar, hier andere Wege zu beschreiten. Anstatt direkt nach einer klassischen Definition mit genus proximum und differentia specifica zu suchen, könnte man versuchshalber die Frage nach dem „Warum“ der Philosophie thematisieren, also die Frage nach dem „Was“ der Philosophie über die Bestimmung ihres Zwecks in Angriff nehmen. Um diese auf den ersten Blick nicht weniger global und tendenziell aporetisch anmutende Warum-Frage für unsere Zwecke wirklich fruchtbar zu machen, muss sie allerdings erst in ihrer ganzen Bedeutungsbreite konzeptualisiert werden. Sie weist bei näherem Hinsehen folgende Dimensionen auf: (1) eine ätiologisch-genetische Dimension: Hier geht es um die Antwort auf die Frage, warum Menschen überhaupt philosophieren bzw. wie die Philosophie in die Welt gekommen ist. Schon früh haben Philosophen selbst diese Frage thematisiert: Nach Platon hebt die Philosophie allgemein mit dem Staunen (thaumazein) an, das den Menschen zu grundlegenden Fragen veranlasst;15 Aristoteles sieht in der Philosophie im wesentlichen eine Kulturleistung, die in einem elementaren Streben bzw. Bedürfnis der menschlichen Natur begründet liegt: „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.“16 Fraglich ist hier nicht nur das Problem der Entstehung oder des Ursprungs (etwa im Sinne der Frage, wen man als den „ersten“ Philosophen sui generis bezeichnet), sondern auch, inwiefern in diesem Anfang ein Motiv sichtbar wird, das die historische 14 15 16
Vgl. hierzu exemplarisch die Analysen bei Welsch 1996. Vgl. Platon, Theaitetos 155d. Vgl. Aristoteles, Metaphysik I 1, 980a 21.
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Persistenz der Philosophie erklärbar macht: Ist Philosophieren vielleicht ein menschliches Grundbedürfnis, eine Art anthropologische Konstante, die sich in verschiedenen historischen Konstellationen in einer jeweils zeitgemäßen Form verwirklicht? Oder ist das Philosophieren etwas, zu dem die Menschen aus einer bestimmten endogenen oder exogenen Bedürftigkeit heraus veranlasst werden? Hier wäre das Philosophieren eine Antwort auf eine bestimmte Mangelsituation, die wiederum artspezifisch oder individuell verstanden werden kann. Gerade wenn man Philosophie nicht nur unter dem Aspekt einer durch sie ermöglichten oder auf ihr beruhenden Lehre bzw. Theorie versteht, sondern als eine genuin menschliche Tätigkeit, verspricht diese ätiologisch-genetische Problematik einige Einsichten für die Frage nach dem Wesen der Philosophie abzuwerfen. Zugleich wird das Verhältnis zwischen der Philosophie und ihren Akteuren, den Menschen, fokussiert. Um ein Wort Heideggers aufzugreifen: Wenn Zukunft wirklich Herkunft braucht, darf diese Fragedimension nicht vorschnell als ein Gegenstand rein historischer Kuriosität abgetan werden, sondern muss in ihrer möglichen anthropologischen Relevanz bedacht werden. (2) eine teleologische Dimension: Wozu wird überhaupt philosophiert? Was ist der Zweck der Philosophie? Mit dieser Frage kann mindestens zweierlei gemeint sein: (a) ein immanenter Sinn oder (b) ein externer Nutzen der philosophischen Betätigung. Nicht immer sind diese Aspekte klar und deutlich voneinander getrennt, und man sollte sich auch vor der vorschnellen Vermutung hüten, dass hier ein exklusives „Entweder – Oder“ vorliegt. Die Auskunft etwa, dass der philosophischen Betrachtung auf Grund des Wertes bzw. des hohen ontologischen Status ihrer Gegenstände eine hohe Sinnhaftigkeit zukommt, schließt etwa nach Platon nicht aus, sondern sogar notwendig ein, dass damit auch ein Nutzen verbunden ist.17 Im Blick auf den Nutzen ließe sich natürlich noch einmal differenzieren in einen individuellen Nutzen, den der einzelne Philosophierende von dieser Tätigkeit hat, und einen gesellschaftlichen Wert. Gerade die Frage nach einer sozialen Funktion bzw. Dimension der Philosophie ist in Anbetracht des allgemein auf den Geisteswissenschaften lastenden Legitimationsdrucks keineswegs zu vernachlässigen – wobei diese Frage eben viel älter ist, als manche meinen.18 Insgesamt ist die Frage nach dem Zweck der Philosophie ein 17 18
Vgl. hierzu van Ackeren 2003. Bereits die Existenz der oben (vgl. Anm. 5) erwähnten protreptischen (Werbe-)Schriften und dann die Virulenz der Kritik am nutzlosen Wissen im Hellenismus belegen, dass die Philosophen in der Antike sich sowohl intern als auch außerakademisch intensiv damit beschäftigt haben.
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ständiger Begleiter der Philosophie, und zwar sowohl in der internen Debatte als auch in der Auseinandersetzung mit nicht-philosophischen Opponenten. Was trägt nun eine Klärung dieses „Wozu“ für das Verständnis der Frage nach dem Wesen der Philosophie aus? Dass die Frage nach dem Zweck zentral für die Bestimmung eines Begriffsgehalts sein kann, lässt sich am leichtesten an funktionalen Begriffen zeigen: Wer ein Werkzeug – z. B. einen Dosenöffner – definieren möchte, kann dies nicht hinreichend tun, ohne Bezug auf den Zweck des Geräts zu nehmen: Eine noch so genaue Beschreibung des Aussehens, der Farbe, der Form etc. würde immer noch nicht klarmachen, was diesen Gegenstand zum Dosenöffner macht. Dies gilt im übrigen nicht nur für unbelebte Gegenstände: Wer beschreiben möchte, was ein Arzt ist, wird nicht ohne die Erwähnung des Ziels ärztlicher Tätigkeit, nämlich die Heilung des Patienten auskommen; auch hier ist es der teleologische Sinnkontext der Tätigkeit, die sie erst als eine solche identifizierbar macht. Unsere Hypothese lautet nun, dass es sich bei der Philosophie bzw. um einen eben solchen Terminus handelt, der nicht ohne Bezug auf ein sachimmanentes telos hinreichend verstanden werden kann, und zwar gerade weil Philosophieren wesentlich als eine intentionale (und damit zugleich zweckgerichtete) Tätigkeit zu begreifen ist. In der Antike etwa stand fest, dass das Ziel der philosophischen Tätigkeit in der Erlangung des Glücks besteht; diese „eudaimonistische“ Zielsetzung war dabei kein externer Zweck, der jenseits des Philosophierens lag, sondern der Sinn, der gerade in der und durch die philosophische Betätigung konstitutiv realisiert wurde.19 Die Frage nach dem „Wozu“ der Philosophie ist nach unserem Verständnis keine der eigentlichen Begriffsklärung äußerliche (die man allenfalls noch zusätzlich klären kann), sondern eine den Gegenstand zutiefst in seiner inneren Struktur betreffende. Die Frage nach der Definition der Philosophie lässt sich adäquat nur über die Reflexion auf ihre sinnhafte Bestimmung beantworten.
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Vgl. exemplarisch Cicero, De finibus bonorum et malorum V 86: „Omnis auctoritas philosophiae consistit in beata vita comparanda; beate enim vivendi cupiditate incensi omnes sumus.“ Diese Telos-Formel ist auch noch bei Augustinus lebendig; vgl. De civitate Dei XIX 1: „Da es aber für den Menschen keine andere Ursache zum Philosophieren gibt außer die, dass er glückselig wird, und was ihn dazu macht, eben das Endgut ist, bleibt als Ursache des Philosophierens nichts außer diesem Endgut. Was daher das höchste Gut nicht verfolgt, ist nicht philosophische Denkweise zu nennen.“
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IV. Theorie und Praxis als Leitbegriffe für die Bestimmung der Philosophie „von innen“ Auf der Basis der oben vorgetragenen Überlegungen läge es nahe, die Frage nach der Bestimmung der Philosophie einfach direkt unter dem „Warum“Aspekt zu stellen. Doch sowohl in historischer als auch in systematischer Perspektive könnte sich ein solcher „head-on-approach“ als weniger ertragreich erweisen, als man auf den ersten Blick annehmen möchte: Zum einen finden sich selten Antworten, die auf die verschiedenen genannten Aspekte eingehen; meist findet man eher eine begriffliche Engführung der Problematik in Richtung von Fragen wie: „Woher kommt die Philosophie?“ oder „Was (bzw. wem) nützt die Philosophie?“ Viele historische und auch gegenwärtige Debatten leiden darunter, dass sie in gewisser Weise hinken, weil sie die Frage „Warum Philosophie?“ nicht in ihrer ganzen Bedeutungsbreite in den Blick bekommen. Zum anderen zeigt sich in begriffs- und problemgeschichtlicher Perspektive, dass diese Frage seltener explizit gestellt wird, als man vermuten könnte. Dabei ist auch keineswegs immer gewährleistet, dass die Problematik als ein integraler Bestandteil des eigenen Philosophierens begriffen wird: Zwar sind die vorhandenen Antworten je nach philosophischer Couleur deutlich eingefärbt, aber sie nehmen meist keine wirkliche Systemstelle im Ganzen ein und tragen deshalb allzu oft Manifest-Charakter. Ein Weg, diese Schwierigkeiten zu überwinden, bestünde darin, sich der Frage indirekt über die Untersuchung eines begriffs- bzw. problemgeschichtlichen Zusammenhangs zu nähern, der auch die heutige Diskussion noch zu befruchten verspricht, nämlich im Blick auf das Begriffspaar von „Theorie“ und „Praxis“, das letztlich ein der Philosophie selbst entsprungener Topos ist. Wie langlebig und durchgängig präsent das Spannungsverhältnis dieser beiden Termini in der Philosophie ist, zeigt sich bereits daran, dass über den ersten Philosophen Thales sowohl die Anekdote erzählt wird, er sei lächerlicherweise wegen seiner Betrachtung in einen Brunnen gefallen, aber zugleich berichtet wird, er habe aufgrund derselben Betrachtungen einen großen (auch finanziellen) Nutzen haben können.20 Schon wegen dieser historischen Persistenz bietet sich das Begriffspaar von Theorie und Praxis als hermeneutischer Schlüssel an; es bietet insgesamt als Angelpunkt der Betrachtung folgende systematische Vorteile: (1) Der Langlebigkeit dieser Konzepte korrespondiert eine vielschichtige Begriffsgeschichte, die immer wieder bemerkenswerte Überkreuzungen deutlich macht: 20
Siehe oben, Anm. 5. Vgl. hierzu auch Blumenberg 1987.
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Antike wie moderne Positionen treffen sich oft auf dem Boden der Vorstellung, dass Philosophie im Sinne einer Tätigkeit zu begreifen ist: Dies verbindet in gewisser Weise so weit auseinander liegende Denker wie Platon,21 Aristoteles22 und Wittgenstein23, und in Heideggers Brief über den Humanismus findet sich das schöne Diktum: „Das Denken handelt, indem es denkt.“24 Die hellenistischen Philosophenschulen betonen den praktischen Aspekt der Philosophie, indem sie als „Lebenskunst“ beschrieben wird,25 und auch in der heutigen philosophischen Landschaft ist diese Idee kraftvoll wiederbelebt worden.26 Hinzu kommt, dass die Suche nach theoretischer Erkenntnis in der Neuzeit (etwa bei F. Bacon) häufig dem praktischen Ziel der Naturbeherrschung dient. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Philosophie hat also nicht nur, wie in der Ethik bzw. Moralphilosophie, Praxis zum Gegenstand, sondern sie wird ebenso häufig als Praxis begriffen. Doch mindestens ebenso oft wird Philosophie sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdwahrnehmung als „Theorie“ bestimmt – je nach Standpunkt mit pejorativen Untertönen oder im emphatischen Duktus. Darin äußert sich aber zugleich auch ein Anspruch, der sich auf die Philosophie als ein theoretisches Unterfangen bzw. Projekt richtet, nämlich die Idee eines umfassenden und tiefgreifenden Verständnisses der Welt in toto. Demzufolge geht es um die Betrachtung der Welt und ihrer substanziellen Strukturen von einer höheren Warte aus. Dass Theorie das Medium des Philosophen ist, dürfte auch noch heute relativ unstrittig sein, was philosophische Theorie im einzelnen ist (oder z. B. angesichts der Erkenntnisse der modernen Wissenschaften noch sein kann), bietet hingegen durchaus Anlass zu Kontroversen. Auch das Verhältnis von Theorie und Praxis ist ein seit der Antike bis zur Frankfurter Schule höchst umstrittener philosophischer Dauerbrenner. Dies betrifft nicht zuletzt das Verhältnis von Leben und Lehre: Wird Philosophie (wie in der Antike) als „Lebensform“ betrachtet, erscheint eine Trennung dieser beiden Größen künstlich.27 Für Heraklit etwa ist Weisheit „Wahres sagen und es
Vgl. Platon, Apologie 29c. Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX 6, 1048b 18–34, wo das Denken (phronein bzw. noein) als energeia charakterisiert wird. Wittgenstein 1922, § 4.112: „Philosophy is not a doctrine, but an activity.“ Heidegger 1976, 145. Vgl. Horn 1998. Vgl. Schmid 1998. Vgl. hierzu die richtungsweisenden Arbeiten von Pierre Hadot, z. B. ders. 2002.
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tun“.28 Für die Neuzeit hingegen konstatiert Kant einen grundlegenden Trend zur Dissoziierung von Theorie und Praxis: „Man muss doch nicht immer speculieren, sondern auch einmal an die Ausübung denken. Allein heut zu Tage hält man für einen Schwärmer, der so lebt wie er lehrt.“29 Wie diese beiden Begriffe von Theorie und Praxis gegeneinander oder miteinander verortet sind, sei es in deskriptiver oder in normativer Hinsicht, lässt meist fundamentale Rückschlüsse auf das zu Grunde liegende inhaltliche Verständnis der jeweiligen Philosophie zu. Die Erörterung der Theorie-Praxis-Relation zeigt sich gerade in der Selbstreflexion des Philosophen sogar als ein wesentliches Proprium philosophischer Tätigkeit überhaupt. (2) Im Verständnis dieser beiden Begriffe und ihrer Verhältnisbestimmung werden sowohl die ätiologisch-genetischen als auch die teleologischen Aspekte der Frage nach dem „Warum“ der Philosophie angesprochen: Philosophieren als grundlegende menschliche Tätigkeit, Sinn und Nutzen der Philosophie – all’ diese Aspekte lassen sich in nuce in der Frage nach dem adäquaten Verständnis von Theorie und Praxis sowie der Beziehung zwischen den beiden bündeln. Dabei ist es natürlich von besonderer Wichtigkeit, den historischen Wandel der beiden Begriffe selbst in die Reflexion mit einzubeziehen. Doch nichtsdestoweniger liegt hier eine Art Lackmustest vor: Was ein Philosoph über Theorie und Praxis zu sagen hat, spiegelt exemplarisch sein Verständnis von Philosophie wider. Kurzum: Die Frage nach der der Bestimmung von Theorie, Praxis und der Relation von Theorie und Praxis (a) macht in ausdifferenzierter Weise etwas über eine jeweils vertretene Bestimmung von Philosophie deutlich, indem sie nach anderen Aspekten als bloß nach Gegenstand und Methode fragt; (b) betrifft zugleich elementar die historische Entwicklung des Philosophieverständnisses; (c) thematisiert indirekt die Frage nach dem Nutzen von Philosophie und betrifft somit eine mögliche Dimension des Selbstverständnisses der Philosophie, die in ihrer sozialen Relevanz zugleich über sie hinausweist. Gerade der letzte Aspekt macht deutlich, dass die Klärung dieser Fragen letztlich über ein rein innerphilosophisches Gespräch hinausreicht.
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DK 22 B 112. Kant 1980, 12.
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V. Die Bestimmung der Philosophie „von außen“ und die Frage nach ihrem Nutzen Die Frage nach dem Nutzen der Philosophie ist von besonderem Interesse, weil sich hier Selbst- und Fremdverständnis der Philosophie berühren. Zum einen wird von manchen Fachvertretern (z. B. H. Lübbe30) argumentiert, dass die Frage nach dem Nutzen der Philosophie eine ärgerliche Frage sei, weil diese Frage selber nicht zum Kanon der philosophischen Themen gehöre und erst durch eine (philosophie-)historisch bedingte Legitimitätskrise aufgekommen sei.31 Weil die Frage demnach „von außen“ – und historisch-sozial bedingt32 – an die Philosophie herangetragen werde, störe sie das eigentliche in diesem Sinne nicht rechenschaftspflichtige Geschäft der Philosophie.33 Ganz in diesem Sinne dekretiert etwa B. Russell ein unmissverständliches Postulat der „Nutzenfreiheit“ der Philosophie: „Thus utility does not belong to philosophy“.34 Im Rekurs auf die Historizität von Philosophiebestimmungen hat R. Bubner jedoch darauf hingewiesen, dass die Frage nach dem Nutzen der Philosophie schon immer ein Teil derselben, zumindest der antiken Philosophie, gewesen ist und dass sich die Frage „Wozu Philosophie?“ nur im Rückgriff auf die Geschichte der Philosophie beantworten lässt.35 Es fragt sich, ob etwa die Herausgeber großer Gesamtdarstellungen der Philosophie Lübbes Position zumindest implizit teilen, wenn Sie den Nutzen von Philosophie explizit keinen Raum in einer Darstellung des Faches einräumen.36
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Lübbes Position ist vor dem Hintergrund der großen Studie Der Prozeß der theoretischen Neugier in Blumenbergs Legitimität der Neuzeit zu sehen. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass Blumenbergs Ausführungen zur theoretischen Neugier bei den einzelnen Autoren in der Antike unbedingt zu überprüfen sind, ist bemerkenswert, dass er selbst der Ansicht ist, Philosophie bestehe in eben jener theoretischen Neugier. Für Blumenberg beschreibt der erste Satz der aristotelischen Metaphysik, dem zu Folge die Menschen von Natur aus nach Wissen streben, die Grundstimmung der Antike, die sich damit gegen die Sokratische „Verengung des Blickes“ und „Relativierung des Universums des Seienden“ durch die Ethik wendet. In diesem Sinne ist die Frage auch radikalisiert worden: Wozu noch Philosophie? Vgl. hierzu Baumgartner/Höffe 52009. Zu diesem Zusammenhang siehe besonders Brandner 1992. Vgl. Lübbe 1978. Russell 1993, 2. Vgl. hierzu Bubner 1978. Bubners These wird bestätigt durch den Umstand, dass in der modernen Diskussion der Frage immer wieder Bezüge zur antiken Philosophie vorkommen. Vgl. auch Birnbacher 1996 und Lenk 52009. Ein Beispiel unter vielen hierfür ist Bunin/Tsui 1996.
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Philosophen thematisieren nun nicht nur fachintern, warum sie ihre Tätigkeit ausüben, sondern diese Selbstverständigung dient teilweise auch der Außendarstellung,37 die ebenfalls schon immer ein Teil des philosophischen Geschäfts war: Dies zeigt die bis in die Antike zurückreichende Tradition der protreptischen Schriften sehr deutlich. Im Gegenzug wird die Philosophie natürlich auch von Nicht-Philosophen mit zahlreichen Erwartungshaltungen konfrontiert: (a) Dies geschieht seitens anderer akademischer Fächer, wenn der Philosophie die Funktion einer Meta-Disziplin zugesprochen wird, die wissenschaftsübergreifend etwa die Frage, was Wissen und Wissenschaft in toto ausmacht, behandelt.38 In diesem Verständnis rückt die Klärung grundlegender epistemologischer Fragen in den Vordergrund, ganz im Sinne der Kantischen Frage: „Was kann ich wissen?“: Es dreht sich letztlich um die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit überhaupt, um ein Wissen vom Wissen. Philosophie setzt damit bei der Klärung dessen an, was die anderen Disziplinen schon vor und in aller wissenschaftlichen Betätigung implizit oder explizit voraussetzen. Die Eule der Minerva beginnt hier ihren Flug also schon vor dem Morgengrauen. Eine alternative Möglichkeit entlang dieser Linie des Philosophieverständnisses besteht darin, ihre Arbeit gerade dort beginnen zu lassen, wo die anderen Disziplinen ihre Erkenntnisbemühungen mangels eigener Kompetenzansprüche weitgehend einstellen: Philosophie hat dann die Funktion, aus den fragmentierten Einzelerkenntnissen und -theorien der verschiedenen Wissenschaften ein kohärentes Ganzes im Sinne einer metadisziplinären Gesamtdeutung herauszudestillieren. Damit wird die Philosophie letztlich zu einer „reaktiven Disziplin“ (J. Habermas), welche die Ergebnisse der Einzelwissenschaften zu integrieren versucht. Hier beginnt die Eule der Minerva ihren Flug erst nach Einbruch der Abenddämmerung. (b) Hinzu kommen die Erwartungshaltungen von politischer und gesellschaftlicher Seite, so etwa von Ministerien, die im Rahmen von Studienordnungen der Philosophie bestimmte Bildungsaufgaben zuschreiben. Bildungspolitisch wird ihr dann z. B. die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen, wie etwa die Fähigkeit zu analytischem Denken oder zu kritischer Argumentation zugewiesen; auch bei der Vermittlung säkularer Werte, wie etwa der Menschen- und Bürgerrechte, 37 38
Vgl. Girndt 1996. Vgl. Kambartel 1978.
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wird ihr ein gewisser Stellenwert eingeräumt. Im Hintergrund steht hier meistens das Verständnis der Philosophie als einer allgemeinen „Orientierungsdisziplin“, die abseits aller spezialwissenschaftlichen Einzelkenntnisse einen Beitrag zum gelingenden individuellen oder gesellschaftlichen Leben leisten können: So erscheint Philosophie etwa als „Lebenswissenschaft“ (H. Böhme). Als Wissenschaft vom Verstehen von Gründen, durch die wir uns im Denken und Handeln orientieren, wäre sie auf jeden Fall keine bloße hermeneutische Textwissenschaft, sondern auch eine „Handlungswissenschaft“ (M. Seel). Auf gesellschaftlicher Ebene verbindet sich mit der Philosophie auch teilweise die Hoffnung, sie könne einer in ihrer eigenen Wertstruktur brüchig gewordenen (westlichen) Welt substantielle Sinnangebote machen. In eine ähnliche Richtung gehen auch aus der Philosophie selbst heraus stammende Überlegungen, wie sie sich etwa bei Odo Marquard finden: Die Philosophie übernimmt dann die Rolle einer „Kompensationswissenschaft“, die als eine Art Reparaturbetrieb für die Flurschäden der Moderne zu fungieren hat. Wer immer etwas von der Philosophie erwartet oder von ihren Leistungen enttäuscht ist, hat jedenfalls eine Ansicht darüber, wozu die Philosophie nützlich sein kann (und wozu nicht), und dieses Verständnis basiert auf einer Vorstellung davon, was denn die Philosophie ist. Innen- und Außenperspektive, philosophischer Selbstanspruch und gesellschaftliche Erwartungshaltung, müssen dabei nicht per se auseinander klaffen, aber es wäre naiv, hier eine prästabilierte Harmonie zu erwarten. Deshalb ist auch ein Abgleich dieser verschiedenen Perspektiven ein fundamentales Desiderat jeder individuellen und institutionellen Auseinandersetzung mit der Problematik des Nutzens der Philosophie. Hierbei wäre die Philosophie gut beraten, nicht nur ein insulares Selbstverständnis zu artikulieren, sondern auch die von außen kommenden Fremderwartungen in ihre Überlegungen mit einzubeziehen. Dies betrifft nicht zuletzt die Frage, wie man als Philosoph mit der in der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft omnipräsenten und dominanten Kategorie des „volkswirtschaftlichen Nutzens“ umgeht. Zwei Strategien sind hier in holzschnittartiger Charakterisierung möglich: (a) die Einnahme einer Verweigerungshaltung, die letztlich die Applikation dieser Kategorie auf die Philosophie als ein ab ovo unsinniges Unterfangen brandmarkt: Philosophie habe es ausschließlich mit intrinsischem „Sinn“ und nicht mit einem solchen Nutzen zu tun. Die naheliegende Gefahr dieser Strategie ist, dass sie in eine „WagenburgMentalität“ zu münden droht, die allzu leicht auf der Ebene politischer
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und sonstiger Entscheidungsträger als „Diskursverweigerung“ ausgelegt werden kann und die somit dem finanzpolitischen Rotstift eher noch ein zusätzliches Argument gegen die Philosophie als staatlich subventionierte Institution liefert. (b) die Eröffnung einer Diskussion über einen adäquaten Begriff dessen, was als volkswirtschaftlicher Nutzen gelten kann. Hier wäre dann v. a. darauf hinzuarbeiten, dass dieses Konzept nicht im Sinne eines Begriffs „technischer Innovationsfähigkeit“, die sich dann in patentierbaren Erfindungen ausmünzen lässt, enggeführt wird. Bestimmte Faktoren des gesellschaftlichen Lebens, etwa der Wert von Bildung und Erziehung in der Schule, lassen sich nicht in eine exakt quantifizierbare KostenNutzen-Rechnung einbringen; ihre Vernachlässigung oder gar ihre Streichung würden das Bruttosozialprodukt aber trotzdem langfristig schädigen. Legt man einen angemessenen Begriff zu Grunde, kann man den volkswirtschaftlichen Nutzen der Philosophie als Wissenschaft z. B. als „Innovationspotential“, als „Bildungsermöglichungsbedingung“ und als „Orientierungsdienstleister“ durchaus nachweisen.39 Auch die soziokulturellen Leistungen der Philosophie sollten im Sinne einer weiter verstandenen Gesellschaftsnützlichkeit nicht vernachlässigt werden.40 Diese Strategie ist sicher nicht Ausdruck irgendeines „Opportunismus“, insofern die Kategorie, in der die Philosophie ihren Nutzen zu belegen versucht, selbst zum Gegenstand der philosophischen Reflexion und der öffentlichen Diskussion gemacht wird, also nicht bloß als ein unhinterfragtes externes Maß übernommen wird. Auch in dieser Diskussion könnte sich die Frage nach einem angemessenen Verständnis von Theorie und Praxis, z. B. im Sinne der Thematisierung des Verhältnisses von wissenschaftlicher Grundlagenforschung und ihrer weitergehenden Verwertung, als höchst fruchtbar erweisen. Die vorangehende, zwangsläufig kursorische Auflistung zeigt vor allem eines: Die Philosophie sollte den Begriff „Nutzen“ nicht kampflos von der Ökonomie besetzen lassen. Begriffsgeschichtlich war „Nutzen“ nicht immer durch bloß quantifizierende Momente wie „Geld“ bestimmt und so meist einseitig mit einem unaufgeklärten Egoismus verknüpft.41
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Vgl. zu diesen drei wirtschaftlichen Funktionen der Philosophie als Wissenschaft Jansen 2001. Vgl. hierzu die Überlegungen bei Malter 1988, bes. 32. Die Geschichte des Begriffs „Nutzen“ ist noch nicht geschrieben worden. Schlaglichter, die auf einen ähnlichen, aber engeren Zusammenhang verweisen, liefert van Ackeren 2005, vgl. bes. 53–64.
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VI. Zusammenfassende Überlegungen Insgesamt zeigt sich folgende Struktur, die sowohl das akademische Selbstverständnis als auch die externen Erwartungen an die Philosophie berücksichtigt: Die aktuelle, meist auf den Nutzenaspekt abzielende Frage „Warum noch Philosophie?“ (Teil I) erfordert eine Bestimmung dessen, was Philosophie ist (Teil II), die ihrerseits wiederum auf die „Warum Philosophie?“-Problematik (Teil III) verweist. Diese könnte im Lichte des Begriffspaars von Theorie und Praxis erörtert werden (Teil IV), weil dieses die genannten Perspektiven elementar verzahnt und sie schließlich auch eng an die Thematik des Nutzens der Philosophie koppelt (Teil V), die ja letztlich am Anfang der gedanklichen Bewegung stand. Dies könnte man natürlich als eine „Zirkularität“ auslegen, die letztlich im gedanklichen Labyrinth stecken bleibt. Doch eine geistige Kreisbewegung impliziert eben gerade nicht eine bloße Stagnation, insofern im Rahmen der Bewegung Perspektiven deutlich werden, die am Anfang noch nicht sichtbar waren. Dies betrifft im vorliegenden Fall zum einen die Einsicht, dass die Fragen nach der „Bestimmung“ der Philosophie im definitorischen Sinne und ihrer „Bestimmung“ im Zwecksinne so verzahnt sind, dass sie kaum überzeugend in Ablösung voneinander beantwortbar sind; zum anderen sollte deutlich geworden sein, dass „Theorie“ und „Praxis“ innerhalb dieser fundamentalen Dialektik der Bestimmung der Philosophie einen Ariadnefaden bilden könnten, der zumindest die Struktur dieses Labyrinths abschreitbar macht. Folgt man den vorgetragenen Überlegungen, so ist letztlich die Frage „Warum Philosophie?“ in mehrfacher Hinsicht von fundamentaler Bedeutung: Die momentan nahezu „überlebenswichtige“ Legitimation philosophischer Tätigkeit ist unabhängig von der Beantwortung dieser Frage kaum überzeugend zu leisten – das aber nicht nur vor den Hintergründen gegenwärtiger Ansprüche und Herausforderungen, sondern auch aus dem Wesen der Philosophie selbst heraus. Insofern sich „Philosophie“ in der Tiefenstruktur als ein funktionales Konzept verstehen lässt, gehört die Frage, was sie leisten kann und soll, zum Kernbestand ihrer Bestimmung – ob diese nun von innen oder von außen erfolgt. Erst die Antwort auf diese funktionale „Warum-Frage“ macht es aber auch möglich, für die individuelle und/oder soziale Funktion der Philosophie überhaupt Erfolgskriterien zu formulieren: Ob Philosophie erfolgreich ihren Zweck (oder ihre Zwecke) erfüllt, lässt sich nicht klären, ohne hier Klarheit geschaffen zu haben. Ansonsten läuft man auch Gefahr, sie mit sachfremden Kriterien zu messen: Auch wenn Philosophie kein unmittelbar technisch verwertbares Wissen produziert, kann sie trotzdem einen Nutzen haben. Letztlich verweist
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die Frage nach dem Nutzen der Philosophie auf die Philosophie (und ihre Geschichte) selbst, denn der Nutzen ist eine ihre zentralen Kategorien, die sich auf sie selbst applizieren lässt. Eine interdisziplinär orientierte, fachübergreifende Diskussion über die Rolle der Philosophie lässt sich somit kaum führen, ohne dieser „WarumFrage“ nachhaltig auf den Grund zu gehen. Dabei bietet es sich – wie oben dargestellt – an, die Überlegungen auf ein Begriffspaar zu konzentrieren, das die verschiedenen Aspekte der „Warum“-Fragestellung umklammert: Theorie und Praxis. Sowohl in der Philosophie als auch außerhalb ihrer selbst sind dies eben zwei zentrale Kategorien, unter denen ihr Wirken jederzeit betrachtet und bewertet worden ist – und auch immer noch wird. Deshalb sollte man ihnen sowohl historisch als auch systematisch unter folgenden Fragestellungen nachgehen: Wie wurden diese beiden Begriffe für sich und im Verhältnis zueinander in verschiedenen Phasen der Philosophie bestimmt – und wie fällt im Vergleich dazu heute ihre Verortung aus? Dabei geht es in systematischer Sicht auch darum, die Wahrnehmungen des heutigen Philosophiebetriebs sowohl von innen als auch von außen (d. h. aus der Sicht anderer Disziplinen und in der Perspektive politischer, wirtschaftlicher sowie gesellschaftlicher Kräfte) zu bestimmen: Wird Philosophie überhaupt noch als eine aktuell oder potenziell praktische Disziplin verstanden? Oder wird sie bloß noch als eine auf Grund ihres unterstellten wirklichkeitsfremden oder weltvergessenen Theoretisierens weitgehend verzichtbare „Elfenbeinturm“-Beschäftigung wahrgenommen? Ist die Flucht in die „selige Apathie“ reiner, d. h. zweck- und nutzloser Theorie nicht vielleicht sogar eine relativ „junge“ Strategie der Philosophie, die vorher über Jahrhunderte hinweg gerade ihren praktischen Nutzen herausgestellt hatte? 42 Ausgehend von der Klärung dieser Fragen lässt sich dann auch im interdisziplinären Gespräch mit Aussicht auf Erfolg thematisieren, wie sich vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse die zukünftige Rolle der Philosophie in Wissenschaft und Gesellschaft gestalten kann und sollte. Die nachfolgenden Texte des Bandes sind als ein Beitrag zu dieser für die Philosophie zunehmend „überlebenswichtigen“ Debatte zu verstehen.
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Vgl. hierzu von Müller 2004.
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Literatur van Ackeren, M., 2003: Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuität des Tugendwissens in den Dialogen Platons, Amsterdam/Philadelphia. —, 2005: Zum Verhältnis von Ethik und Ökonomie. Sind Nutzen und Interesse rein ökonomische Handlungsmotive? In: Zeitschrift für Internationale Philosophie 13, 39–64. Assheuer, T., 2004: Der Wissensunternehmer, in: Die Zeit 21/2004, 13.05.2004. Baumgartner, H.M./Höffe, O., 52009: Zur Funktion der Philosophie in Wissenschaft und Gesellschaft, in: K. Salamun (Hg.), Was ist Philosophie?, Tübingen, 301–312. Birnbacher, D., 1996: Philosophie als Sokratische Praxis, in: H. Girndt (Hg.), Philosophen über das Lehren und Lernen der Philosophie, Sankt Augustin, 1–16. Blumenberg, H., 1987: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt/M. Brandner, R., 1992: Was ist und wozu überhaupt – Philosophie? Vorübung sich verändernden Denkens, Wien. Bubner, R., 1978: Was kann, soll und darf Philosophie?, in: H. Lübbe (Hg.), Wozu Philosophie? Stellungnahmen eines Arbeitskreises, Berlin/New York, 1–16. Bunin, N./Tsui, J.E.P. (Hg.), 1996: The Blackwell Companion To Philosophy, Oxford. Girndt, H. (Hg.), 1996: Philosophen über das Lehren und Lernen der Philosophie, Sankt Augustin. Hadot, P., 2002: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, Frankfurt/M. Heidegger, M., 1976: Wegmarken, Gesamtausgabe I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914 – 1970, Band 9, Frankfurt/M. Horn, C., 1998: Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München. Hügli, A./Lübcke, P. (Hg.), 1992: Philosophielexikon, Reinbek bei Hamburg. Jansen, L., 2001: Philosophie in barer Münze. Thesen zum wirtschaftlichen Nutzen der Philosophie als Wissenschaft, in: R. Born/O. Neumaier (Hg.), Philosophie – Wissenschaft – Wirtschaft. Miteinander denken – voneinander lernen. Akten des VI. Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie, Linz, 1.–4. Juni 2000, Wien, 707–712. Jaspers, K., ²1957: Einführung in die Philosophie, München. Kambartel, F., 1978: Bemerkungen zur Frage „Was ist Philosophie?“ in: H. Lübbe (Hg.), Wozu Philosophie? Stellungnahmen eines Arbeitskreises, Berlin/New York, 17–34. Kant, I., 1980: Vorlesungen über die philosophische Encyclopädie, in: Kants Gesammelte Schriften, Bd. 29, Berlin. Keisinger, F. u. a. (Hg.), 2003: Wozu Geisteswissenschaften? Kontroverse Argumente für eine überfällige Debatte, Frankfurt/M. Lenk, H., 1974: Wozu Philosophie?, München. —, 52009: Perspektiven pragmatischen Philosophierens, in: K. Salamun (Hg.), Was ist Philosophie?, 313–334. Lohmann, K.R./Schmidt, T., 1998: Akademische Philosophie zwischen Anspruch und Erwartungen, in: dies. (Hg.), Akademische Philosophie zwischen Anspruch und Erwartungen, Frankfurt/M., 7–18.
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Lübbe, H., 1978: Wozu Philosophie? Aspekte einer ärgerlichen Frage, in: ders. (Hg.), Wozu Philosophie? Stellungnahmen eines Arbeitskreises, Berlin/New York, 127–147. Malter, R., 1988: Vom natürlichen Weltbewusstsein zur philosophischen Reflexion, in: H.-H. Krummacher (Hg.), Geisteswissenschaften – wozu? Beispiele ihrer Gegenstände und ihrer Fragen, Stuttgart, 21–34. Marquard, O., 21976: Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie in: H.M. Baumgartner/O. Höffe/C. Wild (Hg.), Philosophie, Gesellschaft, Planung, München, 114–125. von Müller, A., 2004: Selige Apathie, in: Die Zeit 18/2004, 22.04.04. Russell, B., 1993: The Value of Philosophy, in: J. Perry/M. Bratman (Hg.), Introduction to Philosophy. Classical and Contemporary Readings, New York/Oxford, 2–5. Salamun, K. (Hg.), 52009: Was ist Philosophie?, Tübingen. Sandkühler, H.J. (Hg.), 1990: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 3: L–Q, Hamburg. —, (Hg.), 1999: Enzyklopädie Philosophie, unter Mitwirkung von D. Pätzold, Arnim Regenbogen, Pirmin Stekeler-Weithofer, Bd. 2: O–Z, Hamburg. Schmid, W., 1998: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt/M. Stekeler-Weithofer, P./Tetens, H. (Hg.), 2010: Das Projekt der Philosophie (Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Heft 35.3), Stuttgart-Bad Canstatt. Ulfig, A., 1992: Lexikon der philosophischen Grundbegriffe, Eltville am Rhein. Welsch, W., 1996: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt/M. Wittgenstein, L., 1922: Tractatus logico-philosophicus, London. Wörterbuch der philosophischen Begriffe, begr. von F. Kirchner und C. Michaelis, fortgesetzt von Johannes Hoffmeister, vollständig überarbeitet und neu hg. v. A. Regenbogen und U. Meyer, Hamburg 1998. Zimmerli, W. Chr., 1978: Arbeitsteilige Philosophie, in: H. Lübbe (Hg.), Wozu Philosophie? Stellungnahmen eines Arbeitskreises, Berlin/New York, 181–212.
II. Philosophische Positionen: Die Innenperspektive
Warum Philosophie? Die Antwort Platons im Licht der Differenz von Theorie und Praxis Ada Neschke-Hentschke Vorbemerkung Die folgenden Zeilen wollen die Frage „Warum Philosophie?“ aus einem anthropologischen Horizont heraus beantworten; denn Philosophie ist ein eminent menschliches Spezifikum und lässt sich als solches nur in Hinblick auf das organische Wesen Mensch und nicht auf die körperlose res cogitans als ein nur denkendes abstraktes Subjekt erkennen. Ausgang bildet die aristotelische Anthropologie, die im 20. Jahrhundert ein reiches Echo gefunden hat.1 Sie dient jedoch nur der Vorbereitung, um den systematischen Ort der Philosophie, der ihr „Warum“ erkennen lässt, aufzuzeigen. Die Hauptuntersuchung dagegen hat zum Ziel, die systematische These vom Ort und „Warum der Philosophie“ mit Hilfe der wenig behandelten Anthropologie Platons historisch zu bekräftigen.2 In diesem Bereich Platonischen Denkens geht es um den praktischen Philosophen, der Platon vom Anfang bis zum Ende seiner Tätigkeit und gerade hier gewesen ist – untrügliches Zeichen ist die Existenz der Nomoi.3 Es soll aber gezeigt werden, dass ohne eine dialektische Ontologie, d.i. ohne das „echte“ Philosophieren (to; gnhsivw~ filosofei`n, vgl. Politeia V, 473 d2; Phädrus 266 b2), das praktische Denken nicht zum Ziel kommen kann –, dass echte Praxis auf das Wissen und daher die Philosophie angewiesen ist.
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Vgl. Gutschker 2002. Dazu stützen wir uns ausschließlich auf die platonischen Texte in eigener Übersetzung und Untersuchungen, die zum Thema beigetragen haben; auf eine kritische Auseinandersetzung mit der Forschung ist aus Platzgründen verzichtet. Über deren Stand informieren Erler 2007 und Horn/Müller/Söder 2009. Vgl. Hentschke 1971.
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I. Einleitung: Theorie und Praxis, die Geburt der Philosophie aus der Praxis des Lebens I.1 Die systematische Geburt der Philosophie aus dem Leben Theorie und Praxis einander gegenüberzustellen – wer denkt hier nicht an Kants berühmten Aufsatz Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis – ist ein sehr altes Verfahren, das sich auf die Vaterschaft des Aristoteles berufen kann. Nicht nur hat Aristoteles als erster praktische und theoretische Wissenschaften unterschieden (vgl. Aristoteles, Metaph. V, 1025 b18 ff.), er hat diesen Unterschied auch auf zwei Lebensformen ausgeweitet (vgl. Aristoteles, EN I, 1095 b26 ff.) und darüber hinaus diesen Formen eine „substanzielle“ Grundlage gegeben, indem er im Wesen des Menschen zwei Lebensfunktionen ausmachte, die er das praktische und theoretische Denken nannte (vgl. Aristoteles, EN VI, 1139 a5 ff., Pol. VII, 1333 a24 ff.). Das Verfahren des Stagiriten unterstreicht somit diesen Gegensatz, enthält jedoch zugleich einen Hinweis darauf, dass mit ihm nur ein Teil des Sachverhalts erfasst ist; denn der Gedanke einer praktischen Wissenschaft hat nicht den Gegensatz von Theorie und Praxis zum Hintergrund, sondern nur dessen begriffliche Differenz. In der Tat, in der Konzeption einer praktischen Wissenschaft kooperieren Theorie und Praxis miteinander. Die Form ihrer Verbindung lässt sich etwa so denken, dass die Theorie Fragen betrifft, die gelöst sein müssen, damit überhaupt Praxis möglich ist. Theorie geht also der Praxis voraus. Das bekannteste Beispiel einer solchen Kooperation ist das aktuelle Verhältnis von Naturwissenschaft und Technik bzw. Naturwissenschaft und Medizin: Die Praxis erscheint hier als die physische Umsetzung der Theorie ganz im Sinne des beliebten aristotelischen Beispiels des Plans des Architekten und dessen Realisierung im Bau eines Hauses. Allerdings würde Aristoteles hier darauf bestehen, dass es sich bei diesen Beispielen streng genommen gar nicht um ein TheoriePraxis-Verhältnis handelt, da die hier mit „Praxis“ bezeichnete physische Umsetzung eines gedanklichen Inhalts sich einer falschen Etikette bedient; die in Technik und Medizin (tevcnh, lat. ars) angewandte Theorie gehört nämlich in eine Tätigkeitsform (ejnevrgeia), welcher Aristoteles den Begriff und Namen der „Herstellung“ (poivhsi~) zuweist (vgl. EN VI, 1140 a1 ff.). Damit hat er einen bedeutenden Schritt für die Unterscheidung der genuin menschlichen Tätigkeitsformen geleistet, auf den noch Denker des 20. Jahrhunderts wie Hannah Arendt oder Rüdiger Bubner zustimmend zurückgreifen konnten.4 4
Vgl. Arendt 1960, 18–23 (zu ihr Gutschker 2000, 143–183); Bubner 1976, 66–90.
Warum Philosophie? Die Antwort Platons
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In der Tat macht Aristoteles einen scharfen Schnitt zwischen denjenigen Tätigkeitsformen des Menschen, aus denen ein Produkt hervorgeht, welches dann abgetrennt weiter existiert – das Haus überlebt den Architekten (vgl. Metaph. XII, 1070 b33); das Produkt ist gegenüber der Tätigkeit ein äußeres verselbständigtes Objekt – und den anderen, bei denen das Produkt als ein inneres Objekt und das Tätigsein dasselbe sind: Der Sänger singt ein Lied, das Lied aber ist nur im Gesang selber. Mit dem Ende des Tätigseins endet auch das Produkt (vgl. EN I, 1094 a 3–6). Nur diese Form des Tätigseins verdient den Namen der Praxis. Wie steht es aber hier um die Theorie? Stellen wir neben das Beispiel des Singens noch das andere des Redens, das dieselbe Struktur aufweist. Das Singen und das Reden haben ihre natürliche Wurzel in der Biologie des Menschen, in der Besonderheit seines Vokalapparates. Diesen benutzt schon spontan das Kleinkind im Schreien und Lallen; damit die Vokalisierung zum Singen oder auch Sprechen werden kann, bedarf sie einer Formung durch ein Wissen, bedarf der „Theorie“, sei es die der Harmonielehre oder der Grammatik. So zeigt sich die Praxis selbst als der Ort, an dem ein Theoriebedarf auftritt; die Theorie erlaubt, die in der biologischen Natur des Menschen angelegten praktischen Tätigkeitsformen zu strukturieren und damit zu ihrer vollendeten Gestalt zu bringen. Dieses letztgenannte Verhältnis von Theorie und Praxis liegt nun der Konzeption dessen zugrunde, was Aristoteles die praktische Philosophie genannt hat (vgl. Metaph. II, 993 b21). Ausgangspunkt ist das gestaltete Leben (bivo~, vgl. EN 1094 a22), das alle menschlichen Tätigkeitsformen umfasst; ihm liegt die noch ungestaltete Lebenskraft (zwhv oder yuchv, vgl. EN I, 1097 b34 ff.) zugrunde. Jedoch gehört das Leben (zwhv) selber zu den praktischen Tätigkeitsformen; der Mensch lebt sein Leben als „inneres Objekt“ wie der Sänger sein Lied singt. Wie sein Vokalapparat zusammen mit dem Wissen um die Grammatik den Menschen zum Reden befähigt, so befähigt sein spezifischer Gesamtorganismus (aufrechter Gang, Handgebrauch, Entwicklung des Verstandes) den Menschen zu einem spezifischen, seinem Organismus entsprechenden Lebensvollzug; um diesen in seiner Fülle realisieren zu können, muss auch hier ein Wissen hinzutreten, eine „Grammatik“ des Lebens. Jedoch enthält die Praxis des Lebens ein Element, das die Theorie nicht nur möglich, wie der Besitz der Stimme und das Singen, sondern auch erstrebenswert und in diesem Sinne notwendig macht; denn alles Lebendige ist durch ein Streben, den Lebensdrang (o[rexi~, vgl. EN I, 1094 a20) ausgezeichnet. Sein Ziel besteht in der Verwirklichung des Bestzustandes seiner selbst. Diese Beobachtung steckt in dem klassischen Eingang der Nikomachischen Ethik: „ […], denn richtig hat man das Gute das genannt, wonach alle streben“ (EN I, 1094 a2–3). Daher kann die Lebenspraxis nicht, sie soll geführt werden, damit sie zur Erfüllung des Lebensdranges gelangt; sie soll „wohl bestellte Lebens-
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handlung“ werden: eujzwiva ti~ kai; eujpraxiva (EN I, 1098 b21–22). Es ist für Aristoteles ausgeschlossen zu denken, die Natur habe den Menschen so stiefmütterlich behandelt, dass sein Streben nach einem Bestzustand seiner selbst nicht zur Erfüllung kommen könnte (vgl. EN I 1094 a18 ff.). Für eine freundliche Natur spricht nämlich die besondere Ausstattung, die sie dem Menschen mitgegeben hat, das sprachverfasste Denken (lovgo~, vgl. EN I, 1097 b23–1098 a20). Unter dem „Denken“ begreift Aristoteles die Fähigkeit, Gegenstände und Prozesse, innere wie die eigene Seele und äußere wie die Welt, durch innere Repräsentation gegenwärtig und dank des Logos definieren und beurteilen zu können. Mit dieser Ausstattung versehen befindet sich der Mensch, im Unterschied zum Tier, in der Lage, nicht dem Geschehen des Lebens, das ihn umfängt und ihm gleichsam im Rücken steht, ausgeliefert zu sein, sondern es als Ganzes denkend vor sich stellen und analysieren zu können, um dann erkenntnisgeleitet dem Lebensgeschehen die gewünschte Richtung zu geben. Diese, das eigene Leben thematisierende Leistung des Denkens steht nun genau vor den Aufgaben, deren Lösung Aristoteles der Praktischen Philosophie zuweist und die er selbst in seinen Schriften zu diesem Thema, in seinen Ethik- und Politiktraktaten, entwickelt hat. Bezeichnenderweise gibt er diesem Bereich seines Denkens, neben den Namen der praktischen oder politischen Philosophie, auch den der „Philosophie der menschlichen Dinge“ (EN X, 1181 b15). An der aristotelischen Durchführung der Philosophie des Menschen, die durch seine beschreibende Anthropologie in De anima ergänzt werden muss, zeigt sich mit Deutlichkeit, dass die Lebenspraxis eine eminent „theoretische“ Problematik enthält, der nur mit größtem Scharfsinn und breiter intellektueller Phantasie zu Leibe gerückt werden kann. Denn es geht um die grundlegende Frage, was denn das Gute, nach dem alle Lebewesen streben, im Falle des Menschen sei. Hier steht das Denken vor einem opaken Gegenstand, dem es nur dank so großer analytischer Kraft, wie sie Aristoteles an den Tag legt, gerecht werden kann. Jedoch darf die entwickelte Technizität des aristotelischen Diskurses nicht vergessen machen, dass Aristoteles eine Grundfrage jedes menschlichen Lebens stellt, die Frage, was ist der Gegenstand und das Ziel des bzw. meines Lebens? Aristoteles formuliert diese Frage im Sinne seiner Auffassung des Lebens als Tätigkeitsform der Praxis, indem er nach deren inneren Objekt (e[[rgon) fragt, das den spezifischen Lebensvollzug des Menschen ausmacht (vgl. EN I, 1097 b24–1098 a20). Dem Menschen ist dieses Objekt nicht immer schon vorgegeben. Deshalb spricht die moderne Anthropologie seit Herder von der Weltoffenheit des Menschen.5 Letztere bildet den Boden, auf wel5
Vgl. Gehlen 1993, 33 ff., Lorenz 1973, 291 ff.
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chem die Frage nach dem Objekt und Ziel des Lebens gedeihen kann. Somit ist es die Offenheit als die Eigenart des menschlichen Lebens, welche den Ursprung der Philosophie ausmacht; denn das Leben ist dem Menschen gegeben, seine Bestimmung und Gestaltung sind ihm aufgegeben. Die Reflexion auf diese Aufgabe bildet den systematischen Ursprung der Philosophie. Dieser fällt jedoch nicht zufällig, sondern, dank der gleich bleibenden offenen Natur des Menschen, auch notwendig mit ihrem historischen Anfang zusammen. Blickt man nämlich tief in die Vergangenheit unserer Kultur hinab, wurde anfänglich solche Reflexion narrativ durch den Mythos geleistet. Seit dessen Ablösung durch das argumentierende Denken bei Sokrates gibt sich diese Reflexion den Namen der „Liebe zur Weisheit“ – filo-sofiva (Apol. 28 e5).6 Wenn die Frage „Warum Philosophie?“ einen Zweifel über die Existenzberechtigung der Philosophie ausdrücken soll, so kann einen solchen nur hegen, wer sich nicht darüber im klaren ist, dass der spezifische menschliche Lebensvollzug von keiner „teleonomen“7 Natur festgelegt ist, sondern dem Menschen selber in die Hand gegeben wird, und dass seine Bewältigung nur durch Reflexion erfolgen kann. Solche Reflexion, wenn sie lebensgestaltend wirken soll, muss sich eines konsequenten Denkens bedienen. Von einem solchen liefert Aristoteles ein bis heute nachdenkenswertes Modell. Doch hat er, wie zu zeigen ist, dieses Modell nicht erfunden. Vielmehr erweist er sich als genialer Erbe eines Vermächtnisses, das ihm Platon übergeben hatte. I.2 Der historische Ursprung der Philosophie aus der Frage nach dem Leben Berühmt ist der Satz des Sokrates: „Ein nicht geprüftes Leben ist nicht lebenswert.“ (Apol. 38 a5)8 Klar geht aus dem Satz hervor, dass das Leben (bivo~) immer schon vorgegeben ist, aber der Durchleuchtung bedarf, um für den Menschen wert zu sein, gelebt zu werden; ist doch der Mensch auch dasjenige Lebewesen, das sein Leben wegwerfen kann. Sokrates’ Satz illustriert auf der historischen Ebene die These vom systematischen Ursprung der Philosophie aus dem Leben. Historischer und systematischer Ursprung fallen in der Tat zusammen. Betrachtet man nämlich Sokrates als den Vater der abendländischen Philosophie, indem man die sogenannten „Vor-sokratiker“ als Vorläufer der Naturwissen-
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„filosofou`ntav me dei` zh`n.“ Vgl. Lorenz 1973, 93–115. „oJ dæ ajnexevtasto~ bivo~ ouj biwtov~.“
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schaftler behandelt – Aristoteles, der es ja wissen musste, nannte sie „Naturerklärer“ (fusiolovgoi, vgl. Metaph. 1, 986 b14) –, so beginnt die westliche Tradition der Philosophie mit Sokrates und sie beginnt als die obstinate Frage nach dem zu gestaltenden Leben; denn Sokrates betrieb, wenn man Platon und Xenophon glauben darf, die Suche nach Weisheit als die unermüdliche Frage nach dem guten Leben. Allerdings denkt Sokrates nicht im weiten biologisch-anthropologischen Sinn wie Aristoteles, der ja auch die Lebensformen der Tiere erforscht hat und den Menschen im Licht dieser Kenntnisse betrachtet, sondern im Horizont seiner Erfahrung als attischer Bürger, der die sozialen Rollen und Werte hinterfragt und im engeren Umkreis einer Bürgerethik verbleibt. Dennoch ist festzuhalten, dass die Philosophie seit Sokrates eine Reflexion auf das vorgegebene und zu wählende Leben darstellt. Sie macht daher beispielhaft das von Aristoteles aufgedeckte anthropologische Faktum deutlich, dass für den Menschen der Vollzug des Lebens nicht instinktiv-triebhaft gegeben, sondern reflexiv aufgegeben ist. Nach Aristoteles hat wieder die Philosophische Anthropologie9 des 20. Jahrhunderts das Phänomen unterstrichen, dass nur der Mensch vor die Aufgabe gestellt ist, sein Leben in die Hand zu nehmen, es zu „führen“. Arnold Gehlen hat daher die „Handlung“ zur Zentralkategorie seiner Anthropologie erhoben.10 Dieses „handelnde Führen des Lebens“ hat Aristoteles, wie gezeigt, mit dem Verb pravttein und dem Verbalsubstantiv pra`xi~/Praxis bezeichnet. Er konnte dabei jedoch an die Arbeit Platons anschließen, der von dem sokratischen Verständnis der Philosophie als Reflexion auf das eigene Leben ausgehend, das menschliche Leben im Allgemeinen einer Untersuchung unterzogen und in diesem Rahmen die Frage: „Warum Philosophie?“ als erster ausführlich beantwortet hat. Die platonische Philosophie verspricht daher dank ihrer Gründerrolle den günstigen Fall darzustellen, an dem das Problem des Zwecks der Philosophie untersucht werden kann. Ein solches Unternehmen kann nur, wie schon Aristoteles in seinem Protreptikos scharfsinnig unterstrichen hat, von der Philosophie selber geleistet werden (vgl. Aristoteles, Fragm. 2). Dabei wird am Fall Platons deutlich werden, dass die traditionell sogenannte „Metaphysik“ nötig ist, um die Lebensfrage zu meistern, m.a. Worten, dass selbst eine im höchsten Grade „abstrakte“ bzw. „lebensferne“ Theorie im Dienst der Lebenspraxis steht.
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Zu dieser Bewegung vgl. Fischer 2008, Neschke/Sepp 2008. Vgl. Gehlen 1993, 29–65.
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I.3 Der Gang der Untersuchung Unsere Untersuchung soll bei Platons Antwort auf die Frage: „Warum Philosophie?“ beginnen; denn diese Antwort ist eindeutig und findet sich im Schlussmythos der Politeia, der das Schicksal der menschlichen Seele (yuchv) beschreibt (vgl. Politeia X, 614 b2–621 b7). Mit diesem Wort bezeichnet Platon einerseits die Lebenskraft, die den Körper lebendig macht (vgl. Phaidon 105 b9–e8, Nomoi X, 895 c1–c13) – das entspricht der aristotelischen zwhv, die auch bei Aristoteles ein Synonym für yuchv bildet. Andrerseits ist die Seele der Sitz der moralischen Person des Menschen, dasjenige, was durch Tugend und Laster geprägt wird (vgl. Kriton 47 d7– 48 a4); denn in der Seele wohnt die Denkkraft (logistikovn, lovgo~, vgl. Politeia IV, 439 d5), die zwischen Gut und Schlecht unterscheiden kann.11 Von dieser Person nun behauptet Platon am Ende der Politeia, dass sie ganz allein für ihr Leben verantwortlich ist und diese Verantwortung in der Wahl ihres Lebens zeigen muss. Schon Platon lehrt also die „Offenheit“ des Menschen, da das Leben aufgegeben und gewählt werden muss. Darüber hinaus betont er jedoch die damit gesetzte Gefahr, in die der Mensch durch die Notwendigkeit der Wahl verstrickt ist. Sie entscheidet ja über das Gelingen oder Misslingen des ganzen Lebens, welches dem Mythos der Seelenwanderung zufolge weit über das Lebensalter des Menschen als Körperwesen hinausreicht. Um der Gefahr einer schlechten Entscheidung zu entgehen, bedarf es also des Wissens: „Dazu soll man alles übrige Wissen links liegen lassen und sich nur um das Wissen kümmern, wenn immer man imstande ist, kennen zu lernen und herauszufinden, wer uns fähig und kundig macht, das gute und das schlechte Leben zu unterscheiden und jeweils das bessere aus den zur Wahl stehenden auszuwählen.“ (Politeia X, 618 c1–c6).
Alles menschliche Leben muss diesen Worten zufolge als selbst gewähltes und daher zu verantwortendes verstanden werden; daher ist nur ein Gegenstand des Wissens (mavqhma) wert, gewusst zu sein: was das Leben gut und schlecht macht. Wie der Fortgang des Textes zeigt, besteht dieses Wissen in der Frage des Dialektikers nach dem Wesen und Wert der Dinge (tiv ejstin;) in dem Maße, als sie die moralische Person bewahren oder vernichten (vgl. Politeia X, 618 c6–619 b1). Von dieser moralischen Person handelte das ganze vorangehende Gespräch, da Platon die Frage nach der „Gerechtigkeit“ gestellt und sie durch eine Beschreibung der gerechten Seele beant11
Die „Entdeckung der Person“ (Kobusch 2 1997, 23 ff.) findet nicht erst im Mittelalter, sondern in Platons ‚Seelenlehre‘ statt, da Platon unter dem Sachverhalt der vernunftbegabten Seele bereits einen Begriff der moralischen Person entwickelt.
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wortet hatte; diese Gerechtigkeit äußert sich als innere und äußere Praxis.12 Allerdings entwickelt Platon in diesem Kontext die Frage des Handelns nicht weiter; er fragt nicht, inwiefern die gerechte Person bei ihrem Handeln des Wissens bedarf bzw. auf welches Wissen sie sich stützt. Um diese Verbindung aus ihren philosophischen Gründen zu verstehen, muss man an das Platonische Textcorpus drei Fragen stellen. Zunächst, was versteht Platon unter Handlung (pra`xi~) und inwiefern ist der Handlung selber ein Wissen eingeschrieben? Weiterhin, um welche Form des Wissens handelt es sich dabei? Und schließlich, da das Leben Handeln und Wissen umgreift, warum handelt denn der Mensch überhaupt, statt sich auf die Verfolgung des Wissens zu konzentrieren – wie es Aristoteles in der Form des „Theoretischen Bios“ empfohlen und Plotin praktiziert hat?13
II. Philosophie im Spannungsfeld von Theorie und Praxis bei Platon II.1 Handlung und Wissen bei Platon Menschliches Verhalten, d. h. sein Verhalten zu sich selbst, zu anderen und der Welt, wird von Platon, konform mit dem griechischen Sprachgebrauch, durch das Verb pravttein und das Verbal-Substantiv pra`xi~ bezeichnet. In den Dialogen Gorgias und Kratylos entwickelt der attische Philosoph eine Theorie der Praxis, welcher die Frage nach ihrer „Idee“, die Frage: „Was ist Handlung wesentlich?“ zugrunde liegt. Denn ebenso wie alle Dinge (ta; pravgmata oder ta; o[nta), welche die gegebene Realität ausmachen, besitzt, dem Kratylos zufolge, auch die Handlung als eine Gattung der Realität (e{n ti ei\doß tw`n o[ntwn) ein ihr eigentümliches objektives Wesen (fuvsi~/oujsiva, vgl. Kratylos 386 d3–387 b1). Gemäß dem Gorgias ist das Handeln die psycho-physische Umsetzung des Willens (bouvlhsi~), welcher von Platon und, ihm folgend Aristoteles,14 als die Instanz der Zielsetzung interpretiert wird (vgl. Gorgias 466 a9–468 a5); menschliches Handeln besteht in einem zweckrationalen Vorgehen, dem gemäß der Handelnde eine bestimmte konkrete Handlung (z. B. das Spazierengehen) wählt, da sie eine diese Wahl begründende Zielsetzung zu erfüllen verspricht; im genannten Beispiel 12 13 14
Politeia IV 443 c9–c10: „[…] hJ dikaiosuvnh ajllæ ouj peri; th;n e[xw pra`xin tw`n auJtou` ajlla; peri; th;n ejntó~ [sc. pra`xin].“ [Hervorh. A. N.-H.] Platon gilt vielen Interpreten fälschlich als Vertreter des „theoretischen Lebens“ (ausdrücklich Festugière 1935). Vgl. EN III, 1113 a 15–1113 b2. Aristoteles diskutiert hier die im Gorgias vertretene Handlungstheorie kritisch. Es muss sich um eine innerakademische Diskussion handeln.
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handelt es sich um das Ziel, den eigenen Körper gesund zu erhalten. Platon unterscheidet somit den Inhalt einer Handlung von ihrer Zielsetzung. Doch vertritt Platon darüber hinaus die These, dass alle Zielsetzungen auf ein einziges Prinzip zurückgeführt werden können, dem er den Namen eines „Guten“ (ajgaqovvn) zuweist; ist doch die Gesundheit in unserem Beispiel das „Gute des Körpers“. Wir gehen spazieren, um gesund zu bleiben; denn wir halten die Gesundheit für ein bestimmtes Gutes (ajgaqovn ti), nämlich das Gut des Körpers. Allgemein gesprochen ist daher Handlung zweckrationales Verhalten, dem als Orientierungspunkt und Motor der Wille zugrunde liegt, sich ein „Gutes“ zu verschaffen. In diesem „Guten“ aber verbirgt sich ein kapitales Problem, wie aus dem Gespräch mit dem Sophisten Polos im Dialog Gorgias (vgl. 468 e 6– 481 b5) deutlich wird. In der Tat, wie dieses handlungsorientierende Gute zu bestimmen sei, bildet den Anlass der Konflikte zwischen den Menschen; denn was jeder als Gutes annimmt, das prägt auch sein Verhalten und bewirkt, dass, im Falle eines Gegensatzes, die Partner feindlich aufeinander prallen. Im Gorgias entsteht gemäß der platonischen Dialogregie der Konflikt um das Gute dadurch, dass das Gute des rhetorisch-politischen und des philosophischen Bios miteinander in Konflikt geraten. Dieser Konflikt geht von der Tatsache aus, dass Platons Interpretation zufolge allem Handeln das Urteil zugrunde liegt, das im Handeln anzustrebende Ziel sei ein „Gut“. Der Konflikt entsteht aus der inhaltlichen Bestimmung dieses jeweiligen Guten, letztere wiederum aus der Verfahrensweise, wie das Urteil zustande kam: kann es doch auf Grund bloßer Meinung (dovxa) gefällt werden – letztere gründet sich ausschließlich auf Erfahrung oder Routine (ejmpeiriva) – oder die Frucht echten Wissens sein (ejpisthvmh/tevcnh, vgl. Gorgias 463 b4; 465 a3). Wer das echte Wissen besitzt, kann, wie Platon in der Politeia lehrt,15 bloß „Gemeintes“ als nur Scheinhaftes (doxastovn, Politeia V, 497 d8) verwerfen und tut dies in der Regel um der Wahrheit willen, also aus einem epistemischen Grund. Im Fall des Guten aber gibt es, wie Platon im gleichen Dialog betont, einen tieferen Grund, das nur scheinbare Gute zu verwerfen: „Bei der Gerechtigkeit und den sittlichen Werten dürften wohl viele Menschen den blossen Schein wählen; im Fall der Güter begnügt sich niemand damit, den blossen Schein zu besitzen, sondern sucht nach dem Sein.“ (Politeia VI, 505 d5–d9)16
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Vgl. Politeia V, 475 d1–478 e6. „[…] wJ~ divkaia me;n kai; kala; polloi; a]n e{loionto ta; dokou`nta, […] ajgaqa; de; oujdeni; e[ti ajrkei` ta; dokou`nta kta`sqai, ajlla; ta; o[nta zhtou`sin […].“
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Wenn es also wahr ist, dass der Mensch im Handeln immer nur ein echtes Gutes anstrebt, dann muss, sokratisch-platonischer Auffassung zufolge, die Wahrheitsfrage gestellt und ein Wissen vom Guten gesucht werden. Andernfalls kommt das Handeln nicht zu seinem inneren Ziel. In der Tat, die paradoxe These, welche der platonische Sokrates im Gorgias vertritt, behauptet, dass der Mensch ohne das Wissen des echten Guten gar nicht Herr seiner Handlungen ist; im strengen Sinne handelt er gar nicht, da sein Wille (bouvlhsi~), der dieses Gute will, nicht das erreicht, was er bezweckt hat. Um überhaupt im echten Sinne handeln zu können, muss das Gute gewusst werden.17 Handlung im prägnanten Sinn besitzt somit einen intrinsischen Wissens- bzw. Theoriebedarf. Platon benutzt zwar den Ausdruck der Theorie in diesem Kontext nicht, wohl aber den des Fachwissens (tevcnh) und des „Rede-Stehen-Könnens“ (lovgon e[cein tinov~), d. h. die Kraft des Arguments, ein Wissen auch darzulegen (vgl. Gorgias 464 b2–465 a7). Das Wissen der Handlungsziele muss ein Wissen vom Guten sein; sein Wissenscharakter zeigt sich daran, dass der Wissende sein Wissen begründen kann. Um welches „Gute“ es dabei dem platonischen Sokrates im Dialog Gorgias geht, wird erst später im Verlauf der Diskussion deutlich, wo Sokrates das Argument des echten Guten entwickelt: Es handelt sich hier allein um das echte Gutsein der eigenen Person, d. h. um das, was Platon den „Bestzustand“ (ajrethv) der Seele nennt (vgl. Gorgias 505 b4–d4). Dabei wird umfassendere Theorie, dass der Name des Guten das jeweilige Gutsein aller realen Dinge bezeichnen kann, im Gorgias nur angedeutet (vgl. 503 d5–504 d4).18 Der Theoriebedarf der Handlung erschöpft sich jedoch nicht in der Frage nach dem gewussten und begründbaren Ziel. Wie es im Dialog Kratylos unterstrichen wird, besitzt auch die materiale Verwirklichung des Ziels in einer bestimmten, inhaltlich fixierten Weise ihre ihr eigentümliche Richtigkeit, m.a.W. die instrumentell-materielle Seite des Handelns unterliegt der immanenten Sachgerechtigkeit der Dinge. Man kann z. B. falsch und richtig schneiden, sowohl im konkreten Sinne – so das Beispiel im Kratylos (387 a1–b1) – wie im übertragenen Sinn – so im Phädrus (265 e1–266 b1); denn der Philosoph als Dialektiker kann die objektive Ordnung der Dinge in ihren tatsächlichen Einteilungen „trennend“ reproduzieren oder diese Ordnung verfälschen. Daraus geht hervor, dass im platonischen Begriff der Praxis zwei Stellen enthalten sind, die deren Bedarf an Wissen bzw. Theorie anzeigen: Wer auf menschliche Weise handeln will, muss sich Rechenschaft über seine
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Eine Rekonstruktion des Arguments in Neschke-Hentschke 2007, 151–168. Dazu Krämer 1959, 57–83.
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Handlungsziele geben können, er muss aber auch das Handlungsinstrument und die empirische Handlungsmaterie analytisch, d. h. dihairetisch durchleuchten, um die richtigen Mittel zu Verwirklichung seines Ziels zu wählen.19 Die Analyse von Ziel, Instrument und Materie bildet dann das, was man Platons Philosophie der Praxis nennen muss. Platon selber, der die aristotelische Trennung von Herstellung und Handlung noch nicht vollzogen hat, beschreibt sie allgemein unter dem Stichwort der „Verfertigung gemeinnützlicher Werke“ (dhmiourgikh; tevcnh).20 So wird der Philosoph der Politeia ein „Verfertiger der Gerechtigkeit in der eigenen Seele und seiner Mitbürger“ genannt (Politeia V, 500d4–d8). Was dessen „politische Demiurgie“ sachlich und methodisch beinhaltet, hat Platon beispielhaft in seinen Nomoi durchgeführt; denn in diesem Dialog liefert Platon das Modell einer auf echtem Wissen aufbauenden gesetzgeberisch-politischen Praxis.21 Eine solche muss vorerst das Ziel der Gesetzgebung klären, d. h. was das Gutsein einer Polis ausmacht – gut ist die Polis, die ihre Bürger „gut“ im Sinne der vollendeten menschlichen Person macht; letztere bildet die Bedingung von Freundschaft und Frieden zwischen den Menschen. Zu diesem Ergebnis gelangen die begrifflichen und empirischen Untersuchungen der ersten drei Bücher. Anschließend muss der philosophische Gesetzgeber argumentativ die Mittel entwickeln, die zu dem erwünschten Ziel führen, er muss die Verfassung und diejenigen Gesetze formulieren, die es erlauben, das Ziel effizient zu erreichen. Für ein solches Vorgehen bedarf es, wie schon in der Politeia unterstrichen wird, der Kombination von begrifflicher Erkenntnis der Sache ebenso wie einer lückenlosen Erfahrung der empirischen Wirklichkeit (ejmpeiriva/de;mhde;n […] ejlleivponta~, vgl. Politeia VI, 484 d6), sie besteht, wie es das dritte Buch der Nomoi zeigt, im detaillierten historischen Wissen um die Verfassungsgeschichte der bedeutendsten Staaten der eigenen Zeit. II.2 Das Wissen des Guten als handlungsleitendes Wissen Die politische Demiurgie betrachtet ein besonderes Gutes, das Gute der Polis und des Menschen, wobei immer vorausgesetzt wird, dass dieses Gute im guten Handeln besteht.22 Da Handlung im definierten Sinn der 19 20 21 22
Im Kratylos 424 c5–425 b7 wird dieses Verfahren am Namensgeber illustriert. Vgl. Gorgias 503 e5 ff. Zur Struktur der Demiurgie Neschke-Hentschke 2000, IX– XXVII. Zur Konstruktion der Nomoi zuletzt Schöpsdau 1994, 93–109. Vollendet gerecht und gut ist erst der, welcher andere gerecht und gut macht, vgl. Politeia V, 500 d4–d9; Nomoi V, 730 d6–e3: „[…] kai; o{sa a[lla ajgaqav ti~ kevkthtai dunata; mh; movnon aujto;n e[cein kai; a[lloi~ metadidovnai.“ [Hervorh. A. N.-H.]
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bewussten Zwecksetzung allein dem Menschen zugehört, müsste eine Handlungstheorie in den Kontext des Wissens vom Menschen, eine Anthropologie, gestellt werden. In der Tat findet sich in Platons Werk eine solche in seinem Dialog Timaios. Jedoch die anthropologische Frage „was ist der Mensch?“ ist nicht der Ursprung von Platons Lehre vom Menschen. Das Antriebsmoment allen platonischen Denkens ist die Frage nach dem Guten, entsprechend der Aufforderung des platonischen Sokrates aus dem Mythos der Politeia, dass es nur ein Wissen gibt, auf dessen Erwerb der Mensch seine ganze Kraft anwenden muss: die Unterscheidung von Gut und Schlecht. Wie aber lässt sich ein solches Wissen erwerben? Ausgang jeder Erkenntnis ist der Name, Weg der Erkenntnis die Definition oder der Begriff (lovgo~), der in der Form des Gedankens (novhma) die Gestalt (ei\do~) der vom Namen angezielten Sache aufzeigt (vgl. Nomoi XII, 965 b7–c6, Epist. VII, 342 a7–e2). Nun lässt sich der Name „gut“ ebenso wie sein Gegenteil auf viele Gegenstände und Sachverhalte anwenden: So nennt man gut alles, was eine eigentümliche Gestalt besitzt, die erlaubt eine besondere Leistung (e[rgon) zu erbringen (vgl. Politeia, I, 353 b2–353 e11). Das Prädikat „gut“ wird daher immer dann verwandt, wenn dank ihrer Gestalt eine Sache sie selbst ist – das können Mensch, Pferd oder ein Rebenmesser sein; erst dann ist sie zu ihrer Leistung fähig. Diese Überlegungen machen klar, dass für Platon das Wort „gut“ zwar durchaus ein wertendes Wort ist, jedoch dieser Wert weder aus einem höheren abstrakten Wert noch aus einem „Gesetz“ oder einer Norm abgeleitet wird, sondern aus der spezifischen Leistungskraft der Sache selbst, die das Prädikat „gut“ tragen kann, sofern sie die ihr eigentümliche, ihre spezifische Leistung ermöglichende „Bestform“ (ajrethv) erreicht hat. In diesem Sinne ist „gut“ ein deskriptiv-ontologischer Term, er stellt das vollendete Sein eines Seienden fest. Die Frage nach dem Guten führt somit Platon zur Frage nach dem jeweiligen Seinskern/Wesen des Seienden; denn, da das Prädikat „gut“ die spezifische optimale Leistungsfähigkeit einer Sache meint,23 kann das jeweilige spezifische Gute nur durch die Erkundung der Natur der Sache, ihrer jeweiligen Besonderheit oder ihres Wesens (ei\do~/oujsiva) erkannt werden. Ob ein konkretes Messer gut ist, kann erst ausgesprochen werden, wenn das Messer genau dem Wesen des Messers entspricht. Dieses Wesen geht aus dem Begriff (lovgo~) des Messers hervor, der besagt: Instrument zum schneiden. Im scharf schneidenden Einzelmesser erlangt der Begriff diejenige materielle Gestalt, welche die spezifische Leistung des Messers erbringt (ei\do~///tavxi/~) vgl. Gorgias 503 d5–504 a9).
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Zum Sein als „Kraft“ – duvnami~ – vgl. Sophistes 247 e4: „oJrivzein ta; o[nta wJ~ e[sti oujk a[llo ti plh;n duvnami~.“
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Diese auf ganz heterogene Dinge angewandte Bedeutung des Wortes „gut“ verdankt sich der Analogie/Proportion bzw. geometrischen Gleichheit, welche die grundlegende Denkfigur Platons ausmacht; denn es ist die Analogie, die es erlaubt, Messer (A), Menschen (B) und Pferde (C) zu vergleichen: Form und Leistung von A entsprechen proportional Form und Leistung von B oder C. Dank der Analogie lassen sich daher ganz verschiedene Sachen (A, B, C) innerhalb der Welt miteinander vergleichen – aber auch die sinnliche Welt als Ganze mit dem geistigen Sein – und als „ähnlich“ (o{moion) erweisen.24 Die Formel lautet daher: A1 (Form) zu A2 (Leistung) wie B1/C1 (Form) zu B2/C2 (Leistung).25 Das Denken in Analogien statt in Kausalbeziehungen (Aristoteles) zeichnet das Platonische Denken aus.26 An diesen Tatbestand ist zu erinnern, will man verstehen, wie Platon zur Erkenntnis des menschlichen Guten gelangt ist, nämlich durch die Analogie. Einen Hinweis gibt bereits der Gorgias; der platonische Sokrates erinnert daran, dass dank seiner inneren Analogieverhältnisse der Kosmos als Ganzer eine Ordnung darstellt, die ihn gut macht. Dieser Hinweis dient hier rhetorisch dazu, dem Gegner Kallikles klar zu machen, dass unmöglich die im unbegrenzten Luststreben erreichte Unordnung der Seele das Gute des Menschen sein kann (vgl. Gorgias 507 c8–508 c3). Statt sich, wie im Gorgias, mit einer Anspielung auf die Beziehung zwischen Kosmos und Mensch zu begnügen, entwickelt Platon in der Politeia und vor allem im Timaios eine ausgeführte Theorie vom Guten des Menschen. Im Timaios wird das physikalische Universum als gut bezeichnet, da es seinem Schöpfer, dem göttlichen Demiurgen, der gleichfalls gut ist, ähnelt (vgl. Timaios 29 e3); wiederum soll es dem Menschen möglich sein, durch die Betrachtung des guten Kosmos selber gut zu werden (vgl. Timaios 90 c7–d8). Um das Gute welches spezifisch Seienden handelt es sich aber hier? Die Analogie besteht in diesem Falle zwischen drei verschiedenen Lebewesen (zw`/a): Der Gott wird als das vollkommene Lebewesen beschrieben, da er durch seine Vernunft alles Denkbare in sich umfasst (ejn eJautw`/ perilabo;n e[cei, Timaios 30 c2–d1). Dieser, indem er den tast- und sichtbaren Körper der Welt einer vernunftbegabten Seele einschreibt, macht das dadurch entstandene Welt-Lebewesen, den Kosmos, zum Abbild seiner selbst (vgl. Timaios 30 d1–31 a1). Obwohl er ein sinnlich fassbares Lebewesen ist, ist der Kosmos dennoch im Unterschied zum Menschen unsterblich und autark; er bedarf keiner „Energiezufuhr“, was 24 25 26
Zur Analogie als Rationalitätstyp Gloy 1999. Vgl. in Politeia VII, 505 a7–511 d5 die Analogien in Sonnen- und Liniengleichnis, in Politeia II–IV die Analogie Seele/Polis. Vgl. Bärthlein 1957 und Tornau 2007. Noch bei Plotin sind homonyme Verhältnisse analoge Verhältnisse.
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sich auch in seiner Kugelform und seiner Kreisbewegung ausdrückt (vgl. Timaios 32 a5–34 a7). Dieser Tatbestand unterscheidet ihn vom nicht autarken sterblichen Lebewesen Mensch; dennoch hat der sterbliche Mensch dank seiner Seele an der göttlichen Vernunft teil (vgl. Timaios 41 d4 ff.). „Gut“ sind sowohl Gott, Kosmos und Mensch, wenn sie Vernunft haben und deren spezifische Leistung erbringen. Die Leistung der Vernunft aber besteht in jedem Fall darin, im Nicht-Vernünftigen eine Vernunft gemäße Ordnung zu schaffen, auf eine „demiurgische“ Weise Ordnung und Harmonie herzustellen, m.a.W. den Begriff zu materialisieren. Inbegriff des Demiurgen ist daher der welterschaffende Gott, welchem es gelingt, dem chaotisch bewegten Empfangsort (uJpodochv) Zahlen und Formen einzuprägen (vgl. Timaios 53 a7–b5). Die Weltseele übernimmt diese Rolle, indem sie durch ihre vernünftige regelmäßige Bewegung (d. h. die Planetenumläufe) die Ordnung der Welt erhält (vgl. Timaios 36 d8–39 e2). Dank letzterer hat wiederum das Leben auf der Welt statt. Das einzige vernunftbegabte Lebewesen, der Mensch, kann daher seinerseits nur gut genannt werden, wenn er, die äußere Ordnung der Welt zum Vorbild nehmend, sein Inneres in eine Ordnung bringt, in der die Vernunft ihre Rolle als Ordnungsschöpferin und -hüterin über die irrationalen Kräfte der Seele spielen kann (vgl. Timaios 90 c7–d7). Gut wird der Mensch daher, wenn er sich „Gott ähnlich macht“, sich „ordnet“ und „gerecht“ wird, denn der „Gott ist im Höchstmass gerecht“ (Theätet 176 b8–c1).27 Dieser analogische Gebrauch des Namen des „Guten“ liefert den Schlüssel sowohl für Platons Auffassung der Realität als auch für die viel umstrittene Idee des „Guten“. Platons Ausgang ist nicht die Frage nach Gott als höchstem Prinzip, noch fragt er nach einem höchsten Wert innerhalb der menschlichen moralischen Welt; er betreibt weder Theologie noch Moralphilosophie. Platon stellt die Frage nach „gut“ und „schlecht“ im Hinblick auf eine Erkenntnis der gegebenen Realität in ihrer kosmischen Verfasstheit, wie sie vor ihm durch Heraklit, Parmenides und die Pythagoreer angestrebt war; aber er stellt sie auf ganz neue Weise. Als Erbe der sokratischen Elenktik entwickelt er das dialektische Verfahren. Es besteht in der Untersuchung all der Dinge, welche die Sprache als „gut“ zu bezeichnen pflegt. Über das „Gute von etwas“, z. B. des menschlichen, kosmischen und göttlichen Lebewesens muss das „Gute an sich“ gefunden werden, d. h. der Begriff des Guten selber, der sich auch auf den Gott anwenden lässt. Das besagt: Das Gute ist mit dem Namen und seinem Gebrauch „gesetzt“ bzw. “vorgegeben“; seine Erkenntnis jedoch steht am Ende eines langen Prozesses der „Zusammenschau“ (suvnoyi~) all der Din27
„qeo;~ oujdamh`/ oujdamw`~ a[diko~ ajllæ wJ~ oi|ovn te dikaiovtato~.“
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ge, die das Prädikat „gut“ tragen können (vgl. Politeia VII, 534 b8–d1). Diese Zusammenschau verdankt sich, wie gezeigt, der Analogie der verschiedenen Dinge innerhalb eines Seinsbereiches, aber auch der Seinsbereiche untereinander, wie die Analogie der drei Vernunftwesen zeigte. Das Gute an sich, rein zu denken, muss dann von allen Anwendungen absehen, muss ohne das „Gute eines jeweiligen Wesens (oujsiva)“ zu sein, als ein eigenes Wesen, als Idee, gedacht werden. Dazu bedarf es einer besonderen Anstrengung des Denkens, da hier das die Wesensfrage stellende Denken (tiv ejstin;) auch nach der Bedingung seiner eigenen Möglichkeit fragt: Was macht wesentlich Soseiendes (oujsiva) und sein Denken (noei`n) aus, was ist deren „Grundlage“ (uJpovqesi~)? Der Weg zum „Guten selbst“ besteht darin, das Denken auf eine Metaebene zu heben, die jenseits der Frage nach dem Wesen des Besonderen liegt und doch dieses qua dessen Bedingung zu begreifen vermag. Den aristotelischen Zeugnissen zu Platons innerakademischen Lehren zufolge hat Platon in einem auf pythagoreischen Gedankengut aufbauenden und wiederum analogischen Abstraktionsschritt die Idee des Guten über die metaphysischen Zahlen gestellt und mit der Grenze bzw. Einheit identifiziert, der er ein Gegenteil, das Schlechte und das Viele, das als Unbegrenztes zwischen Gross und Klein schwankt, gegenübergestellt (vgl. Metaph. I, 987 b18 ff.).28 Das Gute bzw. Eine wurde darüber hinaus abermals dank der Analogie29 mit dem göttlichen Geist in Parallele gesetzt, d. h. dem Einen als Prinzip der metaphysischen Zahlen korrespondiert der göttliche Geist in Bezug auf das Ganze der Ideenwelt; dieser ist mit dem „die Ideen umfassenden vollendeten Lebewesen“ im Timaios (30 c4–d1) gemeint, gehören doch Leben, Denken und Bewegung zum Ganzen der Ideenordnung hinzu (vgl. Sophistes 248 e6–249 a2) und ist doch das „Wesen“ des Denkens „Bewegung“ (vgl. Sophistes 248 e6; Nomoi X, 898 a8).30 Da nun hinter das Gute bzw. Eine als Bedingung des wesentlichen Soseins der Dinge nicht mehr zurückgegangen werden kann, es also selber keiner Unterlage (uJJpovqesi~) bedarf, ist es ein ajn-upovqeton und als solches Prinzip. Zugleich, da ihm das jeweilige Soseiende (e{n e{kaston), die denkbare Idee, seine Erkennbarkeit und der es fassende Geist seine Erkenntniskraft verdanken, ist das Gute zugleich Prinzip und Medium der Erkenntnis. Erst im Rahmen einer so spekulativen Universal28 29
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Zur Rekonstruktion vgl. Krämer 1959, 380 ff. und Gaiser 1963. Vgl. Aristoteles, De an. I, 2, 404b21–b24: Analogisch entsprechend sind: „Einheit, Zweiheit, Dreiheit, Vierheit“ mit „Punkt, Linie, Fläche, Körper“ mit: „Geist, Erkenntnis, Meinung und Wahrnehmung.“ Dem „Einem“ bzw. „Geist“ sind jeweils analogisch Vielheit bzw. Ungeistiges gegenübergestellt. Damit entging Platon der Aporie des Parmenides und Sophistes, dass ein absolut Eines nicht gedacht noch gesagt werden kann.
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ontologie31 glaubte Platon also, das Gute des Menschen bestimmen zu können. Immer, wo er das spezifisch menschliche Wesen in seinem Gutsein/Tugend als innere Einheit, Ordnung und Gerechtigkeit darstellt (vgl. Gorgias, Politeia, Theätet und Nomoi) hat er längst von seiner Auffassung des Guten an sich Gebrauch gemacht. Das soll kurz gezeigt werden. Als Lebe-, d. h. psycho-somatisches Wesen besitzt der Mensch eine „Seele“, welche die zwei Pole seines Wesens, die Vernunft und den Körper, vermittelt; denn kein Körper kann der Vernunft unterworfen werden, dem nicht eine „Seele“ innewohnt. (vgl. Timaios 30 b3).32 „Seele“ als Lebensprinzip bedeutet aber „Bewegungsimpuls“, Seele/Leben ist das Prinzip der Bewegung bzw. der inneren Impulsnatur des Menschen (vgl. Phaidon 105 b9–e8; Nomoi X 895 c1–c3; Phädrus 245 c5–d1). Letztere umfasst einerseits die Bewegung des Denkens (nou`~) – sie ist immateriell und daher ewig (vgl. Timaios 41 d4–44 d2) – andrerseits die Antriebe, bei denen die „Wallungen“ Emotionen (qumov~) von den „Begehren“ (ejpiqumiva) unterschieden werden müssen; diese Impulse sterben mit dem Körper wieder ab (vgl. Timaios 69 a6–72 d8). In der Tat sind die diversen Begehren dazu notwendig, den im Unterschied zum Weltkörper nicht autarken sterblichen Körper des Menschen dank der Nahrung am Leben zu erhalten und das Menschengeschlecht dank des Zeugungsaktes zu perpetuieren. Hierbei dienen die Emotionen als Vermittler, wenn es zum Konflikt zwischen Vernunft und Begehren kommt. Genauer ist es jedoch zu sagen: Sie sollten als Vermittler und Helfer der Vernunft dienen. Zu beachten ist nämlich, dass die Theorie Platons der trichotomischen Impulse der Seele vorerst nur ein Potential der lebensdienlichen Kräfte beschreibt, ihr wirkliches Funktionieren hängt immer schon davon ab, ob diese Potenzen von Kind auf dank einer heilsamen Umwelt richtig gelenkt wurden, ob der Menschen gelernt hat, mit seinen Impulsen im rechten Sinne umzugehen. Nur unter dieser Bedingung wird er nicht das Opfer seiner Triebe, sondern Herr seiner selbst, da die Vernunft Emotionen und Begehren in ihren Dienst nimmt und nicht umgekehrt, von diesen dienstbar gemacht wird.33
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Deren philosophische Qualität ist gemäß den Maßstäben der aristotelisch-klassischen Logik (vgl. dazu Gloy 1999, 218–224), die das Analogiedenken weitgehend verabschiedet hat, äußerst zweifelhaft. Zum aktuellen Analogiedenken ebd., 234–243. „nou`n dæ` au\ cwri;ß yuch`~ aJduvnaton paragenevsqai tw/.“ Politeia, V, 491 d1–492 a5. Platon illustriert diese Plastizität des Menschen mittels der Verfallsgeschichte der Verfassungen in Politeia VIII und IX. Die bekannte eminente Bedeutung der frühkindlichen und späteren Erziehung in den platonischen Staatsentwürfen resultiert aus dieser Anthropologie. Zur Erziehung bei Platon vgl. Cleary 2003.
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Dieser Zustand einer durchgängigen Selbstkontrolle der Seele dank ihrer Vernunft erlaubt dem Menschen, sich als Vernunftwesen zu konstituieren. Für die Beschreibung dieses Zustandes bedient sich Platon zweier weiterer Analogien: die der Polis und die des musikalischen Vielklangs. Der vernunftgeleitete Mensch ist wie eine souveräne Polis Herr seiner selbst (ejgkravteia, a[rxanta aujto;n eJautou`);34 dank der Herrschaft der Vernunft, die die unvernünftigen Wallungen und Triebe lenkt, befindet er sich im Zustand der Harmonie (aJrmoniva), der Konsonanz (sumfwniva) und des Wohlklangs (ejmmelhvß). Deren Gegenteil sind Disharmonie (ajnarmostiva), Dissonanz (ajsumfwniva) und Missklang (plhmmevleia).35 Der Gegensatz von Harmonie und Disharmonie zeigt den guten und den schlechten Menschen: Im ersten ist der Mensch als Mensch, als ein vernünftiges Lebewesen verwirklicht, im zweiten ist er seiner selbst verlustig gegangen; er hat den Menschen in sich verkümmern lassen. Prototyp ist der Tyrann (vgl. Politeia IX, 588 b10–589 b7). Das Wissen um die eigene Natur bliebe aber für den Menschen ein „theoretisches“, d. h. praktisch folgenloses Wissen; eine beschreibende „Psychologie“ ist eine theoretische Wissenschaft, kein handlungsleitendes Wissen. Um ein solches zu werden, muss dazu gewusst werden, dass die Vernunftnatur das Gute des Menschen sei; setzt doch der Mensch sein Handeln um des Guten willen in Bewegung. Daher betont der platonische Sokrates in der Politeia, dass es nicht auslangt zu wissen, was das Gerechte sei, sondern es müsse hinzukommen zu wissen, warum es das Gute sei (vgl. Politeia V, 504 e7–505 b3). Dies aber ist nur möglich, wenn man einen lovgo~ des Guten, den seine Idee aufweisenden Begriff besitzt. Er verschweigt allerdings die Tatsache, dass in seiner Beschreibung der Gerechtigkeit der Seele der Begriff des Guten als die zu spezifischer Leistung befähigende Tüchtigkeit und deren Grundlage, das Gute an sich als die Kraft spendende Einheit, längst eingegangen war; denn der Begriff des Guten als Hintergrund der gesamten Psychologie versteckt sich in der Analogie der „Harmonie der Seele“: Sie beschreibt den Zustand, in welchem selbst Kräfte wie Vernunft und Begehren, die auf Grund ihrer spezifischen Natur auseinanderstreben und sich gegenseitig zu vernichten trachten, dazu
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Politeia IV, 443 d4 aJrmoniva: Politeia IV, 430 e4; Phädon 93 e6; Symposion 187 b4; Kratylos 405 d1; Timaios 37 a1. sumfwniva: Nomoi II,653 b6, 649 e3, III 689 d5, d7. ejmmelhv~: Critias 106 b4, 121 c1. ajnarmostiva: Phädon 93 e6; Politeia III, 401 a6. diafwniva (auch ajmousiva): Nomoi III, 689 a7; 691 a7. plhmmevleia: Nomoi III, 689 b7; 691 a7. Dank ihrer plastischen Aussagekraft wird musikalische Analogie bevorzugt in den Nomoi gebraucht. Es gilt: Nomoi II, 653 b6: „au{th ejsq’ hJ sumfwniva sumpa`sa me;n ajreth.v“ (III, 659 e3; III, 689 d5; d7) [Hervorh. A. N.-H.].
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gebracht werden können, in eine einzige und gemeinsame Richtung strebend zusammenzuarbeiten; das Ergebnis ist die „Einheit“ (ei|ß), die den Menschen allererst zur vernunftgeleiteten und daher effizienten Person erhebt (vgl. Politeia IV, 443 e1).36 Dasselbe gilt für das Gutsein der Polis, da ihre Einheit Frieden und Stärke bedeutet.37 Gut- bzw. Einssein stellt dabei, wie oben betont, keine moralische, sondern eine ontische Qualität dar, da es die Leistungsfähigkeit des Menschen als eines spezifisch Seienden bezeichnet. Um gerecht zu handeln, muss der Mensch daher zwar wissen, worin die Gerechtigkeit besteht, aber zugleich, dass es sie ist, die das von ihm immer schon angestrebte Gut ausmacht. Da nun in Platons analogischer Denkweise das jeweilige Gute nur durch die Idee des Guten im vollgültigen Sinn erkannt werden kann – das beinhaltet immer, über die Antwort, was das Gute sei, Rechenschaft ablegen zu können – kann es nur der Philosoph sein, welcher den Menschen eine vollgültige Antwort auf ihre Frage nach dem Guten geben kann. Nur wer das Wissen vom Guten selbst besitzt, im Denken erreicht hat, kann daher beanspruchen, eigenes und fremdes Handeln dahingehend zu lenken, dass das gewollte Gute erreicht und besessen werden kann. Hierauf gründet die geschichtlich einmalige Tatsache, dass Platon die Forderung nach der Herrschaft der Philosophie erhoben hat; denn für Platon gilt, dass „erst durch Hinzuziehen des Guten (proscrhsavmena) Gerechtes und Anderes nützlich und heilsam werden.“ (Politeia VI, 505 a2–a4).38 Aus dieser grundlegenden Funktion des Guten leitet Platon die Notwendigkeit ab, dass die Lenker der Polis ein Wissen von ihr besitzen: „[…] Was die Unkenntnis betrifft, inwiefern denn eigentlich das Gerechte und Schöne gut sind, so werden die Bürger der Stadt keinen sehr wertvollen Wächter besitzen, der diese Unwissenheit besitzt […].“ „[…] Und erst dann wird die Stadt vollendet geordnet sein, wenn über sie ein solcher Wächter die Aufsicht führt, der dieses Wissen besitzt (ejpisthvmwn).“ (Politeia VI, 506 a4–506 b1).39
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„[…] pantavpasin e{na genovmenon ejk pollw`n.“ [Hervorh. A. N.-H.] Vgl. Arends 1984. „ejpei; o{ti ge hJ tou` ajgaqou` ijdeva mevgiston mavqhma, pollavkiß ajkhvkoa~, h|/ dh; kai; divkaia kai; ta\lla proscrhsavmena crhvsima kai; wjfevlima givgnetai.“ „Oi\mai gou`n divkaia kai; kala; ajgnoouvmena oJph`/ pote ajgaqav ejstin, ouj pollou` tino~ a[xion fuvlaka kekth`sqai a]n eJautw`n tovn tou`to ajgnoou`nta […]. Oujkou`n hJmi`n hJ politeiva televw~ kekosmhvsetai ejpei; toiou`to~ auJth;n eJpiskoph`/ fuvlax oJ touvtwn ejpisthvmwn […].“
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Erst im Besitz dieses Wissens können ja die Herrscher, dem Platonischen Wissensverständnis folgend, über ihre Praxis als Gesetzgeber, die den Menschen zu seinem Guten führen soll, Rechenschaft ablegen – lovgon didovnai;40 denn sie könnten zeigen, dass das von den Menschen angestrebte Gutsein, seine vernunftgeleitete innere Einheit, genau dem entspräche, was den Sachgehalt des Begriffs des Guten ausmache. Fassen wir zusammen: Platons ungewöhnliche Stellung in der Geschichte der Philosophie, der Philosophie Herrschaftskompetenz zuzuschreiben, beruht somit auf dem Faktum, dass es die Frage nach dem Guten und Schlechten war, die sein ganzes Denken von Anfang bis Ende in Bewegung hielt. Die schlichte Frage, was denn das Gute sei, das jeder Mensch im Handeln anstrebt, wird dank der Analogie-Methode zur Frage nach dem Guten an sich. Daraus aber ergibt sich, dass die Theorie, die dem Menschen echtes Handeln erlaubt, nicht nur eine Theorie des menschlichen Guten sein darf, sondern des Guten an sich. Das Gute des Menschen zu bestimmen, kann also nicht durch eine „Regionalontologie“, sondern nur im Rahmen einer allgemeinen Ontologie eingelöst werden, die das Sein aus seinem Prinzip verstehen macht. Platon selber nennt diese Theorie die „echte Philosophie“ (gnhsiva filosofiva, vgl. Phädon 66 b2; Politeia V, 473 d2) oder dialektische Kunst (dialektikh; tevcnh, vgl. Phädrus 265 a6– 266 c1; Philebos 57 eb–59 d6)..Hier wird also eine Universal-Theorie angestrebt, die man später metaphysica generalis nannte. Aber auch umgekehrt: Man sieht am platonischen Dialogwerk, welches in den Gesetzen mündet, dass diese allgemeine Form der Ontologie, die vom dem spezifischen Problem des menschliche Lebens und Handelns und seiner immanenten Richtung, das wahre Gute anzustreben, ausging, zu diesem wieder zurückkehrt. Es zeigt sich also, dass die Idee des Guten als handlungsleitende Idee nie aufgegeben wurde.41 Im Philebos macht Platon den originellen Versuch, auch das gute Leben als das „aus Einsicht und Lust gemischte Leben“ in mathematisierende Strukturen einzubinden. Diese „abstrakte Theorie“ steht nicht für sich; denn auf ihrer Grundlage rechnet der philosophische Gesetzgeber der Nomoi den Bürgern seines Staates vor, dass das „gute Leben“, welches sie alle wollen, genau diese gemischte Struktur besitzt (vgl. Nomoi V, 732 d8–733 d6).
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Noch die Gesetzeswächter der Nomoi werden in diesem Wissen geschult (vgl. Nomoi XII, 964 b8–965 e8). Zeuge ist auch die diesbezügliche Kritik des Aristoteles, vgl. EN I, 1095 a26–a28; 1096 b14–1097 a 15.
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II.3 Die Priorität der Praxis als Zeichen des Lebens Schon eingangs haben wir bemerkt, dass das Theorie-Praxis-Problem bei Platon die These von der Priorität der Praxis enthält.42 Welche Begründung liefert uns jedoch der Philosoph für diese, sein gesamtes Unternehmen leitende Absicht, der Philosophie „einen Sitz im Leben“ zu verleihen? Die Antwort auf diese Frage findet sich in Platons Konzeption der „Seele“ (yuchv). In der Tat, mit dem Namen „Seele“ (yuchv) fasst, wie wir schon sahen,43 Platon sehr heterogen erscheinende Funktionen. Unter ihnen kommen der Seele vor allem zwei Leistungen zu: Sie garantiert einerseits das Leben, da es eine ihrer wesentlichen Eigenschaften ist, einen Körper zu beleben; andererseits ist die Seele der Sitz des Denkens und des Denkvermögens, der Vernunft (nou`~). Somit stellt sich die Frage, ob es einen gemeinsamen Nenner dieser heterogenen Funktionen der Seele gibt. In der Tat scheint Platon einen solchen darin gefunden zu haben, dass er der Vernunft Bewegungscharakter zuschreibt (vgl. Sophistes 248 e6–249 a2; Nomoi X, 898 a3–b3) und daher vom Phädrus bis zu den Nomoi die Seele, die zugleich Lebens- und Denkkraft enthält, allgemein als „sich selbst und anderes bewegendes Prinzip der Bewegung“ vorstellt (vgl. Phädrus 245 c5–246 a2; Nomoi, X, 895 c1–896 a5). Selbstbewegung der Seele meint die Spontaneität, welche die Seele der mechanischen Kausalität (der ajnavgkh) entzieht (vgl. Nomoi X, 894 b8–896 c4); sie besteht darin, dass die Seele sich Ziele setzt, mit anderen Worten, dass ihre von nichts anderem als ihrer selbst abhängige Bewegung in einem Streben nach einem Ziel besteht. So muss nach dem Ziel dieses Strebens gefragt werden! Platons Antwort ist bekannt; denn an einer emphatischen Stelle in der Politeia wird die Suche nach dem Guten als eines Gegenstands des Wissens damit begründet, dass es sich um denjenigen fundamentalen Gegenstand handelt, den „jede Seele“ (pa`sa yuchv) – nota bene: nicht nur die des Philosophen – immer schon anstrebt: „Was eine jede Seele verfolgt und um dessen willen sie alles tut, wobei sie vermutet, dass es etwas Bestimmtes sei, aber ohne Antwort bleibt und nicht hinreichend erfassen kann, was sein Wesen ist noch sich auf eine feste Überzeugung stützen kann wie bei den anderen Dingen, mit der Folge, dass sie auch bei den übrigen Dingen versäumt, was ihr heilsam wäre […]“ (Politeia VI, 505 d11–e4).44 42 43 44
Vgl. oben, Teil I.1. Vgl. oben, Teil I.3. „o} dh; diwvkei a{pasa yuch; kai; touvtou e{neka pavnta pravttei, ajpomanteuomevnh ti ei\nai, ajporou`sa de; kai; oujk e[cousa labei`n iJkanw`~ tiv potæ ejsti;n oujde; pivstei crhvsasqaiv monivmw// oi|a/ kai; peri; ta\lla, dia; tou`to de; ajpotugcavnei kai; tw`n a[llwn ei [ti o[felo~ h\n […].“
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Das Gute als der höchste Gegenstand, von dem der Mensch durch Lernen ein Wissen erwerben kann (to; mevgiston mavqhma) ist, diesen Worten zufolge, zugleich das allgemeine, das jeden Menschen treibende Ziel seiner yuchv; letztere betreffend unterstreicht Platon, dass sie zwar von Natur auf die Bahn des Guten gesetzt, dass ihr aber ein eingeborenes Wissen versagt wurde, worin denn ihr Gutes besteht; der Mensch muss erst lernen, was ihm frommt (o[felo~),45 was für ihn gut ist, indem er nach dem Wesen des Guten (tiv pote ejsti;n to; ajgaqo;n;) fragt. Platons Aussage, dass die Frage nach dem Guten dem Lebewesen Menschen grundsätzlich eingeschrieben ist, zeigt, dass sie somit kein Privileg des Philosophen ist. So ist zu fragen, woher denn diese Ausrichtung auf das Gute im Menschen herrührt und ob sie an den Phänomenen nachweisbar ist. Auf solche Phänomene macht nun die Seherin Diotima in Platons Symposion den wissensdurstigen Sokrates aufmerksam; es geht ihr darum zu beweisen, dass „ohne Einschränkung gilt, dass sich alle Menschen nach dem Guten sehnen“ (Symposion 206 a3–a4).46 Daher führt ihre Erklärung, im Unterschied zu der enigmatisch bleibenden Bemerkung des Sokrates der Politeia, eine Stufe näher an die menschliche Natur heran; Diotima nämlich weiß, was die Menschen dazu bringt, im Handeln etwas zu verfolgen (diwvkein, vgl. Politeia VI, 505 d11). Dahinter steht die Gewalt der Sehnsucht, des e[rw~. Dieser Eros ist ein Dämon, ein Zwischenwesen, da er zwischen dem bloß Menschlich/Sterblichen und Göttlich/Unsterblichen vermittelt. Das bedeutet für den sterblichen Menschen, insofern er immer vom Eros besessen ist, dass er über sich hinaus dank seines Gutwerdens an der Unsterblichkeit teilhaben will (vgl. Symposion 211 d8–212 a7). Platon verankert somit im Symposion das „Verfolgen eines Zieles“ (diwvkein), das sich in vielfältigen Handlungen äußert, in einer die menschliche Seele beherrschenden halb transzendenten Kraft, dem Eros. Von ihm heißt es: „Für jede Begierde nach den Gütern und dem Glück ist für jeden Menschen der Eros die Ursache, der größte und listige Dämon“ (Symposion 205 d2–d3).47
Von dieser Kraft werden, wie die lange Rede der Diotima zeigt, alle Menschen empirisch nachweisbar bewegt;48 sie differenzieren sich aber dadurch, auf welche Weise sie ihre Sehnsucht zu erfüllen suchen. 45 46 47 48
Zur besonderen Bedeutung von o[felo~ vgl. die Analyse von Wieland 1984, 165 ff. „ou{tw~ aJplou`n ejsti levgein o{ti oiJ a[nqrwpoi tajgaqou` ejrw`sin.“ „Pa`sa hJ tw`n ajgaqw`n ejpiqumiva kai; tou` eujdaimonei`n oJ mevgistov~ te kai; dolero;~ e[rw~ panti;.“ Symposion 207 a7–a9: „[…] oujk aijsqavnh/ wJ~ deinw`~ diativqentai ta; qhriva […].“ [Hervorh. A. N.-H.] Diotima belehrt Sokrates durch den empirischen Tiervergleich über das Verhalten der Menschen.
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Gibt man dem halb mythischen Diskurs der Diotima im Symposion, der die rätselhafte Bemerkung des Sokrates in der Politeia aufzuklären hilft, eine rationale Deutung, so ergeben sich folgende Aussagen Platons: Die Praxis geht der Theorie voraus, da die Praxis selber in einen ursprünglichen naturhaften Lebensdrang, der Sehnsucht nach dem Guten, eingeschrieben ist: „Um des Guten willen führen alle [Menschen] alle Handlungen aus“ (Politeia VI, 505 d11).49 Dieses Lebensgesetz, dessen kosmische Dimension sich der Mittelrolle des Eros verdankt – „denn durch den Eros ist das Universum mit sich selbst zusammengebunden“ (Symposion 202 e3–e7)50 – gilt auch für den Philosophen; auch sein Tun gilt seinem Guten und seiner Glückseligkeit. So stellt die Diotima des Symposion die Philosophie als einen der vielen Wege zum Glück als des Guten dar (vgl. Symposion 211 d8 d4–212 a7). In der Politeia jedoch lässt Platon die Koexistenz der verschiedenen Wege zum Guten nicht mehr gelten; der Satz „beim Guten wollen die Menschen nicht den Schein, sondern das Wahre“ (Politeia VI, 505 d7–d9),51 unterstreicht, dass die verschiedenen Bestimmungen des Guten nicht mehr miteinander konkurrieren können, da es nur eine, die wahre, geben kann und dass die Menschen, ohne es selber zu wissen, auf diese eine wahre Bestimmung hinstreben. So zeigt sich: Zwar teilt der Philosoph das Schicksal aller Menschen, als ein Lebewesen, d. h. Psyché-Träger, von der Sehnsucht und der Frage nach dem Guten, was es denn sei, bewegt zu werden.52 Jedoch im Unterschied zu den übrigen Menschen kommt sein Fragen auch zum Ziel; denn die dialektische Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Guten erbringt dessen zwar schwierige, aber dennoch mögliche Erkenntnis. Allerdings ist die Erkenntnis des Guten noch nicht das Ziel selbst; wird sie doch gesucht, um es immer zu besitzen.53 Was Platon damit meint, zeigen wiederum die Ausführungen in der Politeia. Ist einmal die Erkenntnis der Ideen (die durch die Idee des Guten eine Ordnung bilden) erlangt, stellt sich nach Platon eine neue Bewegung der Seele ein; die Erkenntnis der Ordnung erfüllt den Erkennenden mit Bewunderung (a[gasqai, vgl. Politeia VI, 500 c6) und lässt ihn danach streben, sich dieser Ordnung anzugleichen, „dem Göttlichen gleich zu werden“ (ajfomoiou`sqai, mimei`sqai, Politeia VI, 500 49 50 51 52 53
Vgl. oben, Anm. 44: „o} dh; diwvkei a{pasa yuch; kai; touvtou e{neka pavnta pravttei […].“ „[…] w{ste to; pa`n aujto; auJtw`/ sundedevsqai […].“ „ajgaqa; de; oujdeni; ajrkei` ta;; dokou`nta, ajlla;; ta;; o[nta zhtou`sin.“ [Hervorh. A. N.-H.] Vgl. oben, Anm. 46: […] oujk e[cousa labei`n iJkanw`~ tiv potæ ejstivn […].“[Hervorh. A. N.-H.] Politeia VI, 505 d8: kta`sqai; Symposion 206 a11–a12: „to; ajgaqo;n auJtw`/ ajei; ei\nai.“ [Hervorh. A. N.-H.]
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c5–c7). Somit findet das Streben des lebendigen Wesens Mensch nicht schon in der Erkenntnis des Guten seine Erfüllung, sondern erst dann, wenn sich der Mensch dem erkannten höchsten Guten handelnd angeglichen hat. Letzteres besitzt die Glückseligkeit (eujdaimoniva, vgl. Symposion 205 a1–a8), ist es doch dank seiner überlegenen Macht, Gutes zu stiften, dasjenige, dem die Glückseligkeit am meisten zukommt:[…] „to; eujdaimonevstaton tou` o[nto~ […]“ (Politeia VII, 526 e3–e4). Platons Erkenntnis- und Handlungslehre verbindet sich somit mit einer beide umfassenden Konzeption des Lebewesens Mensch als einer Sehnens- und Strebensnatur, auf deren Grundlage allein die Frage nach dem Ort und der Funktion der Theorie, d. h. der wahren Philosophie als Dialektik und Erkenntnis des Guten, beantwortet werden kann und darf. Da diese „Theorie“ keineswegs Selbstzweck ist, sondern im Dienst des Lebens steht, um die rechte Lebenswahl zu treffen, heißt sie bei Platon nicht, wie bei Aristoteles „Betrachtung“ (qewriva, vgl. EN I, 3, 1096 a4; Politik, VII, 14, 1333 a25), sondern frovnhsi~, nou`~ bzw. filosofiva: Klugheit, Vernunft bzw. Streben nach Weisheit.54 Die Frage „Warum Philosophie?“ findet ihre Antwort darin, dass die Philosophie die Klugheit bzw. Weisheit zu erwerben verhilft, die der Mensch bedarf, um die Glückseligkeit zu erreichen, die zu erlangen dem Lebewesen Mensch dank seines Strebens nach Selbstverwirklichung eingeschrieben ist. Philosophie hat somit die Rolle der „Grammatik des Lebens“.55 Genau an diesen Zusammenhang von Leben (yuchv, zwhv) Streben (e[rw~, o[rexi~) und Gutem (ajgaqovn, eujdaimoniva) bei Platon konnte die praktische Philosophie des Aristoteles anknüpfen. Wie eingangs gezeigt, hat Aristoteles es allerdings verstanden, die Frage nach dem Guten des Menschen so zu stellen, dass bereits eine Regionalontologie, die Philosophie vom Sein des Menschen, die Antwort bereitstellen konnte.56
54
55 56
Platon gebraucht häufig das Verb qewrei`n zur Bezeichnung des Erkennens und Betrachtens, jedoch weniger häufig das Verbalsubstantiv. Zur prioritären Verwendung von frovnhsi~, nou`~ und filosofiva vgl. das Lexikon von des Places 21970 und den Index von Brandwood 1976. Vgl. oben, Teil I.1. Grundlage ist sein anderes Verständnis der Mathematik und des Einen (vgl. Aristoteles, Metaph. IX, 1052 a15–1052 b2).
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Why Study Medieval Philosophy? John Marenbon The simplest answer is a rather shocking one. ‘Medieval philosophy’ should not be studied at all! But this answer – as the inverted commas indicate – is about the packaging rather than the goods themselves. There are very good reasons for studying philosophers such as Boethius, Abelard, Avicenna, Aquinas, Maimonides, Scotus, Ockham and many others, but the term ‘medieval philosophy’ itself is unhelpful or even misleading, and we would do better to drop it, and give up the subject-division for which it stands. This is the theme of Part III. The subject of Part I is more general. It considers the justifications for studying what I shall label ‘antiquated philosophy’ of any sort. ‘Antiquated philosophy’ certainly includes the texts usually labelled as medieval philosophy, and so Part I provides a justification for why they should be studied; but there is a particular characteristic – their frequent connection with revealed religion – which might be used either to provide a different, special justification for studying them, or, by contrast, a reason for thinking that the medieval material should be excluded from the general justification. These two possibilities are the theme of Part II.1
I. Studying antiquated philosophy: some justifications Some of the philosophy of the past is connected with present-day philosophizing, because it regularly provides at least the starting-points for discussion. Many parts of the work of Hume, Kant and Frege, for example, and certain aspects of Descartes, Leibniz and perhaps Aristotle are connected to philosophy now in this way. For philosophy of the past
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I have deliberately kept the annotation sparse. For those wishing to investigate further into the methodological questions about medieval philosophy, see Aertsen and Speer 1998, 19–68; Cameron/Marenbon 2011; Flasch 1987; de Libera 1991, 2000; Marenbon 2000; Rosemann 1999 and, for references to the older literature, Marenbon 1987, 214 f.
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which does not have such a connection, I shall use the description ‘antiquated philosophy’. Where past philosophy is not antiquated, no special justification needs to be sought for studying it, because it clearly needs to be studied as part of studying and practising contemporary, living philosophy. By contrast, when it is antiquated, then studying it needs special justification, beyond whatever justification there is for studying philosophy itself. Most historians of philosophy, and many philosophers themselves, will object to the label ‘antiquated philosophy’. ‘Antiquated’ carries the implication of no longer being of value. A computer is antiquated when it can no longer function with up-to-date programs, a custom is antiquated when it serves no purpose in the modern world, but can philosophy be antiquated? Yet it is not a description that should be lightly dismissed. We speak of ‘antiquated medicine’ and ‘antiquated physics’, and we do not expect today’s doctors or physicists to devote professional time to them. If there is a difference to be made in this respect between these subjects and philosophy, it needs to be described and argued for. Indeed, this is precisely what is done by some of the justifications for studying antiquated philosophy – they try to show that, in one way or another, even if philosophy of the past lacks a connection with philosophy now, it remains valuable. The pejorative implication in the expression ‘antiquated philosophy’ is useful precisely because it points out the burden is on those who study it to provide a justification of this sort or another. It is easy to be lulled into a false security by the fact that even the most analytical Department of Philosophy include in their undergraduate courses a few great texts of philosophy from the past, including some that are, arguably, antiquated. Since everyone agrees that such texts should be read, there must be some reason to read them – so it is tempting to think. But maybe they are there on the syllabuses just because no one has thought to remove them, or because philosophers think, quite irrationally, that a show of historical knowledge gives weight to their ideas. For those whose special interest is medieval philosophy, the need to find a justification is particularly pressing, because so much of it is antiquated. Writers from the Middle Ages like Anselm, Aquinas and Scotus do provide the points of departure for some parts of contemporary work in philosophy of religion, and so there are a few aspects of their thinking that are not antiquated – but just a few. Here, then, are six types of justification for studying antiquated philosophy. They certainly do not cover the whole range of possible justifications, nor all the positions different writers take. But much of the debate about this area relies on a version of one or another or a combination of these views –
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as, indeed, will a sixth type of justification, my own, which borrows something from most of these positions, but also offers something new. (a) The ‘Philosophical’ Approach. Arguments and positions in antiquated philosophy can be found which contribute usefully to contemporary discussions. This position is tantamount to saying that some or all antiquated philosophy is antiquated only until it is rescued by someone who forges a link, missing until now, between it and present-day philosophizing. Its advocates accept the idea that philosophy can become antiquated, but being so is a provisional condition (though presumably they accept that much past philosophy will always remain antiquated). It is hard to fault this argument in theory – if the philosophy ceases to be antiquated, then studying it no longer needs a special justification. But can arguments and positions in antiquated philosophy really be made to contribute usefully to contemporary discussions? There are examples (for instance, Aristotle’s virtue ethics, which was once antiquated but has been made into a starting-point for some of the liveliest contemporary discussions), but they are few and far between. Since the context of contemporary philosophy, many of the concepts and the questions asked are so different from those in antiquated philosophy, it would seem very hard for passages in it to be directly useful. Certainly, these philosophers of the past may have contributed important ideas and arguments which have become absorbed into the tradition of philosophy and have been gradually adapted into the different contexts and languages of philosophy as it has changed. But then these ideas and arguments will already be there, in the tradition which students of philosophy learn as part of their apprenticeship, in a form in which they are useful, without there being any need to go back to the old texts themselves. It is sometimes said that there are directions of thought in past philosophy which, it just so happened, were not followed up and were not absorbed into the philosophical tradition, although they have the capacity to be philosophically fruitful. It is for the expert historian of philosophy to search out these forgotten treasures, it is held, and present them to contemporary philosophers in a form in which they can use them in their own philosophizing. So Gisela Striker writes: ‘there is the possibility of finding in an older author different and illuminating perspectives that have, for one reason or another, been forgotten or neglected by the more recent tradition.’ But does this happen much in practice? Striker cites, rightly, the example of Aristotle’s ethics and also mentions Kant’s – but had Kantian ethics ever become antiquated? She also mentions psychology, “where philosophers have tried to look back beyond Descartes for theories that are
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not tied to the dualism of mind and body.” (Striker 1996, xiii2) But medieval non-dualist theories are so different from contemporary ones in their basis – even with regard to where any distinction between mind and body might be drawn – that it is hard to say how they can be used by philosophers now; and they do not in fact seem to have been used. Anyway, are new philosophical insights so difficult to come by that it makes sense to learn some difficult ancient language, spend years searching around in neglected – usually justly neglected texts – in the hope, one day, of unearthing an original thought that had been forgotten and might, in some way, be of interest to philosophers now? Would it not be simpler just to sit down and think about the contemporary problems? (b) The ‘Historical Approach’. Antiquated philosophy should be studied as history, and is valuable as such. Proponents of this position respond to the challenge posed by the notion of antiquated philosophy by asking what is wrong with being antiquated. We naturally have an interest in our past, they say, and part of our past is the philosophy that was written then. We need to investigate it as we investigate other types of history, by telling a causal story, explaining how and why Aristotle, for instance, came to think the things he did (and which were different from what Plato had thought), or how and why the questions that fascinated the Parisian philosophers at the end of the twelfth century were abandoned by the middle of the thirteenth for almost entirely different ones. Such a story will have to take full account of all the factors, external and internal, that accounted for these developments – political and economic changes, broad cultural movements, developments in educational practice. The history of philosophy is, then, intellectual history, and intellectual history is just another branch of history, to be justified because it answers our curiosity about the past. There is no more reason to neglect a piece of philosophizing because it is antiquated – unconnected with present debates – than there would be to stop studying trebuchets because they have no part in modern warfare. Yet when the history of philosophy is told in this way as intellectual history, it rarely satisfies those who have a philosophical training and know the texts well. The analysis seems superficial, if it can be called an 2
As part of a brief but multi-faceted justification. Striker also mentions “epistemology, where empiricism, at least in the Anglophone tradition, seems to have reached the status of an obvious fact rather than a philosophical theory.” Here the sort of contribution which Striker has in mind for antiquated philosophy seems not to be so much directly providing ideas or arguments, but showing how a whole area can be envisaged otherwise – on which, see below, (f) Making the Familiar Strange.
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analysis at all. And when a deeper analysis of arguments is given, historians lose interest, because the discussion has become too technical, too philosophical. (c) The Division of Labour Approach A way of overcoming this inadequacy in the ‘Historical’ Approach might be by a division of professional spheres – so the distinguished writer on medieval philosophy Calvin Normore has suggested.3 The intellectual historians tell the causal story, without worrying too much about analysing arguments. The historians of philosophy analyse the arguments, with little concern for causal stories. Everyone is happy. Or perhaps not – because there are two problems that remain. First, since the historians of philosophy seem not to have historical ends primarily in view – those ends are for the intellectual historians – their ends are presumably philosophical ones; and so they still need to find some adequate justification for those ends. Second, many of the causal stories the so-called intellectual historian should want to tell will involve internal analysis of arguments of the sort which the division-of-labour view assigns to the historians of philosophy, because more often than not the causes why philosophers write what they write are internal: because A saw that the third step in B’s argument failed on account of an equivocation; because C wanted to accept D’s first and third premises, but not the second, which was inconsistent with what he had established earlier … The labour cannot, therefore, be neatly divided. (d) The Great Philosophers approach. Philosophy is so difficult that there have only ever been a handful of really great philosophers. The great philosophers are worth studying whenever they wrote. Explaining why it is worth reading Aquinas, Anthony Kenny (1993, 9) writes: Philosophy is so all-embracing in its subject-matter, so wide in its field of operation, that the achievement of a systematic philosophical overview of human knowledge is something so difficult that only genius can do it. So vast is philosophy that only a wholly exceptional mind can see the consequences of even the simplest philosophical argument or conclusion. For all of us who are not geniuses, the only way to come to grips with philosophy is by reaching up to the mind of some great philosopher of the past.
Kenny is putting with characteristic force and clarity a view that is often held, though not fully articulated, as a reason for studying some philosophy 3
See Normore 1990. I am following Normore roughly here, dropping his idiosyncratic labeling of the philosopher’s approach to past philosophy as ‘doxology’.
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of the past. Kenny combines the idea, as an exponent of this ‘Great Minds’ view is well advised to do, with a rejection of progress in philosophy in any normal sense of the word. There are non-philosophical matters, such as truths in the natural sciences, where we now know more than people in the past, but ‘philosophical progress is largely progress in coming to terms with, in understanding and interpreting, the thoughts of the great philosophers of the past.’ Even if it is accepted, this line of justification does not justify studying lots of what historians of philosophy (especially medieval philosophy) do actually study – for instance, an anonymous commentary on Aristotle’s Categories from the twelfth century, patched together from the teaching of various uninspired, mediocre, imitative logicians, or the ruminations of an uninspired disciple of Scotus. Moreover, the view that philosophical progress consists in a dialogue with past thinkers does not seem to reflect accurately how work goes on in most of the specialized areas of analytic philosophy, where so much of the debate concentrates on attacking, extending or qualifying the most recent contributions to it. True, texts by philosophers of the past have often been the starting-points for these debates, but then these texts are precisely those which are not labelled here as ‘antiquated’. (Very few of them are from the Middle Ages). Although this view is not, then, entirely credible, it contains two very interesting suggestions. First, it proposes a somewhat aesthetic approach to philosophy, in which a work of philosophy is valued not because of the number of conclusions it proposes that we are likely to find wellestablished and wish to accept, but because of how well, how deeply and broadly, it goes about the task of thinking philosophically. Secondly, this view addresses itself, apparently, to philosophers, or would-be philosophers, but it does not promise them direct answers to their questions or contributions to their discussions from the philosophers of the past. Rather, it says that people need to read the great philosophers (who are few, and most of them antiquated) in order to see how philosophy is done at its best. Studying philosophy from the past makes a contribution to doing philosophy now, but an indirect, second-order one. (e) The Philosophy as Literature approach No one (except sometimes for officials in government departments) says that, because Homer or Virgil or Shakespeare or Goethe lived long ago, and the literary styles and ways of thought they used are far from today’s, they are not worth studying, probably more so than even the best poetry being written today. It might be argued that the same is true of good philosophy from the past. It is no more subject to becoming antiquated than the Iliad, Aeneid or King Lear.
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This view has something in common with the last one; both see works of philosophy in quasi-aesthetic terms. In one way, this approach has much to recommend it. The Republic or the Meditations, we might want to say, are books everyone should read, just as they should read the Iliad and King Lear, or they will remain ignorant of what human culture has achieved. But this parallel is not quite exact. The discrepancy is brought out if one asks whether, by the same token, everyone should read Aristotle’s Prior Analytics or Scotus’s Ordinatio: as philosophy, these works are equally great or greater, but they could never have a large public, because of their complexity and technicality. If their value is to be considered aesthetic, it will be more like that of the aesthetic value of a mathematical proof, evident only to the eyes of highly-trained practitioners of a specialized discipline. (f) Making the Familiar Strange Bernard Williams was a subtle and original contemporary philosopher, who also had a strong interest in the history of philosophy and wrote frequently on it.4 Although he sharply distinguished himself and his philosophical approach from that of an historian of ideas, he did not share the usual aim of the Philosopher’s approach of arriving at a continuity between a philosophical text from the past and present-day philosophers’ arguments and positions. On the contrary, he sees the history of philosophy as, in part, “of making the familiar seem strange.” “To justify its existence”, says Williams, the history of philosophy “must maintain a historical distance from the present, and it must do this in terms that sustain its identity as philosophy. It is just to this extent that it can indeed be useful, because it is just to this extent that it can help us to deploy ideas of the past in order to understand our own.” (Williams 2006, 259)5 Williams’s idea indicates a way in which antiquated philosophy can serve philosophy now, in virtue of its being antiquated! It is a very attractive view but one that has yet to be developed in more detail. Merely exposing contemporary philosophers to a discussion of a kind that fails to engage with their interests is not likely to have much direct effect. The 4 5
See Williams 1978, 1993, 2006. In a planned general essay on the history of philosophy, for which Williams made notes, he would have written, according to his friend Adrian Moore (Williams 2006, ix–x): “The contribution [of the history of philosophy to philosophy J.M.] was not, as philosophers in the analytic tradition used to think, to indicate voices of yore which could be heard as participating in contemporary debates: precisely not. It was to indicate voices of yore which could not be heard as participating in contemporary debates, and which thereby called into question whatever assumptions made contemporary debates possible.”
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manner of the indirect effect that may be intended needs to be further explored. Moreover, maybe it is limiting to present the value of the history of philosophy just in terms of how it can help contemporary philosophers, even if that is one of its important functions. (g) A better justification? My own justification for studying antiquated philosophy, drawing on many of the ideas just sketched, is this: Studying the history of philosophy (most of which is antiquated) is a way – a very good way, and probably an indispensable one – of coming to understand what philosophy is. In their ordinary work, philosophers are engaged in posing and trying to resolve philosophical problems; one of these problems, which should be central for any genuinely committed philosopher, is the question of what philosophy is: what sort of questions philosophical questions are, and how and to what end they can be answered. This problem, then, is a second-order problem, a reflection about philosophers’ first-order activity. It is an open-ended problem, and knowing about the history of philosophy helps – arguably, is intrinsic to – exploring it. For philosophy is not a natural kind, but a human practice, or rather, a family-resemblance of human practices, and understanding what it is rests on understanding how it has been practised in history, what has been common to it, and what diverse, in different social and cultural circumstances. If it is to meet this justification, history of philosophy must be pursued in a way which always violates the distinction of spheres between historians of philosophy and intellectual historians by advocates of the Division of Labour Approach. It must be a study of arguments, by those who understand the arguments as philosophers (and so consider what objections can be raised to them, how they could be extended or adapted), but of arguments as developed in a real historical context, where external factors played a part, too, in shaping how this or that individual reasoned on a given subject. Such an approach can profitably used with any philosophy of the past, antiquated or not. So, for instance, Frege might both be studied for his direct contribution to the living tradition of philosophy and in a more historical way, for the second-order illumination which studying his thought in this manner can provide. This justification incorporates some aspects of the five discussed above, whilst rejecting others. It shares with ‘Philosophical’ Approach the idea that studying the history of antiquated philosophy is, at least in part, justified by its value to working philosophers now, but like Williams’s Making the Familiar Strange it rejects the idea that antiquated philosophy helps today’s philosophy in so far as it contains ideas very close to theirs, so that it can
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become like another voice in the contemporary debate. Indeed, it goes further and sets aside the view that antiquated philosophy helps philosophers to answer first-order philosophical questions; rather, it is of the greatest value in answering a central second-order question. It shares with the ‘Historical’ Approach the view that the past of philosophy needs to be approached and appreciated as history, but it rejects the idea that it is part of an ordinary intellectual historian’s purview. Philosophy is, indeed, included within the field discussed by intellectual historians, but, writing for a general audience, and usually themselves without specialized philosophical training, they can only treat philosophy from the outside; just as they might treat music, but can do so only externally, and not in the manner of an historian of music, writing for a technically qualified audience. There is, then, a division of labour, but not the one envisaged in the Division of Labour view. The intellectual historians do just that – intellectual history, even when they are writing about philosophy. But, because they are not entering into specialized philosophical questions, they have the great advantage of being able to write for the wide audience of those with a general interest in history and intellectual matters. The historian of philosophy is, no less than them, a genuine historian, of philosophy. But his or her audience will be much smaller. The Great Philosophers approach can also fit with this conception of the history of philosophy, since one of the reasons for philosophers to read the classics is to understand the nature of their subject. But, more importantly, it and the Philosophy as Literature approach can provide a valuable alternative way of justifying antiquated philosophy to a different and wider audience. The aesthetic justification for reading antiquated philosophy is a way of claiming a role for some outstanding texts of philosophy from the past within the broad run of cultural life, whereas my justification is for history of philosophy conceived as a specialized discipline within philosophy. There are, then, three different, justifiable ways of studying antiquated philosophy: (i) As a specialized historical discipline within philosophy, designed to help philosophers understand their subject better and answer secondorder questions about it. (ii) Within more widely accessible intellectual history, along with other intellectual phenomena, by intellectual historians. (iii) As part of general education, in the form of reading and introductory commentary of great philosophical texts from the past. My special concern is with (i), which alone grounds the history of philosophy as an individual academic discipline. But (i), (ii) and (iii) are interconnected. Research and writing in (i) fructifies work in (ii) and (iii).
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II. The problem of medieval philosophy and religion When a specialist explains to a stranger that he works on philosophy in the Middle Ages, the most common question is: “But wasn’t that all religious?” Though they might put it in a more sophisticated way, a similar feeling is at the basis of many contemporary philosophers’ lack of interest in, or even hostility towards, this area of their history. Even if studying antiquated philosophy can be justified in the way suggested above, they might argue, the justification does not apply to medieval philosophy, because it is not philosophy at all, but a sort of theology. One answer to this objection would be to identify the large areas of medieval philosophy that are not at all based on revealed religion: in the Latin West, all the work in logic and all the writings in the Arts Faculties; much of the tradition of falsâfâ in Arabic; the Byzantine tradition of Aristotelian commentaries. There are a number of excellent historians of philosophy who, in practice, confine themselves to this material, and it is certainly open for an individual to do so. But to remove most of Aquinas and Maimonides, much of Ockham, almost all Anselm and Scotus and, indeed, most of the best fourteenth and fifteenth-century thinking from the realm of philosophy altogether is to pay far too high price for an answer to this objection. And the objection is misplaced. As said above, philosophy is a family-resemblance of human practices, not a natural kind open to some sort of essential definition. And it is clear from its history that philosophical and religious discussion and indeed practice have been intertwined at most times and in most places; indeed, that a central theme in philosophy has usually been its relation to religion. Rather, then, than rejecting much of medieval philosophy because large parts of it involve premises taken from revealed religion or are circumscribed by doctrines accepted by faith alone, philosophers should realize that by studying this very feature of it they will be helped to reach a better understanding of what it is that they are doing now, however little religious questions may figure in their version of the contemporary agenda. The objection might, though, be put in a different and subtler way. The historian has a duty to respect historical truth. There were, indeed, some areas of philosophical thinking in the Middle Ages that were, at the time, recognized as discrete from revealed religion. When writing about the history of medieval thought, either – it is argued – a sharp distinction of the sort just rejected must be made between pure philosophical material and everything else; otherwise there will be no principled way of selecting from, for instance, Aquinas’s Summa Theologiae, material about philosophy of mind, individuation and identity, semantics and the virtues, and leaving behind discussion of the Trinity and Incarnation, grace, the Eucha-
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rist and the Last Judgement. As a result, a great deal of the discussion will fall outside the range of even a broad-minded philosopher’s interests. Such an objection does not take account, however, of the complexity of the relations between a historian and his or her subject-matter on the one hand, and audience on the other. All history writing is partial: historians cannot but reflect their own interests and framework of ideas, and the audience and purpose for which they are writing, in choosing their evidence and interpreting it.6 Each account aims to be true, but there are many different true accounts of the same area to be written. Historians of philosophy are writing for philosophers, and so it is their duty to focus on those areas of the material which are of present philosophical interest (even though the antiquated texts will rarely discuss exactly the questions now at issue). They are, then, justified in studying works like Aquinas’s Summa theologiae or Scotus’s Ordinatio, which are written as theology, and choosing just those parts of philosophical interest, although they certainly need to give enough attention to the theological and other context to be able fully to understand the author’s train of thought. The links between medieval philosophy and religion might be taken, however, in a quite different sense. To some Christians (the case seems different, for various reasons, for Muslims and Jews with regard to their traditions of medieval philosophy) studying the philosophy of medieval Christian Europe is not in need of the sort of justification I have been trying to make for antiquated philosophy in general, because it, rather than any of the more recent schools of philosophy, seems to provide a sophisticated and, at least in large part rational, way of thinking which supports Christian doctrine. Believers would be ill-advised to use medieval philosophy for this purpose. In the Middle Ages (and, in fact, for a much longer period) there existed a widely-held set of presuppositions, metaphysical and moral, which made it seem plausible that many (though not all) aspects of Christian doctrine could be defended by philosophical reasoning as important general truths about the world. These presuppositions are no longer generally accepted, and without them the philosophical arguments by which earlier thinkers bolstered Christianity are usually found to fail. Religious believers can, indeed, turn to various areas of contemporary philosophy to find well-considered, serious arguments to show that their outlook is no less rational than that of those who reject religious belief. But antiquated philosophy is a very weak ally for them in a present battle. 6
For a beautiful exposition of a theory along these lines, which has greatly influenced my thinking, see Williams 2002, 233–269.
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III. Why we should not study medieval philosophy The idea of a Middle Ages, as is well known, was introduced into history by Renaissance writers who wished to separate themselves from their immediate past and so strengthen their links with Antiquity. The early historians of philosophy, to some extent at least, followed this period division, and it had become fully established by the time of nineteenth-century historians of philosophy, such as Victor Cousin and Barthélémy Hauréau. Neo-scholasticism gave an added reason to consider medieval philosophy as a discrete period. The influence of neo-scholasticism passed, and styles of treating the history of philosophy changed, but the label ‘medieval philosophy’, and the idea that there it names a distinct subject-area constituted by philosophy from the eighth century (with perhaps the addition of some earlier Christian authors such as Augustine and Boethius) to c. 1500 (or perhaps later: see below), has persisted.7 Publishers ask for Histories of Medieval Philosophy; jobs are advertised in the area and universities run courses in medieval philosophy (or, more often, candidates are turned away from jobs because they are perceived as medievalists and, in the UK almost universally, universities do not run a course precisely on the area which is considered medieval philosophy). Specialists in philosophy from c. 500/600/700–c. 1500 have made for themselves an apparently well-identified enclave, and all together in it they stand – or, more usually, fall. But why accept the standard chronological division as a useful one? Even if in political, economic and cultural history, the Middle Ages forms a coherent unit of study, rather than a convenient administrative division – and that is far from certain, there is no reason to expect that the history of philosophy should best be divided up in the same way. Moreover, once the accepted division begins to be scrutinized, it starts to seem less clear and coherent than at first sight. As regards the Latin tradition: if we begin with Augustine, at the end of the fourth century, on what grounds should we exclude Proclus, Simplicius and the other late ancient Greek pagan writers? And, at the other end, it is usual to include thinkers like Suárez (d. 1617, well into Descartes’ lifetime) within medieval philosophy, whilst excluding, for instance, Ficino (d. 1499). And, although regarded from the perspective of Latin tradition, the Arabic tradition is often considered to end with Averroes, from a more properly Islamic perspective there is no reason not to include Mulla Sadra (d. 1636) or indeed later seventeenth and
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On the historiography of medieval philosophy, see Imbach/Maierù 1991 and, especially for neo-scholasticism in the nineteenth century, Inglis 1998.
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eighteenth-century work, especially in logic, which is part of the Avicennian tradition.8 One option would be to abandon set periodization altogether. People would specialize in the history of philosophy, and within that they might choose one or more authors or specific periods and areas (e.g. the Stoics at the time of Chrysippus, ninth/tenth-century philosophy in Baghdad, twelfth-century philosophy in France, philosophy in sixteenth-century Northern Europe), without grouping these into larger divisions such as ancient philosophy, medieval philosophy, early modern philosophy. But there is, arguably, a continuous tradition that runs from the time of Plotinus through until Leibniz, and there are gains in understanding from trying to become acquainted with it as a whole. (In the Arabic tradition, this period would stretch forward to the seventeenth century too; in the Jewish tradition to Spinoza, and in Byzantium it could include the philosophy which continued to be done there for a century or so after the fall of Constantinople.) Of course, Plotinus and the Neoplatonists depend on their predecessors, especially Plato and Aristotle. But Plato and Aristotle are transmitted to the later tradition as envisaged and ordered by the Neoplatonic tradition, although it was open to later thinkers to go behind this interpretation, at least in the case of Aristotle, since they had translations of his own texts. And there are, certainly, important discontinuities between Descartes, Spinoza and Leibniz and the various traditions of philosophy in the previous centuries, and important continuities between their thinking and that of Hume and Kant. But long period divisions are not exclusive, and they never have sharp edges. For some historians of philosophy to specialize in the longue durée from Plotinus to Leibniz does not exclude others starting with Descartes and going on to Kant or later, and others starting with Plato and finishing with Simplicius.9
Literature Aertsen, J.A./Speer, A. (eds.), 1998: Was ist Philosophie im Mittelalter? (Miscellanea Mediaevalia 26), Berlin/New York. Cameron, M./Marenbon, J. (eds.), 2011: Methods and Methodologies in Medieval Logic (Investigating Medieval Philosophy 2), Leiden/Boston. Flasch, K., 1987: Einführung in die Philosophie des Mittelalters, Darmstadt.
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I have tried to give a little more detail to these arguments in Marenbon 2007: see esp. 2–4, 249 ff. I am very grateful to Marcel van Ackeren for his very valuable advice and criticism when I was composing this paper for the conference.
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Imbach, R./Maierù, A. (eds.), 1991: Gli studi di filosofia medievale fra otto e novecento. Contributo a un bilancio storiografico (Studi e testi 179), Rome. Inglis, J., 1998: Spheres of Philosophical Inquiry and the Historiography of Medieval Philosophy (Brill’s Studies in Intellectual History 81), Leiden/Boston/Cologne. Kenny, A.J., 1993: Aquinas on Mind, London/New York. de Libera, A., 2000: Archéologie et reconstruction. Sur la méthode en histoire de la philosophie médiévale, in: Un siècle de philosophie, 1900–2000 (Folio essais), Paris, 552–587. Marenbon, J., 1987: Later Medieval Philosophy (1150–1350). An Introduction, London/New York. —, 2000: What is medieval philosophy?, in: J. Marenbon, Aristotelian Logic, Platonism, and the Context of Early Medieval Philosophy in the West, Ashgate, 128–140. —, 2007: Medieval Philosophy. An historical and philosophical introduction, London/New York. Rosemann, P. W., 1999: Understanding Scholastic Thought with Foucault, New York. Striker, G., 1996: Essays on Hellenistic Epistemology and Ethics, Cambridge. Williams, B.A., 1978: Descartes. The project of pure enquiry, Harmondsworth. —, 1993: Shame and Necessity (Sather Classical Lectures 57), Berkeley/Los Angeles. —, 2002: Truth and Truthfulness, Princeton/New Jersey. —, 2006: The Sense of the Past. Essays in the history of philosophy, ed. by M. Burnyeat, Princeton/New Jersey/Oxford.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? Ludwig Siep I. Seit vielen Jahren halte ich Vorlesungen über die praktische Philosophie der Neuzeit in mehreren Folgen.1 Darin werden die zentralen Texte der Ethik und der politischen Philosophie (Rechtsphilosophie, Staatsphilosophie etc.) von Hobbes – nach einem Vorspiel mit der Gegenüberstellung von Thomas und Machiavelli – über viele Stationen bis ins 19. Jahrhundert interpretiert, kritisiert und auch auf gegenwärtige Fragestellungen bezogen. Natürlich hält man Vorlesungen nicht nur für die Studenten, sondern auch, um in seinen eigenen wissenschaftlichen Arbeiten voranzukommen. Warum halte ich es für wichtig, diese Texte zu interpretieren und zu verstehen, die Studenten damit vertraut zu machen und Beiträge für die wissenschaftliche und öffentliche „community“ zu schreiben? Wie rechtfertige ich das nicht nur vor dem „Steuerzahler“, sondern auch vor der wissenschaftlichen Öffentlichkeit (wie in diesem Buch), aber auch vor mir selber? Rechtfertigung gibt es ja nicht nur, wie man heute oft verkürzend sagt, vor anderen und der Öffentlichkeit, sondern auch vor sich selbst. Warum also quäle ich mich mit Kommentaren? Warum befrage ich Texte des 17.–19. Jahrhunderts unter aktuellen Gesichtspunkten wie Menschenrechten, soziale Gerechtigkeit, Gewaltenteilung, gerechtfertigter Krieg etc.? Solche Fragen zu stellen, ist nicht nur „Gewissenserforschung“ (möchte ich etwa nur gerne zu schönen Vortragsreisen eingeladen werden, ein sicheres Gehalt bekommen, anerkannt werden?), sondern auch Teil des sinnvollen oder erfüllten Lebens (lohnt sich das für mich und andere? Gibt es nichts Wichtigeres zu tun?). 1
Die Probleme historischer und philosophiehistorischer Epocheneinteilungen können hier nicht erörtert werden. In der Philosophiegeschichte gilt heute in der Regel das 17. Jahrhundert als Beginn der neuzeitlichen Philosophie. „René Descartes ist in der Tat der wahre Anfänger der modernen Philosophie“, heißt es schon in Hegels Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie (Hegel 1976b). Hegel lässt den Abschnitt Neuere Philosophie allerdings mit einem Abschnitt über Bacon und Böhme beginnen. Weltgeschichtlich ist für ihn die Reformation der Beginn der Neuzeit.
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Rechtfertigungsfragen dieser Art sind selber schon typisch philosophisch, aber in einer bestimmten Form auch spezifisch neuzeitlich. Denn wir stellen sie in einem bestimmten Kontext: innerhalb einer Philosophie, die ihre Aussagen wissenschaftlich begründen will und sich dabei meist heimlich an den Standards von Mathematik oder Naturwissenschaften orientiert. In vielen Fällen stellen wir sie als Universitätsphilosophen, die an einer staatlich finanzierten Lehr- und Forschungseinrichtung tätig sind; als Bücherschreiber, die manchmal auch von einer breiteren Öffentlichkeit gelesen werden wollen; als Individuen, die in allen Bereichen das Recht – und manchmal auch die Pflicht – haben, an sich und die anderen Rechtfertigungsfragen zu stellen usw. Offenkundig sind neuzeitliche Werte und Rechte hier mit im Spiel: Gewissens-, Überzeugungs- und Meinungsfreiheit, säkulare Universitäten, Beamtenstatus in einem Anstaltsstaat (Max Weber), Rechte auf geistiges Eigentum, Ideale der Originalität usw. Was das bedeutet, etwa im Unterschied zum Status eines gelehrten Mönchs in einem mittelalterlichen Kloster, kann man sich nur klar machen, wenn man die Entwicklung von Gesellschaften, Rechten und Institutionen und ihre Begründungen bei Philosophen des 17. bis 19. Jahrhunderts versteht. Natürlich sind die Fragen als solche nicht ausschließlich neuzeitlich: Sie finden sich bei den griechischen Sophisten, die den Nutzen ihrer bezahlten Lehre verkünden, sowie bei Sokrates und Platon, für die Philosophie unbezahlbar, aber von höchstem moralischen und religiösen Wert ist. Sie finden sich in öffentlichen Werbeschriften des Neuplatonismus (etwa dem Protreptikos des Jamblichos aus aristotelischen Quellen) oder in Verteidigungen der vita contemplativa im Mittelalter oder der Renaissance.2 Aber in diesen Schriften ist „Rechtfertigung“ – vor Gelehrten und Bürgerschaft, dem Gewissen und Gott – doch etwas anderes als seit dem Beginn der Epoche, die wir in der Philosophiegeschichte „Neuzeit“ nennen. Wer es mit „praktischer Philosophie“ zu tun hat, scheint es in diesen Fragen vergleichsweise leicht zu haben. Zumindest eine Bedeutung von „praktisch“ in der Umgangssprache ist „nützlich, brauchbar“. Traditionsgemäß ist die praktische Philosophie (philosophia practica universalis und specialis) allerdings etwas, das es mit der Praxis, dem Handeln zu tun hat. Und das kann man auch ganz „theoretisch“ erklären, wie es etwa heute die Handlungstheorie tut (die man ebenso gut der theoretischen wie der prakti2
Trotz der Überlieferungsprobleme und der neuplatonischen Überarbeitung durch Jamblichos gibt der Protreptikos eine Ahnung von der Rechtfertigung der Philosophie bei Aristoteles und im Platonismus. Vgl. Aristoteles 1969. Zu den Problemen der Rekonstruktion vgl. Flashar 1983, 279 f. Ein Beispiel der Hochschätzung für die vita contemplativa in der Renaissance – trotz Rehabilitierung des „bürgerlichen Lebens“ – ist Palmieri 1982.
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schen Philosophie zurechnen kann). In der Tradition von Aristoteles bis Christian Wolff hat sich diese Philosophie überwiegend mit den Regeln und Normen des richtigen Handelns beschäftigt – mit dem ethischen Handeln des Einzelnen, dem ökonomischen in Betrieben der Bedürfnisbefriedigung (sowohl der Produktion wie der Reproduktion)3 und schließlich dem politischen in einer Gemeinschaft unter öffentlich bekannten und sanktionierten Gesetzen des Erlaubten und Verbotenen. Die interne Gliederung der praktischen Philosophie hat sich in der Neuzeit aber grundlegend verändert, und zwar wegen der anderen Rechtfertigungsforderungen. Philosophen wie Hobbes und seine Nachfolger unternehmen es, die Existenz eines Souveräns mit Gewaltmonopol und umfassenden Gesetzgebungsbefugnissen vor der Vernunft, dem Interesse und den „natürlichen“ Rechten jedes Individuums zu rechtfertigen. Das Natur- und Vernunftrecht wird die Basisdisziplin. Da es in der Regel den bürgerlichen Zustand (status civilis) in einem Gesetzesstaat mit der Befugnis und der Macht zur Durchsetzung der Rechtsgesetze als vernünftig und vorteilhaft für jeden Bürger erweist, ist die Rechts- und Staatsphilosophie der darauf aufbauende Hauptteil der praktischen Philosophie. Mit der Ausdifferenzierung der sozialen Systeme und der Wissenschaften verschiebt sich das seit dem späten 18. Jahrhundert erneut: Es entstehen Sozialphilosophie, Geschichtsphilosophie und eine immer mehr „binnendifferenzierte“ Ethik (Metaethik, Allgemeine Ethik, Berufsethiken) – schließlich im 20. Jh. das, was viele heute mit praktischer Philosophie verwechseln, nämlich angewandte Ethik. Einen nochmals verschiedenen Begriff von praktischer Philosophie findet man heute auf dem Lehrplan von Schulen (etwa in NRW) als ein interdisziplinäres Fach der Auseinandersetzung mit und Vermittlung von Werten, Rechten, normativen Einstellungen, individuellen und kollektiven Identitätsmustern etc. Diese Verschiebung der Einteilungen in der Geschichte der praktischen Philosophie und ihre Begründung ist selber ein Thema der Philosophie – nicht nur aus historischen Gründen, sondern weil die Philosophie nichts unbefragt hinnehmen kann, auch nicht die Gegenstände und die Einteilungen ihrer selbst als Wissenschaft oder weiter gefasst (weil es auch wissenschaftsskeptische Philosophie gibt) als methodisches, allgemein nachvollziehbares Nachdenken. Wenn die Philosophie sich immer wieder bemüht hat, auch die („rein theoretische“) philosophische Einsicht und die Erforschung ihrer eigenen Geschichte als in sich wertvoll, als Erfüllung menschlicher Fähigkeiten und menschlichen Lebens zu verteidigen, dann gilt das auch für die prakti-
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D. h. vor der Industrialisierung im Oikos, dem Haus als Produktionsstätte und Ort der Erzeugung und Aufzucht des Nachwuchses, die später getrennt wurden.
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sche Philosophie. Selbst wenn wir aus ihrer Geschichte gar nichts für heutige Probleme lernen könnten, wäre schon das Verständnis für die Entwicklung des Denkens in sich wertvoll und sinnvoll. Das gilt im Übrigen natürlich für alle Wissenschaften, in denen es so etwas wie „Grundlagenforschung“ gibt, deren Nutzen für Technik, Medizin, wirtschaftliche Produktion, Geldverdienen oder Regierungskunst zweifelhaft oder unentschieden ist. Das Interesse an Wissenschaft als Quelle von Einsichten und Ausübung einer spezifisch menschlichen Kompetenz hat nicht nachgelassen und wird nach wie vor anerkannt. Ein Beispiel aus einem ganz aktuellen Anwendungskontext: Bei der Debatte um das Stammzellgesetz hat der Deutsche Bundestag den Erwerb von Grundlagenwissen über die frühen Entwicklungsphasen menschlichen Lebens als einen so hochrangigen Zweck anerkannt, dass er gegen eine nicht ganz auszuschließende indirekte Schwächung des Lebensschutzes abgewogen werden kann.4 Eine solche mögliche Schwächung wurde im Import von Zellen nach Deutschland gesehen, die in anderen Ländern legal durch Zerstörung befruchteter Eizellen hergestellt worden waren – ein Import, der im Prinzip verboten ist, aber doch ausnahmsweise erlaubt werden kann, unter anderem eben zum Erwerb hochrangigen Grundlagenwissens. Obwohl ich also die von „praktischem“ und sozialem Nutzen unabhängige Erkenntnis auch für die praktische Philosophie für gerechtfertigt halte – was hier natürlich nur angedeutet wurde – hat die Beschäftigung mit ihr auch einen Nutzen für das Wissen von und den Umgang mit heutigen sozialen Normen und Institutionen. Eine gewisse Art von „Orientierungshilfe“ in solchen Fragen ist ihr nicht abzusprechen. Das müsste natürlich noch viel genauer erörtert werden.5 Gerade wegen dieses „Praxisbezuges“ liegt in der Beschäftigung mit der Geschichte der praktischen Philosophie ein besonderes Problem bzw. eine Gefahr: Man kann die vergangenen Texte, Argumente und Intentionen unzulässig aktualisieren oder aber übermäßig historisieren. Es ist ein wenig wie bei der Interpretation des Verhaltens von Tieren. Da man sich nicht „in sie hineinversetzen“ kann, deutet man es entweder voreilig anthropomorph (die „Moral“ der Tiere, neuerdings sogar bis zu angeblich religiösen oder prä-religiösen Einstellungen) oder im Gegenteil als gänzlich menschenfern 4
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Forschungsarbeiten an importierten embryonalen Stammzellen dürfen nach § 5, 1 des Stammzellgesetzes (StZG) nur ausnahmsweise durchgeführt werden, wenn sie „hochrangigen Forschungszielen für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn im Rahmen der Grundlagenforschung oder für die Erweiterung medizinischer Kenntnisse bei der Entwicklung diagnostischer, präventiver oder therapeutischer Verfahren zur Anwendung bei Menschen dienen.“ (BGBl 2002, 2278) Vgl. zur Orientierung durch Philosophie auch Mohr 2008.
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– bis hin zu Descartes’ Maschinen und zur Haltung moderner Agraringenieure. Entsprechend streitet man sich in der Geschichte der Philosophie oder der „Ideen“ über die gänzlich andere Bedeutung, die schon Begriffe in Texten anderer Epochen haben, etwa in Luhmanns Rede von der „alteuropäischen“ Bedeutung von Begriffen wie Freiheit, Individualität etc.6 Aber auch bedeutende Historiker des Denkens wie Quentin Skinner betonen – manchmal m. E. etwas überpointiert – wie weitgehend Texte von Machiavelli, Hobbes oder Locke vom sozialen oder politischen Zeitkontext abhängen, dessen Denkmuster sie teilen oder auf dessen Probleme sie reagieren. Von der Theorie des „Überbaus“ oder der rein ideologischen Funktion der „bürgerlichen“ Denker der Neuzeit – von Borkenau bis MacPherson7 – noch ganz abgesehen. Auch dieses Thema kann hier nur gestreift werden. Im Folgenden gebe ich auf die Fragen der Relevanz der Beschäftigung mit dieser Epoche der praktischen Philosophie und der angemessenen Interpretationshaltung zu den Texten zunächst eine allgemeine thesenhafte Antwort, die ich dann an zwei Beispielen zu erläutern und belegen suche. Meine generelle Antwort zur Bedeutung der Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie lautet, dass wir davon vor allem zweierlei lernen: Erstens, unsere eigenen Denkvoraussetzungen und den moralisch-politischen Common sense bewusst zu machen und gegen Alternativen zu rechtfertigen. „Common sense“ verstehe ich einerseits im positiven Sinne des „überlappenden Konsenses“ über Fundamente des Zusammenlebens im pluralistischen Rechtsstaat, andererseits im negativen der „political correctness“ und der Suggestion von Unhinterfragbarem. Für den Common sense in beiden Bedeutungen kann man sich in der Auseinandersetzung mit vergangenen Texten und Argumentationen sowohl die Begründungsformen und -ressourcen als auch die „Beweislasten“ klar machen. Und zwar dadurch, dass man ihre heutige Form kontrastiert mit alternativen Grundvoraussetzungen in vergangenen Kontexten des Denkens und der Gesellschaftsformen. Von einer „Aktualisierung“, die diesen Autoren überraschende „Modernität“ unterstellt, indem man Texte so interpretiert, dass sie für heutiges Denken akzeptabel, vernünftig, oder besonders lehrreich erscheinen, halte ich nichts. Es bedeutet in den meisten Fällen, ihnen eigenes Denken zu implantieren. Gleichzeitig verschafft man sich Autoritätsstützen, auf die eine rationale Philosophie der Neuzeit seit Descartes verzichten muss. Wie gefährlich solche rückwärtsgewandte Selbstautorisierung sein kann, ist gerade in der neueren Politik an den zahlreichen Versuchen einer Instrumentalisie-
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Vgl. Luhmann 1997, Teil I, 289 (Anm. 179); Teil II, 893 f., 1025. Vgl. Borkenau 1934, Macpherson 1967.
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rung der Geschichte für nationale Identitätsbildungen sichtbar, vor allem nach dem Zerfall von Großreichen – von der deutschen Nationalbewegung des 19. Jh. bis zu den nach-sowjetischen Nationalstaaten. Zweitens lassen sich aber in der Tat wichtige Vorstufen für solche Normen und Institutionen finden, die wir heute mit guten Gründen verteidigen zu können glauben. Wir bekommen gute Argumente, und wir erkennen den historischen Erfahrungshintergrund, auf den sie reagieren – von der Kirchenherrschaft über den religiösen Bürgerkrieg und den Absolutismus bis zu den bürgerlichen und sozialen Revolutionen. Die Antworten, die sie darauf geben, sind auch unter veränderten historischen Umständen keineswegs obsolet.
II. Ich möchte diese Thesen im Folgenden an zwei Beispielen belegen: Zum einen an der Entwicklung der Argumentation hinsichtlich individueller Grundrechte (A), zum anderen an der Frage nach der Rechtfertigung des Krieges aus der Sicht des philosophischen Völkerrechts (B). (A) Die neuzeitliche praktische Philosophie geht davon aus, dass jede Freiheitsbeschränkung, vor allem die eines Staates mit zwangsbewehrten Gesetzen, vor jedem Individuum gerechtfertigt werden muss. Es genügt nicht zu sagen, dass die Herrschaft der Monarchen von Gott kommt (obwohl sich Philosophen wie Robert Filmer8 auch dafür gute Argumente ausgedacht haben), oder dass die Hierarchie der sozialen Stände einer gottgewollten Naturordnung entspricht. Zumindest seit Hobbes (1579–1688) gilt, dass jeder Mensch die gleichen Ansprüche gegenüber seinen Mitmenschen hat und dass man ihm zeigen muss, dass es gute Gründe für ihn gibt, auf einige davon zugunsten einer Gesellschaftsordnung zu verzichten. Das bedeutet keine faktische Gründung oder Neugründung des Staates, sondern die Angabe von Gründen dafür, dass es richtig ist, im Staat zu leben – und natürlich, in welchem Staat. Bei Hobbes ist das entscheidende Argument für das Leben im Staat, dass es einem erspart, ständig mit gewaltsamen Übergriffen anderer rechnen und für deren Verhinderung vorsorgen zu müssen. Wenn dazu jeder ständig gezwungen wird, bleibt das soziale Le8
Filmers Patriarcha, die zwischen 1645 und 1650 entstand, wurde seit Mitte der 1670er Jahre zur Verteidigung der paternalistisch-absolutistischen Monarchie der Stuarts, vor allem des katholischen Zweiges, benutzt. Bekanntlich ist sie der Angriffspunkt für die „liberalen“ Theorien von Locke, Sidney und anderen. Vgl. Somerville 1991 und Laslett 1970, 67–78.
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ben auf einem nahezu „tierisch“ unzivilisierten Niveau – nicht einmal diejenige Arbeitsteilung ist möglich, die nach Aristoteles schon im Dorf erreicht werden kann. Wenn man also zu einer solchen Rechteübertragung nicht gegen gute Gründe gezwungen werden muss, kann man sie sich in Form eines Vertrages vorstellen. Es geschieht den Vertragspartnern dabei kein Unrecht (volenti non fit injuria). Allerdings – und hier liegt der entscheidende Punkt der Weiterentwicklung, aber auch der Streit der Hobbes-Interpreten – kann man vom Ausgangspunkt eines an Freiheit, Selbsterhaltung und angenehmem Leben interessierten Individuums aus eigentlich nicht sagen, dass es auf alle seine Rechte verzichten würde. Hobbes spricht daher in einigen Versionen seiner Theorie, vor allem im Leviathan9, auch von Rechten, auf die man im Staatsvertrag nicht verzichten könne. Allerdings gibt es eine Reihe von Ambiguitäten in Hobbes’ Gedankengang. Zum einen betreffen seine Beispiele fast ausschließlich die Lebenserhaltung, und da ist das Nicht-verpflichtet-Sein zugleich ein Nicht-Können, denn das Streben nach Selbsterhaltung beherrscht den Menschen wie die Schwerkraft die natürlichen Körper.10 Darüber hinaus reicht nur das Recht auf Verweigerung belastender Aussagen gegen sich selber und das Recht, Verträge mit dem Staat einzuklagen, wenn man sich auf bestehende Gesetze berufen kann. Hobbes fährt aber an dieser Stelle fort: „Fordert oder beschlagnahmt der Staat aber etwas auf Grund seiner Gewalt, so ist dies kein gesetzmäßiges Verfahren, denn alles, was er kraft seiner Gewalt tut, geschieht auf Grund der Autorität jedes Untertanen, und wer ein Verfahren gegen den Souverän in Gang setzt, setzt es folglich gegen sich selbst in Gang.“ (Hobbes 1984, 170 f.)
Der Grund für diese Überlegung ist Hobbes’ Argument, durch den Gesellschaftsvertrag werde der Souverän von den Vertragsschließenden zu allen künftigen Handlungen autorisiert, er sei dabei Sachwalter des Willens aller. Diese universale Autorisierung, die jeder dem Souverän im Staatsvertrag erteilt, macht nicht nur jedes positive Gesetz, sondern auch jeden außergesetzlichen Akt zum eigenen Willen jedes Bürgers. Der Souverän kann sich also rechtens seinen eigenen Gesetzen jederzeit entziehen. Bei der Berufung auf solche Klagerechte haben wir es also – ähnlich wie bei Hobbes’ rudimentärem Widerstandsrecht, von dem noch die Rede sein wird – allenfalls mit einem für die Gültigkeit der positiven Normen folgenlosen Kon-
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Skinner 2008, 110. Auch da ist Hobbes nicht ganz konsequent, weil man im Kampf um Ehre auch sein Leben riskieren kann.
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flikt zwischen Mitteln der einzelnen und der kollektiven Selbsterhaltung zu tun. Hobbes wollte einen möglichen Konflikt zwischen Bürgern und Souverän über die Erfüllung des Vertrages nicht zulassen, weil er keinen Richter in einem solchen Konflikt für möglich hielt – dass die Kirche bzw. der Papst in der Vergangenheit diese Rolle spielte, ist für ihn eine der Hauptursachen für Bürger- und Herrscherkriege gewesen. Die Antwort, die John Locke auf diese Frage gibt, geht in die entgegengesetzte Richtung. Der junge Locke war zwar zunächst Hobbesianer und hat die Stuart-Restauration von 1660 gefeiert. Aber die Erfahrungen mit der absoluten Monarchie und den Gefahren der Rückkehr einer Papstorientierung haben ihn – wie seinen liberalen Förderer Shaftesbury und andere Kreise der „Opposition“ gegen die Stuarts – zu einer anderen Lösung gebracht. Sie greift auf das mittelalterliche Vertragsdenken in einigen Aspekten zurück, gibt ihm aber eine protestantisch-calvinistische Fassung. Für Locke ist die Rechteübertragung des Gesellschaftsvertrages ein an die Erfüllung der Vertragsinhalte gebundener Auftrag („trust“). Diese Inhalte sind vor allem die Rechte, die der Mensch von Natur besitzt, nämlich die Rechte an seiner Person und der von ihr durch Arbeit angeeigneten Umwelt: life, liberty, possession. Dass Locke diese Rechte manchmal im Ganzen „property“ nennt, hat viele Missverständnisse ausgelöst.11 In Wahrheit haben wir es hier mit dem Ansatz einer Theorie der Grundrechte zu tun – dem ersten in der neuzeitlichen praktischen Philosophie, wenn man von Spinozas Begründung der Freiheit des Denkens und der Meinungsäußerung absieht.12 Zu den „liberties“, den Grundfreiheiten des Menschen, gehört auch die Religionsfreiheit – Locke bemüht sich in seinen Toleranzschriften um den Nachweis, dass Gott an einem gezwungenen Glauben keinen Gefallen finden kann.13 Allerdings sind die sozialen Folgen dieser Toleranz bei Locke noch beschränkt. Zumindest für die aktiven Bürgerrechte der Wahl und der Amtsübernahme sind sie nur für protestantische Bekenntnisse in vollem Umfang begründet. Auch bei dieser Einschränkung ist die Bindung an eine außerstaatliche Autorität (Papst oder Sultan) in den anderen Religionen bzw. Konfessionen das entscheidende Argument.
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Locke 2007, 203f., 232–240, 308–310. Vgl. Spinoza 1994, Kap. 20. Spinozas weitgehende Gleichsetzung von Recht und Macht hindert ihn aber daran, daraus Abwehrrechte gegen eine mögliche staatliche Übermacht abzuleiten. Zur Theorie der Grundrechte bei Locke vgl. Laukötter/Siep 2010. „Die wahre und heilbringende Religion liegt in der inneren Gewissheit des Urteils, ohne die nichts für Gott annehmbar sein kann.“ (Locke 1996, 15) Zum grundrechtlichen Status der Religionsfreiheit vgl. Locke 2007, § 209.
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Eine außerstaatliche Autorität lässt Locke aber zu, nämlich die göttliche. Sie ist der Richter bei Konflikten zwischen den Bürgern und den staatlichen Gewalten, vor allem der Exekutive, aber u. U. auch der ihr übergeordneten Legislative. Bei dauerhaften, verbreiteten und schweren Eingriffen in die Grundrechte der Bürger ohne Aussicht auf eine verfassungsmäßige Hilfe ist die Anrufung des göttlichen Richters im Widerstandskampf gerechtfertigt. An die Stelle des Papstes tritt also das (protestantische) Gewissen und sein „appeal to heaven“. Dass Locke den göttlichen Richter wieder in Anspruch nehmen kann,14 liegt an seiner philosophisch begründeten Gottesidee. Bei der Skizze seines Gottesbeweises greift er dabei auf den cartesischen Ansatz der Evidenz aus der subjektiven Reflexion (Selbstbewusstsein, Gewissen) zurück. Die unbezweifelbare, aber nicht selbst hervorgebrachte endliche Subjektivität erfordert einen unendlichen geistigen Urheber, denn aus Materie kann Denken nicht entstehen. Diesem Urheber ist der Mensch zu eigen, sonst aber niemandem außer sich selbst. Zur Selbstverfügung gehört das grundsätzlich „rechtlich Meine“, die Grundrechte auf Leben und körperliche Integrität, Freiheit des Gewissens und der religiösen Überzeugung sowie das mit den eigenen Kräften ohne Schädigung anderer Erworbene (Eigentum im engeren Sinne). Lockes Konzeption des zum Schutz dieser Rechte notwendigen und durch sie legitimierbaren Staates schließt anders als bei Hobbes Gewaltenteilung, Primat der Legislative, Mehrheitsprinzip und eben das Recht zum Widerstand gegen schwere Verletzungen der Grundrechte ein. Das „demokratische“ Element der Volkssouveränität und der Mehrheitsherrschaft ist freilich bei Spinoza deutlicher entwickelt. Mehrheitsherrschaft ist für Spinoza dem Zustand der natürlichen Freiheit am nächsten und führt durch die gemeinsame Beratung und die Marginalisierung extremer Auffassungen in ihr auch zu besseren Resultaten. Das Widerstandsrecht ist bei Spinoza aber in hobbesscher Tradition „unterentwickelt“.15
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Damit soll nicht impliziert sein, dass Hobbes Atheist war – eine unter den Zeitgenossen und in der Forschung bis heute umstrittene Frage. Aber Gott als Urheber des Naturrechts kann bei Hobbes nicht wie bei Locke gegen das Recht des Staates zur Geltung gebracht („angerufen“) werden. Auch für Spinoza gibt es kein Natur- oder Gewohnheitsrecht, das eine Berufung gegen den Souverän rechtfertigte. Zwar hat der Staat neben der Gewaltlosigkeit die Freiheit zum Zweck (Spinoza 1994, 301), und die Unterdrückung wird zu seiner Schwächung führen. Spinoza trennt aber scharf die erlaubte Meinungsäußerung vom verbotenen Aufruf zum Widerstand oder widergesetzlichen Handlungen (ebd. 302 f.).
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Erneuert und von der theologischen Prämisse Lockes befreit wird es erst bei David Hume. Für Hume liegt es in der menschlichen Natur und den lang anhaltenden stabilen Gewohnheiten, dass man sich seine Rechte nicht von denjenigen nehmen lässt, die zu ihrem Schutz eingesetzt sind. Zwar gehen die staatlichen Gesetze in vielen Fällen über den momentanen Nutzen der Einzelnen und der gesamten Gesellschaft hinaus. Sie binden den Einzelnen auch dann, wenn sich seine Einsicht und sein Rechtsgefühl dagegen sträuben – weil der langfristige Nutzen gesellschaftlicher Stabilität nur durch Verlässlichkeit der Regeln gesichert werden kann. Aber auch die „Schranken der Untertanentreue“ beruhen auf stabilen Gewohnheitsregeln: „Dies ist denn auch die allgemeine Praxis und der allgemeine Grundsatz der Menschen. Keine Nation, die Mittel der Abwehr besaß, hat je das grausame Wüten eines Tyrannen ertragen, oder ist wegen ihres Widerstandes getadelt worden […] und nur die gewaltsamste Verdrehung des gesunden Menschenverstandes kann uns dazu führen, sie zu verdammen […]. Die Regierung ist nur eine menschliche Erfindung zum Besten der Gesellschaft. Wo die Tyrannei des Herrschenden dies Interesse ausschaltet, da zerstört sie auch die natürliche Verpflichtung zum Gehorsam.“ (Hume 1978, 304 f.)
Man muss also nicht erst Gott anrufen, sondern es genügt die hinreichend weit verbreitete Überzeugung der schwerwiegenden und anders nicht abzuwehrenden Eingriffe in die Rechte und grundlegenden Interessen der Menschen. Die deutsche Gesetzgebung hat an diese Überzeugung bekanntlich erst im Jahre 1968 angeknüpft und den Notstandsparagraphen 29, 4 ins Grundgesetz eingefügt: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe unmöglich ist.“ Es ist klar, dass dies ein besonderes Recht ist, dessen Anwendungsfall nicht im Vorhinein genau zu bestimmen ist und dessen Durchsetzung ein Staat in einer Verfassungskrise oder Revolution nicht garantieren kann. Aber zum einen kann es durchaus Rechtsfolgen haben, weil es die dadurch gerechtfertigten widergesetzlichen Handlungen der (späteren) staatlichen Pflicht zur Strafverfolgung entzieht.16 Zum anderen ist auch ein Recht von Bedeutung, über dessen Anwendung letztlich
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Vgl. dazu K.-P. Sommermanns Kommentar zu Art. 20,4. (Sommermann 2005, Rdn. 339, (S. 144) sowie 331 u. 332 (Verweis auf höchstrichterliche Urteile)). Vgl. auch Murswiek 2009 Rdn. 173, S. 834: „Das Recht zum Widerstand hat die Wirkung, andernfalls verbotenes Verhalten zu rechtfertigen.“ (mit Verweis auf Isensee 1969, 87 ff.)
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das Gewissen entscheidet und das eine „überkonstitutionelle“ bzw. „überpositive“ Bedeutung hat. Diese Bedeutung ist nicht nur „symbolisch“ in einem schwachen Sinne, sondern markiert die Grenzen der staatlichen Befugnisse in der Verfassung selber, wie das auch die Formulierungen zum Wesensgehalt der Grundrechte tun.17 Damit ist ein Anschluss an die Tradition der Virginia Bill of Rights, die von Locke geprägt ist, und der Menschenrechtserklärung der französischen Revolutionsverfassung hergestellt: „Das Fehlen eines Widerstandsrechts in der deutschen Verfassungsgeschichte sollte vor allem aus der Weite dieser Tradition eines menschenrechtsgewährleistenden freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates (kurz: des Verfassungsstaates) verstanden werden – und nicht aus der Enge eines positivistischen Etatismus.“ (Gröschner 2006, 281)
Es ist auch die deutsche philosophische Tradition, die an dieser Enge mitgewirkt hat.18 Auch Kant hat an der Hobbesschen Tradition festgehalten, dass ein staatlich sanktionierter Rechtszustand jeder Art von Bürgerkrieg vorzuziehen sei und für das Urteil über die Tyrannis keine rechtmäßige Instanz denkbar sei („Quis judicabit?“). Er begründet diese Position mit einem Widerspruch im Begriff eines vom rechtsetzenden Souverän autorisierten Rechtes gegen ihn selber. Gegen eine einmal etablierte Rechtsordnung ist kein Widerstand denkbar: „Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staats giebt es also keinen rechtmäßigen Widerstand des Volkes; denn nur durch Unterwerfung unter seinen allgemein=gesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher Zustand möglich.“ (Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 320)
Weder ein einzelner noch das ganze Volk können sich dagegen auf das Naturrecht oder das Gewissen berufen: „Denn da das Volk, um rechtskräftig über die oberste Staatsgewalt (summum imperium) zu urtheilen, schon als unter einem allgemeinen gesetzgebenden Willen vereint angesehen werden muss, so kann und darf es nicht anders urteilen, als das gegenwärtige Staatsoberhaupt (summum imperans) es will.“ (ebd., 318)19
17 18 19
Vgl. GG, Art. 19. Vgl. Mandt 1974. Dass „Kants Widerstandsverbot ausdrücklich auch angesichts extremster Rechtsverstöße durch die herrschende Autorität Geltung beansprucht“, betont zu Recht und mit vielen Belegen Zotta 2000, 221.
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Für den einzelnen Bürger gilt das ebenso, denn da der „Herrscher im Staat gegen den Unterthan lauter Rechte“, aber „keine (Zwangs)Pflichten“ hat, darf dieser auch den Handlungen des „Regenten“ gegen die Gesetze „keinen Widerstand entgegensetzen“. (ebd., 319) Schließlich steht auch einer Staatsgewalt wie etwa dem Parlament, ein solches Recht nicht zu, denn es kann „selbst in der Constitution kein Artikel enthalten sein, der es einer Gewalt im Staat möglich machte, sich im Fall der Übertretung der Constitutionalgesetze durch den obersten Befehlshaber ihm zu widersetzen, mithin ihn einzuschränken“ (ebd.).
Für Kant ist ein Zustand, in dem die staatliche Autorität nicht uneingeschränkt respektiert wird,20 nicht wie für Hobbes einfach ein Übel, sondern widervernünftig, weil die Vernunft schlechthin das Leben unter gemeinsamen willkür-beschränkenden Gesetzen fordert. Aber zum einen ist die Frage, ob solche rationalistischen Ja/Nein-Entscheidungen zwischen Herrschaft des Rechts und Herrschaft der privaten Willkür den seit der Antike diskutierten Fällen der Tyrannis wirklich gerecht werden – zumal im Lichte des Staatstotalitarismus und -terrorismus des 20. Jahrhunderts.21 Und zum anderen ist es selbst innerhalb des Kantischen Denkens nicht grundsätzlich zwingend, nicht nur die staatliche Rechtsordnung generell, sondern
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Das heißt nicht, dass eine theoretische Kritik ohne Absicht auf Widerstand („werktätig vernünfteln“, Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 318) bei Kant nicht zulässig wäre. Sie ist von Philosophen als „freien Rechtslehrern“ (Kant, Der Streit der Fakultäten, AA VII, 89) sogar gefordert, wie Kant in verschiedenen Schriften (vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, AA VII, 368 f.; Kant, Was ist Aufklärung, AA VIII, 37 f.) entwickelt. Dass er dabei allerdings kaum an Öffentlichkeit im modernen Sinne denkt, zeigt die Bemerkung im Streit der Fakultäten, nach der die „Stimme“ der Philosophen „nicht vertraulich an das Volk (welches davon und von ihren Schriften wenig oder gar keine Notiz nimmt), sondern ehrerbietig an den Staat gerichtet“ und dieser „ihr rechtliches Bedürfnis zu beherzigen angefleht wird“ (Kant, Der Streit der Fakultäten, AA VII, 89). Die Versuche, das NS-Regime als einen rechtlichen Naturzustand zu klassifizieren, gegen den das kantische Widerstandsverbot nicht greife, widerlegt treffend Zotta 2000, 218–221. Wohl gibt es bei Kant ein Recht und eine Pflicht, unsittliche Befehle des Staates nicht auszuführen („was […] dem inneren Moralischen widerstreite“) (Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 371), vgl. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 99 Anm., sowie Henrich 1967, 25 ff. Dass gegen den Zwang des Staates, des eigenen oder eines fremden, zu radikal unsittlichen Handlungen auch ein Recht zum Widerstand oder zum Verteidigungskrieg zu rechtfertigen wäre, scheint Kant – vor dem Zeitalter des Totalitarismus – aber offenbar noch undenkbar.
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auch das Urteil des „gegenwärtigen Staatsoberhauptes“ gegen Widerstand zu immunisieren, der sich ja auf die Idee des vernünftigen Rechts und des darauf beruhenden unverletzlichen „meum juris“ berufen könnte.22 Auch für Hegel gilt trotz seiner Kant-Kritik, dass das Leben im Staat nicht auf einem für alle vorteilhaften Vertrag beruht, der in bestimmten Fällen ungültig werden kann, sondern auf einem absoluten Gebot der Vernunft. Zwar ist das Recht für ihn nicht ein so geschlossener „Code“ wie bei Kant, sondern umfasst Ansprüche der Moralität, des Wohles und der Sittlichkeit gemeinsamer Traditionen, die nicht vollständig kodifizierbar sind. Der Imperativ, einem Staat anzugehören, dessen Entscheidungen nicht durch überpositive Rechte oder Gewissensurteile in Frage gestellt werden dürfen, gilt für Hegel erst recht. Um ihn jeder Instrumentalisierung durch Religionen und kirchliche Autoritäten, aber auch den Gewalttaten selbst ernannter Revolutionäre und romantischer Moralgenies zu entziehen, verleiht er ihm die Prädikate des aristotelischen unbewegten Bewegers („absoluter unbewegter Selbstzweck“, Hegel 1976a, § 258) und der christlich-neuplatonischen Tradition der „Vereinigung“ als Selbstzweck und sittlichen Bestimmung des Menschen.23 Zwar enthält der von Hegel publizierte Text der Rechtsphilosophie nicht die aus den Nachschriften und der Schülerausgabe bekannte Formulierung, dass auch dem „kranken Staat“ die unbedingte Loyalität der Bürger zustehe.24 Aber wenn gilt, dass „der objective Wille das an sich in seinem Begriffe Vernünftige ist, ob es vom Einzelnen erkannt oder von ihrem Belieben gewollt werde oder nicht“ (ebd., § 258), dann ist ein Recht des Urteils oder der Tat des Einzelnen gegen das „an und für sich seyende Göttliche und dessen absolute Autorität und Majestät“ (ebd.) nicht denkbar. Auch einer der Staatsgewalten kann bei Hegel ein Recht des Widerstandes gegen die anderen nicht zukommen.
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Vgl. Kants Äußerungen zum Naturrecht bzw. zum angeborenen Recht in der Einleitung in die Rechtslehre, Metaphysik der Sitten, AA VI, 237 f. Zur Neuplatonischen Vereinigungsphilosophie bei Hegel vgl. Henrich 1971; Jamme 1983. Der Ausdruck „kranker Staat“ bezieht sich möglicherweise auf eine Stelle bei Grotius: „Ein kranker Körper bleibt immer ein Körper und ein Staat bleibt ein Staat, auch wenn er schwer erkrankt ist“ (Grotius 1950, 440). Damit will Grotius die völkerrechtliche Verantwortung auch ungerechter oder tyrannischer Staaten festhalten. Er zitiert im gleichen Abschnitt aber auch Aristides und Aristoteles, nach denen ein ungesetzlicher Staat „aufhöre“ bzw. „untergehe“. Vgl. Aristoteles 2005 (1309 b 22 ff.), wo die Parallele zum menschlichen Körper ja gerade vor der „Abweichung ins Übermaß“ warnen soll. Vom Recht auch „verunarteter“ bzw. „mit großen Mängeln und groben Fehlern“ versehener Verfassungen spricht dagegen auch Kant (vgl. Metaphysik der Sitten, AA, VI, 372 u. 353. Vgl. dazu auch Zotta 2000, 221).
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Diesem begrifflichen Ausschluss des Widerstandsrechts, aber auch grundsätzlicher des Abwehrcharakters individueller Grundrechte, stehen allerdings auch bei Hegel immanente Gegentendenzen des Systems gegenüber. Dazu gehört nicht nur das grundsätzlich „revolutionäre“, nämlich auf der Selbstnegation jeder Form des Begriffs und des Geistes beruhende dialektische Denken. Hegel hat vielmehr auch den Entzweiungen des Einzelnen von den herrschenden Sitten und der über Konflikte und Versöhnungen verlaufenden Reintegration in die Gemeinschaft seit seinen Frühschriften große Aufmerksamkeit geschenkt. Die wechselseitige Anerkennung zwischen abweichendem Gewissen und moralischer Gemeinschaft gehört noch in der Phänomenologie zum absoluten Geist selber.25 Hegels Konzeption von Anerkennung beweist ja bis in die gegenwärtige Sozialphilosophie ihre Fruchtbarkeit und Aktualisierbarkeit.26 Warum sie in der Rechtsphilosophie nicht zur letzten Konsequenz geführt wurde, ist nicht nur eine philosophiehistorisch, sondern auch eine systematisch wichtige Frage.27 Bei allen Gegensätzen zwischen dem Kantischen und dem Hegelschen Vernunftbegriff zeigt der Vergleich mit den vertrags- und gewohnheitsrechtlichen Traditionen Lockes und Humes einerseits und der europäischen Verfassungsgeschichte andererseits aber auch, dass die Geschlossenheit eines Systems praktischer Philosophie, das aprioristisch oder teleologisch von der Offenheit historischer Erfahrungen und situationsgemäßer Entscheidungen getrennt ist, in der Gegenwart nicht mehr überzeugen kann. Es bedarf einer grundlegenden Transformation, wenn die praktische Philosophie die Situation und die Probleme moderner Gesellschaften verstehen oder gar an ihrer Lösung mitwirken will.28 (B) Mein zweites Beispiel für die Relevanz der praktischen Philosophie der Neuzeit für Gegenwartsprobleme betrifft die Theorie des gerechten Krieges. Dabei geht es bekanntlich nicht um „heilige“ Kriege oder solche um der Verwirklichung der vollkommenen Gerechtigkeit, sondern um Gründe, unter denen Kriege als geringeres Übel (minus malum) und letztes Mittel (ultima ratio) zur Erhaltung der Rechte der Menschen und Völker gerechtfertigt werden können.29 Seit dem Ende der großen Staatenkriege und dem Zuwachs neuer Formen „asymmetrischer Kriege“, von Befreiungskriegen 25 26 27 28 29
Vgl. Siep 2008, 427–431. Vgl. Schmidt am Busch/Zurn 2009. Vgl. dazu Siep 2009. Vgl. dazu in Bezug auf Hegel Siep 2010. Zur Kontroverse über die Theorie des gerechten Krieges in der neueren Philosophie vgl. auch Merker 2003. Skeptisch zur Gegenwartsrelevanz der Theorie des gerechtfertigten Krieges Kleemeier 2003.
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über humanitäre Interventionen bis zum „Krieg gegen den Terror“, wird sichtbar, dass die ältere Tradition des Nachdenkens über die Rechtfertigung von Kriegen in mancher Hinsicht „hochaktuell“ ist. Das liegt auch daran, dass der Begriff des Krieges seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zunehmend auf die Kriege zwischen souveränen Staaten eingeschränkt wurde. Deren Verrechtlichung hat zwischen dem Westfälischen Frieden von 1648 und den völkerrechtlichen Gewaltverboten der Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg sicher erhebliche Fortschritte gemacht – wenngleich die Kriege selber durch die moderne Waffentechnik an Schrecken und Opferzahl ständig zugenommen haben.30 Der ältere Begriff des Krieges, lat. bellum, ist deutlich umfassender als der eines Krieges zwischen Staaten, der durch legitimierte Armeen ausgeführt wird.31 Schon Hobbes’ Begriff des „bellum omnium“ im Naturzustand (der für ihn zwischen den Völkern andauert) meint nicht nur gewaltsame Auseinandersetzungen, sondern generell die ständige Gewaltbereitschaft („Kalter Krieg“). Hugo Grotius unterscheidet Kriege zwischen Staaten (bellum publicum) und zwischen Privatleuten untereinander (bellum privatum). Staaten können aber auch mit privaten Individuen und Gruppen, z. B. Räuberbanden, in Konflikten stehen, die Krieg (bellum) genannt werden. Die beiden in der Gegenwart besonders diskutierten Fälle, die humanitäre Intervention32 in souveränen Staaten und die Abwehr von Anschlägen vom fremden Staatsgebiet aus, gehören für ihn zum Krieg und können u. U. gerechtfertigt sein. Eingriffe zum Schutz der anderen sind nach Grotius nicht nur für Verwandte und Landsleute geboten, denn „wenn andere Bande fehlen, so genügt die gemeinsame Menschennatur“ (Grotius 1950, 130). Dieses „Recht, die menschliche Gesellschaft durch Strafen zu schützen“, ist durch die Einrichtung der Staaten von den Individuen auf diese übergegangen. Es verleiht den Staaten bzw. ihren legitimen Oberhäuptern das Recht, „nicht nur wegen des gegen sie und ihre Untertanen begangenen Unrechts […], sondern auch wegen Taten, die eigentlich nicht sie selber treffen, aber in
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Völkerrechtler konstatieren eine Entwicklung vom Verbot des Angriffskriegs zum allgemeinen Gewaltverbot, das allerdings keineswegs einschränkungslos gültig ist (vgl. Bothe 2007, 592–612). Vorreiter in der Entwicklung waren vor allem seit dem 19. Jh. die Kodifizierungen des jus in bello (vgl. ebd., 629). Vgl. dazu auch Kleemeier 2003, die aber von einer Unvereinbarkeit des jus ad bellum und des jus in bello im gegenwärtigen Völkerrecht ausgeht (bes. 26 f.). Zur Geschichte philosophischer Theorien des Krieges vgl. auch Kleemeier 2002. Zur philosophischen Diskussion des Problems der humanitären Intervention vgl. auch Hinsch/Janssen 2006, sowie Schmücker 2005. Kritisch zum Begriff „humanitäre Intervention“ Quante 2003, 8.
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einzelnen Personen das Natur- und Völkerrecht in roher Weise verletzen“ (ebd., 354) gewaltsam vorzugehen. Allerdings müssen schon für Grotius solche Unrechtshandlungen in anderen Staaten massiv und für die Täter erkennbar sein – nach dem auch innerstaatlichen Grundsatz „unvermeidliche Unkenntnis des Gesetzes beseitigt den Vorwurf des Unrechts“ (ebd., 356). Strafkriege in anderen Staaten dürfen kein Vorwand für Eroberungen sein: „Kriege, die unternommen werden, um eine Bestrafung herbeizuführen, sind der Ungerechtigkeit verdächtig, es sei denn, dass die Verbrechen ganz grob und ganz offenbar sind“ (ebd.). Analog dazu hat man in modernen Debatten um die humanitären Interventionen bzw. die „responsibility to protect“33 zwischen schweren Menschenrechtsverletzungen und solchen zu unterscheiden versucht, die Eingriffe der Völkergemeinschaft in souveräne Staaten nicht rechtfertigen können.34 Schon Grotius sieht einen solchen Eingriff als Ersatz für den Widerstand, den die Bürger selber gegen ihre Unterdrücker nicht leisten können. Ihr Widerstandsrecht geht bei der Unmöglichkeit der Ausführung auf die dazu fähigen Helfer von außen über.35 Dass insgesamt der Krieg nur als letztes Mittel und als geringeres Übel gegenüber dem ungerechten Frieden erlaubt ist, gilt auch für diese Fälle: Der Krieg und der Kriegsdienst ist „eine so abscheuliche Sache, dass nur die höchste Not oder die wahre Liebe (! LS) ihn als anständig legitimieren kann“ (ebd., 409). Für das zweite heute aktuelle Beispiel gewaltsamer Intervention in fremden Staaten, die Bekämpfung von Terroristen, die von deren Staatsgebiet aus operieren, gibt Grotius nur indirekte Hinweise, die dann von Samuel Pufendorf weiterentwickelt wurden. Grotius lässt aber keine Zweifel daran, dass auch Räuberbanden, gegen die kein offizieller, durch Kriegserklärung angekündigter Krieg eröffnet werden kann, wegen ihrer Gefahr und wegen ihres Unrechts bekämpft und gewaltsam bestraft werden können. Außerdem begründet er das Auslieferungsverlangen gegen Staaten, die Verbrecher beherbergen: „Da jedoch die Staaten es nicht zu gestatten pflegen, dass der andere Staat bewaffnet in ihr Gebiet zur Vollstreckung solcher Strafen einrückt, dies auch bedenklich ist, so folgt, dass der Staat, in dem der Verbrecher sich aufhält, nach erlangter Kenntnis entweder selbst auf Verlangen ihn angemessen strafen oder ihn dem verletzten Staat zur Entscheidung überlassen muss“ (ebd., 368 f.). 33
34 35
So der Titel einer von einer UN-Arbeitsgruppe ausgearbeiteten und vom Sicherheitsrat informell gebilligten Stellungnahme zur Verpflichtung, Opfer von Tyrannei in fremden Staaten zu schützen. Vgl. International Commission on Intervention and State Sovereignty 2001. Vgl. dazu Hinsch/Janssen 2006. Vgl. Grotius 1950, 408. Vgl. dazu jetzt Laukötter 2010.
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Bekanntlich ist die Weigerung der Taliban in Afghanistan, die mutmaßlichen Urheber der Anschläge des 11. September in den USA auszuliefern, die Veranlassung der UN-Resolutionen zur ihrer Bekämpfung gewesen.36 Grotius ist allerdings nicht deutlich, was das Recht der gewaltsamen Intervention bei Weigerung der Herausgabe angeht. Er verneint jedenfalls, dass Urhebern von Gewalttaten in anderen Staaten naturrechtliches Asyl zustehe: „Solche Personen sind also entweder zu bestrafen oder auszuliefern oder zu vertreiben“ (ebd., 372). Zitate von klassischen Autoren, die im Weigerungsfalle ein Notrecht des angegriffenen Staates bestätigen, scheint er zumindest zustimmend anzuführen (vgl. ebd. 369 f.). Ausnahmslos gilt dieses Recht für ihn aber nicht: „Übrigens werden See- und Straßenräuber, wenn sie so mächtig geworden sind, dass man sie fürchten muss, mit Recht zu den Asylen zugelassen und von Strafen verschont. Dem menschlichen Geschlecht liegt daran, dass sie, wenn es nicht anders möglich ist, so lange geschützt werden, als die gerichtliche Untersuchung läuft, damit sie durch das Vertrauen auf Straflosigkeit von ihren Übeltaten abgebracht werden“ (ebd., 373)
– eine für Al-Qaida vermutlich vergebliche Hoffnung. Klarer sind für diese Fälle die Stellungnahmen Samuel Pufendorfs in seinem Buch Über die Pflichten der Menschen und Bürger von 1673, das nach Klaus Luig „rund 150 Jahre lang fast jeder europäische und später auch amerikanische Jurist in Händen gehabt hat“. (Luig 1994, 217) In § 9 des 16. Kapitels führt Pufendorf aus, dass „der Lenker eines Staates oder der ganze Staat, auch ohne Unrecht verursacht zu haben, in den Krieg gezogen“ werden können (Pufendorf 1994, 204). Denn die „Staatslenker haben teil am Unrecht, das alteingesessene Staatsbürger und jüngst auf der Flucht hinzugekommene Bürger verübt haben, wenn sie seine Begehung geduldet haben oder Schutz gewähren“ (ebd.). Allerdings ist die „Duldung (aber) nur unter der Bedingung vorwerfbar, dass jemand von dem Verbrechen wusste und es hätte verhindern können“ (ebd.). Diese Möglichkeit wird „stets vermutet, wenn ihr Fehlen nicht eindeutig beweisbar ist“ (ebd.). Weder Grotius noch Pufendorf haben allerdings die heutige Situation antizipieren können, dass für die Beilegung von Konflikten in diesen Fragen die Völkergemeinschaft ein Verfahren etabliert hat, das zu einem gemeinsamen Urteil und zu Zwangsmaßnahmen seiner Durchsetzung führen soll. Dabei ist die Souveränität der Staaten und der grundsätzliche Verzicht auf „Einmischung in innere Angelegenheiten“ vorausgesetzt – völkerrechtliche Prämissen, die sich in Europa auf der Grundlage des Systems des 36
Vgl. die UN-Sicherheitsratsresolution 1378.
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Westfälischen Friedens (1648) entwickelt hatten. Vor allem seit dem 18. Jh. wird dann unter den Philosophen und Juristen die Idee eines Völkerbundes diskutiert, der den Naturzustand der Selbstverteidigung durch einen Rechtszustand zwischen den Völkern ersetzt. Besonders einflussreich sind die Debatten über einen solchen „Ewigen Frieden“ bei Rousseau und Kant. Beide bleiben aber skeptisch gegenüber der Realisierbarkeit eines universalen Rechtszustandes.37 In seiner systematischen Abhandlung des Völkerrechts in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre hat Kant dem „allgemeinen Staatenverein“ (Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 350) nur den Status einer Art permanenter Friedenskonferenz eingeräumt.38 Den Weltstaat mit legitimer Zwangsgewalt lehnt er ab, im Wesentlichen, weil dieser die Aufgabe des innerstaatlichen Rechtsschutzes nicht übernehmen kann.39 Wenn der permanente Rechtszustand aber nur ein Ideal ist, dem man sich annähern muss, dann bleibt der Naturzustand der Selbstbehauptung der Völker und das daraus resultierende Recht zum Verteidigungskrieg weitgehend erhalten. Obwohl Kant weder zur Frage einer humanitären Intervention bei schweren Menschenrechtsverletzungen noch zum Recht des Angriffes auf einen Staat, der die Urheber einer Aggression gegen einen anderen schützt, Stellung genommen hat, kann man einige Vermutungen bezüglich der „Ressourcen“ Kants für diese Fragen anstellen. Die Stellung der Souveränität der Staaten impliziert generell ein striktes Einmischungsverbot (vgl. ebd. 344), das auch eine humanitäre Intervention ausschließt. Nach dem oben Ausgeführten kann ein Widerstandsrecht der Bürger nicht gegeben sein. Es kann also auch kein subsidiäres Widerstandsrecht der Völkergemeinschaft oder fremder Staaten geben, wie es Grotius angedeutet hat. Das gilt nicht nur vor der Gründung eines „Staatenvereins“, also in einem Naturzustand der subjektiven Beurteilung von Recht und Unrecht zwischen den Völkern. Es gibt hier nicht einmal ein objektives Urteil über das Recht zum Verteidigungskrieg, erst recht keines über das Recht oder Unrecht 37 38
39
Vgl. Rousseaus Auszug und Kritik des „Projet de paix perpetuelle“ des Abbé de St. Pierre (Rousseau 1985), sowie Kant, Zum ewigen Frieden. Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, AA, VI, 350: „Man kann einen solchen Verein einiger (! LS) Staaten, um den Frieden zu erhalten, den permanenten Staatenkongreß nennen“. Vorbild ist die „Versammlung der Generalstaaten im Haag“ in der ersten Hälfte des 18. Jh.s. Vgl. Pinzani 1999, Karakus/Siep 2006 sowie Hoesch 2012. „Weil aber bei gar zu großer Ausdehnung eines solchen Völkerstaats über weite Landstriche die Regierung desselben, mithin auch die Beschützung eines jeden Gliedes endlich unmöglich werden muss“ (Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 350).
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fremder Regierungen gegen ihre Bürger.40 Das Verbot einer Intervention gilt aber auch bei Bestehen eines Völkerbundes, der nur die Abwehr äußerer Angriffe zwischen Staaten zur Aufgabe hat.41 Die Frage des Eingriffs in souveräne Staaten aufgrund der Duldung von Aggressoren auf deren Boden ist weniger leicht zu entscheiden. Denn hier konkurriert die Souveränität der Staaten mit dem Recht auf Selbstverteidigung. Das wäre klarerweise eine Frage für den anzustrebenden „Staatenverein“. Aber da dieser die Sicherheit der einzelnen Staaten nicht garantieren kann – und nach der Metaphysik der Sitten eine „unausführbare Idee“ (ebd. 350) bleibt –, kann auf Selbstverteidigung nicht verzichtet werden. Selbst eine Formulierung wie in Art. 51 der UN-Charta, dass die Selbstverteidigung (nur) solange rechtens ist, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit notwendigen Maßnahmen getroffen hat“, wäre für Kant nicht völkerrechtlich bindend. Ohne einen Weltstaat mit legitimem und wirksamem Gewaltmonopol kann auf die Selbstverteidigung nicht verzichtet werden. Auf der anderen Seite müsste aus der Sicht Kants die Entgrenzung des Krieges durch die Erlaubnis, sich auf dem Gebiet eines fremden souveränen Staates – notfalls auch ohne dessen Zustimmung – zur Abwehr „privater“ Gewalt zu verteidigen, einen Rückschritt auf dem Weg zur Überwindung der Kriege darstellen. Denn solche „asymmetrischen“ Kriege zwischen Staaten und nicht-staatlichen Gruppen sind viel schwerer zu verrechtlichen als Staatenkriege. Noch deutlicher ist die Anerkennung der Souveränität der Staaten bei Hegel. Eine höhere Rechtsebene gibt es für ihn nur in der Form von Interessenverträgen zwischen den Staaten, deren Selbsterhaltung unbedingte Pflicht ist. Dass die Mittel dazu, wie bei seinen Vorgängern, so zivilisiert sein sollen, dass der Krieg ein vorübergehendes Übel bleibt und das Vertrauen zwischen den Staaten nicht zerstört wird, gliedert Hegel freilich in die Tradition des bellum justum ein. Aber er begrenzt den Krieg nicht prinzipiell auf den Verteidigungskrieg, sondern lässt zumindest den Übergang eines Verteidigungskrieges in einen „Eroberungskrieg“ als berechtigt zu (vgl. Hegel 1976a, § 326). Im Auge hat er dabei die Kriege der Französischen Revolution, die zu einem „Export“ der republikanischen Verfassungen auf das Gebiet der zurückgeschlagenen Angreifer führten. Moderne 40
41
Kant lässt ja auch nach einem Krieg keinerlei Gerichtsverfahren über Kriegsschuldfragen zu, weil es keinen Richter oberhalb der Völker gibt (Kant, Metaphysik der Sitten, AA, VI, 348 f.). Vgl. dazu den 5. Präliminarartikel der Schrift Zum Ewigen Frieden, in dem Kant die „Gesetzlosigkeit“ in einem anderen Staat im Blick hat. Diese stellt aber keine Rechtsverletzung des ersteren dar und ein Eingriff ohne eine solche würde „die Autonomie aller Staaten“ gefährden (Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII, 346).
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europäische Kriege sind für Hegel ohnehin Kriege um die fortgeschrittenste Verfassung.42 Man könnte die humanitäre Intervention in Hegelschen Begriffen allenfalls als eine Verbreitung von fortgeschrittenen Rechtsverfassungen mit Grundrechten und -freiheiten der Bürger auf Gebiete mit „überholten“ Verfassungen und Rechtsvorstellungen diskutieren. Allerdings gäbe es dafür nach Hegel keine völkerrechtliche Berechtigung und auch kein „objektiv“ begründetes gemeinsames Vorgehen der Völkergemeinschaft. Der angegriffene Staat behielte jedes Recht zur Selbstverteidigung. Dies gilt bei Hegel vermutlich auch in Fällen des Angriffs auf einen Staat, der private Aggressoren auf seinem Gebiet duldet. Dass Kants und Hegels Philosophie des Völkerrechts in den Fragen der humanitären Intervention oder der asymmetrischen Kriege gegen Aggressoren in fremden Staaten über wenig systematische Ressourcen verfügt, hat denselben Grund wie die gegenwärtigen völkerrechtlichen Probleme mit ihnen: das Prinzip der Unantastbarkeit staatlicher Souveränität und die Einschränkung des Kriegsbegriffs sowie der Fragen des gerechten bzw. gerechtfertigten Krieges (jus ad bellum) auf die Staatenkriege. Die historische Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist aber offenbar über die erklärten Kriege zwischen Staaten und ihren Armeen hinausgegangen. Die Zunahme an Befreiungskriegen, Partisanen- und Guerillakriegen, Bürgerkriegen in gescheiterten Staaten (failed states) und schließlich des internationalen Terrorismus lässt diese Einschränkung sowohl praktisch wie theoretisch als obsolet erscheinen. Ein Rückgang auf den umfassenderen Kriegsbegriff der frühen Neuzeit könnte hilfreich sein, wenn nicht eine unklare Begriffswahl, wie sie schon in den jüngeren UN-Resolutionen anzutreffen ist („bewaffneter Konflikt“, „Bedrohung des internationalen Friedens“, „aggressive Handlungen“ etc.), die rechtliche Beurteilung und Eindämmung der neuen Kriegsformen noch erschweren soll.43 Allerdings rückt dadurch auch der Traum vom „ewigen Frieden“ in Gestalt eines rechtlich geregelten, wenn auch nicht völlig störungs- und gewaltfreien Zustandes zwischen den Völkern, wieder in weitere Ferne. Nach dem Zusammenbruch der aggressiven ideologischen Großsysteme des 20. Jahrhunderts schien dieses Ziel in Reichweite. Aufgeben können es Philosophen nicht, die an der Idee der Menschenrechte und des gewaltfreien Zustandes zwischen selbstbestimmten Völkern orientiert sind. Aber sie müssen sich auf die „neue Unübersichtlichkeit“ auch auf diesem Gebiet 42 43
Vgl. Siep 2003, 17. Man denke auch an den mehrdeutigen Sprachgebrauch deutscher Politiker im Umgang mit dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr (der allerdings wohl auch versicherungsrechtliche Gründe hat).
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einlassen, wenn sie praktische Philosophen bleiben wollen – „praktisch“ nicht nur im Sinne der Philosophie des Handelns und seiner Gemeinschaftsformen, sondern auch im Sinne der Deutung historischer Prozesse, der Stellungnahme zu gesellschaftlichen Problemen und der Kritik oder Rechtfertigung von Institutionen.
III. Die beiden Beispiele sollten zeigen, dass die Beschäftigung mit der Geschichte der praktischen Philosophie neues Licht auf gegenwärtige Probleme werfen kann, auch wenn die Verschiedenheit der Zeiten und ihrer Denker nicht eingeebnet oder die Texte unzulässig aktualisiert werden. Die Denkgeschichte zeigt, dass die Probleme der Gegenwart oft durch Engpässe des Denkens verschärft werden, bei deren Überwindung nicht nur Visionen neuer Horizonte, sondern auch Erinnerungen an vergangene Konstellationen helfen können. Vor den Zukunftsvisionen hat die problemorientierte und systematisch interessierte Erinnerung an die Vergangenheit zwei Vorzüge: Zum einen klärt sie über unsere eigene Vorgeschichte, die Gründe für unsere historische und geistige „Situation“ auf. Zum anderen hat sie es mit Argumenten und Theorien zu tun, die in Bezug auf wiederkehrende und bis heute nicht vollständig gelöste individuelle und soziale Konflikte entwickelt wurden und einen Teil des Instrumentariums unserer Problembearbeitungen darstellen. Wenn man der Sprache unserer philosophischen Tradition nicht so viel an ideologischer und zeitbezogen funktionaler Beschränkung zusprechen mag wie systemtheoretische Kritiker der alteuropäischen Begrifflichkeit,44 dann muss man sich zwar dessen bewusst sein, dass keine Philosophie über den Horizont ihrer Zeit hinauskommen kann oder außerhalb des Flusses der Kulturgeschichte steht. Aber man wird doch ein Potential an Argumenten, Begriffen und Erfahrungen entdecken können, das in der einseitigen Fokussierung auf zeitgenössische Theorien oft vergessen wird oder unausgeschöpft bleibt. Die Menschheit hat, gerade in Europa, auch durch Renaissancen und „Klassizismen“ immer wieder einen Sprung nach vorne getan. Das beweist die Geschichte der Erneuerung des antiken Republikanismus mit seiner politischen Mitbestimmung und Gemeinwohlorientierung. Sie hat allerdings auch mit der Idee der Rückgewinnung vergangener Größe oft falsche Wege eingeschlagen, wie nicht nur, aber besonders, die deutsche Geschichte seit der nationalen Einigungsbewegung des 19. Jahrhunderts und
44
Vgl. Anm. 6.
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ihrer romantisch-historistischen Reichsidee zeigt. Hier, wie noch radikaler im Kollektivismus des „Dritten Reiches“, war das Erbe der Aufklärung und der Traditionen der neuzeitlichen Philosophie – nicht allein Westeuropas – vergessen oder aufgrund von „Visionen“ radikal verneint, die teils verklärend rückwärtsgewandt, teils utopisch-futuristisch waren (vor allem in Bezug auf Technik und Organisation). Nicht nur vergessen, sondern ausdrücklich verneint wurde in dieser Zeit auch die Tradition des Denkens über den gerechtfertigten Krieg, der in radikalster Weise zum „totalen“ Krieg verwandelt wurde, sowohl was das jus ad bellum wie das jus in bello betrifft. Gerade für die deutsche Philosophie ist die Erinnerung an die Konzeptionen der praktischen Philosophie der Neuzeit von großer Bedeutung. Nicht zuletzt deswegen, weil der deutsche Hang zur Systemphilosophie und zur Letztbegründung übersieht, dass gerade in der praktischen Philosophie auch vieles Grundsätzliche auf historischen Erfahrungen beruht. Der Großteil der Menschenrechte ist ohne die schmerzhaften Erfahrungen mit der Unterdrückung von Denk- und Religionsfreiheit, der Beraubung von Rechten der Menschen in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit nicht verständlich und auch nicht zu begründen.45 Sicher kann man die Leidenserfahrungen darauf zurückführen, dass Menschen an dem gehindert wurden, was ihre eigentlich menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse ausmacht. Aber es sind meist die Erfahrungen des Verlustes, der Vorenthaltung und der Verweigerung, die das erst ins Bewusstsein bringen, was wirklich wichtig ist. Ein solches Bewusstsein der zu „Anlage“ und „Vermögen“ der Menschen gehörenden freien Selbstentfaltung und Mitbestimmung, „vergisst sich nicht mehr“, wie Kant es von den republikanischen Erfahrungen der Französischen Revolution (Kant, Streit der Fakultäten, AA VII, 88) sagt – oder, wie Hegel formuliert, das einmal erwachte Freiheitsbewusstsein der Individuen und Völker hat eine „unbezwingliche Stärke“ (Hegel 1991, § 482). Erfahrungen, aber auch in Erfahrungen eingespielte Praxen, können auch das bestätigen und stabilisieren, was im Begriff widersprüchlich zu sein scheint, wie das Widerstandsrecht in einer staatlichen, mit Durchsetzungsgarantie versehenen Rechtsordnung. Dass Völker und Einzelne sich gegen Tyrannen zur Wehr gesetzt haben und das zumindest nachträglich allgemein als rechtens beurteilt wird, ist auch dann nicht zu bestreiten,
45
Erhebliche Beschränkung der Bürgerrechte gibt es für Frauen und abhängig Arbeitende bekanntlich auch noch bei Kant und im Deutschen Idealismus. Vgl. dazu Siep 2007.
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wenn kein Rechtsnachfolger der Unterdrücker sie rehabilitiert.46 Der unsystematische Empirist Hume könnte in diesem Punkt weiser sein als die großen Systemarchitekten Kant und Hegel. Weniger „elegante“ völkerrechtliche und philosophische Systematik wird vermutlich auch beim Versuch der rechtlichen Begrenzung der neuen Formen kriegerischer Auseinandersetzungen vonnöten sein. Begründung für den Wert philosophischer Einsicht hängt auch in der praktischen Philosophie nicht allein von ihrem Nutzen für die gegenwärtigen Probleme ab. Zu verstehen, wie es war und wie „wir“ geworden sind, oder die Schönheit, gedankliche Schärfe und Erfahrungssättigung von Texten aufzuschließen und zu vermitteln, ist ein Eigenwert, der philosophische und philosophiegeschichtliche Forschung rechtfertigt. Zumindest für die praktische Philosophie lässt sich aber auch ohne Anbiederung an gesellschaftliche Erwartungen behaupten, dass wir ohne das Studium ihrer Geschichte weniger für die Lösung gegenwärtiger ethischer, rechtlicher und sozialer Probleme gewappnet sind als mit ihr. „Wissenschaftliche“ Handlungsanweisungen im Sinne von Experten-Gutachten sind von ihr nicht zu erwarten. Wohl aber die Erkenntnis von gedanklichen Lösungsoptionen, von Kriterien der Abwägung bei Güter- und Folgenabschätzungen und von dem Preis, den man für Ideale bzw. Menschenbilder zu entrichten hat. Normative Menschenbilder liegen auch unseren Verfassungen und Konsensen über Demokratie, Menschenrechte sowie Fairness innerhalb eines Gemeinwesens oder auf der Ebene der globalen Schicksalsgemeinschaft zugrunde. Auch Rechte lassen sich nicht ohne „attraktive“ Ideale des individuellen und gemeinsamen Lebens verteidigen. Aber die überflüssigen Leiden der Individuen unter Idealen kollektiver Ehre und Größe dürfen dabei nicht vergessen werden. Was öffentliche Aufgaben sind, die von jedem nachvollziehbare Anstrengungen rechtfertigen – sowohl im Bereich begrenzter Rechtsgemeinschaften wie der Völkergemeinschaft insgesamt –, ist ein wichtiges Thema der praktischen Philosophie heute.47 Auch dieses Thema war aber der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit nicht so fremd, wie man annehmen möchte – man denke an Grotius’ Überlegungen zur Freiheit der Meere oder an Lockes Thesen über Güter, die nicht privat angeeignet und von denen keine Monopole gebildet werden dürfen.48 Trotz 46
47 48
Die oft skandalös unterlassene oder verspätete Rehabilitierung von Widerstandshandlungen in Deutschland bezeugt, dass ein Widerstandsrecht nicht nur symbolisch ist, sondern auch Rechtsfolgen haben kann bzw. sollte (vgl. Anm. 16). Vgl. Siep 2005. Zu einer Aktualisierung dieser Gedanken Lockes in Bezug auf das Problem der internationalen Arzneimittelgerechtigkeit vgl. Risse 2008.
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der rasanten Entwicklung der technisch-wissenschaftlichen Welt sind viele heutige Probleme des Zusammenlebens der Menschen und ihres Umganges mit der Natur schon im Gesichtskreis der klassischen Werke der praktischen Philosophie gewesen. Auch deshalb lohnt sich die Auseinandersetzung mit ihnen immer wieder.
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Philosophie als analytische Philosophie Ansgar Beckermann Wer die Frage „Warum Philosophie?“ stellt, muss sich darüber im Klaren sein, dass „Philosophie“ bis ca. 1800 in etwa dasselbe bedeutete wie „Wissenschaft“. Wenn in der Antike die Frage „Warum Philosophie?“ gestellt wurde, bedeutete sie also: Welchen Sinn hat es, nach wissenschaftlicher Erkenntnis über die Welt zu suchen? Auch das ist eine interessante Frage. Die antike Skepsis kann man z. B. so verstehen, dass sie dem Versuch, auf wissenschaftliche Weise Erkenntnis über die Welt zu gewinnen, grundsätzlich misstraut.1 Wenn wir aber heute nach Sinn und Zweck der Philosophie fragen, ist offenbar anderes gemeint. Im 19. und 20. Jahrhundert haben sich einzelne Bereiche dessen, was früher „Philosophie“ genannt wurde – auch institutionell – verselbständigt. Zunächst betraf dies die Naturwissenschaften Astronomie, Physik, Chemie und Biologie, deren Fragen zuvor unter dem Etikett „philosophia naturalis“ behandelt wurden. Es folgten die Geistes- und Sozialwissenschaften. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts wurde auch die Psychologie zur Einzelwissenschaft. Am Ende dieses Prozesses gibt es nicht mehr die Wissenschaft (=Philosophie), sondern eine Vielzahl von Einzelwissenschaften, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der Wirklichkeit befassen. Diese Entwicklung spiegelt sich in der Tatsache, dass um 1800 das Wort „Philosophie“ eine neue Bedeutung erhält. Es ist nicht mehr gleichbedeutend mit „Wissenschaft“, sondern beginnt, für ein Fach neben anderen zu stehen. Und damit stellt sich die Frage nach dem Zweck und der Legitimation von Philosophie neu: Brauchen wir neben Mathematik und den empirischen Wissenschaften noch eine andere Art der rationalen Erkenntnisgewinnung? Gibt es Erkenntnisse, die nicht mit mathematischen oder empirisch-wissenschaftlichen Mitteln gewonnen werden können? Hat die Philosophie neben den etablierten Wissenschaften eine eigene Legitimation? Spätestens gegen Ende der frühen Neuzeit hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass sich Philosophie – oder vielleicht besser: Metaphysik – von den anderen Wissenschaften (außer der Mathematik) dadurch unter1
Vgl. Schupp 2003, 378f.
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scheidet, dass es in ihr um Erkenntnisse a priori geht. Auch Descartes hatte Metaphysik – oder Erste Philosophie – von den anderen Wissenschaften (Physik, Medizin, Mechanik, Ethik) unterschieden; allerdings spielt für ihn als Rationalisten das reine Denken in allen Wissenschaften eine zentrale Rolle; seiner Meinung nach lassen sich auch die Bewegungsgesetze der Materie rein a priori ableiten. Erst später wird klar, wie wichtig es ist, zwischen Erkenntnissen a priori und Erkenntnissen a posteriori zu unterscheiden, wodurch die Frage entsteht, in welchen Bereichen Erkenntnisse a priori überhaupt möglich sind. Hume vertritt dezidiert die Auffassung, dass sich a priori Erkenntnis auf die Aussagen beschränkt, bei denen die Annahme des Gegenteils einen Widerspruch beinhaltet. Heute würde man vielleicht sagen: auf die analytisch wahren Aussagen. Solche Aussagen gibt es für ihn nur im Bereich der relations of ideas. Hierzu gehört insbesondere die Mathematik; aber alle Aussagen über die Natur der Seele, über Gott und über die Welt als ganze gehören nicht dazu. Rationale Theologie, rationale Psychologie und rationale Kosmologie – die drei Teilgebiete der metaphysica specialis – sind Bereiche, in denen sich keine Erkenntnisse a priori gewinnen lassen. Philosophische, d. h. inhaltliche a priori Erkenntnisse über die Welt sind Hume zufolge unmöglich. Kant widerspricht Hume, da es seiner Meinung nach auch synthetische Wahrheiten a priori gibt. Aber auch bei Kant ist dieser Bereich auf sehr wenige Grundsätze beschränkt, die wahr sein müssen, weil ansonsten objektive Erfahrung unmöglich wäre – Grundsätze wie „Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert“ (KrV A 182, B 224) oder „Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung“ (KrV A 189, B 232). Und auch für Kant lassen sich in der rationalen Theologie, der rationalen Psychologie und der rationalen Kosmologie keine a priori Erkenntnisse gewinnen. Die analytische Philosophie gibt – besonders zu Beginn ihrer Entwicklung – auf die Frage nach dem Status der Philosophie eine ebenso radikale Antwort wie Hume: Welterkenntnis ist allein Sache der empirischen Wissenschaften. Philosophie liefert keine eigenen Erkenntnisse; ihre Aufgabe ist allein die Sprachanalyse – die Analyse der Wissenschaftssprache, um zu klären, was man sinnvollerweise sagen kann, und die Analyse der Alltagssprache, um die sprachlichen Fehler aufzudecken, die zu der Annahme führen, es gäbe eigenständige philosophische Probleme, die mit philosophischen Mitteln gelöst werden können. Im Tractatus liefert Ludwig Wittgenstein für diese These bemerkenswerterweise keine erkenntnistheoretische, sondern eine sprachphilosophische Begründung. Die Welt, so Wittgenstein, ist alles, was der Fall ist. Die
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Substanz der Welt bilden einfache Gegenstände, die auf verschiedene Weisen miteinander verbunden sein können. Mögliche Verbindungen sind mögliche Sachverhalte. Verbindungen, die tatsächlich bestehen – bestehende Sachverhalte –, sind Tatsachen. „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen […].“ (Tractatus 1.1), „Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte ist die Welt.“ (ebd., 2.04). Wie kann man über diese Welt sprechen? Offenbar, so Wittgenstein, nur, indem man sie abbildet. Gegenstände werden durch Namen bezeichnet, und ein möglicher Sachverhalt – eine mögliche Verbindung von Gegenständen – wird sprachlich dadurch ausgedrückt, dass man diese Namen auf genau dieselbe Weise verbindet, in der die Gegenstände im Sachverhalt verbunden sind. Sätze, die auf diese Weise einen möglichen Sachverhalt ausdrücken, nennt Wittgenstein „Elementarsätze“. Sie sind wahr, wenn der Sachverhalt, den sie ausdrücken, besteht, falsch, wenn er nicht besteht. Elementarsätze können mit Hilfe von wahrheitsfunktionalen Satzoperatoren – letzten Endes genügt sogar einer (der SchefferStrich) – zu komplexen Sätzen zusammengefügt werden. Aber außer Elementarsätzen und komplexen Sätzen gibt es keine anderen sinnvollen Sätze. Sie machen die Gesamtheit aller sinnvollen Sätze aus. Damit ist klar, dass es neben den empirischen Wissenschaften keinen eigenen Bereich der Philosophie geben kann. Denn jeder Elementarsatz kann falsch sein. Es gibt also keine a priori wahren Sätze – außer Tautologien und Kontradiktionen; und diese Grenzfälle komplexer Sätze sind keine sinnvollen, sondern sinnlose Sätze, da sie nichts über die Welt sagen. Die Position Wittgensteins ist letztlich also noch radikaler als die Humes. Für ihn gibt es nicht nur keine a priori wahren Aussagen über die Welt. Vielmehr sind in seinen Augen alle Aussagen, die nicht-empirische, philosophische Fragen betreffen, strikt unsinnig. Sinnvoll reden kann man nur über Probleme, die empirischwissenschaftlich angegangen werden können. Philosophische Fragen lassen sich nicht einmal formulieren. „Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort“ (Tractatus 6.52). Wir „fühlen“, dass es philosophische Fragen gibt; aber tatsächlich gibt es sie nicht. Philosophische Fragen verschwinden, sie lösen sich auf, wenn man erkennt, dass man sie gar nicht stellen kann. „Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems“ (ebd., 6.521). „Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat“ (ebd., 6.53).
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Inspiriert durch Wittgensteins Tractatus entwickelt sich im Wiener Kreis eine verwandte Auffassung. In ihrem Manifest Wissenschaftliche Weltauffassung – der Wiener Kreis von 1929 schreiben Carnap, Hahn und Neurath: „Wir haben die wissenschaftliche Weltauffassung im Wesentlichen durch zwei Bestimmungen charakterisiert. Erstens ist sie empiristisch und positivistisch: es gibt nur Erfahrungserkenntnis, die auf dem unmittelbar Gegebenen beruht. Hiermit ist die Grenze für den Inhalt legitimer Wissenschaft gezogen. Zweitens ist die wissenschaftliche Weltauffassung gekennzeichnet durch die Anwendung einer bestimmten Methode, nämlich der logischen Analyse. Das Bestreben der wissenschaftlichen Arbeit geht dahin, das Ziel, die Einheitswissenschaft, durch Anwendung dieser logischen Analyse auf das empirische Material zu erreichen.“ (Carnap/Hahn/Neurath 1929, 19)
Die beiden Hauptstichworte lauteten also: Ablehnung der Metaphysik bzw. Philosophie und Methode der logischen Analyse der Sprache. Erwähnt wird auch noch das Ziel der Einheitswissenschaft, das bis heute die Analytische Philosophie in Form einer naturalistischen Grundstimmung geprägt hat. Bleiben wir aber bei den ersten beiden Punkten. Diese hängen enger zusammen, als aus dem Zitat hervorgeht. Die logische Analyse der Sprache sollte nämlich nicht nur der Beförderung der Einheitswissenschaft dienen, sondern gerade auch der Kritik traditioneller philosophischer Theorien. Ganz klar wird das im Titel von Carnaps berühmtem Aufsatz Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. Carnap selbst schreibt, dass es in diesem Aufsatz darum geht, „auf die Frage nach der Gültigkeit und Berechtigung der Metaphysik eine neue und schärfere Antwort zu geben […] Auf dem Gebiet der Metaphysik […] führt die logische Analyse zu dem negativen Ergebnis, dass die vorgeblichen Sätze dieses Gebiets gänzlich sinnlos sind “ (Carnap 1931, 219f.). „Sinnlos“ kann ein Satz aus zwei Gründen sein. „[E]ntweder kommt ein Wort vor, von dem man irrtümlich annimmt, dass es eine Bedeutung habe, oder die vorkommenden Wörter haben zwar Bedeutungen, sind aber in syntaxwidriger Weise zusammengestellt, so dass sie keinen Sinn ergeben“ (ebd., 220). Ein Beispiel für einen sinnlosen philosophischen Terminus ist für Carnap das Wort „Prinzip“. Dieses Wort hätte einen Sinn, wenn klar wäre, unter welchen Bedingungen Sätze der Form „ x ist das Prinzip von y“ wahr sind. Aber auf die Frage nach solchen Wahrheitsbedingungen erhält man in der Regel nur Antworten wie: „ x ist das Prinzip von y“ bedeute in etwa dasselbe sei wie „ y geht aus x hervor“ oder „das Sein von y beruht auf dem Sein von x“ oder „ y besteht durch x“. Doch diese Antworten helfen nicht wirklich weiter, da sie selbst entweder mehrdeutig oder nicht wörtlich gemeint sind. Es gibt z. B. einen klaren Sinn von „hervorge-
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hen“, in dem etwa ein Schmetterling aus einer Raupe hervorgeht. Aber dies, so werden wir belehrt, sei nicht der gemeinte Sinn. Das Wort „hervorgehen“ solle hier nicht die Bedeutung eines Zeitfolge- und Bedingungsverhältnisses haben, die das Wort gewöhnlich hat. Es wird aber für keine andere Bedeutung ein Kriterium angegeben. Folglich existiert die angeblich „metaphysische“ Bedeutung, die das Wort im Unterschied zu jener empirischen Bedeutung hier haben soll, überhaupt nicht (vgl. ebd., 225). Diese Diagnose steht offenbar in engem Zusammenhang mit dem empiristischen Sinnkriterium, das den Kern der Sprachphilosophie des Wiener Kreises ausmacht. Dieser lässt sich in den folgenden vier Thesen zusammenfassen: 1. Es gibt nur zwei Arten sinnvoller Sätze – analytische und empirische Sätze. 2. Analytische Sätze sind wahr oder falsch allein aufgrund der Bedeutung der in ihnen vorkommenden Ausdrücke; ihre Wahrheit oder Falschheit ist also unabhängig davon, wie die Welt beschaffen ist bzw. welche Erfahrungen wir machen (Bsp.: „Alle Junggesellen sind unverheiratet“). 3. Der Sinn eines empirischen Satzes besteht in den möglichen Erfahrungen, die diesen Satz verifizieren würden. 4. Sätze, die nicht analytisch sind und für die es keine möglichen Erfahrungen gibt, die sie verifizieren würden, sind sinnlos. Mit diesen Thesen hängt eine weitere eng zusammen: 5. Alle Begriffe müssen sich mit Hilfe von Erfahrungsbegriffen definieren lassen. Sätze wie „Das Nichts selbst nichtet“2 sind nach Carnap im zweiten Sinne sinnlos. Wenn man auf die Frage „Was ist draußen?“ die Antwort erhält „Draußen ist ein Mann“, dann kann man sinnvoll weiter fragen „Was ist mit diesem Mann?“. Wer aber auf die Antwort „Draußen ist nichts“ weiter fragt „Was ist mit diesem Nichts?“, der hat einfach nicht begriffen, dass die beiden Sätze „Draußen ist ein Mann“ und „Draußen ist nichts“ sich in ihrer logischen Struktur grundsätzlich unterscheiden. Der erste Satz hat die logische Form „x(x ist draußen und x ist ein Mann)“; der zweite dagegen die logische Form „x(x ist draußen)“. Und wenn man auf die Frage „Was ist draußen?“ eine Antwort dieser Form bekommt, dann gibt es schlicht kein x, bzgl. dessen man fragen könnte „Was ist mit diesem x?“. Mit Hilfe dieser beiden Argumentationsfiguren meint Carnap, die Sinnlosigkeit aller Metaphysik nachweisen zu können. Der Streit um den Unterschied zwischen Realismus und Idealismus, um die Realität der Außenwelt 2
Heidegger 1929, 34.
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und um die Realität des Fremdpsychischen – in Carnaps Augen alles Probleme, die mit Hilfe logischer Analyse als Scheinprobleme entlarvt werden können (vgl. Carnap 1928a). In seinem späteren Werk verändert Wittgenstein seine Position dem Tractatus gegenüber zwar in vielen Punkten; doch seine Auffassung davon, was Philosophie leisten kann und was nicht, bleibt im Wesentlichen unverändert. Hanjo Glock hat diese Auffassung in fünf Punkten zusammengefasst: „(a) Philosophy differs in principle from the sciences because of its a priori character. (b) Because the a priori is to be explained by reference to linguistic rules, it is concerned not with objects but with our way of talking about objects according to ‘grammatical rules’. (c) These rules are not responsible to an ‘essence of reality’, therefore philosophy should neither justify nor reform but only describe them. (d) As competent speakers we are already familiar with our grammar, but tend to ignore or distort it in philosophical reflection. Hence, describing grammar cannot lead to discoveries or theory construction; it reminds us of how we speak, for the sake of dissolving conceptual confusions. (e) This conceptual clarification cannot be systematic or make progress in the way in which science does.“ (Glock 1996, 295)
Vergleichen wir diese Auffassung noch einmal mit der Humes. Wittgenstein ist ebenso wie Hume der Meinung, dass sich Philosophie von den empirischen Wissenschaften durch ihren a priori Charakter unterscheidet. Und er ist sich mit Hume einig, dass sich philosophisch, d. h. a priori, keine Erkenntnisse über die Welt gewinnen lassen. Allerdings kann Wittgenstein zufolge die Philosophie trotzdem etwas leisten; sie kann uns darüber aufklären, wie wir über die Welt reden. Und da philosophische Probleme seiner Meinung nach im Wesentlichen auf sprachlichen Missverständnissen beruhen, kann Philosophie uns auf diese Weise auch bei der Lösung philosophischer Probleme helfen – nicht, indem sie uns Antworten auf philosophische Fragen gibt, sondern indem sie uns klar macht, dass diese Fragen selbst nur darauf beruhen, dass wir uns über die grammatischen Regeln unserer Sprache täuschen. Allgemein unterscheidet man zwei Zweige der Analytischen Philosophie – den formalsprachlichen Zweig, der seine Wurzeln im Wiener Kreis hat, und den normalsprachlichen Zweig, der auf den späten Wittgenstein zurückgeht. Zumindest, was den formalsprachlichen Zweig der Analytischen Philosophie angeht, muss man feststellen, dass sich dessen Philosophieverständnis Mitte des 20. Jahrhunderts erheblich verändert. Ein Grund dafür war das Scheitern des empiristischen Sinnkriteriums. Schon Popper hatte sich geweigert, von einem „Sinnkriterium“ zu sprechen, und vorge-
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schlagen, stattdessen den Ausdruck „Abgrenzungskriterium“ zu verwenden. Sätze, die sich empirisch falsifizieren lassen, sind wissenschaftliche Sätze; Sätze, bei denen das nicht der Fall ist, gehören nach Popper zwar nicht in den Bereich der Wissenschaften, sind deshalb aber noch lange nicht sinnlos. Doch weniger Poppers Vorschlag zur Güte als vielmehr die Erkenntnis, dass auch zentrale wissenschaftliche Ausdrücke wie „Elektron“ oder sogar „Masse“ den strengen Anforderungen des empiristischen Sinnkriteriums nicht genügen, da sich diese Ausdrücke nicht in Erfahrungsbegriffen definieren lassen, führte dazu, dass dieses Kriterium Schritt für Schritt aufgegeben wurde. Doch damit war der Analytischen Philosophie ein zentrales Werkzeug zur Destruktion der traditionellen Philosophie abhanden gekommen. Wenn Termini wie „Elektron“ und „Masse“ keinen klaren empirischen Gehalt haben, warum sollte man das von Ausdrücken wie „Prinzip“ oder „Gott“ erwarten? Wenn Sätze wie „Elektronen haben eine Ruhemasse von 9,109 10–28 Gramm“ einen Sinn haben, warum sollten dann Sätze wie „Gott ist der Schöpfer der Welt“ sinnlos sein? Ein zweiter Grund findet sich in den epochemachenden Überlegungen Quines in Two Dogmas of Empiricism. Unter den Mitgliedern des Wiener Kreises hatte es einen – prima facie philosophischen – Streit zwischen Phänomenalisten und Physikalisten gegeben. Die Phänomenalisten waren der Meinung, eine sichere Grundlage für die Wissenschaften könne nur in unseren Wahrnehmungseindrücken bestehen; denn nur diese seien absolut sicher. Demgegenüber betonte etwa Otto Neurath, dass Berichte über Wahrnehmungseindrücke nicht allgemein überprüfbar seien, die Grundlage aller Wissenschaften aber aus intersubjektiv überprüfbaren Aussagen bestehen müsse. Also seien nicht Aussagen über Wahrnehmungseindrücke grundlegend, sondern Aussagen über beobachtbare Gegenstände wie „Der Zeiger des Messgeräts steht auf 2“ oder „Die Farbe der Lösung ist von rot in blau umgeschlagen“. Diesen Streit konnte man auch metaphysisch deuten; so verstanden vertraten die Phänomenalisten ähnlich wie Berkeley die Auffassung, nur unsere mentalen Eindrücke seien real, Gegenstände der „Außenwelt“ seien nichts anderes als Ensembles solcher Eindrücke. Demgegenüber meinten die Physikalisten, es gäbe auch von unseren Eindrücken unabhängige Gegenstände der Außenwelt. Als diese und andere ontologische Fragen – wie „Gibt es Zahlen, Eigenschaften oder Mengen?“ – drängender wurden, versuchte Carnap in seinem Aufsatz Empiricism and Ontology 1950 ein letztes Mal zu zeigen, dass es sich hier tatsächlich gar nicht um Sachfragen handele. Vielmehr ginge es in all diesen Fällen immer nur darum, in welcher Sprache wir die Welt beschreiben und erklären. Die Ding-Sprache enthält Ausdrücke wie „Uhr“ und „Tisch“; und in ihr lässt sich die Frage stellen „Steht die Uhr auf dem Tisch?“. Die phänomenale Sprache dage-
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gen enthält nur Ausdrücke, die sich auf Sinnesdaten und anderen phänomenale „Gegenstände“ beziehen. Grundsätzlich, so Carnap, seien wir in der Wahl unserer Sprache frei. Es gebe keine richtigen oder falschen Sprachen; Sprachen könnten sich für die Beschreibung und Erklärung der Welt nur als mehr oder weniger nützlich erweisen. Deshalb sei die Wahl einer Sprache eine externe, eine pragmatische Frage, die man so oder so beantworten könne. Dagegen seien, wenn man sich einmal für die DingSprache entschieden habe, Fragen wie „Steht die Uhr auf dem Tisch?“ oder „Gibt es Einhörner?“ interne Fragen, die sich mit empirischen Mitteln beantworten ließen. Gegen diese Auffassung argumentierte Quine mit folgender Überlegung. Wissenschaftliche Aussagen lassen sich nicht einzeln an der Erfahrung überprüfen. Wenn eine Theorie T voraussagt, dass unter bestimmten Bedingungen in einem Draht ein Strom von 2 Ampere fließt, lässt sich dies ja nicht durch bloßes Hinschauen überprüfen. Vielmehr muss ein Amperemeter benutzt werden, das die Stromstärke in dem fraglichen Draht misst. Wenn dieses Amperemeter nicht 2, sondern sagen wir 3 anzeigt, heißt das dann, dass T falsch sein muss? Nicht unbedingt; denn es könnte auch sein, dass die Annahmen A, die der Konstruktion des Amperemeters zugrunde lagen, falsch sind oder dass dieses Messinstrument schlicht nicht richtig funktioniert. Die Beobachtung zeigt nur, dass die Konjunktion von T, A und der Aussage „Dieses Messinstrument funktioniert einwandfrei“ nicht wahr sein kann. Aber welche dieser drei Aussagen falsch sind, lässt sich aus dem Messergebnis nicht ableiten. Wenn wir uns entschließen, eine oder mehrere dieser Aussagen aufzugeben, ist daher auch dies eine pragmatische Entscheidung, die durch unsere Erfahrung nicht erzwungen wird. Quines Pointe: Die Unterscheidung zwischen internen und externen, zwischen pragmatischen und durch Beobachtung entscheidbaren Fragen lässt sich nicht aufrecht erhalten. Und diese Auffassung führt wie das Scheitern des empiristischen Sinnkriteriums zu der Einsicht, dass es zwischen traditioneller Philosophie und Wissenschaft keine klare Grenze gibt. Dies gilt umso mehr, als die gerade angeführte Überlegung Quine zufolge auch zeigt, dass die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Aussagen nicht haltbar ist. Analytische Aussagen sind dadurch charakterisiert, dass sich ihre Wahrheit schon aus der Bedeutung der in ihnen enthaltenen Ausdrücke ergibt; solche Aussagen sind also wahr, ganz unabhängig davon, wie die Welt beschaffen ist. Und weil das so ist, sind sie aufgrund von Erfahrungen nicht revidierbar. Wenn jedoch niemals einzelne Sätze, sondern letzten Endes immer das ganze Netz unserer Überzeugungen an unseren Erfahrungen überprüft wird und wenn wir deshalb in gewisser Weise frei sind, zu entscheiden, welche Aussagen wir aufgeben, falls das Netz unserer Überzeugungen nicht zu unseren
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Erfahrungen passt, dann können alle Aussagen aufgrund widerstreitender Erfahrungen revidiert werden. Selbst die Gesetze der Logik nimmt Quine nicht aus.3 Das Scheitern des empiristischen Sinnkriteriums und die Überlegungen Quines sind wohl die Hauptgründe, warum sich das Philosophieverständnis der Analytischen Philosophie in den letzten 50 Jahren radikal verändert hat. „Metaphysik“ ist kein Schimpfwort mehr, und das Ziel ist nicht mehr, Philosophie durch logische Analyse der Sprache zu überwinden. Der Fall des empiristischen Sinnkriteriums war die Einbruchstelle, durch die zunächst einmal die traditionelle philosophische Terminologie zurückkehren konnte. Und in deren Gefolge kamen auch die Probleme der traditionelle Philosophie zurück, und zwar in rasantem Tempo und – ohne dass dies großes Aufsehen hervorrief. Am verblüffendsten war vielleicht die Wiederkehr der normativen Ethik. Nach vielen Jahren, in denen sich ethische Überlegungen – der Idee folgend, Philosophie müsse sich auf Sprachanalyse beschränken – allein auf Metaethik beschränkt hatten, war es, hauptsächlich wohl angestoßen durch John Rawls A Theory of Justice von 1971, plötzlich wieder möglich, über Freiheit und Gerechtigkeit zu reden, über den Status ungeborenen Lebens und über den Umgang mit Sterbenden. Schon in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts blieb somit nur die Feststellung: Das Projekt der Abschaffung der Philosophie durch logische Analyse der Sprache war grandios gescheitert. Alle Fragen der traditionellen Philosophie standen wieder auf der Tagesordnung. Dazu gehören „große“ Fragen wie: x x x x x x x x x x
3
Gibt es einen Gott? Was kann man a priori wissen? Lässt sich das Problem der Induktion lösen? Worin besteht die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke? Gibt es eine immaterielle Seele? Haben wir einen freien Willen? Gibt es objektive Werte? Lassen sich moralische Normen rational begründen? Was ist eine gerechte Gesellschaft? Was macht eine Sache schön?
Letzten Endes kommt Quine zu der Überzeugung, dass es keinen Unterschied zwischen empirischen und nicht empirischen Wissenschaften gibt. Alle Annahmen – auch die philosophischen – müssen sich dem Test durch Erfahrung stellen, und alle können an der Erfahrung scheitern. Darauf komme ich gleich noch einmal zurück.
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Aber auch „kleinere“ Fragen wie: x x x x x x x x
Was ist im Hinblick auf sprachliche Bedeutung primär – Sätze oder Wörter? Sind Eigennamen starre Bezeichner? Haben Emotionen eine kognitive Komponente? Können Empfindungen als repräsentationale Zustände aufgefasst werden? Welche Rolle spielen Sinnesdaten bei der Wahrnehmung? Sind Farben real? Was spricht für den Externalismus in der Erkenntnistheorie? Genießen Embryonen von Anfang an den vollen Schutz der Menschenrechte?
Doch damit stellt sich die Ausgangsfrage erneut: Wie sieht die Analytische Philosophie heute den Status der Philosophie? Was macht die aufgezählten Fragen zu genuin philosophischen Fragen, die mit den Mitteln der Mathematik und der empirischen Wissenschaften nicht beantwortet werden können? Und: Mit welchen Mitteln lassen sie sich dann beantworten? Wir hatten schon gesehen, dass Quine der Auffassung ist, dass es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen empirischen Wissenschaften und Philosophie gibt, ebenso wenig wie zwischen empirischen Wissenschaften und Mathematik und Logik. Alle Aussagen sind prinzipiell revidierbar, wenn die Erfahrungen, die wir machen, nicht mit dem Gesamtsystem unserer Überzeugungen zusammenpassen. Am prononciertesten entwickelt er diese Idee im Bereich der Erkenntnistheorie. Einer einflussreichen Linie in der traditionellen Erkenntnistheorie zufolge gewinnen wir Erkenntnisse über die Außenwelt auf dem Wege über die Sinneseindrücke, die wir in uns vorfinden. Aber wie ist der Schluss von den Sinneseindrücken auf die Außenwelt möglich? In der Frühphase der Analytischen Philosophie wurde z. B. von Vertretern des Wiener Kreises versucht, die Kluft, die sich hier auftun könnte, durch die These zu überwinden, dass alle Aussagen über die Außenwelt äquivalent sind mit Aussagen, in denen allein logisch-mathematische und Beobachtungsbegriffe vorkommen. Der ambitionierteste Versuch dieser Art findet sich wohl in Carnaps Der logische Aufbau der Welt. Carnap selbst musste jedoch erkennen, dass sich diese These nicht durchhalten lässt. Was folgt aus diesem Scheitern? Eine Konsequenz, die man ziehen kann, ist nach Quine, dass man Erkenntnistheorie – ebenso wie Metaphysik – zu einem sinnlosen Unterfangen erklärt. Seine eigene Auffassung ist aber eine andere: „Aber ich meine, daß es an dieser Stelle wohl nützlicher ist, statt dessen zu sagen, daß die Erkenntnistheorie auch weiterhin fortbesteht, jedoch in einem neuen Rahmen und mit einem geklärten Status. Die Erkenntnistheorie oder etwas Ähnliches erhält ihren Platz innerhalb der Psychologie und somit innerhalb der
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empirischen Wissenschaften. Sie studiert ein empirisches Phänomen, nämlich ein physisches menschliches Subjekt. Diesem menschlichen Subjekt wird ein bestimmter, experimentell kontrollierter Input gewährt – z. B. bestimmte Bestrahlungsmuster in ausgesuchten Frequenzen –, und zur rechten Zeit liefert das Subjekt als Output eine Beschreibung der dreidimensionalen Außenwelt und Ihres Verlaufs. Die Beziehung zwischen dem mageren Input und dem überwältigenden Output ist die Beziehung, zu deren Untersuchung uns, grob genommen, die Gründe anspornen, die die Erkenntnistheorie immer motiviert haben: nämlich herauszufinden, in welcher Beziehung die Beobachtung zur Theorie steht und auf welche Weise jemandes Theorie über die Natur über alle Beobachtungen, die man je machen könnte, hinausgeht.“ (Quine 1969, 115)
Aufgabe der Erkenntnistheorie wird es, herauszufinden, wie das physische Subjekt Mensch die physischen Reize, die auf seine Sinnesorgane treffen, verarbeitet, wie es aus diesen Reizen zu seinen Annahmen über die Außenwelt bis hin zu seinen wissenschaftlichen Theorien über diese Welt kommt. Traditionelle Erkenntnistheoretiker mögen an dieser Stelle sofort den Vorwurf der Zirkularität erheben: Man kann doch den Aussagen der empirischen Wissenschaften erst trauen, wenn die Erkenntnistheorie zu aller erst geklärt hat, ob und inwieweit die Aussagen dieser Wissenschaften einschließlich der Psychologie selbst gerechtfertigt sind. Doch wer glaubt, Wissenschaft ohne Rückgriff auf Wissenschaft legitimieren zu können, ist nach Quine auf dem Holzweg. Die epistemische Situation, in der wir uns befinden, wurde für ihn durch Neurath treffend charakterisiert: „Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.“ (Neurath 1932/3, 206)
In der Erkenntnistheorie können wir – wie auch sonst – zunächst gar nicht anders, als den uns zur Verfügung stehenden Erkenntnismethoden (Wahrnehmung, Wissenschaft) weitgehend zu vertrauen. Auf dieser Grundlage gelangen wir dann allerdings zu Ergebnissen, die es uns erlauben, die Verlässlichkeit dieser Mittel selbst besser zu durchschauen. In der Analytischen Philosophie gibt es eine ganze Reihe von Philosophinnen und Philosophen, die diese Auffassung von Philosophie attraktiv finden; aber es gibt auch viele, die Philosophie ganz anders sehen. Neuerdings gibt es sogar eine Strömung, die explizit an die Tradition des Rationalismus anschließt. Rationalisten vertreten die Auffassung, dass man a priori nicht nur formales Wissen im Bereich der analytischen Aussagen, sondern auch inhaltliches Wissen über die Welt gewinnen kann.4 Descartes
4
Vgl. Nimtz 2009.
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hat – in Anlehnung an Euklid – die Grundidee besonders klar zum Ausdruck gebracht: Wir beginnen mit klaren und deutlichen Prinzipien, die so einleuchtend sind, dass wir an ihrer Wahrheit nicht zweifeln können, um dann aus diesen Prinzipien weitere wahre Aussagen deduktiv abzuleiten. Zu den intuitiv gewissen Prinzipien gehören für Descartes z. B. die Aussagen „Ich existiere“, „Ich kann allein mit der Eigenschaft des Denkens als ein vollständiges Wesen existieren“, „Ich finde in mir die Idee eines im höchsten Maße vollkommenen Wesens“ und „In der vollständigen wirkenden Ursache muss mindestens ebensoviel Realität enthalten sein wie in dem von dieser Ursache Bewirkten“. Hume hat gegen dieses Erkenntnismodell gar nichts einzuwenden. Allerdings hält er, wie schon gesagt, nur solche ersten Prinzipien für legitim, bei denen die Annahme des Gegenteils einen Widerspruch beinhaltet. Und das bedeutet in der Konsequenz, dass sehr vieles von dem, was Rationalisten für intuitiv gewiss erachten, Hume zufolge, diesen Status nicht beanspruchen kann. Paradigmatisch zeigt er dies für das Kausalprinzip „Alles, was zu existieren anfängt, muss einen Grund seiner Existenz haben“.5 Seine Argumentation enthält zwei Teile: 1. Wenn man die Sache genau betrachtet, ist nicht zu sehen, warum die Negation dieses Satzes einen Widerspruch beinhalten soll. 2. Alle vermeintlichen Beweise, die bisher für diese Aussage vorgetragen wurden, sind unzulänglich. Humes Skepsis in Bezug auf nicht analytische erste Prinzipien wurde im 19. Jahrhundert durch die Entdeckung der nicht-euklidischen Geometrien indirekt bestätigt. Ich hatte schon betont, dass sich Rationalisten stark am Aufbau der Geometrie Euklids orientierten.6 Auch Euklid geht von einer Reihe von Definitionen, Axiomen und Postulaten aus, um dann aus diesen alle Lehrsätze der Geometrie deduktiv abzuleiten. Zu den Axiomen gehören Aussagen wie „Was demselben gleich ist, ist auch einander gleich“ und „Wenn Gleichem Gleiches hinzugefügt wird, sind die Ganzen gleich“, die man ohne weiteres für analytisch halten kann, aber auch das berühmte Parallelenaxiom „Und dass, wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, dass innen auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die zwei geraden Linien bei Verlängerung ins unendliche sich treffen auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind“.7 Viele Jahrhunder5 6 7
Vgl. Hume 1973, Erstes Buch, Teil III, Abschnitt 3. Man denke nur an den Titel von Spinozas Hauptwerk Ethica ordine geometrico demonstrata. Euklid 1997, 3.
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te hat man versucht, zu zeigen, dass sich dieses Axiom aus den anderen ableiten lässt bzw. dass sich ein Widerspruch ergibt, wenn man es durch seine Negation ersetzt. Aber alle Versuche, dieses sogenannte „Parallelenproblem“ zu lösen, scheiterten. Gauß erkannte schließlich die Unlösbarkeit des Problems. Aber erst Lobatschewski veröffentlichte 1826 eine neue – die später so genannte „hyperbolische“ – Geometrie, in der alle Axiome Euklids gelten außer dem Parallelenaxiom.8 Auf dieser Grundlage entwickelten sich die nicht-euklidischen Geometrien, bei denen das Parallelenaxiom entweder ganz wegfällt oder durch andere Axiome ersetzt wird, wobei zum Teil auch noch andere Axiome der euklidischen Geometrie in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Entdeckung nicht-euklidischer Geometrien war für die Grundannahmen des Rationalismus ein schwerer Schlag. Denn sie zeigte, auf welch wackligen Füßen die Annahme steht, es gebe nichtanalytische erste Prinzipien, deren Wahrheit intuitiv eingesehen werden kann. Für die Mathematik selbst bewirkte sie ein völliges Umdenken im Hinblick auf den Begriff des Axioms. Axiome sind in der Mathematik heute nicht mehr unumstößliche erste Prinzipien, deren Wahrheit man intuitiv einsehen kann, sondern Setzungen oder Annahmen. Angenommen A, B und C sind der Fall, was lässt sich aus diesen Annahmen deduktiv ableiten? Trotz der Probleme, die sich aus der Kritik Humes und der Entdeckung nicht-euklidischer Geometrien für die Grundannahmen des Rationalismus ergaben, setzen auch in der Analytischen Philosophie einige – wie etwa George Bealer – inzwischen wieder auf die Methode der Intuition.9 Intuition ist in ihren Augen z. B. eine verlässliche Methode, wenn es um Einsichten in das geht, was möglich und notwendig ist. Allerdings gehen Vertreter dieser Theorie heute nicht mehr davon aus, dass Intuition 100% verlässlich ist. Sie sehen sie vielmehr in Analogie zur Sinneswahrnehmung. Sinneswahrnehmung ist zwar im Allgemeinen zuverlässig; aber das schließt nicht aus, dass es im Einzelfall rational sein kann, Wahrnehmungsurteile im Hinblick auf widersprechende Erfahrungen und Überlegungen zu revidieren. Warum sollen wir glauben, dass neben der Wahrnehmung auch die Intuition in der Regel zu wahren Überzeugungen führt? BonJour etwa hat argumentiert, dass nicht-formale a priori Erkenntnis eine Voraussetzung dafür sei, dass wir empirisches Wissen erwerben können.10 Und andere betonen die Unverzichtbarkeit und intuitive Offensichtlichkeit z. B. mathematischer Wahrheiten.11 Gerade auch angesichts des Schicksals der euklidischen Geometrie finden diese Argumente aber keineswegs allgemeine Zustimmung. Es stellt 8 9 10 11
Fast zeitgleich kam Janos Bolyai zu ähnlichen Resultaten. Vgl. z. B. Bealer 2000. BonJour 1998. Nimtz 2009, 220f.
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sich z. B. ja auch die Frage, wie denn ein Vermögen wie die Intuition evolutionär entstanden sein könnte? Und schließlich: Ist Philosophie wirklich darauf angewiesen, dass es inhaltliche a priori Erkenntnisse gibt? Diese Frage lässt sich in meinen Augen nicht allgemein beantworten. Vielmehr muss man sich die verschiedenen Felder der Philosophie – die Erkenntnistheorie, die Sprachphilosophie, die Philosophie des Geistes, die Moralphilosophie, die Politische und die Sozialphilosophie – genau ansehen und untersuchen, mit welcher Art von Argumenten man in diesen verschiedenen Feldern versucht, zu tragfähigen Ergebnissen zu kommen. Ich will mich hier auf die Religionsphilosophie beschränken und zu klären versuchen, wie in der (analytischen) Philosophie für bestimmte Positionen argumentiert wird. Als Beispiel soll die zentrale Frage der Religionsphilosophie dienen: Gibt es einen (christlichen verstandenen) Gott? Auch diese Frage hielten frühere Vertreter der Analytischen Philosophie für sinnlos, weil sie keinen empirischen Gehalt hat. Antony Flew beginnt seinen Beitrag zu dem berühmten Symposium Theology and Falsification mit einer Parabel: „Once upon a time two explorers came upon a clearing in the jungle. In the clearing were growing many flowers and many weeds. One explorer says, ‚some gardener must tend this plot.‘ The other disagrees, ‚There is no gardener.‘ So they pitch their tents and set a watch. No gardener is ever seen. ‚But perhaps he is an invisible gardener.‘ So they set up a barbed-wire fence. They electrify it. They patrol with bloodhounds. (For they remember how H.G. Wells’s The Invisible Man could be both smelt and touched though he could not be seen.) But no shrieks ever suggest that some intruder has received a shock. No movements of the wire ever betray an invisible climber. The bloodhounds never give cry. Yet still the Believer is not convinced. ‚But there is a gardener, invisible, intangible, insensible to electric shocks, a gardener who has no scent and makes no sound, a gardener who comes secretly to look after the garden which he loves.‘ At last the Skeptic despairs, ‚But what remains of your original assertion? Just how does what you call an invisible, intangible, eternally elusive gardener differ from an imaginary gardener or even from no gardener at all?‘“ (Flew 1955, 96)
Am Schluss dieses Beitrags stellt Flew die Frage: „Gibt es irgendeine beobachtbare Tatsache, die gegen die Existenz Gottes sprechen würde, oder dagegen, dass Gott uns liebt?“ Für ihn scheint klar, dass eine Aussage nur dann einen kognitiven Gehalt hat, wenn sie mit mindestens einer beobachtbaren Tatsache unvereinbar ist. Falls das bei den Aussagen „Gott existiert“ und „Gott liebt seine Geschöpfe“ nicht der Fall ist, sind diese Aussagen tatsächlich sinnlos. Nach dem Scheitern des empiristischen Sinnkriteriums findet man eine solche Argumentation heute kaum noch. Trotzdem ist sie interessant. Denn
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sie zeigt, inwiefern sich die These der Existenz Gottes von manch anderen Hypothesen unterscheidet, über die mit normalen empirisch-wissenschaftlichen Mitteln entschieden werden kann. Aus dieser Hypothese lassen sich nämlich offenbar keine Aussagen ableiten, bei denen man durch Beobachtung entscheiden könnte, ob sie zutreffen oder nicht. Jedenfalls kenne ich keinen, der die folgenden oder ähnliche Aussagen akzeptieren würde: „Wenn Gott existiert, werden Gebete unter bestimmten (nachprüfbaren) Umständen erhört“, „Wenn Gott existiert, sterben keine Kinder qualvoll an unheilbaren Krankheiten“ oder „Wenn Gott existiert, werden Verbrecher zumindest daran gehindert, besonders grausame Straftaten zu begehen“. Wie kann man sich dann aber der Beantwortung der Frage, ob es einen Gott gibt, überhaupt rational nähern? Letztlich steht die Analytische Philosophie hier ganz in der Tradition der klassischen Philosophie von den Vorsokratikern bis Kant. Auch sie diskutiert die herkömmlichen Gottesbeweise, die Frage, inwieweit religiöse Erfahrungen die Existenz Gottes wahrscheinlich machen, und die Frage, ob die Existenz des Übels gegen die Existenz eines christlich verstandenen Gottes spricht. Bei den traditionellen Gottesbeweisen geht es um Folgendes: Ist der Begriff Gottes so geartet, dass die Behauptung „Gott existiert nicht“ einen Widerspruch beinhaltet (ontologischer Gottesbeweis)? Kann man aus der Existenz der kontingenten Welt auf die Existenz einer ersten Ursache oder eines notwendigen Wesens schließen (kosmologischer Gottesbeweis)? Kann man aus der Existenz natürlicher zweckmäßiger Wesen in dieser Welt auf die Existenz eines intelligenten Urhebers schließen (teleologischer Gottesbeweis)? Bekanntlich hat Kant gegen den ontologischen Gottesbeweis zwei Einwände erhoben: 1. Wenn man bei einem identischen Urteil das Subjekt beibehält, aber das Prädikat aufhebt, entsteht ein Widerspruch; wenn man aber Subjekt und Prädikat zugleich aufhebt, ergibt sich kein Widerspruch. 2. Existenz ist kein reales Prädikat. Freges Analyse der Existenz kann als eine große Hilfe verstanden werden, diese Einwände besser zu verstehen. Frege bestreitet, dass man von Einzeldingen sagen könne, sie existierten oder sie existierten nicht; Existenz ist in seinen Augen ein Begriff zweiter Stufe, d. h., ein Begriff, den man nicht auf Gegenstände, sondern nur auf Begriffe anwenden kann. Die logische Form von Existenzaussagen sei nicht „Ea“, sondern „xFx“. Zu sagen „Es gibt Einhörner“ heiße also nichts anderes, als zu sagen „Der Begriff Einhorn ist erfüllt“. Kant scheint etwas ganz Ähnliches im Sinn gehabt zu haben. Denn Freges Analyse hat zwei Konsequenzen, die sehr gut zu Kants Argumentation passen: (1) Aussagen der Form „xFx“ beinhalten nie
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einen Widerspruch,12 und (2) Existenz ist kein Merkmal, das man zur Definition eines Begriffes verwenden könnte. Allerdings zeigt die Kritik an Frege auch Schwächen der Einwände Kants. Die Fragen „Hat Shakespeare wirklich existiert oder sind seine Stücke von einer anderen Person geschrieben worden, die nur den Namen ‚Shakespeare‘ benutzt hat?“ und „Gibt es den Yeti wirklich oder handelt es sich hier nur um eine Legende?“ scheinen völlig in Ordnung; aber in diesen Fragen geht es doch offenkundig um die Existenz einzelner Personen oder Dinge und nicht darum, ob ein Begriff erfüllt ist oder nicht. Freges These, Existenz sei ein Begriff zweiter Stufe, ist also keineswegs selbstverständlich. Außerdem scheint es auch völlig legitim, den Begriff Zentaur so zu definieren: „Zentauren sind Fabelwesen mit einem Pferdekörper und dem Oberkörper eines Menschen“. Das Entscheidende ist hier der Ausdruck „Fabelwesen“; denn etwas ist nur dann ein Fabelwesen, wenn es in Wirklichkeit nicht existiert. Mit anderen Worten: Nichtexistenz kann offenbar Teil der Definition eines Begriffes sein. Warum dann aber nicht auch Existenz? Ich kann diesen Problemen hier nicht weiter nachgehen. Aber so viel scheint doch klar: Bei der Analyse des ontologischen Gottesbeweises geht es nicht um intuitive Erkenntnisse a priori, sondern um ein angemessenes Verständnis des Begriffs Existenz und insbesondere um die Frage, ob Aussagen der Form „xFx“ überhaupt einen Widerspruch beinhalten können. Die traditionelle Diskussion um den kosmologischen Gottesbeweis dreht sich um drei Fragen – die Frage, ob es einen unendlichen Regress von Ursachen geben kann, die Frage, ob die Existenz kontingenter Dinge die Existenz notwendiger Wesen voraussetzt, und schließlich die Frage, ob es tatsächlich für alles einen Grund/eine Ursache geben muss. Thomas von Aquin argumentiert in seinem dritten Weg13: Alles, was kontingent ist, kann auch nicht sein; was nicht sein kann, ist auch einmal nicht; wenn alles kontingent wäre, gäbe es also einen Zeitpunkt, zu dem gar nichts existierte;14 das aber ist unmöglich; denn wenn zu einem Zeitpunkt gar nichts existiert, dann existiert auch später nichts (was nicht der Fall ist), weil etwas nur anfangen kann zu existieren, wenn es von etwas in die Existenz gebracht wird, das schon existiert. Man sieht hier klar, wie Thomas – ebenso wie später Clarke und Leibniz – von der Existenz kontingenter Dinge auf die Existenz zumindest eines notwendigen Wesens schließt; und der Dreh- und Angelpunkt der Argumentation ist das Prinzip vom zureichenden Grund in der Form „Nichts beginnt zu existieren, was nicht von etwas
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Hier muss man allerdings Prädikate wie „x=x“ ausnehmen. Thomas von Aquin 1996, 56f. Dieser Schritt ist wohl unzulässig.
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in die Existenz gebracht wird, das schon existiert“. Dieses Prinzip galt lange Zeit für so selbstverständlich, dass man sich kaum vorstellen konnte, wie man daran zweifeln kann. Erst Hume stellte, wie wir schon gesehen haben, zwei Dinge klar: Das Prinzip ist nicht analytisch wahr, und alle bisherigen Versuche, das Prinzip zu beweisen, sind unzulänglich. Wenn das Prinzip vom zureichenden Grund wahr ist, kann es sich also bestenfalls um eine empirische Wahrheit handeln.15 Doch der Glaube, dass es sich hier um einen empirisch wahren Satz handelt, ist durch die Quantenphysik ebenfalls stark erschüttert worden. Es hat lange gedauert, bevor dies allgemein akzeptiert wurde, aber heute gehen wir davon aus, dass es z. B. für den Zeitpunkt, zu dem ein Radiumatom zerfällt, weder einen Grund noch eine Ursache gibt. Radium hat eine Halbwertszeit von 1602 Jahren, d. h., von einer bestimmten Menge von Radiumatomen wird in dieser Zeit die Hälfte zerfallen sein. Aber von einem einzelnen Radiumatom können wir nicht nur nicht sagen, wann genau es zerfallen wird; dies ist vielmehr objektiv unbestimmt. Für diesen Zeitpunkt gibt es nach allem, was wir wissen, weder einen Grund noch eine Ursache. Das Standardmodell der Kosmologie lehrt uns, dass unser Weltall vor ca. 13,7 Milliarden Jahren im sogenannten Urknall entstanden ist. Bis zum 18. Jahrhundert wäre jeder davon überzeugt gewesen, dass es für dieses Ereignis einen Grund/eine Ursache gegeben haben muss. Heute sind die meisten in diesem Punkt wohl agnostisch. Kann sein, dass es einen Grund oder eine Ursache gab; vielleicht ist der Urknall aber auch einfach so passiert – ohne jeden Grund und ohne jede Ursache. Was bedeutet das für die Frage des a priori in der Philosophie? Die traditionellen Versionen des kosmologischen Gottesbeweises beruhen alle darauf, dass das Prinzip vom zureichenden Grund wahr ist, und dass man die Wahrheit dieses Prinzips a priori intuitiv einsehen kann. Die heutige Kritik dagegen bestreitet nicht nur die intuitive Einsichtigkeit, sondern sogar die Wahrheit des Prinzips. Fortschritt ergibt sich hier also nicht durch neue intuitive Einsichten a priori, sondern genau dadurch, dass man die Möglichkeit solcher Einsichten bestreitet. Beim teleologischen Gottesbeweis liegen die Dinge methodologisch wieder ganz anders. Ausgangspunkt ist hier die unbestrittene Tatsache, dass in der Welt zweckmäßige Dinge (z. B. Lebewesen) existieren – komplexe Dinge, deren Teile so aufeinander abgestimmt sind und so interagieren, dass ein vorteilhafter Effekt entsteht. Die Frage ist: Woher kommen diese Dinge, was ist ihre Ursache? Neben den natürlichen zweckmäßigen
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Kants Versuch zu zeigen, dass es sich um eine synthetische Wahrheit a priori handelt, von der man beweisen kann, dass sie wenigstens in der Erscheinungswelt gilt, muss wohl auch als gescheitert betracht werden.
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Dingen gibt es auch künstliche, von uns Menschen hergestellte, zweckmäßige Dinge – Maschinen. Das klassische Argument lautet: Die natürlichen zweckmäßigen Dinge ähneln stark den künstlichen zweckmäßigen Dingen; die künstlichen zweckmäßigen Dinge gehen alle auf intelligente Wesen als Urheber zurück; also werden wohl auch die natürlichen zweckmäßigen Dinge auf intelligente Wesen als Urheber zurückgehen. Hume hat an diesem Argument zwei Dinge kritisiert:16 1. Die behauptete Ähnlichkeit zwischen natürlichen und künstlichen zweckmäßigen Dingen ist bei weitem nicht so groß, wie dies für einen Analogieschluss notwendig wäre. 2. Aber davon einmal abgesehen: Wenn diese Ähnlichkeit doch groß genug sein sollte, dann muss das Prinzip „Gleiche Wirkungen gleiche Ursachen“ auch ernst genommen werden. Maschinen werden von Menschen, also Wesen mit endlichem Verstand, Wesen aus Fleisch und Blut geschaffen; außerdem gehen die besten Maschinen nicht auf einzelne Menschen zurück, sondern beruhen auf der Zusammenarbeit der besten Handwerker und Ingenieure. Die natürlichen zweckmäßigen Dinge, die wir in der Welt vorfinden, sind zwar häufig viel kunstvoller als die von uns hergestellten Maschinen, aber auch sie sind beileibe nicht vollkommen. Müssten wir deshalb nicht eigentlich zu dem Schluss kommen, dass auch die Urheber der natürlichen zweckmäßigen Dinge Wesen mit endlichem Verstand aus Fleisch und Blut sind und dass die besten dieser Wesen auf der Zusammenarbeit mehrerer dieser intelligenten Urheber beruhen? Hume übt hier also eine immanente Kritik an dem dem teleologischen Gottesbeweis zugrundeliegenden Analogieschluss: Die Hauptprämisse ist zweifelhaft, und, selbst wenn man diese Prämisse akzeptiert, müsste die Schlussfolgerung deutlich anders lauten, als meistens angenommen wird. Die Kernfrage des teleologischen Gottesbeweises ähnelt sehr stark einer empirisch-wissenschaftlichen Frage: Woher kommen die natürlichen zweckmäßigen Dinge? Was ist die beste Erklärung für diese Dinge? Und so ist es auch kein Wunder, dass eine empirische Theorie der Diskussion um diesen Gottesbeweis eine entscheidende Wende gab – Darwins Theorie der evolutionären Entstehung der Lebewesen. Während vor Darwin viele, vielleicht die meisten, den Eindruck hatten, für zweckmäßig strukturierte Dinge könne es gar keine andere Ursache als einen intelligenten Urheber geben,17 hatte man nach Darwin zumindest eine Vorstellung davon, wie eine natürli-
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Hume 1981, Teil 10 und 11. Vgl. z. B. den zentralen Text Paley 1809.
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che Erklärung der Entstehung des Lebens aussehen kann. Natürlich gibt es auch an Darwins Vorschlag Kritik. Vertreter des Intelligent Design etwa behaupten, dass es in manchen Lebewesen Strukturen gibt, die unmöglich auf evolutionäre Weise entstanden sein können (Stichwort: irreduzible Komplexität). Diese Auffassung ist ihrerseits bestritten worden,18 aber sie hat doch einige hochinteressante wissenschaftstheoretische Fragen aufgeworfen: Ist Wissenschaft darauf festgelegt, immer nur nach natürlichen Erklärungen zu suchen? Oder gibt es Umstände, in denen natürliche Phänomene auf das Einwirken nicht-natürlicher Ursachen zurückgeführt werden dürfen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Annahme nichtnatürlicher Ursachen immer als ad hoc-Hypothese abgelehnt werden muss? Ich beende hier den Überblick über die philosophische Diskussion der klassischen Gottesbeweise, um zu einem kurzen Fazit zu kommen. Es sollte aber klar sein, dass mit diesem Überblick bestenfalls ein Anfang gemacht wurde. Wer wissen will, wie (analytische) Philosophie funktioniert, kann das nur herausfinden, in dem er untersucht, wie Philosophinnen und Philosophen in den einzelnen Bereichen der Philosophie – Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes, Religionsphilosophie, Moralphilosophie, Politische und Sozialphilosophie – tatsächlich vorgehen. Trotzdem: Was kann man allein schon aus der Betrachtung der philosophischen Diskussion der Gottesbeweise über die Philosophie erfahren? Zunächst einmal: Die These, dass es einen (christlich verstandenen) Gott gibt, ist sicher eine These über die Beschaffenheit der Welt. Wie kann man herausfinden, ob diese These zutrifft? Da offenbar viele annehmen, dass aus ihr keine beobachtbaren Fakten folgen, läuft die klassische Methodologie der empirischen Wissenschaften ins Leere. Ist deshalb rationalistische Intuition die einzige verbleibende Alternative? Der ontologische Gottesbeweis geht einen anderen Weg. Befürworter dieses Beweises argumentieren, dass zum Begriff des denkbar vollkommensten Wesens auch die Existenz gehört und dass daher der Satz „Das denkbar vollkommenste Wesen existiert nicht“ einen Widerspruch darstellt. Kritiker des Beweises verweisen dagegen darauf, dass der Begriff der Existenz so geartet ist, dass eine Aussage der Form „xFx“ niemals widersprüchlich sein kann. Hier geht es also zentral um den Begriff der Existenz; und der kann wohl kaum durch rationalistische Intuition geklärt werden. Der kosmologische Gottesbeweis beruht im Wesentlichen auf der Idee, dass es keine kontingenten Wesen ohne notwendige Wesen geben kann. Und diese Annahme lässt sich nur begründen, wenn man das Prinzip vom zureichenden Grund für intuitiv einsichtig hält. Zweifel daran unterminieren den 18
Einen Einstieg in die Debatte liefern Dembski/Ruse 2007.
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gesamten Beweis. Der teleologische Gottesbeweis schließlich wird zwar traditionell als Analogieschluss dargestellt; richtiger ist aber wohl, ihn als Schluss auf die beste (einzig mögliche?) Erklärung aufzufassen. Als solcher unterliegt er den ganz normalen wissenschaftlichen Standards. Wir finden in der Welt Dinge, für die wir eine Erklärung suchen. Lässt sich eine natürliche Erklärung finden? Anhänger der Evolutionstheorie sagen „Ja“; andere behaupten, dass zumindest nicht alles, was sich im Bereich der Lebewesen findet, natürlich erklärbar ist. Falls das so ist, berechtigt uns das, eine nicht-natürliche Erklärung anzunehmen? Dies sind offensichtlich wissenschaftstheoretische Fragen. Und wie können diese Fragen beantwortet werden? Selbst mit wissenschaftlichen Mitteln? Oder durch rationalistische Intuition? Eines ist hoffentlich klar geworden: Es gibt nicht nur empirisch-wissenschaftliche Methoden und rationalistische Intuition. In der Philosophie gibt es viele Arten von Argumenten, die sich nicht leicht auf einen einzigen Nenner bringen lassen. Ein letztes Wort: In den letzten Abschnitten war viel von klassischen Autoren wie Thomas von Aquin, Hume und Kant die Rede, weniger von analytischen Philosophen. Das war kein Zufall. Ich denke zwar, dass in der Analytischen Philosophie viele alte Diskussionen – insbesondere auf der Grundlage eines deutlich verbesserten logischen Verständnisses – manche neue Wendungen erfahren haben. Aber die Analytische Philosophie, wie sie sich heute darstellt, kann man in meinen Augen vielfach sehr gut als Fortführung der philosophischen Diskussion von den Vorsokratikern bis Kant verstanden werden. Im 19. und 20. Jahrhundert hat sich die Philosophie in sehr unterschiedliche und zum Teil sehr eigenartige Richtungen entwickelt. Vielleicht ist das Motto der gegenwärtigen Analytischen Philosophie einfach: Back to the classics.
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Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene In diesem Kapitel werden wir die Leitfragen dieses Bandes – Warum soll eigentlich überhaupt philosophiert werden? Aus welchen Gründen, mit welchen Zielen und Absichten wird Philosophie denn überhaupt betrieben? – anhand des Verhältnisses zwischen der Philosophie und den Einzelwissenschaften erörtern. Ein solches Unternehmen sieht sich zunächst mit drei Problemen konfrontiert, die wir im ersten Abschnitt besprechen. In den darauf folgenden Abschnitten stellen wir dann einige neuere Ansätze dazu vor, wie die Philosophie ihr Verhältnis zu den anderen Wissenschaften auffassen kann und was dieses Verhältnis für die Gründe und Ziele des Philosophierens bedeuten kann. Schließlich werden wir im letzten Abschnitt unsere eigene Auffassung davon darlegen, wie sich die Philosophie zu den Einzelwissenschaften verhalten sollte. Während die Einzelwissenschaften positives Wissen über die Beschaffenheit der Welt hervorbringen wollen, hat die Philosophie unserer Auffassung nach u. a. die Aufgabe, das von den Einzelwissenschaften hervorgebrachte Wissen kritisch zu reflektieren. Eine solche Tätigkeit kann für die Einzelwissenschaften zwei verschiedene Arten von Ergebnissen haben. Zum einen kann die kritische Reflexion von positivem wissenschaftlichem Wissen zur Klärung der darin gebrauchten Begriffe oder der darin beschriebenen Sachverhalten führen, so dass man ein tieferes Verständnis dieser Begriffe oder Sachverhalte gewinnt. In diesem Modus kann die Philosophie als eine Fortführung der Arbeit der Einzelwissenschaften verstanden werden, indem sie zur Vertiefung und Interpretation des einzelwissenschaftlichen Wissens beitragen kann. Zum anderen kann eine solche Tätigkeit auch zu einer Destruktion der involvierten Begriffe oder Sachverhalte führen, weil sich bei der genaueren Nachfrage die entsprechende Sache als unhaltbar herausstellt. Hier kann die Philosophie als Kritik der Wissenschaften verstanden werden, indem sie Probleme im einzelwissenschaftlichen Wissen aufzeigt und damit die Wissenschaften herausfordert, bestimmte Fragestellungen erneut zu untersuchen.
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I. Vorbemerkungen: drei Probleme Bevor wir in die genauere Erörterung des Verhältnisses von Philosophie und Einzelwissenschaften eintreten, sind drei Vorbemerkungen zu machen. Erstens ist festzuhalten, dass eine Erörterung der Gründe und Ziele der Philosophie unter Einbeziehung anderer Wissenschaftsbereiche grundsätzlich Gefahr läuft, sich in einer Selbstrechtfertigung der Philosophie gegenüber diesen anderen Wissenschaften zu verlieren. Diese Gefahr tritt besonders dann auf, wenn die Philosophie und die sogenannten harten Naturwissenschaften einander gegenüber treten. Oft vertreten Naturwissenschaftler die Meinung, dass die Philosophie ihre Existenz als akademische Disziplin zu rechtfertigen habe, da sie ja nicht wie die Physik, die Chemie oder die Biologie empirisch begründete Erkenntnisse über die Beschaffenheit der Welt liefert. Wenn aber die Philosophie kein empirisches Wissen liefert, muss ihre Existenzberechtigung darin liegen, dass sie ein anderes brauchbares Produkt liefert – und die Brauchbarkeit dieses Produkts, so meinen manche Naturwissenschaftler, sollte in einem Nutzen für die Naturwissenschaften bestehen. So beklagte z. B. der Physiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg in einem Aufsatz aus dem Jahr 1992 mit dem verheißungsvollen Titel Gegen die Philosophie (Weinberg 1992, Kapitel VII; unsere Übersetzung) die Nutzlosigkeit der Philosophie für sein eigenes Fach. Das Einzige, wozu die Arbeiten von einigen – und sicherlich nicht von allen! – Philosophen aus der Sicht des praktizierenden Physikers gut wären, so Weinberg, sei, die Physiker davor zu schützen, auf Irrtümer anderer Philosophen hereinzufallen. Weinberg wirft der Philosophie vor, im Allgemeinen einen eher bremsenden als fördernden Einfluss auf die naturwissenschaftliche Erforschung der Welt zu haben. Diese Bremswirkung rührt zum einen daher, dass die Philosophie spekulativ-metaphysische Weltbilder aufstellt, womit neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse oft überhaupt nicht oder nur sehr schwer vereinbar sind. Zum anderen formulieren manche Philosophen strikte methodologische und epistemologische Anweisungen für die Forschung, die Naturwissenschaftler oft als unrealistisch und für die alltägliche Forschungspraxis als unbrauchbar einschätzen. Selbst das Teilgebiet der Philosophie, das den Naturwissenschaften am nächsten steht, die Wissenschaftsphilosophie, bietet den Naturwissenschaftlern in Weinbergs Sicht nicht mehr als lediglich „eine angenehme Betrachtung der Geschichte und der Entdeckungen der Wissenschaften“ (ebd., 167; unsere Übersetzung). Zwar gesteht Weinberg (vgl. ebd., 175 f.) zu, dass philosophische Positionen manchmal eine fördernde Wirkung auf den Fortschritt der Wissenschaft haben können, jedoch überwiegen in seiner Sicht die schädlichen Einflüsse. Die positiven Beiträge der Philosophie für die Naturwissenschaft bestanden letztendlich nur in der „Befreiung“ der Naturwissenschaften von
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altem, überholtem Gedankengut – und damit lediglich darin, dass die Philosophie die Sachen entsorgt, die sie selbst in die Welt gesetzt hatte. Wir möchten in diesem Beitrag jedoch keine Rechtfertigung der Philosophie gegenüber Herausforderungen wie den oben angedeuteten liefern, da wir der Meinung sind, dass die Philosophie eine solche Rechtfertigung gar nicht benötigt. Die Philosophie ist, obwohl sie keine empirische Forschung betreibt, dennoch eine eigenständige Disziplin, die ihren eigenen Fragestellungen nachgeht, ihre eigenen Phänomene untersucht und ihre eigenen Theorien entwirft, so wie die Physik, die Biologie, die Soziologie, die Geschichtswissenschaft usw. es auch tun. Die Ziele der Philosophie leiten sich nicht primär aus dem Verhältnis von Philosophie und den anderen Wissenschaften ab; sie werden in den anderen Beiträgen dieses Bandes erörtert. In diesem Beitrag werden wir lediglich einen kleinen Teil dieser Thematik ansprechen und versuchen zu klären, was die Philosophie in Bezug auf die anderen Wissenschaften leisten kann. Dabei werden wir nicht voraussetzen, dass diese Leistung für die anderen Wissenschaften von unmittelbarem Nutzen bezüglich deren Erkenntnisziele ist. Ein zweites Problem ist folgendes: Wenn die Philosophie wie oben beschrieben eine eigenständige Disziplin ist, weshalb sollte man dann überhaupt erwarten, dass man mehr Klarheit über die Gründe und Ziele der Philosophieausübung erlangen kann, indem man das Verhältnis der Philosophie zu anderen Wissenschaften betrachtet? Die Frage Warum sollte überhaupt Physik betrieben werden? wird ja üblicherweise auch nicht dadurch beantwortet, dass wir uns ansehen, wie die Physik sich zur Biologie und zur Soziologie verhält. (Und sie wird schon gar nicht dadurch behandelt, dass gefragt wird, auf welcher Weise die Physik für diese Wissenschaften von Nutzen sein könnte!) Unsere Antwort auf diese Frage ist wissenschaftshistorisch. Die Philosophie darf einen Anspruch darauf erheben, die Mutter aller Wissenschaften genannt zu werden, da viele der heutigen selbständigen Einzelwissenschaften im Laufe der Geschichte aus der Philosophie hervorgegangen sind. So haben sich die Physik und die Chemie zur Zeit der wissenschaftlichen Revolution von der (Natur-)Philosophie abgelöst, so ist die Psychologie im 19. Jh. endgültig ihren eigenen Weg gegangen und so sehen wir heute, wie sich die Kognitionswissenschaft als eigenständige Wissenschaft etabliert. Ursprünglich rein philosophische Fragen werden dadurch zu einzelwissenschaftlichen Fragen, zumindest zum Teil. So wird beispielsweise die Frage nach dem freien Willen, eine klassische Frage der Philosophie, heute auch in den Kognitionswissenschaften behandelt. In dieser Perspektive würde sich die Philosophie als der Restbereich verstehen müssen, die sich mit den Fragen befasst, die übrig geblieben sind, nachdem sich die Einzelwissenschaften von ihrem Ursprung abgelöst haben. Eine
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solche Auffassung der Philosophie ist in der Philosophiegeschichte von mehreren Autoren vertreten worden. Sie findet sich beispielsweise bei dem Philosophen und Psychologen William James (vgl. James 1911, 22 f.) und dem Philosophen Bertrand Russell (vgl. Pradeu 2011).1 Auf den ersten Blick ist dies sicherlich kein wünschenswertes Selbstverständnis für ein akademisches Fachgebiet, zumal es die Frage aufwirft, ob denn auf lange Sicht überhaupt etwas für die Philosophie übrig bleiben wird! Man kann diese Situation jedoch auch anders sehen. Die Tatsache, dass die von der Philosophie abgelösten Einzelwissenschaften ihre eigenen Fragen und Phänomene studieren und dabei die klassischen Fragen der Philosophie in ein neues Licht rücken, bedeutet nicht, dass die Philosophie selbst nichts mehr zu diesen Fragen und Phänomene zu sagen hat. Ein Beispiel hierfür ist die schon genannte Frage nach der Existenz eines freien Willens. Obwohl dies heutzutage sicher auch eine Frage für die empirischen Kognitionswissenschaften ist, bleibt nach der empirisch-wissenschaftlichen Beantwortung dieser Frage (heutzutage oft die Leugnung des freien Willens)2 noch einige Aufklärungsarbeit für die Philosophie übrig. Was bedeutet es für den Menschen, wenn er (k)einen freien Willen hat? Wie sollten wir unsere Gesellschaft einrichten, sodass sie der Tatsache gerecht wird, dass Menschen (k)einen freien Willen haben und also (nicht) für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden können? Wie soll ich als Mensch, der (k)einen freien Willen hat, mein Handeln begründen? Die Erörterung solcher Fragen bleibt auch dann Aufgabe der Philosophie, wenn diese Fragen auch in den Aufgabenbereich von Einzelwissenschaften fallen und diese Einzelwissenschaften Antworten liefern, die die Philosophie selbst nicht liefern kann (aber wovon sie selbstverständlich mit Gewinn Gebrauch machen kann – vgl. Hansson 2008, 477). Auf diese Weise kann die Philosophie also gerade über ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften ihr Aufgabenfeld abstecken, indem die Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften bei der Bearbeitung spezifischer Fragen klargestellt wird. Einige der Gründe und Ziele der gegenwärtigen Philosophieausübung folgen so unmittelbar aus den Überlappungen, Verbindungen, Kooperationen, Streitigkeiten und sonstigen Relationen, die zwischen der Philosophie und den verschiedenen Einzelwissenschaften existieren. Aus den vorangegangenen Überlegungen folgt jedoch ein drittes Problem, nämlich dass die Gesamtheit der Überlappungen, Verbindungen, Kooperationen, Streitigkeiten und sonstigen Relationen zwischen der Philoso-
1 2
Vgl. auch Hansson 2008, 476–477 und Rosenberg/McShea 2008, 1–3. Für die gegenwärtige Diskussion im deutschsprachigen Raum, vgl. z. B. Singer 2003, Geyer 2004.
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phie und den Einzelwissenschaften zu groß und zu komplex ist, um in einem kurzen Buchbeitrag erfasst werden zu können. Wir können daher das komplexe und vielfältige Verhältnis von Philosophie und den Einzelwissenschaften nur sehr unvollständig erörtern und uns auf einige wenige Aspekte dieses Themenkomplexes beschränken. Statt aber spezifische Themen aus den Einzelwissenschaften und dem gegenwärtigen Stand der philosophischen Arbeit dazu in den Blick zu nehmen (z. B. zur Frage nach der Existenz eines freien Willens), wollen wir die Thematik allgemeiner angehen. Wir werden in den folgenden Abschnitten einige neuere Vorschläge vorstellen, die darlegen, in welches Verhältnis sich die Philosophie, speziell die Wissenschaftsphilosophie, zu den Einzelwissenschaften setzen könnte und wie Philosophen, die sich mit Wissenschaft befassen, ihre Arbeit dementsprechend auffassen könnten – oder gar sollten.
II. „Normative Wissenschaftsphilosophie“: Erforschen, wie Wissenschaft funktioniert, um damit die Einzelwissenschaften zu stärken Innerhalb des Teilbereichs der Philosophie, der sich explizit mit den verschiedenen Einzelwissenschaften befasst, der Wissenschaftsphilosophie, können die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik unterschieden werden. Diese Unterscheidung entspricht natürlich der allgemeineren Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie. Jeder dieser beiden Bereiche hat einen allgemeinen Teil und mehrere spezielle Teile (die speziellen Wissenschaftstheorien bzw. -ethiken). Die allgemeine Wissenschaftstheorie beschäftigt sich mit der Frage, was Wissenschaft eigentlich ist und wie sie funktioniert. Die speziellen Wissenschaftstheorien, wie z. B. die gegenwärtig weltweit etablierten Spezialgebiete Philosophie der Physik, Philosophie der Biologie, Philosophie der Chemie oder Philosophie der Wirtschaftswissenschaften, untersuchen, wie die Einzelwissenschaften in ihrer Spezifizität funktionieren, was ihre zentralen Begriffe genau bedeuten und wie ihre Theorien genau zu analysieren sind.3 So wird z. B. untersucht, wie Ökonomen typischerweise argumentieren, welche Elemente in den Erklärungen der Evolutionsbiologie involviert sind, auf welcher Grundlage in der Chemie Atome und Substanzen klassifiziert werden, was der Genbegriff in den verschiedenen Bereichen der Biologie
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Für einen ausgezeichneten Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung in der Philosophie der Biologie siehe Krohs/Toepfer 2005. Für die Philosophie der Physik ist beispielsweise Mittelstaedt 1976 ein Klassiker.
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genau bedeutet usw. Die Wissenschaftsethik beschäftigt sich mit moralischen Fragen, die in der wissenschaftlichen Handlungspraxis und als Folgen von wissenschaftlichen Innovationen auftreten können. Zum einen sind dies z. B. Fragen zur Verantwortung des Wissenschaftlers, oder die Frage danach, was gute wissenschaftliche Praxis ausmacht und was genau als wissenschaftliches Fehlverhalten angesehen werden muss. Zum anderen sind dies Fragen zu möglichen gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlicher Entdeckungen und neuer Technologien, wie der Gebrauch von embryonalen Stammzellen für Forschungs- und therapeutische Zwecke oder die Modifizierung des genetischen Materials von Nutzpflanzen. Wir werden die Wissenschaftsethik hier nicht weiter betrachten und uns auf den theoretischen Teil der Wissenschaftsphilosophie, also die allgemeine Wissenschaftstheorie und die speziellen Wissenschaftstheorien beschränken.4 Wie schon vorher bemerkt, ist es ein traditionelles Ziel der Wissenschaftstheorie, zu verstehen, wie das Unternehmen „Wissenschaft“ im Detail funktioniert. Demnach beabsichtigt die Wissenschaftstheorie zu klären, was Wissenschaftler genau tun, was die Ergebnisse wissenschaftlicher Tätigkeit sind und warum Wissenschaftler ihre Arbeit in der Weise tun, wie sie es tun. Dies ist in erster Linie ein deskriptives Ziel, das, wenn erfolgreich realisiert, bereits genügen würde, um die Frage Warum (Wissenschafts-)Philosophie? positiv zu beantworten. Jedoch wollen Wissenschaftstheoretiker in ihrer Arbeit mehr als lediglich beschreiben, wie wissenschaftliche Arbeit vonstattengeht. Es wird darüber hinaus auch ein normatives Ziel verfolgt, nämlich eine sog. Methodologie zu formulieren, die beschreibt, nach welchen Methoden gute wissenschaftliche Arbeit verfahren soll. Sehen wir uns dazu einige Belege aus der Literatur an. „In der Wissenschaftsphilosophie geht es […] nicht einfach generell darum, wie Wissenschaft funktioniert; es geht darum, wie Wissenschaft in epistemischer Hinsicht funktioniert“ (Carrier 2007, 19 f.; unsere Hervorhebung), schreibt beispielsweise der Wissenschaftsphilosoph Martin Carrier. Entsprechend hat die Wissenschaftstheorie eine doppelte Zielsetzung. Zum einen soll die Wissenschaftstheorie also klären, welche Eigenschaften das Produkt wissenschaftlicher Tätigkeit – wissenschaftliches Wissen – hat (man denke hier an Eigenschaften wie Geltung, Bestätigung, Allgemeinheit, erklärende 4
Zur allgemeinen Wissenschaftstheorie siehe den Beitrag von Rainer Enskat in diesem Band. Eine Erörterung der Frage, wie sich die Ethik zu den anderen Wissenschaften verhält bzw. verhalten sollte, kann hier nicht vorgenommen werden, weil dies einen eigenen Beitrag erfordern würde. Für allgemeine Einführungen in das Themenfeld der Wissenschaftsethik siehe u. a. Nida-Rümelin 1996 oder Hoyningen-Huene/Tarkian 2010.
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Kraft usw.) und auf welche Weise diese Eigenschaften in der Produktion wissenschaftlichen Wissens realisiert werden: „Wissenschaftler häufen Erkenntnis auf Erkenntnis, Wissenschaftsphilosophen legen auseinander, was die wesentlichen Eigenschaften dessen sind, was dort aufeinander gehäuft wird“ (ebd., 20). Zum anderen soll die Wissenschaftstheorie darüber hinaus auch in epistemischer Hinsicht bewerten, indem „die Verfahren, die in der Wissenschaft zur Einschätzung von Geltungsansprüchen herangezogen werden […] auf ihren Zusammenhang mit den Erkenntniszielen der Wissenschaft untersucht“ werden (ebd.). Auch der Wissenschaftsphilosoph John Losee hob in seinem klassischen Lehrbuch A Historical Introduction to the Philosophy of Science die normative Aufgabe der Wissenschaftstheorie hervor. Nach Losee gibt es mindestens vier unterschiedliche Auffassungen davon, was das Hauptziel der Wissenschaftsphilosophie sei (vgl. Losee 1980, 1 f.). Einer Auffassung nach besteht wissenschaftsphilosophische Arbeit darin, übergreifende Weltbilder zu entwerfen, die auf dem von den Einzelwissenschaften produzierten Wissen aufbauen und dieses in ein kohärentes Weltbild synthetisieren. Dies ist eine metaphysische Zielsetzung, die auf die Arbeit der Einzelwissenschaften aufbaut und diese weiterführt. Gegenwärtige Vertreter dieser Sichtweise sind z. B. der Wissenschaftsphilosoph James Ladyman und der Ökonom und Philosoph Don Ross (vgl. Ladyman/Ross 2007). Den drei anderen von Losee unterschiedenen Auffassungen nach ist die Arbeit, die die Wissenschaftsphilosophie leisten kann, eher epistemologischer als metaphysischer Natur. Der zweiten Auffassung nach ist die Aufgabe der Wissenschaftsphilosophie, die (oftmals verschwiegenen) Grundannahmen, die wissenschaftlicher Arbeit unterliegen können, explizit zu machen. Beispielsweise denke man an die Annahme, dass es in der Natur selbst Regelmäßigkeiten gibt, die die Wissenschaft entdecken und beschreiben kann. Der dritten Auffassung nach ist Wissenschaftsphilosophie wesentlich Begriffsanalyse, d. h., ihr Ziel ist, die zentralen Begriffe wissenschaftlicher Theorien auf ihre Bedeutung zu prüfen und ggf. vorliegende Unschärfen und Mehrdeutigkeiten ans Licht zu bringen. Eine vierte Auffassung der Zielsetzung der Wissenschaftsphilosophie (die Auffassung, die Losee selbst vertritt) ist die, dass Wissenschaftsphilosophie wesentlich darin besteht „darüber nachzudenken, wie Wissenschaft betrieben werden sollte“ (Losee 1980, 2 f.). Zwar beinhaltet die wissenschaftsphilosophische Arbeit in dieser letzten Auffassung auch die Explikation wissenschaftlicher Grundannahmen und die Klärung zentraler wissenschaftlicher Begriffe; jedoch ist dabei primär das normative Ziel der Analyse und Verbesserung der wissenschaftlichen Methodik im Blick. Ein Problem für eine sich selbst als normativ verstehende Wissenschaftsphilosophie ist jedoch, dass bisher alle Versuche, eine einigermaßen
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umfassende Methodologie für die Gesamtheit der Wissenschaften auszuarbeiten, als gescheitert bewertet werden müssen. Wie der Wissenschaftsphilosoph Paul Feyerabend bemerkt hat, ergibt sich der Hauptgrund dafür aus der Wissenschaftsgeschichte: Es gibt, so Feyerabend, nämlich keinen einzigen Grundsatz, der in allen Episoden der Wissenschaftsgeschichte tatsächlich als Basis für die wissenschaftliche Wissensproduktion gedient hat (vgl. Feyerabend 1986, 31 f.).5 Es ist daher wahrscheinlich, dass die Einzelwissenschaften grundsätzlich zu unterschiedlich sind, um alle mittels einer Methodologie erfasst werden zu können. Das Scheitern dieses normativen Projekts heißt jedoch nicht, dass die Wissenschaftstheorie überhaupt keine sinnvollen normativen Empfehlungen geben kann, die für die Wissenschaften methodologisch produktiv sein könnten. Beispielsweise hat der Wissenschaftsphilosoph William Wimsatt über fast vier Jahrzehnte hinweg versucht, einen Ansatz herauszuarbeiten, der vorführt, wie die Wissenschaftsphilosophie für die Wissenschaften in dieser Hinsicht nützlich sein kann.6 Wimsatts Ansatz beruht auf der allgemeinen Feststellung, dass Menschen kognitiv und physisch beschränkte Wesen sind, die mit begrenzten Mitteln in einer komplexen und unübersichtlichen Welt zurechtkommen müssen. Dabei greifen sie wie Bastler auf die Hilfsmittel zurück, die gerade zur Verfügung stehen und passen diese je nach Problemlage und Möglichkeiten an.7 Es geht bei einem solchen Vorgehen typischerweise nicht darum, die bestmögliche Lösung für ein Problem zu finden, sondern darum, Lösungen zu finden, die in Bezug auf ein bestimmtes Ziel funktionieren. Fehler werden dabei in Kauf genommen, so lange sie die Funktionalität der vorgeschlagenen Lösung nicht allzu stark beeinträchtigen. Dies gilt nicht nur im alltäglichen Leben, so Wimsatt, sondern auch in der Wissenschaft. Wissenschaft ist eine durch und durch menschliche Tätigkeit; sie hat daher ebenfalls den Charakter eines Zurechtkommens mit 5
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Daher auch Feyerabends Behauptung, dass „es nur einen Grundsatz gibt, der sich unter allen Umständen und in allen Stadien der menschlichen Entwicklung vertreten lässt. Es ist der Grundsatz: Anything goes“ (ebd., 32). Die Allgemeingültigkeit dieses Grundsatzes ist durch seine vollkommene Leere erkauft (siehe hierzu Hoyningen-Huene 1997)! Eine Gesamtübersicht der Wimsatt’schen Vision für die Wissenschaftsphilosophie findet sich in Wimsatt 2007; eine gute Zusammenfassung gibt Griesemer 2010. Wimsatt vergleicht oft sowohl die Natur als auch den Menschen mit einem Bastler („a backwoods mechanic and used parts dealer“), der beim Entwerfen von Lösungen für neue Probleme sich etwas Brauchbares aus den in seinem Schuppen herumliegenden Einzelteilen zusammenbastelt. Der Vergleich der Natur (oder spezifischer: der Evolution) mit einem Bastler geht auf den Biologen und Nobelpreisträger François Jacob zurück (vgl. Jacob 1977; 1994, 34).
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der Welt mit den Mitteln, die gerade greifbar sind. Dies charakterisiere die Wissenschaft viel treffender als das traditionelle wissenschaftsphilosophische Bild eines auf maximale Effizienz hin organisierten, durchrationalisierten Unternehmens.8 Wissenschaftler suchen meistens nicht nach der wirklich optimalen Forschungsmethodik oder der wirklich optimalen Herangehensweise, um ein bestimmtes Problem zu lösen – wie in der Wissenschaftstheorie verbreitete Idealbilder von Wissenschaft es oft suggerieren. Vielmehr benutzen sie Methoden und Herangehensweisen, die zufälligerweise gerade am Ort vorhanden sind, die ihre Brauchbarkeit in anderen Forschungskontexten bewiesen haben oder die bestimmte Praxisvorteile versprechen. Dazu gehört z. B., dass sie weniger umständlich als eigentlich besser geeignete Methoden sind, aber trotzdem gut genug sind oder einen schnelleren Erfolg versprechen, dafür aber vielleicht eine etwas höheren Fehlerquote haben. Dazu kommen ad hoc Anpassungen von Methoden und Herangehensweisen – je nach Bedarf. Dementsprechend, so argumentiert Wimsatt, kann eine sinnvolle normative Wissenschaftstheorie nicht die Form eines Systems von rein rational begründeten methodologischen Vorgaben für die Wissenschaft annehmen, sondern muss auf empirische Studien der verschiedenen Vorgehensweisen in den Einzelwissenschaften beruhen. Wimsatts Vision der Wissenschaftsphilosophie beinhaltet also eine sehr wissenschaftsnahe Weise des Philosophierens über Wissenschaft, die versucht zu verstehen, wie Wissenschaft tatsächlich funktioniert. Die Wissenschaftsphilosophie sollte nach Wimsatt herausfinden, welche Methoden, Heuristiken, Strategien, Herangehensweisen usw. in welchen Forschungskontexten ihre Effektivität bewiesen haben. Statt aus einer Außenperspektive methodologische Vorgaben für die Wissenschaften zu formulieren, sollten Wissenschaftsphilosophen also versuchen, die Wissenschaften von innen heraus zu verstehen (vgl. Wimsatt 2007, 27). Das erlangte Verständnis davon, wie die Wissenschaftspraxis in ihrer tatsächlichen Vielfältigkeit funktioniert, kann letztendlich in den Wissenschaftsbetrieb zurückfließen und damit einen Beitrag zu seiner Verbesserung leisten. Letzteres ist für Wimsatt ein explizites Ziel der Wissenschaftsphilosophie: „Eine adäquate Wissenschaftsphilosophie sollte normative Kraft haben. Sie sollte uns helfen, Wissenschaft zu betreiben oder, wahrscheinlicher, uns helfen Fehlerquellen zu finden und zu vermeiden […]“ (ebd., 26; unsere Übersetzung). Diese Zielsetzung kann 8
In Kontrast zu diesem Bild, das oftmals stark idealisiert ist und auf philosophischen „Spielzeugbeispielen“ basiert, ist Wimsatt auf der Suche nach einer „realistischen“ Wissenschaftsphilosophie – d. h. einer Wissenschaftsphilosophie, die von realen Menschen in realen Situationen in realer Zeit betrieben werden kann (vgl. Wimsatt 2007, 5).
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als Wimsatts Antwort auf die Frage Warum (Wissenschafts-)Philosophie? angesehen werden – wie er selbst schreibt: „Wenn das, was ich zu sagen habe, für Wissenschaftler nicht brauchbar ist, dann habe ich meine Arbeit nicht richtig gemacht“ (ebd., 30; unsere Übersetzung).
III. Einen Schritt weiter: „Partizipative Wissenschaftsphilosophie“ Wimsatt steht der traditionellen Wissenschaftsphilosophie kritisch gegenüber, weil sie seiner Einschätzung nach zu wissenschaftsfern und eine zu idealisierte Rekonstruktion der Wissenschaft ist. Stattdessen strebt er eine Reflexion der tatsächlichen Wissenschaftspraxis an, wie sie in ihrer ganzen Vielfalt existiert. Dennoch bleibt bei Wimsatt das Hauptziel der Wissenschaftsphilosophie das traditionelle Ziel, das Phänomen Wissenschaft zu studieren und zu verstehen, und nach Möglichkeit einen Beitrag zur Verbesserung der Wissenschaftspraxis zu liefern. Der schwedische Wissenschafts- und Technikphilosoph Sven Ove Hansson hat einen weiterführenden Ansatz vorgestellt, wie sich Philosophie zur Wissenschaft verhalten sollte. Hansson unterscheidet zwei Weisen, wie sich Philosophie in ein Verhältnis zu den Einzelwissenschaften setzen kann. Er nennt diese „Philosophie von …“ und „Philosophie mit …“ (vgl. Hansson 2008, 479 f.). Mit „Philosophie von …“ sind die Wissenschaftsphilosophien der Einzelwissenschaften im vorher beschriebenen, traditionellen Sinne gemeint. Charakteristisch für diese Art, Wissenschaftsphilosophie zu betreiben, ist, dass die Einzelwissenschaften lediglich die Arbeitsobjekte der Philosophie sind, die von Philosophen studiert und gegebenenfalls verbessert werden. In diesem Modus der Wissenschaftsphilosophie bleiben Philosophen mit ihrer Arbeit weitgehend außerhalb der Einzelwissenschaften. Dem stellt Hansson die „Philosophie mit …“ gegenüber, womit er einen Modus des Philosophierens in enger Zusammenarbeit mit Fachwissenschaftlern aus einer Einzelwissenschaft meint. In diesem Modus betreiben Wissenschaftsphilosophen ihr Fach nicht als Außenstehende, als Beobachter der Einzelwissenschaften, sondern sind selbst aktive Teilnehmer im Theorieentwicklungsprozess der Einzelwissenschaften. Wissenschaftsphilosophie wird so zu einem interdisziplinären Fach, in dem spezialisierte Philosophen und Forscher aus den Einzelwissenschaften gemeinsam Fragen aus den Einzelwissenschaften bearbeiten. In dieser Perspektive ist das Ziel der Wissenschaftsphilosophie nicht nur zu verstehen, was Wissenschaft ist und nach Möglichkeit den Wissenschaftsbetrieb methodologisch zu verbessern. Vielmehr soll auch ein inhaltlicher Beitrag zu den einzelwissenschaftlichen Fragestellungen geliefert werden.
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Eine ähnliche Auffassung der Wissenschaftsphilosophie findet sich bei dem Wissenschaftsphilosophen Hasok Chang. Changs These ist, dass Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie als Weiterführung der Wissenschaft mit anderen Mitteln aufgefasst werden können (vgl. Chang 1999; 2004, Kapitel 6). Chang sieht die Wissenschaftsgeschichte und die Wissenschaftsphilosophie als „Schattendisziplinen“ (ders. 1999, 413), die im Hintergrund arbeitend „die spezialisierten Wissenschaften bei der Produktion von Wissen über die Natur ergänzen“ (ebd.; unsere Übersetzung). Sie kommen bei der Beantwortung von Fragen ins Spiel, die die Einzelwissenschaften selbst nicht stellen (vgl. ebd. ff.; 2004, 236). Dieser Position liegt die Idee zugrunde, dass keine Einzelwissenschaft es sich leisten kann, alle Behauptungen in ihrem Wissensbereich in Frage zu stellen, da es ja einige Grundprinzipien geben muss, die als feste und unbezweifelbare Grundlagen für die alltägliche Forschungspraxis dienen können (vgl. ders. 1999, 414; 2004, 237).9 Außerdem, so bemerkt Chang, haben die Einzelwissenschaften nur eine beschränkte Arbeitskapazität. Daher können sie nicht alle in ihrem Bereich relevanten Forschungsprobleme bearbeiten, sondern müssen Prioritäten setzen, indem einige Fragen und Probleme ignoriert werden (vgl. ders. 2004, 237). Hier liegt nun eine Aufgabe für die Wissenschaftsgeschichte und die Wissenschaftsphilosophie: Sie können (und sollten) die Fragen aufgreifen, die die Einzelwissenschaften aus den genannten Gründen liegen lassen.10 Chang schreibt: „Ich schlage vor, dass wir Wissenschaftsphilosophie als ein Arbeitsgebiet auffassen, worin wir wissenschaftliche Fragen untersuchen, die gegenwärtig nicht in den Einzelwissenschaften bearbeitet werden. Diese Fragen könnten von den Wissenschaften angegangen werden, sie werden jedoch von ihnen ignoriert in Folge der Notwendigkeit zur Spezialisierung.“ (ders. 1999, 415 f.; unsere Übersetzung, Hervorhebung im Original). 9
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Chang stützt seine Ideen hier auf die Arbeit des Wissenschaftshistorikers und -philosophen Thomas Kuhn, der in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (Kuhn 1970) schon darauf hingewiesen hatte, dass in einer Einzelwissenschaft in Perioden der sog. Normalwissenschaft ein Paradigma als der unbezweifelte Hintergrund für die Forschung angenommen wird. Siehe dazu auch Hoyningen-Huene 1993, 175–179. Für Chang ist dies nur eine, aber nicht die einzige Aufgabe von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie. Die klassischen Aufgaben der Wissenschaftsphilosophie – zu verstehen, wie Wissenschaft funktioniert, und die Methodologie der Wissenschaften zu analysieren und ggf. zu verbessern – bleiben nach wie vor bestehen. Diese beiden Aufgabenbereiche nennt Chang „deskriptive“ und „partizipative“ Wissenschaftsphilosophie (vgl. Chang 1999) und benutzt den Terminus „partizipative Wissenschaftsphilosophie“ also in einer anderen Bedeutung, als wir ihn hier gebrauchen.
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In dieser Auffassung von Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsgeschichte haben diese Bereiche der Geisteswissenschaften den Anspruch, positives Wissen über die Welt liefern zu können (vgl. ebd., 415; 2004, 237).11 Philosophen können in ihrer Arbeitspraxis in zweierlei Weisen versuchen, diesen Anspruch zu realisieren: einmal dadurch, dass sie Dinge in Frage stellen, die in den Einzelwissenschaften nicht hinterfragt werden (indem sie die Paradigmen der Einzelwissenschaften analysieren) und dadurch, dass sie neue wissenschaftliche Fragen für die Einzelwissenschaften identifizieren und diese aufgreifen, bevor sie ggf. von den Einzelwissenschaften aufgegriffen werden (vgl. ders. 1999, 417). Obwohl Hanssons und Changs Charakterisierungen der Wissenschaftsphilosophie in ihren Details unterschiedlich sind, stimmen doch beide darin überein, dass die Wissenschaftsphilosophie gewissermaßen eine Fortsetzung der Einzelwissenschaften ist und demnach am wissenschaftlichen Wissensproduktionsprozess teilnimmt. Diese Auffassung der Philosophie als interdisziplinäres und ggf. partizipatives Unternehmen, das sich sowohl mit wissenschaftlichen als auch mit philosophischen Fragen befasst, ist nicht gänzlich neu. So meinte z. B. der Philosoph W. v. O. Quine schon vor etwa 40 Jahren, dass „Philosophie nicht als a priori Propädeutik oder Fundierung der Wissenschaft [gesehen werden soll], sondern als kontinuierlich mit der Wissenschaft. Ich sehe Philosophie und Wissenschaft als im selben Boot sitzend.“ (Quine 1969, 126; unsere Übersetzung). Zwar umfasst Quines Auffassung der Wissenschaftsphilosophie nicht die Idee, dass Philosophen sich aktiv an der Wissensproduktion in den Einzelwissenschaften beteiligen, doch sieht er die Philosophie ebenfalls nicht als gänzlich außerhalb des Wissenschaftsbetriebs stehend und die Wissenschaften aus der Außenperspektive beobachtend. Vielmehr gibt es nach Quine keine klare Abgrenzung zwischen Philosophie und Wissenschaft; beide Bereiche sind mit dem gleichen Ziel beschäftigt, nämlich Wissen über die Welt zu erzeugen. Auch schon wesentlich früher finden sich in der Philosophiegeschichte ähnliche Ideen, z. B. in einem vergleichsweise unbekannten Artikel im prominenten Journal of Philosophy aus dem Jahre 1921: „Die wahre philosophische Fakultät der Universität der Zukunft wird […] die Gruppe von philosophisch denkenden Männern in allen Fachbereichen sein, die, jeder auf seine Weise, über die ultimativen Fragen nachdenken. […] Das philosophische Institut sollte für den gesamten Lehrkörper die Sammelstelle sein für die verschiedenen Theorien und Probleme, die in den verschiedenen
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Es ist jedoch fraglich, ob die Philosophie positives Wissen über die Welt liefern kann und es überhaupt ein Ziel der Philosophie sein kann, solches Wissen bereitzustellen. Siehe dazu den letzten Abschnitt unseres Beitrags.
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Forschungsbereichen der Universität aufkommen.“ (Brown 1921, 679 f.; unsere Übersetzung).12
Die gegenwärtige Philosophie der Biologie ist ein gutes Beispiel für interdisziplinäre Wissenschaftsphilosophie, wie sie die genannten Autoren anvisieren. Zwar fassen manche Philosophen der Biologie ihr Fach in der traditionellen Weise auf als ausgerichtet auf „Fragen, die aus der biologischen Wissenschaft hervorgehen, aber die Biologie selbst (noch) nicht beantworten kann, sowie auf Fragen, die sich darauf beziehen, weshalb die Biologie eigentlich nicht in der Lage ist, diese ersteren Fragen zu beantworten“ (Rosenberg/McShea 2008, 3; unsere Übersetzung). Jedoch sind auch viele Philosophen der Biologie der Meinung, dass ihr Fach sich ein ambitionierteres Ziel setzen sollte. Zum einen könnte die Philosophie der Biologie z. B. versuchen, Biologen dabei zu helfen, ihre Fragestellungen schärfer zu formulieren, indem sie die genaue Bedeutung der in diesen Fragen zentralen Begriffe klärt. Zum anderen könnte neben dem Ziel, zur Klärung spezifisch biologischer Fragen beizutragen, die Philosophie der Biologie sich als Ziel setzen, einen Beitrag zur Klärung klassischer Fragen der Philosophie zu leisten, nämlich indem sie relevante Erkenntnissen aus der biologischen Wissenschaft aufgreift und auf philosophische Probleme anwendet (vgl. Pradeu 2011). Die Philosophie der Biologie könnte in dieser Weise eine vermittelnde Rolle zwischen der Philosophie und den biologischen Wissenschaften spielen. Sie würde ein Arbeitsbereich sein, in dem Philosophen und Biologen gemeinsam versuchen, sowohl spezifisch biologische Fragen als auch klassische Fragen der Philosophie zu klären. Sie könnte so Ergebnisse erzielen, die Philosophen oder Biologen im Alleingang nicht erreichen könnten. In den vergangenen vier Jahrzehnten hat sich die Philosophie der Biologie genau in dieser Richtung entwickelt. In einem Übersichtsartikel aus dem Jahre 1969 bemängelte der Philosoph der Biologie David Hull den damaligen Stand der Forschung in seinem Fachgebiet wie folgt: „Was die Philosophie der Biologie nicht ist? Es muss zugegeben werden, dass bis jetzt weder sie besonders relevant für die Biologie, noch die Biologie besonders relevant für sie ist.“ (Hull 1969, 179; unsere Übersetzung).
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Der Autor des Artikels, William Adams Brown, war Professor für systematische Theologie am Union Theological Seminary, New York City. Obwohl Brown weder eine prominente Persönlichkeit in der Philosophiegeschichte ist noch gegenwärtig diskutiert wird, haben wir dieses Zitat aufgenommen, da es den Gedanken, dass die Philosophie gewissermaßen eine Fortsetzung der Einzelwissenschaften ist und sich daher als interdisziplinäres Unternehmen auffassen soll, klar darstellt.
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Hull wies darauf hin, dass Philosophen der Biologie bislang ihre Möglichkeiten, biologisches Wissen in philosophische Diskussionen einzubringen und umgekehrt durch philosophische Arbeit einen Beitrag zur Lösung biologischer Probleme zu liefern, kaum wahrgenommen haben und dass sich diese Situation baldmöglichst ändern sollte (vgl. auch ders. 1998, 77 ff.). In späteren Übersichtsartikeln vermerkt Hull (ders. 1998; 2002) jedoch eine deutliche Veränderung im Arbeitsmodus der Philosophie der Biologie: Professionelle Philosophen und professionelle Biologen haben angefangen, mehr und mehr zusammenzuarbeiten: Kooperation zwischen den beiden Fachgebieten ist heutzutage keine Seltenheit mehr. Entsprechend findet man mittlerweile regelmäßig Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Philosophie der Biologie und der Biologie selbst, die von Philosophen und Biologen gemeinsam verfasst worden sind.13
IV. Schlussbetrachtung: Philosophie als fragende Wissenschaft Im Vorangegangenen haben wir einige in der einschlägigen Literatur vertretene Positionen betrachtet, die darlegen, wie die Philosophie (und insbesondere die Wissenschaftsphilosophie) ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften auffassen kann bzw. soll und was dieses Verhältnis für die philosophische Arbeit bedeuten kann. Wie wir gesehen haben, werden die Leitfragen dieses Bandes – Warum soll eigentlich überhaupt philosophiert werden? Aus welchen Gründen, mit welchen Zielen und Absichten wird Philosophie denn überhaupt betrieben? – mit Blick auf die Wissenschaftsphilosophie von den behandelten Autoren unterschiedlich beantwortet. Zwei allgemeine Positionen sind in diesem Kontext vorgestellt worden: Einige Autoren sehen als primäres Ziel der Wissenschaftsphilosophie die Bewertung und, wenn möglich, die Verbesserung der wissenschaftlichen Forschungspraxis. Aus dieser Perspektive ist die pauschale Antwort auf die Frage Warum Wissenschaftsphilosophie?: Um „uns [zu] helfen, Wissenschaft zu betreiben“ (Wimsatt 2007, 26; unsere Übersetzung). Wir nennen diese Position „normative Wissenschaftsphilosophie“. Andere Autoren haben ein ambitionierteres Ziel: Ihrer Meinung nach sollte die Wissenschaftsphilosophie ebenfalls anstreben, wissenschaftliches Wissen zu produzieren. Die Wissenschaftsphilosophie wird hier zu einem interdisziplinären Unternehmen und der Wissenschaftsphilosoph zu einem For-
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Einige Beispiele sind: Kummer/Dasser/Hoyningen-Huene 1990, Griffiths/Gray 1994, Sober/Wilson 1994; 1998, Ariew/Lewontin 2004, Reydon/Hemerik 2005, Rosenberg/McShea 2008, Assis/Brigandt 2009.
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scher, der selbst am Wissensproduktionsprozess der Einzelwissenschaften teilnimmt und diesen Prozess in den Bereichen weiter fortsetzt, wo die Einzelwissenschaften selbst nicht auftreten. Aus dieser Perspektive ist die pauschale Antwort auf die Frage Warum Wissenschaftsphilosophie?: Um „wissenschaftliche Fragen [zu] untersuchen, die gegenwärtig nicht in den Einzelwissenschaften bearbeitet werden.“ (Chang 1999, 415 f). Wir haben diese Position „partizipative Wissenschaftsphilosophie“ genannt. Abschließend möchten wir unsere eigene Auffassung des Unternehmens Philosophie vorstellen und mit diesen beiden allgemeinen Positionen kontrastieren. In unserem Verständnis besteht der hauptsächliche Kontrast zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften darin, dass die Einzelwissenschaften primär positives Wissen hervorbringen wollen, während die Philosophie primär Dinge in Frage stellt, vor allem bislang unbefragte Selbstverständlichkeiten. Hier fünf Erläuterungen und Konsequenzen dieses Verständnisses von Philosophie. (1) Mit dem Wort „primär“ in dieser Charakterisierung soll ausgedrückt werden, dass der angesprochene Kontrast zwischen Einzelwissenschaften und Philosophie keineswegs als eine harte Dichotomie zu verstehen ist. Natürlich werden auch in den Wissenschaften Dinge in Frage gestellt (in den Naturwissenschaften sehr tief gehend vor allem in wissenschaftlichen Krisenzeiten), und natürlich wird in der Philosophie auch versucht, auf fragwürdig gewordene Selbstverständlichkeiten positiv zu reagieren und positive Antworten zu formulieren. So wurden in der Entstehungszeit der Quantenmechanik einige Grundannahmen der klassischen Physik in Frage gestellt, und dies wurde keineswegs als eine nicht mehr der Physik zugehörige Tätigkeit empfunden. Aber es wird auch gesagt, dass die Physik in dieser Zeit sehr „philosophisch“ wurde, eben weil bestimmte Grundannahmen in Frage gestellt wurden, deren Kritik den weiteren wissenschaftlichen Fortschritt erst möglich gemacht haben. Umgekehrt gibt es durchaus philosophische Traditionen, in denen vor allem positive Antworten auf gegebene Fragen gesucht werden. Typischerweise entstehen solche Traditionen, nachdem eine bestimmte neuartige Frage entdeckt worden ist, und die Antworten auf diese Frage sich als ihrerseits problematisch herausstellen. Beispiele könnten die Transzendentalphilosophie oder die Tradition des Utilitarismus sein. Erreichen solche Traditionen einigermaßen stabile Konsense, so kann philosophische Routinetätigkeit oder auch eine neue Einzelwissenschaft entstehen, deren Frage- und Antwortrichtung einigermaßen stabil ist. (2) Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen kann in verschiedenen Graden von Radikalität geschehen. Eine seit dem platonischen Sokrates wohlbekannte Art der typisch philosophischen Infragestellung von etwas Selbstverständlichem ist die Frage: „Was ist eigentlich X?“, wenn das X
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ein Begriff oder ein Sachverhalt ist, der eigentlich wohlbekannt und vertraut ist. So war die analytische Wissenschaftstheorie beispielsweise lange mit der Frage beschäftigt, was eigentlich eine wissenschaftliche Erklärung ist. Natürlich gehört das Geben wissenschaftlicher Erklärungen zum Alltag der Wissenschaften, aber die Frage nach dem, was eine wissenschaftliche Erklärung eigentlich ist, bricht aus diesem Alltag aus, indem sie etwas in Frage stellt, was in diesem Alltag als verstanden und geläufig vorausgesetzt wird. Grob gesprochen sind philosophische Fragen nun um so radikaler, je größer und gewichtiger der in Frage gestellte Bereich ist. So ist etwa die Frage nach der Wissenschaftlichkeit des wissenschaftlichen Wissens eine radikalere Fragestellung als die nach dem, was eine wissenschaftliche Erklärung ist, weil die letztere Frage in ersterer enthalten ist. Noch radikaler ist beispielsweise die Frage nach der Möglichkeit von Wissen überhaupt, und vielleicht noch radikaler die kritische Frage nach der Existenz oder Existenzweise von Gegenständen (die möglicherweise Objekte des Wissens werden können). Akzeptiert man die verschiedenen Grade von Radikalität philosophischer Fragen, so ergibt sich eine Konsequenz für die philosophische Auseinandersetzung. In einer potentiell fruchtbaren philosophischen Auseinandersetzung müssen sich die Gesprächspartner des angestrebten Niveaus der philosophischen Radikalität bewusst sein und es explizit machen, weil sonst die eine Partei möglicherweise etwas stillschweigend als unproblematisch voraussetzt, was die andere Partei gerade in Frage stellt. Unter diesen Umständen müssen die Gesprächspartner aneinander vorbeireden. (3) Die typisch philosophische Infragestellung etwa eines Begriffs oder eines (vermeintlichen) Sachverhalts kann grundsätzlich zwei verschiedene Ergebnisse haben. Sie kann einmal zu einer Klärung des entsprechenden Begriffs oder Sachverhalts führen, so dass man ein tieferes Verständnis des Begriffs oder des Sachverhalts gewinnt. Sie kann aber auch zu einer Destruktion des Begriffs bzw. Sachverhalts führen, weil sich bei der genaueren Nachfrage die entsprechende Sache als unhaltbar herausstellt. So stellten sich beispielsweise für Kant sowohl die rationalistische als auch die empiristische Tradition als unhaltbar heraus. Als Beispiel einer ziemlich erfolgreichen philosophischen Klärung kann der Begriff der logischen Folgerung dienen. Diese Klärung war so erfolgreich, das die daraus entstehenden Konsense die Bildung der Logik als einer eigenständigen wissenschaftlichen (mathematischen) Disziplin ermöglicht haben. (4) Für die Philosophie ergibt sich eine grundsätzlich andere Konzeption von Fortschritt als für die Einzelwissenschaften. Für die Einzelwissenschaften ist der Fortschritt primär an die Zunahme positiven Wissens gebunden. Wie genau diese Zunahme zu charakterisieren ist, ob man hier in einem strengen Sinn von Wissen sprechen kann u. ä., dies sind ihrerseits schwierige
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(philosophische!) Fragen. Nichtsdestotrotz besteht ein Kontrast zu einer Konzeption von Fortschritt in der Philosophie, bei der der Fortschritt in der Entdeckung immer tiefer gehender Fragen besteht. Als „tiefer gehend“ kann man insbesondere Fragen bezeichnen, die bislang unbemerkte Präsuppositionen früherer Fragen bzw. ihrer Antworten aufdecken und fraglich machen. So ließe sich die Entwicklung der abendländischen theoretischen Philosophie stark vergröbert so zusammenfassen: Sie beginnt mit der Frage nach der Natur der Dinge in Antike und Mittelalter. In der Neuzeit entdeckt die Reflexion, dass uns diese Natur der Dinge allenfalls im Medium des Bewusstseins zugänglich ist. Schließlich wird im 20. Jahrhundert deutlich, dass eine solche Reflexion immer schon im Medium der Sprache stattfindet. (5) Die unterschiedlichen Schwerpunkte von Einzelwissenschaften und Philosophie hinsichtlich des primären Gegenstands des Fortschritts impliziert ein unterschiedliches Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaften zum Konsens. In Bezug auf akzeptables positives Wissen, wie es die Einzelwissenschaften primär anstreben, muss sich ein (temporärer) Konsens einstellen können, jedenfalls im Idealfall. Wissenschaft ist allenfalls dann zum Ziel gekommen, wenn ein begründeter (temporärer) Konsens erzielt worden ist. Anders in der Philosophie. Bezüglich akzeptabler Fragen ist eine Konsenserzielung kein Qualitätskriterium, weil es unterschiedliche Frageperspektiven geben kann, die sich nicht notwendigerweise gegenseitig ihre Legitimität streitig machen (das schließt aber tatsächlich konkurrierende Fragestellungen nicht aus, etwa wenn eine philosophische Frage die Präsuppositionen einer anderen philosophischen Frage problematisiert). Infolgedessen ist in der Philosophie der ständige und tiefe Dissens eine zu akzeptierende Begleiterscheinung, der nicht etwa eine Defizienz der Philosophie anzeigt. Dieses allgemeine Verständnis von Philosophie erlaubt nun auch, unser Verständnis des Verhältnisses der Wissenschaftsphilosophie zu den Wissenschaften darzulegen. Allgemein kann gesagt werden, dass die Wissenschaftsphilosophie Selbstverständlichkeiten der Wissenschaften im oben erläuterten Sinne in Frage stellt. Dies bedeutet, dass die Wissenschaftsphilosophie selbst weder positives Wissen darüber, wie die Einzelwissenschaften besser funktionieren könnten, noch positives Wissen über die Welt hervorbringt – d. h., die Wissenschaftsphilosophie trägt nicht im positiven Sinne zur Realisierung der Ziele der „normativen Wissenschaftsphilosophie“ und der „partizipativen Wissenschaftsphilosophie“ bei. Sie kann jedoch durchaus auf indirekte Weise zur Realisierung dieser Ziele beitragen: Dadurch, dass sie weit verbreitete Vorgehensweisen und Methodiken der Einzelwissenschaften in Frage stellt, kann die Wissenschaftsphilosophie methodologische Probleme aufdecken und – ohne im positiven Sinne Richtlinien für die Einzelwissenschaften zu formulieren – uns „hel-
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fen Fehlerquellen zu finden und zu vermeiden“ (Wimsatt 2007, 26; unsere Übersetzung). In der gleichen Weise kann die Wissenschaftsphilosophie theoretische Probleme, wie z. B. begriffliche Unklarheiten, Inkonsistenzen innerhalb von Theorien usw., in den Einzelwissenschaften aufdecken und so zum theoretischen Fortschritt in den Einzelwissenschaften beitragen. Es sollte daher auch nicht überraschen, dass die Philosophien der verschiedenen Einzelwissenschaften und die theoretische Bereiche dieser Wissenschaften tatsächlich oftmals nicht deutlich von einander getrennt sind (oder getrennt werden sollten!). So veröffentlichen Fachzeitschriften für theoretische Physik oder theoretische Biologie nicht selten Beiträge, die stark philosophischer Natur sind. Umgekehrt finden sich in den prominenten Fachzeitschriften in der Wissenschaftsphilosophie, wie Philosophy of Science, Studies in History and Philosophy of Modern Physics oder Biology and Philosophy, regelmäßig Beiträge, die sich genauso gut unter theoretische Physik oder theoretische Biologie einordnen ließen wie unter Philosophie der Physik oder Philosophie der Biologie. Zwischen der Philosophie der Einzelwissenschaften und den entsprechenden theoretischen Teilen der Wissenschaft besteht ein gleitender Übergang: Beide Arten von Unternehmen sind darauf gerichtet, unser theoretisches Verständnis der Welt zu vertiefen. Worin sich Philosophie und Wissenschaft unterscheiden, ist der Modus, in dem gearbeitet wird: Während theoretische Wissenschaft versucht, positives Wissen hervorzubringen, stellt die Philosophie dieses Wissen in Frage und versucht, durch ihre kritische Betrachtung der einzelwissenschaftlichen Ergebnisse die Einzelwissenschaften zu motivieren, das vorhandene Wissen zu verbessern.
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Philosophie und Wissenschaftstheorie Rainer Enskat I. Das Thema der Beziehungen zwischen Philosophie und Wissenschaftstheorie beschäftigt Philosophen und Wissenschaftstheoretiker seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Die Anlässe für diese Beschäftigung waren unterschiedlicher Art. Der Anlaß konnte dogmatische und trotzdem friedliche Züge zeigen wie im Fall des Satzes 6.53 der Logisch-philosophischen Abhandlung des jungen Wittgenstein von 1921: „Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat“ (Wittgenstein 1960, 82). Der Anlass für die Beschäftigung mit dem Thema konnte aber bekanntlich auch dogmatische und kämpferische Züge zeigen wie im Fall der berühmt-berüchtigten Aufsätze des jungen Rudolf Carnap über Scheinprobleme in der Philosophie von 1928 und über Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache von 1931/32 (vgl. Carnap 1928a bzw. 1931/32, 219–241). Allerdings hat es auch in der seit damals schon länger dauernden Zeit der ausgereifteren Beziehungen zwischen Philosophie und Wissenschaftstheorie immer wieder einmal den einen oder anderen Bilderstürmer gegeben. Diese Bilderstürmer haben die Ziele der Jugend der Wissenschaftstheorie wiederzubeleben gesucht – allerdings mit den im Laufe der Jahrzehnte immer komplexer und leistungsfähiger gewordenen Methoden. Der prominenteste Bilderstürmer dieses extravaganten, wenngleich gelassen gewordenen Typs ist bekanntlich Quine. Das von Quine am eindrucksvollsten wiederbelebte Dogma aus der Jugend der Wissenschaftstheorie lautet in Quines Formulierung: „Philosophy of science is philosophy enough“ (Quine 1966, 149). Diese Philosophie der Wissenschaft trägt bei Quine bekanntlich den altehrwürdigen Namen der Ontologie. Bei dieser Ontologie mit ihrem philosophischen Suffizienzanspruch handelt es sich nicht um eine abgeschlossene Theorie, auch nicht um eine in ihren Grundzügen abgeschlossene Theorie, sondern um ein Forschungsprogramm. Dieses Forschungsprogramm sieht vor, die Sätze, in denen wissenschaftliche Theorien formuliert werden, mit einem einzigen Ziel zu analysieren: Es sollen die
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Existenzvoraussetzungen ans Licht gebracht werden, mit denen im Rahmen von wissenschaftlichen Theorien gearbeitet wird. Im Licht des Leitkriteriums dieses Forschungsprogramms existiert allerdings alles und nur das, was sich als Referenzobjekt von unverzichtbaren gebundenen Variablen in quantorenlogisch formalisierten Sätzen wissenschaftlicher Theorien rekonstruieren lässt. Unverzichtbar sind dabei diejenigen gebundenen Variablen, deren Referenzobjekte die Inhalte derjenigen Existenzvoraussetzungen einer Theorie sind, ohne die die Sätze nicht wahr sind, durch die diese Theorie dokumentiert wird. Es ist daher nach Quines Auffassung nicht nur einfach die Wissenschaftsphilosophie, was genug Philosophie ist. Es ist die logische Spurensuche nach den Referenzobjekten solcher gebundenen Variablen, was nach dieser Auffassung den Königsweg zu einer auf Wissenschaftsphilosophie eingeschränkten Philosophie bietet. Es liegt auf der Hand, dass diese Auffassung nicht nur von Philosophie, sondern auch von Wissenschaftsphilosophie in einem Maße eng ist, das man mit guten Gründen wahlweise extrem oder bizarr oder grotesk finden kann. Dabei braucht man nicht zu übersehen, dass man innerhalb der extrem engen methodischen und thematischen Grenzen dieser Konzeption nicht nur mit großer Strenge, sondern auch mit großer Fruchtbarkeit arbeiten kann und auch schon seit mehreren Jahrzehnten gearbeitet hat. Logik und Sinnesphysiologie, Linguistik und Mengentheorie sind die wichtigsten Hilfsdisziplinen dieser Philosophie. Doch mancher verbindet so große Begabung und so große Leidenschaft für eine neue methodische Einstellung und für das zu ihr passende Themenfeld, dass er sich durch die zunehmenden Erfolge seiner Arbeit allzu sehr von seiner Methodenkultur und seiner thematischen Orientierung gefangen nehmen lässt. Schließlich verwechselt er sie mit dem Königsweg der Philosophie. Quines vermeintlicher Königsweg ist zwar alles andere als ein philosophischer Holzweg. Aber sein philosophischer Suffizienzanspruch verrät einen Mangel an philosophischer Urteilskraft, wie er schwerlich überboten werden kann.
II. Im Vergleich mit der Spannweite der Problemstellungen und mit der Tiefenschärfe der Problembehandlung, die sich in Deutschland in repräsentativer Weise in Wolfgang Stegmüllers monumentalem Werk Probleme und Resultate der Analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie (vgl. Stegmüller, 1969 ff.) zeigen, mutet das Werk Quines mit seinem philosophischen Suffizienzanspruch – und zwar ganz unbeschadet seiner internen Strenge und Fruchtbarkeit – wie eine exotische Pflanze an, die zwar in ihrer natürlichen Umgebung schon längst ausgestorben wäre, aber in einem
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arbeitsteilig und spezialistisch organisierten Treibhaus sogar auf unabsehbare Zeit immer wieder aufschlussreiche Früchte tragen kann. Doch um was für eine Art von natürlicher Umgebung handelt es sich eigentlich bei der Umgebung, in der die Beziehungen zwischen Philosophie und Wissenschaftstheorie entweder gedeihen oder verkümmern, blühen oder verwelken? Diese Umgebung bildet nach wie vor eine praktische Lebenswelt, die seit dem Beginn der Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert von der Dynamik des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in exponentiellen Maßen durchdrungen wird. Aus dieser praktischen Lebenswelt stammen die Fragen, die sich erkundigen, wie der staunenerregende, endlos scheinende Fortschritt von Wissenschaft und Technik möglich ist. Aus dieser praktischen Lebenswelt stammen aber auch die Fragen, die sich danach erkundigen, wie sich Philosophie und Wissenschaftstheorie dafür rechtfertigen können, dass sie die öffentlichen Mittel in Anspruch nehmen, mit deren Hilfe ihre Arbeit an diesen Fragen weltweit alimentiert wird. Was haben Philosophie und Wissenschaftstheorie zur Beantwortung solcher Fragen – und damit zur Rechtfertigung dieser Alimentierung – bisher beigetragen? Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Kinder des wissenschaftlichtechnischen Zeitalters anfangen würden, in gezielter Weise dem Bedürfnis gerecht zu werden, das Unternehmen namens Wissenschaft, das diese Art von Fortschritt hervorbringt, gezielt zum Thema von Untersuchungen seiner Fortschrittsbedingungen zu machen. Das früheste wissenschaftstheoretische Zeugnis dieses Typs von Untersuchungen, das mit wichtigen Grundzügen bis heute aktuell ist, liefert bekanntlich das Buch von Pierre Duhem von 1906 über Ziel und Struktur physikalischer Theorien (vgl. Duhem 1998). In keinem anderen wissenschaftstheoretischen Werk mit vergleichbarer Orientierung und mit vergleichbarem Format ist bis heute so oft direkt oder indirekt vom Fortschritt der Physik oder vom Fortschritt der Wissenschaft die Rede. Dennoch hat Duhems Wissenschaftstheorie bis in die sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts – also rund zwei Generationen lang – fast ganz im toten Winkel der Aufmerksamkeit der wissenschaftstheoretischen Tradition gestanden, die vor allem mit Rudolf Carnaps Werk von 1928 Der logische Aufbau der Welt (vgl. Carnap 1928b) und mit Karl Poppers Logik der Forschung von 1932/33 (vgl. Popper 1963) ins Leben gerufen worden war und mit Carl Hempels Sammelwerk von 1965 Aspects of Scientific Explanation (vgl. Hempel 1970) an ein vorläufiges Ende gelangt war. Dabei dokumentiert Duhems Werk auf dem zu seiner Zeit anspruchsvollsten Niveau den Anfang nicht nur der Tradition, die empirischen Wissenschaften von der Metaphysik abzugrenzen, sondern auch der Tradition, für die Wissenschaftstheorie die Kompetenz in Anspruch zu nehmen, die Legitimität solcher Abgrenzungen zu beurteilen (vgl. Duhem 1998, bes. 4 f.).
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III. Ein einfaches, aber deswegen besonders instruktives Beispiel bildet Duhems Analyse von Descartes’ Forschungen zu den Phänomenen des Lichts. Descartes’ Metaphysik des Lichts wird nach Duhems Kriterium von dessen These über die instantane Ausbreitung des Lichts und von den Erörterungen der Brechungsphänomene des Lichts gebildet, die er aus dieser Instantanität zu erklären sucht. Die Demarkationslinie zwischen Metaphysik und Physik kommt bei Duhem indessen dadurch im Fall von Descartes’ Forschungen ans Licht, dass die Zuhilfenahme dieser Metaphysik weder hinreichend noch nötig ist, um das gesetzförmige Verhalten des Lichts beim Übergang von einem Medium in ein anderes zu erklären (vgl. ebd., 40). Man hat daher gelegentlich zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Duhems Theorie in diesem Punkt eine wichtige Form der Verwandtschaft mit Poppers berühmtem Abgrenzungskriterium der empirischen Falsifizierbarkeit zeigt (vgl. Schäfer, 1998, XVII* f.). Doch gerade deswegen ist es umso wichtiger, auf die funktionalen Unterschiede dieser beiden Kriterien zu achten. Denn ihre Anwendung kann unter Umständen zu ganz verschiedenen Grenzziehungen zwischen Physik und Metaphysik führen. Beispielsweise im Fall von Descartes’ Theorie des Lichts erweist sich Poppers Kriterium als liberaler als Duhems Kriterium. Denn die These Descartes’, dass sich das Licht instantan fortpflanze, die nach Duhems Kriterium zur Metaphysik gehört, ist empirisch überprüfbar und im Zuge der Entdeckung der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit durch den dänischen Physiker Rømer im Sinne von Poppers Kriterium falsifiziert worden (vgl. Duhem 1998, 40). Dieser Teil von Descartes’ Lichttheorie gehört insofern durchaus nicht zur Metaphysik, sondern zur empirisch arbeitenden Physik. Daher ist es wichtig zu beachten, dass die Tragweite solcher Abgrenzungskriterien gespalten ist. Denn mit jedem derartigen Kriterium ist nun einmal der Anspruch auf eine Beurteilungskompetenz verbunden, in deren Obhut diagnostiziert werden können soll, was Metaphysik und was empirische Wissenschaft ist und was nicht. Darüber hinaus wird aber auch der ganz und gar nicht triviale Anspruch erhoben, dass es die Wissenschaftstheorie ist, die im Besitz dieser Beurteilungskompetenz sei. Doch nichts wäre verfehlter, als diesen Anspruch uneingeschränkt zu akzeptieren. In der Theorie der empirischen Wissenschaften ist der Name der Metaphysik ein ganz und gar nichtssagender Name für eine Residualkategorie von Sätzen, für deren Analyse sie sich aus systematischen Gründen nicht zu interessieren braucht. Zwar gelangt die Wissenschaftstheorie in der Regel erst durch eine sorgfältige Mikroanalyse von paradigmatischen Sätzen zu dem Ergebnis, dass es sich um nicht-empirische nicht-wissenschaftliche und insofern um metaphysische Sätze handele. Ihr analytisches Interesse widmet die Wissenschaftstheorie den metaphysischen Sätzen indessen ausschließlich mit dem Ziel, die
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Gründe zu klären, aus denen sie berechtigt ist, sich nicht weiter für sie zu interessieren. Doch die einschlägigen Abgrenzungskriterien enthalten nicht die geringsten Informationen oder sonstigen Orientierungshilfen, durch die man irgendwelchen spezifischen Gründen auf die Spur kommen könnte, aus denen man berechtigt sein könnte, solchen Sätzen und ihren nicht-empirischen Begründungen das Interesse zu widmen, aus dem sie durch Metaphysiker erarbeitet werden. Die Wissenschaftstheorie ist von solchen spezifischen Aspekten, Kriterien und Gründen leer und für solche Aspekte, Gründe und Kriterien blind. Die Wissenschaftstheorie hat keine spezifische Beurteilungskompetenz für die Metaphysik. Die Metaphysik hat daher aber auch keinerlei ernstzunehmende Gründe, solche Abgrenzungskriterien uneingeschränkt zu akzeptieren. In der Regel wird sie durch ein solches Abgrenzungskriterium auf eine unter mehreren möglichen empiristischen Selbstdeutungen der empirischen Wissenschaft aufmerksam gemacht. Doch wie die Geschichte der Wissenschaftstheorie gezeigt hat, sind diese Abgrenzungskriterien – und damit der Status der empirischen Wissenschaft – nicht weniger strittig als der Status der Metaphysik. Wenn die Metaphysik aus der Geschichte der empiristischen Abgrenzungskriterien irgendetwas lernen kann, dann allenfalls – aber immerhin – dies, dass sie gut beraten ist, wenn sie sich um Kriterien zur Abgrenzung gegen die empirische Wissenschaft mit demselben Maß an methodischer und formaler Sorgfalt und Strenge bemüht wie sie inzwischen für die besten wissenschaftstheoretischen Bemühungen um eine Klärung empiristischer Abgrenzungskriterien selbstverständlich sind.
IV. Indessen kann man an einem in doppelter Hinsicht anspruchsvollen und dennoch relativ einfachen Beispiel erläutern, wie Wissenschaftstheorie und Metaphysik sogar dann dazu verurteilt sind, aneinander vorbeizureden, wenn die Wissenschaftstheorie auf ihrem höchsten Niveau die Metaphysik auf deren höchstem Niveau ernstzunehmen versucht. Das Beispiel möge der von Wolfgang Stegmüller 1967/68 unternommene Versuch abgeben, Kants Metaphysik der Erfahrung einer rationalen Rekonstruktion zu unterziehen (vgl. Stegmüller 1974, 1–61).1 Es gibt keine andere Arbeit eines 1
Ich lasse hier den naheliegenden Vorbehalt auf sich beruhen, dass Kant selbst diese Theorie im Sinne seiner eigenen Disziplinensystematik gerade nicht als eine Metaphysik auffasst, sondern als unentbehrlichen Teil einer kritischen Propädeutik zur Metaphysik (vgl. Kant 1976, A 841, B 869). Diese Theorie ist nach Kants Kriterien allenfalls in dem schwächeren und unspezifischen Sinne eine Metaphysik, dass auch sie eine nicht-empirische, apriorische Theorie ist (vgl. ebd.).
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Wissenschaftstheoretikers vom Format Stegmüllers, die es an Ernsthaftigkeit und Energie mit dieser rund sechzigseitigen Untersuchung aufnehmen könnte. Doch warum ist dieser Versuch eines konstruktiven Gesprächs zwischen Wissenschaftstheorie und Metaphysik trotzdem gescheitert? Stegmüller nimmt verständlicherweise Kants wissenschaftstheoretisch klingende Frage aus den Prolegomena ernst, wie reine Naturwissenschaft möglich ist (vgl. Kant 1903, 49–87 bzw. Stegmüller 1974, 11 f.). Diese Frage wird von Stegmüller mit der Leitfrage von Kants transzendentalphilosophischem Ansatz verflochten, wie synthetische Urteile a priori möglich sind (vgl. ebd., 10 f.). Zu Recht macht Stegmüller darauf aufmerksam, dass diese Frage mit der Existenzvoraussetzung verbunden ist, dass es synthetische Urteile a priori überhaupt gebe (vgl. ebd.). Diese Existenzvoraussetzung wird von Stegmüller so spezialisiert, dass sie unmittelbar zu einer Existenzhypothese der Theorie der Naturwissenschaften wird: Einige wahre naturwissenschaftliche Aussagen sind synthetische Sätze a priori (vgl. ebd., 11). Für die Begründung solcher Sätze ist es charakteristisch, dass formallogische Mittel dazu nicht ausreichen und empirische Methoden dazu nicht nötig sind (vgl. ebd., 24 f.). Die beiden Musterbeispiele synthetischer Sätze a priori, die für eine solche spezielle wissenschaftstheoretische Rekonstruktion von Kants Konzeption in Frage kommen, bilden das sog. Kausalitätsprinzip und das sog. Substanzprinzip (vgl. ebd.). Der neuralgische Hauptpunkt in Stegmüllers Rekonstruktion ist allerdings erst erreicht, wenn Stegmüller behauptet, dass die fraglichen Prinzipien einen Tatsachengehalt in dem Sinne haben, dass ihre sprachlichen Formulierungen etwas über die reale Welt und deren Struktur behaupten – also z. B. über ihre kausale Struktur – und damit jedenfalls auch etwas über jene Dinge und Ereignisse, die auch die Gegenstände unserer Sinneswahrnehmungen und Beobachtungen bilden (vgl. ebd., 9 f., 39 f.). Die Formulierungen, die Kant diesen beiden Prinzipien in der Kritik der reinen Vernunft gegeben hat, scheinen diese Auffassung – man kann sie kurz als die ontologische Auffassung dieser beiden Prinzipien apostrophieren – zu bestätigen. Das Substanzprinzip lautet in der Version der zweiten Auflage: „Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert“ (Kant 1976, B 224). Das Kausalitätsprinzip lautet in der Version der ersten Auflage: „Alles, was geschieht (anhebt zu sein) setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt“ (ebd., A 189). Wenn man diese beiden Formulierungen aus verschiedenen Auflagen zitiert, dann erleichtert dies die logische Vergleichbarkeit zwischen den beiden Prinzipien. Denn ein nur wenig genauerer logischer Vergleich zwischen den beiden Prinzipien fördert ein logisches Indiz zutage, das eine ontologische Lesart stützt. Eine minimale logische Stilisierung der beiden
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Formulierungen kann dieses Ontologie-Indiz sichtbar machen. Das Substanzprinzip erhält dann die Version: ‚Bei allem Wechsel der Erscheinungen gibt es etwas bzw. existiert etwas, was beharrt und dessen Quantum weder vermehrt noch vermindert wird‘; das Kausalitätsprinzip erhält dann die Version: ‚Zu allem, was geschieht (anhebt zu sein), gibt es etwas bzw. existiert etwas, worauf es nach einer Regel folgt‘. Es liegt auf der Hand, dass es der in Kants Formulierungen lediglich nicht explizit gemachte Existenz-Faktor ist, der das fragliche Ontologie-Indiz gleichsam in Reinkultur sichtbar macht. Dennoch ist dieser Existenz-Faktor nicht nur ein schwaches, sondern ein unzuverlässiges und sogar irreführendes Ontologie-Indiz. Warum? Kants buchtechnische Formulierungen der beiden Prinzipien sind systematisch ganz einfach unvollständig. Diese Unvollständigkeit beruht weder auf einem sachlichen noch auf einem methodischen Fehler Kants, sondern ist einer darstellungstechnischen Vereinfachung geschuldet. Kant hat die Formulierungen und die Beweise der beiden Prinzipien mit einer systematischen, im präzisen Sinne transzendentalen Klausel unter dem Titel „[Die] Analogien der Erfahrung“ (ebd., A 176, B 218) verflochten. Durch diese Klausel stellt er klar, dass durch jedes dieser beiden Prinzipien genau eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung fixiert ist. Die systematischen Volltexte der beiden Prinzipien lauten daher: 1. Erfahrung ist nur dann möglich, wenn es bei allem Wechsel der Erscheinungen etwas gibt bzw. wenn etwas existiert, was beharrt und dessen Quantum weder vermehrt noch vermindert wird. 2. Erfahrung ist nur dann möglich, wenn es zu allem, was geschieht, etwas gibt bzw. wenn etwas existiert, worauf es nach einer Regel folgt. Damit ist klar, dass diese beiden Prinzipien im transzendentalen Rahmen gerade nicht als ontologische Aussagen über Strukturen der realen Welt formuliert werden. Ihre Volltexte lassen im Gegenteil sogar systematisch offen, ob diese reale Welt kausal strukturiert ist oder nicht und ob sie eine Substanz enthält oder nicht. Sie lassen vielmehr ausschließlich die Möglichkeit des Menschen, Erfahrung zu machen, u. a. von der doppelten notwendigen Bedingung abhängig sein, dass er in einer kausal und substantial strukturierten Welt lebt. Deswegen fallen die Begründungsstrukturen dieser Prinzipien auch völlig anders aus als es der Fall sein müsste, wenn sie allgemeine ontologische Prinzipien oder aber ontologische Prämissen der Physik wären. Es ist daher auch nur allzu verständlich, dass Stegmüller mit Kants Rede von den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung nicht das Geringste anfangen kann (vgl. Stegmüller 1974, 27 f.). Ob die von diesen beiden transzendentalen Prinzipien formulierten Bedingungen der Substantialität und der Kausalität überdies in der realen
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Welt, in der wir leben und in der die Physik ihren Forschungen nachgeht, erfüllt sind oder nicht, ist eine Frage, zu der die Transzendentalphilosophie mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln grundsätzlich gar nicht Stellung nehmen kann, weil es sich dabei um eine in methodischer Hinsicht rein empirische Frage handelt. Bei alledem bleibt bei Stegmüller der Umstand gänzlich ausgeblendet, dass in Kants transzendentalen Erörterungen noch einem ganz anderen Typus von Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung eine zentrale Rolle zufällt – den kognitiven „(Fähigkeiten oder Vermögen), die die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung enthalten“ (Kant 1976, A 94).2 Kant hat also entgegen anders lautenden Einschätzungen eine Ontologie weder intendiert noch ausgearbeitet noch sich in eine Ontologie verirrt. Er sieht vielmehr die Möglichkeit der Erfahrung – also die Möglichkeit, etwas über eine von uns unabhängig existierende Welt zu lernen – u. a. auch von den Bedingungen abhängen, dass diese Welt kausale Züge hat und von etwas Beharrlichem durchdrungen ist. Doch damit zeigt sich, dass der Versuch der Wissenschaftstheorie, mit einer ontologischen Fundamentalphilosophie Kants ins Gespräch zu kommen, schon vor dem Beginn eines solchen Gesprächs zum Scheitern verurteilt ist, weil es eine solche ontologische Fundamentalphilosophie Kants nicht gibt. Es ist angesichts dieses Versuchs von Stegmüller, Kants nicht-ontologische Transzendentalphilosophie in eine ontologische Wissenschaftsphilosophie zu transformieren, allerdings auch nicht sonderlich überraschend, dass Quine mit seiner ontologisch orientierten Konzeption einer auf Wissenschaftsphilosophie eingeschränkten Philosophie der Autor ist, auf dessen Arbeiten Stegmüller in dieser Abhandlung am häufigsten Bezug nimmt.
V. Ihre produktivste Lektion konnte die Wissenschaftstheorie in ihrer Anfangsphase indessen auf ihrem ureigensten Forschungsfeld lernen. Sie lernte einzusehen, dass sie ihr wichtigstes Ziel – die Klärung der Fortschrittsbedingungen der Wissenschaft – nur dann würde erreichen können, wenn sie sich in einer ersten Phase ihrer Arbeit mit einer rigorosen methodischen Selbstbeschränkung bescheidet. Die Analyse dieser Bedingungen musste so lange warten, bis man in der Lage war, ein hinreichend differenziertes Bild von der Binnenstruktur der Resultate wissenschaftlicher Arbeit
2
Vgl. hierzu zuletzt den eindringlichen und erhellenden Kommentar von Wolfgang Carl (vgl. Carl 1992).
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zu entwerfen – also von den Begriffen, den Sätzen, den Satzgefügen und den Theorien, zu denen Wissenschaftler durch ihre Arbeit gelangen. Da der wissenschaftliche Fortschritt stets ein Schritt ist – abgesehen von den unzähligen Zwischenritten, die ihm vorangehen und zu ihm beitragen –, durch den man über eine schon zur Verfügung stehende bewährte Theorie hinausgeht und zu einer neuen, noch leistungsfähigeren Theorie gelangt, musste man zunächst lernen, die Binnenstrukturen solcher Theorien so zu analysieren, dass man in jedem konkreten Einzelfall zuverlässig alle Komponenten identifizieren kann, die einerseits in der alten Theorie für eine Überwindung durch den Fortschritt in Frage kommen und die andererseits in der neuen Theorie in der umgekehrten Richtung für diese Überwindung in Frage kommen. Um also Theorienvergleiche durchführen zu können, wenn man wenigstens paradigmatische Fortschrittsbedingungen analysieren wollte, musste man Vergleichsstandards erarbeiten. Diese Standards mussten aber auch so ausfallen, dass sie invariant gegenüber beliebig verschiedenen konkreten in der Geschichte der Wissenschaften erarbeiteten Theorien sind. Und für die Erarbeitung solcher invarianten Standards eröffnete ebenso offensichtlich weder die Metaphysik noch irgendeine andere Spezialdisziplin der Philosophie, sondern ausschließlich eine rein formale Disziplin, also die Formale Logik einen aussichtsreichen Weg. Man macht sich inzwischen kaum noch klar, mit welcher völligen Hilflosigkeit die Philosophie – aber eben auch noch Wissenschaftstheoretiker wie Duhem – in dieser Situation vor der Aufgabe standen, einen neutralen Analyse- und Beurteilungsstandard für die Binnenstruktur wissenschaftlicher Theorien zu entwickeln. Denn wie man inzwischen längst weiß, ist an der wichtigsten Leistung einer wissenschaftlichen Theorie, an der Erklärung von individuellen Erfahrungstatsachen mit Hilfe eines Gesetzes jedenfalls auch eine Ableitung im strengen und engen Sinne des logischen Folgerungsbegriffs beteiligt. Doch gerade diese logische Teilstruktur einer jeden derartigen Erklärung war für alle Wissenschaftler und Wissenschaftstheoretiker bis ins erste Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts ein undurchdringliches Rätsel. Denn keines der logischen Systeme oder QuasiSysteme, die seit der Aristotelischen Syllogistik bis ins letzte Drittel des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt worden waren, bot Kriterien und Methoden an, mit deren Hilfe sich diese elementare logische Teilstruktur befriedigend hätte durchsichtig machen lassen. Dies ist bekanntlich erst möglich geworden, seit es Gottlob Frege ab dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts mit Hilfe einer Vielzahl von ingeniösen formalen Einsichten und Kunstgriffen gelungen war, der Formalen Logik und ihren Anwendungen ein völlig neues und buchstäblich unerschöpfliches Forschungsfeld zu eröffnen. Von hier aus wurde die logische Transparenz von Erklärungen einzelner Erfahrungstatsachen aus empirisch bewährten uni-
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versellen Sätzen zum unscheinbaren Ausgangspunkt für die bis in die sechziger Jahre hoch entwickelte Theorie wissenschaftlicher Erklärungen. Der Preis, den die Wissenschaftstheorie auf ihrem Weg dahin für ihren vorläufigen Verzicht auf die Ausarbeitung einer Theorie des wissenschaftlichen Fortschritts entrichten musste, war empfindlich. Denn die Bedingungen dieses Fortschritts schienen in demselben Maß undurchsichtiger zu werden, in dem die von Frege begründete moderne Formale Logik Methoden und Instrumente entwickelte, mit deren Hilfe man Licht in die lehrbuchreifen Gestalten wissenschaftlicher Theorien bringen konnte. Die logischen Binnenstrukturen solcher Theorien erwiesen sich im Licht der logischen Analyse der Sprachen dieser Theorien als so kompliziert, dass schon bald die Darstellung dieser Strukturen um ein Vielfaches komplexer – und umfangreicher – wurde als die Lehrbuchfassungen solcher Theorien selbst. In dem Maß, in dem die Formale Logik selbst Fortschritte machte, konnten die Wissenschaftstheoretiker daher in immer mikroskopischere logische Dimensionen auch schon einer einzigen wissenschaftlichen Theorie eindringen. In dieser Situation mussten die Bedingungen des wissenschaftlichen Fortschritts, insbesondere die des Fortschritts der Physik zunehmend undurchsichtiger geworden sein. Denn je komplexer und mikroskopischer das überdies kontroverse, abstrakte, formale Standardbild der Wissenschaftstheorie von den logischen Komponenten und Geweben – also von den Sätzen und den Begriffen – einer wissenschaftlichen Theorie wurde, umso verwirrender musste das Bild ausfallen, wenn man sich zwei beliebigen, aus der Geschichte vorliegenden wissenschaftlichen Theorien zuwandte, die nach der Auffassung der Experten der zuständigen Disziplinen in einer Fortschrittsrelation zueinander stehen. Wie diese vollständig kaum durchschaubaren logischen Mikrostrukturen mit der logischen Struktur der Fortschrittsrelation zusammenhängen, in der zwei derartige Theorien stehen, ist dann eine Frage, die ein Komplexitätsniveau vor Augen führt, das für die logischen Mikroanalysen der Wissenschaftstheorie endgültig in eine methodische Aporie mündet.
VI. Aus dieser Aporie sind die Beziehungen zwischen Philosophie und Wissenschaftstheorie nicht ohne tiefe Wandlungen hervorgegangen. Der wichtigste theoretische Pilot-Beitrag zu diesen Wandlungen stammt aus dem Buch des amerikanischen Physikers und Wissenschaftstheoretikers Joseph Sneed The Logical Structure of Mathematical Physics (vgl. Sneed 1971). Sneeds Untersuchungen zielen darauf, unter dem neuen Leitwort einer
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Theoriendynamik die Fortschrittsrelation zwischen jeweils zwei geeigneten in der Geschichte ausgearbeiteten physikalischen Theorien einer formalen Analyse mit Hilfe von ingeniös vereinfachten Mitteln zugänglich zu machen: An die Stelle einer die menschlichen methodischen Möglichkeiten überfordernden, logischen Term-für-Term- und Satz-für-Satz-Analyse einer wissenschaftlichen, speziell physikalischen Theorie, tritt eine Analyse eines mengentheoretischen dreidimensionalen Prädikats, das die mathematische, die begriffliche und die Dimension der paradigmatischen Anwendungen einer solchen Theorie umfasst.3 Innerhalb dieses Rahmens bewegen sich seit nunmehr fast vierzig Jahren die Forschungen, Untersuchungen und Analysen, die der sog. Theoriendynamik gewidmet sind. Ihr Ziel ist es, nicht nur durch exemplarische, sondern durch möglichst paradigmatische Fallstudien den Bedingungen auf die Spur zu kommen, von denen es ganz allgemein abhängt, dass zwei physikalische Theorien in einer Fortschrittsrelation zueinander stehen. Der technische Schlüsselbegriff, der sich schon in den Jahren vor dem Erscheinen von Sneeds Untersuchungen für dieses Thema eingebürgert hatte, ist der Begriff der Reduktion: Eine Theorie, die durch einen Fortschritt überholt wird, muss auf die Theorie, von der sie überholt wird, in einem präzisierbaren und nachweisbaren Sinne reduziert werden können – und zwar in allen drei Dimensionen: in der mathematischen Dimension, in der Dimension der Maßgrößen und in der Dimension der empirischen Anwendungen, wenngleich eine solche Reduktion in der Regel nur partiell oder/und approximativ, aber nicht total sein muss. Das wohl bedeutsamste vorläufige Zeugnis dieser Entwicklung liefert das zweibändige Werk des Philosophen, Wissenschaftstheoretikers und Physikers Erhard Scheibe über Die Reduktion physikalischer Theorien (vgl. Scheibe 1997, 1999). Scheibe gehört bekanntlich zu den international renommiertesten Wissenschaftstheoretikern; er hat sich bis zum Erscheinen seines Buches mehr als drei Jahrzehnte mit dem Thema auseinandergesetzt, das dann auf den Namen der Theoriedynamik getauft worden ist; und in dem genannten Werk analysiert er die Bedingungen des wissenschaftlichen Fortschritts der Physik, indem er für paradigmatische Fälle die Bedingungen analysiert, unter denen eine konkrete physikalische Theorie aus der Wissenschaftsgeschichte partiell bzw. approximativ auf eine andere derartige Theorie reduziert werden kann – und zwar sowohl mit ihrer
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Unter den zahlreichen Beiträgen von Wolfgang Stegmüller zur konstruktiven Ausarbeitung von Sneeds Ansatz vgl. vor allem die die wichtigsten Motive, Methoden, Ziele und Überlegenheiten dieses Ansatzes plausibel machende Darstellung in Stegmüller 1986, 468 f.
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mathematischen als auch mit ihrer begrifflichen und anwendungsorientierten, empirischen Dimension.4 Doch auf diesem gegenwärtig anspruchsvollsten Niveau der wissenschaftstheoretischen Arbeit und gerade angesichts dieses wohl wichtigsten Themas dieser Arbeit – also des wissenschaftlichen Fortschritts – muss sich die Philosophie zumindest auf unbestimmte Zeit damit abfinden, dass sie sich an dieser Arbeit nicht mehr produktiv beteiligen kann. Sie taucht in Scheibes Werk lediglich noch in einem Abschnitt des ersten Kapitels thematisch unter der Überschrift Das Erbe der Philosophie auf. Aber noch wichtiger als diese fast schon nostalgische Apostrophierung der Beziehungen der Wissenschaftstheorie zur Philosophie ist der Anfang des letzten Absatzes der Einleitung: „Das Buch […] kann von jedem gelesen werden, der Physik studiert hat, sowie gewisse mathematische Kenntnisse und einen Sinn für logische Ordnung mitbringt. Philosophische Vorkenntnisse sind nicht erforderlich“ (Scheibe 1997, 8). Was bleibt der Philosophie im Licht – oder besser: im Schatten – dieses Abgesangs auf ihre wissenschaftstheoretische Kompetenz noch übrig, wenn es um die Frage nach den Rollen, den Funktionen und den Aufgaben der Wissenschaft in der praktischen Lebenswelt geht – also um die Fragen, um deren Untersuchung willen sowohl die Philosophie wie die Wissen4
Aus guten Gründen hat Wolfgang Stegmüller (1979) darauf aufmerksam gemacht, dass in dieser Trias der Faktor des „Geflechts von Dispositionen …, d. h. von erworbenen Fähigkeiten und Geschicklichkeiten“ (123) unbedingt berücksichtigt werden sollte, ohne deren Zuhilfenahme auch kein Forscher, Wissenschaftler oder Gelehrter auch nur einen einzigen noch so elementarer Schritt auf seinem jeweiligen Untersuchungsfeld tun könnte. Diese mehr oder weniger komplexen, im Kern methodischen und technischen Fähigkeiten sind indessen ausschließlich kognitiv strukturiert, weil sie das mehr oder weniger komplexe methodisch-technische Know-how der wissenschaftlichen Tätigkeit bilden. Dieses Know-how ist indessen sowohl im Blick auf den mathematischen Strukturkern wie im Blick auf das Begriffsnetz wie auch im Blick auf die intendierten Anwendungen einer (physikalischen) Theorie vonnöten. Es bildet aber auch den konstitutiven Wissenskern des konventionellerweise sog. propositionalen Wissens. Denn propositional strukturierte Dokumente oder Sprechakte können auch von Personen hervorgebracht werden, die – wie z. B. wissenschaftliche Laien – zu den propositionalen Gehalten solcher Dokumente oder Sprechakte nicht die geringsten authentischen kognitiven Beziehungen unterhalten – auch dann nicht, wenn diese Gehalte wahr sind. Erst in dem Maß, in dem sie sich durch authentische Arbeit auf den einschlägigen Untersuchungsfeldern das sachgemäße methodisch-technische Know-how aneignen, mit dessen Hilfe diese propositionalen Gehalte ursprünglich erworben worden sind, werden sie zu Kandidaten für Inhaber eines Wissens um diese Gehalte. Kurz: Wissen ist nicht proposition-abhängig, sondern person- und know-how-abhängig; ohne sachgemäßes und authentisches, methodisch-technisches Know-how gibt es auch kein sog. propositionales Wissen; vgl. hierzu ausführlich Enskat 2005.
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schaftstheorie ursprünglich aus Mitteln alimentiert werden, die in dieser Lebenswelt erarbeitet werden und auf deren Beantwortung die Bewohner dieser Lebenswelt angewiesen sind, wenn sie nicht nur über die Struktur des wissenschaftlichen Fortschritts orientiert sein wollen, sondern auch über die praktischen Ziele aufgeklärt sein wollen, denen man diesen Fortschritt vernünftigerweise sollte dienstbar machen können?
VII. Es ist vielleicht kein Zufall, dass fast in demselben Jahr, in dem Joseph Sneed der Wissenschaftstheorie einen Weg aus der Befangenheit in dem Irrationalitätsverdacht von Thomas Kuhns Buch über Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen gewiesen hat, das Programm einer Rehabilitierung der Praktischen Philosophie (vgl. Riedel 1971) publiziert wurde. Das zu Recht berühmt gewordene, von Manfred Riedel herausgegebene zweibändige Sammelwerk unter diesem Titel enthielt denn auch eine Abteilung zu dem Thema Praktische Philosophie und Wissenschaftstheorie (vgl. ebd., 489–534). Friedrich Kambartel (vgl. ebd., 489–503) und Wolfgang Wieland (vgl. ebd., 505–534) erörtern hier unter verschiedenen Aspekten Aufgaben, deren sich diese beiden Disziplinen überhaupt in einer gemeinsamen Anstrengung und mit berechtigter Aussicht auf Erfolg annehmen können, aber auch Aufgaben, wie sie im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts darauf warten, von ihnen bearbeitet zu werden. Es dürfte unstrittig sein, dass die Geisteswissenschaften nach wie vor die größten Schwierigkeiten bereiten, wenn es um die Frage geht, welchen praktischen Zielen ihre Resultate vernünftigerweise dienstbar gemacht werden können. Die Antworten, die bisher vorgeschlagen worden sind, leiden unter bestimmten systematischen Mängeln. Am prominentesten ist zumindest in der deutschsprachigen Diskussion das 1963 zuerst von Joachim Ritter (vgl. Ritter 1974, 105–140) konzipierte und später von Odo Marquard (vgl. Marquard 1985) elaborierte und popularisierte Kompensationsmodell geworden. Nach diesem Modell haben die Geisteswissenschaften – also die philologischen, die literaturwissenschaftlichen und die historischen Disziplinen – die Aufgabe, den Menschen der wissenschaftlich-technischen Zivilisation möglichst authentische Dokumente, Denkmäler und Symbole der Vorgeschichte dieser Zivilisation mit dem Ziel zugänglich zu machen, dass sie sich durch eine imaginative und emotionale Vertiefung in diese Vorgeschichte für die Folgelasten dieser Zivilisation entschädigen können. Der offenkundige psychotherapeutische Kern dieses Modells hat allerdings einen für ein praktisches Modell entscheidenden Nachteil, auf den übrigens Erhard Scheibe hingewiesen hat: Es lässt in der Wirklichkeit, für
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deren Zumutungen die Nutznießer der Geisteswissenschaften ja lediglich kompensatorisch – also durch Surrogate – entschädigt werden sollen, alles, wie es ist (vgl. Scheibe 1997, 12–15). Ein anderes Modell ist eine Generation später von dem Germanisten Wolfgang Frühwald (vgl. Frühwald 1991, 73–111) vorgeschlagen worden. Man kann es in aller Kürze als ein Anti-Entfremdungsmodell umschreiben. Es traut den Geisteswissenschaften – und unter den diversen Wissenschaftsgruppen nur ihnen – zu, zu einer Überwindung der Entfremdung von der Natur zu verhelfen, in der sich die Menschen im Zuge der wissenschaftlich-technischen Dauerrevolutionierung ihrer Lebenswelt immer mehr verfangen haben. Dieses Modell hat zunächst einmal den nicht unerheblichen Vorzug, dass es die kognitive oder epistemische Zentralfunktion der wissenschaftlichen Arbeit von Anfang an ernst nimmt. Denn der Entfremdungsbegriff ist nun einmal ein kognitiver oder epistemischer Begriff. Er deutet an, dass dem in Entfremdung Befangenen ein von Erkenntnis und Einsicht geleiteter Zugang zu der Sphäre, der er entfremdet ist, zumindest bis auf weiteres verstellt ist. Insofern traut Frühwald den Geisteswissenschaften zu, Einsichten und Erkenntnisse bereitzustellen, die helfen können, die diagnostizierte Entfremdung von der Natur zu überwinden. Doch warum traut Frühwald diese Hilfe ausgerechnet den Geisteswissenschaften und nicht den Naturwissenschaften zu? Das liegt offensichtlich daran, dass die Naturwissenschaften durch das Medium der Ingenieurswissenschaften im wahrsten Sinne des Wortes grundlegend mit den technischen Interventionen verflochten sind, mit deren Hilfe die natürliche Lebenswelt der Menschen seit dem Beginn der Industriellen Revolution systematisch umgestaltet wird. Die diagnostizierte Entfremdung der Menschen von der Natur wird hier offensichtlich als eine Funktion der mit Hilfe der Naturwissenschaften möglich gewordenen systematischen technischen Umgestaltung der natürlichen Lebenswelt der Menschen aufgefaßt. Nun kann selbstverständlich nicht gut bezweifelt werden, dass diese Umgestaltung mit Hilfe der Naturforschung erst seit den Generationen in wohlfundierter Weise betrieben werden kann, in denen die Naturforschung angefangen hat, den von Kant zu Recht gepriesenen ‚sicheren Gang der Wissenschaft‘ zu gehen. Indessen konnten gerade die jüngeren geisteswissenschaftlichen Disziplinen – die Wissenschaftsgeschichte und die Technikgeschichte in Verbindung mit der Sozial- und der Mentalitätsgeschichte – darauf aufmerksam machen, dass man einem Phantom nachjagen würde, wenn man bei den Generationen vor der Industriellen Revolution nach so etwas wie einer naturgemäßen Einstellung zur Natur suchen würde. Im Gegenteil taucht in den Untersuchungen dieser Disziplinen ein immer engmaschiger und immer vieldimensionaler werdendes geschichtliches Netz von Formen des Raubbaus, der Übernutzung und der Verwahrlosung der
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naturwüchsigen Gegebenheiten auf, die sich mit den jeweils zur Verfügung stehenden technischen Mitteln zu Nutzenressourcen umfunktionieren ließen. Die Indizien mehren sich, die darauf hinweisen, dass die Menschen ihre Techniken zur Behandlung natürlicher Gegebenheiten niemals anders als zur maximal möglichen Nutzung dieser Gegebenheiten verwendet haben – also in Formen, die früher oder später in lokale, in regionale und in territoriale Dimensionen von Raubbau, Übernutzung und Verwahrlosung ausarten mussten. Die überwältigende Mehrzahl der Menschen der bisherigen Geschichte unterhielt höchstwahrscheinlich alles andere als Einstellungen der Hegung, der Schonung und der Beschaulichkeit zur Natur, sondern Einstellungen eines kurzsichtigen nutzenegoistischen Interventionismus’. Vor diesem Hintergrund besteht der allerdings entscheidende Nachteil von Frühwalds Anti-Entfremdungsmodells trotz seiner kognitiven bzw. epistemischen Zielrichtung darin, dass es gerade das kognitive Potential der modernen Naturwissenschaft so gründlich verkennt, wie es gründlicher gar nicht möglich ist. Denn eine systematische Hegung und Schonung der Natur ist überhaupt nur mit Hilfe der unablässigen Fortschritte dieser Naturwissenschaft möglich. Erst wenn man über gut bewährte Hypothesen über gesetzmäßige Verlaufsformen von natürlichen Zustandsänderungen und Prozessen verfügt, kann man auch hinreichend zuverlässige Prognosen über die Zustandsänderungen und Prozesse entwickeln, die durch technische Interventionen in vorfindliche natürliche Zustände und Prozesse wahrscheinlich ausgelöst werden. Und erst wenn man über solche Prognosen verfügt, kann man solche Konsequenzen von technischen Interventionen mit allen in Frage kommenden utilitaristischen Modellen bewerten. Aber erst wenn man über hinreichend zuverlässige Bewertungen des relativen Nutzens, des relativen Schadens bzw. der relativen Harmlosigkeit solcher Konsequenzen verfügt, kann man auch beurteilen, ob die beteiligten natürlichen Zustände und Prozesse von einer Intervention verschont bleiben sollten, weil die technischen Interventionsoptionen Zustands- bzw. Prozessänderungen auslösen würden, die mehr oder weniger langfristig mit Unzuträglichkeiten für Menschen verbunden wären. Kurz: Eine von Einsicht und Erkenntnis geleitete Schonung und Hegung der Natur – also eine Überwindung der Entfremdung von der Natur – ist überhaupt nur auf der kognitiven oder epistemischen Basis der Fortschritte der modernen Naturwissenschaften möglich.5 Der Fehler von Frühwalds Anti-Entfremdungsmodell liegt also offensichtlich darin, dass er irrtümlich meint, die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft seien in ebenso schicksalhafter wie verhängnisvoller 5
Vgl. hierzu die ausgewogenen Überlegungen von Lothar Schäfer (Schäfer 1993).
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Weise mit genau den industriellen, ökonomischen und sonstigen praktischen Zwecken ihres Gebrauchs verbunden, die vor allem seit dem Beginn der Industriellen Revolution praktiziert worden sind. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sind aber unabhängig von allen wissenschaftsexternen Zwecken ihres Gebrauchs; und kein einziger wissenschaftsexterner Gebrauchszweck einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis ist durch die kognitive, durch die propositionale oder durch die methodische Binnenstruktur einer solchen Erkenntnis zwingend festgelegt. Frühwalds Fehler erweist sich bei genauerem Hinsehen sogar als ein doppelter Fehler. Er verkennt, dass der einzige nicht-entfremdete, also authentische kognitive Zugang zur Natur in den Fortschritten der naturwissenschaftlichen Erkenntnis besteht; und er verkennt, dass die Fortschritte der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse die einzigen kognitiven oder epistemischen Bedingungen der Möglichkeit abgeben, ebenfalls eine nichtentfremdete, also authentische, technische und praktische Einstellung zur Natur zu gewinnen – also eine von Einsicht in die Natur getragene Schonung und Hegung der Natur. Zwischen diese Einsicht in die Natur und eine von dieser Einsicht getragene Schonung und Hegung der Natur ist allerdings in einer unumgehbaren Weise noch eine von der naturwissenschaftlichen Erkenntnis völlig unabhängige kognitive Instanz eingeschaltet – die praktische Urteilskraft. Denn es ist die praktische Urteilskraft, die in jeder konkreten Situation immer wieder von neuem bestimmen muss, um welcher praktischen Zwecke willen und mit Hilfe welcher Mittel, Techniken und Methoden es überhaupt richtig und wichtig ist, die Natur zu schonen oder zu hegen oder partiell umzugestalten.
VIII. Es kann unter diesen Umständen fast so scheinen, als wenn es sich bei den Geisteswissenschaften um eine Wissenschaftsgruppe handelt, deren Resultate ähnlich müßig sind, wie es z. B. eine lyrische Dichtung zu sein scheint, die im siebenten vorchristlichen Jahrhundert auf einer großen griechischen Insel verfaßt worden ist. Doch der Schein trügt. Die Versuche, die Wissenschaftstheorie und die Praktische Philosophie zu einer Verständigung über eine sog. praktische Relevanz der Geisteswissenschaften zu bringen, die der internen Struktur der Geisteswissenschaften Rechnung trägt, leiden unter einem gemeinsamen Fehler: Sie versäumen es von Anfang an, die wirklich elementaren Fragen zu stellen, mit deren Hilfe man sich einen Zugang zu dieser praktischen Relevanz eröffnen kann. Stattdessen suchen sie Zuflucht bei diagnostischen und therapeutischen Hilfsmitteln wie einem Kompensationsmodell oder einem Entfremdungs- bzw. Anti-Entfremdungsmodell, die
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ihre Herkunft aus den unerschöpflichen Requisiten der Ideologiekritik nur schwer verleugnen können. Doch welches sind diese wirklich elementaren Fragen? Eine der elementarsten Fragen dieses Typs hat zweifellos die Form: ‚Was heißt, sich in der Praxis orientieren?‘ Wenn man so fragt, dann ist es zum einen wichtig zu beachten, dass Handlungen – also die Urelemente aller Praxis – stets auch eine räumliche wie eine zeitliche und eine kausale Struktur haben. Zum anderen ist es wichtig zu beachten, dass das Orientierungsvokabular einen Teil des kognitiven Vokabulars bildet. Mit der Frage, was es heißt, sich in der Praxis zu orientieren, erkundigt man sich daher nach den spezifischen kognitiven Voraussetzungen, deren es in der Praxis bedarf, um den Strukturen des Handelns gerecht zu werden. Diese Voraussetzungen werden in der Philosophie zwar schon von alters her erörtert, aber nicht selten werden sie in den komplizierenden Wandlungen der wissenschaftlich-technischen Welt so verfremdet, dass es einer zusätzlichen Anstrengung der Reflexion bedarf, um ihnen auf die Spur zu kommen. Die prominenteste verfremdende Gestalt taucht in dieser Welt unter dem bekannten Namen der Technikfolgenabschätzung auf. Doch hinter dieser Gestalt und hinter diesem Namen verbirgt sich eine der elementarsten kognitiven Voraussetzungen der Praxis. Sie hört auf den altehrwürdigen Namen der Vorsicht. Die Vorsicht – das ist derjenige kognitive Habitus, mit dessen Hilfe die Menschen seit unvordenklichen Zeiten die mehr oder weniger wahrscheinlichen Konsequenzen ihrer jeweiligen Handlungsoptionen zu ermitteln und abzuschätzen suchen und gleichzeitig die Nützlichkeits- bzw. Schädlichkeitsgrade dieser Konsequenzen zu ermitteln und abzuschätzen suchen mit dem Ziel, ein möglichst zuverlässiges Urteil über eine Handlungspräferenz zu gewinnen. Da dieser kognitive Habitus offensichtlich im Dienst der Aufgabe steht, zu einem trefflichen praktischen Urteil über eine Handlungspräferenz beizutragen, ist es angemessen, von einer kognitiven Tugend der praktischen Urteilskraft zu sprechen.6 In einer immer mehr von wissenschaftsbasierten Handlungstechniken durchdrungenen Welt muss die Vorsicht immer mehr wissenschaftsbasierte Expertise – insbesondere kausalanalytische und statistische Expertise – zu Hilfe nehmen, um Handlungskonsequenzen ermitteln und praktisch gewichten zu können. Das Potential für diese Expertise liegt bei allen prognosefähigen Wissenschaften und Disziplinen – bei den Naturwissenschaften einschließ6
Die kognitiven Tugenden der Urteilskraft bilden einen systematischen Brennpunkt in meinem Buch (Enskat 2008); eine vorzügliche Erörterung der intrinsischen Verbindung von Tugend und Wissen in der Gestalt der kognitiven Tugenden bietet mit Blick auf den ursprünglichen Kontext ihrer Entdeckung bei Platon das Buch von van Ackeren 2001.
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lich der Ingenieurswissenschaften, bei der klinischen Forschung, bei den Sozialwissenschaften und bei den Wirtschaftswissenschaften. Der Name der Technikfolgenabschätzung ist lediglich der modernste Name für diese uralte Aufgabe dieser ebenso alten kognitiven Tugend der praktischen Urteilskraft. Bekanntlich können wir uns über Handlungskonsequenzen jedoch nur dann orientieren, wenn wir außer der Vorsicht – und sogar noch vor der Zuhilfenahme der Vorsicht – eine ganz andere kognitive Tugend der Urteilskraft in Anspruch nehmen – die Umsicht. Die Umsicht ist derjenige kognitive Habitus, mit dessen Hilfe die Menschen ebenfalls seit unvordenklichen Zeiten diejenigen in ihrem jeweiligen Wahrnehmungshorizont liegenden Umstände zu ermitteln und einzuschätzen suchen, die ihnen erlauben, ein möglichst zuverlässiges Urteil über die für ihre praktische Erfolgsintention günstigsten Umstände zu gewinnen (vgl. Heidegger 1960, 69 f., 83 f., 102 f.). Ohne eine möglichst genaue Kenntnis der konkreten Umstände der jeweiligen Handlungssituation können weder deterministische noch statistische Hilfsmittel für die Ermittlung von mehr oder weniger wahrscheinlichen Handlungskonsequenzen fruchtbar gemacht werden. Doch der Durchdringungsgrad der modernen Welt mit wissenschaftsbasierten Handlungstechniken verlangt von der Umsicht eine Weite des Horizonts sowie eine Tiefenschärfe und eine Trennschärfe in der diagnostischen Durchdringung solcher Umstände, die tendenziell mindestens auf demselben Niveau wissenschaftlicher Expertise angesiedelt sein müssen wie die jeweilige wissenschaftliche Basis der Handlungstechniken selbst.7
IX. Doch die kognitiven Tugenden der praktischen Urteilskraft bilden eine Trias. Es ist die dritte im Bunde dieser Tugenden, die die Geisteswissenschaften auf den Plan ruft – die Rücksicht. Die Rücksicht ist derjenige 7
Insofern – aber auch nur insofern – trifft Heidegger einen entscheidenden Punkt, wenn er in seiner Analyse der kognitiven Ursprünge der Wissenschaft betont, dass „der Aufweis der existentialen Genesis der Wissenschaft bei der Charakteristik der Umsicht einsetzen müsse […]“ (ebd., 358). Die existentiale Genese der Wissenschaft auch aus der Vorsicht, die zur Kultivierung von Methoden zur Gewinnung von immer leistungsfähigeren Prognosen führt, bleibt bei Heidegger indessen ausgeblendet. Das ist umso bemerkenswerter als in seiner existentialen Analyse der Zeitlichkeit des Daseins durch das „Sichvorweg“ des Daseins im Modus der Sorge (vgl. ebd., 236 f.) die Zukunft des Daseins ebenso eine dieses Dasein umfassende und durchdringende Dimension der Zeit bildet wie die Gegenwart, in der sich die Um-stände der Um-welt finden, denen die Um-sicht des Daseins gilt (vgl. ebd., 72 f.).
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kognitive Habitus, mit dessen Hilfe die Menschen ebenso seit unvordenklichen Zeiten diejenigen unter den jeweils mehr oder weniger wahrscheinlichen Handlungskonsequenzen zu ermitteln und praktisch zu gewichten suchen, durch die andere Menschen in ihrem Wahrnehmungshorizont so betroffen sind, dass Grad und Art dieser Betroffenheiten ihr Urteil über die jeweilige Handlungspräferenz modifizieren. Das wichtigste Medium dieser Betroffenheiten bilden im alltäglichen Leben die Traditionen, also die Konventionen, die Sitten und die Gebräuche in den Lebensformen der Menschen. In diesem Medium empfangen die Menschen ihre allermeisten und wichtigsten praktischen und technischen Orientierungshilfen über die Handlungs- und Verhaltensmuster, die sich in den durchschnittlichen Situationen des alltäglichen Lebens schon hinreichend lange bewährt haben. Die kognitive Tugend der Rücksicht gilt daher den Zumutungen, die den Menschen unter Umständen sowohl durch die banalsten wie durch die komplexesten Interventionen in die Lebensformen angesonnen werden können, die sie im Medium von Traditionen praktizieren. Doch keine andere Wissenschaftsgruppe als die der Geisteswissenschaften ist es, die uns seit nunmehr rund zweihundert Jahren geradezu planmäßig immer mehr die Augen dafür öffnet, in welchem Maß sowohl die Zumutbarkeiten wie die Unzumutbarkeiten von Interventionen in Lebensformen von Menschen von Traditionen abhängen. Dieses Maß hängt immer offenkundiger in so komplizierten und tief verwurzelten Formen mit unserer gemeinsamen geschichtlichen Vergangenheit zusammen, dass es auch nur durch die planmäßige Arbeit der Geisteswissenschaften – also der philologischen, der literaturwissenschaftlichen und der historiographischen Disziplinen – ausgelotet und differenziert werden kann. Die wissenschaftsbasierte technische und ökonomische Dauerrevolutionierung der praktischen Lebenswelt, die mit der Industriellen Revolution in der Mitte des 18. Jahrhunderts angefangen hat, wird nicht zufällig von dem zuerst bei Vico dokumentierten Bewusstsein begleitet, dass nunmehr auch die geschichtliche Dimension der Traditionen einer neuen wissenschaftlichen Wachsamkeit bedarf – eben der Wachsamkeit, durch die später sog. Geisteswissenschaften. Traditionen sind nun einmal keine müßigen Medien zur lebensfernen Überlieferung von veralteten Ausdrucksformen menschlichen Lebens. Traditionen haben für das Zusammenleben der Menschen eine analoge Funktion wie Experimente für die naturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Natur: Experimente sind die einzigen und daher die wichtigsten technischen Bewährungsproben für Hypothesen über Verlaufsformen von natürlichen Zustandsänderungen und Prozessen; Traditionen bilden hingegen die einzigen und daher auch die wichtigsten geschichtlichen Bewährungsproben für die praktischen Lebensformen der Menschen. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um soziale
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oder um ökonomische, um moralische oder um rechtliche, um politische oder um religiöse oder um ästhetische Traditionen von praktischen Lebensformen handelt. Jede derartige Lebensform ist gerade wegen ihrer geschichtlichen Erprobung mit einem respektablen, also mit einem Rücksicht heischenden Bewährungsgrad daran beteiligt, das Maß der Zumutbarkeit bzw. Unzumutbarkeit zu bestimmen, mit dem irgendjemand in solche Lebensform intervenieren kann. Die Geisteswissenschaften bilden daher das Medium der methodisch disziplinierten Bemühungen um die zuverlässigsten Informationen und Orientierungshilfen über die geschichtlichen Tiefendimensionen der Traditionalität von Lebensformen und damit über das Maß an Rücksicht, auf das die Angehörigen einer Lebensform einen Anspruch haben, sofern es um die Fragen der Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit, der Zuträglichkeit und Unzuträglichkeit von Interventionen in diese Lebensformen geht. Zwar obliegt es selbstverständlich der praktischen Urteilskraft jedes einzelnen, immer wieder von neuem das Maß dieser Zumutbarkeit bzw. Unzumutbarkeit dieser Zuträglichkeit bzw. Unzuträglichkeit einzuschätzen. Aber ohne Informationen und Orientierungshilfen, wie sie von den Geisteswissenschaften mit Blick auf die Traditionalität von Lebensformen erarbeitet werden, bliebe auch die scharfsinnigste praktische Urteilskraft blind – und damit die Praxis, in deren Dienst sie tätig ist, im wahrsten Sinne des Wortes rücksichtslos.8
X. Wenn die Geisteswissenschaften zu den systematischen Erfüllungsgehilfen der praktischen Urteilskraft gehören, indem sie der kognitiven Tugend der Rücksicht mit Informationen und Orientierungshilfen über die Tiefendimensionen geschichtlich bewährter Lebensformen zuarbeiten, dann hat sich das Gespräch zwischen Philosophie und Wissenschaftstheorie nicht nur in einem besonders neuralgischen Punkt bewährt. Dann eröffnet diese Bewährungsprobe auch einen Ausblick auf eine Möglichkeit der Philosophie, die nicht nur unabhängig von der Arbeit der Wissenschaftstheorie ist, sondern die die Wissenschaftstheorie überhaupt erst über den systematischen Ort orientiert, an dem ihre Arbeit in den Aufgabenfeldern der praktischen Lebenswelt zuhause ist. Diese Möglichkeit ergibt sich, sobald man
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Zur traditionsbildenden Behandlung dieser Trias der kognitiven Tugenden der Urteilskraft in der Geschichte von Philosophie und Theologie vgl. die instruktive Übersicht von Kobusch 2001.
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nach den kognitiven Voraussetzungen der Praxis fragt. Die normativen, also die moralischen, die utilitären, die rechtlichen und die politischen Voraussetzungen der Praxis sind im Zuge der Rehabilitierung der Praktischen Philosophie schon seit längerem zu Themen von breit gefächerten und konzentrierten Analysen geworden. Es war von Anfang an unstrittig, dass die Philosophie auf dem Feld der Begründungsprobleme praktischer Normen ohne jegliche Konkurrenz durch irgendeine positive Wissenschaft oder durch die Wissenschaftstheorie ist. Nun ist es inzwischen zwar ebenso unstrittig, dass die Methoden, die Techniken und die Resultate der wissenschaftlichen Forschung schon längst zu den kognitiven Voraussetzungen der alltäglichen Lebenspraxis gehören. Doch wenn die vorangegangenen Überlegungen richtig sind, dann werden das praktische Maß und die praktische Tragweite, mit der die Wissenschaften diese Rolle wahrnehmen können, nicht von den Wissenschaften und irgendeiner ihnen innewohnenden Autonomie bestimmt. Dann sind die Wissenschaften auch im günstigsten Fall nicht mehr und nicht weniger als Erfüllungsgehilfen der kognitiven Tugenden der praktischen Urteilskraft – und zwar in einem doppelten Sinne: Zum einen ist ihre Arbeit eine Fortsetzung der alltäglichen Betätigung dieser kognitiven Tugenden mit anderen, und zwar mit endlos optimierbaren Methoden; zum anderen sind sie Lieferanten von Methoden, Techniken, Informationen und Orientierungshilfen, von denen keine andere Instanz als die praktische Urteilskraft mit Hilfe dieser kognitiven Tugenden und auf ihrem jeweiligen Reifeniveau einen autonomen Gebrauch macht oder aber einen Gebrauch mit ebensolcher Autonomie verweigert. Überall da also, wo es die Philosophie mit den spezifischen kognitiven und mit den normativen Voraussetzungen der Praxis zu tun hat, befindet sie sich weder in einer Konkurrenz noch in einem Verdrängungswettbewerb noch in irgendeiner anderen Form von Streit mit der Wissenschaftstheorie, sondern auf einem Forschungsfeld mit uneingeschränkter thematischer und methodischer Autonomie. Die praktische Lebenswelt, aus deren Mitteln sowohl die Arbeit der Philosophie wie die der Wissenschaftstheorie alimentiert wird, würde sich daher selbst den denkbar schlechtesten Dienst erweisen, wenn sie sich von der Allgegenwart der Wissenschaft und der wissenschaftsbasierten Technik verführen ließe, die Philosophie weniger zu alimentieren als die Wissenschaftstheorie oder die positiven Wissenschaften selbst. Inzwischen weiß jedes Kind, dass die drängendsten Probleme der jüngeren Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft nicht aus Fortschritten der Wissenschaften und der Technik entspringen, sondern aus den lokalen, den regionalen, den nationalen und den globalen Ungleichverteilungen und Niveauunterschieden der praktischen Urteilskraft und ihrer kognitiven Tugenden. Spätestens seit dem VI. Buch der Nikomachischen Ethik des Aristoteles ist die Philosophie die wichtigste
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reflexive Hüterin und Anwältin der praktischen Urteilskraft. Aus der philosophischen Arbeit in dieser thematischen Tradition und aus der philosophischen Auseinandersetzung mit dieser Tradition kann daher jede Gegenwart – nicht nur unsere aktuelle Gegenwart – mindestens so viel und so Wichtiges über die kognitiven und die normativen Voraussetzungen ihrer Praxis lernen wie aus irgendeiner Wissenschaftstheorie oder aus irgendeiner positiven Wissenschaft.
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Die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften Michael Quante „Zur Vermeidung möglicher Missverständnisse ein Wort. Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen.“ (Karl Marx)
I. Einleitung Bevor ich mich der Aufgabe stelle, über die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften zu reflektieren, möchte ich kurz auf die übergeordnete Leitfrage dieses Bandes „Warum noch Philosophie?“ eingehen und einige wenige einleitende Bemerkungen zum Ziel und Aufbau meines Beitrags voranschicken. Warum stellen wir uns die Frage „Warum noch Philosophie?“ gegenwärtig überhaupt? Prima facie leuchtet es ein, dass eine Konferenz, die anlässlich des UNESCO-Welttags der Philosophie durchgeführt wird, sich dieser Frage widmet. Suchte man nach einer Definition der Philosophie, die in historischer und systematischer Hinsicht eine Chance hätte, als Minimalkonsens akzeptiert zu werden, dann wäre vermutlich der Vorschlag, das Wesen der Philosophie bestehe in Selbsterkenntnis der Philosophie durch ihre Selbstreflexion, recht aussichtsreich. Weniger wohlwollend ließe sich diese Leitfrage aber auch auf andere Weise verstehen: Warum ist Philosophie eigentlich noch existent?1 Wofür ist sie unverzichtbar und notwendig oder zumindest hilfreich? Weshalb ist sie nicht längst abgelöst: von empirisch fundierter Gesellschaftstheorie, wissenschaftlich informierter Anthropologie oder solider historischer Forschung? Ist Philosophie vielleicht nur ein kulturelles Relikt, ein erbaulicher Anachronismus und – in ihrer univer-
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Dies ähnelt dann der Frage, die zum Teil den Überlegungen von Jürgen Habermas zum Nichtverschwinden bzw. Wiedererstarken der Religionen zugrunde liegt.
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sitären Form – ein in Zeiten zunehmender ökonomischer Engpässe immer weniger zu legitimierender Luxus? Als im Jahre 2008 der XXI. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie in Essen unter dem Motto Lebenswelt und Wissenschaft stattfand, da konnte man in der FAZ vom 24.9. folgendes lesen: „Vorbei sind die Zeiten, als sich akademische Philosophen über die Berechtigung ihres Tuns Gedanken und diese zum Thema von Konferenzen machen mussten: Wozu noch Philosophie? Die Korrosion traditioneller menschlicher Selbstbeschreibungen durch die Entwicklungen in den Lebens- und Technikwissenschaften hat das personell ausgezehrte Fach wieder selbstbewusst gemacht und mit festem Sitz in Bioethik- wie Technikfolgenabschätzungsgremien ausgestattet. Die Fragen kommen auf den Philosophen zu, er muss sie nicht erst erfinden.“
Berechtigt ist der Hinweis, man müsse auf den subtilen semantischen Unterschied zwischen „Warum noch Philosophie?“ und „Wozu noch Philosophie?“ achten2; auch die Nachfrage, ob mit der Einschätzung, das Fach sei personell ausgezehrt, nur auf die verbesserungswürdige Stellensituation an deutschen Universitäten hingewiesen werden soll, drängt sich auf, da man diese Bemerkung des Berichterstatters auch als Ruf nach neuen Genies oder großen Geistern verstehen – oder missverstehen (?) – könnte. Unbestreitbar sollte es, dies ein weiterer berechtigter Hinweis, auch der FAZ zwischenzeitlich nicht entgangen sein, dass die heutigen Fragen auch auf Philosophinnen zukommen; oder gilt für diese aus Sicht des Berichterstatters etwa, dass sie ihre Fragen erfinden? Trotz dieser zumindest missverständlichen Bemerkungen enthält die soeben zitierte Passage aus dem Kongressbericht der FAZ zwei für die Fragestellung meines Beitrags relevante Behauptungen: Zum einen wird konstatiert, dass die Philosophie der Phase der Selbstinfragestellung entronnen sei; und zum anderen wird behauptet, dass es gerade der Kontext der Lebenswissenschaften sei, durch den Philosophie ihr neues (altes?) Selbstbewusstsein zurück gewonnen und einen festen Platz im gesellschaftlich-politischen Leben wiedererlangt habe. Damit stellt sich, wenn diese Diagnose der FAZ zutreffend ist, die Frage, ob die Leitfrage „Warum noch Philosophie?“ nicht einen Rückfall in soeben überwundene Krisenzeiten der Philosophie darstellt. Um hier klarer zu sehen, ist es wichtig, sich eine mögliche Zwiespältigkeit der Frage nach dem Warum der Philosophie zu vergegenwärtigen. Ihre Ambivalenz verdankt sich der Tatsache, dass der sich in der Frage ausdrückende Zweifel von unterschiedlicher Art sein kann. 2
Vgl. dazu den Beitrag von Marcel van Ackeren und Jörn Müller in diesem Band.
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Wenn die Selbstreflexion von der Art des existentiellen Zweifels ist, dann haben wir es mit einer Selbstinfragestellung der Philosophie zu tun, die sich der Unverzichtbarkeit, der Sinnhaftigkeit oder auch der Möglichkeit, ihre selbst formulierten Ansprüche zu erfüllen, nicht mehr sicher ist. Die daraus resultierende Selbstthematisierung stellt weniger, wie der Berichterstatter der FAZ möglicherweise suggerieren wollte, eine narzisstische Selbstverliebtheit und Selbstbespiegelung dar; und sicher ist dieses Phänomen auch nicht durch den Hinweis zu erklären, der Philosophie seien halt, vielleicht verursacht durch den Mangel an ‚großen Köpfen‘, die Themen ausgegangen, so dass ihr nur noch das Gerede über sich selbst in den Sinn komme. Die auf einem existentiellen Zweifel beruhende Selbstthematisierung ist vielmehr eine Weise, mit einer Identitätskrise, d. h. einem Riss im Selbstverständnis umzugehen. Es liegt nahe, dass eine derart auf sich und ihre Grundlagen zurückgeworfene Disziplin wenig Potenzial hat, auf die Fragen und Kooperationsangebote anderer Disziplinen einzugehen. Die Dominanz dieser Art von Selbstzweifel ist also als Krisensymptom zu verstehen; daraus ist aber nicht der voreilige Schluss zu ziehen, dass eine gut ‚funktionierende‘ Philosophie von dieser Form des Zweifels gänzlich frei wäre (bzw. sein sollte). Es gehört vielmehr zur Verfasstheit der Philosophie (und zu ihrer spezifischen Differenz gegenüber anderen Formen epistemischer Einstellungen zur Welt), dass ein existenzieller disziplinärer (!) Zweifel für sie konstitutiv ist. Dies muss sich nicht aus einer persönlichen existentiellen Form des Selbstzweifels der philosophierenden Person herleiten, sondern kann auch auf die rein disziplinäre Ebene beschränkt sein. Die Philosophie gerät jedenfalls, wenn sie diese Dimension, man könnte von einer für sie konstitutiven Fragilität der eigenen Grundlagen sprechen, ihres eigenen Tuns ausblendet, verdrängt oder meint, überwunden zu haben, regelmäßig in die Gefahr entweder des szientistischen Positivismus oder der antiliberalen Ideologie. Von dem gerade erwähnten existentiellen Zweifel, der das Philosophieren in seinen Grundfesten konstituiert und zugleich beunruhigt, ist ein methodologischer Zweifel im Sinne der Explikation der eigenen Rolle als Moment der Selbstverständigung zu unterscheiden. Eine solche Bewusstmachung und für andere, auch über die eigene Disziplin hinaus vermittelbare Darstellung des eigenen Selbstverständnisses (hinsichtlich der Funktion, der Ansprüche und der Standards) gehört, wenn nicht sogar zur Wissenschaftlichkeit überhaupt, so doch zumindest zum Wesen der Philosophie. Der methodologische Zweifel lässt sich aber, das ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, durchführen, ohne dass damit ein existentieller Zweifel am eigenen Tun oder dem eigenen Selbstverständnis der Philosophie einhergeht. Es liegt auf der Hand, dass eine Disziplin dann, wenn sie sich in einen Dialog mit anderen Disziplinen begibt oder den Bereich der
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Wissenschaft in Richtung gesellschaftlicher und politischer Kontexte verlässt, gut beraten ist, sich ihrer eigenen Ansprüche, Methoden und Ziele zu versichern. So gesehen stellt die Leitfrage dieses Beitrags, worin die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften bestehe, eine notwendige Aufgabe jeder redlichen Philosophie dar, die sich in Kontexte begeben will (oder muss), in denen ein Konsens über dieses grundlegende Selbstverständnis der Disziplin nicht vorausgesetzt werden kann.3 Ich möchte im Folgenden einen Beitrag zur Explikation der Rolle der Philosophie in den Lebenswissenschaften leisten, wobei ich davon ausgehe, dass ihr faktisch diese Relevanz auf breiter Basis zuerkannt wird.4 Dabei ist die Selbstreflexion im Sinne einer methodologischen Selbstbesinnung leitend, aber auch der Selbstzweifel wird eine Rolle spielen müssen, weil einige Interpretationen der Rolle der Philosophie im Kontext der Lebenswissenschaften berechtigten Anlass zu einer fundamentalen Sorge geben. Die folgenden Ausführungen erheben nicht den Anspruch, eine erschöpfende Auflistung oder vollständige Beschreibung zu liefern, auf welche Weisen die Philosophie derzeit ihre Rolle in den Lebenswissenschaften auslegt und ausfüllt. Mir geht es hier vielmehr um eine normative Reflexion und darum aufzuzeigen, weshalb die Philosophie in diesen Kontexten der Gefahr ausgesetzt ist, in die schlechte Dialektik einer unfruchtbaren Antithetik zu geraten. Aus diesem Grunde steht in diesem Beitrag auch die kritische Diagnose eindeutig im Vordergrund, weil es nur auf der Basis einer solchen Bestandsaufnahme möglich ist, den Herausforderungen, mit denen die Philosophie im Kontext der Lebenswissenschaften konfrontiert ist, angemessen zu begegnen. Bei meinen Ausführungen verwende ich den Terminus „Lebenswissenschaften“ in einem weiten Sinne, der für die Zwecke dieses Beitrags aber hinreichend spezifisch ist, und fasse nicht nur die Medizin oder die Biologie, sondern auch die Kognitionswissenschaften oder die an ihnen 3
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Um dem an dieser Stelle nahe liegenden Vorwurf der Naivität gleich zu begegnen: Das soeben Gesagte impliziert nicht die Behauptung, dass man in einem innerdisziplinären philosophischen Kontext auf diese Art der Selbstverständigung verzichten kann, weil es hier einen ‚Goldstandard‘ gebe. Dies schließt weder aus, dass es in Gesellschaft und Politik, in den Lebenswissenschaften und der Philosophie selbst auch Stimmen gibt, die diese Relevanz oder die Tauglichkeit der Philosophie in diesen Kontexten bestreiten. In manchen Zirkeln der Geisteswissenschaften und in weiten Teilen der Gesellschaftswissenschaften, man denke nur an die diversen Postmodernismen einerseits oder die von einer Luhmannschen Systemtheorie geprägte Soziologie andererseits, dürfte dies sogar die vorherrschende Meinung sein. Aus philosophischer Sicht liegt allerdings der Verdacht nahe, dass diese Einschätzung aus unaufgeklärten philosophischen Residuen der sich als Alternative zur Philosophie begreifenden Ansätze entspringt.
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ausgerichtete Psychologie darunter. Der von mir unterstellte Begriff des Lebens ist nicht auf den naturwissenschaftlichen Bereich beschränkt, sondern soll auch das gesellschaftliche Leben mit einschließen, so dass z. B. auch die Wissenschaften, die sich etwa mit den sozialen Systemen des Gesundheitswesens oder der Pflege beschäftigen, unter die Lebenswissenschaften subsumiert werden können. Entsprechend lege ich ein umfassendes Verständnis von „Philosophie“ zugrunde, das theoretische und praktische Philosophie gleichermaßen umfasst sowie die systematische als auch die historische Perspektive der Philosophie einschließt. Dahinter steckt die Überzeugung, dass nur ein weites Verständnis der Lebenswissenschaften der Komplexität der Phänomene und Probleme gerecht werden kann, mit denen wir es zu tun haben. Entsprechend ist die Philosophie in diesem Kontext in ihrer ganzen Breite gefordert. Im Hauptteil dieses Beitrags werde ich nun drei Bedeutungen von „Aufgabe“ und damit drei Weisen, wie die Philosophie ihre Rolle im Kontext der Lebenswissenschaften interpretiert, unterscheiden und deren jeweilige Defizite sowie die schlechte Dialektik zwischen diesen Alternativen aufzeigen.5 Danach möchte ich abschließend kurz eine Alternative andeuten und erläutern, weshalb die Philosophie ihrer Aufgabe auf diese Weise besser gerecht werden kann.
II. Drei Weisen der „Aufgabe“: eine kritische Diagnose In diesem Abschnitt werden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, drei charakteristische Verhaltensweisen der Philosophie im Kontext der Lebenswissenschaften unterschieden. Beansprucht wird damit weder eine detaillierte Analyse oder Kritik einzelner Positionen in der so genannten angewandten Philosophie, noch sollen die diesen Positionen zugrunde liegenden Hintergrundannahmen erörtert werden.6 Es geht vielmehr dar5
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Es geht in diesem Abschnitt um die dialektische Bewegung zwischen philosophischen Gestalten, die als Stereotypen fungieren. Damit sind also keine individuellen philosophischen Positionen gemeint, auf die im Folgenden entsprechend auch nicht verwiesen wird; vielmehr ist damit zu rechnen, dass keine individuell vertretene Position genau diesen Stereotypen entspricht. Der damit einhergehende Effekt, dass sich vermutlich kein Leser von diesen Stereotypen selbst angesprochen fühlt, sie dagegen aber anderen Philosophen zuordnen kann, ist zwar nicht im engeren Sinne beabsichtigt, wohl aber wissentlich in Kauf genommen. Dabei kann es sich um metaethische, epistemologische, methodologische, wissenschaftstheoretische oder auch ganz allgemein metaphilosophische Annahmen handeln.
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um, drei fundamentale Tendenzen zu identifizieren und die dialektische Bewegung zwischen ihnen zu erläutern. Diese drei Tendenzen sind: (1) Selbstaufgabe durch Nachahmung (2) Selbstaufgabe durch Akkommodation (3) Selbstmarginalisierung durch Eskapismus Die ersten beiden Tendenzen stellen unterschiedliche Formen der Selbstaufgabe der Philosophie dar: In der szientistisch orientierten philosophy of mind lässt sich ein rapider Verlust des methodologischen Selbstbewusstseins der Philosophie beobachten, während die zweite Tendenz eine schleichende Erosion der im normativen Sinne kritischen Philosophie mit sich bringt. Gegen diese beiden Formen der Selbstaufgabe tritt dann die dritte Tendenz auf, welche es sich zu ihrer Aufgabe macht, diesem Verfall der Philosophie Einhalt zu gebieten. II.1 Selbstaufgabe durch Nachahmung Die Philosophie ist nicht nur als praktische Philosophie in Anwendungskontexte involviert. Im Bereich der Hirnforschung oder der Kognitionswissenschaften übernimmt z. B. die Philosophie des Geistes eine begleitende oder sogar leitende Funktion. Gleiches gilt im Kontext technologischer Entwicklungen, die zum Ziel haben, ausgefallene Hirnfunktionen zu kompensieren oder zu verbessern. Als Abkehrbewegung einer langen Tradition in der Philosophie oder Theologie, die das Mentale von körperlichen oder empirisch-psychologischen Merkmalen gänzlich frei halten und in die Sphäre eines reinen Apriori verlagern will, hat es in der Philosophiegeschichte eine ebenso lange Tradition gegeben, die mentalen Aspekte menschlichen Lebens ‚materialistisch‘ oder gar ‚rein naturwissenschaftlich‘ zu analysieren, zu reduzieren oder notfalls zu eliminieren. Der antiklerikale Kampf der französischen Aufklärer steht genauso in diesem Kontext wie heutige Verteidigungen der naturwissenschaftlichen Erforschung des Gehirns und der Psyche im Namen der Forschungsfreiheit und des wissenschaftlichen Fortschritts.7 Die jeweils aktuellste naturwissenschaftliche Forschung – von den Atomen über die Chemie hin zu den Neuronen und ihren konnektionistischen Netzwerken oder dem Gewirr der kognitionswissenschaftlichen Computermetaphorik – dient dabei jeweils als das diesmal aber nun abschließend gefundene Paradigma, das den unmittelbar oder zumindest nahe bevorstehenden endgülti-
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Ein schlagendes Beispiel für diese Tendenz waren in den letzten Jahren die in diesem Sinne (!) aufgeklärten Attacken auf die Willensfreiheit, die bis zur Forderung nach einer Entideologisierung und Umgestaltung des Strafrechts gingen.
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gen Durchbruch verheißt. Mit Ausnahme der kommunistischen Heilserwartungen gibt es vermutlich nur weniges aus dem Bereich der menschlichen Großprojekte, das dermaßen von eschatologischen Annahmen geprägt ist wie das moderne Projekt der naturwissenschaftlichen Entzauberung des Menschen bzw. seine philosophierende Begleitmusik. Die sich von der Theologie emanzipierende Philosophie hat immer wieder in diesen naturwissenschaftlichen Projekten den Bündnispartner für ihren Befreiungskampf gesucht und gefunden. Geschichtsvergessen nimmt sie jedoch häufig ihre eigene Motivationslage gar nicht mehr wahr, möglicherweise auch deshalb, weil der philosophy of mind diese Art selbstkritischer Reflexion lediglich als historisches Bildungsornament und damit als schlicht irrelevant gilt. Der entscheidende Fehler ist allerdings nicht in dieser philosophiegeschichtlichen Blindheit zu sehen. Die Selbstaufgabe einer auf das Mentale (oder „das Selbst“) verzichtenden philosophy of mind liegt darin, dass nicht etwa die empirischen Befunde der Hirnforschung oder der Kognitionswissenschaften auf ihre philosophische Relevanz hin befragt werden. Eine solcherart empirisch informierte Philosophie des Geistes ist angesichts der conditio humana sowohl systematisch plausibel als auch ein hinreichender Schutz gegen manche substanzdualistischen Theologumena, die sich unter dem Etikett der Philosophie des Geistes, besonders gerne im Kontext der Debatte um personale Identität, tummeln. Gegen eine Integration empirischer Befunde, die zuvor kritisch auf ihre philosophische Relevanz hin befragt worden sind, in die Philosophie des Geistes ist überhaupt nichts einzuwenden. Problematisch für die Philosophie des Geistes und die Philosophie insgesamt wird es erst dann, wenn die Philosophie ihr Geschäft der kritischen Prüfung dieser Wissenschaften, d. h. ihrer Methoden, Prämissen oder Befunde, vernachlässigt und sich den zumeist impliziten, häufig auch undurchschauten methodologischen oder ontologischen Voraussetzungen dieser Wissenschaften distanzlos ausliefert. Die Aufgabe der Philosophie des Geistes kann es nicht sein, evolutionäre oder kausale Erklärungen des Mentalen zu liefern. Sie sollte auch nicht, nur weil sie gegen eine arm-chair- oder rein begriffliche Analyse des Geistigen opponiert, der Suggestion bildgebender Verfahren oder anderen pseudokonkreten Fetischismen erliegen. Dass in klinischen Anwendungskontexten oder für naturwissenschaftliche Erkenntnisinteressen die kategoriale Exaktheit der Philosophie verzichtbar ist und z. B. die Irreduzibilität der Teilnehmerperspektive auch bei der Interpretation der naturwissenschaftlichen Beobachtung nicht berücksichtigt werden muss, bedeutet ja nicht, dass man bei einer philosophischen Deutung dieser Befunde ebenso großzügig oder nachlässig sein dürfte. Reduktions- oder gar Eliminationsthesen aber sind, wie auch Identitätsaussagen, eben keine rein naturwissenschaftlichen Aussagen, auch wenn sie auf der Grundlage na-
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turwissenschaftlicher Befunde formuliert werden. Wenn die Philosophie, eventuell fasziniert von den experimentellen und technischen Fortschritten, beginnt, die ontologischen und methodologischen Voraussetzungen der diversen Wissenschaften schlicht zu übernehmen oder in philosophischen Jargon zu verbrämen, und wenn sie in den Argumentations- und Begründungsmustern der Naturwissenschaften das allein gültige Allheilmittel sieht, dann verliert sie unweigerlich ihre Eigenständigkeit. So betrieben kann die Philosophie letztlich zur Diskussion nur noch die Erkenntnis beitragen, dass es sich bei der Ursprungsfrage eigentlich gar nicht um ein philosophisches, sondern eben um ein rein empirisches und damit naturwissenschaftlich zu klärendes Problem gehandelt habe.8 Es liegt auf der Hand, dass eine Philosophie, die sich in dieser Weise mit ihrem Gegenüber identifiziert, für die Naturwissenschaften kein attraktiver oder die eigene Perspektive dieser Disziplinen bereichernder Dialogpartner sein kann. Lässt man den kurzzeitigen und zumindest für wissenschaftliche Zwecke irrelevanten Aspekt beiseite, dass der Beifall der Philosophie der Hirnforschung oder den Kognitionswissenschaften gefallen und beim Einwerben von Drittmitteln möglicherweise sogar helfen mag, dann können die anderen Disziplinen von einer sich derart selbst aufgebenden und ihr eigenes Wesen missverstehenden Philosophie längerfristig nicht profitieren. Interdisziplinäre Kooperation mit der Philosophie setzt deren Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit voraus. Der scheinbare Gewinn an Relevanz und Respektabilität, den die Philosophie des Geistes durch ihre Wandlung zu einer szientistischen philosophy of mind zu erlangen versucht, ist in letzter Instanz ein dramatischer Verlust an Relevanz, denn Naturwissenschaft wird letztendlich immer noch von den Naturwissenschaftlern betrieben und nicht von einer sich naturwissenschaftlich gebärenden Philosophie; und dieser kurzfristige Prestigegewinn wird erkauft mit einem nachhaltigen Verlust philosophischer Identität. Um an dieser Stelle keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sei auf zwei Punkte nochmals explizit hingewiesen: Erstens sind nicht die
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Im sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Bereich liegen die Dinge häufig etwas anders. Auch wenn die Philosophie weder eine Sozial- oder Gesellschaftsnoch eine Geisteswissenschaft ist, führt ihre scheinbare größere Nähe zu diesen Disziplinen doch dazu, dass es auf der methodologischen Ebene ein stärkeres Abgrenzungsbedürfnis gibt. Dafür kommt es dann auf der inhaltlichen Ebene häufig zu kurzschlüssigen Allianzen: So gelten z. B. den Ökonomen regelmäßig solche Philosophen als ‚groß‘, die mit ihnen bestimmte inhaltliche Positionen – z. B. in Bezug auf die Unverzichtbarkeit liberaler Märkte oder die Unantastbarkeit des Privateigentums – teilen. Die geteilte ‚Wahrheit‘ der Weltanschauung ersetzt dabei gerne einmal die Qualität der Argumentation.
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Naturwissenschaften als solche das Problem, sondern szientistische Ansprüche (egal ob von Naturwissenschaftlern oder Philosophen erhoben); und zweitens besteht die angemessene Antwort auf den Szientismus nicht in einem (wie immer sonst motivierten) Apriorismus oder Substanzdualismus, sondern in einer empirisch gehaltvollen Philosophie des Geistes. II.2 Selbstaufgabe durch Akkomodation Der neoliberalistische Zeitgeist und die Ökonomisierung aller sozialen Beziehungen der Lebenswelt machen bekanntlich selbst vor den Universitäten nicht halt. Auch die philosophischen Institute stellen hier keine Ausnahme dar. Wenn sich der Wert und die Bedeutung des eigenen Forschungsbeitrags, zumindest sobald man sich in den Evaluationswelten außerhalb des eigenen Faches bewegt, nur noch nach den Faktoren „Drittmittel“ und „impact“ bemisst, und wenn diese Faktoren dann unter dem Stichwort der leistungsorientierten Mittelvergabe unmittelbar in die Forschungsrealität der Philosophie einschlagen, spätestens dann erlangt die angewandte Philosophie Attraktivität, verspricht sie doch durch ihre Kooperation mit Wissenschaften, für die diese schöne neue Welt der autonomen Wissenschaft eher gemacht zu sein scheint, den Anschluss an die ökonomisch bedeutsamen Reviere zu halten. Wer als Philosoph in der biomedizinischen Ethik arbeitet, begibt sich sprichwörtlich auf den Markt, da es hier häufig auch um direkte Verwertungsinteressen geht. In vielen Bereichen ist überdies die politische Macht (in Gestalt diverser politischer Mächte) nahe. Und die Geschichte der Philosophie belegt schmerzhaft, dass ein zu enges Bündnis mit letzterer langfristig keinem nutzt: Weder der legitimierten politischen Ordnung noch der sich zur reinen Legitimationsinstanz degradierenden Philosophie. Es liegt also in der Natur der Sache der ‚angewandten‘ Philosophie, d. h. an ihrer Beschäftigung mit den Themen der Lebenswissenschaften, dass ökonomische und politische Interessen Einfluss auf die philosophische Arbeit nehmen. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Philosophie (oder: alle Philosophinnen und Philosophen) generell nicht in der Lage sind (oder gar: sein können), mit diesen Einflüssen verantwortlich umzugehen. Aber es liegt nahe, dass auch die Philosophie (oder: einzelne ihrer Vertreter) den mit dieser Nähe einhergehenden Versuchungen genauso erliegen, wie Vertreter anderer Berufsgruppen auch. Bedenkt man, dass die soeben erwähnten, durch die Umstrukturierung des Wissenschaftsbetriebs erzeugten Zwänge einen zusätzlichen externen Druck ausüben, dann sollte sich die Philosophie dieses Problems selbstkritisch annehmen und mit den ihr eigenen Instrumenten der kritischen Erörterung versuchen, ihre Würde zu bewahren, und es nicht einzig darauf abstellen, ihren Preis auf dem Markt zu halten oder zu steigern.
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Bevor ich mich der dritten Tendenz zuwende, seien drei Anmerkungen zur Vermeidung möglicher Missverständnisse eingefügt: Erstens spricht nichts dagegen, sondern (aus Sicht des Faches) alles dafür, den Preis der Philosophie hoch zu halten, solange die Würde der Philosophie dabei nicht beschädigt wird. Damit ist zweitens gesagt, dass die Philosophie, wenn sie sich in die Felder der Lebenswissenschaften begibt, nicht notwendig scheitern, d. h. ihre Würde verlieren muss. Schließlich möchte ich drittens darauf hinweisen, dass es zusätzlich zu den oben genannten ‚Zwängen‘ und ‚Versuchungen‘ noch einen weiteren Punkt gibt, der ein Abgleiten in bloße Akzeptanzbeschaffungsforschung befördern kann. Wenn die Philosophie ihre Aufgaben im Bereich der Lebenswissenschaften ernst nimmt, dann wird sie immer auch berücksichtigen müssen, welche normativen Forderungen in einem gegebenen gesellschaftlichen Kontext eine realistische Chance auf Umsetzung haben. Dies ist ohne Zweifel ein schmaler Grat (ich komme darauf im letzten Abschnitt dieses Beitrags noch einmal zurück). II.3. Selbstmarginalisation Die beiden soeben beschriebenen Tendenzen stellen keine lediglich hypothetischen Gefährdungslagen dar. Vielmehr gibt es Entwicklungen in der gegenwärtigen Philosophie, die zu einer kritischen Selbstreflexion berechtigten Anlass geben, die über eine bloße methodologische Selbstverständigung hinausgehen müssen. Die dritte Tendenz, die ich jetzt kurz skizzieren möchte, reagiert auf derartige Fehlentwicklungen explizit normativ und versteht die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften als sittliche Mission, betreibt diese jedoch auf eine Weise, die zur Selbstmarginalisation der Philosophie führt. Dabei lassen sich grob drei Varianten der Philosophie, die auf die beiden soeben beschriebenen Formen der Selbstaufgabe der Philosophie mit der Aufgabe der sittlichen Mission in den Lebenswissenschaften antworten, unterscheiden: (a) die Flucht in den ‚reinen‘ Begriff, (b) die ‚schöne‘ Seele, (c) die Diktatur der reinen Moralität. (a) Die Flucht in den ‚reinen‘ Begriff treten Philosophinnen und Philosophen sowohl im Bereich der Philosophie des Geistes, besonders gerne im Bereich der Philosophie der personalen Identität, als auch im Bereich der Ethik in den Lebenswissenschaften an. Nicht nur als Radikalkur gegen die diversen Versuchungen, der Welt verwertbares Wissen zur Verfügung zu stellen, sondern auch als Sicherheitsmaßnahme, die der Philosophie einen eigenständigen Gegenstandsbereich bewahren soll, der vor der feindlichen Übernahme durch die empirischen Wissenschaften generell und ein für alle mal gefeit ist, zieht sich die Philosophie auf das Prinzipielle zurück, das
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lediglich noch philosophisch erreichbar ist. Dort angelangt entbrennt dann ein Streit, der aus prinzipiellen Gründen nur innerphilosophisch geführt werden kann und sich um die Frage dreht, ob es einen solchen genuin philosophischen Gegenstandsbereich überhaupt gibt. Eine Philosophie, die dies als ihr einziges Geschäft betrachtet, wirkt von außen selbstverliebt, sich selbst zerfleischend oder autistisch; bei aller Faszination, die sie so auf andere ausüben mag, ist ihre Relevanz für andere Wissenschaften oder auch die Gesellschaft insgesamt nur gering. Anders als Logik oder Mathematik, deren Grundlagenfragen für andere Wissenschaften aus offensichtlichen Gründen nicht bedeutungslos sein können, fällt es der Philosophie häufig schwer, die Relevanz ihrer Spezialdebatten auszuweisen. Will man sich aber nicht aus dem interdisziplinären und gesellschaftlichen Diskurs in den sprichwörtlichen ‚Elfenbeinturm‘ zurückziehen oder die Arroganz von l’art pour l’art für sich in Anspruch nehmen, ist die Philosophie aufgefordert, die Bedeutung ihrer Fragen und Argumente verständlich zu machen. Dies heißt selbstverständlich, analog zur Bedeutung der Grundlagenforschung beispielsweise in Physik oder Medizin, nicht, dass nur die direkt angewandte Philosophie eine Daseinsberechtigung hätte. Aber es bedeutet, die – wenn womöglich auch nur indirekten – Auswirkungen philosophischer Reflexion auf andere Bereiche kenntlich zu machen. (b) Die schöne Seele tritt in der Philosophie in zwei Formen auf: Auf den Spuren der reinen Vernunft und des perfekten Wissens scheut sie sich zum einen vor der Komplexität des wirklichen Lebens, sei es im Mentalen, sei es im ethischen Bereich. Fragen personaler Identität, der Freiheit oder des Mentalen werden im Prinzipiellen gestellt und beantwortet sowie in abstrakten Modellen und in immer weniger nachvollziehbaren Szenarien möglicher Welten, die von Zombies, Subjekten mit inverted oder absent qualia oder auch allmächtigen Hirnchirurgen bevölkert werden, thematisiert. Fragen der Gerechtigkeit werden in abstrakten, gerne auch exakt mathematisch gefassten Formeln diskutiert, wobei man sich zugleich der die prinzipielle Argumentation ‚vereinfachenden‘ Vorannahme bedient, die gegebenen Eigentumsverhältnisse als gerechtfertigt und gegeben vorauszusetzen. Es werden Gehirne halbiert, fallen gelassen und vertauscht, um Antworten auf die Frage zu geben, wer nach solchen Ereignissen noch wer ist. Die Komplexitäten der Realität, sei es in den Psychiatrien oder unter Bedingungen der globalisierten Ungerechtigkeit, kommen nur als später zu behandelnde Sonderfälle in den Blick. Ist man aber erst einmal auf twin earth angekommen oder in den Feinheiten von Rationalitäts- und Entscheidungstheorie verstrickt, fällt der Weg zurück in die raue Wirklichkeit enorm schwer. Zum anderen scheut die schöne Seele eine allzu große Annäherung an unsere alltägliche und auch politische Praxis, um sich nicht der
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Gefahr auszusetzen, in gesellschaftlich relevanter Weise Verantwortung übernehmen und eventuell (Mit-)Schuld auf sich laden zu müssen. Dies sei bloß politisch und eben nicht philosophisch, mit rein philosophischen Mitteln nicht zu bewältigen und setze die Philosophie überdies der Gefahr aus, sich ‚die Hände schmutzig zu machen‘ oder sich zu korrumpieren. Selbstverständlich ist zugestanden, dass die sozialen und politischen Fragen, die sich z. B. im Bereich der Lebenswissenschaften stellen, nur im allerkleinsten Umfang mit rein philosophischen Mitteln zu klären sind (zumeist in negativer Form durch die Aufdeckung schlechter Begründungen). Daraus folgt aber nicht, dass philosophisches Argumentieren keine hilfreiche, vielleicht sogar unverzichtbare Größe in diesem Kontext sein kann. Und daraus folgt nicht, dass sich die Philosophie der Herausforderung in den Lebenswissenschaften nicht stellen sollte. Denn gepaart mit der Einbildung, sich dem eigentlichen Geschäft der Philosophie zu widmen, führt ein derartiger Eskapismus nicht nur zur gesellschaftlichen Irrelevanz der Philosophie, deren Leerstelle dann dankend von anderen Disziplinen (bis hin zu philosophierenden und die Grundlagen des Rechts erneuernden Hirnforschern) ausgefüllt wird, sondern auch zu einer inhaltlichen Verarmung der Philosophie. Selbst wenn auf diese Weise gewisse Gefahren der Korruption und des Verlusts der philosophischen Identität vermeidbar zu sein scheinen, ist der Preis für diese ‚innere Emigration‘ zu hoch: esoterisch und exoterisch. (c) Es kann daher nicht verwundern, dass angesichts der beiden Formen der Selbstaufgabe und der Unzulänglichkeit dieser beiden Formen, sich auf die eigentliche Aufgabe der Philosophie zu besinnen, noch eine weitere Gestalt, die Aufgabe der Philosophie zu interpretieren, auftritt, die ihre Rolle offensiv und kämpferisch interpretiert. Da sich diese dritte Variante im Bereich der Philosophie des Geistes nur schwer von der Flucht in den reinen Begriff unterscheiden lässt, beschränke ich mich hier auf eine kurze Skizze ihres Auftritts im Bereich der Ethik in den Lebenswissenschaften. Als Diktatur der reinen Moralität tritt dort eine philosophische Ethik auf, die – prinzipientreu und an Folgen- oder Aspektabwägungen gänzlich uninteressiert – ohne Rücksicht auf institutionelle Rahmen oder konkrete Handlungskontexte anzugeben versucht, was das sittlich Richtige ist und unsere Gesellschaft zu tun oder zu lassen hat. Weder das, was die lebensweltlich betroffenen Subjekte faktisch wollen, noch das, was sich aus der Urteilskraft oder der Handlungsperspektive z. B. des medizinischen Personals als ethisch relevant erweist, gilt dieser philosophisch gestählten Expertenkultur als ethisch bedeutsam. Vielmehr ist es die philosophische Erkenntnis, sei sie deontologischer oder utilitaristischer Couleur, die festlegt, was das ethisch Richtige oder Gute ist. Zwar mag eine so verstandene praktische Philosophie ein Schutzschild gegen die schleichende Korruption
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der grau schattierten Handlungswirklichkeit und deren prinzipienuntergrabenden Effekte sein. Den von einer solchen Expertenethik von außen heimgesuchten Subjekten, seien es die Betroffenen, seien es die in den jeweiligen Handlungskontexten involvierten Personen- oder Berufsgruppen, muss eine so betriebene philosophische Ethik jedoch zwangsläufig als paternalistische oder dogmatische Bevormundung erscheinen. Die Reinheit einer so betriebenen Ethik steht daher häufig im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Anschlussfähigkeit und motivierenden Kraft in den fraglichen gesellschaftlichen Kontexten. Daher ist es nicht vollkommen unverständlich, wenn eine derartige reine Moralkonzeption als bloße Sonntagsrede ohne praktisch-politische Relevanz zurückgewiesen wird.9 Es liegt auf der Hand, dass sich auch Bündnisse zwischen diesen drei Formen, die Aufgabe der Philosophie in Abkehr von den beiden Selbstaufgaben der Philosophie zu definieren, einstellen. So ist es beispielsweise nahe liegend, die metaethischen Grundlagen der Diktatur der reinen Moralität ausschließlich im Bereich des ‚reinen‘ Begriffs anzusiedeln. Und eine sich vor sich selbst verbergende schöne Seele wird zur stabilen Grundhaltung, indem die angemessenen ethischen Forderungen zugleich solche sind, deren gesellschaftliche oder politische Umsetzbarkeit aussichtslos ist (beispielsweise nach dem Modell, statt den Einsatz von Verhütungsmitteln sexuelle Enthaltsamkeit zu predigen).
III. Ethik in Anwendung: Skizze einer Alternative Angesichts der Schwierigkeit der Aufgabe, die sich der Philosophie im Kontext der Lebenswissenschaften stellt, liegt es nahe, dass sie sich in die soeben dargestellte schlechte Dialektik verstrickt. Wie kann sie sich verantwortlich der Aufgabe stellen, ohne den angeführten Fallstricken zu erliegen? In einem Beitrag wie diesem kann diese Frage nicht befriedigend beantwortet werden, und zwar nicht nur deshalb nicht, weil eine Antwort den üblicherweise an dieser Stelle genannten Rahmen sprengen würde. Der tiefer liegende Grund ist vielmehr, dass diese Antwort nur darin bestehen kann, die gestellte Aufgabe in der Praxis befriedigend zu lösen. Dennoch lassen sich einige allgemeine normative Konsequenzen aus den Überlegungen meines Beitrags ziehen.
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Für eine Analyse solcher konstitutiv unaufrichtigen Gestalten des Bewusstseins sei hier neben Hegels Phänomenologie des Geistes auf die Arbeiten Bruno Bauers oder Jean-Paul Sartres verwiesen.
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Zuerst einmal ist es wichtig, dass sich die Philosophie den anderen Disziplinen auf Augenhöhe und mit Augenmaß zuwendet. Ersteres bedeutet, dass sie in den Dialog im Bewusstsein der (methodologischen und begründungstheoretischen) Eigenständigkeit unter klarer Einforderung der prinzipiellen argumentativen Gleichberechtigung eintritt. Dies erfordert die permanente Ausübung ihrer konstitutiven Fähigkeit zur kritischen Reflexion der disziplinenübergreifenden Kooperation und zur kritischen Selbstreflexion ihrer eigenen Rolle dabei.10 Augenmaß ist von Nöten, um die Fragestellungen der anderen Disziplinen zu erkennen und in ihrem Eigenrecht anzuerkennen. Angesichts der Faszination des Konkreten, seien es Kausalerklärungen, konkrete Daten oder auch Visualisierungen von Gehirnprozessen, ist die Philosophie aufgefordert, sich die philosophische Relevanz dieser Daten klar zu machen und genau zu bestimmen, welchen Beitrag die einzelnen Disziplinen zur jeweiligen Problemstellung beizutragen haben. Um Missverständnisse und Reibungsverluste durch Kompetenzstreitigkeiten oder soziale Konflikte zu vermeiden, ist es an dieser Stelle unerlässlich, zwischen einer horizontalen und einer vertikalen Form interdisziplinärer Kooperation zu unterscheiden. Ersterer ist das Ideal der Gleichberechtigung aller Diskursteilnehmer auf allen Ebenen eingeschrieben; letztere akzeptiert, dass je nach Problemdefinition bestimmte Disziplinen die Fragestellungen oder Beweisziele vorgeben, also eine arbeitsteilige Struktur vorliegt.11 Dabei muss sie, immer wieder und aufs Neue, auf der Relevanz ihres philosophischen Beitrags bestehen, auch wenn dieser in der Regel, man denke an Begriffsklärungen und die Unterscheidung von Argumentationsarten oder -ebenen, quer zu den methodologischen Vorgaben und Üblichkeiten der meisten anderen Disziplinen steht. Das Beharren auf dem Unterschied zwischen deskriptiv-prognostischen und normativen Aussagen oder der Relevanz begrifflicher Klärungen auch in Kontexten empirischer Fragestellungen erfordert dabei ebenfalls Augenmaß (und Geduld auf allen Seiten). Es liegt auf der Hand, dass die Philosophie dies nur umsetzen kann, wenn sie über ein klares Bewusstsein ihrer eigenen Kompetenz qua Philosophie verfügt. Wo aber bleibt, so wird man vermutlich an dieser Stelle einwenden wollen, in diesem Geschäft die Moral? Bei vielen, wenn auch nicht allen Fragestellungen, die durch die Lebenswissenschaften aufgeworfen werden, 10
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Gerade in dieser Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion und zur kritischen Reflexion der interdisziplinären (oder auch transdisziplinären) Kooperation ist ein genuiner Beitrag der Philosophie zu verorten. Ich habe diese Unterscheidung an anderer Stelle ausführlicher erörtert; vgl. hierzu Quante 2002.
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geht es um ethische Urteilsfindung im interdisziplinären und gesellschaftlichen Diskurs. Hier kann die Philosophie nur überzeugen und sich verantwortungsvoll sowie konstruktiv einbringen, wenn sie in ihrer Argumentation sowohl für die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als auch für die jeweiligen Kontexte der Problemkonstellation sensitiv bleibt.12 Neben dieser Aufgabe, deren Erfüllung als Vorbedingung für eine rationale gesellschaftliche Diskussion unerlässlich ist, muss die philosophische Ethik die Herausforderung meistern, die darin besteht, zwei Extreme gleichermaßen zu vermeiden: Zum einen darf sie nicht dem Irrtum erliegen, es gäbe hinsichtlich der konkreten Bewertung ethischer Fragen so etwas wie philosophische Expertise. Zum anderen darf sie daraus aber auch nicht in das umgekehrte Extrem verfallen, dieses Feld des normativen Diskurses technokratischen Lösungen oder Experten anderer Disziplinen zu überlassen (beispielsweise die Frage der Gerechtigkeit sozialer Systeme an die Ökonomie zu delegieren). Auch wenn der Philosophie, obwohl sie sich dies gelegentlich immer wieder einmal angemaßt hat, keine genuine Expertenrolle hinsichtlich der Beantwortung von Norm- und Wertfragen zukommt, die nur im gesellschaftlichen Diskurs entschieden werden können, hat sie doch eine unverzichtbare kritische Kompetenz, die darin besteht, argumentative Fehler und Übergriffe anderer Disziplinen in diesen Kontexten aufzudecken und zurückzuweisen.13 Diesen Herausforderungen kann die Philosophie natürlich nur durch die Philosophinnen und Philosophen, die sich ihnen stellen, gerecht werden. Für diese gilt es, sich weder von der Nähe zur politischen Macht noch von denen zu ökonomisch einflussreichen Kontexten, seien es Drittmittel oder unmittelbare Verwertungsinteressen, korrumpieren zu lassen. Selbstverständlich ist keine Philosophin und kein Philosoph persönlich darauf verpflichtet, sich dieser Aufgabe zu widmen.14 In einer Gesellschaft, die auch in Zeiten knapper Finanzmittel nicht darauf verzichtet, Philosophie in Schulen und an Universitäten zu lehren, ist die gesellschaftliche 12
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Als Beispiel für letzteres verweise ich auf die unterschiedlichen Ebenen von Verteilungsfragen im Gesundheitssystem, die einen überaus differenzierten Gebrauch des Gerechtigkeitsbegriffs verlangt; ersteres erfordert z. B., die in gesellschaftlichen Kontexten vorfindliche oder zu erwartende Konnotation von Termini mit zu bedenken (Beispiele sind etwa „Euthanasie“, „Humanexperiment“, „verbrauchende Embryonenforschung“ oder „Zwangssterilisation“). Denkt man an die rechtsphilosophischen Eskapaden mancher Hirnforscher oder die neoliberalen Schnellschüsse mancher Ökonomen beim Versuch der Abwicklung des Sozialstaats, so wird man nicht sagen wollen, dass dies eine irrelevante oder leichte Aufgabe ist. Und selbstverständlich feit die Philosophie, genauso wenig wie irgendeine andere wissenschaftliche Disziplin, vor der Gefahr, sich korrumpieren zu lassen.
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Anfrage an die Philosophie, im Kontext der Lebenswissenschaften Orientierung zu bieten, ohne Zweifel legitim; als Fach sollten wir ihr daher auf jeden Fall nachkommen. Bedenkt man überdies, dass eine generelle Verweigerung der Philosophie nicht nur nach außen (durch gesellschaftliche Marginalisierung und interdisziplinäre Isolation) schadet, sondern sie (Stichwort „einseitige Diät“) auch nach innen auszehren kann, gibt es auch fachintern gute Gründe, sich mit den Herausforderungen der Lebenswissenschaften philosophisch auseinanderzusetzen. Auch wenn die Lebenswissenschaften ohne die Philosophie nicht blind, sondern nur kurzsichtig und die Philosophie ohne Interdisziplinarität nicht leer, sondern nur mager wäre, dürfen wir optimistisch sein, dass sich auch in Zukunft genügend Philosophinnen und Philosophen den Herausforderungen stellen werden.
Literatur Quante, M., 2002: Interdisziplinarität und Politikberatung, in: K. Bizer/M. Führ/C. Hüttig (Hg.), Responsive Regulierung – Beiträge zur interdisziplinären Institutionenanalyse und Gesetzesfolgenabschätzung, Tübingen, 175–193.
Kann die Philosophie eine Hilfe für das Leben sein? Wilhelm Schmid I. Die Situation in moderner Zeit Hat die Philosophie etwas mit dem Leben zu tun? Diese Frage stellen Menschen zuweilen, wenn sie mit den Überlegungen zu einer Philosophie der Lebenskunst konfrontiert sind. Das also ist das Bild, das Philosophen von ihrer Disziplin erzeugt haben; es ist nicht zu beurteilen, nur zur Kenntnis zu nehmen. Kann die Philosophie eine Hilfe für das Leben sein? Da sind es wohl viele Philosophen selbst, die offen ablehnend oder diplomatisch ausweichend reagieren. „Hilfe für das Leben“: Das erscheint ihnen suspekt, und nicht nur ihnen, sondern vielen Intellektuellen überhaupt. Es sind diese Hoffnungen, die Intellektuelle in Furcht und Schrecken versetzen: Die Suche nach „Lebenshilfe“ einer wachsenden Zahl von Menschen trifft auf das Entsetzen der Gebildeten, die nichts damit zu tun haben wollen. Woher die Heftigkeit der Nachfrage, warum die Entschiedenheit der Verweigerung? Die Nachfrage rührt her von all denen, die sich in ihrer Lebensbewältigung auf sich selbst gestellt sehen, eine Folge der verlorenen Tradition, Konvention, Religion, die bis ins Detail des Alltags hinein definieren konnten, wie zu leben ist. Praktisches Lebenwissen wird in der Moderne nicht mehr von Person zu Person, von Generation zu Generation weitergereicht; die fortschreitende Befreiung hat diese Kette unterbrochen. So findet sich das Individuum allein in seinem begrenzten Lebenshorizont wieder, die Ressourcen eines überlieferten, gemeinsamen Lebenwissens bleiben ihm verschlossen und es beginnt danach zu fragen, wo Lebenshilfe zu bekommen sei. Die Situation wird verschärft von Ängsten und der Empfindung von Schwäche angesichts der Komplexität moderner Gesellschaften und der stets neuen Herausforderungen durch Wissenschaft und Technik, auf die nicht von vornherein schon Antworten bereitstehen.
Dieser Beitrag erschien erstmals in: V. Steenblock (Hg.), Philosophisches Lesebuch. Von den Vorsokratikern bis heute (Reclam-UB 18496), Stuttgart 2009, 437– 448. Wir danken dem Herausgeber sowie dem Reclam-Verlag für die Genehmigung des Wiederabdrucks.
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Eine ganze Skala von Lebensfragen bricht auf, Einzelfragen und grundlegende Fragen, bürokratische, gestalterische, therapeutische und existenzielle Fragen. Für die bürokratische Seite der Lebensbewältigung stehen spezifische Kompetenzen zur Verfügung, mit deren Hilfe zuweilen banale, aber im situativen Lebensvollzug einer modernen Gesellschaft drängende Probleme wie Finanz-, Steuer-, Rechtsfragen zu bewältigen sind. Auch für die gestalterische Seite der Lebensbewältigung lässt sich je besonderer Sachverstand konsultieren, wenn es um berufliche Möglichkeiten, Gesundheitsvorsorge, Ernährungsfragen, Fragen des Verbraucherschutzes, Reiseplanung etc. geht. Einzelkompetenzen sind verfügbar zur therapeutischen Seite, um eine Krankheit im Organischen oder Psychischen zu behandeln, eine „Störung“ in einer Kommunikation oder Beziehung zu beheben und nach dem richtigen Umgang mit Gefühlen und Leidenschaften, mit Lüsten und Ängsten zu fragen. Was aber ist mit der existenziellen Seite, bei der es, in Überschneidung mit therapeutischen Fragen, die gestalterischen tangierend, die bürokratischen Fragen weit übergreifend, um die eigentlichen Lebensfragen geht: Ist dieses Leben, das individuelle, das gesellschaftliche, auf dem richtigen Weg? Was ist Leben für mich? Was halte ich für wichtig: Freundschaft, Liebschaft, ein Leben in Zurückgezogenheit oder in der Öffentlichkeit? Wie kann ich mein Leben führen? Welchen Sinn haben Lüste, Ängste, Schmerzen, Krankheit und Leid? Welches Verhältnis habe ich zum Tod? Woran kann dieses Leben orientiert werden? Was ist schön und bejahenswert für mich, was sind die Werte, denen ich in meinem Leben Bedeutung geben will? Was ist in meinen Augen Glück, was der Sinn des Lebens? Was ist das überhaupt, „Glück“, „Sinn“? Um Antworten zu finden, suchen Menschen in wachsendem Maße nach einem Raum, in dem die Erörterung dieser Fragen möglich ist. Einen solchen Raum des Innehaltens und Nachdenkens bieten die Theologie, auch die Therapie im weiteren Sinne – und die Philosophie. Darin besteht bereits ein Teil ihrer Lebenshilfe: den „logischen“, geistigen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem die eigenständige Urteilskraft zu gewinnen ist, mit deren Hilfe das Leben neu orientiert werden kann. Dass dieser Raum der umfassenden Besinnung und Selbstbesinnung offen steht, dass in ihm abseits aller Aktivität die Passivität der Nachdenklichkeit gelebt werden kann, ist zweifellos ein Grund für die wachsende Bedeutung der Philosophie in orientierungsloser Zeit, immer wieder in der Geschichte seit der Antike. Die Lebenshilfe der Philosophie ist keine Form von Therapie. Wer Lebensfragen hat, ist nicht therapiebedürftig, jedenfalls nicht im engeren, modernen Sinne des Wortes, das einen pathologischen oder dysfunktionalen Hintergrund voraussetzt, allenfalls im weiteren, antiken Sinne der griechischen therapeía, die eine Pflege und Sorge meint, wie dies auch in
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mancher Psychotherapie wieder entdeckt wird. Erst recht ist die Sorge um eine „Heilung der Seele“ (psychƝs iatreía) nicht zwangsläufig ein Fall für die Psychiatrie.
II. Die Hilfestellung der Philosophie Die Philosophie „behandelt“ nicht, sie trägt vielmehr zu einer Klärung von Lebensfragen bei. Die Klärung geschieht mithilfe der Philosophie, nicht etwa durch sie. Der Klärungsprozess zielt nicht darauf, definitive Klarheit zu erreichen, sondern diejenige operative Klarheit, die das Leben wieder ermöglicht. Das philosophische Angebot zur Klärung, seit Sokrates ein Angebot zum Gespräch, besteht in einer Art von Geburtshilfe, maieutikƝ, um das je eigene Denken hervorzubringen. Es ermöglicht den Gesprächspartnern, jeweils für sich selbst die Orientierung zu gewinnen, die im Dickicht des alltäglich gelebten Lebens verloren gegangen oder noch nie gefunden worden ist. Der Philosoph kann der Gesprächspartner in diesem Lebensgespräch sein, unabhängig davon, ob das Gespräch real (gesprochen) oder imaginär (gedacht) geschieht. Die Stärke der Philosophie liegt dabei in der Tat eher in ihrer Schwäche: keine letztgültige Klärung erdenschwerer Fragen, keine absolute Klarheit über Leben und Welt erlangen zu können – Tausende von Anläufen dazu in Tausenden von Jahren haben dies jedenfalls nicht erbracht. Gerade diese Schwäche lässt den Raum der Philosophie so attraktiv erscheinen: Sie offeriert den Raum zur Erörterung all der Fragen, die andernorts keinen Platz finden; sie vermittelt die Erfahrung, dass es Fragen gibt, die kaum jemals definitiv zu beantworten sind; sie regt die Einsicht an, dass die Lebenskunst wohl zu einem guten Teil darin besteht, sich mit diesem Stand der Dinge zu bescheiden. Das Gespräch aber zu verweigern, treibt Menschen erst in die Arme derer, die fragwürdige Formen von „Lebenshilfe“ anbieten und Verklärung an die Stelle von Klärung setzen. Wie dieses Gespräch unter heutigen Bedingungen aussehen kann, lässt sich im Experiment erproben. Was meinen Beitrag dazu angeht, versuche ich seit 1998 in regelmäßiger Arbeit an einem Krankenhaus in der Nähe von Zürich einige Arbeit zu leisten: in Vorträgen, Seminaren, Arbeitsgruppen, vor allem aber Gesprächen, nicht nur mit den Patienten, sondern auch mit den Mitarbeitern und Ärzten. Was geschieht in diesen Gesprächen? Erwartet wird etwas Spektakuläres. Aber es sind in aller Regel unspektakuläre Gespräche, und es ist beinahe unerheblich, was ihr Inhalt ist. Das bloße Faktum des Gesprächs scheint bereits wichtig zu sein, um zu entlasten, zu ermuntern, anzuregen, etwas zu klären, zu bereinigen, zu befreien. Der „Trost der Philosophie“ besteht wohl in einer Erweiterung des Horizonts,
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um den Raum der Möglichkeiten des Denkens zu erschließen und auf diese Weise die Möglichkeiten des Lebens besser zu sehen. Was viele suchen, ist das Gespräch über das Leben, aus dem Bedürfnis heraus, sich mehr Klarheit über das eigene Leben und „das Leben“ überhaupt zu verschaffen. Es bedarf keiner physiologischen oder psychologischen Pathologie, um Fragen an das Leben zu haben, die in der Situation des Krankenhauses jedoch mehr kulminieren als irgendwo sonst, und für die doch gewöhnlich kaum jemand als Gesprächspartner zur Verfügung steht. Eine andere Art von Arbeit ist die als Gastdozent an der Staatlichen Universität in Tiflis in Georgien (seit 1997). Die Frage liegt nahe: Wie kommen Menschen in einem Land mit 60 Prozent Arbeitslosigkeit und ohne nennenswerte Sozialleistungen auf die Idee, Philosophie, also die brotlose Kunst par excellence, zu studieren? Aber die Antwort ist einfach: Um ihr Leben besser zu verstehen und möglicherweise darauf Einfluss zu nehmen; nicht nur auf das individuelle, sondern mehr noch auf das gesellschaftliche Leben, von dem das individuelle wiederum abhängig ist. Eine Modernisierung erscheint unumgänglich, wenn die Lebensverhältnisse jemals verbessert werden sollen. Aber was ist Moderne? Von vornherein muss sie hier den beharrenden Kräften Rechnung tragen; sie hat eine Antwort zu suchen auf den Umstand, dass die Menschen in Georgien massenhaft in die orthodoxe Kirche zurückströmen, die eine radikale Anti-Moderne vertritt. Wichtig ist, darüber nachzudenken – und wir tun das anhand der Analyse von Texten der frühen christlichen Kirchenväter –, was Religion denn ist, um sie nicht umstandslos mit einem starren System von Dogmen zu verwechseln, vielmehr mithilfe hermeneutischen Verstehens und einer freieren Religiosität die Brücke zu bauen, die eine Modernisierung ermöglicht. Und auch die Schwächen der Moderne und mögliche Antworten darauf kommen von vornherein in den Blick, vorzugsweise anhand der frühen Kritik der Moderne bei den deutschen Frühromantikern; die Verehrung für deutsche Romantik ist in Georgien ohnehin groß. Das sind nur Beispiele. An vielen Orten ist heute eine andere Art des Philosophierens im Entstehen begriffen: Viele Philosophen gründen eine „philosophische Praxis“, überall gibt es „philosophische Cafés“, im Bereich der kritischen Journalistik oder der ethischen Unternehmensberatung sind zahllose Philosophen tätig. Es hätte nun jedoch keinen Sinn, die im Entstehen begriffene freie Philosophie gegen die akademisch gebundene auszuspielen. Zweifellos muss es eine akademische Philosophie geben, auch eine Philosophie als „l’art pour l’art“, vor allem eine, die die solide historische und systematische akademische Ausbildung des philosophischen Nachwuchses sicherstellen kann. Die Brücke zu den verschiedensten Bereichen der Praxis zu schlagen, ist dagegen die natürliche Aufgabe einer freien Philosophie, um auf die Nachfrage nach einer Reflexion des Lebens zu antworten.
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Auch wenn es dabei nicht um einen definitiven Rat geht, so doch um einen Prozess der Beratung, was zu tun sei: eine Erörterung der Aspekte, die im Spiel sind, der Optionen, die zur Verfügung stehen, der Argumente, die für und wider die in Frage kommenden Optionen sprechen. Entscheidend ist das optative Vorgehen, das die Verantwortung bei demjenigen belässt, der sein Leben selbst lebt, und ihn dennoch mit seinen Fragen nicht allein lässt. Die Autonomie des Einzelnen zu achten ist ein hohes Gut, aus gutem Grund: Schließlich muss er auch selbst, nicht irgendein „Ratgeber“, der vielleicht nur eine zufällige und belanglose Meinung vertritt, die Verantwortung für sich und sein Leben tragen – eine existenzielle Wahrheit. Selbst eine „Empfehlung“ wäre noch zu normativ, daher bleibt es im Prozess der Beratung beim Verfahren der Anregung, die hilfreicher sein kann als ein konkreter Rat und zudem wechselseitig ist: Sie kann den Gesprächspartnern den Anstoß dazu geben, herkömmliche Bahnen des Denkens zu verlassen, eine Situation mit anderen Augen zu sehen und neue Möglichkeiten in den Blick zu bekommen. Der historisch und systematisch umfassende Horizont der Philosophie bietet einiges an „Stoff“ für all die Anregungen, die in der Sicht derer, die sich davon inspirieren lassen, als „geistige Nahrung“ verstanden werden, die sie nicht entbehren möchten. Und eine Rolle kommt im Prozess der Beratung dem eigenen Beispiel zu, wenn auch explizit nur exemplarisch, denn es kann nicht darum gehen, vorbildhaften Charakter für sich selbst zu beanspruchen, eher darum, einen Anlass zur Auseinandersetzung zu bieten, in deren Verlauf ein Gegenüber sein Eigenes zu finden vermag. Das eigene Beispiel stärkt zudem die Glaubwürdigkeit als Gesprächspartner, der nicht nur theoretisch beschlagen ist, sondern selbst auch einen praktischen Lebensvollzug vorzuweisen hat.
III. Die begriffliche Dimension Von Bedeutung für die bewusste Lebensführung sind letztlich vor allem begriffliche, also terminologische Aspekte. Ins Blickfeld kommt die Arbeit des „Geistes“, des nous: neben der Prägung von Begriffen für das, was an Erfahrungen zu machen ist, auch die Klärung von Begriffen, mit denen hantiert wird, als verstünden sie sich von selbst, wie etwa „Leben“, „Kunst“, „Selbst“, „Glück“, „Sinn“ ... Begriffe können in die Irre führen, sie können krank machen und man kann gesunden an ihnen, je nach ihrer Definition. In Begriffen steckt, über das bloße Wort hinaus, ein Vorverständnis, ein Konzept, eine Vorstellung, eine Idee, was eine Sache ist oder sein soll und welche Bedeutung ihr zukommt. Entscheidender als die Realität kann diese Idee sein, die von ihr im Umlauf ist, ja die Idee kann ursächlich für die Realität sein, etwa im Falle einer Revolution. Oft ist es die
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innere Logik von Begriffen, die das individuelle Denken vorstrukturiert und organisiert, und niemand wüsste im Nachhinein zu sagen, wodurch oder durch wen diese Logik ins Werk gesetzt worden ist. So bergen Begriffe Eigenschaften in sich, die ihnen zugeschrieben werden und die vielleicht noch anders zu beschreiben wären, Wahrheiten, die auch anders wahr oder von Grund auf falsch sein könnten. Der Inhalt von Begriffen ist niemals normativ, immer optativ zu verstehen: Das jeweils herrschende Verständnis ist eine Option unter anderen. Die Lebenskunst besteht darin, nicht zum Gefangenen von Begriffen mit angeblich „allein gültigen“ Bedeutungen zu werden. Das gilt vor allem für den Begriff des „Lebens“, dem das Selbst beim Vollzug seines Lebens folgt, womöglich unbewusst, ohne die jeweils zugrunde liegende Idee vom Leben selbst gedacht zu haben. Der Begriff wird zunächst gebildet, um das Leben ausgehend von den jeweiligen Erfahrungen in eine kommunizierbare Form zu bringen (Induktion). Um nicht von jeder Einzelheit jeder Erfahrung jedes Mal aufs Neue erzählen zu müssen, kommt es zur Verallgemeinerung und Festschreibung: „Leben ist...“, und um nicht stets in vollem Umfang diese Definition wiedergeben zu müssen, bleibt nur „Leben“ noch übrig, der Rest wird mitgedacht. Das ist die eine Hälfte des Prozesses, die andere besteht darin, dass der definierte Begriff seinerseits auf das Leben zurückwirkt, sodass das Leben zu einer Ableitung des Begriffes wird (Deduktion), bis letztlich nicht mehr klar ist, was zuerst da war, Begriff oder Leben. Die Wechselseitigkeit dieses Prozesses ist kaum aufzulösen, und so folgt der Begriff dem Leben, und das Leben dem Begriff. Das Leben ist eine Komödie? Dann entspricht ihm das Lachen am besten. Das Leben ist eine Tragödie? Dann ist das Weinen am ehesten angemessen. Das Leben ist ein Kampf? Dann sollte das Selbst sich dafür rüsten. Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss? Dann bietet es sich an, träge mitzufließen. Leben heißt glücklich zu sein? Dann wäre noch zu klären, was unter „Glück“ verstanden werden soll. Glück ist das Positive und der Erfolg, die Maximierung von Lust und Eliminierung von Schmerz? Aber Leben heißt auch, unglücklich zu sein, und wenn schon glücklich, dann hat dies mit ausschließlicher Lust und aufgehobenem Schmerz womöglich wenig zu tun. Die jeweiligen Definitionen zeigen nur, wie unterschiedlich die Begriffe ausfallen können und welche Folgen für das Leben dies jeweils hat. So abstrakt Begriffe auch erscheinen mögen, so konkret können ihre Auswirkungen sein, denn mit ihrer Hilfe wirkt das Denken auf die Existenz ein. Eine bewusste Lebensführung bedarf daher der Aufmerksamkeit auf die innere Logik der Begriffe, um sie aufzuspüren und gegebenenfalls, wenn sie zum Problem wird, umzuformulieren. Es gibt keinen Grund, sich einer herrschenden Auffassung von „Leben“ zu unterwerfen, um ihr nur nachzuleben und, wenn ihr nicht Genüge getan werden kann, zu verzweifeln.
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Droht damit nicht Beliebigkeit? Sind Begriffe nicht dazu da, eine Realität möglichst genau wiederzugeben? Zweifellos, aber sie halten sich nicht daran. Sinnvoll erscheint, jede Begriffsbildung an den Kriterien von Plausibilität und Evidenz, Nachvollziehbarkeit und Offensichtlichkeit zu messen, aber auch in diesen Kriterien bleiben subjektive Sichtweisen wirksam. So kommt es, dass unter einem Begriff wie „Leben“, jeder Verallgemeinerung zum Trotz, kaum zwei Menschen genau dasselbe verstehen. Nur das Wort bleibt dasselbe und täuscht über die unterschiedlichen Bedeutungen gänzlich hinweg. Missverständnisse und Enttäuschungen sind zu beklagen, könnten jedoch zum Anlass genommen werden, eine Klärung des je eigenen Begriffs in der Auseinandersetzung mit anderen und vor allem mit sich selbst vorzunehmen. „Einen Begriff von etwas zu haben“, heißt dann soviel wie: eine bewusste Auffassung von einer Sache und ihrer Bedeutung gewonnen zu haben und diese Sache von anderen unterscheiden zu können. Etwas wird fassbarer, „greifbarer“ auf diese Weise: Ein Begriff vereinfacht das Vielfältige und macht es handhabbar, wenn auch zwangsläufig um den Preis der Kritik, dem Vielfältigen nicht gerecht zu werden. Sich klarer zu werden über den eigenen Begriff etwa des Lebens, ihn für sich selbst zu definieren, ermöglicht, diese Definition anderen mitteilen zu können, um sich über unterschiedliche Auffassungen zu verständigen, sofern es um Verständigung gehen soll. Die Klärung von Begriffen und die Verständigung darüber mit sich selbst und anderen ist eine Schulung der Aufmerksamkeit und Selbstaufmerksamkeit, trägt zur Klärung des Selbst und seines Verhältnisses zur Welt bei und dient auf diese Weise der Orientierung des Lebens. Ein Forum für diese Klärung bietet, da Begriffe das Handwerkszeug der Philosophen sind, traditionell die Philosophie, auch wenn der Zweck der Klärung im Verlaufe des Prozesses gelegentlich aus den Augen verloren wird. Medizin, Psychologie, Soziologie, Biologie haben die somatischen, psychischen, sozialen, ökologischen Strukturen des Menschseins im Blick, die Philosophie aber die Strukturen des Denkens, durch die all die Begriffe definiert sind, die ihrerseits das Menschsein prägen. Begriffe sind geformte Gedanken, und Gedanken „erzeugen den Menschen“, so Bettina von Arnim in ihrem Roman Die Günderode (1840). Philosophie kann dabei behilflich sein, die „objektive“, heteronome Definition eines Begriffes ausfindig zu machen, sie für sich selbst zu prüfen und gegebenenfalls „subjektiv“, autonom zu modifizieren oder neu zu fassen. So wird das Selbst zum Souverän seiner Begrifflichkeit. Es käme darauf an, die Logik der Begrifflichkeit überhaupt und einzelner Begriffe im Besonderen zu studieren, um sie sich anzueignen und ein bewusstes Verhältnis dazu zu gewinnen. Was zuallererst im Geistigen geschieht, eröffnet Bewegungsspielräume fürs Leben, Anderes wird denkbar und lässt sich in Begriffen konzipieren. Ebenso geht
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es jedoch darum, das Denken offen zu halten für die Erfahrungen der Existenz, um diese auf die Begriffe zurückwirken zu lassen, Bedingung einer Begrifflichkeit, die den Phänomenen des Lebens nahe bleibt. Die Begrifflichkeit stets im Auge zu behalten, wird in der philosophisch inspirierten Lebenskunst zur Aufgabe des einzelnen Selbst, die über der vordringlich erscheinenden Alltäglichkeit allzu leicht vernachlässigt wird.
IV. Was es heißt, „eine Philosophie zu haben“ Resultat der Klärung und Beratung kann sein, eine Philosophie zu haben. Im individuellen wie im gesellschaftlichen Leben, in der Wirtschaft, in der Politik ist zuweilen unbedacht davon die Rede, dass man „eine Philosophie habe“. Gemeint sind damit meist Einsichten und, darauf aufruhend, Grundsätze, die für wesentlich erachtet werden und denen in der alltäglichen Praxis zu folgen versucht wird. In der philosophischen Lebenskunst wird eine durchdachte Angelegenheit, eine „Lebensphilosophie“ daraus, eine bewusste, überlegte eigene Auffassung vom Leben, von seinen Eigentümlichkeiten, seinen Möglichkeiten; eine Auffassung davon, worauf es im Leben ankommt, was wichtig ist und was als „schön“ erscheint. Der reflektierte Prozess der Klärung erlaubt, Grundüberzeugungen zu gewinnen, die nicht einfach nur behauptet werden, sondern aus der philosophischen Grundfrage hervorgehen, was denn „eigentlich“ wesentlich ist. Die Philosophie liegt in der Grundhaltung, die fürs Leben gewählt wird; und sollte sie auch zunächst durch Erziehung und Kultur vorgegeben sein, so ist sie doch zu überdenken, um zu entscheiden, ob sie beibehalten oder verändert werden soll. Eine Philosophie zu haben heißt nicht etwa, „die Wahrheit“, sehr wohl aber eine Lebenswahrheit für sich gefunden und formuliert zu haben, die gut genug begründet erscheint, um das ganze Leben darauf zu bauen: Lässt sich ohne eine solche Lebenswahrheit überhaupt leben? Hilfreich auf dem Weg zur eigenen Lebensphilosophie ist eine freie, institutionell nicht gebundene Philosophie, die sich wie zu sokratischen Zeiten in ständiger Tuchfühlung zum individuellen und gesellschaftlichen Leben bewegt. Sie vermittelt Anstöße und Anregungen, wie sie die Geschichte der Philosophie reichlich bereit hält, philosophische Lebensentwürfe, die im Laufe der Zeit aus der Besorgnis und dem Nachdenken über das Leben entstanden sind. Man hat es nicht mit „toten Texten“ zu tun, wenn man diese alten Denker neu liest, die mit allzu moderner Geste als „überholt“ abgetan werden. Schon ihre zeitliche Ferne ermöglicht den distanzierten Blick auf die Aktualität und das eigene Selbst und erleichtert die Besinnung auf den „Sinn“, die Zusammenhänge der Lebensphänomene, und ihre Bedeutung, ihre Gewichtigkeit. Aus guten Gründen hat die philosophía als „Liebe zur
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Weisheit“, als Verlangen nach Kenntnis des Wesentlichen fürs Leben die Zeiten überdauert. Einzelne Grundzüge antiker Philosophien lassen sich wieder aufgreifen, um der eigenen Lebenskunst Konturen zu verleihen: eine ausgeprägte Liebe zum Schönen aus der Philosophie Platons, eine nie erlahmende Bereitschaft zur Reflexion aus der Schule des Aristoteles, eine bemerkenswerte Freimütigkeit aus dem Kynismus des Diogenes, eine wählerische Genussfähigkeit aus dem Garten Epikurs eine nachhaltige Skepsis aus der Tradition Pyrrhons, eine unzerstörbare Unerschütterlichkeit aus dem Stoizismus etwa Senecas, ergänzt vielleicht durch die immer neue Bereitschaft zum Wagnis, zum Versuch aus der Essayistik eines Montaigne, der im 16. Jahrhundert die antike Philosophie in ihrem ganzen Reichtum an Lebensweisheit wieder entdeckt hat. Dies alles durchzogen von der Philosophie der Selbstsorge, des gekonnten Umgangs mit sich selbst, der zur Grundlage des Umgangs mit anderen und einer Sorge um sie wird; denn es ist augenfällig, dass das Bemühen um diese doppelte Sorge die meisten philosophischen Schulen in der Antike charakterisiert. Das könnte für das intellektuelle und philosophische Selbstverständnis in einer anderen Moderne wieder von Bedeutung sein.
Literatur Wilhelm Schmid: – Philosophie der Lebenskunst – Eine Grundlegung, Frankfurt a.M. 1998. (112009). – Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst, Frankfurt a.M. 2000. – Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst, Frankfurt a.M. 2004. – Glück – Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist, Frankfurt a.M. 2007 (82009). – Die Liebe neu erfinden. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen, Berlin 2010.
Philosophie als Lebensform Theo Kobusch Die akademische Zunft der Philosophie wird mit der Zeit nicht umhin kommen, jene Form der Philosophie wieder ernst zu nehmen, die das antike und frühmittelalterliche Denken schlechthin bestimmte, die auch im Mittelalter parallel zur theoretisch abstrakten Form der Philosophie, wenngleich in ihrem Schatten, präsent war und die schließlich in großen repräsentativen Figuren der Philosophiegeschichte, wie z. B. Montaigne, Pascal, Maine de Biran, Nietzsche und Heidegger bis in unsere Tage überlebte: Die Philosophie als Lebensform oder Lebenskunst, die zugleich eine „Lebenshilfe“ ist. Der Gedanke der Lebenshilfe stammt von Platon. Er macht bewusst, wie weit sich die traditionell akademische Philosophie inzwischen vom Leben entfernt hat. R. Shusterman wird schon recht haben, wenn er vermutet, dass die Idee von Philosophie als einer Selbsthilfe im Sinne der Lebenskunst bei den meisten Berufsphilosophen „ein abschätziges Feixen“ (Shusterman 2001, 4) hervorrufen wird. Doch ungeachtet dessen sollte sie als das wahrgenommen werden, was sie inzwischen wieder geworden ist: ein Allgemeines, dem auf den Grund gegangen werden muss. Die Philosophie der Lebenskunst hat sich, das Erbe Nietzsches und Heideggers übernehmend, in Gegensatz zur traditionellen Metaphysik und zur wissenschaftsbeflissenen Philosophie unserer Tage gesetzt. Sie ist besonders im Werk zweier Autoren präsent, nämlich im Werk Foucaults auf der französischen Seite und in den zahlreichen Arbeiten Wilhelm Schmids auf der deutschsprachigen Seite.
I. Lebenskunst und Lebenspraxis Seit einiger Zeit ist es üblich geworden, die Philosophie im Sinne des akademischen theoretischen Betriebs und die Philosophie, verstanden als Lebenskunst oder Lebensform, auseinanderzuhalten. Im Hintergrund stehen
Dieser Beitrag wurde erstmals unter dem Titel „Apologie der Lebensform“ in der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie (Heft 34.1, 2009, S. 99–115) veröffentlicht. Wir danken Tilman Borsche für die Genehmigung des Wiederabdrucks.
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die Werke von P. Hadot und M. Foucault, die sich in gleicher Weise auf die antike Philosophie zurückbeziehen. Während jedoch die in dieser Hinsicht einschlägige Erstlingsarbeit Hadots Exercices spirituelles im Deutschen als Philosophie als Lebensform übersetzt wurde, hat sich gleichzeitig, wohl wegen der entsprechenden Werke W. Schmids, der dabei dem Kunstbegriff Foucaults folgt, für diese Art des Philosophierens auch der Titel „Lebenskunst“ durchgesetzt. Doch obwohl auch die moderne Lebenskunst vielfach Bezug nimmt auf die antike Philosophie, handelt es sich um zwei verschiedene Denkwelten. Die Philosophie der Lebenskunst ist jüngst einer eingehenden Kritik unterzogen worden, die das gesamte gedankliche Gebäude zum Einsturz zu bringen bestrebt ist (vgl. Kersting/Langbehn 2007). Sie hat dabei ausdrücklich auch die antike und mittelalterliche Philosophie, soweit sie in den grundlegenden Darstellungen von P. Hadot berücksichtigt sind, mit einbezogen: „Hadot ist sicherlich der entschiedenste Verfechter der Lebenskunst“ (Kersting 2007, 28). Doch steht gerade die Einheitlichkeit der Tradition der Lebenskunstphilosophie zur Debatte. Die moderne Kritik der Lebenskunst trifft, so sucht der folgende Beitrag zu zeigen, nur die Entwicklung der Philosophie nach Nietzsche und nicht, obwohl dieser an die antike Philosophie anzuknüpfen sucht, die Philosophie der Antike und des Mittelalters. Es ist daher notwendig, zwischen der modernen Lebenskunst und der antiken Lebensform, die man auch, mit guten Gründen, Lebenspraxis nennen könnte, zu unterscheiden. Mit der Lebenskunst verbinden wir ein artifizielles Modell, mit der Lebensform im Sinne Hadots ein praktisches (vgl. Hadot 1999; 2002). Der Hauptvorwurf an die Adresse der Lebenskunst ist die Ästhetisierung des Lebens. An die Stelle der Vernunftautonomie Kants tritt in der Lebenskunst, die sich dabei von Gedanken Nietzsches leiten lässt, „eine ästhetische Autonomie, die an der Wohlgestaltetheit des Lebens Wohlgefallen findet“, die W. Kersting zurückführt bis zur „Lebenskunst der hellenistischen Philosophie“ (Kersting 2007, 18). Am deutlichsten ist die Ästhetisierung des Lebens, wie die Kritik gut nachvollziehbar darstellt, bei Foucault zu bemerken. Die Ästhetik der Existenz löst die religiös begründete Ethik der Griechen ab. Das Leben wird zum Kunstwerk. Die Lebenskunst ist die poietische Kunst des Lebens. Die Kritik hält dagegen: „Vor allem ist es abwegig, den Umgang mit dem ‚Eigenleben‘ des Lebens nur in der Form der poietischen Selbstbeziehung, also der Selbsterfindung oder Selbstherstellung vorzusehen“ (Thomä 2007, 251). Doch die FoucaultEpigonen gehen noch einen Schritt weiter: Das Selbstverhältnis ist selbst als etwas Spielerisches zu denken. J. Früchtl knüpft an Foucaults „Ästhetik der Existenz“ die Konzeption der „spielerischen Selbstbeherrschung“, in der das Subjekt sich in ein „spielerisch-zwangloses Verhältnis“ zu sich
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selbst setzt, eine dritte Stufe der Wertungen, die der Autor ausdrücklich auch „Ethik“ nennt (vgl. Früchtl 1998). Spätestens hier weiß man nicht mehr, was dieser Begriff noch besagt im Unterschied zu dem der Ästhetik. Hier verschwimmen Beliebigkeit und Notwendigkeit. Tatsächlich ist das ästhetische Modell auch nicht geeignet, die Wirklichkeit der antiken Gedankenwelt zu erfassen. Vielmehr handelt es sich um eine moderne Umdeutung des alten Begriffs der „technê tou biou“, wenn er in einem poietischen Sinne aufgefasst wird. Denn ursprünglich meint der griechische Begriff nichts anderes als die sittliche Selbstformung des Subjekts. Das Leben erscheint in diesem Zusammenhang als etwas dem Menschen Innerliches, nicht Äußerliches. Gerade an der Stelle, wo wörtlich das Leben als Gegenstand der Lebenskunst bezeichnet wird, nämlich bei Epiktet, – so dass die moderne Lebenskunst auf den ersten Blick bestätigt zu werden scheint – wird das Leben doch als das dem Menschen Innere und somit seiner sittlichen Freiheit Anheimgegebene begriffen.1 Die „Kunst des Lebens“ ist hier gleichbedeutend mit der Übung der Wahrheit, mit der Einübung in die „kalokagathia“.2 Die Tugend selbst kann in diesem Sinne die Kunst des ganzen Lebens genannt werden.3 Strabo, der Geograph, ist das Sprachrohr einer ganzen Epoche, wenn er es als die Sache der Philosophie bezeichnet, sich um die Lebenskunst und das Glück zu kümmern.4 Die Lebenskunst nimmt, wie J. Sellars richtig sagt, den sokratischen Gedanken der Selbstsorge bzw. der Sorge um die Seele wieder auf (vgl. Sellars 2007, 95 f.) Sokrates soll auf die Frage, was Wissen sei, geantwortet haben: Sorge um die Seele.5 Das Wissen der Lebenskunst, das steht für griechische Ohren fest, ist weder ein artifiziell-ästhetisches noch ein abstrakt-theoretisches Wissen. Es ist das Wissen der Sorge um sein Selbst.6 Aristoteles bezeichnet es im Unterschied zum Herstellungswissen als das praktische Wissen. Es drückt ein praktisches Selbstverhältnis aus, das sich nach den Vorstellungen der gesamten antiken Philosophie, der platonischen wie der aristotelischen, der stoischen wie der epikureischen und nicht zuletzt auch der christlichen Philosophie in verschiedenen geistigen, intellektuellen wie auch imaginativen Übungen äußert. Zu den wichtigsten gehören die Übungen der Aufmerksamkeit. Es war 1 2
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Vgl. Epiktet, Dissertationes I 15, 2. Siehe dazu Sellars 2007, 95. Vgl. Maximus, Dialexeis 16, 3 e1: Toàto ¹ diatrib», toàto ¹ scol», ¢lhqe…aj melšth, kaˆ tšcnh b…ou kaˆ ·èmh lÒgou, kaˆ paraskeu¾ yucÁj, kaˆ ¥skhsij kalokagaq…aj. Philo, Legum allegoriarum I 57: Ólou g¦r toà b…ou ™stˆ tšcnh ¹ ¢ret», […]. Vgl. Strabo, Geographica I 1, 1. Vgl. Stobaeus, Anthologium II 31, 79: Swkr£thj ™rwthqe…j, t… ™pist»mh, œfh· ™pimšleia yucÁj. Vgl. auch Jamblich, Protrepticus 38, 21: dÁlon Óti kaˆ perˆ yuc¾n kaˆ t¦j yucÁj ¢ret£j ™st… tij ™pimšleia kaˆ tšcnh [...].
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besonders die Stoa, die die philosophische Haltung einheitlich als die Aufmerksamkeit auf sich selbst aufgefasst hat. Die Aufmerksamkeit ist eine Bewusstseinshaltung, die ständige Übung der Anspannung des Bewusstseins. Sie ist von der Sorge um das Selbst bestimmt, aber zugleich verschafft sie dem in diesem Sinne Philosophierenden die Freiheit von den Sorgen dieser Welt (¢merimn…a).7 Durch die Aufmerksamkeit wird dem Subjekt bewusst, wie es um es selbst steht im Ganzen des Kosmos. Deswegen sind schon der platonische Timaios, die stoische Physik und die christlichen Genesis- und Ecclesiastes- Kommentare Formen der – wie P. Hadot es nennt – „gelebten Physik“. Durch die Aufmerksamkeit auf sich selbst erlangt das Subjekt aber auch das Bewusstsein vom Stellenwert seiner Gedanken und sprachlichen Äußerungen. Nicht zuletzt aber hat sie auch eine moralische Bedeutung. Denn durch die Aufmerksamkeit achtet das Subjekt auf die Reinheit seines Willens und seiner Absicht, es ist in diesem Sinne wachsam auf sich bedacht. Die Selbstbewahrung solcher Art nennt die gesamte antike Philosophie, die christliche eingeschlossen, die Hut oder Wachsamkeit, mit der der Philosophierende um sein Inneres besorgt ist. Die moralische Selbstaufmerksamkeit ist somit die Sorge um den eigenen Willenszustand. Sie sucht nach allen Seiten die moralischen Gefahren vom Subjekt abzuwenden. Solches besorgendes Umsehen, das nicht mit dem sorgenfreien Umherschauen des Theoretikers verwechselt werden darf, heißt nach dem stoischchristlichen Philosophieverständnis die „Umsicht“. Die Umsicht ist das von der Sorge um sich selbst getriebene Wahrnehmen des Nützlichen und Schädlichen, die praktische Form des dem Philosophen eigenen Sehens, die in der antiken, in der antik-christlichen und der mittelalterlichen Philosophie, besonders in der Mystik, bis hin zu Heidegger immer von der Theorie-Konzeption der aristotelischen Tradition unterschieden wurde.8 7
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So heißt es etwa bei Clemens von Alexandria, Stromata II 20, 120: DiÒ moi doke‹ Ð qe‹oj nÒmoj ¢nagka…wj tÕn fÒbon ™part©n, †n' eÙlabeˆv kaˆ prosocÍ t¾n ¢merimn…an Ð filÒsofoj kt»shta… te kaˆ thr»sV, ¢di£ptwtÒj te kaˆ ¢nam£rthtoj ™n p©si diamšnwn. Zu den Termini technici der Aufmerksamkeit und der Umsicht vgl. Kobusch 2000; 2001. Neben den dort genannten Belegstellen vgl. auch Ephraem Syrus, In illud: Attende tibi ipsi 6, Bd. II, 160: PrÒsece oân seautù, ¢gaphtš: m¾ ¢mšlei tÁj ˜autoà swthr…aj: […]; ders., Sermo asceticus, Bd. I, 162: `O dä prosšcwn ˜autù, ›xin ¢gaq¾n ¢nalabèn, ebd., 152: PrÒsece dä seautù, m» pote e„j ·vqum…an ™kdèsVj sautÒn. (Ps.)-Johannes Chrysostomus, Epistula ad monachos 128: PrÒsece seautÕn kaˆ pantacÒqen seautÕn periskšptou. Macarius, Sermones 1, 3, 5, p. 261: ¢ll¦ met¦ p£shj n»yewj kaˆ prosocÁj kaˆ mer…mnhj ¢gaqÁj t¾n œreunan kaˆ prosoc¾n toà noà ˜k£stote mšn, m£lista dä ™n tÍ proseucÍ poie‹sqai spoud£swmen (Mit aller Nüchternheit und Aufmerksamkeit und guter Sorge wollen wir uns bemühen, die Forschung und Achtung des Geistes zwar eigentlich immer, besonders aber während des Gebetes durchzuführen).
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Die Selbstaufmerksamkeit ist in der Antike selbst schon als die praktische Form des an Sokrates gerichteten pythischen Spruches „Erkenne Dich selbst“ und damit des Themas der Selbsterkenntnis verstanden worden.9 Die christliche Philosophie hat ausdrücklich dem pythischen Spruch eine praktische Nuance abgewonnen. In der praktischen Selbsterkenntnis prüft sich die Seele in einer Gewissensprüfung, ob sie eine gute oder böse Disposition hat und ob ihr Handeln ihrem Charakter als Bild Gottes entspricht oder nicht.10 Die besorgende Umsicht bezieht sich insbesondere auf das Gewissen und wird so zum prüfenden Blick.11 Der praktische Charakter der Selbstaufmerksamkeit wird noch deutlicher erkennbar, wenn man bedenkt, dass das so verstandene gnîqi seautȩn, dessen zweifache Übersetzung „nosce te ipsum“ und „scito te ipsum“ Ambrosius ausdrücklich akzeptiert, den geistigen Hintergrund der Abaelardschen Ethik mit dem Titel Scito te ipsum darstellt.12 Was darüber hinaus für die antike und frühmittelalterliche Philosophie im Zusammenhang der Aufmerksamkeit, d. h. der um das Selbst besorgten Erkenntnis typisch und prägend ist, das ist die Tatsache, dass auch die Phantasie in die Dienste dieser praktischen Selbsterkenntnis gestellt wird. Besonders die Stoiker, aber auch weite Kreise der christlichen Philosophie haben die Funktion der Phantasie darin gesehen, dem menschlichen Leben den Charakter des Als-Ob zu verleihen. Nach dieser Vorstellung wird die Wahrheit des Lebens offenbar, wenn in imaginativen Übungen ein Blick von außen auf es möglich wird. Die wahre philosophische Haltung besteht darin, sich immer die gesamte condition humaine „vor Augen zu halten“ und alles, was meistens geschieht, im Geist zu antizipieren. Der philosophische Mensch hat so seine Freunde, „als ob“ er sie eines Tages verlieren werde, und er verliert sie, „als ob“ er sie noch hätte. Das Leben im Als-Ob ist ein Leben unter ständigem Vorbehalt, unter ständiger Prüfung. In diesen Zusammenhang gehört auch die imaginative Übung, sich und sein Tun den 9
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Zur Verbindung von Selbsterkenntnis und Aufmerksamkeit auf sich selbst vgl. auch Clemens von Alexandria, Stromata II 15, 71, 3 (Anm. 14), p. 151: safšsteron dä tÕ `gnîqi sautÕn` paregguîn Ð MwusÁj lšgei poll£kij `prÒsece seautù`. Vgl. Origenes, In Canticum Canticorum II 5, 1–40. Vgl. z. B. Laktanz, Divinae Institutiones VI 13, 1, p. 532: „circumspice conscientiam tuam et quantum potes, medere vulneribus.“ Siehe auch Cassiodor, Expositio psalmorum 10, 6, 106, p. 115: „sed unusquisque circumspiciat conscientiam suam, de qua nouit solum dominum ferre iudicium.“ Vgl. Ambrosius, Expositio Psalmi 118, 2, 13, p. 27: „tibi ergo adtende ibi, ubi potiorem esse te nosti. nosce te ipsum, quod Apollini Pythio adsignant gentiles uiri, […]“; ebd. 118, 10, 10, p. 208: „nosce te ipsum, homo; tuae animae dicitur in Canticis: nisi cognoueris te formosam in mulieribus“; und Exameron VI 7, 42, p. 233: „Tibi igitur adtende, te ipsum scito […].“
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prüfenden Blicken eines möglichen idealen Beobachters ausgesetzt zu fühlen. „Lebe so mit den Menschen“, heißt es bei Seneca, „als ob Gott es sähe, und sprich so mit Gott, als ob die Menschen es hörten“ (Epistula 10, 5). Der imaginative Blick aus kosmischer Höhe vermittelt dem Menschen, wie es wahrhaft um ihn steht, nämlich „dass du nach nicht langer Zeit niemand und nirgends sein wirst“ und „dass die Zeit nahe ist, da du alle vergisst und alle dich vergessen“.13 Die imaginative Vergegenwärtigung des Todes schließlich bringt das menschliche Leben in seiner Ganzheit vor sich selbst. Das stoisch-christlich verstandene Leben im Als-Ob ist also nicht die Vorspiegelung einer alternativen Lebensweise, nicht die Flucht in ein anderes Leben, nicht die Hypothetisierung des jetzigen Zustands, sondern im Gegenteil ist es der absolute Ernst, die absolute Vergegenwärtigung, die Vergegenwärtigung des Todes (vgl. Kobusch 2002a). Den Tod zu bedenken ist aber seit alters die Sache der Philosophie. Genauer gesagt ist es der kathartische Teil der Philosophie, der später Ethik genannt wird. Die geistigen Übungen der Antike haben somit allesamt einen ethischen Charakter.
II. Kritik der Lebenskunst Was der modernen Lebenskunst von ihren Kritikern besonders vorgeworfen wird, ist die These von der Selbsterschaffung des Subjekts, die sich schlüssig aus dem ästhetischen Modell der Lebenskunst zu ergeben scheint und in Nietzsches Philosophie prominent vorgezeichnet ist. Nietzsche selbst hatte das Thema vorgegeben: „Es ist Mythologie zu glauben, dass wir unser eigentliches Selbst finden werden, nachdem wir dies und jenes gelassen oder vergessen haben. So dröseln wir uns auf bis ins Unendliche zurück: sondern uns selber machen, aus allen Elementen eine Form gestalten – ist die Aufgabe! Immer die eines Bildhauers! Eines produktiven Menschen!“14 Foucault hat die Grundidee aufgenommen. Der Selbsterschaffungsprozess ist danach eine Art creatio ex nihilo, jedenfalls ist es das Erschaffen von „etwas ganz anderem, eine vollständige Innovation“. W. Kersting, der Lebenskunstkritiker, hat herausgestellt, dass es zum Programm des ästhetischen Lebenskünstlers gehört, ein besonderes Leben, keins wie die anderen zu führen und: „er ist sein eigenes Gesetz“ (Kersting 2007, 29). Die ästhetische Lebenskunst W. Schmids scheint der Kritik eine Stufe tiefer zu stehen als die auf dem Fundament der Machtanalytik angesiedelte Lebenskunsttheorie Foucaults. Sie ist die postmoderne Variante der Foucaultschen Position. Dementsprechend ist auch das Zentrum der modernen 13 14
Marcus Aurelius, Selbstbetrachtungen XII, 21. F. Nietzsche, KSA 9, 361.
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Lebenskunstphilosophie, die Illusion von der Selbsterschaffung, bei Wilhelm Schmid mit der Vorstellung von einem „postmodernen Jahrmarkt der Existenzmöglichkeiten“ verbunden. Was die moderne Kritik dieser Lebenskunstkonzeption entgegenhält, läuft auf eine vernichtende Ablehnung hinaus. Die ästhetische Lebenskunst wird vor allem dem menschlichen Leben nicht gerecht: „Dieses ästhetische Modell romantischer Lebensgenies hat nichts mit der Wirklichkeit menschlichen Lebens zu tun. Und eine Lebenskunst ist nicht gut beraten, wenn sie sich dieses Kreativitätsparadigma einreden lässt.“ (Kersting 2007, 33) Die Idee der Selbsterschaffung weist zudem nur in die Zukunft, sie lässt jeden Sinn für die Vergangenheit vermissen. Die Kritik erinnert demgegenüber an die aristotelische Einsicht, dass wir Hypoleptiker sind, d. h. unter Endlichkeitsbedingungen leben und an Vorgegebenes anknüpfen müssen. Wie weit diese Abhängigkeit vom Vorhergehenden und Anderen geht, darin scheint sich die Kritik nicht einig zu sein. W. Kersting sagt: „Wir erschaffen uns nicht, und wir erfinden uns nicht: wir widerfahren uns“ (ebd., 38). D. Thomä dagegen, der ebenfalls eine lesenswerte Kritik an der Lebenskunst im selben Band verfasst hat, sieht es anders: „Das Leben ist nichts, das uns nur widerfährt“ (Thomä 2007, 238). Als Kritik der Lebenskunst bzw. der Nietzscheschen Konzeption der Selbsterfindung muss auch jene Theorie des Selbst gelesen werden, die den praktischen Charakter der Selbstverhältnisse durchschaut hat. R. Jaeggi stellt dem in ihrer Arbeit Entfremdung das Modell der „Selbstaneignung“ gegenüber. Selbstaneignung ist ein praktischer Vorgang. Mit Recht kennzeichnet R. Jaeggi ihn als einen Prozess, der „immer mit der Existenz eines ‚Vorgängigen‘ rechnet, das er einholt und transformiert“ (Jaegi 2005, 223).15 Die Kritik an der Lebenskunst wäre freilich noch besser gelungen, wenn der Eindruck vermieden worden wäre, als stammte diese Konzeption wie auch der Gegenbegriff der Entfremdung von K. Marx. Es war vielmehr – was in unserem Zusammenhang von Bedeutung ist – die Lebensformphilosophie schlechthin, nämlich die Stoa, die die Lehre von der „Oikeiosis“ und der Selbstentfremdung des Menschen erstmals entfaltet hatte. Die Kirchenväter haben sie kolportiert.16
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Zur stoischen Selbstaneignung vgl. auch Schmid 1999, 393. Vgl. z. B. Galen, De placitis Hippocratis et Platonis V 5, 16: e„ g¦r m¾ ta‹j fwna‹j, ¢ll¦ tÍ ge dun£mei tîn legomšnwn Ðmologe‹n œoiken Ð CrÚsippoj æj œstin o„ke…ws…j tš tij ¹m‹n kaˆ ¢llotr…wsij fÚsei prÕj ›kaston tîn e„rhmšnwn. Siehe außerdem Clemens von Alexandria, Stromata IV 13, 94: o‰ män di¦ t¾n o„ke…wsin, o‰ dä di¦ t¾n ¢pallotr…wsin t¾n ™k proairšsewj prosagoreuqšntej·
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Die sachliche Berechtigung der Kritik an der Lebenskunst kann kaum in Zweifel gezogen werden. Tatsächlich führt die ästhetische Lebenskunst zu jenem einseitigen Blick auf die Zukunft, der gänzlich vergisst, woher wir kommen. Tatsächlich bleibt der Sinn für Schicksal und Zufall – gemäß dem scharfsichtigen Urteil von O. Marquard vor über 30 Jahren (vgl. Marquard 1977; Kersting 2007, 36) – in allen Allmachbarkeitsillusionen auf der Strecke, und so auch in der Selbstmachbarkeitsillusion der ästhetischen Lebenskunst. Tatsächlich kann das Leben nicht als Material für die Gestaltung des Lebens verwendet und so auch das Leben nicht als Kunstwerk begriffen werden. So sehr man dieser konzeptionellen Kritik an der Lebenskunst wird zustimmen müssen, so sehr fällt einem auch das zugrunde liegende historische Durcheinander, von dem die Kritik sich zum Teil nährt, in den Blick. Es ist nicht nur die grobe Subsumierung der antiken von P. Hadot sogenannten Lebensformphilosophie unter das Dach der Lebenskunst, die unsachgemäß ist, weil sie – woran erinnert werden soll – unterstellt, dass die antike Lebensform auch als eine Form der ästhetischen Lebenskunst erscheinen könnte. Vor allem scheint die Kritik an der Lebenskunst jedoch zu verkennen, dass die gesamte Lebensformphilosophie praktischen Ursprungs ist und diesen Charakter auch in jenen Disziplinen beibehält, die, wie zum Beispiel die Metaphysik, traditionell für spekulative Wissenschaften gehalten wurden (vgl. Kobusch 2006a, 145 ff.; 226 ff.). Der praktische Charakter der Lebensform ist gerade an dem Beispiel am deutlichsten zu erkennen, das Nietzsche zur Veranschaulichung des Selbsterschaffungsparadigmas diente, nämlich das Bildhauergleichnis, das, nachdem es Mark Aurel vorgeformt, von Plotin in seine klassische Form gebracht wurde, ehe es von Meister Eckhart im Zentrum seiner „Lebemeister“-Philosophie rezipiert wurde.17 Der Sinn des Gleichnisses ist bei Plotin und Eckhart ein ganz anderer. Was beide Autoren sagen wollen, ist, dass die Seele einer materiellen Statue gleicht, die vom Bildhauer, d. h. von uns selbst so lange zu bearbeiten ist, bis das wahre Selbst der Seele zum Vorschein kommt. Die Arbeit des Menschen an seinem Selbst besteht in der Offenlegung eines in ihm selbst Verborgenen. Es ist ein Reinigungsakt, eine moralische Läuterung, eine praktische Selbstformung, die hier gemeint ist und die nichts mit einer individuellen Selbsterschaffung im ästhetischen Sinne zu tun hat.18 17 18
Vgl. Plotin, Enneade I 6, 9; Meister Eckhart, Von dem edlen Menschen, DW V, 17– 24, 113. Zu Eckharts Lebemeister-Begriff vgl. Kobusch 2005. Shusterman 2001, 31 erkennt freilich gerade in dem Bildhauergleichnis Plotins das „ästhetische Modell“. Doch gilt es, den Schönheitsbegriff der modernen ästhetischen Existenz von der griechischen „Kalokagathia“ zu unterscheiden. Vgl. dazu Kersting 2007, 28.
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Die Kritik an der Lebenskunst hat darüber hinaus einen historischen Bezug hergestellt, der ganz irreführend ist. Sie sagt, dass die Idee des demiurgischen Selbst sich bis Giovanni Pico della Mirandola zurückverfolgen ließe (vgl. Kersting 207, 21). Doch geht Picos Idee eines das Wesen formenden Willens ihrerseits auf das Denken der griechischen Kirchenväter zurück, die – gegen Aristoteles – den Vorrang der „Prohairesis“ vor der „Usia“ proklamiert hatten (vgl. Kobusch 2008). Es ist jedoch absolut evident, dass diese Lehre, wie auch die entsprechende Umdeutung der platonischen Seelenwanderungslehre, in einem moralischen Sinne aufzufassen ist. Wenn die Kirchenväter und so auch Pico von einer nicht festgelegten und erst durch den Willen zu bestimmenden Natur des Menschen sprechen, so gehört dies also in den Kontext einer Philosophie als Lebensform, nicht aber der Lebenskunst. Zwischen der ästhetischen Selbsterschaffung und dem totalen Widerfahrnischarakter des Lebens gibt es ein Drittes, ein Mittleres, nämlich die moralische Selbstgestaltung, die per definitionem, sei es im Sinne der aristotelischen „Hypolepsis“, sei es im Sinne der stoischen „Oikeiosis“, an ein Vorgängiges anknüpft und es zu einer neuen Gestalt transformiert. Das bei Foucault und Schmid allenthalben antreffbare Novitätspathos ist der Lebensformtradition völlig fremd. Sie weiß nämlich wie keine zweite Formation der Philosophie, dass die Wahrheit niemals das ganz Neue, sondern das Alte ist, an das neu angeknüpft werden muss. Die Überzeugung, dass die Wahrheit das Neue ist, ist selbst – historisch gesehen – ganz neu. Die Lebenskunst aber und ihre Kritik tun so, als sei es ein alter Hut. Was merkwürdigerweise von der Kritik der Lebenskunst kaum beanstandet bzw. zum Teil auch mitgetragen wird, ist die individualistische Umdeutung der antiken Konzeption durch die Lebenskunst. Ob M. Foucault, W. Schmid oder auch R. Rorty von der Selbsterschaffung des Menschen oder der Selbsttransformation des Subjekts sprechen – sie meinen alle das individuelle, ja sogar das empirisch kontingente Selbst. Die Antike aber hatte durchweg kein positives Verhältnis zum Individuellen. Nicht zuletzt in Platons Auffassung vom philosophischen Dialog wird das deutlich. Denn die Dialoge werden zwar von individuellen Personen bestritten, aber im Verlauf des Dialogs tritt ihre Individualität immer mehr in den Hintergrund. Der Dialog selbst, in dem durch den Elenchos die gemeinsame Wahrheit ausfindig gemacht wird, ist schon eine Weise jener (aus dem Phaidon bekannten) Übung im Sterben, insofern die partikuläre Individualität aufgegeben wird, um dem allgemeinen Logos zu folgen (vgl. Schaerer 1936, 41; Hadot 1999, 88). Auf diese Weise muss als das Subjekt des Transformationsprozesses in der antiken Philosophie immer ein Allgemeines angesehen werden. Deswegen ist das Selbst, von dem die antike Philosophie spricht, kein individuelles.
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Schließlich ist da der berühmte Blick des Selbst von außen auf sich selbst. B. Williams hat in einem berühmten Buch Shame and Necessity das griechische Denken überhaupt als eine Schamkultur bezeichnet. Nach dieser Konzeption ist die Scham eine Antizipation eines Gefühls, das entsteht, wenn man sich von jemandem beobachtet weiß. Genauer gesagt handelt es sich um die Vorstellung eines idealisierten, gewissermaßen nicht beteiligten Beobachters von außen, eines „generalized other“ (vgl. Williams 1993). W. Schmid hat das Thema des Blicks von außen – berechtigterweise – insbesondere mit der stoischen Philosophie in Zusammenhang gebracht. Er hat aber zugleich diesen Blick im ästhetischen Sinne umgedeutet, indem er ihn als die – dem Blick der Ironie sehr verwandte – Abstandnahme von dem „Ernst des Faktischen“ begreift (vgl. Schmid 1999, 256; 376; 394). Die Kritik an der Lebenskunst hat ihn in enge Verbindung mit der Idee der Selbsterschaffung gebracht. Falsch sei es, so sagt sie, das menschliche Leben als eine Selbsterschaffung aus dauerhafter Außenperspektive auszulegen und ihm von außen seine Qualitätsvorstellungen aufprägen zu wollen. Doch scheint weder die eine noch die andere Deutung der griechischen Konzeption des Blicks von außen gerecht werden zu können. Er ist weder, was B. Williams unterstellt, ein verobjektivierender Blick, der die Wahrheit des in seiner Situation verflochtenen Selbst quasi theoretisch aufscheinen lassen könnte, noch ist er die ästhetische Abstandnahme, die erst eine Selbsterschaffung ermöglichte. Der Blick von außen, die Perspektive eines idealisierten oder auch konkreten Anderen gehört vielmehr auch in den Zusammenhang des weiter oben schon berührten Themas des Lebens im Als-Ob. Lebe, als ob Du von einem solchen Anderen beobachtet würdest – das ist die griechische Maxime. Der Blick von außen ist also in Wahrheit der Blick der Sorge auf das Selbst. Es ist ein Abstand nehmender Blick, der gewissermaßen mehr sieht und in umfassenderem Sinne besorgt sein kann als das in der konkreten Lebenssituation verwobene Selbst.
III. Selbsttransformation und Selbsterschaffung Was die antike Lebenspraxis und die moderne Lebenskunst hauptsächlich miteinander verbindet, ist die Idee der Selbsttransformation bzw. der Selbsterschaffung. Will man das Eigenartige der modernen Idee erkennen, so ist es notwendig, die Geschichte des Grundgedankens zu berücksichtigen. Die Umgestaltung der Seele gehörte offenbar schon bei den Stoikern zu den üblichen praktischen Übungen. Seneca berichtet, dass Ariston von Chios die intensivste und innerlichste Aneignung bestimmter philosophischer Lerngegenstände, wie zum Beispiel dessen, was gut und böse ist, in
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der entsprechenden inneren Umwandlung gesehen hat.19 Auch die berühmte Formulierung der „Homoiôsis theô“ im Dialog Theätet Platons, die ja selbst einen eindeutig praktischen Charakter verrät, war in der Rezeptionsgeschichte vielfach der Anstoß für die Konzeption der Selbsttransformation. Nicht nur, weil Plotin und Porphyrios unterstreichen, dass die Tugend allein die Verähnlichung mit Gott darstelle; auch nicht nur die Tatsache, dass die Neupythagoreer dies mit dem Thema der Selbsterkenntnis verbanden, spricht für diese Sicht der Dinge. Darüber hinaus wird nämlich diese platonische Formel besonders in der Ammoniusschule gebraucht, um das Wesen der Philosophie überhaupt zu bezeichnen – neben vielen anderen möglichen Bezeichnungen. Das zeigt, dass die Idee der sittlichen Vergottung allen anderen Formen des Philosophierens zugrundeliegend gedacht wurde. Die christliche Philosophie hat in diesem Zusammenhang ein Übriges getan. Sie hat nicht nur öfter auf die Theätetstelle Bezug genommen bzw. sie auch auszitiert,20 sondern den Verähnlichungsprozess auch ausdrücklich als eine Selbsttransformation der Seele gedeutet. Besonders Gregor von Nyssa hat innerhalb einer – im Vergleich mit der aristotelischen – neuen Metaphysiktradition die Metaphysik selbst als eine derartige Übung des Geistes angesehen, in der sich das erkennende Subjekt verwandelt. Der Mensch ist ein Verwandlungskünstler. Nicht zufällig steht der Begriff der „TropƝ“ im Zentrum der Gregorschen Anthropologie.21 Allem so genannten Essentialismus abhold hat Gregor den Willen als das das Wesen bestimmende Element angesehen. In berühmten Worten ausgedrückt: „Und wir sind gewissermaßen die Väter unserer selbst, indem wir uns selbst als die hervorbringen, die wir sein wollen, und durch unseren Willen uns nach dem Modell bilden, welches wir wollen.“22 In eben diesem Sinne ist auch die Verähnlichung mit Gott zu verstehen. Sie ist eine Selbsttransformation der Seele.23 Die Erkenntnis des Göttlichen besteht nicht länger in der bloßen Betrachtung eines vorgegebenen höchsten Gegenstandes, sondern in der „Gottwerdung“. Gregor sagt ausdrücklich, dass die Seele göttlich „wird“, indem sie auf das Gleichnis der unzerstörbaren Schönheit und das Abbild
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Seneca, Epistula 94, 4: „Philosophia, inquit, dividitur in haec, scientiam et habitum animi; nam qui didicit et facienda ac vitanda percepit nondum sapiens est nisi in ea quae didicit animus eius transfiguratus est.“ Vgl. z. B. Clemens von Alexandria, Stromata II 22, 133; Eusebius, Praeparatio Evangelica XII 29, 15; Theodoret, Graecarum affectionum curatio XII 21, 6. Vgl. z. B. Gregor von Nyssa, De perfectione christiana, 213. Siehe dazu Kobusch 2006a, 68 f. Gregor von Nyssa, De vita Moysis II, 34, u. 56. Vgl. auch ders., In Ecclesiasten 6, 318. Zu diesem Aspekt vgl. die Belege in Kobusch 2000, 483.
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der wahren Gottheit, das sie selbst ursprünglich ist, schaut und in der Nachahmung „jenes wird, was jener ist“.24 Auf diese Weise kann von einer „Verwandlung“ oder „Veränderung des Lebens“ durch die Philosophie gesprochen werden.25 Wenn Gregor gefragt wird, was das Christentum, also das Christsein sei, so antwortet er bezeichnenderweise: „Homoiôsis theô“.26 Die Verähnlichung mit Gott besteht aber in der moralischen Reinheit, Leidenschaftslosigkeit und der „Entfremdung“ gegenüber allem Bösen. Sie ist es, wodurch das Leben „geformt“ wird.27 Es ist zwar eine durch den Willen des Menschen bewirkte Selbsttransformation, um die es sich hier handelt, aber sie ist nach Gregor trotzdem nicht eigentlich ein Werk der menschlichen Schöpferkraft, denn in der sog. ersten Schöpfung wurde schon der menschlichen Natur die Ähnlichkeit mit dem Göttlichen verliehen, so dass die sittliche Gottverähnlichung die Aktualisierung einer ursprünglichen Verwandtschaft darstellt.28 Was Gregor durch diese dogmatische Lehre sagen will, liegt auf der Hand: Die aktuelle Natur des Menschen, das, wozu der Mensch sich jeweils macht, hat schon eine Geschichte. Die Gestaltung des Selbst, die in gewisser Weise eine Selbsterschaffung ist, ist keine creatio ex nihilo, sondern die Formung eines schon Vorliegenden. Gregors Lehre von der Selbsttransformation der Seele als einer praktisch-metaphysischen Tätigkeit, die auch in gewissem Sinne eine Selbsterschaffung genannt werden kann, gehört in das Umfeld der neuplatonischen Vergöttlichungslehren, aus dem sie zugleich hervorragt. Sie ist, ohne dass sie im Mittelalter völlig vernachlässigt würde, in der Renaissancezeit, besonders bei Giovanni Pico della Mirandola wiederaufgenommen worden. Schelling und Schopenhauer haben die Grundidee aufgegriffen und erläutert, inwiefern der Wille sein „eigener Schöpfer und sein eigenes Geschöpf“ sein kann. J.-P. Sartre hat in diesem Sinne es als das erste Prinzip des Existentialismus bezeichnet, dass der Mensch nichts anderes ist, als wozu er sich macht.29 Gerade vor dem Hintergrund dieses existenzialistischen Grundgedankens wird der Anspruch der ästhetischen Theorien M. Foucaults und der „Lebenskunst“ einerseits und der Selbsterschaffungs-
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Gregor von Nyssa, In Canticum Canticorum or., 2, 68. Gregor von Nyssa, In diem luminum, 238: tÍ metabolÍ toà b…ou […]. Vgl. auch ders., Canticum Canticorum or., 7, 223. Gregor von Nyssa, De creatione hominis, 33. Vgl. Gregor von Nyssa, De hominis opificio, PG 44, 137. Vgl. Gregor von Nyssa, De virginitate, 300. Zur Geschichte der Selbsterschaffungsidee von den Kirchenvätern bis zur biologischen Selbsterschaffung im Rahmen des transhumanen Denkens der Hypermoderne vgl. T. Kobusch 2006b.
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lehre R. Rortys andererseits, die beide auf ihre Weise der Philosophie Nietzsches folgen, deutlich. Während Sartre in der Geworfenheit oder Faktizität des menschlichen Daseins seine Kontingenz sieht, wird entweder, wie die Kritik an der Lebenskunst herausstellt, alles Kontingente und Zufällige in der Theorie an die Seite gedrückt oder, wie bei Rorty, lediglich als idiosynkratische Bedürfniskumulation begriffen.30 Zweifellos stellen die Selbsterschaffungslehren Foucaults und Rortys noch einmal eine Steigerung gegenüber Sartres Idee der schöpferischen Existenz dar: „Indem sich beide Nietzsches Diktum aneignen, sich selber zum Kunstwerk zu machen, verfechten sie das philosophische Leben als radikale originelle Selbsterschaffung“ (Shusterman 2001, 8). Und doch relativieren sich diese radikalen Selbsterschaffungslehren, die nicht nur, wie im Falle von Foucault und Rorty, das Leben als ein im Sinne des avantgardistischen Künstlers oder Baudelaireschen Dichters radikal neu zu Schaffendes begreifen, sondern auch, wenngleich im Anschluss an Nietzsche, die eigene Theorie für ein ganz Neues halten. R. Shusterman, der Pragmatist, hat gezeigt, dass die Selbsterschaffung des Baudelaireschen Dandy oder des ironischen Ästheten ebenso von öffentlichen Zwängen eines vorgegebenen Ethos bestimmt ist wie andere individuelle Handlungen auch. Er hat sie sogar als die philosophische Widerspiegelung des Warenkonsums unserer spätkapitalistischen Konsumgesellschaft entlarvt, insofern sich die Anbetung des Neuen auf höherer Ebene vollzieht (vgl. Shusterman 1994, 239). Auch die philosophischen Ansprüche dieser Theorien relativieren sich mit Blick auf die Geschichte. Außer dem Anspruch auf Neuheit ist kaum etwas an ihnen wirklich neu. Zieht man die lange Tradition der Lehre von der Selbstverursachung mit in Betracht, so schrumpft ihre Originalität noch mehr (vgl. Kobusch 2002b). Sie sind in ihrer Substanz alte Ethik und Theologie, denen das Mäntelchen des „Ästhetischen“ umgehängt wurde. Selbst jenes von Shusterman ausgemachte einheitliche Dewey-Wittgenstein-Foucault-Modell (vgl. Shusterman 2001, 87), nach dem die Transformation des Selbst in einem ständigen Wachstum, in stetigem Fortschritt, in unaufhörlicher Selbsterweiterung und Selbsttranszendierung besteht, erscheint doch, auch wenn die Autoren sich auf Nietzsche berufen, als jener auf den Boden geholte metaphysische Gemeinplatz, den wir gerade wieder von dem großen Kirchenvater Gregor von Nyssa kennen. Seine These war, dass das menschliche Glück, auch das jenseitige, in einem immerwährenden Wachsen und Fortschreiten, im Immer-tiefer-eindringen in
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Zur Kritik an Rortys Kontingenzbegriff vgl. Shusterman 2001, 106.
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die Gottheit besteht. Die These war ganz neu, aber Gregor wusste, im Unterschied zu den postmodernen Neuerern, dass die Wahrheit das Alte ist.
IV. Die Mystik: Lebemeisterphilosophie Die moderne Lebenskunst hat jedoch der Selbsterschaffungstheorie gewissermaßen nicht uneingeschränkt das Wort geredet. Vielmehr hat sie den Blick von außen als ein Element einer Tugend verstanden, die auch von der Lebenskunstkritik geschätzt wird, nämlich der Gelassenheit. So sagt W. Schmid: „Zur Gelassenheit gehört […] der Blick von außen“ (Schmid 1999, 394), und sein Kritiker W. Kersting betont: „Wir müssen sie [scil. die Autonomie] mit der Gelassenheit vermählen“ (Kersting 2007, 38). Auf diese Weise kommt die Idee einer Haltung des Selbst ins Spiel, die aus der Geschichte der philosophischen Lebenspraxis stammt, jedoch nicht antiken Ursprungs ist. W. Schmid behauptet, die Haltung der Gelassenheit gehe zurück auf die stoische Vorstellung der Seelenruhe und habe, in ihrer theologischen Gestalt, den mittelalterlichen und modernen Voluntarismus freigesetzt. Doch die Gelassenheit ist gar keine antike Tugend, und der Voluntarismus hat andere Gründe als die Theologisierung der Gelassenheit. M. Heidegger hat in seiner Gelassenheitsschrift, in der es um die rechte Einstellung gegenüber der modernen Technik geht, mit Recht auf die Mystik verwiesen, wo, besonders bei Meister Eckhart, der Begriff der Gelassenheit erstmals entwickelt wird. Nach Meister Eckhart meint die Gelassenheit jene Haltung, in der der Mensch alle Dinge dieser Welt hinter sich lässt und sie als ein Nichts, d. h. als für sein Selbst Unbedeutendes ansieht. Es ist keine Weltverachtung oder Weltverneinung, die aus solchen Worten spricht. Denn die Welt ist dem gelassenen Menschen gerade wieder auf neue Weise zuteil geworden.31 Dies Motiv des Loslassens der Dinge dieser Welt verrät ein weiteres Mal den Einfluss des Neuplatonismus. Plotin hat die Dialektik von Loslassen und Präsenz in neuer Weise durchdacht. Eckhart fügt dem ein wichtiges Element wahrer Gelassenheit hinzu: das Sichlos-lassen – obwohl auch dieses Motiv im Neuplatonismus schon vorgeprägt worden zu sein scheint. Nur derjenige Mensch ist wahrhaft gelassen, der „sich selbst und diese ganze Welt gelassen“ hat und „niemals mehr nur einen Augenblick auf das sieht, was er gelassen hat“. Ein solcher lebt, weil er gegenüber sich selbst und „allen geschaffenen Dingen tot“ ist, so dass er
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Vgl. Meister Eckhardt, Predigt 42, DW II, 306.
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seiner selbst so wenig achtet wie eines tausend Meilen Entfernten.32 Der gelassene Mensch achtet somit nicht auf sich selbst.33 Doch, so wird man fragen müssen, verträgt sich das denn mit dem Grundgedanken aller Lebensformphilosophie, nämlich mit dem Gedanken der Sorge um sich selbst? Die Frage führt hin zum Grundgedanken einer Dialektik, die das ganze Werk Meister Eckharts, ja der Mystik insgesamt bestimmt. Je mehr die philosophische Vernunft sich aus Sorge um das wahre Selbst zu sich selbst hinwendet, je stärker sie aus diesem Grund die Achtung und Aufmerksamkeit auf sich selbst intensiviert, je angestrengter sie die Konzentration auf sich durchführt, um so gelassener wird sie, d. h. um so mehr lässt sie sich los, um so weniger achtet sie auf sich, um so mehr vergisst sie sich selbst. Die besorgte Hinwendung zum eigentlichen Selbst macht die individuellen Neigungen und partikulären Triebe des kontingenten Selbst vergessen. Die Gelassenheit ist so die Verwirklichung der Selbstsorge. Sie ist kein augenblickhaftes Erlebnis, sondern eine geistige Übung, durch die das menschliche Bewusstsein die Transformation seiner selbst vollzieht. Der gelassene Mensch ist der in der Gelassenheit geübte Mensch.34 Die Gelassenheit gehört zum Reigen jener geistigen Übungen, die, wie zum Beispiel das Durchbrechen, der mystische Tod, die Gottesgeburt oder die Selbstvergessenheit, die Ichwerdung, d. h. die Gottwerdung des Menschen fördern. Diese Elemente der Eckhartschen Philosophie sind aber nicht die Merkmale eines Einzelgängers, sondern konstitutive Elemente des mystischen Denkens aller Zeiten. H. Seuse und J. Tauler haben sie übernommen. Meister Eckhart hat in diesem Sinne zwischen dem Lesemeister und dem Lebemeister unterschieden. Der Lesemeister – dem nach scholastischem Brauch eine bestimmte Funktion im akademischen Leben zukam – steht bei Eckhart für den lebensfernen, abstrakt-theoretischen Denker, der Lebemeister dagegen ist der Philosoph der Lebenspraxis, der in geistigen Übungen sein Selbst gottwürdig formen kann. Es ist somit die Mystik, die im Mittelalter als die legitime Erbin der antiken Lebensformphilosophie anzusehen ist. Sie ist es auch später im Wesentlichen, die neben einer immer stärker auftrumpfenden abstrakt-theoretischen
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Meister Eckhardt, Predigt 12, DW I, 201 ff. Dem Sinn nach ähnlich: Ebd. 198: Vünde ich mich einen ougenblik in disem wesene, ich ahtete als wênic ûf mich selben als eines mistwürmelîns. Vgl. Meister Eckhardt, Predigt 28, DW II, 61. Zum neuplatonischen Hintergrund vgl. Kobusch 1986. Bei Plotin, Enn. III 8, 9, 30 ist vom „Zurückweichen“ und „Sich-lassen“ des Geistes die Rede (oŒon e„j toÙp…sw ¢nacwre‹n kaˆ oŒon ˜autÕn ¢fšnta…) Vgl. Meister Eckhardt, Predigt 12, DW I, 203; Werke I, 879, 959 ff.
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Philosophie das antike Bewusstsein von der dem Leben verpflichteten Philosophie wachgehalten hat.
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III. Gesellschaftliche Positionen: Die Außenperspektive
Die deliberative Gesellschaft: ein Brückenschlag von der philosophischen Reflexion zur politischen Konstitution Christoph Böhr Im nachfolgenden Beitrag soll die Frage nach der bleibenden Bedeutung der Philosophie aus der Sicht der Politik beantwortet werden. Dieser Versuch einer Beantwortung der Frage vollzieht sich in fünf gedanklichen Schritten: Zuerst wird die Bedeutung herausgearbeitet, welche die Philosophie für die konstitutive Inkraftsetzung der Politik hat; ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Betonung einer personalistischen Philosophie, die um den Begriff der Menschenwürde kreist (Teile I–III). Anschließend soll ein Bild der gegenwärtigen Gesellschaft gezeichnet werden, in dem besonders der konstruktive Beitrag der philosophischen Reflexion zu den Prinzipien, Prozeduren und der Praxis einer deliberativen Demokratie in den Blick gerückt wird (Teil IV). Zum Abschluss (Teil V) werden die vorangegangenen Erträge im Blick auf die titelgebende Frage nach dem „Warum“ der Philosophie aus der Sicht der Politik erörtert. Dass die Entfaltung der Theorie des Politischen und der Prinzipien der deliberativen Demokratie durchgängig auf historische wie auf rezente Überlegungen der politischen Philosophie verweist, ist vielleicht schon ein erstes Indiz für den Stellenwert, der ihr in diesem Unternehmen zukommt.
I. Die Konstitution von Intersubjektivität: eine phänomenale Evidenz In jenem Augenblick, in dem ein Mensch beginnt, die Nähe anderer Menschen zu suchen und es darauf anlegt, anderen Menschen in deren Blickfeld zu erscheinen, beginnt die Geschichte einer Beziehung, die bis zu seinem Lebensende andauert und tagtäglich an Vielschichtigkeit gewinnt: nämlich die Lebensgeschichte des Menschen als Austritt aus seiner Subjektivität und dem damit einhergehenden Eintritt in die Intersubjektivität, die sich später zur Interpersonalität entfaltet. Dieser Aufbruch kommt jedoch keinem Abschied gleich: Der Mensch gibt seine Subjektivität nicht
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auf wie jemand, der Haus und Hof verlässt. Lebenslang bleibt sie der Ort, an dem er zu Hause ist. Aber er tritt, als Bewohner dieses Hauses, hinaus in den größeren Raum, der seine Subjektivität umschließt: die Agora. Dieser die eigene Subjektivität bergende Raum ist nichts anderes als die fremde Subjektivität der Anderen. So konstituiert sich Intersubjektivität, wie immer sie im Einzelnen beschaffen sein mag, als jener Raum, in dem ein Mensch lebt – als Forum des Politischen. Wenn nun der Mensch – sei es am Anfang seines Lebens noch unbewusst, sei es später bewusst und willentlich – in den seine Subjektivität umgebenden größeren Raum der Intersubjektivität eintritt, entdeckt er die Vielschichtigkeit der Wechselbeziehungen, in die er sich freiwillig begibt oder in die er unfreiwillig einbezogen wird. Eine Spielart des Intersubjektivismus nennen wir Interaktion: als eine Weise – neben anderen Formen – der Gestaltung von Kommunikation, mit der wir die Art unserer Bewältigung von Intersubjektivität bezeichnen. Tritt der Mensch in eine Interaktion ein – hier verstanden als die handlungsbezogene Form der Entfaltung und Gestaltung von Intersubjektivität und deren Bewältigung durch Kommunikation – und handelt er im Bezugsfeld zu anderen Menschen, bedarf es bestimmter Regeln, die sein Handeln – wie sich später zeigen wird: unter der Bedingung von Wechselseitigkeit – leiten. In einer Interaktion stellt sich allen Beteiligten auf Schritt und Tritt die Frage, wie der Abgleich zwischen den eigenen Erwartungen und den Erwartungen des Gegenübers geregelt werden kann – und wie in gelingender Weise ein Ausgleich zwischen eigenen und fremden Absichten vorzunehmen ist. Denn wenn jemand sich weigert, nach einem solchen Ausgleich zu suchen, wird ihn eine Ausgrenzung treffen, die ihn aus dem Raum der Intersubjektivität vertreibt, den zu betreten er sich gerade entschlossen hatte. Also sucht er den Ausgleich – und um ihn nicht von Fall zu Fall wagen zu müssen, sucht er nach Regeln, die sein Handeln in die Richtung des gesuchten schiedlichen und auskömmlichen Miteinanders lenken. Wer setzt diese Regeln in Kraft? Und wer zwingt sie solchen Mitspielern auf, die nicht daran denken, nach Regeln zu handeln? Und welche Mittel stehen zur Verfügung, um Regeln jene Geltung zu verschaffen, die eine Handlungsleitung allererst zur Regel macht? Doch nur die eine und einzige Gewalt, die wir mehr oder weniger bereit sind, über unseren Kopf hinweg schalten und walten zu lassen: die staatliche, genauer: die politische Gewalt. Politik ist die ihrem Anspruch nach verbindliche Organisation von Gewalt in einem allgemeinen und in einem besonderen Sinn. Sie aktualisiert eine Potenz, die wir gemeinhin Macht nennen. Unter Macht verstehen wir nichts anderes als die Potentialität einer fallweise zu aktualisierenden Gewalt. Das Telos, dem Macht und Gewalt unterliegen, ist nicht einfach zu
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beschreiben und nimmt seinen Ausgang in den beiden ganz unterschiedlichen Sichtweisen derjenigen, die Macht besitzen, einerseits, und derjenigen, die sich der Macht zu fügen haben, andererseits. Wer Macht besitzt, will sie in der Regel behalten, und wer sich der Macht zu fügen hat, ist in der Regel darauf bedacht, dies mit einer gewissen inneren Zustimmung und nur in bestimmten verbindlichen Grenzen zu tun. Die Politische Philosophie seit Platon müht sich um die Aufdeckung dieser Zusammenhänge und hat dabei eine Neigung entwickelt, die Frage des Machterwerbs und der Machtgestaltung im Rahmen eines – von mir hier so genannten – autoritativen Paradigmas zu beantworten: Beide Seiten, Herrscher und Beherrschte, haben sich unter das Joch einer Autorität zu begeben: Dieses Joch ist die normative Theorie gerechter Machtgestaltung (durch die Herrschenden) und des ihr geschuldigten billigen Gehorsams (seitens der Beherrschten).1 Warum jemand nach der Macht greift, bedarf im Umfeld einer Erörterung der Politischen Philosophie nicht nur der Begründung, sondern gar einer Rechtfertigung. So will es die Theorie der Politik. Der Mächtige schuldet den normativen Ansprüchen der Theorie gerechter Herrschaft Gehorsam. Das wirkliche Leben ist dieser Vorstellung allerdings nie gefolgt. In ihm ist der Wille zur Macht allein ausschlaggebend. Und auch aus der anderen, entgegengesetzten Sichtweise derjenigen, die sich der Macht zu beugen haben, hat die Politische Philosophie einen Maßstab entwickelt, dem im wirklichen Leben wenn überhaupt, dann nur aus Höflichkeit nicht widersprochen wird: Gehorsam schuldet der Beherrschte in dem Maß, in dem es den Herrschenden gelingt, ihren Machtanspruch gemäß den Vorgaben der Gerechtigkeit zu begründen. Auch dieser Vorstellung ist das wirkliche Leben selten gefolgt – schon deshalb, weil das, was gerechte Herrschaft ist, mit verbindlicher Gewissheit selten auf der Hand liegt und meist nicht mit jener Schnelligkeit bestimmt werden kann, mit der eine politische Entscheidung zu fallen hat. So gleicht die normative Theorie oft genug der Eule, die erst am Ende des Tages die Lage überblickt, nachdem die Würfel längst gefallen sind.
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Für den Gegenentwurf, mit dem Herrscher und Beherrschte in unterschiedliche Ordnungen gestellt werden, steht am Beginn des neuzeitlichen Denkens die Theorie von Niccolò Machiavelli, der Abstand nahm von der Überzeugung, dass Herrscher und Beherrschte – bei unterschiedlichen Rechten – sich in ein- und denselben Ordnungsrahmen einer ihnen gleichermaßen vorgegebenen Wahrheit einzufügen haben; Sternberger 1978, 159 ff., hier bes. 193, nennt Machiavelli den Begründer des zweiten, neuzeitlichen, von ihm dämonologisch genannten Begriffs von Politik – nach dem klassischen politologischen und vor dem modernen eschatologischen.
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Aus diesen – und manch anderen Gründen – erwuchs jene Fremdheit zwischen Politischer Philosophie und realer Politik, die fast immer, wenn sie überwunden zu sein schien – man denke an den Antimachiavell Friedrichs des Großen und dessen Anziehungskraft auf die Philosophen seiner Zeit –, gleich auch schon wieder zerbrochen ist. Realpolitik bedarf der Sozialphilosophie nicht. Die Handlungsbedingungen der Politik unterscheiden sich grundlegend von den Maßstäben der Philosophie. Sucht diese beispielsweise nach Schlüssigkeit, so ist in der Politik das Durcheinander dem Erfolg keinesfalls abträglich. Im Kern geht es um zwei ganz verschiedene Bestimmungen dessen, was unter Erfolg – durchaus auch im Sinne eines Telos verstanden – zu verstehen ist: Der politische Erfolg bemisst sich, bis heute, einzig an der Bestätigung eines Machtanspruchs, ein Erfolg der Philosophie hingegen – ich greife bewusst zu dieser Wortwahl, weil sie die Inkompatibilität der beiden Sachbereiche zum Ausdruck bringt – bemisst sich, wie immer man ihn bestimmt, auf jeden Fall anders: als Erkenntnis. Die vita activa und die vita contemplativa mögen sich im Einzelfall auf eine nette Weise ergänzen, aufeinander angewiesen sind sie nicht. Ist nun diese nüchterne Bestandsaufnahme gleichbedeutend mit der Abdankung der Politischen Philosophie? Ist die in die Formel „Warum Philosophie?“ gekleidete Frage nach dem Sinn und der Bedeutung philosophischer Bemühungen aus Sicht der Politik bzw. des Politikers einfach nur abschlägig zu beantworten? Mitnichten. Denn die Politische Philosophie ist Philosophie, die ihre Bedeutung und ihren Zweck keinesfalls von ihrer Brauchbarkeit für die Realpolitik ableitet. Philosophie ist, so nützlich sie von Fall zu Fall auch im wirklichen Leben sein mag, immer Erkenntnis um der Erkenntnis willen. Dass damit vielfältige Segnungen für die Gesellschaft einhergehen – und manchmal auch Verführungen verbunden sind –, steht auf einem anderen Blatt. Im vorliegenden Zusammenhang ist nur der Hinweis wichtig, dass sich das Denken nicht einfach abschalten lässt. Und wenn auch die Politik der Philosophie nicht bedarf, um sich ihres Erfolges zu vergewissern, so kommt doch eine Gesellschaft nicht umhin, mit Philosophie umgehen zu lernen, die – als philosophisch-politische Reflexion – nichts anderes ist als das Gespräch über die Frage nach der Selbstbestimmung von Gesellschaft. Darum soll es im Folgenden gehen: Was verbirgt sich hinter der Frage nach dem Anspruch und der Aufgabe gesellschaftlicher Selbstbestimmung? Oben war davon die Rede, dass Politische Philosophie, seitdem es sie gibt, auf ein autoritatives Paradigma Bezug nimmt: also Herrscher wie Beherrschte unter das Joch zwingen will, einer so oder so bestimmten Vorstellung geglückten Lebens zu folgen. Diese Bestimmung, je mehr wir an die Gegenwart heranrücken, fiel dabei immer minimalistischer aus: Folge einer europäischen Programmidee, die man, wenn auch unscharf, mit dem Begriff der Individualisierung beschreiben kann. Individualisierung beschreibt
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die politische Konsequenz einer philosophischen Theorie – die Theorie des Subjektivismus, die alles im Erkennen und im Handeln zuletzt festmacht am Subjekt. Alle ernstlichen Widersprüche – man denke nur an die Wirkmächtigkeit der marxistischen Theorie, die das Subjekt als Erscheinung eines abgeleiteten Überbaues verstehen wollte – sind am offenkundigen ‚Erfolg‘ der Theorie des Subjektivismus gescheitert – nur am Rande sei bemerkt: Hier übrigens zeigt sich ein neues Sinnverständnis eines Erfolgsmaßstabes einer philosophischen Theorie. Im Ergebnis hat der Siegeszug der Subjektphilosophie, die ihren politischen Ausdruck in einer voranschreitenden Individualisierung fand, zu einem der größten Beben der Neuzeit geführt: dem Zusammenbruch der kontinentaleuropäischen totalitären Regime, die man, wenn man ihrem Verständnis als politische Religion folgt, auch als ein letztes Aufbäumen einer Denkhaltung verstehen muss, der zufolge sich das Zusammenleben der Menschen im Gehorsam einer höheren, dem Menschen übergeordneten Wahrheit gestalten soll. Dabei waren die in ihrer Substanz eher platten Ideologien (von rechts und links) des letzten Jahrhunderts nur noch die Schwundstufe vorangegangener (mittelalterlicher und neuzeitlicher) Versuche, die gesellschaftliche Ordnung als Abbild einer vorangehenden höheren Ordnung des Seins zu denken. Das so verstandene autoritative – also Gehorsam für die dem Menschen vorausgehende Wahrheit fordernde – Paradigma für den Entwurf einer gesellschaftlichen Ordnung ist 1989 endgültig zerbrochen, zunächst jedenfalls in Europa. Die Bürger Europas ringen um ein neues Verständnis von Freiheit und beginnen allmählich mit einer Beratschlagung darüber, welche Möglichkeiten und Gefahren ein Leben in Freiheit bietet. Kurzum: Die Europäer haben sich – notgedrungen – aufgemacht, zum ersten Mal in ihrer Geschichte sich mit der Frage zu beschäftigen, was es bedeutet, in einer Gesellschaft zu leben, die in ihrem Selbstverständnis nicht einem autoritativen, sondern einem deliberativen Paradigma folgt. Was ist unter diesem Begriff zu verstehen? Bevor der Begriff selbst erläutert werden kann, muss noch einmal daran erinnert werden, dass jede Gesellschaft eines Bezugspunktes bedarf, der aller Realpolitik vorausgeht, indem er diese allererst in Kraft setzt. Dieser Bezugspunkt findet sich in der Entscheidung, das Beziehungsverhältnis der Intersubjektivität, wie sie sich zwischen sich begegnenden Subjekten einstellt, unter politischen Aspekten – also Machtgesichtspunkten – zu ordnen. Für diese Ordnung bedarf es eines Kriteriums, und zwar nicht nur unter legitimatorischen, sondern zunächst und vor allem unter organisatorischen Gesichtspunkten, wie Thomas Hobbes mit heute noch beeindruckender Klarheit erkannt hat. Die Staatsorganisation folgt, alles in allem, der gesellschaftlichen Vorstellung, wie zulässige und wirksame Rollenbestimmungen – im Raum der Intersubjektivität – festgelegt werden können. Diese Vorstellungen folgen ihrerseits einer
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Teleologie – einer Zielbestimmung, in deren Dienst die Vorstellung von der Ordnung der Verhältnisse steht. Die Grundfrage lautet demnach: Wem oder was verdankt sich die Vorstellung, der eine Ordnung folgt? Die Politische Philosophie hat in ihrer langen Geschichte unterschiedliche Zielbestimmungen entwickelt und erörtert. Seit Platon waren es vor allem die Konzepte der Wahrheit und der Gerechtigkeit, die als eine solche Zielbestimmung galten. Hobbes hat dem als gebranntes Kind seiner Zeit widersprochen und einen klugen Gegenentwurf entwickelt, weil er erkannt hat, zu welcher Friedlosigkeit der erbitterte Kampf um die Wahrheit führen kann. So läutet er scheinbar eine neue Epoche ein – nicht durch die Außerkraftsetzung der Idee, die auch Hobbes anerkennt, sondern durch die Unterordnung der Bestimmung dieser zugunsten eines ihr übergeordneten Zieles, nämlich der Gewährleistung von Schutz und Sicherheit. Wohl in der inhaltlichen Festsetzung dieser Zielbeschreibung, nicht aber im Rang, den Hobbes ihr zuerkennt2, unterscheidet er sich von seinen Vorgängern. Zwar ist seine Zielbeschreibung – die Gewährleistung von Sicherheit – der Sache nach als Zweck aller politischen Zwecke neu, aber auch sie zwingt die Menschen unter ihr Joch: Denn auch sie macht eine höhere Wahrheit geltend, der Menschen sich unter Zwang zu beugen haben. Auch Hobbes entwickelt sein Gesellschaftsbild – und die Maßstäbe gesellschaftlicher Ordnung – unter den Vorzeichen eines autoritativen Paradigmas: als Ableitung von einem Telos, das aller Subjektivität vorausgeht und dieser immer vorgeordnet bleibt. Erst Immanuel Kant hat die Subjektivität des Menschen politisch in ihr Recht gesetzt und nicht nur zum Schein, sondern tatsächlich die Grundlage für die Überwindung des autoritativen Paradigmas gelegt. Er zeichnet ein Bild von Gesellschaft, das nicht mehr Maß nimmt an einer ihm vor- und übergeordneten Wahrheit. Seit Kant verzichtet die Politische Philosophie endgültig darauf, gesellschaftliche Streitfragen als Wahrheitsfragen misszuverstehen – und begibt sich, in Folge dieses dem Recht auf Freiheit geschuldeten Verzichts, doch erneut auf schwankenden Grund: Denn an die Stelle von Wahrheit kann offenbar nicht schlechterdings die Beliebigkeit treten. Nicht der anarchische Liberalismus, sondern der staatliche Liberalismus – die Ordnung der Freiheit – entspricht Kants Vorstellung philosophischer und politischer Konstitution im Subjekt. 2
Thomas Hobbes erlebte zu seiner Zeit das Verhältnis von Glaube und Vernunft – Wahrheit und Gesetz – als einen Dualismus, der seiner Meinung nach schnurstracks in den politischen Bellizismus führt, und setzte an die Stelle dieses Dualismus ein neues monistisches Prinzip, den Machtspruch. Dabei übersah er allerdings, dass die Verbannung des Glaubens aus der staatlichen Sphäre eine Leere entstehen lässt, die regelmäßig schon bald durch einen anderen Glauben, schlimmstenfalls durch einen Aberglauben, gefüllt wird; vgl. dazu Böhr 2009a, 74 ff., hier 88 f.
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Damit erhält der Begriff der Ordnung eine Schlüsselbedeutung, besser gesagt: Er behält die Bedeutung, die er immer schon hatte. Aber in seinem Sinn wird er jetzt neu gedeutet: als die Mitte zwischen Zwang und Willkür. Er leitet sich – anders als in der mittelalterlichen Philosophie – jetzt, in seinem neuzeitlichen Verständnis, nicht mehr ab von der dem Menschen vorangehenden Ordnung des Seins. Doch hat er sich von der Wahrheit des Seins und dessen Ordnung auch nicht völlig gelöst. Aber er nimmt eine andere Bedeutung von Wahrheit in sich auf. Der neuzeitliche Begriff der Ordnung baut eine Brücke zwischen dem, was in der Gesellschaft zur Entscheidung freigestellt, und dem, was eben nicht verhandelbar ist. Er achtet die Freiheit, die er gleichzeitig unter Regeln stellt. Aber nach welchem Gesichtspunkt tut er das, wenn als Voraussetzung seiner Anerkennung gilt, dass darauf verzichtet wird, die Freiheit einzuschränken? Der Gesichtspunkt, nach dem sich die Regeln der freiheitlichen Gesellschaft bemessen, findet sich in ihrer Zielsetzung der Ermöglichung von Freiheit. Jede Regel in der Gesellschaft der Freiheit muss sich messen lassen an dieser Zielsetzung: nicht als Restriktion des Handelns, sondern als Option zum Handeln. Regeln in der freiheitlichen Gesellschaft entwickeln sich aus der Entfaltung des Prinzips der Reziprozität3, das nichts anderes meint, als Räume der Selbstbestimmung so zu vermessen, dass ein Optimum an wechselseitiger Optionalität zum selbstbestimmten Handeln erreicht wird. Nur am Rande sei auf die Voraussetzung dieses Verständnisses gesellschaftlicher Regeln verwiesen: Vorausgesetzt wird, dass im Recht der Subjektivität die Freiheit zur Selbstbestimmung gründet, die wiederum den Zweck jeder Ordnung bestimmt. Eben dieser Vorstellung, dass alles im Subjekt seinen Ausgang nimmt, verdankt sich demnach die Ordnung der Gesellschaft: Die Wahrheit der freiheitlichen Gesellschaft ist der Mensch, ihre Methodologie ist der Anthropozentrismus. Die Folge der philosophischen wie politischen Konstitution im Subjekt findet sich im Regelwerk einer gesellschaftlichen Deliberation, die nichts voraussetzt, nichts für unverfügbar hält und nichts, die kleinen wie die großen Fragen, von der Beratschlagung ausnimmt – mit einer einzigen Ausnahme: nämlich die Überzeugung von der Unverfügbarkeit des Subjekts. 3
Zum philosophischen Motiv des Prinzips der Reziprozität vgl. Sepp 2009, 449 ff., hier 460: „Im gelingenden Ausgleich übersteigen wir uns wechselseitig, und diese Übersteigung ist nur dann wirklich, wenn ihr ein metaphysisches Begehren zugrunde liegt: die Lösung vom Verhaftetsein an das Eigene ebenso wie die Einsicht, das Andere (und das Eigene) nie ausloten und nie wirklich haben zu können.“ In diesem Sinn baut Reziprozität eine Brücke über die Differenz von Subjektivität und Intersubjektivität.
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II. Die vorgängige Konstitution des konstituierenden Subjekts Das hat weitreichende Folgen. Bevor darüber zu sprechen sein wird, bedarf es noch eines kurzen Blicks auf die grundlegende Bedeutung des Subjekts, das aller politischen Konstitution vorausgeht. In dieser phänomenalen Evidenz erkennt die freiheitliche Gesellschaft ihre eigene, die ihr unmittelbar zugehörige und sie beatmende Wahrheit. Deren Entfaltung spannt den Rahmen der freiheitlichen Gesellschaft auf. In ihr gibt es nichts, was unter den Bedingungen der Freiheit nicht der Verfügbarkeit preisgegeben wäre – außer dem, was die Freiheit als Freiheit begründet. Was also begründet die freiheitliche Gesellschaft, das nicht preisgegeben werden kann, ohne damit zugleich die freiheitliche Gesellschaft selbst preiszugeben? Die Antwort auf diese Frage haben die Mütter und Väter der deutschen Verfassung mit dem ersten Satz des Grundgesetzes gegeben: Die Würde des Menschen ist unantastbar. In diesem Satz – seinem Bekenntnis zum Menschen als Bekenntnis zu seiner unantastbaren Würde – findet sich die Wahrheit, durch die eine freiheitliche Verfassungsordnung, innerhalb derer eine Gesellschaft sich selbst und frei bestimmt, zuallererst durch ihren Schöpfer, den Souverän, in Kraft gesetzt ist. Diese Wahrheit wird anthropologisch, ja anthropozentrisch bestimmt: Das alleinige Fundament des Verfassungsstaates, seine Wahrheit, findet sich in der Freiheit seines Schöpfers, des Menschen. Es sind also die Deutung und die Auslegung dieses Satzes, genauer: die Art und Weise der Entfaltung des Verständnisses menschlicher Würde, von denen Wohl und Wehe einer freiheitlichen Gesellschaft im Sinne ihres dauerhaften Gelingens abhängen. Dieser Satz bedarf der Erläuterung. Denn seinem Sinn nach versteht er den Begriff der unantastbaren Würde als Telos einer freiheitlichen Ordnung – ein Telos freilich, dass die Gesellschaft, wenn sie sich als freie verstehen will, sich selbst vorzugeben4 gehalten ist: ein Menschenbild, das 4
Als Programmidee am Beginn der Neuzeit findet sich dieser Gedanke, dessen Wurzeln weit in die Antike reichen und der in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten zu einem Sinnverständnis fand, wie es uns heute noch zu eigen ist, bei Giovanni Pico della Mirandola: Dem Menschen ist „es gegeben, das zu haben, was er wünscht, und das zu sein, was er will.“ (Pico 1988, 11) Pico hat diesem Satz eine Deutung des Menschen durch seinen Schöpfer vorausgeschickt, gleichsam als eine theologische Legitimation seiner philosophischen Anthropologie: Er, der Mensch, ist weder als Himmlischer noch als Irdischer, weder als Sterblicher noch als Unsterblicher geschaffen, damit er selbst die Form bestimmt, in der er zu leben wünscht. Picos Bestimmung menschlicher Würde erklärt auch, warum niemand einem Menschen die Würde, sich selbst zu bestimmen, nehmen, er sie schlimmstenfalls nur selbst verfehlen kann. Gedruckt wurde die Schrift erstmals 1496, rund zehn Jahre nach ihrer Entstehung. Es hat fast ein halbes Jahrtausend gedauert, bis Picos Gedanke Eingang gefunden hat in unser amtliches Verständnis der Legitimität staatlicher Konstitution.
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nicht aufgegeben werden kann, wenn die Gesellschaft entschlossen bleibt, nicht den einzigen Grund ihrer Selbstgründung und Selbstbestimmung preiszugeben. Gerade weil die freiheitliche Gesellschaft sich im Bekenntnis zu einem Menschenbild verankert, kann es nicht verwundern, dass in ihr – die immer und vorrangig dissentierende Gesellschaft ist – weltweit und allerorten über die Bedeutung des Begriffs der Würde gestritten, gar erbittert gekämpft wird. Ausgetragen wird diese Auseinandersetzung im Streit zwischen zwei Schulen: derjenigen, die dem Begriff der Würde in seiner sachlichen Bedeutung eine Teilhabe am Absoluten zuerkennt, und der anderen, die in diesem Begriff keinen Widerspruch zum Relativismus zu sehen vermag. Je nach Verständnisweise kann der Begriff nämlich sehr Unterschiedliches bezeichnen, selbst dann, wenn ihm als bestimmendes Beiwort die Unantastbarkeit hinzugefügt wird. So beziehen sich Befürworter und Gegner geradezu gegensätzlicher politischer Programme auf ein und denselben Begriff. Die Befürworter eines relativen Begriffsverständnisses verweisen vor allem auf seine Herkunft, die ihnen Anlass ist, den Begriff zu historisieren – als Hinterlassenschaft eines vormaligen naturrechtlichen Denkens, das sich seinerzeit selbst als unmittelbare Antwort auf die Rechtsbeugung im Dritten Reich verstanden hat. Jede Verfassung hat ihren geschichtlichen Ort, auf den diejenige verweisen, die für ein angeblich zeitgemäßes Verständnis dieses Begriffs werben – ein Verständnis, das Deutungsspielräume eröffnet, was hier und heute unter Würde zu verstehen ist. Andere naturalisieren den Begriff der Würde, wie das eine Minderheit der Hirnforscher tut, die ihm die Anerkennung seiner Bedingungslosigkeit verweigern, indem sie geltend machen, das Bewusstsein des freien Willens beruhe auf einer unterstellten Täuschung des Ich durch sein Gehirn. Versuche solcher Historisierung und Naturalisierung des Begriffs finden sich heute in Hülle und Fülle. Ihnen widerstreitet ein Verständnis, das unter Würde – anders als die von ihm abgeleiteten Rechte, die oft genug gegeneinander abgewogen und miteinander vereinbart werden müssen – die Teilhabe des Menschen am Unbedingten schon innerhalb der Grenzen seiner Endlichkeit begreift. Kant hat diese Anlage des Menschen als dessen Grundbefindlichkeit beschrieben und in einem treffenden Bild zum Ausdruck gebracht: „Wenn wir die Natur als den Continent unserer Erkenntnisse ansehen, und unsere Vernunft in der Bestimmung der Grenzen derselben besteht, so können wir diese nicht anders erkennen, als sofern wir das, was die Grenzen macht, den Ocean, der sie begrenzt, mit dazu nehmen, davon wir aber nur noch die Ufer erkennen, nämlich Gott und die andere Welt, die notwendig als Grenzen der Natur betrachtet werden, obzwar von ihnen unterschieden und für uns unbekannt.“ (Kant 1992, 822)
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Folgt man dieser Anthropologie, die der Natur des Menschen über die Bestimmung der Möglichkeiten seiner Erkenntnis – und den Grenzen seiner Vernunft – Kontur verleiht, dann bringt der Begriff der Würde eben diese Fähigkeit, über die Enge aller sinnlichen Wahrnehmung hinausblicken zu können, zur Geltung: Als Mensch hat der Mensch einen Blick für das Unbedingte, das Absolute. Diesen Blick hält ein Begriff von Würde offen, der die metaphysische Wahrheit als eine anthropologische Wahrheit bestimmt – und zwar nicht, wie diesem Satz von seinen Gegnern gerne unterstellt wird, im Sinne einer Ableitung der anthropologischen von der metaphysischen Wahrheit, sondern ganz im Sinne einer Ablösung: An die Stelle einer metaphysischen Wahrheit tritt die anthropologische Wahrheit. Sie allein kann jene Anthropozentrik5 begründen, die wir voraussetzen müssen, wenn die freiheitliche Gesellschaft nicht als einmalige Deduktion6 (von einer höheren Wahrheit), sondern als ständige Konstitution (ihrer selbst) – als eine in allen Fragen sich selbst bestimmende Gesellschaft – verstanden werden soll, mit Ausnahme eben jener einzigen, nämlich des die Gesellschaft in ihren Rechten überhaupt erst begründenden Bekenntnisses zur unantastbaren menschlichen Würde. Im Kampf um den Begriff der Würde geht es letztlich um die Frage nach dem Selbstverständnis freiheitlicher Gesellschaften schlechthin. Weil sich in der Forderung, Würde bedingungslos zu schützen, die alleinige Ausnahme vom ansonsten in jeder Hinsicht dissentierenden Selbstverständnis einer freiheitlichen Gesellschaft findet, kann der Begriff nicht historisch oder naturalistisch relativiert werden, ohne zugleich den perspektivischen Punkt einer sich aus sich selbst begründenden gesellschaftlichen Freiheit zu verlieren. Der Begriff der Würde ist der vor jeder Relativierung geschützte Bezugspunkt, der erst ermöglicht, dass in der freiheitlichen Gesellschaft ansonsten und fernerhin alles relativiert, also nach Gesichtspunkten der Willkür beliebig gedeutet und gestaltet werden darf, und zwar nach Maßstäben, die ebenfalls in der Verfügungsmacht der Gesellschaft liegen – mit jener einen genannten Ausnahme: Und diese Ausnahme ist der Mensch, genauer: seine Würde. Dieser Begriff, wie wir ihn heute verstehen, ist nicht das Ergebnis einer philosophischen Deduktion, sondern erfüllt die Aufgabe
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Vgl. Schweidler 2008, 384 ff., hier: 387: „Der Mensch wird im Konstitutionsgefüge des modernen Staates nicht deshalb vor jeder Definition geschützt, weil er keine hat, sondern weil er sie nur selbst geben kann und weil der Staat auf diese von dem Menschen selbst in seiner Freiheit gegebene, man kann auch sagen: gelebte Definition vertraut und vertrauen muss.“ An diesem Missverständnis der Bedeutung des Würdebegriffs für die Begründung von Gesellschaftlichkeit halten viele seiner Gegner fest; vgl. beispielhaft Wetz 2005, 206.
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der politischen Konstitution. Seinem Sinn nach zielt er auf die „Manifestation des Verbots jedweder Relativierung des Menschen gegenüber anderen Zwecken als demjenigen, der in seiner eigenen bewandtnislosen Unableitbarkeit existiert.“ (Schweidler 2008, 385)7 Es ist eben jene bewandtnislose Unableitbarkeit, die begründet, warum diese Präsumtion – um eine solche handelt es sich zweifellos auch hier – von allen anderen Präsumtionen nicht graduell, sondern substantiell unterschieden ist. Die bewandtnislose Unableitbarkeit des Begriffs der Würde ist eine Präsumtion im Dienst der Freiheit. Im Recht bekennt sich der Staat zu dieser Präsumtion um der Freiheit des Menschen willen, anders und nüchterner gesagt: Er verpflichtet sich auf die Bedingung, dass der Mensch selbst über seine Möglichkeiten entscheidet. Alles ist erlaubt in der freiheitlichen Gesellschaft, könnte man sagen, außer dass der Mensch sich selbst als Mensch in Frage stellt. Tut er es gleichwohl, stellt er damit unverzüglich und im gleichen Atemzug den Grund (und damit sein Recht zu) eigener gesellschaftlicher Freiheit in Frage. Wenn nämlich deren Grund widerspruchsfrei gedacht werden soll, so gelingt das nicht ohne jene Anthropozentrik, die als Grund gesellschaftlicher Freiheit zugleich die Begründung ihrer Verfassungsordnung ist. Ist nicht mehr die Selbstbezeugung des Menschen jene Wahrheit, die sein Recht begründet, dann sind es andere, jedoch außerhalb seiner Selbstbezeugung liegende Wahrheiten – wie beispielsweise die Zugehörigkeit zu einer Rasse oder einer Klasse –, die mehr gelten und höher bewertet werden als das Recht, anderer Meinung, nämlich eigensinnig sein zu dürfen. Der Grund allen Rechts, die Würde des Menschen, gilt, wenn nicht andere, außerhalb seiner Selbstbezeugung liegende Wahrheiten sich der Politik bemächtigen sollen, uneingeschränkt und unbedingt: eben bedingungslos, zu jeder Zeit und unter allen Umständen. Nur der bedingungslose Grund rechtfertigt und ermöglicht den uneingeschränkten Schutz: universell und universal, anders und in den Worten von Udo Di Fabio ausgedrückt: „disku7
Darum kommt dem Begriff der Würde im Gefüge des Selbstverständnisses zeitgenössischer Rechtsstaatlichkeit „eine eigentümliche, im ganz strikten, präzisen Sinne transzendentale Bedeutung zu. Das heißt: Im Verhältnis zu einer politischen Ordnung […] markiert der Würdebegriff eben dieses Grundprinzip innerhalb des Diskurses, der die Konstitution dieser sich so legitimierenden Ordnung rechtlich formuliert. Entsprechend […] zieht der Würdebegriff dem rechtlichen Diskurs die Grenzen, auf Grund derer das Recht den Grund seiner Geltung in den entscheidenden Verboten findet, die es auch noch der rechtlichen, also seiner eigenen Zugriffsmacht auf seinen Träger, den Menschen, zieht und ziehen muss, um sich selbst zu verstehen. Die Menschenwürde […] hat die Funktion, das Verbot jeder […] Definition, die das Menschsein dem Urteil von Menschen aussetzen würde, zu begründen.“ (ebd., 387)
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tierbar, aber eben nicht disponierbar“ (Di Fabio 2008, 65 f.). Denn jeder Grund, der an Geltungsbedingungen geknüpft ist, unterliegt nur einer eingeschränkten Gültigkeit und unterwirft folgerichtig den Anspruch des Schutzes eben diesen Bedingungen seiner Geltung. Das aber bedeutet: So verfügbar wie die Bedingungen sind, so gestaltbar wird der Schutz (vgl. Böhr 2008). Mit anderen Worten: Würde besteht dann nur unter der Maßgabe ihrer Anerkennung – und wird damit zu einer attribuierten Eigenschaft, vergleichbar der Schönheit eines Menschen. Wer sich von Schönheit nicht beeindrucken lässt, für sie nicht empfänglich ist oder einen ungewöhnlichen Geschmack hat, kann nie gezwungen werden, sie anzuerkennen. Wer aber bestimmt, was einem verbindlichen Verständnis von Würde entspricht, heute – im Wissen darum, dass auch unser zeitgenössisches Rechtsempfinden so wandelbar ist, wie es das früher und immer war? Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage zeigt sich der Grund für die Zerbrechlichkeit freiheitlicher Gesellschaften und deren ständiger Bedarf an einem selbstvergewissernden Gespräch: Von Mal zu Mal und von Tag zu Tag muss die Gesellschaft, weil sie die Voraussetzungen und Bedingungen ihrer Freiheitlichkeit nur selbst schaffen und gewährleisten kann, ihr Selbstverständnis prüfen, entwickeln und erneuern, um es dann festigen zu können. Das ist eine anstrengende und zeitraubende Aufgabe. Aber es ist die Bedingung der Überlebenskraft der Freiheit, dass sich ihrer täglich nicht nur im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger erinnert wird, sondern, wichtiger noch, lebhaft – und streitig – Regeln entwickelt und angepasst werden, deren Sinn es ist, die Bedingungen gelingenden Freiheitsvollzugs zu gewährleisten. Der Preis der Freiheit ist zu zahlen in der Münze anstrengender Auseinandersetzung: als zeitraubender und kräftezehrender Streit über die Bedingungen, die Freiheit ermöglichen. Eine Gesellschaft, die dieses Streites müde wird, steht im Begriff, ihre Freiheit zu verspielen.
III. Die deliberative Gesellschaft Unser Land hat sich erst vor kurzem auf den Weg gemacht, diese Kultur der Freiheit für sich zu entdecken. Der Westen Deutschlands befand sich bis vor sechzig Jahren, der Osten des Landes bis vor zwanzig Jahren in einem ganz anderen politischen Paradigma: Die Gesellschaft entfaltete sich im Rahmen eines Autoritätsschemas, das nicht zuließ, letzte Fragen der Orientierung und der Identität streitig zu stellen. Seit zwei Jahrzehnten nun haben sich diese Voraussetzungen grundlegend geändert: Nach einer Entautorisierungsphase, die in der westlichen Welt in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einsetzte, die übrige Welt spätestens seit 1989
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erfasst hat und deren Ausmaß uns erst allmählich bewusst wird, ist an die Stelle des vormaligen Autoritäts- ein Deliberationsschema getreten: Die Gesellschaft ist seitdem auf sich gestellt: Weder Siegermächte noch Bündniszugehörigkeit, weder säkulare Gewalten noch religiöse Mächte legen Disponibilitäten und Indisponibilitäten fest. Gerade aber aus diesem Grund muss sie sich jederzeit bewusst bleiben, auf welchem axiologischen Fundament – hier verstanden als die Legitimität aller Legalität – sie steht: als ihrem Daseins-, Ermächtigungsund Gelingensgrund. Die Axiologie einer freiheitlichen Gesellschaft ist schwach (in ihrem Umfang) und stark (in ihrer Wirkung) zugleich: Sie erschöpft sich im Willen zur Gesellschaftlichkeit – unter der Bedingung der Freiheit. Das klingt zunächst minimalistisch, ist aber tatsächlich eine gravierende Angelegenheit, weil ohne den Begriff der Würde dieser Wille zur Gesellschaftlichkeit unter den Bedingungen der Freiheit nicht dauerhaft aufrecht erhalten werden kann. Ohne den Begriff der Würde gibt es keine Architektur der Freiheit, weil Freiheit nur vom Begriff der Würde her zu denken ist. Dieser Satz beschreibt nicht, wie es zunächst scheinen mag, eine Tautologie, sondern erinnert daran, dass die Entscheidung zur gemeinschaftlichen Selbstbestimmung ihre Begründung nur finden kann in einem Bild vom Menschen, das diesen „in seiner Dignitas absolut und als Subjekt axiomatisch“ (ebd., 17) denkt: nicht als Wertentscheidung, die dieses Menschenbild selbstverständlich auch enthält, sondern zunächst und vor allem als vernünftige, in sich widerspruchsfrei gedachte Geltungs- und Gültigkeitsbedingung eines Gesellschaftsbildes, von dem gesagt werden kann, dass es freiheitlich ist: also dem Eigensinn des Menschen seinen Raum zur Entfaltung und Jedermann Schutz vor unzulässiger Beeinträchtigung zusichert. Diese Begründung der freiheitlichen Gesellschaft in der Bezugnahme auf ein Menschenbild, das die Würde absolut und das Subjekt axiomatisch denkt, beinhaltet keinesfalls, wie oft vermutet, eine Entscheidung zugunsten einer Gesellschaft, die den Individualismus vergöttert und die Solidarität missachtet. Denn die absolut gedachte Würde ist immer auch die unmittelbare Folge der Erfahrung des Pluralismus und der Überwindung des Solipsismus zugunsten von Reziprozität: Weil Menschen sich ihrer Vernunft unterschiedlich bedienen und gleichermaßen unterschiedlichen Überzeugungen folgen – die Anerkennung des logischen wie des moralischen Pluralismus demnach als unhintergehbares phänomenales Faktum vorausgesetzt wird8 –, bedarf es grundlegender Regeln zur Gestaltung der Beziehungen zwischen Menschen auf der Grundlage wechselseitiger Achtung und 8
Vgl. dazu weiterführend Böhr 2009b, 119 ff.
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Wertschätzung.9 Dabei ist jedoch immer im Blick zu behalten, dass nur ein maximal, das heißt hier: absolut gedachter Begriff der Würde mit dem Gedanken einer immer auf Universalität zielenden Reziprozität vereinbar ist, ja, die Regel der Reziprozität gerade die Universalität des unbedingten Anspruchs fordert (vgl. Bruni 2008). Wenn Würde durch Dritte attribuiert wird, beziehungsweise durch eine freiwillige oder erzwungene Selbst- oder Fremdbegrenzung von Reziprozität der Begriff der Würde für die Entscheidung über Inklusion und Exklusion von Menschen in Dienst genommen wird, kann sie nicht ungeteilt und ausnahmslos, sondern nur nach der jeweiligen Stufe ihrer – durch den Machtspruch Dritter festgelegten – Attribuierung gelten. Damit aber verliert der Begriff seinen Sinn als gleichermaßen begründendes wie gefolgertes Prinzip universaler Reziprozität – und als Maxime sozialer Interaktion. Das Bekenntnis zur Gleichheit in der Würde als dem gemeinsamen anthropozentrischen Nenner aller Beziehungsregeln ist also mitnichten nur der Individualität, sondern ebenso der Solidarität geschuldet – und, wie sich zeigt, mehr als nur ein Bekenntnis; in ihm findet sich die denknotwendige Voraussetzung einer Freiheit, die Voraussetzung aller, jedoch ausnahmslos auf Freiwilligkeit abstellender Beziehungen ist.10 Dieses Verständnis von Freiheit ist fundamental, nämlich letztbegründend für die Grundlagen eines Gesellschaftsbildes, das nicht die (durchaus gut gemeinte) Bevormundung, sondern die (oft lästige) Selbstbestimmung zum Kern ihres Selbstverständnisses wählt – in Folge der Entscheidung für ein Bild vom Menschen, das diesen als den schlechthin Unverfügbaren anerkennt. Es hat lange, sehr lange gedauert, bis sich im europäischen Denken diese Überzeugung durchsetzen konnte, und nach vielen leidvollen Erfahrungen das Recht der Person schließlich das Recht der Wahrheit ablöste. Der Mensch ist der schlechthin Unverfügbare. Was wird von uns erwartet, wenn wir diesen Satz bekennen? Gerade haben wir begonnen, darüber nachzudenken – und darüber zu streiten. Das kann gar nicht anders sein. Und vermutlich wird sich die freiheitliche Gesellschaft in ihrer Antwort auf diese Frage nie einig sein. Wichtig ist nur, dass uns bewusst bleibt: Die Frage, was von uns erwartet wird, wenn wir uns zur Wahrheit der Person bekennen, ist keine als Zumutung von außen an uns herangetragene Frage. Es geht vielmehr um die Erwartung, die wir an uns selbst richten müssen, 9
10
Diese Bedingung der Regel wird hier nicht als normative Präsumtion, sondern als Voraussetzung der Rechtfertigung eines allgemeinen Gültigkeitsanspruches eingeführt; vgl. dazu Böhr 2011. Deshalb kann die freiheitliche Gesellschaft Zwangsverheiratungen nicht dulden, auch wenn der Hinweis ihrer Befürworter, Eltern wüssten lebensalterbedingt oft besser, was für ihre minderjährigen Kinder gut sei, im Einzelfall vielleicht nicht wenig einleuchtend erscheint.
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wenn der Mensch – die Wahrheit der Person – zum letzten Maßstab seiner Ordnung wird: Es ist die Frage der freiheitlichen Gesellschaft nach dem eigenen Selbstverständnis als Inbegriff der für alle verbindlichen Regeln des Zusammenlebens. Niemand wird der Gesellschaft die Beantwortung dieser Frage abnehmen können. Nur auf dem Wege ihrer Beratschlagung lernt die Gesellschaft, sich selbst zu verstehen, und, je mehr sie beratschlagt, umso fester und beständiger gründet sich jenes Bild, das sie von sich selbst entwirft.
IV. Politik und Deliberation Nachdem bisher davon die Rede war, welche vorangehende Bedeutung die Philosophie für die Politik – als deren konstitutive Inkraftsetzung – hat, soll jetzt danach gefragt werden, welche Rolle die Politik in einer Gesellschaft der Deliberation spielt. Wie es scheint, hat sich die deutsche Politik längst im neuen Paradigma der deliberativen Gesellschaft eingerichtet – und lässt es sich dort wohl gehen. Entlastet von dem Anspruch, Führung zu zeigen, und befreit von der Last, sich selbst über Lösungen den Kopf zu zerbrechen, verweist die Politik auf ihre Bedeutung als Spiegelbild der Gesellschaft; was in der Gesellschaft ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit erreicht, findet flugs Eingang in die politische Debatte – weniger um der Sache willen, als mit dem Ziel, Menschen, die ein bestimmtes Anliegen in die Öffentlichkeit tragen, mehrheitsbeschaffend an sich zu binden. Diese Rolle der Politik als Reflektor der Gesellschaft – samt ihres organisationspolitischen Einfallsreichtums, wenn es um den Erwerb und den Erhalt der Macht geht – ist weder neu noch unheimlich. So ergibt sich, alles in allem, dem Schein nach im Medium unterhaltsamer Plauderei, dem Fernsehen, eine Beratschlagung, bei der nichts und niemand, keine Gruppe, kein Anliegen, keine Botschaft und keine Frage unberücksichtigt bleiben. Das einzige, was am Ende fehlt, ist ein Ergebnis – das es aber auch schon deswegen nicht geben darf, weil dem Medium, das die Plattform für die Plauderei bietet, dem Fernsehen, ansonsten sofort eine ungebührliche Schlagseite vorgeworfen wird. Für das Medium ist allein wichtig, alles bis zum Schluss unentschieden und unverbindlich zu belassen. Nur dann, so vermutet man, bleiben Zuschauer und Zuhörer bei der Stange, wenn nicht zu erkennen ist, wer die besseren Gründe hat. Im visuellen Medium werden nicht Gründe (für Ziele) erwogen, sondern Stile (der Selbstdarstellung) gepflegt. Diese ritualisierte Medialität ist nun das ziemliche Gegenteil einer Deliberation. Zwar fördert sie, wie in der deliberativen Gesellschaft unverzicht-
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bar, die Positionierung und die Profilierungen von Botschaften und Menschen. Aber dabei bleibt es dann auch. Das, was die Logik des Argumentierens seit je ausmacht, findet nicht statt: das vorrangige Aufspüren von Unterschieden, um folgerichtig die Gemeinsamkeiten beschreiben zu können. Die Antithesen mit ihrem (meist sehr bescheidenen) Unterhaltungswert bleiben unvermittelt neben- und gegeneinander stehen – und das Publikum bleibt bei der Stange, weil jeder bis zum Ende des Gesprächs seinem gemieteten Rollenträger zur Seite steht. Diese Form verfehlter Beratschlagung lebt von den fiktiven Identitäten ihrer Akteure: Von der erhofften Wirkung einer Meinung wird die Identität desjenigen, der sie vertritt, abgeleitet. Nicht die geprüfte Überzeugung in Kenntnis eines Sachverhalts führt zur Urteilsbildung, sondern der auf dem Politiker lastende übermenschliche Druck, wahrgenommen werden zu müssen, ist Anlass dafür, in eine Rolle zu schlüpfen, von der man sich eben diese überlebensnotwendige Wirkung erhofft. Dabei bestimmt sich das, was jemand sagt, oft nicht nach dem, was in der Sache zu sagen wäre, sondern erschöpft sich im Widerspruch zum Anderen, dem man konfrontativ gegenüber sitzt. Demnach sind es die verschiedenen Rollen, die sich in wechselseitiger Abgrenzung gegeneinander bestimmen – und genau an diesem Punkt zeigen sich Anknüpfungspunkte einer Weiterentwicklung zur deliberativen Gesellschaft. Wenn unter diesem Begriff eine Gesellschaft verstanden werden soll, in der alles und jedes der Beratschlagung offensteht, dann bedeutet das ja in der Tat, dass alles und jedes aufgespalten werden muss in eine Vielzahl mehr oder weniger wechselseitig im Widerspruch zueinander stehender Meinungen. Insoweit zeigt die deutsche Gesellschaft allererste, wenn auch noch sehr zarte Umrisse einer deliberativen Gesellschaft, die den Amerikanern lange schon zur Gewohnheit geworden ist. Eine solche Gesellschaft kennt keine Tabuisierungen, auch wenn sie von einem Tabu ins andere fällt. Das klingt zunächst paradox, zeigt sich aber bei näherem Hinsehen als Regelfall: Die täglich neu entstehenden Tabus sind die Probe aufs Exempel – sie sind Zwischenstationen auf dem Weg zur dauerhaften Geltung verbindlicher neuer Regeln. Weil keine Gesellschaft an jedem Tag alles und jedes neu bestimmen kann, andererseits aber die Übernahme alter und hergebrachter Verhaltenslenkungen nicht ungefragt übernehmen will, schafft sie tagtäglich neue Verhaltenssteuerungen, von denen die wenigsten lange überleben oder gar prägende Kraft entwickeln, bis sich dann am Ende eine Meinung herausschält, von der man erwarten kann, dass sie über den Tag hinaus Bestand hat. Manches in dieser Entwicklung erscheint von Fall zu Fall lächerlich, manchmal auch ärgerlich, wenn beispielsweise vorübergehende Moden schon bald zur Bildung neuer Tabus führen, die wir als political correctness verhaltenssteuernd und verbindlich autorisieren. Dieser komplexe
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Prozess allerdings verweist, so willkürlich er manchmal dem Betrachter erscheint, auf einen wichtigen Befund: Eine freiheitliche – deliberative – Gesellschaft ist über weite Strecken damit beschäftigt, sich selbst verstehen und sich selbst bestimmen zu lernen. Das kostet Zeit und Kraft – und es geht nicht ohne Schlagseiten, Übertreibungen und Einseitigkeiten, die dann ihrerseits wieder zum Gegenstand kontroverser Deliberation werden. Ständig müssen Regeln überprüft, angepasst und erneuert werden. Der Bedarf nach Regeln wächst mit steigender Unübersichtlichkeit – und sich überstürzender Steuerungsbedürfnisse: gestern die Ökologie, dann der Feminismus, heute das Klima und die Pädophilie, morgen die Ökonomie. Ein Krisenszenario löst das andere ab. Und so entstehen inmitten dieser turbulenten Debatten über die Anpassung von Verhaltensregeln immer wieder und oft unbemerkt hinter den Kulissen der Deliberation neue Lebensräume, die gar keine Regeln kennen – wie zuletzt die Casinoökonomie, die als künstliche Welt erschaffen wurde, bis zum Schluss für die meisten Beobachter undurchschaubar blieb und bewusst auf Regeln – mit Ausnahme einiger weniger rudimentärer Basisfunktionen – verzichtete. Zu den bis heute ungelösten Kernaufgaben der sich selbst bestimmenden Gesellschaft gehört demnach, ein Selbstverständnis zu entwickeln, das dem – wegen der Fülle der Optionen – steigenden Bedarf an Regeln Rechnung trägt. Und an eben dieser Stelle kommt wieder die Philosophie ins Spiel – umso mehr übrigens, als der zumindest in Amerika seit einigen Jahrzehnten zu beobachtende Versuch, den Regelbedarf über die mediale Reflexion zu decken, zwar keinesfalls gescheitert, aber doch zu nur unbefriedigenden, ergänzungsbedürftigen Ergebnissen geführt hat. IV.1 Prinzipien der Deliberation Am Anfang der abendländischen Denkgeschichte steht eine Einsicht, die wir als das sokratische Nichtwissen11 bezeichnen. Sokrates war vermutlich der erste Philosoph, der sich und seinen Zuhörern klar gemacht hat, dass unser ganzes Wissen am Ende unser Leben nicht trägt. Wir wissen immer mehr, und wissen doch immer weniger Bescheid. Je größer unser Wissen wird, umso mehr Fragen kommen uns in den Sinn. Und das, was wir zu wissen glauben, beruht allermeist auf erst noch zu prüfenden Annahmen und Vermutungen. Schlimmer noch: Je mehr wir wissen, umso mehr wird uns bewusst, was wir alles nicht wissen – und dass alles, was wir wissen,
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Das Leben als ganzes bleibt unberechenbar; um die Tragfähigkeit seiner jeweiligen Lebensplanungen und Lebensziele weiß der Mensch erst am Ende des Tages Bescheid – und oft genug machen ihm nicht vorausgesehene Nebenfolgen seines Handelns einen Strich durch die Erfolgsrechnung; vgl. Hinske 2003, 319 ff., hier bes. 328 f.
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im Vergleich zu dem, was wir nicht wissen, so ziemlich dem Verhältnis zwischen der Größe eines Stecknadelkopfes und den Weiten des Alls entspricht. Als Sokrates den Anspruch des Wissens entmachtete, fand die europäische Philosophie zu ihrem Thema: der Frage nämlich, wie der Mensch handeln soll, wenn er so gut wie nichts wirklich wissen kann.12 Die auf diese Frage gegebene Antwort ist eine doppelte. Wenn der Mensch kein belastbares, verlässliches Wissen über die Folgen des eigenen Handelns besitzt, kann er sein Handeln nicht über die zwar beabsichtige, ihm aber nicht hinreichend vorhersehbare Wirkung bestimmen – sondern nur über seine Form, die Sokrates Tugend nennt. Sicher sein kann ich mir im Augenblick des Handelns nur dessen, was mich zu meinem Handeln im eigenen Inneren bewegt. Alles andere verschwimmt, weil dem, der handelt, das Wissen, das er benötigt, um treffsicher seine Absichten zu erreichen, fehlt. Alles Handeln ist ein Handeln in Ungewissheit – und damit, in unserer heutigen Sprache ausgedrückt, Risikokommunikation. Da wir uns Tag für Tag und Stunde für Stunde auf diese Risikokommunikation einlassen müssen, gibt uns die erhoffte Sicherheit im Handeln nur dessen Form. In ihr vergewissert der Handelnde sich seiner Subjektivität. In einer weiteren, zweiten Hinsicht können wir die Ungewissheit um eine Kleinigkeit mindern: Indem wir nach Regeln handeln, die aus dem Prinzip der Reziprozität heraus entwickelt sind. Im Blick auf die handlungsleitende Regel vergewissert sich der Handelnde der Intersubjektivität seines Tuns. Reziprokes Handeln hält dazu an, Andere so zu behandeln, wie ich selbst von Anderen behandelt werden möchte. Damit kann ich mir zwar nicht sicher sein, dass der Andere tatsächlich so handelt, wie er von mir behandelt werden möchte. Aber alles spricht dafür, dass am ehesten diese Regel freiwillige Zustimmung findet, weil sie sich zum wechselseitigen Nutzen aller Beteiligten auswirkt. Folglich ist das Prinzip der Reziprozität der Grundsatz, der allen handlungsleitenden Regeln, sofern diese Verbindlichkeit beanspruchen wollen, zugrunde liegen muss. Die Weise des Handelns, die angesichts der Unsicherheit über seine Nebenfolgen am ehesten auf Gewissheit bauen kann, ist demnach ein Handeln, das der Form innerer Schlüssigkeit in den Beweggründen und – damit verbunden – einer Regel der Berücksichtigung von Wechselseitigkeit folgt. Diese Regel vernünftiger Verallgemeinerungsfähigkeit als Voraussetzung der Unbedenklichkeit menschlichen Handelns im Einzelfall hat den Rang eines kategorischen Imperativs, während alle Handlungsleitungen, die es
12
Genau an diesem Punkt, der Unterscheidung von Wissen und Glauben, setzt die Verhältnisbestimmung von Religion und Politik an.
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auf eine bestimmte beabsichtigte Wirkung abgesehen haben, nur den Rang eines hypothetischen Imperativs besitzen; sie bleiben Hypothese, weil wir uns weder ausreichend sicher sein können, dass unser angepeiltes Ziel richtig ist, noch hinlänglich wissen können, ob wir mit unserem Handeln tatsächlich die ihm zugrunde liegende Absicht erreichen. Die Form des Handelns und seine formgebende Regel lüften zwar nicht den Schleier des Unwissens, der die Folgen allen Handelns vor unseren Augen verbirgt. Aber sie machen den Menschen fähig zum Handeln, weil sie ihm zu seiner Hilfe ein Kriterium an die Hand geben, nach welchen vernünftigen Gesichtspunkten eine Entscheidung zu treffen ist. Da ihn sein Wissen im Stich lässt, wenn er es am dringlichsten benötigt – nämlich im Augenblick einer Entscheidung –, bleibt ihm gar keine andere Wahl, als mangels Wissen auf seine Überzeugung zu bauen: als formgebende Regel für ein Handeln in Ungewissheit. Damit werden auf den ersten Blick Handlungsoptionen eingeschränkt. Aber auf den zweiten Blick bewirkt die formgebende Regel das Gegenteil: Der Mensch bewahrt auf diese Weise seine Handlungsmöglichkeiten, die er verlöre, wenn der Stärkere den Schwächeren willkürlich beherrschte. Was folgt aus alledem für die Gesellschaft? Die Aufgabe, über die Regel als der Form des Handelns zu reflektieren, ist in der deliberativen Gesellschaft – anders als früher – eine tagtäglich neu gestellte Aufgabe geworden. In einer Welt, die verbindliche Tugendkataloge nicht mehr kennt – was keinesfalls bedeutet, dass Tugenden nicht mehr anerkannt werden –, muss die Begleitmusik der Tugenden, die nichts anderes zu Gehör bringt als Vorschläge zur Beschreibung der Formgebung des Handelns, von Fall zu Fall neu intoniert werden. Und entsprechend gilt das auch für die Regel, unter die das Handeln gestellt ist. Ihre Anwendung muss von Fall zu Fall bedacht werden, weil die Vielfalt der Handlungsoptionen gar keine andere Regel als eine auf Verallgemeinerungsfähigkeit zielende sinnvoll erscheinen lässt. Das aber ist nicht allein in den schwierigeren Fällen eine Aufgabe, die nur gemeinschaftlich zu lösen ist. Und eben diese Aufgabe steht im Mittelpunkt der deliberativen Gesellschaft. Ein gutes Beispiel dafür bietet die Politische Ökonomie, die besonders in Deutschland – und nicht nur dort – seit Jahrzehnten am Boden liegt. Es werden keine Regeln mehr entwickelt, die dem wirtschaftlichen Handeln die Richtung weisen – auch deshalb, weil die Politik keine Ziele mehr bedenkt. Worin bestand in den zurückliegenden Monaten das Ziel der Politik zur Zeit der Bewältigung der Krise der Ökonomie? Die Politik war – und ist – weit davon entfernt, eine neue Ordnung der Wirtschaft stiften zu wollen, sondern begnügt sich damit, Wunden zu verbinden, damit der Kranke bald schon wieder in den Zustand zurückversetzt wird, in dem er sich vor Ausbruch der Krise befand. Eine deliberative Gesellschaft kann sich damit nicht zufrieden geben. Und so
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beteiligen sich an dem Gespräch über eine dringend erforderliche neue Politische Ökonomie in Amerika weit mehr Menschen als vergleichsweise in Europa. Denn eine Gesellschaft und ihre Wirtschaft bedürfen, wenn sie aus dem Tritt geraten sind, nichts dringlicher als einer neuen Ordnung – also neuer Regeln, weil ja gerade deren vormalige Unzulänglichkeit dazu geführt hat, dass sie außer Tritt geraten sind. IV.2 Die Struktur des deliberativen Arguments Wie aber kann man sich eine solche gesellschaftliche Beratschlagung über ein neues Regelwerk vorstellen? Niemand wird diese Frage heute schon mit ausreichender Klarheit beantworten können. Augenblicklich ist zu beobachten, wie in den europäischen Gesellschaften neue Regeln erprobt werden, nach denen eine öffentliche Beratschlagung stattfinden kann – auf der Suche nach Regeln zur Bildung von Regeln. Dabei spielen die Medien eine herausragende Rolle. Veränderungen zeigen sich hier etwa im Blick auf die Berichterstattung über die Politik. Zwar hält dort die Entwicklung zur Personalisierung und zur Trivialisierung13 immer noch an, aber die Angebote einer sachgerechten Unterrichtung auch über schwierige Sachverhalte haben in den letzten Jahren – vor allem dank der Möglichkeiten, die das Internet bietet – spürbar zugenommen. In den Nachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehens wird kaum noch eine wichtige Meldung verlesen, ohne auf weiterführende Erklärungen im Netz zu verweisen. Gleichwohl bleibt das Problem: die Neigung zur Selbstbezüglichkeit, wie sie gleichermaßen bei Politik und Medien festzustellen ist: Autoreferentialität14 als das wohl größte Hindernis, das einer Deliberation im öffentlichen Raum der Medien entgegensteht. Denn die Beschäftigung mit sich selbst, die im Regelkreis der jeweiligen Teilzuständigkeit gefangen bleibt, stellt in der modernen Gesellschaft ohnehin eine große Verführung dar und ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was man sich unter einer Beratschlagung über die Regeln und Ziele des verbindlichen gemeinschaftlichen Zusammenlebens vorstellen kann. 13
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In diesem Zusammenhang spielt die „symbolische Politik“, wie Thomas Meyer sie beschreibt, als „eine strategische Form politischer Kommunikation, die nicht auf Verständigung zielt, sondern durch Sinnestäuschung Gefolgschaft produzieren will“, eine wichtige Rolle (Meiyer 1994, 139). Vgl. Kepplinger 1998, 222. Seitdem die Politik die wechselseitige Skandalierung als eigene Strategie verfolgt, suchen sich die Medien vor ihrer Instrumentalisierung zu schützen. Allmählich wächst die Einsicht, dass „die Anprangerung kein Erkenntnisverfahren, sondern ein Machtmittel“ ist (ders. 2001, 143) und ihre Analyse folglich unter Macht-, nicht unter Erkenntnisgesichtspunkten zu erfolgen hat.
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Die in einer arbeitsteiligen Gesellschaft unvermeidbare Aufsplitterung des Wissens in mehr oder weniger selbständige Teilbereiche, ihre Spezialisierung und Fragmentierung, begünstigen in hohem Maße die Gründung von Subsystemen nach dem Prinzip systemischer Autoreferentialität, die dann entsteht, wenn sich das Innenleben eines Subsystems von seiner Außenwelt abschottet und seine Teleologie nicht mehr auf eine außer seiner selbst liegende Referenzbasis bezieht. Eine selbstbezügliche Ordnung bestimmt ihr Telos autopoietisch. Der Regisseur, dessen Inszenierung niemand außer ihm selbst versteht, baut keine Beziehung mehr auf zu den Zuschauern des von ihm auf die Bühne gebrachten Stücks. Die Entfremdung eines ursprünglich bekannten Inhalts führt am Ende zu einer Umformung, die einen neuen Inhalt in neuen Zeichen zur Aufführung bringt, über die ihr Erfinder eine alleinige Deutungsmacht besitzt. Ähnlich verhält es sich hinsichtlich mancher wissenschaftlicher Forschungen, die ihre Fragestellung selbstbezüglich festlegen und deren sprachliche Darstellung sich selbst dem fachkundigen Leser verschließt. Dabei ist es wichtig, im Blick zu behalten, dass Autoreferentialität sich im Widerspruch und als Alternative zum Grundsatz der Reziprozität begründet. Sie zielt nicht auf die Wechselseitigkeit, sondern, im Gegenteil, auf die Einseitigkeit bei der Durchsetzung von Handlungszielen. Ihr Mittel ist immer die Macht, nämlich die Macht zur Inszenierung: in der Rolle des Künstlers, des Unternehmers, des Wissenschaftlers – und des Politikers. Gerade der letztgenannte Fall ist deshalb von Bedeutung, weil er über eine besondere Tarnung verfügt und deshalb oft schwer zu erkennen ist. Denn die Politik ist in der Demokratie in einer besonderen Weise davor geschützt, ihre Neigung zur Autopoiesis offen zu erkennen geben zu müssen: Weil regelmäßige Wahlen ihre Abschottung gegenüber der Außenwelt verhindern sollen und sie auf diese Weise den Nachweis meint führen zu können, ihre Ziele in ständiger Abstimmung mit der Außenwelt zu bestimmen. Die Gründung des politischen Subsystems als selbstbezügliche Ordnung vollzieht sich deshalb hintergründiger: Sie beginnt mit dem Verzicht auf inhaltliche Angebote in Zeiten des Wahlkampfes, geht über die Bestimmung des Wählerauftrages als einer allgemeinen Handlungsermächtigung zur Mehrheitsbildung, schließt die Bevorzugung des Streites über Köpfe statt über Meinungen und Vorschläge ein, und endet bei dem schon erwähnten Verständnis symbolischer politischer Kommunikation, der es ausschließlich um die Stiftung von Gefolgschaft ohne vorherige Einigung in der Sache geht. Am Ende dieser voranschreitenden Entwicklung zur Selbstbezüglichkeit neigt die Politik dazu, jeden Ausgriff über die Grenzen des eigenen Binnenlebens hinaus zu meiden. Sie nimmt den Teil, nämlich sich selbst, für das Ganze, nämlich die Gesellschaft. An die Stelle ihres Gestaltungs-
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anspruchs tritt ihr Selbsterhaltungsbemühen. Das hat Folgen: Wenn beispielsweise – wie sich bei fast allen umfangreicheren Gesetzgebungen, die in die Lebenswirklichkeit, also die Außenwelt jenseits der Grenzen der politischen Organisation, eingreifen, zeigt – die unbeabsichtigten Nebenfolgen bestimmter Eingriffe mangels der Bereitschaft, Anreizwirkungen vorab zu bedenken, die beabsichtigten Hauptfolgen um ein vielfaches übersteigen. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: In einer komplexen Umwelt muss, wer Wirkung entfalten will, seine Wahrnehmungsfähigkeit steigern. Die aber wird durch die autoreferentielle Organisation der Politik eher gemindert. Von der Politik getroffene Entscheidungen laufen so zunehmend ins Leere. Infolgedessen wird der Entscheidungsbedarf verringert, indem vorsorglich schon seine Veranlassung geleugnet wird: Die Politik verzichtet auf eine ihre Außenwelt einbeziehende Teleologie – oder, in ihrer eigenen Sprache ausgedrückt: Sie verzichtet auf Programmatik und nennt sich ab sofort, zustimmungsheischend, pragmatisch.15 Dabei zeigt sich im Blick auf das Subsystem der Politik mit größerer Klarheit noch als bei anderen Subsystemen: Wo immer systemische Autoreferentialität festzustellen ist, geht es um Macht. Reziprozität als Regel zwingt dazu, den Anderen in den Blick zu nehmen. Autoreferentialität als Regel legt es darauf an, einseitig über Andere zu bestimmen. Selbstbezügliche Ordnungen werden um der Macht willen begründet und dienen keinem anderen Ziel als der Festigung von Machtansprüchen – bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie wegen ihrer schwindenden Fähigkeit zur Wahrnehmung der Außenwelt in sich zusammenbrechen. Es kann kaum verwundern, dass ein Gespür für Selbstbezüglichkeit dem, der in der Außenwelt keine Bezugsebene seines Handelns mehr sieht, schnell abhanden kommt. Denn die Entwicklung dieses Gespürs setzt ja gerade die Wahrnehmung der Differenz zwischen dem, was innerhalb der Grenzen des Systems, und dem, was außerhalb dieser Grenzen liegt, voraus. Wird die Wahrnehmung dieser Differenz systemisch unterbunden, kann auch die so entstandene Selbstbezüglichkeit nicht mehr wahrgenommen werden. Philosophie nun, die aus der Wahrnehmung von Differenz geboren wurde und die aus dieser Wahrnehmung heraus lebt, hat in arbeitsteiligen Gesellschaften vielleicht diese eine Aufgabe vor allem: Witterung aufzunehmen, wenn die Neigung zur Selbstbezüglichkeit ein Ausmaß angenommen hat, das gefährlich wird – im Sinne der Abschottung und Selbstbestätigung 15
Vgl. Walter 2006, 199 ff., hier 207: „Der sinnentleerte Pragmatismus hat der Politik und den Parteien die normativen Fluchtpunkte genommen. Nicht zuletzt deshalb ist die ‚Reformpolitik‘ beider Volksparteien so unpopulär, wird sie so wenig unterstützt. Denn die Parteien können nicht angeben, wohin die Reise gehen soll.“
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von Eliten und Systemen. Dabei ist es nicht Aufgabe der Philosophie, in der Geste des Besserwissers schwierige Sachverhalte und Zusammenhänge zu popularisieren, wo es nichts zu popularisieren gibt, sondern ihre Aufgabe ist es, Selbstbezüglichkeit in den sozialen Subsystemen einer Gesellschaft zu erkennen und immer wieder danach zu fragen, wie aus dem Inneren eines Subsystems die Brücke zu dessen Außenwelt gebaut werden kann. Denn ansonsten bleibt alle Beratschlagung vergeblich. Ein autopoietisches System weist das deliberative Argument regelmäßig ab. Es kennt keine Beratschlagung, sondern zielt nur auf die Sicherung der eigenen Machtstellung. Eine Beratschlagung, wie sie hier gefordert wird, ist aber umso wichtiger, als seit jetzt zwei Jahrzehnten in Deutschland ausnahmslos jede Reformkommunikation16, sofern sie überhaupt versucht wurde, gründlich misslungen ist. Die Umsetzung nicht eines einzigen Projektes, so begründet es der Sache nach auch war, glückte. Das ist besonders erklärungsbedürftig dort, wo die Notwendigkeit einer Veränderung auf der Hand liegt – beispielsweise im Blick auf den unübersehbaren Zusammenhang, der zwischen der Sicherung der Altersversorgung und der Dauer der Lebensarbeitszeit besteht. Und wenn Reformen in einem Kraftakt durchgesetzt wurden – wie es beispielsweise bei der Hartz-Gesetzgebung der Fall war –, kosteten sie nicht nur die federführende Regierung Kopf und Kragen, sondern entpuppten sich auch schon kurze Zeit nach ihrer Inkraftsetzung als völlig blauäugig hinsichtlich ihrer zahlreichen unbeabsichtigten Nebenfolgen, so dass der Reform unzählige Reformreparaturen auf dem Fuße folgten, für die ihrerseits wiederum das Gleiche galt: Auch sie waren, jede für sich, blauäugig hinsichtlich ihrer Nebenfolgen, vor allem im Blick auf Anreizwirkungen, die regelmäßig das Gegenteil der vom Gesetzgeber verfolgten Absichten bewerkstelligten.17 Gerade dieses Beispiel verunglückter Reformkommunikation – mit der Folge einer sich verbreitenden Scheu vor Reformrisiken bei einem gleichzeitig stetig steigendem Anpassungsbedarf hochentwickelter Gesellschaften – zeigt, wie notwendig, ja überlebensnotwendig der Aufbau einer Struktur deliberativer Argumentation in freiheitlichen Gesellschaften ist. 16 17
Über den Zusammenhang von Reformteleologie, Reformstrategie, Reformkommunikation und Reformpolitik vgl. Böhr 2005a, 20 ff. Damit ist ein beispielhafter Anlass für eine schon im Ansatz missglückte Kommunikation gegeben. Während die einen – zum Beispiel Guido Westerwelle zu Beginn des Jahres 2010 im Blick auf die Empfänger von Ersatzeinkommen – über die Anreizwirkung einer Regel und deren unbeabsichtigte Nebenfolgen sprechen, beruft sich die widersprechende Seite auf die vom Gesetzgeber verfolgte Absicht. Das Beispiel zeigt, dass politische Kommunikation unter den ausschließlichen Vorzeichen von Rede und Gegenrede zwar mit Aufmerksamkeit belohnt wird, aber jede Deliberation verfehlt.
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Allerdings scheint bis heute nicht nur für die Medien der Satz zu gelten: „Wer argumentiert, verliert.“18 Die Gesellschaft ist – samt ihrer Eliten – offenbar davon überzeugt, dass diese Warnung den Kern trifft. Das kann auch nicht verwundern. Denn Deutschland – und die anderen europäischen Gesellschaften – stehen ganz am Anfang ihrer Entwicklung zu sich selbst bestimmenden Gesellschaften. Gleichwohl spricht manches dafür, dass in ihnen der Aufbau einer Struktur deliberativer Argumentation wenigstens doch in Ansätzen begonnen hat. Und gerade hier zeigt sich ein entscheidender Beitrag, den die Philosophie leisten kann, um diese Entwicklung voranzutreiben – wie sie das in der Geschichte des Kontinents vielfach getan hat, wenn sie sich selbst nichts anderem verpflichtet wusste als der Macht des Arguments. Die europäische Kultur hat sich von ihren Anfängen an immer wieder als deliberative Kultur selbst verstanden – als eine Kultur, deren deliberativer Charakter sich mit Norbert Hinske vor allem in drei Gesichtspunkten (vgl. Hinske 2009, 83 ff.) beschreiben lässt: Ihr Fundament ist das Wissen um die Wahrheit im Gegenargument, ihre Prämisse ist die Überzeugung von der Unmöglichkeit des völligen Irrtums und ihr systematischer Topos ist die Lehre von der Vernunft, genauer gesagt: die Lehre von den Stärken und Schwächen der Vernunft. Darüber nachzudenken ist nun allerdings das Kerngeschäft der Philosophie. Sie ist, mehr als jede andere Disziplin, gefragt, wenn es darum geht, die Struktur deliberativer Argumentation in sich selbst bestimmenden Gesellschaften zu entwickeln. So verstanden, geht es nicht um ein utopisches Projekt, sondern um die Methodologie freier gesellschaftlicher Selbstbestimmung: dass Gesellschaften lernen müssen, sich in und über Regeln, auf die hin sie sich für längere oder für kürzere Zeit verpflichten, selbst zu verstehen. Das nun, was hier als deliberativer Charakter sich selbst bestimmender Gesellschaften beschrieben wird, ist nichts anderes als Reflexivität: So wie die Philosophie nie mehr hinter die Einsicht der Reflexivität einer sich auf sich selbst zurückbeugenden Vernunft zurück kann, so gewinnen Gesellschaften allmählich Einsicht in die Reflexivität des Handelns ihrer Mitglieder: als Einsicht in die Rückwirkung, die mit jeder privaten und politischen Entscheidung verbunden ist – sowie als die Einsicht, dass im Bewusstsein dieser nicht vorhersehbaren Rückwirkungen Handlungsregeln 18
So titelte die Wirtschaftswoche in ihrer Ausgabe vom 24. September 2007 und resümierte die Erkenntnisse der Populärpsychologie: „Wir verhandeln täglich: im Büro, zu Hause, mit Freunden. Psychologen haben die geheimen Spielregeln des Verhaltens analysiert. Ergebnis: Für den Erfolg ist die Form des Gesprächs viel wichtiger als dessen Inhalt.“ Bei näherem Hinsehen allerdings zeigt sich, dass die Überschrift den Sachverhalt nicht ganz zutreffend wiedergibt: Es geht auch in diesem Beitrag um einen bestimmten Stil der Erwägung in Verhandlungen, den man durchaus als dem Stil einer deliberativen Argumentation angemessen bezeichnen kann.
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vor allem den Sinn haben, Freiheit im Sinne wechselseitiger Handlungsmöglichkeiten dauerhaft zu gewährleisten. Es geht, weniger allgemein gesagt, um Regeln zur Begrenzung wechselseitiger Zumutungen mit dem Ziel der Erweiterung wechselseitiger Handlungsspielräume, also um Reziprozität im umfassenden Sinne. Über diesen Zusammenhang nachzudenken gehört zum Alltag einer deliberativen Gesellschaft. Aus diesem Nachdenken erwachsen die Strukturen deliberativer Argumentation – Formen der Beratschlagung über alles, was zur Beurteilung ansteht – mit der einen und einzigen Ausnahme: Ausgenommen vom Prozess der Deliberation ist deren letzte Finalität. In dieser reflexiven Normativität – dem Bekenntnis des Menschen zu sich selbst – verankert sich die freiheitliche Gesellschaft als eine Gesellschaft freier Beratschlagung. In der Anthropologie, die diesem Selbstverständnis vorausgeht, findet sich ihr zivilreligiöses Fundament: als Bekenntnis zur unverwirkbaren menschlichen Würde. IV.3 Finalität und Prozess der Deliberation Im Blick auf das, was anfangs über Subjektivität und Intersubjektivität gesagt wurde, soll hier nur noch einmal erinnernd festgehalten werden: Die Folge der philosophischen wie politischen Konstitution im Recht des Subjekts findet sich im Regelwerk einer gesellschaftlichen Deliberation, die nichts voraussetzt, nichts für unverfügbar hält und nichts von der Beratschlagung ausnimmt – mit einer einzigen Ausnahme: nämlich dem Bekenntnis zur Unverfügbarkeit des Subjekts. Diese Unverfügbarkeit ist keine willkürliche Festsetzung, sondern die Bedingung der Möglichkeit von Deliberation, der Form wie dem Inhalt nach. Weil nur der Mensch als Subjekt der Beratschlagung in Frage kommt, ist er gleichermaßen ihre Bedingung wie ihr Ziel. Aus diesem – und nur aus diesem – Grund ist einzig die Bedingung der Möglichkeit von Deliberation nicht selbst Gegenstand einer Beratschlagung und bleibt von ihr ausgenommen. So sehr eine deliberative Gesellschaft auf den ersten Blick den Anschein erweckt, in ihr sei alles relativ – nämlich zur freien und unbehinderten Erörterung gestellt –, so wenig kann dieser Gesellschaft bei näherem Hinsehen der Vorwurf des Relativismus19 gemacht werden. Denn erstens 19
Die Gefahr der deliberativen Gesellschaft besteht weniger in einem nivellierenden Relativismus als in einer kommunikativen Radikalisierung von Überzeugungen: weil Aufmerksamkeit eher gewinnt, wer sich pointiert positioniert, und Abgrenzung leichter möglich ist, wo Positionen radikalisiert werden. Die kommunikative Radikalisierung kann dann schnell in eine aggressive Militanz einmünden, wie man das zum Beispiel an verschiedenen Sekten in den Vereinigten Staaten beobachten kann. Über genau diesen Zusammenhang hat in den Vereinigten Staaten nach dem Anschlag auf die Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords am 8. Januar 2011 erneut eine öffentliche Beratschlagung begonnen.
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gründet diese Gesellschaft in einer Überzeugung von dem, was bedingungslos gilt – der Wahrheit der Person, ihrer nicht einschränkbaren Würde – und zweitens bedarf eine solche Gesellschaft in besonderer Weise der Überzeugungen, damit eine Beratschlagung überhaupt zustande kommt. Denn was ist der Gegenstand von Beratschlagung? Nichts anderes als ein Ringen um die Vereinbarkeit von Überzeugungen. Und der Maßstab dieser Vereinbarkeit – sozusagen die Scheidemünze im beratschlagenden Verfahren – ist der Mensch: die Unantastbarkeit seiner Würde. Im Kern geht es in der deliberativen Gesellschaft immer um diese eine Frage: „Wie muss eine Entscheidung aussehen, damit sie dem Gesichtspunkt des Schutzes menschlicher Würde ausreichend Rechnung trägt?“ Also ist nichts von größerer Bedeutung, als eine behutsame Entfaltung der Vorstellung vom Sinn und von der Bedeutung menschlicher Würde, so dass diese Finalität der deliberativen Gesellschaft sich wiederfindet nicht nur in der Richtung ihrer Beratschlagung, sondern auch in der Art und Weise, wie sie dem Prozess der Deliberation seine Struktur verleiht. Darunter ist zu verstehen, dass die Überzeugungskraft freiheitlicher Gesellschaften gerade dann, wenn sie keiner äußeren Bedrohung unterliegen, sehr stark davon abhängt, dass sie ihre eigenen inneren Abläufe so regelt und ordnet, wie es dem Anspruch ihrer Finalität entspricht. Wo immer sichtbar wird, dass dies nicht geschieht, tappen freiheitliche Gesellschaften in eine Glaubwürdigkeitsfalle, die sie mit hohen Ansehens- und Zustimmungsverlusten bezahlen müssen. Das ist der Grund für ihre innere Verletzbarkeit, weil natürlich – wie könnte es auch anders sein? – Tag für Tag individuell und kollektiv gegen den eigenen Anspruch verstoßen wird – bis heute Anlass für moralistische Kritik. Nun ist Moralismus immer nur ein untauglicher Ersatz für den Verzicht auf eine Lösung von Schwierigkeiten. Deswegen ist in Deutschland nicht anders als in den Vereinigten Staaten und anderen freiheitlichen Gesellschaften zu beobachten, wie um Regeln gerungen wird, die im Fall des Verstoßes gegen den eigenen Anspruch den ursprünglichen Zustand moralischer und sozialer Stringenz wiederherzustellen in der Lage sind. Ein Beispiel für die Suche nach einer solchen Regel findet sich in der Bestimmung dessen, was als political correctness gilt: dem Versuch, im Rahmen einer gesellschaftlichen Beratschlagung Regeln zu bestimmen, wie Beziehungsverhältnisse in einer Gesellschaft ‚korrekt‘ – also ‚richtig‘ – zu gestalten und zu benennen sind. Die political correctness will ‚richtige‘ Einstellungen und Sichtweisen festlegen – und dabei insbesondere alle Handlungen und Ausdrucksweisen gesellschaftlich ächten, die Menschen aufgrund ihrer Rasse, ihres Geschlechts, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, ihrer körperlichen oder geistigen Behinderung, ihrer Neigungen, Empfindungen und Vorlieben verunglimpfen. Dieser – gut
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gemeinte – Versuch gerät nicht selten zu einer Karikatur seiner selbst und findet entsprechend heftigen Widerspruch. Gleichwohl: Das Ringen um political correctness gehört zu den alltäglichen Aufgaben einer deliberativen Gesellschaft, die – wie auch anders? – nie den kürzesten Weg zum Ziel einschlagen kann, weil ansonsten keine Beratschlagung stattfände. Viel Gutes ist auf diesem Weg in den letzten Jahrzehnten bewirkt worden. Einstellung haben sich tiefgreifend verändert und eine Umgestaltung vieler gesellschaftlicher Regeln bewirkt: Zu denken ist, um nur ein Beispiel zu nennen, an den langen Weg von der Gleichberechtigung zur Gleichstellung. Dabei lauert hinter solchen Versuchen einer Feststellung von correctness immer die Gefahr ihrer Ideologisierung, die nach politischer Zensur ruft. Wo dieses Ziel jedoch unterschwellig oder betont angepeilt wird, findet es Widerspruch und Widerstand – und wird seinerseits zum Gegenstand gesellschaftlicher Beratschlagung. Eine sich mit sich selbst beratschlagende Gesellschaft ist ständig auf der Suche nach angepassten Regeln, weil alte Ordnungsvorstellungen als erneuerungsbedürftig erscheinen. Dieses Verfahren der Suche nach den Grundsätzen des eigenen Selbstverständnisses macht eine freiheitliche Gesellschaft zu einem spannenden Abenteuer – mit offenem Ausgang. Die unübersehbare Zahl der Irrungen und Wirrungen, die mit dieser Heuristik verbunden sind, dürfen dabei nicht den Blick verstellen für die produktive Kraft, die aus der Überzeugung, sich selbst zu bestimmen, erwächst. Die deliberative Gesellschaft zeigt sich damit als eine heuristische Gesellschaft: Tag für Tag auf der Suche nach Regeln, in denen sie sich wiederfindet. Jede Regel ist vorläufig und gilt nur unter Vorbehalt, bis eine andere, bessere Regel gefunden ist. Die Suche nach der neuen Regel gleicht dabei keinesfalls einem geradlinigen Verfahren – und das hat sie mit der wissenschaftlichen Forschung gemeinsam. Im Hin und Her der Pendelschwünge von Überzeugungen, Moden und Strömungen, der Vorschläge und ihrer Zurückweisungen, von Rede und Gegenrede, im Kräftemessen der Interessen, dem Schlagabtausch von Lobbyisten und Publizisten sowie nicht zuletzt in der Balance von Exekutive und Judikative sucht sich die deliberative Gesellschaft ihren Weg. Dabei läuft das Schiff häufig auf Grund. Aber es nimmt auch immer wieder Fahrt auf, wenn in freier Beratschlagung über eine Richtungsänderung entschieden wurde. Ein letztes Beispiel soll in diesem Zusammenhang genannt werden: nämlich im Blick auf die dringliche Neubestimmung der Regeln der Politischen Ökonomie unter dem Eindruck der Finanzkrise.20 Dabei geht es um den Versuch, Regeln neu zu erfassen – oder, häufiger noch, neu zu 20
Vgl. dazu weiterführend Böhr 2011.
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bestimmen –, um sicherzustellen, dass die Spekulations- und Casinoökonomie dort, wo beide ein hohes Maß an Autoreferentialität erreichen und ihre Bedeutung für die Realökonomie verlieren, im Falle des Scheiterns nicht von der Allgemeinheit, nämlich der Gemeinschaft aller Steuerzahler, aufgefangen werden müssen. Ganz anders als in Deutschland, wo über neue Regeln so gut wie gar nicht gesprochen wird, steht seit vielen Monaten das Ringen um die Zielsetzung und die Anreizwirkung solcher Regeln im Mittelpunkt der öffentlichen Auseinandersetzung über eine neue Politische Ökonomie in den Vereinigten Staaten. Hier kann man beobachten, wie in der Beratschlagung über Vorschläge – beispielsweise in einem harten Ringen über den Vorschlag, eine von 1932 bis 1999 geltende Vorschrift des Glass-Steagall-Gesetzes, das eine Vermischung von Geschäftsund Investmentbanking verbot, wieder einzuführen – die Gesellschaft (einschließlich ihrer Politiker) einen Weg sucht, dessen Richtungsbestimmung allerdings voraussetzt, dass die an der Beratschlagung Beteiligten ein Gesellschaftsbild entwerfen, in dessen Dienst alle Regeln stehen, anders gesagt: Nur in der ständigen Vergewisserung der Hinordnung des Gesellschaftsbildes auf ein Menschenbild kommt eine Deliberation an ihr Ziel.
V. Schlussbetrachtung: „Warum Philosophie?“ – aus Sicht der Politik Warum Philosophie, wenn es dann am Ende doch um Politische Ökonomie geht? Die Frage soll abschließend beantwortet werden: Weil nur die Reflexion, die wir eine philosophische nennen, zu erkennen vermag, dass freiheitliche Gesellschaften, wenn sie zusammenbleiben wollen, sich verstehen lernen müssen – und weil nur die Reflexion, die wir eine philosophische nennen, zu begründen vermag, wie das Recht auf Beratschlagung in dem von dieser Beratschlagung einzig ausgenommenen Bekenntnis zum Menschen verankert ist; in der deliberativen Gesellschaft beratschlagt die Philosophie über die Präsumtionen der Politik, während die Politik über die Konklusionen der Philosophie beratschlagt – unter der Bedingung, dass Politik den Menschen zu ihrem Maß nimmt und die Macht als ihr Mittel erkennt. Seit Sokrates hat sich die Aufgabe der Philosophie, wenn sie der Politik begegnet, nicht geändert: Es ist die Aufgabe der Hebamme, die nicht selbst Politik betreibt bzw. gebiert, sondern der Politik zur Seite steht, um ihre Zielvorstellungen zur Welt zu bringen. Allerdings hat sich seit Sokrates die Abneigung der Politik nicht geändert, sich dieser Hebammenkunst zu versichern, weil sie seitdem – und bis heute – immer wieder der Verführung erlegen ist, ihre Mittel mit ihrem Zweck zu verwechseln. Wo die
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Macht vom Mittel zum Zweck aufsteigt, vermag auch die Philosophie nichts mehr auszurichten, scheint es. Aber dieser Schein trügt: Denn die Gesellschaft wirkt, vorbeugend, darauf hin, dass diese Verführung, wenn die Politik ihr erliegt, in ihren Folgen abgemildert wird. Sie hat das Heft in die Hand genommen, den Einfluss der Politik begrenzt und die Macht der Selbstbestimmung für sich entdeckt, allerdings ohne selbst jetzt schon so recht zu wissen, wie es weitergehen soll. Sie, die Gesellschaft, von der die Wissenschaft ein wichtiger Teil ist, braucht die Hebammenkunst der Philosophie: bei der Entwicklung zeitgemäßer Strukturen deliberativer Argumentation auf dem von ihr selbst zu bestimmenden Weg. Die Politik heute erlebt – im Gegenzug zum neu erwachten Selbstbewusstsein der Gesellschaft – einen Rollenwechsel. Sie hat sich von der Aufgabe, der Gesellschaft Gestaltungsziele vorzulegen, über die dann in allgemeinen Wahlen eine meinungsbildende Abstimmung herbeigeführt wird, freigemacht, und stattdessen ein Selbstverständnis entwickelt, nach dem sie sich als Spiegel gesellschaftlicher Strömungen und Stimmungen versteht. Unverkennbar wurde dieser Rollenwechsel gerade in jüngster Zeit: Zur Bewältigung der Finanzkrise beispielsweise hat nicht die Politik Vorschläge gemacht und zur Abstimmung gestellt; vielmehr hat die Politik beglaubigt und nachvollzogen, was ihr, jeweils als Sachzwang ausgewiesen, von den Betroffenen – zunächst den gefährdeten Banken, dann den überschuldeten Ländern – zu stets eigenem Nutzen und Frommen vorgeschlagen wurde. Der im Rahmen der Finanzkrise so oft rechtfertigend angeführte Satz „too big to fail“ ist dafür ein schönes Beispiel. Wer diesem Sachzwang folgt, ohne im Anschluss unverzüglich die Regeln so zu ändern, dass es zu einem solchen Sachzwang zukünftig nicht mehr kommen kann, darf sich über die ungebrochen fortdauernde Wirkung dieses Fehlanreizes – dem die Politik bis zum heutigen Tag erlaubt hat, die Krise gänzlich unbeschadet zu überstehen – nicht wundern. Das Beispiel zeigt, dass die Entmachtung der Politik in weiten Teilen eine Selbstentmachtung ist, indem darauf verzichtet wird, von eigenen Zuständigkeiten Gebrauch zu machen. Wenn also Politik sich nun nicht mehr über ihren Gestaltungswillen rechtfertigt, sondern sich vorrangig über ihre Bedeutung als Spiegelbild gesellschaftlicher Strömungen bestimmt, dann obliegt es mehr und mehr der Gesellschaft, Gestaltungsziele zu bedenken – es sei denn, die Gesellschaft überlässt dieses Feld der Lobby verbandsangehöriger Einflüsterer. Lässt sie das, wie es erfreulicherweise den Anschein hat, nicht zu, wird sie selbst, als Gesellschaft, zum Mittelpunkt der Beratschlagung und damit zum vorrangigen Rezipienten philosophischer Reflexion. Diese Entwicklung hat im Übrigen längst eingesetzt. Mehr als in den politischen Parteien werden heute im gesellschaftlichen Raum Fragen der künftigen Entwick-
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lung des Landes bedacht und erörtert. Der Einfluss solcher – formellen wie informellen – „think tanks“ ist zwar in Deutschland noch lange nicht so groß wie in den Vereinigten Staaten. Aber er nimmt stetig zu. Für die Politik, wie sie sich heute begreift, ist es dabei von Vorteil, sich dieser Beratung von Fall zu Fall, nämlich immer dann, wenn gerade wieder einmal eine Entscheidung unvermeidlich geworden ist, versichern zu können. Denn sie muss sich, wenn ausnahmslos nur fallweise auf Handlungs- und Zielbestimmungen zurückgegriffen wird, selbst nicht langfristig an Gestaltungsziele binden – jedenfalls solange nicht, wie sie davon überzeugt zu sein scheint, dass es von wählerwirksamem Vorteil ist, die Bindungsbereitschaft der Bürger durch das Angebot langfristiger inhaltlicher Festlegungen nicht zu überfordern. Folglich wird die philosophische Reflexion heute politisch vermittelt über ihre zunehmende Institutionalisierung im Kontext gesellschaftlicher Deliberation. Philosophie ist keine „pressure group“, die Lobbying betreibt. Sie sucht die Öffentlichkeit, aber nicht, um dieser zu Gefallen zu sein. Das ist auch schon deshalb gar nicht möglich, weil sie – seit dem sokratischen Daimonion – eher abratend als zuratend in Erscheinung tritt. Das Denken der Philosophie ist reflexiv und deliberativ, niemals autoritativ. Das ist der Grund, warum sie selbst jeder Eitelkeit abhold zu bleiben hat: Philosophie bildet sich nicht ein, den Königsweg gefunden zu haben. Einer Selbstüberschätzung steht schon ihr reflexiv-deliberativer Habitus im Wege, der im Übrigen einer der Gründe dafür ist, dass die Politik sich so schwer tut, ein auskömmliches Verhältnis zur Philosophie zu finden: Was hilft dem Politiker eine weitere Problematisierung – selbst aus dem berufenen Mund der Philosophie? Er sucht die Bestätigung seiner Macht und die Festigung seines Einflusses und gerade nicht deren – und sei es auch nur mittelbare – Infragestellung. Mit Bestätigung und Festigung aber kann die Philosophie nicht dienen: Denn die Frage nach dem „Warum“ der Philosophie mündet immer in ein und dieselbe Antwort: Weil sie nun einmal nicht anders kann, als bei jeder Gelegenheit die Frage nach dem „Wozu“ zu stellen – und sich nicht abspeisen lässt mit der Bemerkung, dass diese Frage nach dem „Wozu“ sinnlos sei, da es im Augenblick ohnehin keine anderen Möglichkeiten gebe als eben diese eine, die nicht zeitraubende Beratschlagung, sondern schnelle Umsetzung erfordere. Wenn die Philosophie nach dem „Wozu“ fragt, dann fragt sie nach Gründen in der Sache. Wird die Politik nach dem „Wozu“ gefragt, dann antwortet sie mit dem Verweis auf die jeweiligen drängenden Umstände. Ist es demnach ein düsteres Bild, das sich demjenigen zeigt, der die Frage nach der Bedeutung philosophischer Reflexion im Kontext der heutigen politischen und medialen Situation beantworten will? Ja und Nein. Ein düsteres Bild zeigt sich dem, der nach dem unmittelbaren Einfluss der
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Philosophie auf die Ausrichtung und Ausgestaltung der politischen Strukturen sucht. In dieser Hinsicht hat sich seit Sokrates nichts geändert. Ein gar nicht düsteres Bild zeigt sich hingegen dem, der in den Blick nimmt, was das Geschäft der Philosophie wirklich ist – und immer war: nämlich nicht die Suche nach Einfluss und Beeinflussung, sondern das Ringen um Erkenntnis im Widerstreit von Gründen und Gegengründen. Die Frage nach dem „Warum“ von Philosophie lässt sich nie und nimmer beantworten mit dem Hinweis auf einen Erfolg ihres Bemühens. Welchen Erfolg will auch derjenige verbuchen, der fragt und sucht? Sein Glück – seinen Erfolg – findet der Fragende nicht, wenn er jemanden findet, den er für sich vereinnahmen oder gar verpflichten kann. Sein Erfolg und seine Wirkung bemessen sich anders, nämlich über die Spuren, die er im Denken seiner Zeit – und darüber hinaus – hinterlässt: Spuren, die oft erst nach langer Zeit entdeckt oder wiederentdeckt werden. Und eben das ist die Wirkung – und zugleich der Trost – der Philosophie: kein billiger Trost und keine eingebildete Wirkung. Philosophie setzt auf die Kraft des Arguments, also die Kraft der Freiheit. Die Philosophie selbst kann deshalb – der Utopie vom ‚philosophus rex‘ zum Trotz – nicht wollen, dass ihr die Herrschaft übertragen wird. Sie folgt anderen Zielen und Maßstäben als die Politik. Und nicht selten sind diese Ziele und Maßstäbe mit denen der Politik kaum zu vereinbaren. Diese Unvereinbarkeit nimmt der Philosophie nichts von ihrer Wirkung und der Politik nichts von ihrer Bedeutung. Philosophie und Politik bleiben aufeinander verwiesen – aber immer in dem Verhältnis, das die Reflexion zur Poiesis hat. Philosophie muss deshalb nicht nur nacheilend erklären, sondern kann gerne auch vorauseilend beratschlagen – wenn sie es dabei bewenden lässt und nicht dem falschen Ehrgeiz folgt, politischen Einfluss gewinnen zu wollen. Wer die Metamorphose der Philosophie zur Politik anpeilt, muss wissen, dass jede Metamorphose mit der unwiederbringlichen Zerstörung der Gestalt verbunden ist, die umgewandelt wird. Anders gesagt: Die Metamorphose der Philosophie zur Politik wäre ihr Ende. Sokrates blieb von diesem Schicksal verschont, Voltaire hat es – in seinem Verhältnis zu den beiden Großen, dem großen Friedrich und der großen Katharina – erlitten. Weil sich Philosophie über ein Privileg und ein Postulat bestimmt, nämlich frei zu sein und keine Rücksicht nehmen zu dürfen, hat sie immer einen schweren Stand, viele Neider und noch mehr Gegner. Das ist der Preis, den sie für ihre Freiheit zu zahlen hat. Dieser Preis ist nicht zu hoch für eine Lebensform, die schon Aristoteles als die dem Menschen zugängliche letzte und höchste Erfahrung von Glück vor Augen stand. Eine ganz andere Frage ist, ob nicht die Politik auf die Philosophie angewiesen ist. Die Beantwortung dieser Frage hängt allein ab vom Selbst-
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verständnis, dem die Politik jeweils folgt. Erschöpft sich dieses Selbstverständnis im Ringen um die Macht, kann die Philosophie nur im Wege stehen. Es gelten dann die Regeln des Koalitionspokers. Erhebt die Politik allerdings den Anspruch, Gestaltungsziele zu verfolgen, kann sie vom reflexiv-deliberativen Habitus der Philosophie nur großen Nutzen haben. Denn wo es um Ziele geht, da geht es immer auch um Abwägung und Beratschlagung. Beides kann für die Belastbarkeit einer Zielbestimmung nur förderlich sein. Welchem Selbstverständnis folgt Politik heute? Doch wohl eher dem erstgenannten, das im Ringen um die Macht ihre raison d’être findet. Es scheint, dass die Zeit vorbei ist, in der diese Macht um bestimmter Ziele willen erkämpft wurde. Dieser zumindest seit geraumer Zeit weit verbreitete Eindruck gibt Anlass, die Frage nach dem „Warum“ von Philosophie gegenwärtig zu beantworten mit dem abschließenden unmissverständlichen Hinweis, dass menschliches Handeln – auch in der Form der Praxis des bios politikos – sich immer verirrt, wenn es sich nicht an Zielen ausrichtet. Die Philosophie kann der Politik nicht ihre Ziele an die Hand geben. Aber sie kann – ja: sie muss – diese Frage öffentlich stellen: die Frage nach dem „Wozu“ und „Wohin“, die Frage eben nach der Teleologie der Praxis des bios politikos – als die Frage nach dessen Zweck und Ziel. Kurz: Aufgabe und Auftrag der Philosophie ist es, die Frage nach dem Sinn allen Tuns immer wieder neu zu stellen. In der Demokratie ist es diese Frage nach der Zielbindung öffentlichen Handelns, die, wenn er sie stellt, den Wähler zum Bürger macht.
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Vom Nutzen der Philosophie Jürgen Mittelstraß Vorbemerkung Die Philosophie, von deren Nutzen hier die Rede sein soll, hat es nicht leicht – mit ihresgleichen, den Wissenschaften, wenn es um akademische Anerkennung geht, mit der Welt, die meist sonderbare Vorstellungen von ihr besitzt, und mit sich selbst, wenn sie zu sagen sucht, was sie ist. Alle reden von ihr, und niemand kennt sie wirklich (nicht einmal, so mag es manchmal scheinen, die Philosophie selbst). Außerdem traut man ihr alles und nichts zu. Alles, insofern sie auch dort noch zu Hause zu sein scheint, wohin weder unsere Erfahrungen noch die Wissenschaften reichen, nichts, insofern ihr weder der alltägliche noch der wissenschaftliche Verstand zutrauen, Probleme, die der Welt auf den Nägeln brennen, zu lösen. Wo von der Philosophie gesprochen wird, ist gleich auch von Tiefsinn, Dunkelheit, Unverständlichkeit und Folgenlosigkeit die Rede. Die Philosophie, so scheint es, fühlt sich nur in tiefen Gedanken wohl, in der Nähe eines absoluten Geistes und natürlich bei ihren Klassikern, die längst nicht mehr unsere Welt und unsere Probleme teilen. Sie wird gewissermaßen als eine Philosophie über den Wolken wahrgenommen, eben in der Nähe eines absoluten Geistes, nicht unter den Wolken, wo auch unsere Probleme sind. Außerdem kommt sie beharrlich zu spät, wenn man Hegels Vergleich der Philosophie mit der Eule der Minerva folgt, die ihren Flug in der Dämmerung beginnt, wenn sich die Wirklichkeit, wie Hegel sagt, „fertig gemacht“ hat. Also nicht, wenn sich etwas verändern lässt, und nicht, wenn man sie braucht. Hat Christian Morgenstern recht? „Es pfeift der Wind. Es stöhnt und gellt. Die Hunde heulen im Hofe. – Es pfeift auf diese ganze Welt, der große Philosophe“ (Morgenstern 1987–2001, I, 580).
Vortrag anlässlich der von der „Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen Bad Neuenahr-Ahrweiler“ im Frühjahr 2004 veranstalteten Tagung unter dem Titel „Die interdisziplinäre Funktion der Philosophie“. Erstabdruck in Gethmann 2011.
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Doch dies könnte ein Irrtum sein, zumindest ein reichlich verzerrtes Bild der Philosophie und des Philosophen. Es entspricht der Neigung des wissenschaftlichen Verstandes, jedenfalls eines sich am Empirischen festhaltenden Verstandes, Philosophie mit purer Spekulation zu identifizieren, und es entspricht der Neigung des alltäglichen Verstandes, in ihr etwas Unpraktisches, Exotisches, der Lebensform der Mystiker und Magier Benachbartes zu sehen. Von ganz ungefähr kommt das allerdings nicht. Tatsächlich wohnen nur allzu oft neben der Philosophie, der ordentlichen, gedankliche Unordnung, spekulative Ausschweifungen und begriffliche Schwärmereien, neben dem Philosophen, der sich dem Rationalen, der Vernunft verpflichtet fühlt, der Schwärmer, der Schamane und manchmal auch der modische Zeitgeistverstärker. Der klingt dann vertraut, aber man vertraut ihm nicht. Zu Recht. So ist denn auch die Geschichte der Philosophie begleitet vom Gelächter einer thrakischen Magd, die Thales, den ersten der europäischen Philosophen, den Blick zu den Sternen gewandt, also forschend und nachdenkend, in einen Brunnen fallen sah, und vom Verdacht der Lebensunfähigkeit ihrer Vertreter. Nach Platon, der doch selbst mit Recht als einer der Großen der Philosophie gilt, wissen Philosophen „nicht einmal den Weg zum Markt“, „Feste mit Flötenspielerinnen“ zu besuchen, „fällt ihnen im Traum nicht ein“, ihre Seelen schweifen „unter der Erde“ und „über dem Himmel“, nur nicht „im Staate“, wo allein ihr Körper wohnt (Theaitetos 173c ff.). Aber Platon ist es auch, der der Thales-Anekdote philosophischen Ausdruck verschafft. Einerseits in der Weise, dass es nunmehr für den Philosophen charakteristisch sei, aus Unerfahrenheit in „Gruben und allerlei Verlegenheiten“ zu fallen (ebd., 174c), andererseits in Würdigung des Umstandes, dass der Philosoph, unbemerkt von fröhlichen Mägden und dem, was man gern als den gesunden Menschenverstand bezeichnet, nicht ins Wanken gerät, wenn von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, von Glück und Elend die Rede ist (ebd., 175c-d). Der aufrechte Gang führt zwar häufig in „Gruben“ und „allerlei Verlegenheiten“, aber er führt, nach Platon, unter der sterblichen Natur auch zur „Verähnlichung mit Gott“ (ebd., 176b). Das wiederum ist eine zweischneidige Sache. Es ist ja gerade die beanspruchte oder zugeschriebene Gottähnlichkeit, die der Philosophie bis auf den heutigen Tag zu schaffen macht, vor allem in einer nicht-griechischen Welt, in der die Götter knapp geworden oder, eben im Gewande der Philosophen, wieder der Lächerlichkeit preisgegeben sind. Wo also könnte der Nutzen der Philosophie, wo könnten ihre Aufgaben liegen, die für sie selbst zugleich ein Weg aus der misslichen Alternative von Lebensunfähigkeit und Gottähnlichkeit wären? Es müssten wohl in der Tat Aufgaben sein, die nicht über den Wolken liegen, dort, wo nach alter Vorstellung die Götter wohnen und ein absoluter Geist vermutet wird,
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sondern unter den Wolken, dort, wo auch unsere Probleme sind. Von derartigen Aufgaben und ihrer vermuteten Lösung, damit auch vom Nutzen der Philosophie, soll im Folgenden die Rede sein, zuvor jedoch – jenseits aller Metaphorik – von der eigentümlichen Schwierigkeit, genau sagen zu können, was Philosophie, nun vor allem aus einem akademischen Winkel betrachtet, eigentlich ist. Schließlich geht es ja auch nicht darum, die Philosophie zu erfinden. Sie ist, jedenfalls als akademische und damit wissenschaftliche Disziplin, da, und mit ihr verbindet sich, nicht nur philosophiehistorisch gesehen, der Anfang der Vernunft. Als das griechische Denken aus dem Schatten des Mythos trat, war dies die Geburtsstunde von Philosophie und Wissenschaft, d. h. des Entschlusses, in der Welt auf eine rationale Weise Fuß zu fassen.
I. Was ist Philosophie? Der Grund, warum es üblicherweise schwerfällt, genauer zu sagen, was Philosophie ist, liegt vor allem in dem Umstand, dass die Philosophie, akademisch betrachtet, im Unterschied zu den Fachwissenschaften keinen ihr eigentümlichen Gegenstand hat – wie etwa die Biologie als Wissenschaft von Geschichte, Struktur und Funktion lebender Systeme oder die Jurisprudenz als Wissenschaft des Rechts –, über dessen Definition ihre Bestimmung gegeben werden könnte, und dass sie, wiederum im Unterschied zu den meisten Fachwissenschaften, von Ausnahmen abgesehen, kein verlässliches Wissen, im Sinne eines Lehrbuchwissens ausgebildet hat, das allgemein als ein philosophisches Wissen gelten könnte.1 Im Unterschied zur Problemwahrnehmung in den Fachwissenschaften können Probleme, die sich einer philosophischen Behandlung zuführen lassen, prinzipiell überall, in lebensweltlichen wie in wissenschaftlichen Zusammenhängen, auftreten. Treten sie im Bereich der Wissenschaften auf, dann in der Regel dort, wo fachspezifische Methoden und Definitionsmöglichkeiten zu kurz greifen, z. B. bei der Definition des Lebens in der Biologie oder der Definition des historischen Bewusstseins in der Geschichtswissenschaft, aber auch dort, wo es allgemein um erkenntnistheoretische, methodologische und andere Grundlagen der Wissenschaften geht. Dabei bleiben philosophische Lösungsbemühungen (wenn sie von den Wissenschaften überhaupt als solche angesehen werden) in der Regel kontrovers, d. h. an sogenannte philosophische Standpunkte oder Überzeugun-
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Das Folgende im engen Anschluss an meinen Philosophie-Artikel in: Mittelstraß (Hg.) 1995, 131–139.
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gen gebunden, und dies trotz der Tatsache, dass sich die Philosophie ungeachtet der historischen und systematischen Vielfalt ihrer Standpunkte in einem bestimmten Sinne als voraussetzungslos begreift. Ihre Voraussetzungslosigkeit beruht in der seit Platon (explizit oder implizit) formulierten und methodisch eingelösten Absicht, auch dort noch nach Gründen zu fragen bzw. auf Begründungen zu dringen, wo sich das alltägliche Bewusstsein, aber auch das wissenschaftliche Bewusstsein, mit faktisch akzeptierten Überzeugungen zufriedengibt. In ihr, so ein höchst anspruchsvoller Begriff von Philosophie, gilt der Grundsatz, dass nichts für (theoretische oder praktische) Orientierungsbemühungen Relevante einem begründungsorientierten und in diesem Sinne philosophischen Diskurs entzogen werden kann und soll. Der Versuch, über eben diesen sich in einem Voraussetzungslosigkeitspostulat artikulierenden Grundsatz eine Wesensbestimmung der Philosophie zu geben, fällt allerdings höchst allgemein aus, z. B. wenn Philosophie als „Bewusstsein des Nichtwissens“ (Sokrates) oder als „Wissenschaft der Vernunft“ (Hegel) bezeichnet wird. Nun wird die Frage, was Philosophie ist, nicht so sehr außerhalb einer philosophischen Praxis, in institutioneller Form z. B. in den Universitäten, gestellt und den Philosophen zur Beantwortung vorgelegt; sie lenkt vielmehr als eine bereits selbst philosophische Frage die philosophische Reflexion und lässt sich daher auch von dieser Reflexion nicht isolieren. Wer z. B. davon ausgeht, dass es der historische Gang der philosophischen Reflexion ist, der die Ausbildung eines philosophischen Lehrbuchwissens eher behindert als gefördert hat, der wird selbst konkrete Aufgaben der Philosophie, z. B. gegenüber den Fachwissenschaften, formulieren und sich um ihre Bewältigung in systematischem Geiste bemühen. Wer hingegen davon ausgeht, dass der Begriff des Lehrbuchwissens und mit ihm der Begriff eines in den Wissenschaften ausgebildeten positiven Wissens auf die Philosophie nicht anwendbar ist bzw. die philosophische Reflexion gerade in der Hinsicht verfälscht, in der sie sich von der Wissensbildung der Fachwissenschaften unterscheidet, wird selbst entweder eine systematische Unterscheidung zwischen philosophischer und wissenschaftlicher Rationalität vorschlagen oder (wie Hegel) Philosophie als ein „System in der Entwicklung“ (Hegel 1970, 47) zu verstehen suchen, d. h. das, was die Philosophie, in der Regel auf eine höchst kontroverse Weise, weiß, als Ausdruck einer bestimmten Phase innerhalb einer historischen Entwicklung einordnen. Deren Deutung, etwa als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ (Hegel), gilt dann natürlich selbst als eine sehr philosophische. Im Allgemeinen herrschen hier, nicht weiter überraschend, Mischformen vor, d. h., es werden sowohl historische als auch systematische Gesichtspunkte dafür ins Feld geführt, dass die Philosophie kein einheitliches Lehrbuchwissen ausgebildet hat bzw. kein allgemein akzeptiertes
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Wissen ausbildet. Unterschiedliche Philosophieverständnisse wiederum gelten selbst als ein philosophisches Faktum. Deshalb ist auch die Verwendung des Ausdrucks „Philosophie“ im Plural geläufig bzw. die Möglichkeit gegeben, mit einem Philosophiebegriff zu arbeiten, der prinzipiell alles das umgreift, was sich bisher als Philosophie verstanden hat oder als Philosophie gilt. Das hat dann unter anderem dazu geführt, dass der Philosophiebegriff der philosophischen Forschung heute weitgehend identisch ist mit dem Philosophiebegriff der Philosophiegeschichtsschreibung. Der sich hier nahe legende Relativismus philosophischer Verständnisse lässt sich vermeiden, wenn man den Begriff des Lehrbuchwissens, der für die Philosophie unbequem ist, an dem sie aber zumeist gemessen wird, selbst relativiert. Ein Lehrbuchwissen besteht in der Regel in Form von Theorien, deren Geltung überprüft und deren Anwendung in Problemlösungszusammenhängen gesichert ist. Ein derartiges Wissen bzw. die Bemühung um ein derartiges Wissen gibt es durchaus auch in der Philosophie, etwa in der Logik, der Erkenntnistheorie, der Sprachphilosophie, der Wissenschaftstheorie und selbst in der Ethik. In diesen Fällen handelt es sich um Teile der Philosophie, die in ähnlicher Weise strukturiert sind wie das fachwissenschaftliche Wissen. Dennoch wäre es unzweckmäßig und der besonderen Wissensform der Philosophie unangemessen, sie in diesem Sinne als die Gesamtheit philosophischer Sätze aufzufassen und von dieser womöglich auch noch zu verlangen, dass sie ein „System philosophischer Erkenntnisse“ (I. Kant) darstelle. Umgekehrt wäre es zu kurz gegriffen, mit Wittgenstein zu sagen, die Philosophie sei keine Lehre, sondern eine Tätigkeit, und ihr Resultat seien keine philosophischen Sätze, sondern das Klarwerden von Sätzen (vgl. Tractatus 4.112). Tatsächlich lässt sich die philosophische Reflexion als eine ihrem Wesen nach begründungsorientierte Tätigkeit auffassen. Eine solche Auffassung lässt sich auch mit der Sokratischen Vorstellung verbinden, Philosophie primär nicht in Form von Wissen, sondern in Form einer kritischen, auf Begründung insistierenden Analyse faktischen oder beanspruchten Wissens zu begreifen. Die philosophische Reflexion, die sich sowohl in Form philosophischer Sätze als auch in Form einer philosophischen Tätigkeit (wie im erwähnten begründungsorientierten Sinne) darstellen lässt, nimmt insofern gegenüber der wissenschaftlichen Rationalität bzw. dem wissenschaftlichen Verstand eine besondere Rolle ein, die es weder angezeigt sein lässt, Philosophie mit Wissenschaft zu identifizieren bzw. der Philosophie anheimzustellen, sich gegenüber der Wissenschaft tendenziell überflüssig zu machen, noch dazu zwingt, Philosophie, ihre Aufgaben und ihre Leistungen, völlig außerhalb von Wissenschaft anzusiedeln. Ihre Rolle ist vielmehr die einer Begründungen sowohl allgemein als auch wissenschaftsspezifisch ausarbeitenden Orientierung.
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Der Versuch, die Frage, was Philosophie sei, über die Bildung philosophischer Sätze oder über den Hinweis auf philosophische Systeme zu beantworten, aber auch der entgegengesetzte Versuch, Philosophie als den Prozess einer Klarwerdung von (nicht notwendigerweise allein philosophischen) Sätzen zu verstehen, sind beide Ausdruck einer Verselbständigung der Philosophie gegenüber dem wissenschaftlichen Verstand. Dies war keineswegs immer so. Im Gegenteil, Philosophie und Wissenschaft waren bis ins 19. Jahrhundert hinein eines, d. h., in beiden Fällen ging es allein um die Aufgabe, in der Welt auf eine rationale Weise Fuß zu fassen. Im übrigen sind die Aufgaben der Philosophie nach wie vor durch die von Kant formulierten Fragen: „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen?“ und „Was ist der Mensch?“ bestimmt (Kant 1956– 1964, III, 447 f.). Eben diese Fragen sind bzw. ihre Beantwortung ist es denn auch, die die (für die Philosophie oft bange) Frage beantworten lässt, was die Philosophie ist bzw. über welche Bemühungen und Orientierungen sie sich definieren soll. Es sind zugleich Fragen, die in die Welt hinein-, nicht aus der Welt herausführen. Letzteres wäre nur dort der Fall, wo die gegebenen Antworten keinen Zusammenhang mehr mit den Problemen unserer Welt, den allgemeinen, die conditio humana spiegelnden, wie den besonderen, den durch die jeweilige Situation des Menschen in der Welt gegebenen Problemen erkennen lassen. Dies wäre dann keine Philosophie unter den Wolken, sondern eine über denselben.
II. Ein Beispiel Was hier zunächst auf eine sehr allgemeine Weise zur Bestimmung der Philosophie und ihrer Aufgaben gesagt wurde, lässt sich bezogen auf die Welt, in der wir leben, bzw. auf die Probleme, mit denen wir umzugehen haben, auch auf eine sehr konkrete Weise demonstrieren. Ich wähle dazu bewusst ein Beispiel, das in einem hohen Maße kontrovers ist, sowohl den wissenschaftlichen, als auch den nicht-wissenschaftlichen Verstand bewegt und tief in weltanschauliche Dinge führt: die Debatte um ein neues Reproduktionsverfahren, das man Klonen nennt, insbesondere um die mögliche Erzeugung menschlicher Klone. Diese Debatte begann mit dem spektakulären Auftreten von Dolly, d. h. der von schottischen Tierzüchtern zum ersten Mal erfolgreich betriebenen Herstellung eines Säugetiers mit dem identischen Erbgut eines anderen, erwachsenen Tieres, und setzte deshalb so schockartig ein und wird seitdem auch deshalb so hektisch geführt, weil hier mit neuen gentechnischen Möglichkeiten auf einmal das, was ein für allemal den menschlichen Einwirkungsmöglichkeiten entzogen schien, nämlich die „künstliche“ Erzeugung eines Menschen, disponibel zu werden
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beginnt. Hier scheinen Grenzen zu fallen, die die Natur selbst gezogen hat. Was ist gemeint, und ist diese Vorstellung richtig? Die Erzeugung von Klonen ist die Erzeugung von Lebewesen mit gleichen Erbinformationen entweder durch Zellkernaustausch oder durch Teilung von Embryonen im frühen Entwicklungsstadium. Klon sein bedeutet also, dass der Genotyp zweier (oder mehrerer) Individuen, also das Erbgut, identisch ist, was im übrigen nicht besagt, dass auch der Phänotyp, das sind die vom Genotyp beeinflussten äußeren Merkmale, identisch sein muss. Nicht alle Merkmale eines Organismus sind allein durch Genwirkung bestimmt; auch die Entwicklungsbedingungen eines Organismus, darunter im menschlichen Falle kulturelle und soziale Bedingungen, spielen eine wichtige Rolle. Bei eineiigen (monozygoten) Zwillingen ist dies seit langem zu studieren. Heute leben viele Millionen Menschen, die als (monozygote) Zwillinge genetisch identische Geschwister haben. Dieser Hinweis macht im übrigen deutlich, dass Klonbildung durchaus ein natürlicher Vorgang ist; sie stellt einen in der Natur, z. B. bei Bakterien und Mikroorganismen (Hefen, Pilzen, aber auch mehrzelligen Tieren), vorkommenden Vermehrungsmechanismus dar. Neu ist allein, dass dieser Mechanismus, den wir auch bei höheren Pflanzen beobachten können (z. B. sind alle Kartoffeln eines Ackers Klone) „künstlich“, d. h. in Form eines Klonierungsverfahrens, auch auf höhere Säugetiere angewendet werden kann; und von ethischer Relevanz ist die Frage, ob ein derartiges Verfahren auf den Menschen angewendet werden darf. In der Regel wird – insbesondere wenn von theologischer Seite argumentiert wird – das Klonen von Menschen als ein schwerer Verstoß gegen die Menschenwürde aufgefasst, insofern hier die natürliche Individualität des Menschen aufgehoben werde. Dabei wird vor allem auf das Selbstzwecksein des Menschen hingewiesen, das vor jeder Instrumentalisierung, als die nun das Klonen von Menschen angesehen wird, geschützt werden müsse. Das sind schwere Geschütze, gegen die kein argumentatives Kraut mehr gewachsen zu sein scheint. Nun bleibt zunächst einmal festzustellen, dass gegen das Klonen von Menschen nicht die Übereinstimmung des Genoms des einen mit dem Genom des anderen spricht – auch Zwillinge sind schließlich Personen und als solche Träger von Menschenwürde –, auch nicht das Klonierungsverfahren selbst – schließlich gibt es in diesem Verfahren noch gar keine Person, gegen deren Würde verstoßen werden könnte –, sondern allein „die Tatsache, dass ein Mensch als Mittel zu einem Zweck hergestellt wird, der nicht er selbst ist, und dass ihm zu diesem Zweck die genetische Gleichheit mit einem anderen Menschen auferlegt wird“ (Eser u. a. 1997, 11). Dies wäre z. B. beim Klonen aus Gründen von Organ- und Gewebespenden, d. h. der Anlage individueller Organbanken, der Fall. Hier würde „die genetische
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Identität um eines Zweckes willen manipuliert, dem der hergestellte Mensch dienen soll. Er soll der sein, dem sein Genom gleicht, oder existieren, um durch seine genetische Gleichheit einem anderen zu dienen“ (ebd.). Doch diese Vorstellung – der Klon als Ersatzteillager für den Klonierten – ist ohnehin absurd, weil der Klon, ebenso wie der natürliche Zwilling, selbstverständlich ein Individuum ist mit allen Rechten, die wir mit einem Individuum verbinden. Dass hier der eine (der Klon) wie der andere (der Klonierte) ist, ist schließlich ein Umstand, den wir bei monozygoten Zwillingen seit langem gewohnt sind, ohne dass jemand auf den Gedanken gekommen wäre, der eine sei (nur) für den anderen da. Auch Zwillinge sind Personen wie jeder Nicht-Zwilling und darin von allen Gesetzen, die sich aufgeklärte Gesellschaften geben, geschützte Individualitäten. Im übrigen gibt es auch Argumente, die für das Klonen bzw. für die Bereitstellung einer derartigen Fortpflanzungsmöglichkeit sprechen. Was nämlich wäre, wenn das Klonierungsverfahren bei der Behandlung von Unfruchtbarkeit und zur Vermeidung schwerer genetischer Krankheiten eingesetzt würde? Selbst der Wunsch nach einem Kind, das einem verlorenen ähnlich ist (vgl. Kitcher 1997, 336), könnte ein (zugelassener) Grund für eine Anwendung des Klonierungsverfahrens sein. In diesen Fällen würde weder gegen das Prinzip der Unverletzlichkeit der Würde des Menschen noch gegen die damit zusammenhängende Bestimmung des Menschen als Selbstzweck verstoßen. Dagegen spricht auch nicht die in diesem Zusammenhang gern zitierte Zweckeformel des Kategorischen Imperativs Kants, also ein philosophisches Argument: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Kant 1956–1964, IV, 61). Schließlich heißt es hier, dass eine Person nicht bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck behandelt werden müsse. Von einem völligen Ausblenden des Mittelaspekts ist hier nicht die Rede. Hieße es: nie und unter keinen Umständen als Mittel, wäre z. B. jede menschliche Fortpflanzung moralisch verwerflich, weil sie stets, und auch der Akt, der zu ihr führt, nicht nur durch die zukünftige Person als Zweck bestimmt ist. Wer ein Kind zeugt, denkt nicht nur an das Glück des Kindes, sondern auch an sein eigenes Glück. Oder anders formuliert: Nur völlige Weltfremdheit ließe behaupten, dass es bei der Erzeugung eines Menschen bisher allein um das Glück des Gezeugten ginge und nicht z. B. um das Glück der Eltern oder den Ausgleich des Verlusts eines Kindes. Auch Thronfolger wurden früher aus anderen Zwecken als denen ihres eigenen Glücks gezeugt (vgl. Gethmann 1998, 2). Damit ist aber – gegen allzu gewaltig daherkommende Argumente aus dem Arsenal der Theologie und selbst der Philosophie (vgl. Birnbacher 1998, 114) – klar, dass das Klonen nicht an sich verwerflich ist, sondern
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nur im Zusammenhang mit bestimmten menschlichen Zwecksetzungen (vgl. Gethmann 1998, 2). Es bleibt allerdings die grundsätzliche Frage, wie viel Technik wir an die Stelle traditioneller und als natürlich empfundener Verhaltensweisen setzen wollen. Schließlich verändern sich mit der Technik des Klonens nicht nur künftige Generationen, sondern wir verändern uns auch selbst, zumindest in unserem Selbstverständnis. Mit anderen Worten: Wo Grenzen überschritten werden, die bisher wie bei der menschlichen Reproduktion durch die Natur selbst gesetzt schienen, muss eben sehr genau, ohne Rekurs auf individuelle Intuitionen oder ideologische bzw. weltanschauliche Voreingenommenheiten, erörtert werden, wo derartige Grenzen in Zukunft liegen sollen. Auch Grenzen der Machbarkeit wären in diesem Sinne gemachte Grenzen, d. h. durch den Menschen gesetzte, ethische Grenzen. Schließlich ist der Mensch ein maßloses Wesen, das nur unter Maßen leben kann. Diese genau zu bestimmen, und damit auch die richtigen Grenzen zu setzen, aber ist schwer, und das selbst dort, wo sie, wie im Falle unseres Beispiels, für viele, aus welchen Gründen auch immer, schon klar zu sein scheinen. Warum in unserem Zusammenhang, im Zusammenhang der Frage nach dem Nutzen der Philosophie, dieses Beispiel? Es zeigt auf eine geradezu dramatische Weise, wie sich in der modernen Welt wissenschaftliche, gesellschaftliche und politische Problemlagen, und über diese hinaus, je nach Perspektive, viele andere, miteinander verbinden, und zwar so, dass weder der wissenschaftliche, noch der gesellschaftliche, noch der politische, geschweige denn der weltanschauliche Verstand allein in der Lage wären, die betreffenden Probleme zu lösen. So führen die neuen Möglichkeiten der Gentechnik und der Reproduktionsmedizin in Situationen, in denen nicht nur ein partikularisierter Sachverstand an seine Grenzen stößt, sondern auch Orientierungsdefizite auftreten, die nicht einfach durch ein überkommenes Denken, in seiner ganzen Breite vom wissenschaftlichen bis zum weltanschaulichen Denken, bewältigt werden können. Es ist ja, nebenbei gesagt, häufig gerade dieses Denken, das in entsprechende Verlegenheiten führt. Man könnte auch sagen: Wir graben mit unserem partikularen Wissen Tunnel in den Berg, der die Welt ist, und wir begreifen tunnelblind den Berg nicht mehr. Hier ist, und auch das sollte das Beispiel vor Augen führen, die Philosophie, jedenfalls in ihrer zuvor beschriebenen Form als ein begründungsorientiertes, nicht tunnelblindes Denken, aufgefordert, ihren Teil zur Lösung entsprechender Probleme, die oft auch Orientierungsprobleme sind, und Schwierigkeiten, die stets auch begriffliche Schwierigkeiten sind, beizutragen. Oder bescheidener formuliert: Hier liegen Aufgaben, die sich auch die Philosophie zu Eigen machen sollte. Tut sie dies nicht, und zwar auf eine ihrem begründungsorientierten Wesen entsprechende Weise, geht
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sie an ihren wesentlichen Aufgaben vorbei und macht sie sich im Grunde, sowohl aus der Sicht der Welt als auch aus ihrer eigenen, wohlverstandenen Sicht, überflüssig. Denn welche Aufgabe, welchen Nutzen könnte eine Philosophie noch haben, die über den eigenen, selbst gestellten Problemen die Probleme einer gemeinsamen Welt vergisst bzw. der es nicht mehr gelingt, ihre Probleme mit gemeinsamen Problemen zu verbinden? Das mag sehr rigoros klingen, hat aber direkt etwas mit jenen Legitimationsproblemen zu tun, denen sich auch in anderen Zusammenhängen der philosophische Verstand durch den wissenschaftlichen und den lebensweltlichen Verstand ausgesetzt sieht. Im übrigen, um noch einmal auf das Beispiel zurückzukommen, ging es hier nicht darum, für das reproduktive Klonen zu werben – dessen Möglichkeit, auf das humane Klonen bezogen, ohnehin noch in den (wissenschaftlichen) Sternen steht –, sondern allein darum, mit philosophischen Mitteln, d. h. auf eine philosophisch reflektierte, „voraussetzungslose“ Weise, zu zeigen, dass die wesentlichen, bisher gegen diese Form der Fortpflanzung vorgetragenen Argumente genauer betrachtet nicht greifen. Auch das gehört zu den wohlverstandenen Aufgaben einer weltzugewandten Philosophie.
III. Philosophie und Bildung „Es ist ein altes Vorurteil, dass das, wodurch sich der Mensch von dem Tiere unterscheidet, das Denken ist; wir wollen dabei bleiben“ (Hegel 1970, 23). Hegels Diktum aus seinen Berliner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie wiederholt die klassische Definition des Menschen als eines vernünftigen Wesens (animal rationale) und weist der Philosophie gleichzeitig die Rolle zu, institutionalisierter Ausdruck dieser Definition zu sein. Dies ist ein hoher Anspruch; vielleicht ein zu hoher Anspruch, neben dem die Enttäuschung wohnt. Und doch drückt sich gerade in ihm jene zuvor hervorgehobene Auffassung von Philosophie als eines in einer bestimmten Weise voraussetzungslosen, allein begründungsorientierten Denkens aus. Das heißt: Besonderheit und aus dieser Besonderheit abgeleitete Aufgabe des philosophischen Denkens bzw. einer in dieser Weise identifizierbaren philosophischen Rationalität liegen (noch einmal) darin, auch dort noch in analytischer und konstruktiver Form auf Klarheit zu dringen, wo sich das alltägliche und das wissenschaftliche Bewusstsein mit gewohnten und in diesem Sinne auch akzeptierten Überzeugungen schon zufriedengegeben hat. Daher konnte die Philosophie ihren Anspruch, begründungsorientiertes Denken zu sein, bzw. ihren Anspruch auf begründete Orientierungen in ihrer langen europäischen Geschichte am überzeugendsten stets in der
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Rolle von Aufklärung – gegenüber mythischen Lebensformen, fixen Weltbildern und repressiven Institutionen – zur Geltung bringen. Philosophische Reflexivität also im Wesentlichen als Widerstand, als etwas das Bestehende zur Disposition Stellende, als das das Selbstverständliche zum Tanzen Bringende? Auch dies war und ist gewiss eine wichtige Rolle der Philosophie. Nur beschränkt sich diese nicht auf eine Kritik oder Demontage des Bestehenden; vielmehr orientiert sie sich stets an der Idee des Menschen als eines Vernunftwesens bzw. an der Idee vernünftiger Verhältnisse. Nicht subjektive Neigungen, nicht dominante Entwicklungen oder ideologische Verhältnisse sollen die Organisation unserer Verhältnisse, der wissenschaftlichen ebenso wie der lebensweltlichen Verhältnisse, bestimmen, sondern allein das Denken. Denken hier aufgefasst als begriffliche Arbeit und als Orientierungsleistung, als – wie die Philosophie sagt – theoretische und praktische Vernunft. In Kants Analyse unter der Frage: „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ führt dies auf den Begriff des „Vernunftglaubens“ (Kant 1956– 1964, III, 276).2 Darunter ist ein Glaube verstanden, „welcher sich auf keine andere Data gründet, als die, so in der reinen Vernunft enthalten sind“ (ebd.): „Ein reiner Vernunftglaube ist also der Wegweiser oder Kompaß, wodurch der spekulative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientieren, der Mensch von gemeiner doch (moralisch) gesunder Vernunft aber seinen Weg, so wohl in theoretischer als praktischer Absicht, dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen vorzeichnen kann“ (ebd., 277).
„Freiheit im Denken“ setzt entsprechend „die Unterwerfung der Vernunft unter keine andere Gesetze als: die sie sich selbst gibt“ (ebd., 281), voraus, d. h., Vernunft muss nach Kant methodisch und begründungsorientiert verfahren. Wo dies nicht der Fall ist, „zerstört Freiheit im Denken […] endlich sich selbst“ (ebd., 282). Der Begriff des Vernunftglaubens steht hier folglich nicht für die bloße Hoffnung, dass das, was ist, vernünftig ist (Hegel), sondern für den entschiedenen Willen, Vernunft, eine auf begründete Orientierungen verpflichtete Vernunft, in allen Verhältnissen – wissenschaftlichen wie nicht-wissenschaftlichen Verhältnissen, und natürlich auch in den philosophischen Verhältnissen selbst – durchzusetzen. Die Frage, wann sich sagen lässt, dass etwas vernünftig sei, ist dann nur unter Rekurs auf die Leistungen der Vernunft selbst (unter den genannten Bestimmungen) beantwortbar. 2
Vgl. zum Folgenden Mittelstraß 1981, 119 f.
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Dem Begriff des Vernunftglaubens, wie ihn Kant versteht, ist der Begriff eines Vernunftinteresses zuzuordnen. Dieses Interesse besagt, Ziele und Handlungsregeln vernunftorientiert auszuarbeiten. Gegensatz dieses Interesses wäre ein solches, das sich allein auf subjektive oder auch sogenannte objektive Zwecke stützt. In der Wendung „sich im Denken orientieren“ ist das Denken stets in einem emphatischen Sinne als ein vernunftorientiertes Denken begriffen. Insofern lässt sich auch sagen, dass die Sache der Philosophie in der Entwicklung und in der Durchsetzung eines vernunftorientierten Denkens besteht. Tatsächlich – und das war gemeint, wenn es hieß, dass neben einem hohen Anspruch, der sich in diesem Sinne mit der Philosophie verbindet, die Enttäuschung wohnt – kommt die Philosophie einer derartigen Aufgabe nur noch in wenigen Fällen nach. Wer sich heute in einer philosophischen Bibliothek umsieht, versieht sich unversehens in die Geschichte versetzt. An die Stelle einer systematischen Bildung steht heute im wesentlichen eine historische Bildung, und selbst wo philosophische Titel – über Gott und die Welt, das Leben und den Tod – systematische Reflexionen erwarten lassen, verbirgt sich hinter ihnen meist doch nur eine historische Analyse (z. B. über Gott bei Thomas von Aquin, die Welt bei Kant, das Leben bei Nietzsche oder den Tod bei Heidegger). Wie schon gesagt: der Philosophiebegriff der philosophischen Forschung entspricht heute weitgehend dem Philosophiebegriff der Philosophiegeschichtsschreibung. Diese liest, aber denkt nicht, interpretiert, aber begreift nicht. Kants spöttische Bemerkung, dass den Gelehrten, „die aus den Quellen der Vernunft selbst zu schöpfen bemüht sind“, solche gegenüberstehen, „denen die Geschichte der Philosophie (der alten sowohl als neuen) selbst ihre Philosophie ist“ (Kant 1956–1964, III, 113), ist aktueller denn je. Man könnte auch sagen, dass die Philosophie weitgehend zu einer Geisteswissenschaft geworden ist; sie denkt und forscht wie diese, nämlich historisch, philologisch und hermeneutisch. Dafür gibt es wiederum historische Gründe. Die im 19. Jahrhundert erfolgende Akademisierung der Philosophie, die ihre Einordnung in die Geisteswissenschaften und ihre Institutionalisierung in einer von den Naturwissenschaften „befreiten“ Philosophischen Fakultät bedeutete, hat die Philosophie domestiziert, ihren Handlungsspielraum und ihre konstruktive Kraft eingeschränkt. Die Philosophie ist unter das Joch historischer und philologischer Methodenideale geraten und liebt diese seither mehr als ihre eigene analytische und konstruktive Kraft. Auch die Philosophischen Fakultäten, in denen es heute durch die Bank geisteswissenschaftlich zugeht, haben, so scheint es, ihre Zukunft schon hinter sich. Diese lag einmal in der Artistenfakultät der europäischen Tradition, die das heimliche Herz und zugleich der Kopf der Universität war. Kants selbstbewusste Darstellung dieser Fakultät erscheint nunmehr
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als der hübsche Einfall eines Philosophen, dessen Vorstellungen der historisierende Fleiß längst eingeholt hat: „Auf einer Universität muss […] eine philosophische Fakultät sein. In Ansehung der drei obern dient sie dazu, sie zu kontrollieren und ihnen eben dadurch nützlich zu werden, weil auf Wahrheit (der wesentlichen und ersten Bedingung der Gelehrsamkeit überhaupt) alles ankommt; die Nützlichkeit aber, welche die oberen Fakultäten zum Behuf der Regierung versprechen, nur ein Moment vom zweiten Range ist. – Auch kann man allenfalls der theologischen Fakultät den stolzen Anspruch, daß die philosophische ihre Magd sei, einräumen (wobei doch noch immer die Frage bleibt: ob diese ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt); wenn man sie nur nicht verjagt, oder ihr den Mund zubindet; denn eben diese Anspruchslosigkeit, bloß frei zu sein, aber auch frei zu lassen, bloß die Wahrheit, zum Vorteil jeder Wissenschaft, auszumitteln und sie zum beliebigen Gebrauch der oberen Fakultäten hinzustellen, muß sie der Regierung selbst als unverdächtig ja als unentbehrlich empfehlen.“ (Kant 1956–1964, VI, 290 f.)
Auf Wahrheit kommt in der Tat alles an. Nur nicht länger in einer Philosophischen Fakultät, die eine geisteswissenschaftliche geworden ist? Kant vertritt den anspruchsvollen Begriff einer Philosophie vor ihrer Entmündigung: durch die empirischen Wissenschaften, denen nunmehr die Natur verlässlicher und geordneter erscheint als der Geist, und durch die Geisteswissenschaften, die den Geist erst wahrnehmen wollen, wenn er alt, d. h. Teil der Geschichte oder gesicherter historischer Bestände, geworden ist. Kant wäre wohl der erste gewesen, der die Philosophie aus einer Universität herausgeführt hätte, die ihren Abschied nicht nur von der Universität Kants, sondern auch von der Universität Humboldts genommen hat (dazu gleich) und in diesen nur noch Mythen des universitären Geistes, etwa den Mythos Humboldt, wahrzunehmen vermag. Damit verbindet sich das Schicksal der Philosophie in einem gewissen Sinne mit dem Schicksal der Universität. Ein anderes Stichwort dafür lautet, die Philosophie einschließend, Bildung durch Wissenschaft. Es ist vor allem dieses Stichwort, mit dem Humboldt beschworen wird, dessen Universitätsreform durchaus in einem Kantischen Geiste erfolgte. Auch von dieser Reform aber ist nicht viel übrig geblieben. Auf den Gesichtspunkt Bildung durch Wissenschaft bezogen ist die faktisch bestehende Situation die, dass im allgemeinen öffentlichen Bewusstsein, aber auch im Bewusstsein der Universität selbst, Wissenschaft und Bildung weitgehend voneinander entkoppelt sind.3 Die Vermittlung einer wissenschaftlichen Arbeitsform, der die moderne Welt ihr Wesen verdankt, und – wenn es sie denn 3
Vgl. zum Folgenden Mittelstraß 1999, 22–25.
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noch geben sollte – einer wissenschaftlichen Lebensform mit den nichtwissenschaftlichen Arbeits- und Lebensformen der Gesellschaft gehört schon lange nicht mehr zu den von der Universität wahrgenommenen Aufgaben. Ausbildung im üblichen, Sachverstand und Expertentum auf nur noch begrenzten Feldern vermittelnden Sinne ist an die Stelle einer Einheit von Forschung, Lehre und Bildung getreten. In einer Welt, die ihre Bildungs- und Ausbildungsgewohnheiten vornehmlich an Märkten orientiert und in der sich der Wissenschaftler nicht mehr als Träger einer allgemeinen Bildungsidee versteht, hat die Vorstellung, dass Bildung sich an den Idealen einer durch Wissenschaft aufgeklärten Gesellschaft orientiert, kaum mehr eine Chance. Dabei wird sich Bildung gewiss nicht mehr auf die aufklärerische Vorstellung berufen können, dass allein das wissenschaftliche Bewusstsein wahrhaft gebildet ist. Sie wäre aber auch als eine mehr oder weniger betuliche Alternative zur fortschreitenden Verwissenschaftlichung der Welt gründlich missverstanden. Bildung hat schließlich stets etwas mit dem Wesen einer rationalen Kultur, anspruchsvoll formuliert: mit Identitätsfindung in einer rationalen Kultur zu tun. Sie ist ein Medium, in dem es dem Einzelnen, der Subjektivität, gelingen soll, in seiner besonderen Lebensform das Allgemeine (im Sinne einer überwundenen reinen Subjektivität) zu verwirklichen. Das gilt auch in einer Welt, in der der wissenschaftliche Verstand herrscht, und das könnte daher auch, in eins mit dem wissenschaftlichen Verstand, die Stunde der Philosophie in der Universität und weit über die Universität hinaus sein. Ihre Rationalitätsform als begründungsorientiertes Denken und spezifische philosophische Reflexivität ist schließlich auch eine – auf wissenschaftliche und durch Wissenschaft geprägte Verhältnisse abgestimmte – Bildungsform. Die Philosophie hat sich eine Erinnerung an den Zusammenhang von Wissenschaft und Bildung bewahrt, aber sie lebt diesen Zusammenhang nicht mehr, jedenfalls nicht in einem ihr eigenes Bild in der Wissenschaft und in der Öffentlichkeit prägenden Maße. Davon zeugen, wie erwähnt, ihr dominantes historisches Interesse, eine weitverbreitete Unklarheit über die Wahrnehmung eines begründungsorientierten Interesses und die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit eines, wie Kant sagt, Vernunftglaubens. Von eben diesem bzw. von der Wirklichkeit einer begründungsorientierten, im erläuterten Sinne voraussetzungsfreien philosophischen Rationalität aber wird weitgehend die Zukunft der modernen Welt abhängen. Diese erweist sich derzeit als eine Welt, die in ihren Wissenschafts- und Technikstrukturen stark, in ihren Orientierungsstrukturen aber eigentümlich schwach ist. Gemeint sind begründete Orientierungen, also auch und gerade solche, die es einer durch Wissenschaft und Technik geprägten Welt, in diesem Sinne technischen Kulturen, ermöglichen, mit ihren eigentümlichen Schwierig-
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keiten fertig zu werden. Die Entwicklung von Biologie und Medizin (Stichwort: Klonen) war als ein Beispiel derartiger Schwierigkeiten angeführt worden. Hier helfen nicht noch mehr Wissenschaft und noch mehr Technik weiter, sondern nur ein kluger Umgang mit wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen. Das aber macht noch einmal deutlich, welche Aufgaben der Philosophie in der modernen Welt zufallen könnten, wenn diese nur willens ist, derartige Aufgaben auch wirklich zu übernehmen. Dass sie dazu fähig wäre, ja dass eine derartige Orientierung eigentlich mit ihrem wohlverstandenen Wesen aufs engste zusammenhängt, sollten die hier angestellten Überlegungen zum Können und zum Sollen der Philosophie, damit auch zum Nutzen der Philosophie, deutlich machen. Philosophie, so Lichtenberg in seinen Sudelbüchern, „ist immer Scheidekunst“ (Lichtenberg 1967– 1974, II, 393) – mit dem richtigen Unterscheiden fängt alle Orientierung an, und in der Orientierung liegt der Nutzen der Philosophie.
Literatur Birnbacher, D., 1998: Die Fortpflanzung hat ihre Unschuld verloren. Ein Gespräch, in: Information Philosophie, H. 3/1998, 112–116. Eser, A., u. a., 1997: Klonierung beim Menschen. Biologische Grundlagen und ethischrechtliche Bewertung. Stellungnahme für den Rat für Forschung, Technologie und Innovation, Bonn. Gethmann, C.F., 1998: Ethische Argumente gegen das Klonieren von Menschen, in: Europäische Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen Bad Neuenahr-Ahrweiler GmbH. Akademie-Brief Nr. 9 (4/1998), 1–3. —, 2011: Die interdisziplinäre Funktion der Philosophie (Ethics of Science and Technology Assessment, 30), Heidelberg/Berlin/New York. [im Druck] Hegel, G. W. F., 1970: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke in zwanzig Bänden, hg. v. E. Moldenhauer/K.M. Michel, Bd. XVIII, Frankfurt/M. Kant, I., 1956–1964: Werke in sechs Bänden, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt/Darmstadt. Hierin bes.: – Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Bd. III, 109–264. – Was heißt: sich im Denken orientieren? Bd. III, 265–283. í Logik, Bd. III, 417–582. í Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bd. IV, 7–102. í Der Streit der Fakultäten in drey Abschnitten, Bd. VI, 261–393. Kitcher, Ph., 1997: The Lives to Come. The Genetic Revolution and Human Possibilities, New York. Lichtenberg, G. Chr., 1967–1974: Schriften und Briefe, 4 Bde., hg. v. W. Promies, München/Darmstadt.
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Mittelstraß, J., 1981: Was heißt: sich im Denken orientieren?, in: O. Schwemmer (Hg.), Vernunft, Handlung und Erfahrung. Über die Grundlagen und Ziele der Wissenschaften, München, 117–132. —, 1995: Art. Philosophie, in: Mittelstraß, J. (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, III, Stuttgart/Weimar. —, 1999: Philosophie in der Universität, in: K. Buchholz u. a. (Hg.), Wege zur Vernunft. Philosophieren zwischen Tätigkeit und Reflexion, Frankfurt/M., 17–25. Morgenstern, Chr., 1987–2001: Werke und Briefe. Kommentierte Ausgabe, 6 Bde., hg. v. R. Habel u. a., Stuttgart. Platon, 1990: Werke in 8 Bänden. Griechisch und Deutsch (Sonderausgabe), hg. v. G. Eigler, Darmstadt. Wittgenstein, L., 1960: Tractatus-Logico-Philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung (11921), Frankfurt/M.
Fragen, die keiner braucht? Zur Rolle der Philosophie im Wissenschaftssystem Martin Thomé Das Wissenschaftsjahr 2007, das achte, das vom Bundeministerium für Bildung und Forschung ausgerufen wurde, war ein Sonderfall in der Reihe der Wissenschaftsjahre: Erstmals war es nicht einem einzelnen klar umrissenen Fach gewidmet, sondern den Geisteswissenschaften insgesamt, also einem ganzen Strauß von Fächern – je nach Zählung bis zu 97 – die sich mit der Deutung und Erschließung der Hervorbringungen menschlichen Geistes beschäftigen. Eine solche Vielfalt erschien einerseits diffus, andererseits aber auch als die große Chance der Geisteswissenschaften, insgesamt und in ihren vielfältigen Bezogenheiten aufeinander öffentlich sichtbar zu werden und ihre Bedeutung für die Gesellschaft in einen breiten Diskurs einzuspeisen. Um es gleich zu sagen: Die Geisteswissenschaften haben diese Gelegenheit genutzt und sich unter dem Motto des Jahres ‚Die Geisteswissenschaften – ABC der Menschheit‘ quer durch alle Fächer mit weit über tausend Veranstaltungen bundesweit beteiligt. Sie haben Ausstellungen und öffentliche Vorlesungen organisiert, haben szenische Lesungen und audiovisuelle Umsetzungen ihrer Themen entwickelt, sie haben aktiv Debatten rund um zentrale Themen wie Arbeitsmarkt, interkulturelle Verständigung oder die Zukunft des Sozialstaates initiiert.1 Zugleich aber wurde in jenem Jahr deutlich, dass die Geisteswissenschaften nach wie vor ein höchst disparates Bild abgeben – ihre Vielfalt ist ihre Stärke, aber zugleich auch eines ihrer Probleme: Sichtbar wird Wissenschaft ja meist dann, wenn sie mit einer starken Stimme spricht und mit vereinten Kräften Lösungen für die großen Probleme der jeweiligen Zeit und aktuellen Weltlage vorstellt. Es wird noch einmal hierauf zurückzukommen sein – an dieser Stelle genüge der Hinweis auf dieses Charakteristikum der weithin sichtbaren Wissenschaften, die gegenwärtig zumeist mit den Naturwissenschaften identisch sind. Geisteswissenschaften dagegen werden als einzelne viel weniger offensichtlich und öffentlich sichtbar, sie bleiben zumeist knapp unterhalb 1
Näheres auf der Website des Wissenschaftsjahres: www.abc-der-menschheit.de
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der Wahrnehmungsschwelle: weil sie eben nicht die großen Antworten anbieten, sondern an vielen ‚kleinen‘ Lösungen arbeiten; sie bauen an vielen unterschiedlichen Stellen an dem Puzzle, das unsere Lebenswelt ausmacht und das man nur von weitem als Gesamtbild erkennt. Die Frage nach den Geisteswissenschaften und ihrer Bedeutung in der Gesellschaft stellt sich damit als die Frage nach der Möglichkeit einer Gesamtperspektive – und dieser Anspruch ist seit jeher der der Philosophie: Das Gesamt der Wirklichkeit in den Blick zu nehmen, den Überblick zu gewinnen und zu beschreiben, die Grundfragen zu stellen, die dem ganzen Puzzle, dem Zusammenspiel der Einzelteile, aus denen sich unsere Wahrnehmung der und unser Umgang mit der Wirklichkeit zusammensetzen, ein Gesicht und eine Gestalt geben. ‚Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?‘ – diese Grundfrage der Philosophie illustriert ihre Perspektive: Grundsätzlicher kann man kaum mehr fragen, umfassender kann man die Wirklichkeit kaum in den Blick nehmen, als es in dieser Frage beschlossen liegt.2 Wenn wir also nach der Philosophie fragen und ihrem Warum, dann stellen wir eben auch die Frage, ob eine solche grundsätzliche Perspektive noch sinnvoll ist, ob sie sich noch ‚lohnt‘, derart fundamental zu fragen und beharrlich davon auszugehen, dass eine wie auch immer geartete Gesamtperspektive auf die Wirklichkeit grundsätzlich möglich, ja sinnvoll und angezeigt sei.3 Und bezogen auf die Rolle der Philosophie im Wissen-
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Es soll damit nun keineswegs gesagt werden, dass alle Philosophie sich dauernd nur mit dieser Grundfrage befasse. Philosophie ist selbst wieder in zahlreiche Disziplinen und Untergliederungen differenziert – ‚die‘ Philosophie gibt es in dem Sinne nicht. Gleichwohl aber darf sicher angenommen werden, dass die Fragen, mit denen sich die verschiedenen Disziplinen und Anwendungsgebiete der Philosophie befassen, ihren grundlegenden Impetus eben daraus haben: Dass sie alle nämlich zu ihren Fragestellungen und ihren Weisen der Wirklichkeitsbeschreibung dadurch gelangen, dass sie sich aus dem Anfang jener Grundfrage an die Sachverhalte herantasten. Philosophie in diesem Sinne ist durchaus ‚eine‘ – nämlich eine Wissenschaft, die die Grundfrage des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses in ihren vielfältigen Differenzierungen und Ableitungen je eigens zu stellen und durchzuführen versucht. Natürlich wird hier keineswegs einem leichtfertigen Integralismus das Wort geredet, auch soll nicht einer längst sowohl gedanklich als auch praktisch überholten Einheitlichkeit der Wirklichkeit sentimentalerweise nachgetrauert werden. Gleichwohl aber ist es m.E. sinnvoll, den Grundimpuls der Philosophie – die Frage nach dem integrativen Moment in der Vielfalt und Desintegriertheit der Wirklichkeit – im Auge zu behalten und vielleicht gerader in einer Zeit, die die gesellschaftlichen Konsequenzen der nicht mehr hintergehbaren Desintegration durchaus auch schmerzhaft zu spüren beginnt, nach neuen Ansätzen für eine „Integrative Wissenschaft“ zu suchen, die jenseits von Nivellierung und Rückwärtsgewandtheit weiterführende Fragen zu stellen versucht. Vgl. hierzu u. a. die Symposiums-Publikationen der Deutsch-Japanischen Gesellschaft für Integrative Wissenschaft (Daiseion-ji e.V. 2006–2009).
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schaftssystem fragt sich an dieser Stelle: Kann ein Wissenschaftssystem sich solche Grund-Fragen überhaupt leisten? Will es sie, kann oder sollte es sie vielleicht sogar wollen? Und wenn ja: Wie müsste, wie könnte Philosophie heute ansetzen, um sich in dieser Rolle des Fragenstellens zu entwickeln und zu bewähren? Ein erster Blick auf die Rolle der Philosophie im Wissenschaftssystem zeigt ein eher düsteres Bild: An den Universitäten vielfach in eine Nische abgedrängt, aus den Exzellenzclustern weitgehend herausgefallen, macht sie schon hier, in ihrer ureigenen Heimat, nicht mehr sehr viel her, wird sie vielerorts als eine zwar noch ansehnliche, aber eben doch eher durch ihren exotischen Charakter als durch ihre fruchttragende Nützlichkeit ausgewiesene Orchidee angesehen. Dazu kommt, dass es in keiner der vier großen außeruniversitären Forschungsorganisationen – Max-Planck-Gesellschaft, Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft und Leibniz-Gemeinschaft – ein philosophisches Institut gibt und die Philosophie allenfalls in den Akademien der Wissenschaften und deren Programmen außeruniversitär vorkommt, dazu noch in einigen verstreuten Instituten wie etwa im Forschungsinstitut für Philosophie in Hannover, in einigen privat gegründeten und unterhaltenen Spezialinstituten und in den mittlerweile allerdings recht zahlreichen philosophischen Praxen.4 Kurz: kein sehr rosiges Bild vom Vorkommen der Philosophie im Wissenschaftssystem. Aber – und das ist der Punkt, von dem die folgenden Überlegungen entfaltet werden sollen – vielleicht ist der Wunsch nach einer ‚systemischen‘ Verortung der Philosophie in diesem Wissenschaftssystem ja auch gar nicht der Wunsch, den man der Philosophie wünschen möchte, gar nicht die Perspektive, die ihr wirklich angemessen wäre? Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Es folgt an dieser Stelle kein Plädoyer für die ‚luxuriöse Unwahrscheinlichkeit‘ der Philosophie, die sich nicht gemein machen sollte mit einem maroden und geschlossenen Wissenschaftssystem, sondern ihr Draußen vor der Tür in lebhafter Einsamkeit vor sich hin kultivieren möge. Vielmehr soll deutlich gemacht werden, dass Philosophie tatsächlich eine maßgebliche
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Gerade das zunehmende Florieren der Philosophischen Praxis als eigener Vermittlungs- und Anwendungsform der Philosophie jenseits der akademischen An- und Einbindung kann als ein Indiz dafür gelesen werden, dass das Bedürfnis nach Philosophie in der Gesellschaft durchaus groß ist und viele Menschen sich von der Philosophie diejenige Orientierungsstiftung erwarten, die sie in ihrer Lebenswelt zunehmend vermissen. Wenn auch das Niveau und die Leistungsfähigkeit der Philosophischen Praktiker durchaus unterschiedlich sein mögen, so verdient das Phänomen als solches Aufmerksamkeit, spiegelt sich in ihm doch ein Aspekt von Philosophie wider, der – cum grano salis – weder in einem reinen Nutzenkalkül noch in einer elfenbeinturmenen Selbstgenügsamkeit aufgeht.
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Rolle in diesem Wissenschaftssystem spielt und zu spielen hat – allerdings so, dass die Umrisse dieser Rolle von einer anderen Perspektive als der Konfrontation oder dem Jammer her zu zeichnen sind. Die Frage nach der Rolle von Philosophie im Wissenschaftssystem kann mit einigen Gründen zurückgeführt werden auf die Frage, welche Rolle die Philosophie eigentlich unter (und gegenüber) den Wissenschaften insgesamt spielt oder spielen könnte, welche Bedeutung ihr zukommen könnte im Gesamt der Voraussetzungen und Konsequenzen von Wissenschaft heute, ihrem Selbstverständnis und ihrer Außenansicht. Und deshalb sollen zunächst einige Anfragen an dieses Selbstverständnis und dieses Fremdbild von Wissenschaft formuliert werden – in einer Gesellschaft, die wie keine andere zuvor durch Wissenschaft geprägt, von ihr beeinflusst ist und die selbst wiederum die Wissenschaft durch ihre Ansprüche und Erwartungen massiv prägt und beeinflusst.5 Im November 2006 erschien ein von Julian Nida-Rümelin herausgegebenes Buch, das einiges Licht auf unser Thema werfen kann. Unter dem vielsagenden Titel Wunschmaschine Wissenschaft6 loten 27 Wissenschaftler in pointierten Beiträgen die Frage aus, was gegenwärtig aus Politik, Wirtschaft, Medien und den diversen gesellschaftlichen Gruppen an Ansprüchen und Wünschen an die Wissenschaft herangetragen wird – die, das vergisst der Herausgeber im Vorwort nicht zu betonen, selbst eigentlich vor allem den Wunsch hat, in Ruhe gelassen und vor weiteren Wünschen verschont zu werden. Und in der Tat: Wissenschaft hat in der Gegenwart in vieler Hinsicht tatsächlich die Rolle einer ‚Wunschmaschine‘ erhalten (und sicher auch zum Teil selbst eingenommen, ja gewählt): Wissenschaft ist für viele Menschen so etwas wie ein deus ex machina geworden, eine black box, in die man ein Problem hineingibt und am Ausgang die gewünschte Lösung erhält. Was soll die Wissenschaft nicht alles richten: den Klimawandel, den CO2-Ausstoß, das Bruttosozialprodukt und die gerechte Verteilung der Ressourcen auf der Erde, die optimale Bildung für alle und die Automatisierung ungeliebter Dienstleistungen, die saubere Energiegewinnung und den friedlichen Dialog zwischen den Kulturen: Überall hier und vielerorts mehr wird wie selbstverständlich ‚die Wissenschaft‘ herangezogen und in Dienst genommen, man wünscht sich von ihr Antworten auf alle Fragen – fast so wie in dem alten Wiener Straßensängerlied: „Der Papa wird’s scho richtn, dös g’hert zu seine Pflichten als Papa.“ 5
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Eben dieses spannungsvolle und vieldimensionale Wechselverhältnis war eines der zentralen Themen des Wissenschaftsjahres 2009 „Forschungsexpedition Deutschland“; vgl. auch www.forschungsexpedition.de. Vgl. Nida-Rümelin 2006.
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Das rührt sicher ein wenig auch daher, dass vor gar nicht so langer Zeit viele Wissenschaftler der Ansicht waren, Stephen Hawking habe recht mit seiner These, dass man in einigen Jahren die Weltformel entdecken werde, mit der sich alle stellbaren Fragen beantworten ließen. Hawking hat, wie wir wissen, diese Vermutung mittlerweile revidiert – und damit ein wenig Unsicherheit in die Allmachtsideen der Wissenschaft gebracht. Und damit sind wir, was die Reichweite der Wissenschaft und ihrer Antworten angeht, allem Anschein nach nicht wesentlich weiter als an dem Punkt, den Ludwig Wittgenstein im Tractatus Logico-Philosophicus unter der Nummer 6.52 formuliert hat: „Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.“7 Vielleicht aber – und das wäre eine erste weiterführende Frage – ist gerade ihre Indienstnahme als Antwortmaschine der Wissenschaft mittlerweile fast schon zum Verhängnis geworden? Denn zum einen kann man auch in diesem enger gefassten Sinne kaum noch von ‚der‘ Wissenschaft sprechen. Wissenschaft ist längst schon in eine Vielzahl von kleinen und kleinsten Fachbereichen, Sachgebieten und Einzelthemen aufgesplittert, in zwar weltweit vernetzte, aber dafür auch nur noch unter einer Handvoll weltweit verteilter Spezialisten diskutierbare Spezialisierungen differenziert. Freilich erbringen diese zahllosen Spezialisten in ihren Spezialbereichen luzide und bombenfest abgesicherte Ergebnisse und Antworten – aber unter Umständen kann schon der Kollege am selben Fachbereich zwei Türen weiter damit nichts mehr anfangen. Kurz: eine Unmenge richtiger, guter und weiterführender Antworten – aber niemand, der sie zusammenführen könnte und die übergeordnete Frage formulierte, durch die die Antworten erst in einen sinnvollen Zusammenhang kommen. Hin und wieder erinnert die Situation fast ein wenig an die Trilogie Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams,8 wo ein Supercomputer nach Millionen von Jahren Rechenzeit die ultimative Antwort auf alles, die Antwort auf das Universum im Ganzen ausspuckt – die Zahl 42. Allerdings hat man in der Zwischenzeit die Frage dazu vergessen und kann infolgedessen auch mit der Antwort nichts Rechtes mehr anfangen … Zum anderen ist die Verengung von Wissenschaft auf Naturwissenschaft, auf empirische Wissenschaft eine Reduktion ihrer selbst, die sie von wesentlichen Quellen ihrer Erkenntnis abschneidet. Denn die meisten gro-
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Wittgenstein 1963, 114. Vgl. Adams 1981ff.
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ßen Fragen, die sich den Wissenschaften stellen oder die ihnen gestellt werden, stammen ja gar nicht aus ihnen selbst: Die wesentlichen Fragen, die die Wissenschaft seit alters her und bis heute immer wieder bewegen und auf den Weg der Forschung bringen, sind Fragen, die aus der Selbstverständigung der Gesellschaft über ihre eigenen Grundlagen, Ziele und Probleme erwachsen. Wissenschaftliche Fragestellungen entstehen aus den Themen, die die Menschen bewegen und denen sie nachforschen, um sich und ihre Welt besser verstehen zu lernen. Um hier nicht missverstanden zu werden: Natürlich generiert Wissenschaft ihre eigenen Fragen und Themen, natürlich bringt jede Forschung neue Nachforschung hervor, natürlich kann letztlich nur der Wissenschaftler selbst mit den Differenzierungen und Teilproblemen seines Faches etwas Sinnvolles anfangen. Aber die ‚Initialzündung‘ für Wissenschaft kommt eben nicht aus ihr selbst, sie kommt aus dem, was Menschen bewegt und beschäftigt, sie kommt aus den Bedingungen des Menschseins selbst, die ebenso aus Neugier wie aus Zukunftssorge, aus Verantwortungsgefühl wie aus Entdeckerlust bestehen. Diese Bedingungen des Menschseins aber sind gerade nicht mehr selbst Gegenstand der Naturwissenschaften, sie sind seit alters her Gegenstand der Geistes- und Sozialwissenschaften – und in der Frühzeit der Wissenschaft, als diese beiden Bereiche noch gar nicht strikt voneinander getrennt waren, sondern (eben aufgrund eines anderen Verständnisses von ‚Wissenschaft‘) ineinander übergingen und eigentlich einen einzigen bildeten, waren diese Bedingungen des Menschseins zugleich Bedingungen von Wissenschaft. Das ist der Ort, wo Philosophie ihren Ursprung hat – nicht nur als Wissenschaft für sich, sondern als Wissenschaft in der Gesellschaft und für die Gesellschaft. Nebenbei bemerkt: Als Folgeband zu dem eingangs zitierten Buch über die Wunschmaschine Wissenschaft erschien Ende Oktober 2008 ein weiterer Sammelband mit dem Titel Keine Wissenschaft für sich, der der Frage nachgeht, was gesellschaftlich relevante Wissenschaft eigentlich sei.9 Und nicht ohne Grund spielen dabei die Geisteswissenschaften – und hier immer wieder die Philosophie – eine wichtige Rolle (die manchmal explizit, meist aber implizit in den Argumentationslinien sichtbar wird und die insofern eine Art ‚basso continuo‘ der Texte bildet): Vielleicht, weil man der Philosophie nach wie vor zutraut (oder heute mehr denn je? oder endlich wieder?), die Brücke zwischen Wissenschaft für sich und Wissenschaft für uns zu schlagen, indem sie nach Relevanzen fragt und sie auch zu erhellen vermag. 9
Vgl. Schavan 2008.
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Dieser Frage – was eigentlich gesellschaftlich relevante Wissenschaft ausmacht – soll im Folgenden ein wenig weiter nachgegangen werden: mit Blick auf die Philosophie und ihre Besonderheiten gegenüber anderen Agenten im Wissenschaftssystem. Wichtig ist dabei allerdings vor allen Dingen eine grundlegende Klarstellung: Relevanz darf nicht mit Nutzen verwechselt werden (und dieser dann auch noch einseitig als Ertrag definiert werden). Denn sonst gleitet die Frage ab in eine unselige Nutzen-Diskussion, die im Jahr der Geisteswissenschaften von einigen Protagonisten besonders intensiv geführt wurde und die unserer Meinung nach im Ansatz verfehlt ist: Weder die These von der hehren Nutzlosigkeit der Geisteswissenschaften, die sie von allen anderen abhebt und derentwegen sie als letzte Bastionen der Freiheit in einer verzweckten Welt alimentiert werden müssen, noch die dagegen aufgebrachten Argumente für einen dezidierten Nutzen der Geisteswissenschaften, der sich in Creative Industries und im Kulturbereich als ArbeitsplatzMotoren niederschlage oder z. B. durch das Kennenlernen anderer Kulturen neue globale Märkte erschließen helfe, sind unseres Erachtens auf das Entscheidende fokussiert. Denn sie betrachten – wie alle anderen auch – die Geisteswissenschaften und hier speziell auch die Philosophie eben auch wieder nur unter dem (aus dem Verständnis der Naturwissenschaften abgeleiteten, aber auch dort vielleicht nicht wirklich angemessenen) Blickwinkel einer antwortzentrierten Wissenschaft und diskutieren dann in der ersten Ableitung hieraus die Frage, ob die gegebenen Antworten nützlich sind bzw. sein dürfen oder nicht. Mit anderen Worten: In der Debatte um Nutzen und Ertrag der Philosophie wie der anderen Geisteswissenschaften wird das Paradigma von Wissenschaft als Antwortmaschine fraglos vorausgesetzt und als selbstverständlich angenommen. Niemandem indes fällt ein, diese vorausgesetzte und stillschweigend von allen geteilte Antwortorientierung von Wissenschaft generell einmal zur Debatte zu stellen. Aber ist unter den gegenwärtigen Bedingungen, unter denen Wissenschaft stattfindet, eine solche Debatte überhaupt möglich, überhaupt sinnvoll führbar? Das Wissenschaftssystem lebt schließlich zum allergrößten Teil eben davon, dass mit seinen Ergebnissen Erträge erwirtschaftet werden. Einmal abgesehen von der Forschung, die in Wirtschaft und Industrie geleistet wird und die primär naturwissenschaftlich-technisch ausgerichtet und zum allergrößten Teil an Markterfordernissen ausgerichtet ist: Muss es nicht auch bei der Forschungsförderung durch die öffentliche Hand ebenfalls in erster Linie um Erträge aus Wissenschaft gehen, da der Einsatz von öffentlichen Fördermitteln ja auch öffentlich verantwortet und gerechtfertigt werden muss? Und eine solche Rechtfertigung geschieht nun einmal zunächst durch Erträge – sehr schön illustriert durch die Aussage der früheren Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn, dass ‚gefördert wird,
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was Arbeitsplätze schafft‘. Nun: Die Philosophie schafft deren relativ wenige. Und man könnte mithin die schöne Frage stellen, was denn eigentlich von der Philosophie an Ertrag erwirtschaftet wird, der dann die Förderung von Forschungsvorhaben durch den Staat rechtfertigen würde. Und gerade wenn der Förderer nicht etwa eine Stiftung ist, sondern der Staat, dann wird die Frage nach diesem Ertrag auch nicht etwa nur in den reinen wissenschaftlichen Ergebnissen ihre Antwort finden, sondern zumindest indirekt auch die Interessen dieses Staates, sprich politische Vorgaben und Maßgaben im Blick haben. Das soll nun nicht insinuieren, dass etwa die Philosophie quasi als ‚ancilla rei publicae‘ die Rolle der Begründungs- und Legitimationsinstanz für politische Entscheidungen übernehmen solle – ein solches Ansinnen würde ebenso von der Philosophie zurückgewiesen werden wie es von Seiten der Politik nicht an sie herangetragen wird. Gleichwohl aber wird hier ein Bereich berührt, der eines der wichtigsten Schnittfelder zwischen Wissenschaft und Staat ausmacht und in einer komplexen, pluralen Gesellschaft und unter den Zeichen fortschreitender Globalisierung immer wichtiger werden dürfte: der Bereich der wissenschaftlichen Politikberatung. Es sei hier nur kurz daran erinnert, dass Deutschland seit dem Frühjahr 2008 eine Nationale Akademie der Wissenschaften hat: Die Akademie der Naturforscher Leopoldina zu Halle wurde dazu berufen, als Nationale Akademie einerseits die Stimme der deutschen Wissenschaft im internationalen Konzert zu sein und andererseits der Politik die notwendige Beratungsleistung aus der Wissenschaft heraus angedeihen zu lassen. Und es ist hierbei durchaus erwähnenswert, dass die Leopoldina als Nationale Akademie ausdrücklich gehalten und aufgerufen ist, sich – als zunächst primär naturwissenschaftlich ausgerichtete Akademie – der Kompetenzen der anderen Akademien der Wissenschaften (die ja bekanntlich geisteswissenschaftlich ausgerichtet sind – mit Ausnahme von acatech) zur Erfüllung ihrer Aufgaben zu versichern; und vielleicht liegt darin ja auch schon ein Nukleus der Anerkennung einer über das rein Fachliche hinausweisenden Relevanz der Philosophie. Hier ist nun nicht der Ort, das breit gefächerte Thema ‚Wissenschaftliche Politikberatung‘ in seinen verschiedenen Facetten zu entfalten – zumal vieles von dem, was unter diesem Stichwort subsumiert wird, nur wenig bzw. gar nichts mit Philosophie zu tun hat, sondern sich sehr stark im Bereich der Technik und Naturwissenschaften bewegt. Es soll auch keine kritische Bestandsaufnahme der real existierenden Politikberatung in Deutschland unternommen werden, ebenso wenig wie ein naives Loblied auf die schlussendlich sich doch erweisende Unverzichtbarkeit der Philosophie für die Begründung richtiger politischer Entscheidungen angestimmt werden soll. Der Hinweis auf die Politikberatung zielt auf etwas anderes.
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Wissenschaftliche Politikberatung kann in drei grundlegende Aufgabenfelder differenziert werden: Erstens besteht ihre Aufgabe in der Durchsicht zurückliegender Themenstellungen und Fragefelder auf Offengebliebenes, auf blinde Flecken und unerkannte bzw. unbearbeitete Aspekte von möglicherweise heutiger oder morgiger Relevanz. Ihre zweite Aufgabe liegt in der systematischen Zusammenschau gegenwärtiger Themen und Fragen auf ihre Zusammengehörigkeit und ihre vielfachen Wechselwirkungen hin, so dass aktuelle Probleme und Lösungsversuche seitens der Wissenschaft miteinander verknüpft und effizient in anstehende Entscheidungsprozesse eingebunden werden können. Drittens schließlich hat sie die Aufgabe, das Fragen der Politik, der Gesellschaft und der Wissenschaft auf mögliche künftige Horizonte hin zu perspektivieren, also prospektiv Fragehorizonte zu entwerfen, in die hinein sich die Gesellschaft bewegt und von denen her Politik und Wissenschaft auch auf längere Sicht ihre Themen und Herausforderungen beziehen werden. Diese drei Aufgabenfelder gehören notwendig zusammen, sie sind nicht strikt voneinander zu trennen: Wenn sie auch durchaus von verschiedenen Akteuren auf unterschiedlichen methodischen Grundlagen und mit divergierenden Handlungsoptionen bearbeitet werden, so stellen sie doch ein Gesamtgefüge dar, dessen Elemente einander ständig gegenseitig beeinflussen. Und gerade deswegen brauchen sie ein Einheitsmoment, eine Perspektive, die ihren Zusammenhang sichtbar macht, sie benötigen einen Interpretationskontext, von dem aus frühere Lösungen durch den Filter aktueller Herausforderungen in den Horizont kommender Fragen eingehen können und damit die Gesamtleistung eines komplexen Wissenschaftssystems in politische Entscheidungen und gesellschaftliche Weichenstellungen einfließen kann. Diesen Interpretationskontext – das ist die erste zentrale These dieses Beitrags – stellt Philosophie bereit. Philosophie ist geradezu die Schlüsseldisziplin, die das Einheitsmoment dieser vielfachen Aufgabe darstellt und erschließt, sie ist dasjenige Fach, ohne das die geforderte Beratungsleistung sich im bloßen Bereitstellen von Antworten auf tagesaktuelle Probleme erschöpft, jedenfalls aber keinen Zusammenhang über die genannten drei Aufgabenfelder und damit über die Gesamtentwicklung von Wissenschaft und Gesellschaft über lange Sicht erkennen lässt noch bereitstellen kann. Das bedeutet auch, dass die Philosophie sich im Gesamt des Wissenschaftssystems und hier auch mit ihrer Bedeutung für die wissenschaftliche Politikberatung eben nicht in einer reinen praxis- und umsetzungsorientierten Beratungsleistung erschöpft, sondern dass ihr Beitrag zu den großen Fragen der Gesellschaft viel grundsätzlicher ist: als Strukturierung, als Vermessung des Feldes, in dem diese Fragen sich abspielen, als Auslotung der Handlungsspielräume und Frageaspekte, zwischen denen sich Gesell-
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schaft und Politik bewegen. Das bedeutet natürlich andererseits nicht, dass Philosophie sich nun doch wieder verstehen könnte als diejenige Wissenschaft, die allen anderen sagt, wo es langgeht und wie sie handeln müssen, wenn sie denn recht und richtig handeln wollen. Um es im Bild zu sagen: Philosophie ist nicht die Disziplin, die die oberste, am hellsten erleuchtete und weithin ins Land strahlende Etage im Elfenbeinturm bewohnt – aber ebenso wenig ist sie die Disziplin, die als Magd aller anderen die Stiege zu putzen und die Kohlen aus dem Keller zu holen hat. Wie kann aber nun die Rolle der Philosophie zwischen diesen beiden Polen näher beschrieben werden? Denn einerseits hat sie nach dem oben Gesagten eine deutlich kritische Funktion gegenüber gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, andererseits aber wird sie in dieser Position auch verpflichtet auf eine Moderatorenrolle zwischen den verschiedenen Gruppen und Positionen. Und in dieser zweifachen Rolle bleibt sie natürlich immer abhängig von der Förderung durch eben jene, die sie einerseits kritisch begleiten und andererseits moderierend verbinden soll. Wenn man diese Überlegung ein wenig verlängert, ist man dann auch sehr rasch bei der Frage, ob ein Wissenschaftssystem, das vielfältig von Interessen unterschiedlicher Gruppen geprägt ist (und vom sinnvollen und konstruktiven Ausgleich dieser Interessen), sich eine Philosophie in solch einer immerhin recht herausgehobenen Rolle überhaupt leisten will: Wird die Philosophie dann, wenn sie diese Doppelrolle übernehmen will, nicht zwischen der Notwendigkeit der Unabhängigkeit und dem Druck zur Anpassung zerrieben werden – und dies sowohl was ihre finanzielle Abhängigkeit von eben diesem Wissenschaftssystem angeht als auch was ihre öffentliche Akzeptanz und Autorität angeht? Die Diskussion um Philosophie und ihre Rolle im Wissenschaftssystem ist nicht zu führen entlang der Scheidelinie ‚Konformismus – Nonkonformismus‘ mit Blick auf Fördertöpfe und allgemeine Anerkennung – ja diese Diskussion ist überhaupt nicht aus der Perspektive der Fördertöpfe entscheidbar. Es gibt hinreichend Programme für die Förderung von Geisteswissenschaften, die – und das ist völlig natürlich – den Bedingungen der jeweiligen Fördergeber angepasst sind. Es gibt aber auch genügend Beispiele dafür, dass Philosophie, wenn sie sich nur auf das Stellen der richtigen Fragen besinnt und kapriziert, eben dazu ohne Ertragserwartungen gefördert wird. Wichtig wird in diesem Zusammenhang – einmal abgesehen von einer wohlfeilen Schelte auf verständnislose und gegenüber der Freiheit des Denkens bürokratisch verbohrte Fördermittelverwalter – noch etwas anderes: Dass nämlich die Philosophie auch ein wenig von ihrer manchmal doch recht larmoyanten Art abrückt, in der sie sich einerseits beklagt, dass sie nicht genügend beachtet und geschätzt wird, andererseits aber aus ei-
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nem sehr hohen Selbstgefühl heraus sich auch nicht genötigt sieht, sich mit denen, von denen sie Mittel und Anerkennung will, dergestalt zusammenzusetzen, dass auch deren Fragen ernst genommen und nicht als Fußnote zur Philosophiegeschichte abgetan werden. Dies wäre ein wichtiger Schritt der Philosophie selbst in Richtung ihrer beschriebenen doppelten Rolle im Wissenschaftssystem. Und wenn sie ihn tut, wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit feststellen, dass ihr das Ernstnehmen der Fragen der Menschen und der Gesellschaft, die zumeist doch aus Nichtphilosophen besteht, durchaus gut zu Gesicht stehen kann. Denn es ist nicht apriori schandbar, wenn Philosophen sich mit Themen beschäftigen, die nicht in erster Linie auf dem nächsten Fachkongress als Entdeckung der Bedeutung des Apostrophs im Gesamtwerk Kants oder als Erhellung der Position von A zur Kontroverse zwischen B und C angesichts einer Auseinandersetzung zwischen D, E und F über die Wirkungsgeschichte der Debatte zwischen G und H vorgestellt und gefeiert werden können. Man kann sich ja auch durchaus einmal mit der Frage nach philosophischen Kriterien einer Arbeitsmarkt- oder Bildungsreform befassen oder auch mit anthropologischen Aspekten der Konfliktforschung, mit Wirtschaft und mit Nachhaltigkeit, mit Politik und mit Neurobiologie. Und man wird feststellen: Je mehr die Philosophie sich in diesen Kontexten engagiert, desto eher und stärker wird sie gehört, desto höher wird ihre Relevanz und ihre Anerkennung gerade dort, wo sie ansonsten nicht oder nur als Underdog repräsentiert zu sein scheint. Natürlich ist diese Gegenüberstellung überzeichnet, und natürlich gib es zahlreiche Philosophen, die sich mit eben diesen genannten Themen befassen. Aber die Philosophie als akademische Disziplin und als Akteur innerhalb des Wissenschaftssystems ist doch immer noch ein gutes Stück davon entfernt, sich derlei Themen als ihr ureigenstes Geschäft vorzunehmen und zu bearbeiten – jenseits der Inszenierung von Feuilleton-Debatten um ihre zunehmende Marginalisierung. Die Philosophie ist gegenwärtig in der Situation, ihre Rolle im Wissenschaftssystem, in der Gesellschaft insgesamt neu finden und definieren zu müssen – aber auch zu können. Sie hat angesichts der Pluralität der Fragen, die sich der Gesellschaft heute und in Zukunft stellen, die einmalige Chance, sich nicht nur anpassen zu müssen, sondern sich auch mit ihren eigenen Kompetenzen neu positionieren zu können und sich als tatsächlich ertragreich für Wissenschaft und Gesellschaft zu zeigen. Die Philosophie sollte sich angesichts dieser Sachlage dabei einerseits hüten, in die Diktion von ihrer ‚luxurösen Unwahrscheinlichkeit‘ zu verfallen – sie sollte sich aber auch hüten, sich von vorneherein unter einem rein materiell interpretierten Nutzen-Diktat zu sehen. Das, was hier mit Ertrag gemeint ist, ist das, was jede Wissenschaft aus ihrem originären Können zum Gesamt einer Gesell-
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schaft beitragen kann – und der originäre Beitrag der Philosophie in den genannten Zusammenhängen ist nun eben nicht das Beischaffen der richtigeren, der besseren, der abschließenderen und endgültigeren Antworten, sondern das Herausfinden und Formulieren der richtigen, der guten, der weiterführenden Fragen. Weiterführende Fragen: Das sind, wie schon gesagt, die ‚richtigen‘ Fragen: weder eine beliebige Fragerei um ihrer selbst willen noch die rein rhetorischen Fragen, die nur gestellt werden, damit die längst schon fertigen Antworten um so strahlender präsentiert werden können. Richtige Fragen: Das sind die Fragen, die dem Forschen neue Horizonte eröffnen und neue Zusammenhänge erschließen und die daher niemals wirklich zu einem Ende kommen, sondern für die Wissenschaft immer neuer Anreiz zum Weitertreiben der Grenzen der Erkenntnis sind – und auch diesen Impetus der Wissenschaft selbst noch einmal zur Frage machen und die Wissenschaft damit immer wieder an ihre Verantwortung im größeren Kontext erinnern. ‚Richtige‘, gute Fragen sind Fragen, die den Denkhorizont öffnen, aus dem heraus sich diejenigen Fragen zeigen können, die in Zukunft das Denken ebenfalls offen halten. Man könnte vielleicht so formulieren: Gute Fragen sind Fragen, die die Vorläufigkeit der Antwort berücksichtigen und in eine asymptotische Näherung eintragen – denn Fragen als Denkprinzip ist eine E-Funktion, und die ist nun einmal dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht endgültig an ein Ende kommt. Der Ansatz beim Fragen – das ‚Fragende Denken‘ – gründet in der Auffassung, dass eine richtige Fragestellung nicht zugleich mit einem Problem gegeben ist und dass erst eine wirkliche Besinnung auf die angemessene Frage zum produktiven Umgang mit dem Problem führen kann: Fragen öffnen den Denkhorizont, Antworten schließen ihn. Im Ansatz des Fragenden Denkens liegt die Frage nach der je angemessenen Frage begründet. Er geht davon aus, dass in einer Situation nicht primär die Antwort wichtig ist, sondern dass zunächst einmal Klarheit über die richtige Frage herrschen muss, damit auch gegebenenfalls eine zutreffende Antwort entstehen kann. Die ‚richtigen‘ Fragen sind daher plural, sie sind nicht eindeutig. Denn sie machen, wenn sie gestellt werden, die ganze Komplexität der Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen, erst sichtbar. Sie bringen die Wissenschaft nicht auf die ‚sichere Seite der Gleichung‘, weil sie nicht auf eine lineare Wissensmehrung zielen, sondern auf den Überblick über die Zusammenhänge von Wissenschaft, Gesellschaft und Lebenswelt. Und sie haben zugleich integrativen Charakter, weil sie die Vielfalt von Wissenschaft mit der Vielfalt ihrer Gestaltungsmöglichkeiten und Resonanzräume vermitteln und auf diese Weise den heute mehr denn je notwendigen Zusammenhang von Wissenschaft und Lebenswelt ausweisen.
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Das könnte eine zentrale Rolle der Philosophie im Wissenschaftssystem sein: nicht das Einstimmen in den gängigen und öffentliche Anerkennung verheißenden Antwort-Gestus von Wissenschaft, der reiche Erträge verspricht und das Bild von ‚der Wissenschaft‘ als Allheilmittel gegen die Unbilden der modernen Welt verfestigt. Wissenschaft ist nicht die black box, in die man ein Problem hineingibt, um als Ausgabe das Rezept für seine Lösung zu erhalten, sie ist nicht das Wundermittel, das für jede mögliche Lebenssituation das richtige Verfahren bereitstellt – und gerade die Philosophie könnte dies sichtbar und (was mindestens ebenso wichtig ist) verständlich und plausibel machen. Philosophie könnte die Aufgabe übernehmen, das Fragende Denken im Wissenschaftssystem wieder zu etablieren und die scheinbare Selbstverständlichkeit, mit der Wissenschaft als Antwortmaschine fungiert, als fraglich und damit einer ernsthaften NachFrage wert zu zeigen. Die Rolle der Philosophie im Wissenschaftssystem bestünde dann weder darin, im Wissenschaftsbetrieb regelmäßig die Einhaltung bestimmter Regeln anzumahnen, noch darin, einer auf Ertrag fokussierten Forschungsszene den Mantel des L’art pour L’art umzuhängen, um solcherart das finstere Zerrbild einer rein nutzenorientierten Wissenschaft ein wenig freundlicher zu gestalten; sie bestünde weder darin, das Feigenblatt für das Land der Dichter und Denker in seiner Selbstwahrnehmung und Außendarstellung abzugeben, noch darin, hieb- und stichfeste Legitimationen für Ziele und Methoden der ‚exakten‘ Wissenschaften zu präsentieren. Die Rolle der Philosophie im Wissenschaftssystem bestünde dann darin, die Suche nach den ‚richtigen‘ Fragen in der Wissenschaft und vor allem auch ihn ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung wieder salonfähig zu machen, ja letztlich damit der Wissenschaft selbst wieder mehr von ihrer Unberechenbarkeit und jenseits allen Nutzenkalküls notwendigen Freiheit zurückzugewinnen. Was die ‚richtigen‘ Fragen sind: Das muss die Wissenschaft, müssen die Wissenschaften selbst herausfinden – aber nicht im stillen Kämmerlein und unter sich, sondern im erneuerten Dialog untereinander und mit der ‚Welt da draußen‘, mit Gesellschaft, Kultur, Politik, Wirtschaft usw. Eine solche ‚richtige‘ Frage könnte etwa lauten: Welche Fragen müssen wir heute stellen, damit wir in 10 Jahren die richtigen Fragen stellen können? Das wäre eine Aufgabe der Philosophie, und es ist durchaus denkbar, dass sie damit auch bei Förderorganisationen punkten kann. Es gibt genügend Programme im staatlichen wie privaten Umfeld, die sich mit der Förderung von Langzeiteditionen oder philologischen Akribie-Arbeiten befassen. Und das ist gut und wichtig so. Aber das, was eigentlich die Leistung der Philosophie sein könnte: das Öffnen von Fragehorizonten für Themen, die sie selbst gar nicht oder nur am Rande ihre eigenen nennt, das
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könnte sie auch in der Außenwahrnehmung in ein neues Licht rücken, das könnte ihre Relevanz für die Gesellschaft deutlich machen, das könnte ihren Ertrag jenseits ökonomischer Bemessungen oder antwortverliebter Akutproblemstellungen ausweisen. Philosophie ist diejenige Disziplin, die die Fragen stellen kann, die alle brauchen – gerade weil sie jenseits der schnellfertigen Antworten auf die Erweiterung des Denkhorizontes zielen, gerade weil sie Folgefragen eröffnen und das Denken nicht bei einer ‚wissenschaftlichen‘ Antwort zur Ruhe kommen lassen. Philosophie stellt – gerade in einem Wissenschaftssystem, das von vielfältigen Differenzierungen geprägt ist, das nachgerade unüberschaubar wird und in dem die Verständigung der Wissenschaften untereinander immer mühsamer wird, das zudem unter dem Druck vieler Interessengruppen und Anteilseigner immer mehr zur Antwortmaschine wird, das schließlich von einem höchst unübersichtlichen Konglomerat an Förderund Finanzierungsvarianten geprägt ist – diejenigen Fragen, die alle brauchen: die Fragen nach Sinn, Zusammenhang und Perspektive, ohne die auch das Wissenschaftssystem insgesamt seine Relevanz in Frage gestellt sieht. Philosophie: Fragen, die keiner braucht? Fragen, die alle brauchen!
Literatur Adams, D., 1981ff: Per Anhalter durch die Galaxis/Das Restaurant am Ende des Universums/Das Leben, das Universum und der ganze Rest, München. Daiseion-ji e.V. (Hg.), 2006–2009: Symposiums-Publikationen der Deutsch-Japanischen Gesellschaft für Integrative Wissenschaft, Bde. 2–5, Dettelbach. Nida-Rümelin, J., (Hg.) 2006: Wunschmaschine Wissenschaft. Von der Lust und dem Nutzen des Forschens, Hamburg. Schavan, A. (Hg.) 2008: Keine Wissenschaft für sich. Essays zur gesellschaftlichen Relevanz von Forschung, Hamburg. Wittgenstein, L., 1963: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung (edition suhrkamp 12), Frankfurt a.M. (urspr.: London 1922).
Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren? Klaus Draken Als Überschrift für meinen Beitrag habe ich den Titel der Tagung, für den er konzipiert wurde, leicht abgewandelt. Zum einen ist aus dem Gegenständlichkeit suggerierenden Substantiv „Philosophie“ das Tätigkeit in den Blickpunkt rückende „Philosophieren“ geworden. Zumindest philosophiedidaktisch betrachtet nämlich lassen sich wohl schwerlich „vom Philosophieren Ergebnisse erwarten, die in letzthinniger Weise für alle konsensfähige Inhalte formulierten. Dies liegt daran, dass das Philosophieren so gegenwärtig und so vielfältig sein muss, wie die Menschen, die es betreiben. Mit Ausnahme der Universitätsprofessoren, einiger Lehrer, Dozenten der Erwachsenenbildung und verschwindend weniger ‚philosophischer Praktiker‘ ist ‚Philosophie‘ schwerlich ein Beruf, sondern eher eine ‚Einstellung‘, eine Orientierungsweise. Bedeutung erhalten philosophische Einsichten primär ‚für uns‘, im ‚existentiellen‘ Rückbezug an den Philosophierenden. Jeder erfährt dies an sich selbst: Sinn und Bedeutung kann etwas im Wesentlichen ‚für mich‘ haben, es haftet der Sache nicht einfach an, sondern wird ihr beigemessen. Philosophische Bildung steht für unser aller Bemühen um ein selbst verantwortetes und gestaltetes Wissen, bei dem sozusagen die ganze Person mitschwingt, und das uns in unserer begrenzten Lebenszeit die Welt und unsere Existenz erklären soll.“ (Steenblock 2009, 11 f.) Dass ich mich im Folgenden auf Schülerinnen und Schüler begrenze, liegt an meinem Arbeits- und Erfahrungsfeld. Dort steht der auf die Leitwissenschaft Philosophie bezogene Schulunterricht im Zentrum, sei es im eigenen Unterricht, in der Lehrer/innenaus- und -fortbildung, bei der Schulbucharbeit, in fachdidaktischen Diskursen oder in der Vorstandsarbeit für den Fachverband Philosophie in Nordrhein-Westfalen, in dem die Unterrichtenden der Fächer Philosophie und Praktische Philosophie organisiert sind. Aus dieser Perspektive werde ich von den vielfältigen Veränderungen ausgehen, welche die Rahmenbedingungen schulischen Lernens und Unterrichtens – insbesondere mit Blick auf unsere Fächer Philosophie und Praktische Philosophie – am Beispiel Nordrhein-Westfalens bestimmen. Diese Veränderungen sind aber in vielerlei Hinsicht nicht auf ein Bundesland beschränkt, sondern beziehen sich
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1. auf die Gesamtgesellschaft und damit auf Transformationen, die uns alle, in besonderer Weise aber Kinder und Jugendliche betreffen, 2. auf die föderal unterschiedlich umgesetzten, aber in ihrer Tendenz bundesweit ähnlichen Veränderungen in den Schulen selbst, 3. auf sich verändernde Fächer mit Bezug zur Leitwissenschaft Philosophie, d. h. auf das klassische Oberstufenschulfach Philosophie und das für Nordrhein-Westfalen neu entstandene Fach der Sekundarstufe I Praktische Philosophie, 4. auf die neue Form der kultusministeriellen Vorgaben für diese Fächer im Sinne der heute angestrebten Kompetenzorientierung, 5. auf die wiederum bundesweit im Diskurs entwickelten Veränderungen in den Reflexionen ihrer Didaktik und Methodik und somit 6. auf die länderübergreifend zu formulierenden Anforderungen, vor die sich die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrer gestellt sehen sollte.
I. Transformationen in der Gesellschaft – veränderte Jugend Zwar leben Menschen seit Anbeginn in sich verändernden gesellschaftlichen Kontexten. Schon im antiken Athen, in dem Sokrates seine Mitbürger mahnt, haben wir es mit einer Zeit des Umbruchs zu tun. Heute haben wir allerdings grundlegende Veränderungsprozesse unter anderen Bedingungen zu bewältigen. Neben Globalisierung, Ökonomisierung und dem wachsenden Bewusstsein für die selbst geschaffenen existentiellen Zukunftsbedrohungen wird soziologisch vor allem auf die Individualisierung sowie den Einfluss der neuen Medien verwiesen, die deutlich spürbar auf unsere Kinder und Jugendlichen einwirken. Individualisierung und ihre Folgen gelten dabei als wirkmächtiges Modell zur Erklärung manch problematischer Entwicklung. Ulrich Beck spricht bekanntlich von „einer dreifachen ‚Individualisierung‘: Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (‚Freisetzungsdimension‘), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (‚Entzauberungsdimension‘) und – womit die Bedeutung des Begriffes gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird – eine neue Art der sozialen Einbindung (‚Kontrollbzw. Reintegrationsdimension‘)“ (Beck 1986, 206). Konkret kann dies für unsere Schülerinnen und Schüler bzw. deren Erleben bedeuten: Traditionelle Eltern-Kind(er)-Familien gibt es zwar noch, aber bei hohen Scheidungsraten und ökonomisch geforderter Mobilität stehen daneben Wochenendehen, alleinerziehende Elternteile oder so genannte „Patchworkfamilien“ als normal gewordener Hintergrund unserer
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heutigen Schülerinnen und Schüler. Hier hat das postmoderne „Anything goes“ für Kinder und deren Entwicklung oftmals problematische Realität gewonnen. Der flexible Mensch (wie Richard Sennett ihn nennt) wird bereits in äußerst frühem Alter eingefordert. Aber flexibel heißt oft auch haltlos, ohne Orientierung, ohne den Rückhalt einer gefestigten Persönlichkeit. Dies kann als Folge des Erlebens der o. g. „Freisetzungsdimension“ von Individualisierung in unserer Gesellschaft verstanden werden. Nicht nur sprachlich, sondern auch wertemäßig steht in unseren Schulen oft Deutsches neben Türkischem, Osteuropäischem, Afrikanischem, Asiatischem usw. Daraus erwächst nicht nur ein viel diskutiertes Problem mit der Frauenrolle, wie es sich im Kopftuchstreit immer wieder konkretisiert. Auch der Begriff der „Ehre“ feiert heute beachtenswerte Renaissance in unterschiedlichsten – auch hoch fragwürdigen und problematischen – Facetten. Der Verlust von traditionalen Sicherheiten findet dabei auf allen Seiten statt: Sich auf Nationalstolz zurückziehende „Deutsche“ tun dies aus der gleichen Verunsicherung heraus wie Ehrenmorde bejahende Jugendliche aus Zuwanderungsfamilien. Man kann dies als Symptom der Konsequenzen aus der von Beck beschriebenen Entzauberungsdimension verstehen. Dabei wird der Blick hinter die Fassaden von Peergroups für Lehrerinnen und Lehrer durch den Wandel und die Vielfalt der unterschiedlichen individuellen Hintergründe immer schwieriger. Zwar gibt es auch die von Beck sogenannte neue „Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension“ für unsere Jugendlichen, aber ihre Mechanismen spielen sich vielfach nur in der Popkultur, über moderne Medien, Internetchats, Handykontakte u. a. m. ab, die von den Erziehern zudem kaum noch überschaut werden können. Gewaltvideos oder Mobbing über Internet-Netzwerke können problematische Folgephänomene dieser unkontrollierten neuen „sozialen Kontrolle“ bzw. medial vollzogenen virtuellen Integration sein. Die Politik erkennt hier einen Handlungsbedarf vor allem dann, wenn Fehlentwicklungen über die Presse ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer erklärt solche Fehlentwicklungen durch Anwendung des Ansatzes von Beck auf seine empirischen Forschungen (vgl. Heitmeyer 1991) so, dass in Folge der Individualisierungsdimensionen immer häufiger Vereinzelungserfahrungen, Handlungsunsicherheiten und Ohnmachtserfahrungen entstehen. Diese Erfahrungen wiederum können in das umschlagen, was er als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (vgl. Heitmeyer 2007, 15 ff.) bezeichnet. In seinem Modell eines allgemeinen „Syndroms von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in dieser Gesellschaft“ sieht er die Tendenzen zu Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Heterophobie, Islamphobie, Etabliertenvorrecht und klassischem Sexismus zusammenlaufen (vgl. Heitmeyer 2003). Tatsächlich überträgt die Herauslösung aus verlässlichen Sozialbezügen und das Fehlen einer
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alles erklärenden und für alle verbindlichen Erzählung dem Einzelnen ein Maß an Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, für dessen Bewältigung die Fächer Praktische Philosophie und Philosophie, von denen es erwartet wird, nur begrenzt gerüstet erscheinen. Wenn die nordrheinwestfälische Schulministerin den Philosophielehrer auf einer Tagung des Fachverbandes Philosophie als „Erzieher und Bildner der Kinder und Jugendlichen“ bezeichnet, dann erwartet sie von ihm in besonderer Weise einen Beitrag, in dem die „Ermöglichung von Orientierung […] systematisch“ geschieht. „Zur schulischen Bildung und Erziehung gehört untrennbar die Entwicklung von persönlicher und sozialer Kompetenz. […] Vor diesem Hintergrund sind reflektierende Auseinandersetzungen der jungen Menschen in unseren Schulen um die ‚richtige‘ Orientierung von großer Bedeutung. Ich bin fest davon überzeugt, dass die eigene Standortbestimmung erheblich dazu beiträgt, dass ein Mensch den für sich ‚richtigen‘ Platz in der Gesellschaft findet.“ (Sommer 2007, 3 ff.) Diese Zuschreibung verlangt ein intensives Nachdenken über das Leistbare und die personell notwendigen Kompetenzen derer, die diese Fächer unterrichten. Insbesondere ein veränderter Medienumgang prägt unsere Kinder. Neil Postman analysierte die von ihm prophezeiten Konsequenzen einer medial bestimmten Gesellschaft bereits 1985 in seinem Bestseller Wir amüsieren uns zu Tode. Seine Überlegungen setzen beim „Niedergang des Buchdruck-Zeitalters und dem Anbruch des Fernseh-Zeitalters“ an. „Insgesamt brachte dieser Komplex elektronischer Technologien eine neue Welt hervor – eine Guckguck-Welt, in der mal dies, mal das in den Blick gerät und sogleich wieder verschwindet. In dieser Welt gibt es kaum Zusammenhänge, kaum Bedeutung; sie fordert uns nicht auf, etwas zu tun, ja, sie lässt es gar nicht zu […], wir haben uns seine Definitionen von Wahrheit, Wissen und Wirklichkeit so gründlich zu eigen gemacht, dass uns die Belanglosigkeit von tiefem Sinn und die Inkohärenz von tiefer Vernunft erfüllt scheinen.“ (Postman 1985, 99/101 f.) 1999 legte der Autor nach mit der Formulierung: „Das Problem, das im einundzwanzigsten Jahrhundert gelöst werden muss, ist sicher nicht die Verbreitung von Information. Dieses Problem ist seit langem gelöst. Das anstehende Problem ist, wie man Informationen in Wissen verwandelt und wie Wissen in Erkenntnis. Können wir dieses Problem lösen, dann erledigt sich der Rest von selbst.“ (Postman 2007, 124) Von dieser Diagnose bestätigt sich m.E. in der von Lehrerinnen und Lehrern erlebten Praxis viel. So wird es zur Herausforderung, gerade die kulturell verloren gegangene Dimension des Denkens in Bedeutsamkeit herstellenden Zusammenhängen, d. h. der rational fundierten persönlichen Bewertung und Beurteilung im Unterricht wieder neu entstehen zu lassen. Dies aber ist eine grundlegende Aufgabe des Philosophie- und Praktische Philosophie- bzw. Ethikunterrichts.
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In der aktuellen Diskussion finden wir dieses Thema noch anders mit Blick auf die Entwicklungschancen der einzelnen Jugendlichen beschrieben. „Je mehr Zeit sie [die Jugendlichen K.D.] vor dem Fernseher oder der Playstation verbringen, desto schlechter sind die Noten.“ 1 Diese durch Korrelationen zwischen Medienkonsum und Schulleistung belegte These wird in weiterem Datenabgleich sogar zur Erklärung des unterschiedlichen Abschneidens bestimmter Regionen in der PISA-Studie, zur Erklärung von Geschlechterunterschieden, Unterschieden zwischen Schülerinnen und Schülern mit und ohne Migrationshintergrund und zwischen dem unterschiedlichen Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler in Gymnasium und Hauptschule herangezogen. „Bereits als Viertklässler verfügen die vier PISA-Verlierergruppen in ihren Kinderzimmern über eine erheblich größere Ausstattung mit Fernseher, Spielkonsole und Computer als ihre jeweilige Gegengruppe. Als Folge dessen weisen sie schon als 10Jährige und später als 15-Jährige einen weit höheren und auch inhaltlich problematischeren Medienkonsum auf als ihre bei PISA besser abschneidenden Vergleichsgruppen.“ (Pfeiffer/Mößle/Kleimann/Rehbein 2007) Auch wenn damit sicher nicht alles erklärt ist, scheint der Faktor Mediennutzung doch eine gravierende Rolle bei der Entwicklung des Leistungsund Denkvermögens unserer Jugendlichen zu spielen. „Ein Übermaß an Medienkonsum macht dick, dumm, krank und traurig.“2 Diese noch weiter greifende Aussage wird u. a. von Manfred Spitzer bestätigt. Vorsicht Bildschirm lautet der Titel seines Buches über Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft (Spitzer 2005). Neben Daten der empirischen Sozialforschung greift er vor allem auf neurobiologische Erklärungsansätze zurück. Er verweist dabei auf die gravierenden Defizite für die Entwicklungschancen des jungen Gehirns als Folge von hohem Bildschirmkonsum gerade bei Kleinkindern: „Mit jeder Erfahrung, jedem Wahrnehmungs-, Denk- und Gefühlsakt gehen flüchtige, wenige Millisekunden dauernde Aktivierungsmuster im Gehirn einher. Die Verarbeitung eines einzelnen Aktivierungsmusters (einer einzelnen Erfahrung) verändert das Gehirn, aber jeweils nur ein winzig kleines Stück. […] Bildschirme liefern dem kleinen Kind weniger Struktur als wirkliche Realität. Man kann daher annehmen, dass ein substantieller Konsum von Bildschirm-Medien eine geringere bzw. unklarere Strukturierung des kindlichen Gehirns und damit wiederum der kindlichen Erfahrungswelt nach sich zieht. […] Dass dies nicht graue Theorie darstellt, zeigt der empirisch nachgewiesene Zu1
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Diese plakative Formulierung entstammt einer Vorabmeldung zur Veröffentlichung der im Folgenden zitierten Studie. In: Der Spiegel, 39/2005. zitiert nach: http://www.spiegel.de/spiegel/vorab/0,1518,376396,00.html. Siehe Anmerkung 1.
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sammenhang von Fernsehkonsum im Kleinkindalter und Aufmerksamkeitsstörung im Schulalter.“ (ebd., 90 f.) Unter Beachtung solcher Veränderungen erscheint eine Schulung von rationaler Reflexionsfähigkeit durch Philosophie und Philosophieren offensichtlich dringlich, um ein tragfähiges Angebot zur Unterstützung von sinngebender Orientierung zu bieten.
II. Veränderte Schule Wie reagiert unsere Gesellschaft in der Gestaltung ihrer Schulen auf die angesprochenen Phänomene? Wenn Tendenzen einer Individualisierung die Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben immer stärker auf das einzelne Individuum verlagern, und wenn ein Versagen in dieser Verantwortung in Krisenzeiten immer stärker durch ökonomische Konsequenzen sanktioniert wird, dann muss wohl die Qualifizierung für den sich globalisierenden (Arbeits-)Markt im Vordergrund stehen. Wenn zudem der wachsende Medienkonsum die Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen behindert, müssen auch deswegen die entsprechenden Ausbildungsbemühungen verstärkt werden. Das relativ schlechte Abschneiden bei den PISA-Studien wurde hier zu Anlass, Initialzündung oder Katalysator für entsprechende Folgemaßnahmen genommen. Die Schulzeitverkürzung durch G8 zur besseren internationalen Konkurrenzfähigkeit jüngerer Bewerber am Studien- und Arbeitsmarkt, die Diskussionen um Ganztagsbetreuung in den nordrhein-westfälischen Schulen als ein Folgeproblem, zentrale Lernstandserhebungen, zentrale 10er Abschlussprüfungen und das Zentralabitur als Überprüfungsinstrumente einer standardorientierten Leistungsmessung sowie ministeriell angeordnete Qualitätsanalyse für Schulen sind beispielhafte Veränderungen in Nordrhein-Westfalens Schulsystem. Wenn aber zugleich auch ein Mangel an Orientierungswissen benannt werden muss, dann ist dies nichts, was lediglich im Sinne zentraler Standardorientierung in der Leistungsmessung und Bewertung ausgeglichen werden kann. Die von Eltern real erlebten Probleme mit ihrem Nachwuchs sehen auch häufig ganz anders aus. Viele Kinder leiden unter Stress, Überforderungssymptomen usw. bereits in sehr frühem Alter, weil die Anforderungen der sich wandelnden Schule als übermächtig erlebt werden. Freiräume für eine persönliche Entwicklung und Sinnfindung scheinen als Chance zu individueller Lebensorientierung nötig, werden aber nur unzulänglich realisiert. Dies zeigt sich z. B. darin, dass die Stellung der geistesund gesellschaftswissenschaftlichen Fächer in der gymnasialen Oberstufe des Landes NRW immer weiter zurückgedrängt wurde. Sprachen sind für die globalisierte Welt wichtig, Naturwissenschaften für die technisch geprägte Gesellschaft notwendig usw.: So oder ähnlich könnte man den Duk-
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tus der in den letzten Jahrzehnten vollzogenen Veränderungen zusammenfassen. Zwar hat die Philosophie eine gewisse Art der Bestandssicherung dem Umstand zu verdanken, dass sie in NRW als obligatorischer Kurs für Religionsabwähler von jeder Schule angeboten werden muss. Aber schon die Möglichkeit, Philosophie zusätzlich mit einem Religionskurs zu belegen, scheitert häufig an den Ressourcen der Schulen oder den anderweitigen Belegungsanforderungen für den einzelnen Schüler in seiner Laufbahnplanung. Die ehemalige nordrhein-westfälische Schulministerin wie auch ihr Staatssekretär haben bei mehreren Gelegenheiten öffentlich gegenüber dem Fachverband Philosophie beteuert, dass eine Werteerziehung im Sinne ethischer Orientierung, also Erziehung im Sinne dessen, was eine der Aufklärungskultur verpflichtete Philosophie zu reflektieren vermag, dringend notwendig ist und bleibt. Hier setzt der politische Wille an, „warum noch Philosophie“ in die Schule gehört. Allerdings steht die Philosophie dabei im Kontext der konfessionellen Religionsunterrichte der Kirchen bzw. Glaubensgemeinschaften: Katholischer und evangelischer Religionsunterricht, Islamunterricht usw. Die Instrumentalisierung des Faches Philosophie als Ersatz für Religionsabwähler birgt zwar die Gefahr einer Verengung und ist aus dem Selbstverständnis des Faches als Mutter aller Wissenschaften weder wünschenswert noch als Perspektive angemessen. Dennoch bleibt die Nutzung hier entstehenden Freiraums für Muße zu Selbstbesinnung und Austausch im Sinne rationaler Reflexion durch Philosophie überaus wünschenswert.
III. Sich verändernde Fächer Während in Nordrhein-Westfalen Philosophie seit langem als Unterrichtsfach der gymnasialen Oberstufe mit klarer Orientierung an der universitären Leitwissenschaft Philosophie etabliert ist, ist das Fach „Praktische Philosophie“ noch jung. Ebenfalls an die Leitwissenschaft Philosophie angebunden – aber daneben auch auf Religionswissenschaft, Soziologie und Psychologie verwiesen – ist dieses Fach erst 1997 mit einem Schulversuch gestartet und in allen Schulformen von den Klassenstufen 9 und 10 her im Jahr 2007 auf die gesamte Sekundarstufe I, also Klasse 5 bis 10 (bzw. 9 im Gymnasium bei G8) ausgeweitet worden. Während Philosophie als eigenständiges Fach im gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld vor etwa 15 Jahren nur zusätzlich eine Ersatzfachfunktion für den Religionsunterricht in der gymnasialem Oberstufe erhalten hat, hat NordrheinWestfalen mit „Praktische Philosophie“ als letztes Bundesland ein obligatorisches Ersatzfach für nicht am Religionsunterricht teilnehmende Schüler/innen der Jahrgangsstufen 5 bis 10 geschaffen. Der Zusatz „praktisch“
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ist dabei als Gegensatz zu „abstrakt“ zu verstehen. Entsprechend gibt es für die Praktische Philosophie keine „Philosophen“ oder „Philosophien“ als curriculare Vorgabe, sondern „Fragenkreise“, die im konkreten Leben und der Lebenswelt der Schüler/innen verankert sind. In die Behandlung dieser Fragenkreise soll explizit eine „Personale Perspektive“ der jeweils zu unterrichtenden Schülerinnen und Schüler sowie eine „Gesellschaftliche Perspektive“ eingebunden werden. Daneben allerdings steht als dritte eine „Ideenperspektive“ – das ist der Bereich, in dem vor allem auf die Fachphilosophie zurückgegriffen werden soll, kann und muss. Konkret klingt das in den curricularen Vorgaben zum neuen Fach so: „Das Fach Praktische Philosophie ist auf die zusammenhängende Behandlung von Sinn- und Wertefragen gerichtet. Während dies im Religionsunterricht auf der Grundlage eines bestimmten Bekenntnisses geschieht, übernimmt Praktische Philosophie diese Aufgabe auf der Grundlage einer argumentativ-diskursiven Reflexion im Sinne einer sittlich-moralischen Orientierung ohne eine exklusive Bindung an eine bestimmte Religion oder Weltanschauung. Bezugspunkt für die Ausrichtung des Faches ist die Werteordnung, wie sie in der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und in den Menschenrechten verankert ist. […] Der Unterricht im Fach Praktische Philosophie vermittelt dafür das methodische Instrumentarium, die erforderlichen Kenntnisse, Strategien und Arbeitstechniken. Er orientiert sich am sokratischen Methodenparadigma eines dialogischen Philosophierens und berücksichtigt dabei phänomenologische, hermeneutische, analytische, dialektische und spekulative Zugänge.“ (MSW 2008, 9 f.) Anders ausgedrückt wird von unserem Fach erwartet, dass es „die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit zu sozialer Verantwortung, zur Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft, zur Orientierung an Grundwerten, zur kulturellen Mitgestaltung sowie zu verantwortlicher Tätigkeit in der Berufs- und Arbeitswelt“ (ebd., 9) unterstützt.
IV. Veränderte Vorgaben in Form von Kernlehrplänen Aber nicht nur ein neues Fach, sondern auch eine neue Art der Vorgaben begleitet uns in der Schule: Ein „kompetenzorientiert formulierter Kernlehrplan“. Für die Philosophie in NRW wurde bereits an einem solchen gearbeitet – allerdings ist das Ergebnis noch nicht veröffentlicht oder in Kraft gesetzt, weil zunächst die länderübergreifenden Vereinbarungen über „nationale Bildungsstandards in den Kernfächern Deutsch, Mathematik, den Fremdsprachen und den Naturwissenschaften“ der Kultusministerkonferenz abgewartet werden sollten. Für das neue Fach Praktische Philoso-
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phie aber gibt es seit Sommer 2008 tatsächlich einen solchen Kernlehrplan. Kernlehrpläne „legen Kompetenzerwartungen fest, die […] zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht sein müssen.“ (ebd., 7) Und diese bildungspolitisch gewollte neue Form der fachspezifischen Vorgaben verrät viel über die Erwartungen der Bildungspolitik. Deshalb stelle ich im Folgenden eine der entsprechend formulierten Listen ungekürzt vor. „Warum noch Philosophie?“ Weil dann „am Ende der Sekundarstufe I […] die Schülerinnen und Schüler über die nachfolgenden Kompetenzen verfügen: Personale Kompetenz: Die Schülerinnen und Schüler – – – – – – – –
entwickeln ein Bewusstsein der eigenen Fähigkeiten und Anlagen und bringen dies in symbolischer Darstellung zum Ausdruck artikulieren die Bewertung von Gefühlen als gesellschaftlich mitbedingt und erörtern Alternativen entwickeln bei starken Gefühlen einen rationalen Standpunkt und treffen eine verantwortete Entscheidung bewerten komplexe Sachverhalte und Fallbeispiele und diskutieren diese angemessen diskutieren Beispiele von Zivilcourage hinsichtlich ihrer Motive reflektieren und antizipieren verschiedene soziale Rollen und stellen sie authentisch dar treffen begründet Entscheidungen im Spannungsfeld von Freiheit und Verantwortung erörtern Antworten der Religionen und der Philosophie auf die Frage nach einem sinnerfüllten Leben und finden begründet eigene Antworten.
Soziale Kompetenz: Die Schülerinnen und Schüler – – – – – – –
formulieren Anerkennung und Achtung des Anderen als notwendige Grundlage einer pluralen Gesellschaft und wenden diese Erkenntnis bei Begegnungen mit anderen an denken sich an die Stelle von Menschen unterschiedlicher Kulturen und argumentieren aus dieser fremden Perspektive reflektieren und vergleichen Werthaltungen verschiedener Weltanschauungen und gehen tolerant damit um erkennen Kooperation als ein Prinzip der Arbeits- und Wirtschaftswelt lassen sich auf mögliche Beweggründe und Ziele anderer ein und entwickeln im täglichen Umgang miteinander eine kritische Akzeptanz argumentieren in Streitgesprächen vernunftgeleitet reflektieren verantwortliches Handeln in der Gesellschaft und erörtern die dahinter stehenden Werte.
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Sachkompetenz: Die Schülerinnen und Schüler – – – – – – – –
erfassen gesellschaftliche Probleme in ihren Ursachen und ihrer geschichtlichen Entwicklung, diskutieren diese unter moralischen und politischen Aspekten und formulieren mögliche Antworten reflektieren die Bedeutung der Medien und medialen Kulturtechniken und gestalten bewusst das eigene Medienverhalten entwickeln verschiedene Menschen- und Weltbilder sowie Vorstellungen von Natur und vergleichen sie erfassen ethische und politische Grundbegriffe und wenden diese kontextbezogen an begründen kriteriengeleitet Werthaltungen beschreiben differenziert Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse und ordnen sie entsprechenden Modellen zu reflektieren philosophische Aspekte von Weltreligionen nehmen gesellschaftliche Entwicklungen und Probleme in ihrer interkulturellen Prägung wahr, bewerten sie moralisch-politisch und entwickeln Toleranz gegenüber anderen Sichtweisen.
Methodenkompetenz: Die Schülerinnen und Schüler – – – – – – – –
beschreiben Komplexität und Perspektivität von Wahrnehmung erarbeiten philosophische Texte und Gedanken erwerben ein angemessenes Verständnis von Fachbegriffen und verwenden diese sachgerecht erkennen Widersprüche in Argumentationen und ermitteln Voraussetzungen und Konsequenzen dieser Widersprüche führen Gedankenexperimente zur Lösung philosophischer Probleme durch analysieren in moralischen Dilemmata konfligierende Werte und beurteilen sie führen Gespräche im Sinne eines sokratischen Philosophierens legen philosophische Gedanken in schriftlicher Form dar.“ (ebd., 24 f.)3
Ich kann nicht einschätzen, wie diese Erwartungen auf Fachphilosophinnen bzw. Fachphilosophen am Lernort Hochschule wirken, also auf diejenigen, die einen großen Teil ihrer Studierenden auf deren Einlösung hin ausbilden. Man könnte eine nicht legitime Instrumentalisierung der immer wieder ihre Zweckfreiheit postulierenden Philosophie darin sehen, ggf. auch eine Überforderung der wissenschaftlichen Disziplin. Als Schulpraktiker 3
In dieser Formulierung sind die Kompetenzen bezogen auf die Jahrgangsstufen 9/10 aller Schulformen außer dem Gymnasium mit G8, zu dem es aber analoge Formulierungen gibt.
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erkenne ich vor allem eine gesellschaftliche Herausforderung in dieser Form, auf die Frage „Warum noch Philosophie?“ zu antworten. Und die in dieser Antwort formulierten Erwartungen haben m.E. auch eine Berechtigung aus der philosophischen Tradition heraus. Nicht nur der antike Sokrates verstand sich als Erzieher für die Bürger Athens – und wandte sich zu diesem Zwecke vor allem an deren Jugend. Die Frage nach der Gestaltung eines gelingenden Lebens stand lange im Zentrum philosophischer Reflexion. Anita Rösch (vgl. Rösch 2009, 42) verweist auf Parallelen der aktuellen Kompetenzorientierung zu Immanuel Kants Schrift Was heißt: sich im Denken orientieren (Kant 1959). Sie kann durchaus mit der Leitwissenschaft verbunden werden, „fasst man Philosophieren als ein Tun, eine Klärung von Gedanken auf, das durch bestimmte Methoden definiert ist und sich durch eine Abkehr von passiver, konsumistischer Haltung hin zum Selbstdenken, zum aktiven Denken, zur Kritikfähigkeit auszeichnet. Dabei geht es nicht nur um eine gedankliche Leistung, sondern um die Gestaltung des (individuellen/gesellschaftlichen) Lebens, die idealerweise durch Reflexion beeinflusst wird. Handeln wiederum bleibt nicht ohne persönliche und soziale Folgen, die erneut in das Nachdenken zurückgeführt werden. Im Mittelpunkt stehen somit angewandte Ethik und Philosophie vor dem Hintergrund tradierter Wissensbestände, praktiziert wird angewandtes Philosophieren. Diese Überlegungen korrelieren mit dem modernen Kompetenzbegriff. Zur Erinnerung – Kompetenzen sind Verhaltensdispositionen, Probleme in variablen Situationen zu lösen.“ (Rösch 2009, 43 f.). So war es immer wieder ein Anliegen von Philosophen, aus ihrer Reflexion heraus in die Gesellschaft hinein zu wirken. Dies muss nicht allein in ZEIT- oder FAZ-Kommentaren geschehen, d. h. in der Ansprache der erwachsenen intellektuellen Elite unseres Landes. Als Pädagoge bin ich fest davon überzeugt, dass eine Einwirkung auf die Gesellschaft früher, breiter und grundlegender sein kann und muss – und dass auch die Geschichte der Philosophie bzw. der Philosophen ausreichend Grundlage und Potential für diese Herausforderung bietet, die es in der Weiterentwicklung ihrer Didaktik sichtbar und nutzbar zu machen gilt, „besteht doch die Möglichkeit, durch Philosophieren zu einer autonomen Persönlichkeit zu werden.“ (Münnix 2002, 12) Beispielhaft sei hier auf die Entwicklung einer „Sokratischen Didaktik“ (Raupach-Strey 2002) hingewiesen oder das Projekt von Johannes Rohbeck, der „philosophische Denkrichtungen“ in Bezug auf ihre „didaktischen Potentiale“ und die hierdurch in Schule zu erreichenden „philosophischen Kompetenzen“ hin untersucht und exemplarisch in unterrichtspraktisch umsetzbare Methodiken transformiert hat (Rohbeck, 2008). Insofern verweisen die hier formulierten Ansprüche, die durch den Rückbezug auf Philosophie und Philosophieren eingeforderte Kompetenzorientierung, auf die Notwendigkeit einer intensiven Zusammenarbeit von
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Fachwissenschaft und Fachdidaktik Philosophie, die es zu fördern und weiterzuentwickeln gilt.
V. Veränderte Didaktik Noch vor wenigen Jahren war die Fachdidaktik vor allem mit der Streitfrage nach Philosophie oder Philosophieren beschäftigt, d. h. dem Widerstreit zwischen „Philosophie-orientiertem“ Unterricht und „Philosophierenorientiertem“, eher dialogisch, die philosophiegeschichtlichen Äußerungen lediglich als Anregungen aufgreifenden, auf Selbstdenken basiertem Unterricht. Diese beiden Positionen gelten nach meiner Wahrnehmung mittlerweile als versöhnt, da in der Praxis seit längerem eine sinnvoll sich ergänzende Verbindung beider Seiten der Debatte praktiziert wird. Dies wurde unter anderem durch die Konstruktivismusdebatte in der allgemeinen Didaktik befördert, die die konstruierende Eigentätigkeit des Lerners auch beim Bemühen um Verständnis historischer Schriften bzw. die Unmöglichkeit einer Übertragung von Wissen aus Texten erklärte. In den letzten Jahrzehnten wurde auch das Methodenparadigma in der allgemeinen Didaktik neu bewertet. In den Schulen „Klipperte“4 es gewaltig, d. h., es wurden Fortbildungen für Lehrer/innen in großem Stile anberaumt, die neues Bewusstsein für Methoden der Unterrichts und Methodenlernen der Schüler/innen schaffen sollten. In einer gewissen Analogie gibt es seit 2003 eine viel beachtete „Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts“ von Ekkehard Martens, die „Philosophieren als elementare Kulturtechnik“ auszuweisen versucht. Mit seinem „Fünf-Finger-Modell“ der Phänomenologischen, der Hermeneutischen, der Analytischen, der Dialektischen und der Spekulativen Denkmethode versucht er ein Fundament für die grundlegenden „Werkzeuge“ der Philosophie und des Philosophierens zu legen. Mit einem anderen Aspekt der allgemeinen didaktischen Entwicklung, die entscheidenden Einfluss auf Kultusbürokratie zu nehmen scheint, tut sich die Philosophiedidaktik aber noch schwer: mit der empirischen Lehr-/Lernforschung, wie sie seit einiger Zeit die öffentliche Diskussion bestimmt. Hohen Einfluss auf politisch-administrative Vorgehensweisen hatte hierbei der Schulpädagoge Hilbert Meyer. Seine als Metastudie empirischer Unterrichtsforschung angelegte Schrift Was ist guter Unterricht? bestimmt derzeit die in den Schulen NRWs durchgeführte Qualitätsanalyse. Allerdings weist Meyer ausdrücklich darauf hin, dass die von ihm ausgewerteten empirischen 4
Heinz Klippert war hier als Akteur der Lehrerfortbildung äußerst wirksam. Seine Vorstellungen finden sich u. a. in seinem Buch Methodentraining von 1994 und zahlreichen Nachfolgeveröffentlichungen wieder.
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Befunde sich „im Wesentlichen […] auf das kognitive Lernen“ beschränken. „Die Studien klammern so wichtige Zielbereiche wie das Methodenlernen oder die Entwicklung von Sozialkompetenz und Kreativität – zumeist aus forschungspraktischen Gründen und nicht aus Desinteresse – aus.“ (Meyer 2004, 127) Hier aber setzten viele politische Erwartungen an den Unterricht Philosophie und Praktische Philosophie an. Zu dem Bereich der Sozialkompetenz könnte man darum eine etwas ältere Metastudie über Die Mittel der Moralerziehung und ihre Wirksamkeit von Siegfried Uhl (Uhl 1996) in Erinnerung rufen, der über mehrere hundert Seiten empirische Studien aus diesem Bereich analysiert. Deren ernüchternde Ergebnisse: komplexere Methoden der Erziehung bzw. des Unterrichts, die vielfach nach Erfahrungsberichten Erfolg versprechend wirken, sind in ihrer Wirksamkeit empirisch nur schwer zu fassen. Lediglich der Förderung des Einfühlungsvermögens bzw. dem Erproben eines Perspektivwechsels gibt er hinsichtlich einer empirisch belegten Wirksamkeit gute Noten – aber das klingt noch nicht in einem wünschenswerten Maß nach philosophischer Ausrichtung. Eine bessere Verbindung besteht zu den bereits als „Neurodidaktik“ (vgl. Herrmann 2006) gehandelten Übertragungen aus neurobiologischen Befunden auf den allgemeindidaktischen und fachdidaktischen Diskurs. Hier hat sich insbesondere Heinz Schirp Verdienste erworben, der Folgerungen für den Bereich der Werteerziehung zog. An erster Stelle steht für ihn dabei der „Lebensweltbezug: Unsere neuronalen Strukturen sind auf Sinn, Relevanz und Muster angelegt. Unser Gehirn lernt und behält deswegen auch das am besten, was sich in unseren Lebenssituationen als bedeutungsvoll und als ‚viabel‘ erweist. Im Gegensatz zu einem Computer etwa speichert unser Gehirn nicht einfach Informationen ab, sondern es verarbeitet sie – vorausgesetzt sie ‚machen Sinn‘ und sind von offensichtlicher Bedeutung für die Bewältigung von Lebenssituationen.“ Dies kann beim Philosophieren mit Schülerinnen und Schülern, wie bereits gezeigt, in besonderer Weise eingelöst werden. Aber auch „vielfältige Anwendungsbezüge“, „emotionale Ansprache“ und „emotionale Beteiligung“ (Schirp 2004, 228 ff.) weiß er aus diesem Kontext heraus neu zu begründen. Die neuere Diskussion um das Verhältnis von „Emotion und Kognition“5 zeigt,
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Am 10. Oktober 2009 fand in Kooperation zwischen der Arbeitstelle Praktische Philosophie und dem Philosophischen Seminar der Universität Münster, der Philosophisch-Politischen Akademie und der Gesellschaft für Sokratisches Philosophieren eine Tagung zum Thema „Emotion und Kognition“ statt, auf der u. a. Eva Maria Engelen und Achim Stefan referierten. Hier wurde zum einen die Notwendigkeit von Emotionen zur Motivation jeglicher rationaler Reflexion als auch ihr notwendiger Beitrag zu schnellen rationalen Entscheidungen auf heutigem Forschungsstand diskutiert (vgl. auch Blesenkemper 2006, 92-129).
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dass wir es hier nicht mit zwei konkurrierenden, sondern sich notwendig ergänzenden Phänomenen zu tun haben, und dass Philosophie- und Praktische Philosophie- bzw. Ethikunterricht unter Berücksichtigung dieser Tatsache auch diesem Kriterium entsprechen kann. Hier stehen wir als Fach aber sicher noch vor Herausforderungen, die insgesamt für die Schule als nicht gemeistert angesehen werden können. Dennoch: Auch dieses Feld darf die Philosophie in der Schule nicht ausschließen, sondern muss es aktiv angehen. Zusammenfassend lässt sich über das Verhältnis des Philosophierens in der Schule zu neueren didaktischen Tendenzen etwa Folgendes sagen: Der Philosophieunterricht hat sich – z. T. in durchaus experimentell anmutender Weise – mittlerweile zumindest punktuell fast allem geöffnet, was auf dem pädagogisch-schulischen Marktplatz gehandelt wird. Vieles hiervon scheint Bereicherungen für Schülerinnen und Schüler mit ihren jeweils individuell unterschiedlichen Zugangsweisen zu philosophischem Denken zu bergen. Dass am Ende immer wieder das Bemühen um die Abstraktion, um das Zielen auf das Allgemeine, der genaue Umgang mit den Begriffen – kurz: die philosophische Qualität des Umgangs mit den Phänomenen des Alltags erreicht werden muss, steht dabei für mich außer Frage. Aber der Zugriff auf diese Dimension muss sich bei einem Unterricht, der bereits in Klasse 5 beginnt, wandeln – und er hat sich längst mit den sich verändernden Generationen von Jugendlichen in der gymnasialen Oberstufe zu wandeln begonnen. Warum also noch Philosophie, wo die Anforderungen so vielfältig und keineswegs in allen Aspekten genuin philosophisch erscheinen? Die Antwort lautet, weil wir auf den unterschiedlichsten Wegen viele Kinder und Jugendliche zur notwendigen, zur authentischen und zur tief greifenden Reflexion der Grundfragen des Lebens bringen können und sollten. Die Schülerinnen und Schüler können ein wichtiges Rüstzeug für eine rational kontrollierte und gelingende Lebensgestaltung aus dem „Philosophieren“ in der Schule gewinnen, und die akademische Philosophie könnte aus dem Potential dieser zukünftigen Erwachsenen sowohl offene und engagierte Studierende für ihr Fach als auch eine höhere Beachtung in der öffentlichen Diskussion erhoffen, die im besten Falle zu einem Mehr an Rationalität im politisch-gesellschaftlichen Diskurs führen könnte.
VI. Sich verändernde Lehrer/innenausbildung Wir haben mittlerweile ein neues Lehrerausbildungsgesetz in NRW, das dem Bologna-Prozess, der neuen Eigenständigkeit der Hochschulen, dem Wunsch nach Verkürzung der Ausbildungszeiten und der Erfordernis nach
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mehr Praxisorientierung in der Ausbildung gleichzeitig Rechnung tragen soll. Diese Anforderungen stehen aber in z. T. nicht unerheblicher Spannung zueinander. Bachelor- und Masterstudiengänge für das Lehramt entsprechen oberflächlich der Europäisierung, aber in vielen Aspekten konnte die erstrebte Angleichung nicht durchgehalten werden. Der Anspruch auf Polyvalenz des Lehramtsbachelors ist z. B. kaum eingelöst, weil der zukünftige Lehrer mit einem anderen Blick in das Fachstudium geht als Studierende mit anderen Berufszielen. Dafür ist der Master im Grunde für alle den Bachelor abschließenden Studierende notwendig, wenn sie es bis in die Schule schaffen sollen. Dem Wunsch nach Verkürzung der Ausbildungszeiten steht entgegen, dass nun nicht mehr acht bzw. sechs sondern zehn Semester Regelstudienzeit für alle Lehrämter zum notwendigen akademischen Abschluss führen. Auch wenn es zu begrüßen ist, dass die alte Unterteilung in eine längere Universitätsausbildung für die Gymnasiallehrer und eine kürzere für Lehrer der Sekundarstufe-1-Schulen damit überwunden wurde, so ist die Erhöhung der Gesamtdauer nur durch eine umstrittene Kürzung des Referendariats zu kompensieren. Aber dadurch wird der Wunsch nach mehr Praxisbezug gefährdet, wie er durch das Referendariat bisher deutlich stärker gewährleistet war als durch die Hochschule. Also steigen die quantitativen wie qualitativen Anforderungen an Praktika und Praxissemester, ohne dass alle Hochschulen hierfür in Ruhe Konzepte entwickeln konnten. Die Fragen nach einer entsprechenden Logistik, Praxiserfahrungen des Hochschulpersonals und entsprechender Ressourcen für diese Bereiche ist nach meiner Wahrnehmung noch weitgehend ungeklärt. Insofern erscheint es derzeit fraglich, ob die begonnene Umstrukturierung eine postulierte Stärkung zielführender Praxisorientierung wirklich erreicht. Von den gegebenen und weiterhin bestehenden Institutionen her wäre eine enge Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, ehemaligen Studienseminaren (bald „Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung“) und Schulen sinnvoll einzufordern, aber diese wird durch die Eigenständigkeit der Hochschulen und die Staatlichkeit von Studienseminaren und Schulen zugleich systemisch erschwert. Personaleinsatz und Arbeitsleistungen aus den drei genannten Bereichen können institutionell nur schwer miteinander koordiniert und verrechnet werden. Dennoch müssen für eine sinnvolle Lehramtsausbildung Schulpraxis, Studienseminare und akademische Wissenschaft systematisch zusammenwirken. Ich sehe die genannten Probleme zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Lehramtsausbildung neu organisieren muss, ohne damit behaupten zu wollen, früher wäre alles zufriedenstellend eingerichtet gewesen. Aber ich
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möchte im Kontext dieser Veröffentlichung einige Wünsche an die Hochschule, wie ich sie aus der Perspektive des schulischen Lernens für unsere Fächer als Lehrer, Seminarausbilder und Lehrerfortbildner sehe, äußern: –
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Natürlich ist es für angehende Lehrerinnen und Lehrern unabdingbar, dass sie fachwissenschaftlich solide ausgebildet werden. Dabei gilt allerdings – früher wie heute – dass es mit einem hohen Maß an stark spezifiziertem Fachwissen für den zukünftigen Lehrer nicht getan ist, sondern dass daneben ein Überblick über Arbeitsweisen und Themen der Philosophie mit lediglich punktuell exemplarischer Vertiefung auf dem Stand der wissenschaftlich hoch spezialisiert geführten Detaildebatten sinnvoll erscheint. Daneben brauchen die Studierenden Kompetenz- und Reflexionsangebote zur Didaktik und zur Methodik der Philosophie und des Philosophieunterrichts. Hiermit ist nicht gemeint, sie per Lehrauftrag mit freundlichen Kollegen aus der Schule in Kontakt zu bringen, die über ihre Praxis plaudern. – Ich weiß, dass ich mit dieser karikaturhaften Überspitzung keineswegs dem Bemühen vieler Kolleginnen und Kollegen mit Didaktiklehraufträgen an Hochschulen gerecht werde, die dort solide Arbeit leisten. – Aber dennoch denke ich, dass es institutionell mehr als nur dieser Lehraufträge bedarf, wenn man Praxisorientierung mit regelmäßiger Rückkopplung an sich ständig verändernde schulische Verhältnisse an den Hochschulen etablieren will. Wenn die Hochschulphilosophie ihren Auftrag der Lehrerausbildung, der einen großen Anteil ihrer Studierenden betrifft, ernst nehmen will, müssen hierfür auch Ressourcen im Sinne entsprechender Stellen bereit gestellt werden. Es gibt einen institutionellen Widerspruch zwischen Berufungspraxis und Praxisbedarf in der Ausbildung: Diejenigen Menschen, die sich tatsächlich in etwas breiterem Maße auf die Praxis von Schule eingelassen haben, erscheinen in den Augen der Hochschulen i. d. R. akademisch nur unzureichend qualifiziert. Die aber akademisch herausragend qualifizierten Bewerber hatten i. d. R. aus nachvollziehbaren Gründen kaum Gelegenheit, angemessene Praxiserfahrung in Bezug auf Schule zu sammeln. Hierüber sollte in Zukunft noch systematischer nachgedacht werden. Wenn demnächst die Hochschule Praktika zu betreuen hat, dann darf sie nicht übersehen, dass Schule in diesem Zusammenhang nicht mehr reines Forschungsfeld ist, sondern dass die auszubildenden Studierenden Teilnehmer in diesem Geschehen werden sollen. Es geht dann nicht mehr allein um Wissen, um Kenntnis über bestimmte Zusammenhänge, sondern es treten Fertigkeiten und Handlungskompetenzen
Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren?
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für die Schule in den Vordergrund. Ein hervorragender Philosoph ist noch lange keine guter Philosophielehrer. (Allerdings sollte ein guter Philosophielehrer schon auch ein guter Philosoph sein.) Philosophie und Philosophieren gehört an die Schule, um unseren Kindern und Jugendlichen zu helfen, zu reflexionsfähigen Erwachsenen zu werden, um ihnen den Wert des rationalen Durchdringens der sich konkret stellenden Grundfragen des Lebens nahe zu bringen und um ihnen damit sowohl Unterstützung bei eigener Identitäts- und Sinnfindung zu erleichtern als auch die Möglichkeit eines rational kritischen Hinterfragens zu stärken. Dabei kann die Philosophie bzw. das Philosophieren einen grundlegend wichtigen Beitrag in der Schule leisten, wodurch sicherlich auch die Philosophie auf Dauer in der öffentlichen Wahrnehmung und damit in ihrer Stellung an den Hochschulen hinzu gewinnen wird.
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Philosophie und UNESCO Lutz Möller Dieser Beitrag besteht aus vier Teilen. Nach einer einleitenden Klärung der Zuständigkeiten der Vereinten Nationen und der UNESCO und einem kurzen Rückblick auf sechzig Jahre UNESCO-Geschichte wird die Frage der Rechtfertigung der Beschäftigung der UNESCO mit der Philosophie diskutiert. Abschließend soll eine konkrete Erwartungshaltung an die Philosophie diskutiert werden, nämlich zur Klärung von Konzepten, welche in der Politik der Vereinten Nationen eine wichtige Rolle spielen, beizutragen.
I. Vereinte Nationen und UNESCO: Organisationen der Staaten oder der Intellektuellen? Die Vereinten Nationen sind in ihrer Gesamtheit die weitestgehende, wenn auch nicht die erste institutionelle Antwort auf die auch von Philosophen, nicht zuerst von Immanuel Kant, gestellte Frage nach dem Völkerbund souveräner Einzelstaaten und dem ewigen Frieden. Die Vereinten Nationen haben sich seit dem Zweiten Weltkrieg als System von zwischenstaatlichen Organisationen mit einer klaren Aufgabenteilung etabliert. 23 Sonderorganisationen sind bei den Vereinten Nationen für einzelne weltpolitisch als wichtig erachtete und multilateral zu verhandelnde Fragen zuständig. Die Arbeitsteilung ergibt sich dabei teilweise aus einer Binnenlogik, was teils zu einem erheblichen Koordinierungsaufwand führt. Über zwanzig UN-Organisationen kümmern sich zum Beispiel um das Thema „Wasser“ – die FAO aus der Sicht der Landwirtschaft, die WHO aus der Sicht der Gesundheit und so weiter. Die UNESCO hat das breiteste und am wenigsten scharfe Mandat aller UN-Organisationen und sitzt daher in vielen der Koordinierungsgremien mit am Tisch, meist weil es alle Themen auch als wissenschaftliche Fragestellungen oder Disziplinen gibt, auch weil diese für die Bildung einschlägig sind und wichtige kulturelle Querbezüge und Auswirkungen haben. Die UNESCO wurde 1945 als Sonderorganisation für Bildung, Kultur, Wissenschaft und Medienpolitik gegründet, wobei die Sciences erst in
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letzter Minute in das Mandat und das „S“ in das Akronym der UNESCO aufgenommen wurden. Bis heute gibt es verschiedene Ansichten darüber, ob und inwiefern die Geisteswissenschaften, die Humanities, von diesem Mandat abgedeckt sind, was vor allem auf die angelsächsische Tradition des Begriffs „Sciences“ zurückzuführen ist. Auf formaler und prinzipieller Ebene ist diese Frage klar beantwortet: Die UNESCO besitzt das Mandat für Geisteswissenschaften und sie hat es im System der Vereinten Nationen exklusiv. Die Weltwissenschaftskonferenz von 1999 in Budapest hat die Einheit des Wissenschaftssystems nachdrücklich unterstrichen.1 Die Vereinten Nationen, wenn man sie für einen Moment auf die Organisation mit den drei Hauptgremien Generalversammlung, Sicherheitsrat und ECOSOC sowie das Sekretariat in New York reduziert, beschäftigen sich nicht mit philosophischen Fragen: Wie eine Recherche im UN-InternetDokumentenserver ergeben hat, hat sich die UN-Generalversammlung offenbar nie mit Philosophie oder philosophischen Fragen als solche beschäftigt. Selbstverständlich beschäftigen sich die Vereinten Nationen fortlaufend mit politischen Fragen, die philosophisch sehr interessant sind.2 Ein Beispiel sind die Diskussionen, die seit Beginn der 1990er Jahre auf höchster politischer Ebene um ein Grundkonzept der Vereinten Nationen geführt werden: Unter den Stichworten der „Responsibility to Protect“ und der „Human Security“ finden Diskussionen statt, die den in der Frühzeit der Vereinten Nationen unangreifbaren Grundsatz der staatlichen Souveränität unter bestimmten Voraussetzungen einschränken wollen, zum Beispiel in Fällen des Völkermords, der ethnischen Säuberung oder von systematischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Nationalstaat ist demnach nicht mehr alleiniges Subjekt des Völkerrechts; auch der einzelne Mensch spielt eine Rolle, dessen Sicherheit zu schützen in Extremsituationen Verantwortung der Völkergemeinschaft ist. Auch wenn diese Diskussion manchmal eine machtpolitische Schlagseite besitzt, ist unverkennbar, dass sich die philosophische Konzeption des Völkerbundes von Immanuel Kant inzwischen im politischen Rahmen der Vereinten Nationen deutlich weiter entwickelt, wobei diese Entwicklung natürlich auch von Philosophen und Intellektuellen vorbereitet wurde. Somit ist unter den UN-Organisationen für die Philosophie als solche nur die UNESCO strukturell zuständig, genauer seit dem Jahr 2000 die UNESCO-Abteilung für Geistes- und Sozialwissenschaften. Je nach Res1
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Philosophie wird im Abschlussdokument dieser Konferenz übrigens kaum erwähnt: Wo sie genannt wird, firmiert sie als Hilfswissenschaft, um Fragen des wissenschaftlichen Fortschritts – Schlagwort Bioethik – zu thematisieren. Vergleiche den vierten Abschnitt dieses Beitrags.
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sortzuschnitt war die Philosophie in den sechzig Jahren der UNESCOGeschichte für kurze Zeit auch der „Kultur“ zugeordnet oder war Thema einer eigenen Stabsstelle. Die Philosophie ist für die UNESCO, einer zwischenstaatlichen Organisation, aus demselben Grund Gegenstand, weshalb die UNESCO insgesamt ein Mandat für Wissenschaft besitzt. Der UNESCO haben ihre Gründungsväter und -mütter folgendes Leitmotiv mit auf den Weg gegeben: „Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden.“ Dieses Leitmotiv steht in der Präambel der Verfassung der UNESCO, die 37 Staaten 1945 unterzeichnet haben. Aus der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges wurde folgende Lehre gezogen: „Ein ausschließlich auf politischen und wirtschaftlichen Abmachungen von Regierungen beruhender Friede kann die einmütige, dauernde und aufrichtige Zustimmung der Völker der Welt nicht finden. Friede muss – wenn er nicht scheitern soll – in der geistigen und moralischen Solidarität der Menschheit verankert werden.“ Es geht der UNESCO somit zu allererst um den internationalen Austausch in der Wissenschaft, unabhängig von der einzelnen Wissenschaft, zur Schaffung von mehr Solidarität und damit Frieden. Dass internationaler Austausch und internationale Kontakte zwischen einzelnen Individuen zur Völkerverständigung das „Übel des Krieges mitsamt seinen Wurzeln“ ausreißen können, hat Aldous Huxley bereits 1934 in einem Artikel unterstrichen. Ein gelungenes Beispiel, wie die UNESCO diesen Kernverfassungsauftrag erfolgreich erfüllt, stammt aus der Physik. Die Gründung des Genfer Forschungszentrums CERN fand in den 1950er Jahren unter der Schirmherrschaft der UNESCO statt. Ein aktuelles Beispiel, ebenfalls aus der Physik, ist die erste internationale Großforschungseinrichtung SESAME im Nahen Osten, die Israel und Iran, Palästina und Syrien sowie fünf andere Staaten gemeinsam betreiben und an der Wissenschaftler dieser Länder zusammen forschen werden. Die internationale Zusammenarbeit in den Gesellschaftsbereichen, die vom UNESCO-Mandat abgedeckt werden, kann nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn die Zivilgesellschaft möglichst intensiv auf allen Ebenen einbezogen ist. Dies wurde schon bei der Gründung der UNESCO erkannt: Mit den UNESCO-Nationalkommissionen wurde ein Ansatz für eine zwischenstaatliche Organisation gefunden, der über einen Völkerbund im kantischen Sinn hinausgeht. Die UNESCO-Nationalkommissionen sollen zwischen den beiden entgegen gesetzten Modellen eines Völkerbunds der souveränen Staaten und einer Weltorganisation der Intellektuellen vermitteln. Die UNESCO-Vorgängerorganisation vor dem Zweiten Weltkrieg, das Internationale Institut für geistige Zusammenarbeit, war hingegen al-
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lein eine Weltorganisation der Intellektuellen gewesen. Der Weltrat der Klimaexperten IPCC ist ein ähnliches Modell. Die UNESCO von heute findet sich im Spannungsfeld zwischen den beiden Polen. Ohne ihren zwischenstaatlichen Charakter, als reine Weltorganisation der Intellektuellen, hätte sie in der heutigen Welt sicher kaum politische Bedeutung. Zugleich reicht sie über eine Vielzahl von Netzwerken von Institutionen und Personen und vor allem über ihre Nationalkommissionen immer weiter hinaus in die Gesellschaft. Ein wichtiges Tätigkeitsfeld der UNESCO in den Wissenschaften und ein klassisches Beispiel, durch das die zwischenstaatliche Dimension der Arbeit der UNESCO deutlich wird, sind die Umweltwissenschaften. Wer in Zentralasien oder Afrika ein Feldforschungsprojekt durchführen möchte und dadurch dazu beiträgt, dass globale oder regionale Umweltprobleme dieser Länder besser verstanden werden und die Forscher dort besser ausgebildet sind, sollte so einfache Rahmenbedingungen haben wie möglich. Jedoch spielen in solche Forschungsprojekte häufig hoheitliche Fragen hinein, sei es der Zugriff auf genetische Ressourcen oder Rohstoffe im Kontinentalsockel. Hier kann die UNESCO Rahmenbedingungen für internationale Feldforschungsprojekte oder Verfahren der Forschungsgenehmigung definieren oder Empfehlungen zum Aufbau von Kapazitäten aussprechen. Ein weiteres wichtiges Beispiel ist der Austausch von Daten über Staatsgrenzen, auch im Hinblick auf einheitliche Standards, zum Beispiel Flusspegelstände oder Daten über Erdbeben für Tsunami-Frühwarnsysteme. Weitere Beispiele für zwischenstaatliche Arbeit ist der freie Zugang zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen z. B. über Open Access Modelle oder die Beratung von Regierungen im Hinblick auf die Schaffung von wissenschaftspolitischen Gesetzen, Strukturen und Institutionen. Weltweite Mindeststandards setzt die UNESCO auch für die biomedizinische und biotechnologische Forschung. Diese Beispiele zeigen, dass ein zwischenstaatliches Forum für manche Wissenschaften große Bedeutung hat, um sie überhaupt erst international arbeitsfähig zu machen. Damit stellen sich die Schlüsselfragen dieses Beitrags: Gibt es zwischenstaatlich zu vereinbarende Rahmenbedingungen der Philosophie, die diese überhaupt erst möglich machen und die von einer zwischenstaatlichen Organisation wie der UNESCO definiert werden müssen? Falls es diese nicht gibt: Welche Ziele und welche politische Legitimität hat die Beschäftigung einer zwischenstaatlichen Organisation wie der UNESCO mit einer Disziplin wie der Philosophie? Wenn es richtige und legitime Ziele gibt: Wie kann sie die Ziele erreichen, wenn die UNESCO selbst über nur sehr überschaubare finanzielle Ressourcen verfügt und daher keine umfangreichen Förderprogramme auflegen kann?
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II. Ein Rückblick Die UNESCO selbst hat diese offensichtlichen Fragen immer wieder versucht zu beantworten. 2003 erschien die von Patrick Vermeren verfasste Publikation La philosophie saisie par l’UNESCO, aus der die folgenden historischen Bezüge stammen (vgl. Vermeren 2003). Dem stellvertretenden Vorsitzenden der Gründungskonferenz der UNESCO von 1945, Léon Blum, zufolge hat der Zweite Weltkrieg gezeigt, dass Bildung, Wissenschaft und Kultur gegen das gemeinschaftliche Menschheitsinteresse gewendet werden können und dass sie daher ausgerichtet werden müssen auf die Idee von Fortschritt und Demokratie als psychologische Voraussetzung von Solidarität und Frieden.3 Man kann diesen Gedanken von Léon Blum so auslegen, dass die Ausrichtung auf wissenschaftlichen Fortschritt und Erkenntnis und auf Freiheit von Meinung und Forschung eine erste Rahmenbedingung von Philosophie ist. Man kann ihn aber auch so interpretieren, dass hier eine Norm von Philosophie gesetzt wird, sie in den Dienst von Fortschritt und Demokratie gestellt wird und somit nicht mehr Selbstzweck ist. Der Spagat zwischen dem Eintreten für Selbstzweck und Freiheit von Wissenschaft und Philosophie einerseits und der Förderung einer besonders den Menschenrechten und der Demokratie verpflichteten Wissenschaft und Philosophie andererseits, als Beitrag zum Verfassungsauftrag der UNESCO, war und ist für die Philosophieprogramme der UNESCO charakteristisch.4 In vielen Weltregionen ist dieser Spagat heute noch so aktuell und politisch brisant wie in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg lagen die Aufgaben der UNESCO in der Philosophie auf der Hand. Die ersten UNESCOPhilosophieprogramme halfen, in Europa und zunehmend weltweit den internationalen Austausch von Akademikern und Literatur zu fördern, philosophische Gesellschaften einzurichten, neue Fachzeitschriften zu gründen und die Universitäten international zu öffnen. Zudem setzte sich die UNESCO dafür ein, die Philosophie in den Dienst der Gesellschaft zu stellen, insbesondere im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit zeitgemäßen Fragestellungen wie den Menschenrechten. Inhaltlich war den meisten von Anbeginn klar, dass sich die UNESCO eben so wenig an bestimmten philosophischen Schulen wie dem Existen-
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Weiter unten wird diskutiert, inwiefern diese psychologische Voraussetzung tatsächlich gegeben ist. Weiter unten wird auch diskutiert, dass diese beiden Aspekte nicht als Gegensatz gesehen werden müssen.
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zialismus oder dem Marxismus ausrichten darf, wie sie sich an einer bestimmten Religion ausrichten darf. Der erste UNESCO-Generaldirektor Julian Huxley meinte hingegen, „die grundsätzliche Philosophie der UNESCO muss ein allgemeiner, wissenschaftlicher Humanismus sein, der die verschiedenen Aspekte des menschlichen Lebens vereint und von der Evolution inspiriert ist“. Julian Huxley war Biologe, sein Humanismus war nicht-materialistisch, monistisch und evolutionär-dynamisch. Sein sich seit 1946 abzeichnender Plan, vor dem Hintergrund der Kriegserfahrung und auf der Grundlage moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse mit Hilfe der UNESCO eine neue Weltphilosophie zu etablieren, traf auf heftigen Widerstand von allen Seiten. Vor allem der französische Delegationsleiter auf der zweiten UNESCO-Generalversammlung, Jacques Maritain, ein katholischer Philosoph, wandte sich entschieden und erfolgreich gegen eine eigenständige „UNESCO-Philosophie“. Ihm zufolge gibt es zu den Menschenrechten sowie zu den Idealen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit Einverständnis auf einer praktischen Ebene, und zwar unabhängig von den jeweiligen philosophischen Schulen, die zur Begründung der Ideale herangezogen werden. Diese konsensuelle, praktische Ebene habe ein UNESCO-Philosophieprogramm zu vertiefen, eine eigene Philosophie lehnte er nachdrücklich und erfolgreich ab. Seine Vision war es vielmehr, praktische Fortschritte zu erreichen, zum Beispiel einen universellen Konsens über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Die divergierenden Begründungen für Menschenrechte müssen und sollen zwar in einer fairen Debatte aufeinander prallen und sichtbar werden, ohne dabei jedoch eine Einigung oder auch nur Annäherung der Begründungen anzustreben. In den folgenden zehn Jahren legte die UNESCO die auch heute noch publizierte Zeitschrift Diogène auf und gründete mit dem Conseil International de la Philosophie et des Sciences Humaines (CIPSH) eine Nichtregierungsorganisation mit globaler Mitgliedschaft, die philosophische Grundsatzfragen frei diskutieren konnte, ohne dabei Anforderungen von Regierungen berücksichtigen zu müssen. Der CIPSH übernahm von der UNESCO auch all jene Programmaspekte, die eher akademischer Natur sind, wie die Organisation von Kongressen und die Fortführung von Bibliographien. Ab 1966 verstärkte sich das Engagement der UNESCO erneut, es wurde eine Philosophieabteilung gegründet, die die Genfer Philosophin und Karl Jaspers-Schülerin Jeanne Hersch zwei Jahre lang leitete. Sie blieb weit über die UNESCO heraus in Erinnerung durch die Publikation Le droit d’être un homme zum zwanzigsten Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Diese Publikation unterstrich vor allem nachdrücklich die Universalität der Allgemeinen Erklärung. Sie ist ein Meilen-
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stein in der Geschichte der UNESCO, auch wenn das Werk ohne hohen akademischen Anspruch konzipiert ist. Vergleichende Werke über den Stand der Philosophie weltweit, ein Band zum Aristoteles-Jubiläum, Kongresse zu anderen Jubiläen und Tagungsreihen waren charakteristische Aktivitäten der folgenden zwanzig Jahre. Viele weltweit bekannte Philosophen haben sich an diesen Projekten beteiligt, wobei vor allem französische Philosophen wie Jacques Derrida, Jean-Paul Sartre oder Claude Lévi-Strauss der UNESCO über Jahrzehnte besonders eng verbunden waren. Als eigenständige sektorale UNESCO-Programme haben sich seit Langem der Kampf gegen den Rassismus etabliert, insbesondere gegen pseudo-wissenschaftliche Begründungen für Rassismus; seit Anfang der 1990 die angewandte Ethik, insbesondere die Wissenschaftsethik, die Bioethik und die Umweltethik; und die Begriffsbildung rund um die positiven Voraussetzungen des Friedens. Seit 1950 hat die UNESCO mehrere Erklärungen, Übersichtswerke und Stellungnahmen gegen den Rassismus mit politischem Niederschlag publiziert. In der Bioethik hat sie durch drei Erklärungen 1997, 2003 und 2005 zur Herausbildung von weltweit konsistenten Normen beigetragen. Ab 1989 wurde das Konzept der „Kultur des Friedens“ für einige Jahre prägend für das Verhältnis der UNESCO zur Philosophie: Es ging der UNESCO nicht mehr um eine Philosophie des Friedens, sondern eine Philosophie der Kultur des Friedens. „Kultur des Friedens“ wurde und wird verstanden als das trilaterale Spannungsverhältnis von Demokratie, Menschenrechten und Entwicklung. In diesem Geist wurde 1995 von verschiedenen Philosophieprofessoren aus allen Weltregionen eine Pariser Erklärung zur Philosophie verabschiedet. Ein internationales Jahr widmete sich 2000 der „Kultur des Friedens“; eine internationale Dekade zum gleichen Thema schloss sich an. Mit der Gründung des Netzwerks der UNESCO-Lehrstühle Anfang der 1990er Jahre wurde eine neue Form der strukturierten Zusammenarbeit mit der akademischen Welt etabliert, die auch mehrere Philosophielehrstühle umfasst und die sich bis heute als ertragreich erwiesen hat. Die ersten UNESCO-Lehrstühle in der Philosophie wurden in Santiago de Chile, Caracas, Paris, Seoul, Tunis, Ankara und Montreal eingerichtet. Ab 1995 fanden auch regelmäßig die Rencontres philosophiques statt. In öffentlichen Diskussionen diskutierten Philosophen, Intellektuelle und Künstler aktuelle Weltprobleme. In diesem Rahmen widmete sich die UNESCO Ende der 1990er Jahre wiederholt dem Projekt Weltethos, auch unter Beteiligung von Hans Küng und Karl-Otto Apel. Der 2002 in die Wege geleitetet Welttag der Philosophie, der seit 2005 ein offizieller UNESCOWelttag ist, ist das jüngste Projekt einer strukturierten Auseinandersetzung
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mit der Philosophie: Mehr als andere Instrumente der Vergangenheit hat er das Zeug dazu, die Breite der Bevölkerung zu erreichen. Auf dem Gebiet der Philosophielehre wurden vergleichende Studien im globalen Maßstab 1951 und 1952 durchgeführt, sowie auf kontinentaler Ebene 1980 (Afrika), 1983 (Asien), 1985 (Lateinamerika und Arabische Welt) und 1993 (Europa). Der Zusammenhang zwischen Philosophie und der Demokratisierung wurde 1994 für verschiedene Staaten und Kontinente systematisch erhoben, unter anderem auch durch Ulrich Johannes Schneider für Deutschland. Auch wurden zu dieser Zeit die Wechselwirkungen zwischen Philosophie und anderen gesellschaftlichen Strömungen analytisch beschrieben und in verschiedenen Sprachen publiziert. 2007 erschien Philosophy – A school of freedom, eine erneut global vergleichende Studie über die Philosophielehre auf allen Bildungsebenen. 2009 werden in vier „high-level regional meetings“ die Ergebnisse dieser Studie wieder zurückgespielt in die Länder. Weitere aktuelle Projekte sind „Inter-regional philosophical dialogues“ zum Beispiel zwischen Asien und der Arabischen Welt oder Afrika und Lateinamerika; ein globales Netzwerk von inzwischen über 2.000 Philosophinnen. Eine globale Vergleichsstudie über philosophische Forschung ist in Vorbereitung, Die UNESCO-Generalkonferenz, die sich heute aus 193 Staaten zusammensetzt, hat 2005 eine Philosophiestrategie verabschiedet, die für die UNESCO folgende drei Aufgabenfelder definierte: 1. Für einen Platz für die Philosophie in den Bildungssystemen zu werben – um der Philosophie selbst willen, um die Demokratie zu fördern und um junge Menschen zu verantwortungsvollen Staatsbürgern zu erziehen. 2. Für die Philosophie in der Öffentlichkeit zu werben und die Bedeutung der Philosophie herauszustellen. 3. Innerhalb der Philosophie als Disziplin für eine Auseinandersetzung mit Weltproblemen zu werben. Die UNESCO-Philosophiestrategie von 2005 setzt sich eher konservative Ziele und unterfüttert diese mit Maßnahmen, die in der Außensicht eher defensiv wirken. Diese unspektakuläre Herangehensweise ist jedoch realistisch angesichts der sehr begrenzten finanziellen und humanen Ressourcen der UNESCO. Die UNESCO als globale Organisation muss ihre Prioritäten, Ziele und Maßnahmen im Hinblick auf alle Länder festlegen und vertreten. Sie muss sich in ihrem Handeln auf ihre schwächsten Mitglieder konzentrieren. Das Handeln der UNESCO würde bereits dann als erfolgreich gewertet werden, wenn sie zum Beispiel hilft, dass sich Philosophie als ernsthafte akademische Disziplin in einer Reihe von Entwicklungslän-
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dern besser oder überhaupt erst etabliert. Insofern kann mit Blick auf Entwicklungsländer durchaus davon gesprochen werden, dass die UNESCO in einigen Ländern dazu beiträgt, Rahmenbedingungen zu schaffen – wozu auch Forschungsfreiheit gehört. Der Fokus auf Entwicklungsländer hat aber zur Folge, dass sie für die Regierungen, Zivilgesellschaften und akademischen Gemeinschaft in weiter entwickelten Staaten wie in Deutschland scheinbar wenig anzubieten hat. Natürlich hat die Philosophie auch Voraussetzungen und Rahmenbedingungen in Industrieländern – die Veränderungen auf diesem Feld durch die Reform der Studiengänge wurden auf diesem Symposium angesprochen. Die UNESCO besitzt hierzulande derzeit aber nicht die politische Kraft, um im Blick auf die Veränderung solcher Rahmenbedingungen politisch wirksam zu werden. Die UNESCO kann aber ideelle Unterstützung anbieten, sie kann den symbolischen Gehalt und die Legitimität einer globalen Organisation in die Waagschale werfen. Sie ist dabei aber auch auf Kooperationen angewiesen und darauf, dass sich die von der UNESCO-Strategie angesprochenen Communities im Hinblick auf die Erreichung der Ziele der UNESCO-Strategie selbst organisieren. In Industriestaaten braucht es gut etablierte Partnerschaften zwischen allen zentralen Akteuren, um auf dem Hintergrund starker Konkurrenz um Schlagzeilen ein Thema wie die Philosophie auf die politische Agenda und, losgelöst von Anlässen wie Bestsellern oder Skandalen, in das öffentliche Bewusstsein zu bringen.
III. Warum Philosophie? Allerdings besteht auch für Entwicklungs- und Schwellenländer Gefahr, dass die Ansatzpunkte der UNESCO-Philosophiestrategie ins Leere laufen, wenn die UNESCO nicht ambitionierter ansetzen kann als mit Öffentlichkeitsarbeit und Appellen. Gerade in diesen Ländern reichen weiche Maßnahmen oft allein deshalb nicht aus, weil zum Beispiel Philosophen an Universitäten oft einfach keine finanziellen Mittel haben, um Veranstaltungen zum Beispiel zu einem Welttag der Philosophie zu gestalten. Die fehlende Verfügbarkeit substanzieller finanzieller Mittel stellt die Frage nach dem Zweck einer Schwerpunktsetzung der UNESCO in der Philosophie neu, ergänzt durch eine praktische Dimension. Da die UNESCO als UN-Organisation für Wissenschaft a priori für die gesamte Spannweite der akademischen Disziplinen zuständig ist, muss sie jede Schwerpunktsetzung zugunsten jeder Disziplin sehr gut begründen. Der Verweis auf die Förderung internationaler Kooperation zur Friedenssicherung reicht nicht aus, dieses Argument kann zugunsten jeder wissenschaftlichen Disziplin vorgebracht werden.
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Wie bereits erwähnt, gibt es generische Disziplinen wie die Erd- oder Umweltwissenschaften, wo die Arbeit der UNESCO auf der Ebene zwischenstaatlich zu treffender Voraussetzungen für die Wissenschaft für die Verbesserung von Rahmenbedingungen der internationalen Wissenschaftszusammenarbeit von intuitiv nachvollziehbarem gesellschaftlichem Nutzen ist. In Bereichen wie der Bioethik (als Hilfswissenschaft für die Biomedizin und Biotechnologie) ist ein Handeln der UNESCO ebenfalls relativ einfach nachzuvollziehen. Das wirkungsvolle und international sichtbare Agieren der UNESCO auf diesem Feld seit Anfang der 1990er Jahre, um weltweit gültige Standards zu etablieren, ist eine Erfolgsgeschichte. Hier geht es um die Formulierung von völkerrechtlichen Erklärungen, Aufbau von Kapazitäten wie nationalen Ethikkomitees oder den Austausch von Erfahrungen, zum Beispiel zu Ethikausbildungsprogrammen an Universitäten. Die Schwerpunktsetzung in der Philosophie hingegen ist zumindest dem ersten Anschein nach nicht von externen oder exogenen Faktoren (zwischenstaatliche Voraussetzungen der Forschungstätigkeit, Notwendigkeit als Hilfswissenschaft wegen schnellen technologischen Fortschritts) bestimmt. Die Begründung der erwähnten UNESCO-Philosophiestrategie lautet: “The importance of philosophy to the work of UNESCO is evident, since philosophical analysis and reflection are undeniably linked to the establishment and maintenance of peace. By developing the intellectual tools to analyze and understand key concepts such as justice, dignity and freedom, by building capacities for independent thought and judgment, by enhancing the critical skills to understand and question the world and its challenges, and by fostering reflection on values and principles, philosophy is a ‘school of freedom’.” Die UNESCO rechtfertigt also ihre Schwerpunktsetzung zugunsten der Philosophie aus einer vagen Andeutung einer Verantwortung als „intellektuelle Agentur“ des UN-Systems zugunsten des Friedens, ein direkter Bezug zum Verfassungsauftrag. Die UNESCO geht in dieser Passage zudem davon aus, dass die Philosophie mehr als jede andere Wissenschaft Grundlegendes beizusteuern habe zur Klärung der ihr und allen UN-Organisationen zugrunde liegenden Werte, genannt werden Gerechtigkeit, Würde und Freiheit – also ein ganz anderes Argument. Das wirft folgende Fragen auf: 1. Sind diese Rechtfertigungen stimmig? 2. Wie werden die genannten Werte und somit die Philosophie verstanden? Sehr weit oder sehr konkret? Politisch oder philosophisch? Die genannte Rechtfertigung erscheint wenig stimmig. Es bräuchte starke Gründe für die Behauptung, dass philosophische Analyse für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Frieden bedeutsam ist; diese werden hier und auch anderswo nicht gegeben. In der Friedens- und Konfliktforschung
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geht es wie in jeder Wissenschaft auch um die Klärung konzeptioneller Fragen, ohne dass diese Begriffsklärung dadurch als philosophisch bezeichnet werden könnte. Natürlich kann Philosophie im Zuge des Aufbaus neuer gesellschaftlicher Strukturen wichtige Beiträge leisten, aber nicht notwendig mehr als andere Disziplinen. Ein Argument, das einen Zusammenhang zwischen Philosophie und Frieden herstellen könnte, wäre, dass die Funktionsfähigkeit und Differenzierung von Wissenschaftssystemen durch Konflikte stark beeinträchtigt werden und die Philosophie in solchen Situationen zurückschlüpft in die Rolle einer Leit- oder Schirmwissenschaft, ein Status, den sie in der Frühzeit der Wissenschaftsgeschichte innehatte. Dieser Gedanke soll hier nicht weiter verfolgt werden. Aus dem zweiten Teil der oben zitierten Rechtfertigung kann hingegen ein anderes Argument abgeleitet werden, dass die Philosophie eine wichtige Rolle hat zur Schaffung demokratischer Verhältnisse. In der Tat schult die Philosophie unabhängiges und kritisches Denken und hinterfragt hergebrachte Dogmen. Daher spielt sie eine wichtige Rolle als Gegengewicht zu Fundamentalismen aller Art und spielt daher wohl eine Rolle für die Herausbildung freiheitlich-demokratischer Gemeinwesen. Dennoch ergibt sich daraus erst dann ein Beitrag zum Frieden, wenn überzeugend argumentiert und nicht nur wie von Léon Blum behauptet wird, dass freiheitlichdemokratische Gemeinwesen friedlicher sind als nicht-demokratische Gemeinwesen. Selbst wenn dieser argumentative Brückenschlag gelingt, ist die Argumentation eher indirekt und überzeugt wenig. Der Bezug zum Verfassungsauftrag der UNESCO erscheint daher insgesamt kaum schlüssig. Die zweite oben aufgeworfene Frage bezieht sich auf das Verständnis der genannten Werte „Gerechtigkeit, Würde und Freiheit“. Da die Philosophie hier in den Dienst der Gesellschaft gestellt wird, muss die geforderte Klärung der genannten Begriffe in einem weiten Verständnis stattfinden, das Platz für vielfältige Ansätze und Interpretationen lässt. Auch wenn die Klärung der Begriffe eine politische Funktion erfüllt, müssen die Klärung selbst und der eigentliche Gehalt der Begriffe philosophisch sein. Wenn das Ziel nämlich ist, das Individuum und dadurch die Gesellschaft durch Philosophie demokratischer und freiheitlicher zu machen, muss die philosophische Tätigkeit, und bleibt sie auch noch so oberflächlich, selbst freiheitlich sein und nicht politisch instrumentalisiert; ansonsten ergäbe sich ein Selbstwiderspruch. Insofern löst sich auch der vorher angedeutete, häufig genannte Vorwurf einer Instrumentalisierung der Philosophie auf: Wenn die Philosophie ein politisches Ziel haben soll, dann kann sie es nur dann erreichen, wenn die Zielerreichung für sie keine praktische Vorgabe ist. Aus diesen kurzen Skizzen kann gefolgert werden, dass es durchaus ein zeitgemäßes und legitimes, politisches Ziel der UNESCO auf dem Feld der Philosophie geben kann, nämlich unabhängiges und kritisches
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Denken zu fördern und damit zu fundamentalistischen Weltsichten ein Gegengewicht zu bilden. Zugleich kann dieses politische Ziel nur durch authentische Philosophie erreicht werden; eine Instrumentalisierung findet tatsächlich nicht statt. Es kann also aus Sicht der UNESCO eine stimmige Antwort auf die Frage „Warum Philosophie?“ geben; damit kann es auch eine Legitimation der UNESCO für Programme im Feld der Philosophie geben, auch wenn diese nicht auf ihren zwischenstaatlichen Charakter zurückzuführen ist. Was kann die UNESCO aber praktisch tun, um sich für die Philosophie – bzw. unter Zuhilfenahme der Philosophie für Gerechtigkeit, Würde und Freiheit sowie für Demokratie – einzusetzen? Popularisierung von Philosophie durch einen Welttag, durch Eintreten für Philosophie in Fernsehen und Hörfunk oder durch Übersetzungen von philosophischen Werken kann sicher nicht genügen. Müsste sie nicht Programme entwickeln, um die Philosophie in Entwicklungsländern mit wenig ausgeprägten akademischen Institutionen auf dem Feld der Philosophie voranzubringen? Mit welchen Instrumenten könnten solche Programme arbeiten? Müsste die UNESCO gemeinsam mit nationalen Regierungen „nationale Philosophiestrategien“ formulieren? Müsste sie die existierenden akademischen Institutionen materiell und ideell stärken? Welche Rahmenbedingungen braucht eine lebendige und lebhafte Philosophie? Leider werden diese Fragen derzeit bei der UNESCO zu wenig diskutiert, auch wenn sich viele Länder gerade aus dem Süden in jüngster Zeit sehr nachdrücklich für die Philosophie aussprechen; daher soll auch hier keine Antwort versucht werden. Bemerkenswert ist jedoch, dass es auch auf dem Feld der handfesten Politikberatung durchaus Fortschritte gibt, wie die in Vorbereitung befindliche globale Vergleichsstudie über philosophische Forschung zeigt. Wichtig ist jedoch, dass vor der Klärung des „Wie?“ das „Warum?“ geklärt ist. Diese Frage zu klären ist das Ziel dieses Symposiums, die Antwort auf diese Frage im Hinblick auf die UNESCO wurde soeben versucht.
IV. Die dritte Säule Der folgende abschließende Abschnitt nimmt die dritte der drei „Säulen“ der UNESCO-Philosophiestrategie in den Blick: Innerhalb der Philosophie als Disziplin selbst für eine Auseinandersetzung mit Weltproblemen zu werben. Die UNESCO-Philosophiestrategie spricht davon, „philosophische Reflektionen und Dialoge über Programmprioritäten der UNESCO“ unterstützen zu wollen: „dialogue among civilizations, education for all, bioethics, knowledge societies, cultural diversity, ethics of the environment,
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poverty, sustainable development, etc.“ Einerseits richtet sich die UNESCO an alle Philosophen, zeitgenössische Herausforderungen aufzugreifen, andererseits bietet sie selbst den „öffentlichen Raum an, in dem Dialog eine internationale und für alle zugängliche Dimension erhält.“ Diese Forderung ist also zugleich ein Angebot. Klar ist, dass es nicht die Aufgabe der Philosophie sein kann, getrieben von Brandaktualität, Spektakel und Unerhörtheit dem jeweils neuesten Phänomen hinterher zu laufen und die Bedürfnisse der Feuilletons zu befriedigen, angeblich in dieser Form am Puls der Zeit zu sein. Ich stimme der im Rahmen dieses Symposiums formulierten Forderung von Volker Gerhardt uneingeschränkt zu. Jedoch bietet das Feld der internationalen Politik eine große Vielfalt von Themen und Begriffen, die jenseits der Medienaktualität drängende Fragen der Menschheit beschreiben. Die oben genannte, kurz zitierte Liste der UNESCO überzeugt dabei eher wenig. Man betrachte hingegen die Begriffe Nachhaltigkeit, Frieden, Menschenrechte, Vielfalt oder Dialog. Alle diese Begriffe sind im Bereich der Vereinten Nationen, in der nationalen Politik und in der Alltagssprache aus einer bestimmten Perspektive gesehen kaum mehr als vage positiv besetzte Schlagworte. Bei den Vereinten Nationen kann man diese Begriffe bzw. Schlagworte fast in jede Resolution einflechten, im Alltag kann man sie in jeder Konversation verwenden, ohne dabei Widerspruch oder Verwunderung zu bewirken. Diese Begriffe werden in den Medien, der Werbung und im gedankenlosen Alltagsgerede meist nahezu beliebig verwendet. Welch Debakel! Aus einer zweiten Perspektive stehen diese Begriffe nämlich für die Konzepte, entlang derer wir eine gerechtere und tragfähigere Welt der Zukunft entwickeln wollen. Beispiel Nachhaltigkeit: In der Sprache der Werbung wird „nachhaltig“ identisch mit „wirksam“ oder auch nur „wirklich“ verwendet. Dabei besagt der Begriff etwas ganz anderes: Das Konzept der Nachhaltigkeit stammt in Deutschland aus der Waldwirtschaft, wurde politisch vom Club of Rome im Sinne der Aufrechterhaltbarkeit geprägt und besagt den „Zustand eines Systems, das sich so verhält, dass es über unbeschränkte Zeiträume ohne grundsätzliche oder unsteuerbare Veränderungen (Zusammenbruch) […] existenzfähig bleibt und vor allem nicht in den Zustand der Grenzüberziehung gerät“. Der Brundtland-Bericht von 1987 definierte dagegen: „Nachhaltige Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass zukünftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Mit dem BrundtlandBericht kommt in den zunächst eher technischen Begriff der Nachhaltigkeit ein Element der globalen und intergenerationalen Gerechtigkeit hinein. Diese Definition ist bis heute die international am häufigsten gebrauchte.
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Was hat das mit Philosophie zu tun? Ich knüpfe noch einmal an den Beitrag von Volker Gerhardt zu diesem Symposium an. Er betont, dass im Hinblick auf die Menschenrechte viel stärker anerkannt werden muss, dass die in den Verfassungen verankerten einklagbaren Menschenrechte eine Umkehrung von Idealismus und Realismus bedeuten, das heißt, sie müssen als zivilisatorische Leistung und geistesgeschichtlich bedeutsame Verschiebung anerkannt werden. Die Niederlegung von Menschenrechten in den Verfassungen der USA und deren Proklamation in der französischen Revolution haben zu den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen geführt, die von über 160 Staaten ratifiziert wurden. Zwar fehlt in vielen dieser Staaten die Rechtsstaatlichkeit, so dass die Menschenrechte vielerorts nur auf dem Papier stehen; dennoch sind Menschenrechte weiter ein zentrales Thema auch für die Philosophie. Und sie sind kein Thema, mit dem Philosophen in den Ruf geraten würden, Trends hinterherzulaufen. Gleiche fundamentale Bedeutung haben aus meiner Sicht die Begriffe „Vielfalt“ und „Nachhaltigkeit“. Es wäre eine geistesgeschichtlich ebenso große Errungenschaft wie die Verankerung der Menschenrechte, sollte die Gesellschaft eines Tages tatsächlich und nicht nur deklamatorisch Vielfalt als Wert anerkennen und wertschätzen lernen. Dabei verwende ich einen weiten Begriff von Vielfalt und decke sowohl Vielfalt von kulturellen Ausdrucksformen, von Herkunft, von persönlichen Lebensumständen oder von sexueller Orientierung, Alter oder Behinderung ab. Die Arbeit an diesem Begriff ist aus meiner Sicht noch nicht abgeschlossen und stellt weiter eine Aufgabe für die Philosophie dar. Auch der Begriff der „Nachhaltigkeit“ bietet spannende Anknüpfungspunkte: Umfasst dieses Konzept auch „Gerechtigkeit“, wenn ja, welchen Inhalt jenseits einer rein symbolischen Behauptung besitzen interkontinentale und intergenerationelle Gerechtigkeit? Was fällt unter dieses Konzept, ist es operationalisierbar? Ich halte es für ein enorm ambitioniertes Projekt, eine tatsächlich „nachhaltige Gesellschaft“ bzw. Wirtschaft zu realisieren. Wollen wir es schaffen, brauchen wir für diese enorme gesellschaftliche Umwälzung Beiträge aus allen wissenschaftlichen Disziplinen, auch aus der Philosophie. „Frieden“ und „Dialog“ sind zwei weitere Begriffe, die durch die häufig unscharfe Verwendung ihres interessanten Gehaltes beraubt wurden. Dass Frieden mehr ist als Abwesenheit von Konflikt, ist trivial. Was zeichnet aber den Frieden aus, den wir in der Europäischen Union seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges genießen dürfen? Was zeichnet den Frieden in Nordirland aus? Dialog: Ja, aber warum? Und mit wem? Wenn ich darauf hinweise, dass die Klärung dieser Konzepte nicht ausreichend in der internationalen Politik oder in der Öffentlichkeit angekommen ist, verkenne ich in dieser Kürze natürlich die hunderte und tausende
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wichtiger Beiträge und Antworten, die Philosophen und andere Wissenschaftler tatsächlich bereits gegeben haben. Sicher werden manche sagen, dass die eine oder andere Frage längst beantwortet ist. Jedoch sind viele dieser Antworten in der internationalen Politik zu wenig wirksam geworden. Auch daher setzt die UNESCO sich dafür ein, dass sich Philosophen fortlaufend mit diesen Fragen beschäftigen und gegebene Antworten auf diese Weltprobleme fortlaufend hinterfragen und sich einbringen.
Literatur Vermeren, P., 2011: Philosophie in der Perspektive der UNESCO, im Auftrag der Deutschen UNESCO-Kommission aus dem Französischen übersetzt von H.J. Sandkühler, Bern u.a.
Welche Macht hat die Philosophie heute noch? Karl Heinz Bohrer Wem ist es nicht schon passiert, dass ihm ein akademischer Gesprächspartner gesagt hätte: „Ich lese zum gedanklichen Gewinn eigentlich keine zeitgenössischen Philosophen, sondern intelligente Schriftsteller?“ Gewiss, ein solcher Satz war auch schon in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts möglich: Man hätte sagen können, Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften enthielte mehr theoretische Phantasie als Nicolai Hartmanns philosophische Ästhetik. Aber das wäre letztlich doch eher eine Prävalenz für eine spezifische Textsorte gewesen, noch keine symptomatologische Aussage. Nunmehr aber könnte man diese Beobachtung nachdrücklich damit erklären, dass seit spätestens Ende der siebziger Jahre systematisch formulierte Ideen wenn nicht in Misskredit geraten sind, dann doch an Attraktivität für die theoretische Phantasie verloren haben. Es handelt sich dabei nicht bloß um eine Mode der intellektuellen Saison: Die von der poststrukturellen Lehre ausgehende Kritik an der philosophischen Theorie, nicht zuletzt die Methode der sogenannten Dekonstruktion, hat Wirkungen gezeitigt, die weit über das hinausgingen, was Paul de Mans Kritik der Hermeneutik ursprünglich an Abwertung von Systemgebäuden geleistet hatte. Aber diese Bewegung hat seit dem Tode ihrer namhaften Vertreter an Einfluss verloren. Nichtsdestotrotz ist die Skepsis gegenüber der Philosophie geblieben. Oder sagen wir es so: Ein erzählender Philosoph wie Montaigne, der im Zeitalter des Descartes’schen Rationalismus an Bedeutung völlig verloren hatte, ist seit Jahren wieder zu Anerkennung und Wirkung gekommen, während Descartes selbst nur noch als Formel über die erkenntnistheoretisch verbürgte Evidenz des Ich präsent ist. Eine analoge Beobachtung: Noch nie sind die Fragmente Friedrich Schlegels so aktuell behandelt worden wie heute, selbst seinen partiell enigmatischen Notaten zur römisch-griechischen Literatur wird mehr Aufmerksamkeit zuteil als den eher historisch-philosophischen Abhandlungen zum Thema.
Dieser Text erschien erstmals in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift „Merkur“, Heft 7, 2010, S. 559–570. Wir danken Herrn Bohrer für die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks.
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Und das eben hat etwas mit der eingangs erwähnten Beobachtung zu tun: Philosophie hat keinen Einfluss mehr, der dem bis Ende der sechziger Jahre gliche. Wenn man darüber mit einem unserer namhaften Universitätsphilosophen sprechen würde, könnte man wahrscheinlich als Widerspruch hören: „Wieso? Im Gegenteil! Noch nie haben Philosophen in praktischen Fragen so viel Einfluss gehabt wie heute. Nehmen Sie nur das Beispiel des Ethikrats.“ Nun würde eine solche Antwort gerade die Widerlegung dessen, was sie sagen will, enthalten: Denn eine Philosophie, die in der Praxis angekommen ist oder die Praxis beeinflussen will, verliert ihren spezifischen philosophischen Charakter. Man kann diesen Vorgang das Gesetz des Siebten Briefs Platons über sein sizilianisches Abenteuer nennen. Denn dieser Brief beschreibt das Scheitern der philosophischen Lehre vor der Praxis als ein notwendiges Scheitern: Dreimal eingeladen von den Herrschern von Syrakus, vor allem auf Betreiben des philosophisch inklinierten jungen Dion, der schließlich seinen Vorgänger Dionysios vertrieb, beschreibt Platon im Siebten Brief, inwiefern ein ehrgeiziger Herrscher von der Substanz des philosophischen Gedankens nichts begreift. Im Zentrum steht Platons Erklärung, wie es zur Erkenntnis kommt. Oder: welcher einzelnen Schritte es bedarf, dass man von Erkenntnis sprechen kann. Es ist die für den Erkenntnisakt zentrale Einlassung Platons neben dem sechsten Buch der Politeia, wo er die „größte Erkenntnis“, die „Idee des Guten“, entwickelt. Die Begründung des Erkenntnisgewinns stellt also die philosophische Essenz oder das Paradigma für eine philosophische Rede dar; das erkenntnistheoretische Stück ist aber nur der kurze Mittelteil des Siebten Briefs. Der Anfang und das Ende handeln von der Erfahrung des Philosophen angesichts rein weltlicher Ambition, ja vom Scheitern der Idee in der praktischen Welt. Natürlich hat Platon die Philosophie weiterhin als Grundlage für einen gerechten Staat angesehen, was heißt, dass nur durch eine Beteiligung der Philosophie an der Regierung das Unglück des Staates aufzuheben sei. Das war der Ausgangsgedanke des Siebten Briefs. Umso mehr spricht das Ende dieses Paradigmas für unsere Frage: Solange man die Idee durch die Wirklichkeit nicht letztlich beeinträchtigt findet í und das haben die Zeitgenossen Platons auch nicht radikal getan í, solange sich sozusagen noch eine Zwei-Welten-Lehre denken lässt, solange kann die Philosophie noch Meister des Diskurses bleiben. Und das ist die Philosophie ja, nicht zuletzt auf Platon gestützt, bis weit in das 20. Jahrhundert hinein gewesen. Dass Schleiermachers Übersetzung von Platons Schriften eine unmittelbar einsetzende zustimmende und polemische Reaktion hervorrief í die Debatte zwischen esoterischer und exoterischer Auslegung í, ist ein Beleg dafür.
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Hegels polemische Reaktion auf den wichtigsten Platoninterpreten des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Wilhelm Gottlieb Tennemann, demonstriert das Selbstbewusstsein der Philosophie in der Welt, nach dem man heute vergeblich sucht. Es wird von Hegel nämlich der philosophische Gedanke, die philosophische Idee, von objektivierbarem Gedankeninhalt unterschieden: Gedanken sind für Hegel keine äußerlichen Dinge, die man, wie er sagt, einfach in die Taschen stecken kann, sondern: „Die philosophische Idee besitzt umgekehrt den Menschen“, heißt es in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie.1 Die Auslegungsdebatte bezüglich Platon im frühen 19. Jahrhundert ist noch nicht als interne Fachhermeneutik einzugrenzen. Es geht noch immer ums Ganze. Man braucht nicht nur auf die majestätischen Selbsterklärungen der Meisterdenker der Epoche, die Einleitungen von Hegels Phänomenologie des Geistes und Fichtes Wissenschaftslehre, zu schauen. Auch bei Hegels Widerpart Friedrich Schlegel, dem Theoretiker der Frühromantik, ist die Philosophie nicht ins Abseits gestellt worden, auch wenn er sie als aporetisches Sprungbrett zum Verständnis des ästhetischen Phänomens benutzte: Spinoza ist sein neuer Gott, sein Eintritt zur frühromantischen Welt- und Kunsterklärung, also der Moderne. Mit anderen Worten: Das ganze innovatorische romantische Begriffs- und Metaphernfeld der Novalis, Hölderlin und Kleist ist fundiert in der Philosophie des deutschen Idealismus. Wenn deren Kategorien so etwas darstellen wie erste Bausteine zu einer ästhetischen Moderne, dann ist die systematische Philosophie deren Voraussetzung gewesen. Kein Wunder, dass Walter Benjamin, der Betreiber des Surrealismus unter der deutschen Intelligenz der zwanziger und dreißiger Jahre, mit der Darstellung der Schlegelschen Kunsttheorie sein Werk begann. Der andere, anspruchsvollere Widerspruch zur Philosophieskepsis könnte an dieser großen Tradition anschließen und mit Otfried Höffes Kleiner Geschichte der Philosophie noch immer unverblümt sagen: „Philosophieren tut not“, nach wie vor, nämlich zu „kaum vermeidbaren Grundfragen überzeugende Antworten“2 zu geben. Damit sind wir aber wieder bei der eingangs gemachten Beobachtung einer neuen literarischen Konkurrenz zur Philosophie. Die Wirkungsgeschichte von Philosophie in einer jeweiligen Gegenwart í das ist bei der Frage nach ihrer Macht immer im Auge zu behalten íist natürlich nicht identisch mit der Geschichte ihrer internen universitären Diskussion. 1
2
G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke in 20 Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 19, Frankfurt/M. 1971, 28. O. Höffe: Kleine Geschichte der Philosophie, München 2005, 8.
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Anders ausgedrückt: Es existiert eine Geschichte philosophischer Hermeneutik, also der Erforschung der logischen und historischen Bewandtnis einzelner Denkmotive einzelner Philosophen, die mitnichten ein Beleg für deren Lebendigkeit im intellektuellen Leben einer Bildungsnation ist. Die Mehrheit der heutigen Philosophieprofessoren schreibt keine eigene Philosophie, sondern erklärt die Philosophie anderer. Das haben die meisten Philosophen schon immer getan, und das ist kein Einwand gegen sie und gegen die Relevanz der Universitätsphilosophie an sich. Aber der Maßstab hat neuartige Konsequenzen: Es gab bis vor kurzem an den meisten deutschen Universitäten circa drei Philosophielehrstühle. Bei etwa hundert Universitäten, nicht alle erwähnenswert, sind das gut dreihundert Philosophieprofessoren. Von diesen sind keineswegs alle durch Publikationen über ihre Habilitationsschrift hinaus hervorgetreten. Wirklich bekannt bei ihren geisteswissenschaftlichen Kollegen, bei Literaturund Kunstwissenschaftlern, bei Historikern und Soziologen, ist nur eine dünne Minderheit. Als Ernst Tugendhat, Michael Theunissen und Dieter Henrich vor fünfundzwanzig Jahren nach Berlin berufen wurden, da galt Berlin fortan als philosophische Hochburg. Außerhalb dieser Namen gab es zu jener Zeit niemanden von vergleichbarem Renommee, sieht man von der Ausnahmeerscheinung Jürgen Habermas ab. Dieser hatte noch 1985 kritisch von einer „Rückkehr zur Metaphysik“ gesprochen.3 Das galt Dieter Henrichs Erklärung, dass die „Philosophie zu einem neuen Beginn zu finden“ scheine. Rehabilitierungsimpulse der Metaphysik, wie sie Habermas damals am Beispiel von Henrichs Büchern Selbstverhältnisse und Fluchtlinien charakterisierte, sind heute nicht mehr erkennbar. Was zeigt sich daran? Offensichtlich doch, dass Philosophie im alten Sinne einer intellektuellen Generalinstanz zurückzutreten begann hinter Philosophie als einer fachwissenschaftlichen Disziplin (was sie per definitionem nicht sein sollte) im Sinne des Forschungsbetriebs, in dem sich jeweilige Erkenntnisse zur Philosophiegeschichte oder zu philosophischen Denkmotiven sowohl akkumulieren als auch verbrauchen. Anlässlich der Auszeichnung eines der bedeutendsten Vertreter des Faches bemerkte ein junger Professor, jener berühmte Name wirke nur noch wie das verschwindende rote Rücklicht eines Zuges im Tunnel. Die aktuellste Bilanz des Verschwindens der metaphysischen Tradition der kontinentalen Philosophie gibt nicht ohne Arroganz Joseph Margolis in Pragmatism’s Advantage. American and European Philosophy at the End of the Twentieth Century (2010). Das geht schon ans Eingemachte und ist 3
Vgl. Merkur, Nr. 439/440, 898–905.
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mehr als von nur fachwissenschaftlicher Bedeutung. Allerdings steht die deutsche Philosophie von Kant und Hegel bis Apel und Habermas noch einmal triumphierend auf, um dann im historischen Abgrund zu versinken. Die abschließende Pointe ist hier die Feststellung, Habermas, also der deutsche Kritiker des Rückgewinns der Metaphysik, habe den Kantschen Transzendentalismus trotz „pragmatischer Argumentation“ nie verlassen. Ende vom philosophischen Lied. Dass ein solcher Parforceritt gegen die kontinentale Philosophie von einem amerikanischen Vertreter des philosophischen Pragmatismus kommt, gibt dem Eindruck vom Machtverlust eine aktuelle Würze. Gewiss, auch im 18. und 19. Jahrhundert gab es philosophische Debatten im fachwissenschaftlich engeren Sinne. Wer erinnert heute noch den Platon-Forscher Tennemann, der Hegel zu einer seiner grandiosen Definitionen der Philosophie als Macht provoziert hat? Aber solche internen Debatten hatten lange Zeit auch externe Wirkung. Das seit einiger Zeit gewusste Faktum, dass die Einzelwissenschaften der Philosophie das Wasser abgraben, ist keine befriedigende Antwort. Das liefe auf eine endgültige Resignation des alten Anspruchs hinaus. Eher schon ist der Niedergang der Geisteswissenschaften als Parallelvorgang im großen Ganzen der Bologna-Reform zu sehen. Im Falle des Neukantianismus, der Benjamin noch anregte, bedeutete die akademische Wiederlektüre Platons unter betont erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten nicht nur eine fachwissenschaftliche Veranstaltung. Das war noch viel weniger der Fall bei Edmund Husserls phänomenologischem Erneuerungsversuch der philosophischen Theoriebildung im Namen des Prinzips „Zu den Sachen“. Sein Nachfolger Martin Heidegger entfachte bis in unsere Epoche hinein, nicht zuletzt bei französischen Denkern, geradezu ein Feuer des Gedankens, so wie es Hegels Satz beschrieben hatte. Aber die geniale Intuition eines Einzelnen ist nicht allein Kriterium der Lebendigkeit des philosophischen Gedankens. Dafür zeugen auch die Auslegungen, die Kants Kritik der reinen Vernunft zu Ausgang des 18. Jahrhunderts gefunden hat. Es gab indes eine Zäsur, die unsere Frage erneuert: Friedrich Nietzsche und seine Attacke auf den deutschen Idealismus. Sein Witz über Kants „synthetische Urtheile apriori“, sein Sarkasmus über die Wahrheitssuche der deutschen Jünglinge von Tübingen, vor allem aber die Neubegründung der Moral im unterbewussten Willen zur Macht waren die inhaltliche Seite der Zäsur. Als Metaphysikkritik ist sie zunächst von der zeitgenössischen Philosophie nicht wirklich rezipiert worden. Es war Martin Heidegger, der meinte, den Destruktionsversuch Nietzsches richtiger angehen und vollenden zu können. Die andere Seite, die formale hingegen zeigt die Zäsur im Sinne der Unterbrechung des philosophischen Diskur-
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ses in ihrer wahren Schärfe: Es ist Nietzsches aphoristische Sprache gewesen, die das Ende der philosophischen Systematik ansagte. Darüber ist seit dem Zweiten Weltkrieg viel geschrieben worden. Mehr im Ausland als in Deutschland, wo ein durch politische Korrektheit und ideengeschichtliche Voreingenommenheit bedingter Originalitätsverlust es nicht zuließ, Nietzsches Sprache produktiv zu rezipieren. Die Karriere des Begriffs der „Metapher“ lief an der deutschen Nachkriegssystematik und -historik bis vor kurzem vorbei. Es kann daher nicht behauptet werden, Nietzsches Denken habe die Bedeutung der deutschen, der europäischen systematischen Philosophie beendet. Das hat eher die angelsächsische, von deutschen Philosophen wie Ludwig Wittgenstein und Gottlob Frege inaugurierte analytische Sprachphilosophie versucht, scheinbar auch zunächst erreicht. War es doch Wittgenstein, so Chantal Bax in ihrem Essay Wittgenstein and the Fate of Theory (2010), der der philosophischen Theorie überhaupt ein Ende gesetzt hatte í jedenfalls wenn diese definiert wird als ein Versuch, in die Essenz der Dinge einzudringen. Dann hat sie, sprachphilosophisch gesehen, keinen Grund zu existieren. Die Widersprüche, in die Wittgensteins These gerät mit ihrem eigenen Anspruch, die Natur der Dinge zu verstehen, haben den Einschnitt, den seine „grammatische These“ bedeutete, nie verringert. Auch nicht, wenn selbst ihm nahestehende Philosophieprofessoren behaupteten, sie verständen das, was Wittgenstein denke, schon dann nicht mehr, wenn er aufhöre, es ihnen zu erklären. Dennoch hinterließen Wittgensteins Sätze í hierin Kafkas Sätzen ähnlich í einen unüberwundenen Zweifel gegenüber philosophischen Denkgewissheiten. Der Hohn von A. J. Ayer, dem frühen Star der Oxforder Analytiker, über die kontinentalen Kollegen zeigte deren Prestigeverlust: Philosophen wie Heidegger, von Sartre ganz abgesehen, wurden als Scharlatane behandelt. Nur die Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty war eben noch zugelassen. Bis man inzwischen wieder eines Besseren belehrt wurde í auch wenn viele deutsche Lehrstühle ebenfalls von Vertretern der analytischen, antimetaphysischen Richtung besetzt sind. Mit Blick auf die Entwicklung des philosophischen Denkens der letzten Jahrzehnte ist unübersehbar, wie systematische Philosophie verdrängt worden ist durch eine essayistische, von Nietzsche angeregte. Man hat sie in den fünfziger, sechziger und noch siebziger Jahren als Inspiration für Schriftsteller und Künstler gelesen. Sie wurde seit den Achtzigern aber zunehmend das Modell eines Gedankenflugs, der in alle geisteswissenschaftlichen Spezialgebiete vorstieß. Man müsste einschlägige Paragraphen von Nietzsches Werk, vornehmlich die Texte zur Ästhetik und Moralphilosophie, auf ihr argumentatives Verfahren hin lesen und fragen, warum und wie sie die traditionelle Philosophie überholen konnten.
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Entscheidend war also í das ist seit der französischen Neulektüre Nietzsches generell akzeptiert í der Stil. Ob man nun auf dessen fragmentarischen Charakter eingeht, auf sein rhetorisches Interesse, auf die Relevanz des von ihm erfundenen Aphorismus oder auf eine Stilkonzeption als Schutz gegen die Drohung einer Wahrheitsprätention: Immer zielt die Identifikation von Nietzsches Stil, also die sprachliche Form seiner Texte, auf einen innovatorischen Gehalt. Nicht von ungefähr ist die einst verneinte Frage, ob Philosophie etwas mit Stil zu tun habe, neuerdings positiv beantwortet worden. Ich gehe nicht auf die unterschiedlichen erkenntnistragenden Einlassungen der Blanchot, Lacoue-Labarthe, Derrida und Nehamas ein. Vor allem aber nicht auf die Problematik des aporetischen Befunds, dass Nietzsches Sätze eigentlich den Sinn eines Ganzen verweigern würden. Ob ich nun den Sinn eines Ganzen, eines Teils oder auch nur eines Satzes im Auge habe, immer ist natürlich eine Sinnvermutung ausgesprochen, ohne die Nietzsches Infragestellung von Wahrheit oder Tatsachen zugunsten von „Interpretationen“ keinen Sinn hätte. Hier hilft eine paradoxe Passage aus Der Fall Wagner weiter: „Was das Ahnen-machen betrifft: so nimmt hier unser Begriff ‚Stil’ seinen Ausgangspunkt. Vor Allem kein Gedanke! Nichts ist compromittirender als ein Gedanke! Sondern der Zustand vor den Gedanken, das Gedräng der noch nicht geborenen Gedanken, das Versprechen zukünftiger Gedanken, die Welt, wie sie war, bevor Gott sie schuf, í eine Recrudeszenz des Chaos (…) Das Chaos macht ahnen (…).“4
Nietzsches Stil, das wird hier klar, sucht die Vermeidung eines absehbar Gewussten, das jeder „Gedanke“ wohl enthält. Ganz gewiss der traditionelle philosophische Gedanke. Nicht zu reden von der geistesgeschichtlich vermittelten „Idee“. So sarkastisch wie das Vermeidungsgebot des Gedankens ausgesprochen ist, so wird die Leerstelle, also der „Stil“, qualifiziert: als ein neues Medium der Philosophie, als Ausdrucksform eines anderen Kreators. Und noch etwas Neues ist im Gedankenspiel: der Gestus, dass der traditionelle, der abgegoltene, der konventionelle Gedanke í kurz gesagt die Banalität an der philosophischen Tradition í nur vermieden werden kann, wenn der zukünftige Gedanke Ausdruck eines bis dahin nicht gekannten Impulses ist, eines Lebenselixiers, offenbar etwas autobiographisch Verbürgtes.
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F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. durchges. Aufl., München/Berlin/New York 1988, Bd. 6, 24.
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Das hat nach Nietzsche nur Robert Musil ähnlich geäußert, wenn er im Mann ohne Eigenschaften die Abnutzung der „Idee“, die einen besonders ausgezeichneten Zustand des Ichs begleitet, beschreibt: „Das bewirkt oft eine einzige Idee. Aber nach einer Weile wird sie allen anderen Ideen, die du schon gehabt hast, ähnlich, sie ordnet sich ihnen unter, sie wird ein Teil deiner Anschauungen und deines Charakters, deiner Grundsätze oder deiner Stimmungen, sie hat die Flügel verloren und eine geheimnislose Festigkeit angenommen.“5
Die Musilsche Erkenntnis vom Energieverlust der „Idee“ für die vom Ich gesuchte Erfahrungskapazität des noch nicht Erfahrenen, noch nicht Gesagten, ist die Fortsetzung der Absage Nietzsches an den „Gedanken“ qua Stil. Umgekehrt wird die Originalität der subjektiven Wendung bei Nietzsche von Musils Sätzen her beleuchtet. Es versteht sich, dass Musil den Begriff „Idee“ nicht mehr im objektiven Sinne Platons oder Hegels benutzt. Seine Subjektivierung auf einen quasi autobiographischen Anlass hin ist ein weiterer Hinweis auf unser Thema: was aus der Macht der Idee, was aus der Philosophie geworden ist. Aber der Stil implizierte natürlich schwerwiegende Inhalte. Unter Nietzsches schwerer Munition war das Wort „Leben“ gewesen, also nicht mehr das Denken selbst, sondern die große Totalität, innerhalb deren es sich vollzieht. Henri Bergson vollendete die Richtung: auch er ein Analytiker von Bewusstseinsvorgängen wie Nietzsche, aber mit neuem Erkenntnisinteresse. Das Wort „Leben“ hätte jedoch auch ohne die beiden Denker nach 1900 Karriere gemacht í nicht nur als Referenzvokabel der „Lebensphilosophie“. Die ganze neue Prosa der klassischen Moderne war ja voll davon. Man suchte „moments of being“. Nicht bloß Virginia Woolf, sondern ebenso James Joyce und Marcel Proust oder Robert Musil. Und der Surrealismus! Virginia Woolf legte großen Wert darauf zu sagen, ihre „Seinsmomente“ hätten nichts mit Platon zu tun. Das Gleiche gilt für Joyce hinsichtlich der scholastischen Philosophie des „Scheins“. Heidegger hat das nur in gewisser Weise intellektuell vertieft beziehungsweise „objektiviert“. Jedenfalls kam Nicolai Hartmanns zum Teil noch heute beeindruckendes Kategorienschema dagegen nicht mehr an. Die Niederlage der alten Systematik ist bewerkstelligt worden durch eine neue Nuance der Momentbeobachtung. Und die Abrechnung mit den Erben des Momentanismus wird
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Musil, R.: Der Mann ohne Eigenschaften, Erstes und Zweites Buch, hg. von Adolf Frisé, 24. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2009, 354.
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dort sofort schwach, wo man den Momentanismus glaubt ideologiekritisch entlarven zu können. Die aktuelle Lage des die philosophische Systematik ablösenden Denkens ist nun durch zwei unterschiedliche Tendenzen gekennzeichnet: Es gibt einmal eine, wie angedeutet, systematische Praxisphilosophie, die von publikumswirksamen Stichwortgebern in allen ungelösten Lebensfragen bis zum Kompetenzanspruch im Ethikrat reicht. Dazu gehören auch Befragungen von Universitätsphilosophen zu religiösen Debatten, die charakteristischerweise nicht theologisch, sondern moralisch geführt werden: eine Tendenz, die eigentlich mit Platons erwähntem sizilianischen Abenteuer zu Ende gegangen sein sollte. Die andere, die interessantere, weil zur klassischen Philosophie gedanklich konkurrierend, wird in Deutschland vom Typus Peter Sloterdijk repräsentiert. Er hat Gefährten im essayistischen Philosophiespiel: Autoren wie Slavoj Žižek, Dieter Thomä (Totalität und Mitleid), vielleicht darf man sogar den Kulturtheoretiker Joseph Vogl zu dieser Gruppe zählen. Und selbst strikt philosophische Autoren wie Wolfram Hogrebe und Martin Seel ließen sich einbeziehen. Seels jüngstes Buch ist die betont aphoristische Vermeidung jeder Systematik. Als Jürgen Habermas das Phänomen Sloterdijk erstmals öffentlich wahrnahm, qualifizierte seine durchaus sympathisierende Charakteristik diesen als den Vertreter eines literarischen Denkstils, der eigentlich nicht in Deutschland, sondern nur in Frankreich Tradition habe. Wie weit Habermas dabei sogar Derrida und Deleuze einschloss, ist nicht eindeutig zu sagen. Jedenfalls besetzten die „nouveaux philosophes“ seit den achtziger Jahren die französischen Feuilleton- und Fernsehdebatten. Dass sie dabei auf Sartre und Camus zurückgreifen konnten, auch auf den philosophischen Dissens zwischen beiden, gab ihnen eine zusätzliche Akzeptanz, während man jenseits der Grenze doch das Leichtgewicht der viel Engagierten etwas zu auffällig fand, deren typischer Fall der elegante BernardHenri Lévy oder der elegische André Glucksmann geworden sind. Was sich an Sloterdijk zeigte, das Übergehen jedes systematischen Anschließens an strikt systematische Denkansätze zugunsten aktueller „Lebens“Motive, ist bei Autoren wie Lévy oder Glucksmann noch deutlicher zum politischen Besinnungsaufsatz geworden. Deshalb ist nicht zu erwarten, dass es zu Rezeptionen ihrer Gedanken über die Befriedigung aktueller »Intellektuellen«-Themen hinaus kommt. Für die französische Intelligenz bietet sich besonders die Unterscheidung zwischen philosophischen Literaten und literarischen Philosophen an. Danach gehörten selbst Sartre und Camus zum ersten Typus. Der Heidegger-Schüler Sartre hat schließlich außer der Abhandlung L’être et le néant keine philosophischen Texte im strengen Sinne geschrieben, sondern nachdrücklich literarische Prosa und Dramen. Bei Camus liegt die Sache noch
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eindeutiger in Richtung Literatur. Trotzdem begründeten beide den Existentialismus, der nicht bloß eine Mode für die urbane Intelligenz wurde, sondern als neue Subjektbestimmung von systematischen Philosophieprofessoren, zum Beispiel Manfred Frank, ernst genommen worden ist. Bei uns ließe sich der enorme Einfluss Theodor W. Adornos und Walter Benjamins unter einer ähnlichen Kategorie verstehen: Die Kritik am falschen Bewusstsein in der Kulturindustrie brachte ebenfalls die Utopie eines neuen freien Menschen in Anschlag. Damit kommen wir zum Ausgangspunkt zurück: der Erkenntnis, dass die Wiederentdeckung von Montaigne in unserer Epoche auf die Existenz von zwei Denktypen, die seit langem vorherrschen, verweist. Nietzsche, der wegen seines ambivalenten Skepsisbegriffs ein zwiespältiges Verhältnis zu Montaigne hatte, verehrte dagegen die anderen französischen Moralisten, vor allem La Rochefoucauld und Vauvenargues. Man wird also bei der Beurteilung des gegenwärtigen essayistischen Typus, das heißt des Bedeutungsverlusts des systematischen Typus, auf das gedankliche Niveau jener ersten philosophischen Essayisten zurückschauen müssen. Großen Erkenntnisgewinn bietet dabei der Philosophiehistoriker Kurt Flasch mit seiner Darstellung der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Philosophie als Minenfeld intellektueller Konflikte, als Schauplatz agonaler Argumente. Danach war schon damals das Interessante nicht dieVermittlung großer Ideen, sondern eher deren Aufkündigung. Dieser Umstand lässt im Kontext der Systeme häretisch inklinierte Geister wie Abaelard oder Meister Eckhart oder Ockham an Bedeutung gewinnen. Mit anderen Worten: Die Absage ans System ist offenbar nicht erst eine moderne Tendenz des Denkens, sondern wohnt der Philosophie als Denkereignis seit jeher inne. Die „Essayisten“ waren immer schon da. Aber was lag dem als Ursache zugrunde, sieht man davon ab, dass jeder Satz einen Gegensatz impliziert und provoziert? Wahrscheinlich liegt es an dem Umstand, dass im Prozess des philosophischen Denkens schon früh die Säkularisation der „Idee“ zu erkennen ist. Objektive Wahrheitszuschreibungen werden durch subjektive Erfahrungskategorien relativiert. Schon Abaelard bezweifelt die Realität des „Allgemeinen“ zugunsten der einzigen Realität, die es gebe, nämlich der von Individuen. Und Eckhart polemisierte gegen die Begriffe einer ontologischen Theologie. Auch Ockham musste wegen seiner neuen Wirklichkeitskonzeption und individuellen Freiheitserfahrungen der Verfolgung durch die Kurie entfliehen. Was ist Nietzsches, Bergsons und Heideggers Emphatisierung von „Daseins“-Empfindungen anderes gewesen als ein abermaliger Bruch gegenüber der Metaphysik? Dabei verlor die „große“ Philosophie mächtig an Boden: Es kamen nämlich Gedanken auf, die von intelligenten, literarisch vermögenden Geistern ebenfalls gedacht wurden. Der schon genannte
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Musil ist das klassische Beispiel hierfür. Kafka wäre ein anderes. Gewiss, man müsste etwas genauer auf die Frage eingehen, was denn an Musils oder Kafkas Prosa „philosophisch“ relevant ist. Vor allem: wodurch sie denn zeitgleiche philosophische Systeme gedanklich überboten haben könnten. Das ist hier nur anzudeuten: Man müsste dazu Musils Metapherntheorie und Kafkas paradoxe Parabolik untersuchen. Aber die Andeutung des Sachverhalts einer subjektiven Gedanklichkeit mag genügen, um plausibel zu machen, inwiefern der traditionelle universitäre Philosophiekatalog, in dem von Platon und Aristoteles über Augustinus und Thomas bis zu Hume und Kant und schließlich Heidegger plus Wittgenstein die Inhalte von Systemen angeboten werden, heute nicht mehr ausreichte, Menschen mit theoretischer Phantasie bei der Stange zu halten. Eine weitere Veränderung jenseits des Systemverlusts ist zu bedenken: Ein besonderes Element der Philosophie des 20. Jahrhunderts, vielleicht schon ein Schritt zu ihrer Auflösung, war die Kulturkritik, von Sigmund Freuds Unbehagen in der Kultur (1919) bis zur Dialektik der Aufklärung (1947) von Horkheimer und Adorno. Es ließen sich eine Reihe weiterer jüngerer Namení Arnold Gehlen, Herbert Marcuse, Gilles Deleuze, Giorgio Agamben, Michel Foucault í anführen. Alle haben wohl in Friedrich Nietzsches Kulturkritik ihre Wurzeln. Die 1886 geschriebene zweite Vorrede zum Aphorismustext Menschliches, Allzumenschliches enthält ihre Charakteristik, angefangen mit dem Untertitel Ein Buch für freie Geister. Ein freier Geist ist für Nietzsche kein Freigeist im Sinne des 18. Jahrhunderts und dessen moralischen und geschichtsphilosophischen Kategorien. Ein freier Geist ist derjenige, der „gewohnte Wertschätzungen“ umkehrt, den die „Neugierde“ nach einer „unentdeckten Welt“ antreibt, die „große Loslösung“ von philosophischen Traditionen. Für Nietzsche war es vor allem die idealistische Philosophie, Platon und der deutsche Idealismus. Aber davon kann man hier absehen: Es geht um das neue Prinzip der originellen Sehweise oder „Perspektive“, das Wort, das Nietzsche in die Moderne einführte. Der spezifische kulturkritische Gestus, nämlich unabhängig zu denken, die „Schule des Verdachts“ zu hegen, ist aber seit langem zu einer gängigen Münze des modernen kritischen Intellektuellen geworden. Ist also Nietzsches Prinzip, „geschätzte Gewohnheiten“ umzukehren, heute noch anwendbar? Hinzu kommt ein Paradox von Nietzsches Kulturkritik: Sie warnt vor dem metaphorischen Stil, den er selbst erfand: Der „Wahrheitssinn des Künstlers“ sei nur schwach ausgebildet, er habe „in Hinsicht auf das Erkennen der Wahrheiten eine schwächere Moralität als der Denker“. Und dann setzt Nietzsche zu einer Charakteristik an, die jede Hoffnung auf außersystematische Philosophie enttäuschen könnte: Der Künstler wolle „sich die glänzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens durchaus nicht nehmen lassen“ und wehre sich „gegen nüchterne, schlichte Methoden und Resultate“.
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Diese Sätze stammen aus Nietzsches sogenannter positivistischer Periode und gelten vornehmlich dem Dichter, nicht dem Intellektuellen. Sie bekommen aber eine aktuelle und generellere Pointe, wenn man liest, man müsse metaphysische, das heißt letztlich abgegoltene Bedürfnisse, wie sie der Dichter noch immer suche, distanzieren. Das sei die Probe auf den „intellectualen Charakter“ jedes geistig Ehrgeizigen. Es gehört zu diesem Argument, dass auch Inspiration und Improvisation beim Denken abgelehnt werden und statt dessen die Analyse gefordert ist. Inwieweit Nietzsches eigene Schriften, vor und nach diesen Statements, diesem neuen puritanischen Prinzip entsprechen oder inwieweit ihre Semantik diesem zumindest nicht widerspricht, ist ein eigenes interessantes Thema, das in der zur Flut gewordenen Nietzsche-Diskussion meines Wissens nicht behandelt worden ist. Auf jeden Fall aber kommentieren solche fragmentarischen Sätze unsere Frage nach der Alternative zur systematischen Schulphilosophie. Insofern diese pseudoreligiöse oder utopische Bedürfnisse befriedigt oder auf eine hyperbolische Weise den Status der derzeitigen Zivilisation kritisiert, fällt sie ziemlich genau unter Nietzsches Verdikt. Dabei allerdings wird eine Grenzschärfe deutlich: Es ist manchmal nicht die zeitgenössische bedeutende Dichtung, die sich „tiefsinnigen Deutungen“ überlässt, sondern eher die zeitgenössische kulturkritische Philosophie. Um es an einem Beispiel zu erläutern: Die Festungssymbolik W.G. Sebalds öffnet in legitimer Weise den Blick auf den technisch organisierten modernen Staat. Ob dies auch die KZ-Allegorik Agambens vermag oder ob sie, verführt durch „Inspiration“, fahrlässige Analogiebildung betreibt, ist doch sehr die Frage. Andererseits beeindrucken neue Texte der schon genannten philosophischen „Essayisten“ durch theoretische Originalität, Joseph Vogls Über das Zaudern oder Wolfram Hogrebes Riskante Lebensnähe, auch Martin Seels Theorien wären hier erste Kandidaten. Das sind alternative Möglichkeiten des Denkens jenseits der systematischen Philosophie. Ob sie im einen oder anderen Fall „Macht“ gewinnen, hängt mehr denn je von intellektuellen Stimmungen ab. Sie zeigen aber, inwiefern unsystematisches Denken nicht notwendigerweise unter das Verdikt des bloß „Tiefsinnigen“ fällt. Man kann diese Einsicht mit Richard Rorty, dem kritischen Leser Nietzsches und der Frühromantik, ergänzen und aktualisieren. Mithilfe des für ihn methodisch zentralen Begriffs der „Ironie“ hat Rorty 1989, also Jahre nach seiner Trennung von der analytischen Philosophie, dem unsystematischen Denken eine Art systematische Begründung gegeben: Contingency, Irony, and Solidarity. Er wollte als „Nominalist“, also als jemand, der die Priorität der Sprache behauptet, „die Romantik von den letzten Resten des deutschen Idealismus reinigen“. Er rekurrierte dabei ungeniert auf den romantischen Phantasiebegriff, um
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seine Idee von der Kontingenz der Sprache, des Selbst und des Gemeinwesens zu begründen. Und ging so weit, sogar Derridas Denken als „freies Phantasieren“ im Sinne einer „Verkehrung systematischer Pläne“ als Endphase einer „ironistischen Theorie“ zu beglaubigen.6 Entscheidend ist í auch wenn nicht alle Beispiele Rortys einleuchten í, dass der systematischen Philosophie abgesagt wird im Namen einer neuen Sprache des Denkens. Dabei machte Rorty zwischen Dichtern und Denkern keinen Unterschied, insofern sie das Kriterium erfüllen: die Kapazität einer neuen Sprache. Dann geraten Nietzsche, Proust und Hegel in die gleiche „literarische“ Reihe. Denn die Phänomenologie des Geistes wird als ironistische Theorie verstanden, also als eine Überholung der kognitiv-metaphysischen Elemente der Philosophie. Rorty hat unsere Frage klar beantwortet: „Der Aufstieg der Literaturkritik an die führende Stelle in der demokratischen Hochkultur í die allmähliche, nur halb bewusste Übernahme der kulturellen Rolle, auf die vorher zuerst die Religion, danach die Naturwissenschaft und dann die Philosophie Anspruch erhoben hatten í ging mit dem Steigen des Anteils der Ironikerinnen im Vergleich zu den Metaphysikern unter den Intellektuellen einher.“7
Ist die Frage aber so zu beantworten? Als Jürgen Habermas zum Tode des Freundes in Stanford 2007 die Abschiedsrede hielt, ging er mit keinem Wort auf diese Frage ein. Warum sollte er auch? Er hatte ja buchstäblich das letzte Wort. Und das wird überall sehr gehört. Allerdings: vornehmlich und vor allem in Fällen der öffentlichen Moral und der Politik. Diese politische Rede des Philosophen aber würde das zu Eingang genannte Gesetz von Platons Siebtem Brief nicht überstehen. Bei unserer Frage nach der verlorengegangenen Macht der Philosophie spielte Nietzsche die zentrale Rolle. Habermas hat dessen Denken und Argumente mehrfach scharf hinterfragt und gemeint, Nietzsche außerhalb des relevanten Diskurses setzen zu können. Das muss ein anderer Grund dafür sein, dass er zu Rorty als Leser Nietzsches nichts sagen zu müssen glaubte und Rorty mehr oder weniger in der Reihe systematischen Denkens ansprach. Damit wich der systematische Philosoph Habermas der Infragestellung der systematischen Philosophie durch Rorty aber aus, wenn auch aus einem Anlass, der Takt und Konsens empfahl, nicht Kritik und Dissens. Die Frage nach der Relevanz der systematischen Philosophie hat heute vom Fall der öffentlichen Verantwortlichkeit der Philosophie abzusehen, will sie nicht in die banale
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Vgl. R. Rorty: Kontingenz, Ironie, Solidarität, übers. von Christa Krüger, Frankfurt/M. 1989, 207. Ebd., 141.
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Semantik der Tagespolitik geraten. Was könnten systematische Philosophen bezüglich ihres systematischen Denkens aber sonst antworten? Vielleicht träte bei dieser unbeantwortet gebliebenen Frage am Ende doch die amerikanische politische Philosophie in die Schranken: vor allem John Rawls und auch Charles Taylor, und sicherlich auch einige ihrer Schüler. Rawls’ A Theory of Justice (1971/75) und Taylors The Ethics of Authenticity (1991) könnten das zu Anfang aufgestellte Gesetz des Siebten Briefs Platons umstandslos aufheben. Denn was ist es anderes, was sie tun, als die aktuelle Politik und die einflussreiche Öffentlichkeit mit prinzipiellen Gedanken zu konfrontieren und dabei sogar gehört und verstanden zu werden? Das ist, so scheint es, etwas anderes, als wenn Karl Popper einen hochintelligenten Bundeskanzler die Prinzipien der Offenen Gesellschaft verstehen lässt. Poppers politische Kritik an Platons Staat war Kulturkritik, keine Philosophie. Taylors und vor allem Rawls’ Werk hingegen ist von allerhöchster philosophisch-theoretischer Relevanz und gleichzeitig von enormer öffentlicher Bedeutung im amerikanischen geistigen Kosmos. Weil sie Amerikaner sind und deshalb die Politeia ernster nehmen als ihre frivolen kontinentaleuropäischen Kollegen, hat man ihrem Denken wohl doch das Attribut von Mächtigkeit zuzugestehen. Aber: Ist es wirklich Philosophie oder nicht doch eher „political science“? Und wirkt diese Mächtigkeit heute noch nach? Ich bin nicht berufen, diese Frage zu beantworten, nicht einmal, ob sie wirklich wichtig ist. Doch Taylors letztes Werk A Secular Age (2007) wirft selbst die Frage nach der schwindenden Bedeutung starker Kategorien auf. Das ist Kulturkritik im besten Sinne. Das galt auch schon für sein Werk Ethics of Authenticity, dessen Kulturkritik zivilisationskritische Bedenken fortsetzt, wie sie Nietzsche und Adorno formuliert haben. Damit sind wir abermals zu unserem skeptischen Beginn zurückgekommen. Vor elf Jahren warf ein Merkur-Doppelheft die Frage auf: „Wer ist Gott?“ Von den eingeladenen protestantischen und katholischen Theologen gab eigentlich keiner eine klare Antwort. Der einzige, der die Frage ohne Wenn und Aber affirmativ beantwortete und über die konkrete Existenz Gottes Aussagen machte, war der katholische Philosoph Robert Spaemann. Es bleibt weiterem Nachdenken überlassen, ob der systematischen Philosophie das Schicksal Gottes widerfuhr.
Die Macht liegt in der Vielfalt. Eine Antwort auf Karl Heinz Bohrers Kritik an der deutschen Philosophie der Gegenwart Volker Gerhardt 1. Der Gewinn der Verfremdung. Bei der Evaluierung wissenschaftlicher Vorhaben macht man gute Erfahrungen mit fachfremden Prüfern. Sie sind nicht durch den disziplinären Komment belastet, stellen Fragen, die kein auf die Standards bedachter Kollege zu fragen wagte, und nötigen die Spezialisten, Selbstverständliches zu formulieren. Das ist ein probates Mittel herauszufinden, ob es solche Selbstverständlichkeiten wirklich gibt und ob die Geprüften in der Lage sind, sie nicht nur verständlich, sondern auch überzeugend zu formulieren. Dabei muss man wissen, dass die Physiker, Mediziner oder Ingenieure, die sich an der Begutachtung geisteswissenschaftlicher Vorhaben beteiligen, nicht selten über bemerkenswerte Kenntnisse über die andere Disziplin verfügen. Die Bereitschaft mitzuwirken, schließt in der Regel das Wohlwollen gegenüber den Quellensammlungen, Grabungsprojekten oder Gesamtausgaben ein, um die es jeweils geht. Das vergrößert den Erkenntnisgewinn der kritischen Bewertung. Im Wechsel der Perspektive liegt bereits der Gewinn für ein kritisches Urteil. Karl Heinz Bohrer stellt seine Frage: „Welche Macht hat die Philosophie heute noch?“ mit großer intellektueller und emotionaler Anteilnahme. Sie kommt erkennbar von außen, ist aber so umsichtig und kenntnisreich geschrieben, dass man schon gleichgültig gegenüber der Philosophie sein müsste, die Antwort schuldig zu bleiben. Bohrers Nähe zur Philosophie ist so groß, dass man es für einen plumpen Schachzug halten könnte, den vielfach preisgekrönten Literaturwissenschaftler, Essayisten und Publizisten auf die Rolle eines fachfernen Gutachters eingeschränkt zu sehen. Er hat in seinen Büchern und Aufsätzen, vor allem in den neueren Untersuchungen über die Ästhetische Negativität, Die Ekstasen der Zeit und Das Tragische, die Problemlage der Philosophie auf souveräne Weise behandelt. Er schreibt als ein Wahlverwandter und
Ausführliche Fassung der im Dezemberheft 739/2010 des Merkur erschienenen Replik.
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Liebhaber des philosophischen Denkens, der in Kenntnis neuerer Publikationen und vor einem nicht nur weitgespannten, sondern auch Tiefenschärfe vermittelnden historischen Hintergrund urteilt. Es ist nicht zu bestreiten: Dieser Autor hängt an der Philosophie, die er zum Verständnis der literarischen Welt benötigt. Dazu wünscht er sich ein Denken in dem von ihm in seinen frühen Jahren erfahrenen Format. 2. Der starke Impuls der reinen Theorie. In seiner kritischen Einlassung zur Lage der deutschen Gegenwartsphilosophie arbeitet Karl Heinz Bohrer mit einer Unterstellung, die ich mir bei einem Kollegen vom Fach nur schwer vorstellen kann: „Eine Philosophie“, so sagt er, „die in der Praxis angekommen ist oder die Praxis beeinflussen will, verliert ihren spezifisch philosophischen Charakter.“ Gewiss, eine Philosophie, die ernsthaft glaubt, in der Praxis „angekommen“ zu sein, muss einen bescheidenen Begriff von Praxis haben. Aber kann man es ausschließen, dass ein Philosoph sich das Ziel setzt, seinen eigenen Einsichten zu folgen? Wer denkt, tut es ernsthaft nur, wenn er selbst so zu leben sucht, wie er es für richtig hält. Und wie ist es mit einem Philosophen, der den Anspruch hat, den Menschenrechten wenigstens im eigenen Land zur Anerkennung zu verhelfen? Warum sollte er nicht nach der Verabschiedung einer die Grundrechte wahrenden Verfassung oder nach dem erlösenden Urteil des obersten Gerichts (vorerst) zufrieden mit der erreichten politischen Praxis sein? Wenn die Philosophie sich in ihren Erfolgen auf die Abfassung von Schriften, die Gründung von Schulen oder die Edition von Gesamtausgaben beschränken sollte, würde sie ihre Aufgabe verfehlen. Es ist vielmehr so, dass es jeder Denker für möglich erachten muss, der Selbsterkenntnis näher zu kommen. Das ist bereits ein lebenspraktischer Akt. Er muss hoffen können, der Natur, der Geschichte oder der Kunst eine Erkenntnis abzugewinnen, nach der es sich leben lässt. Somit ist gegen Bohrer festzuhalten, dass die Philosophie Erfolg mit der ihr wesentlichen Erkenntnis haben können muss. Sie muss ihn sich zumindest wünschen dürfen. Ein Ausschluss dieses Verlangens schneidet den Anspruch auf das, was einmal Weisheit hieß (und alle Tugenden umfasste), definitorisch ab. Bohrer arbeitet mit dem Anspruch auf eine reine Theorie, die von keinem Philosophen, der einen konsequenten Begriff von seiner Aufgabe hat, je vertreten werden könnte. Auch insofern steht er außerhalb. 3. Literarisierung der Philosophie. Bohrers Wunsch, die Praxis auf Distanz zu halten, kann man dennoch gut verstehen. Die Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebs fordert den Nachweis von Erträgen selbst dort, wo die Leistung schon in der bloßen Tätigkeit liegt. Wenn Philosophie sich wirk-
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lich auf das beschränkte, was zu ihrer so genannten „gesellschaftlichen Relevanz“ gehört, ließe sich gut und gern auf sie verzichten. Wer von ihr nicht mehr begreift, als dass sie nützlich ist, sollte von ihr lassen. Im Bewusstsein dieser richtigen Einsicht erneuert Bohrer das antike Verdikt gegen die fremdbestimmte Technik, indem er die Philosophie vor der Kontamination durch Praxis zu schützen sucht. Und wenn er es für unter ihrer Würde hält, auch nur Einfluss auf die Praxis nehmen zu wollen, greift er die klassischen Vorbehalte gegen die unselbstständige Poiesis auf, die in der Moderne, merkwürdig seitenverkehrt, im ästhetischen Aristokratismus Nietzsches wiederkehren. Doch trotz Aristoteles, Nietzsche oder Hannah Arendt wissen wir längst, dass sich Arbeiten, Herstellen und Handeln nicht wirklich von einander trennen lassen. Die Zeit, in der man sie in anerkannte soziale Hierarchien pressen und gewaltsam auseinander halten konnte, ist vorbei. Was dies für das Selbstverständnis des Menschen bedeutet, hat die Philosophie zu erörtern. Indem sie dies tut und schon darin zeigt, dass sie keinen durch Physik, Physiologie, Soziologie und Politik vollständig bestimmten Platz im Leben hat, wirkt sie an der Realisierung der menschlichen Freiheit mit, für die sie auch theoretisch zu argumentieren hat. Das hat sie angesichts der von der Neurophysiologie erhobenen Zweifel auf durchaus neue Weise getan. Peter Bieri hat die klassischen Argumente für die Freiheit auf bewundernswert klare Weise erneuert. Im Anschluss an Plessner und Jonas ist es anderen gelungen, auch die Naturgeschichte der Freiheit aufzuhellen. Man kann die Selbstorganisation des Lebendigen nicht erklären, wenn sich ihr keine operativen Alternativen unterstellen lassen. Andererseits bliebe der humanen Selbstbestimmung nichts zu tun, wenn sie sich nicht als eine auf Sachverhalte ausgreifende Selbstorganisation selbstbewusster, im sozialen Raum agierender Lebewesen beschreiben ließe. So gesehen findet die menschliche Praxis ihren Ort auch im evolutionären Kontext des Lebens. Er erlaubt uns zu erkennen, warum die Philosophie, im Interesse ihrer Freiheit, den Anspruch erheben muss, selbst eine Lebenspraxis zu sein. Davon lenkt Bohrer ab, wenn er der Philosophie die Praxis auszureden und sie für eine Theoriebildung zu gewinnen sucht, die den Regeln der Kunst gehorcht. Natürlich wissen wir es zu schätzen, dass ein Ästhetiker von Rang die Philosophie in so große Nähe zur künstlerischen Leistung bringt. Ohne Zweifel liegt in der Erinnerung an die seit alters bestehende Verbindung zur Literatur eine Herausforderung an die Philosophie, der sie sich nie versagen sollte; sie steigert überdies die ernsten Erwartungen an die Kunst. Aber eine Identifikation zwischen Philosophie und Kunst muss im Interesse des Fachs und aus Respekt vor der Kunst zurückgewiesen werden.
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4. Praxisbezüge im aktuellen Kontext. In Zeiten, in denen die Suche nach gesellschaftlicher Wirksamkeit alles andere fast vergessen lässt, bringt Bohrers Lob der reinen Theorie das Spektrum theologischer, metaphysischer, kosmologischer, anthropologischer und ästhetischer Fragen in Erinnerung, mit denen die Philosophie vor mehr als zweitausendfünfhundert Jahren begonnen hat. Und er macht augenblicklich bewusst, dass diese Probleme auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Sein eigenes Werk ist dafür Beleg genug; doch sein Hinweis auf die von den Philosophen achtlos behandelte Gottesfrage gibt zu erkennen, dass er mehr im Auge hat. Nur ist es eben nicht nur Robert Spaemann, der das Gottesproblem ernst nimmt. Analytische Philosophen haben aus der rationalen Theologie längst wieder eine scholastische Disziplin gemacht. Hans Jonas hat in seiner aus alttestamentlichen Quellen schöpfenden, aber von den jüngsten Sorgen über die Zukunft des Menschen angestoßenen Theologie nach Auschwitz das schier unglaubliche Wort vom „werdenden Gott“ erneuert. Dagegen steht die Sinnkonzeption des rationalen Existenzialismus, der zu sagen sucht, dass der Glaube die souveräne Einstellung zu einem Wissen ist, auf das wir angewiesen sind, gerade weil dessen Grenzen mit jeder Vermehrung deutlicher werden. Schließlich gibt es die seit dem 11. September 2001 wieder auferstandene Religionssoziologie, die sich, je nach Kontext, auch als Philosophie zu profilieren sucht und dabei so tut, als würden die Philosophen die Gottesfrage nur unter moralischen Aspekten behandeln. Auch Bohrer unterliegt diesem Missverständnis. Wenn es nötig wäre, könnte man es allein durch Hinweis auf den nicht nur in seiner Ernsthaftigkeit qualifizierten Atheismus entkräften, den es in Deutschland gibt. Es genügt, Herbert Schnädelbach als Beispiel zu nennen. Auch in den derzeit intensiv bearbeiteten Fragen nach der Natur der Zeit, nach den Prinzipien des Lebens, der Stellung des Geistes, den Funktionen des Bewusstseins, den Leistungen der Sprache, der Rolle der Kultur oder den Kennzeichen der Wahrheit wirken die klassischen Theorieinteressen nach. Unter den verschärften methodologischen Ansprüchen des analytischen Denkens werden sie keineswegs bloß trivialisiert; in vielen Fällen, wie in den Debatten über Verkörperung und Bildproduktion, über ethische Regeln und Entscheidungsfindung, über die kognitive Leistung der Sinne und den Beitrag der Erinnerung, haben sie an Prägnanz gewonnen und sind für Nachbardisziplinen anschlussfähig geworden. Durch den innovativen Impuls der Phänomenologie konnten sie sich im deutschen Sprachraum besonders produktiv verstärken. Die Phänomenologie blendet Bohrer völlig aus. Angesichts seines Interesses an der Verknüpfung von Philosophie und Literatur ist das nicht leicht zu verstehen. So lässt er sich das große Werk Hans Blumenbergs entgehen, das allein schon in der Lage wäre, die kritische Bilanz mit einem
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positiven Saldo abzuschließen. Die für die Kulturwissenschaften inzwischen zum Paradigma gewordene Metaphorologie Blumenbergs wird, wie es scheint, absichtlich übergangen und die folgenreichen Anregungen für die Konzeption der Geschichtlichkeit und der Narration, für die Theorie des Lebens, die Anthropologie und die Ästhetik werden nicht erwähnt. Wem wäre es vorher eingefallen, die tiefsinnige, aber beantwortbare Frage nach der „Sichtbarkeit“ der Welt zu stellen? Welch ein Gewinn für die Theorie im Sinn der theoria! Und welche Auszeichnung der auf Techniken gestützten menschlichen Praxis. Blumenbergs philosophiehistorische Leistung darf seinen Rang als systematischer Denker nicht verdecken. Ich nenne nur ein Detail, das auch seine interdisziplinäre Stellung kenntlich machen kann: In der Parallele von Funktion bei Blumenberg und System bei Luhmann scheint die deutsche Philosophie der Gegenwart wieder Anschluss an das von Leibniz, Kant und Hegel vorgegebene Theorieniveau zu finden. Überdies wird hier eine Lösung für den Brückenschlag zwischen Natur, Gesellschaft und Kultur angeboten. Das ist in der Tat eine hochtheoretische Angelegenheit, mit der man jedoch der deutschen Politik aus einer geistigen Notlage helfen könnte. Wer nicht begreift, dass auch der Geist zur Natur des Menschen gehört, muss natürlich bestreiten, dass an ihr auch etwas erblich sein könnte. Bohrers Bekenntnis zum „Dualismus“ dürfte hier nicht weiterhelfen. 5. Eine Shortlist der Gegenwartsphilosophie. Mit der Erwähnung Blumenbergs und Luhmanns ist, nebenbei bemerkt, kenntlich gemacht, dass Habermas nicht die einzige „Ausnahmeerscheinung“ in der deutschen Philosophie der Gegenwart ist. Gewiss, beide sind tot, aber es erscheinen immer noch Texte aus ihrem Nachlass, die der Debatte weitreichende Impulse geben. Man könnte auch Namen von noch lebenden deutschen Denkern der älteren Generation hinzufügen. Auf Henrich, Theunissen und Tugendhat und den brillanten Kurt Flasch verweist Bohrer selbst. Doch im Rückblick auf das Berliner Revirement der Philosophie durch Peter Glotz verwechselt er Henrich mit Karlfried Gründer, der sich ganz dem Weltprojekt des Historischen Wörterbuchs der Philosophie geopfert hat.1
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Wenn aber schon Namen der älteren noch lebenden Denker genannt werden, sollten auch Karl-Otto Apel, Hermann Lübbe, Robert Spaemann, Odo Marquard, Günther Patzig, Peter Janich und Hans Poser nicht vergessen werden. Hinzu kommen Jürgen Mittelstraß, Peter Rohs, Wolfgang Bartuschat, Otfried Höffe, Wolfgang Künne, Wolfram Hogrebe, Henning Ottmann, Ludwig Siep, Wolfgang Kersting, Manfred Sommer, Martin Carrier, Oswald Schwemmer, Wilhelm Vossenkuhl, Axel Honneth, Julian Nida-Rümelin, Matthias Lutz-Bachmann, Dorothea Frede und Brigitte Falkenburg. Auch Reinhard Brandt, Gerold Prauss, Günter Abel, Dieter Birnbacher,
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Wenn es um die Einschätzung individueller Leistungen geht, stellt sich die verwunderte Nachfrage ein, warum sich ein Theoretiker der ästhetischen Ausnahme wie Karl Heinz Bohrer die Chance entgehen lässt, etwas zu der veritablen Ausnahme zu sagen, die Habermas tatsächlich darstellt. Hier haben wir einen jener „Stichwortgeber“, der mit den Begriffen des „Strukturwandels“, der „kritischen Gesellschaftstheorie“, der „Herrschaftsfreiheit“, des „kommunikativen Handelns“ und der „deliberativen Öffentlichkeit“ stets das gesagt hat, was die nachfolgende Debatte bestimmte. Dabei hat ihm die profunde Kritik aus den Fachdisziplinen der Geschichte, der Soziologie und der Philosophie nie etwas anhaben können. Sein strategischer Umgang mit Kant, dem er das absprach, was er selbst entdeckt zu haben glaubte, wurde im Diskurs der Moderne nach Art eines Fortschritts verbucht. Das konnte gelingen, weil der Diskurstheoretiker auch im eigenen Sprachraum über ein interdisziplinäres Geflecht von Diskurspartnern verfügte, die es intern nicht bei kritischen Einwänden beließen, aber nach außen eine Schule bildeten, in der aus den Stichworten Forschungsprogramme wurden. Forschungspolitisch ist das vorbildlich und kann ebenfalls dazu beitragen, Bohrers düsteres Bild von der deutschen Gegenwartsphilosophie aufzuhellen. 6. Theoria sine praxi. Die Neigung ist groß, Bohrers Grau in Grau gemaltes Portrait der Gegenwartsphilosophie, das vor dem mit starken Farben ausgefüllten historischen Hintergrund nur noch blasser wirkt, durch ein anderes zu ersetzen. Das auch deshalb, weil er nicht erkennt, dass die Theoriebildung in Deutschland in einem Aufbruch ist. Die Phase der doktrinären Selbstgenügsamkeit der sprachanalytischen Philosophie geht ihrem Ende entgegen. Die jungen Philosophen sind auf Ausweitung und Anwendung ihrer Fähigkeiten bedacht. Sie arbeiten zunehmend interdisziplinär, vollziehen endlich die Hinwendung zu den Lebenswissenschaften, mit Ansgar Beckermann, Holm Tetens, Thomas Rentsch, Lutz Wingert, Wilfried Hinsch, Christoph Hubig, Carl-Friedrich Gethmann, Dieter Sturma, Günter Figal sowie Sybille Krämer, Bettina Schöne-Seifert, Birgit Recki, Birgit Sandkaulen, Petra Gehring und Lore Hühn müssen genannt werden. In der jüngeren Generation zeichnen sich Dominik Perler, Markus Gabriel und Christof Rapp vor allen anderen aus. Aber auch Michael Hampe, Geert Keil, Marcus Willaschek, Rainer Forst, Christoph Menke, Michael Quante, Stefan Gosepath, Hubertus Busche, Thomas Schmidt, Olaf Müller, Michael Pauen, Thomas Grundmann, Mathias Gutmann, Oliver Müller sowie Andrea Esser, Barbara Merker, Weyma Lübbe und Kirsten Meyer sind durch bemerkenswerte Leistungen aufgefallen. Zu großen Hoffnungen berechtigen Nikola Kompa und Rahel Jaeggi. Das gibt schon ein etwas anderes Bild, obgleich es nur ein kleiner Ausschnitt aus der breiten Spitzenlage ist und der Frauenanteil wahrlich besser sein könnte.
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deren Erfolgen auch die Bioethik zu einer kreativen Wachstumsdisziplin geworden ist. Das breite Feld der (leider so genannten) „angewandten Ethiken“ ist nicht nur notwendig interdisziplinär, sondern bringt selbst das methodologisch hoch elaborierte Philosophieren zu den elementaren Fragen von Geburt, Lebensführung, Sterben und Tod zurück. Man unterschätze nicht, wie sehr die Probleme der Ökologie, der gesunden Ernährung, der Tierhaltung, des Katastrophenschutzes oder des Hungers in der Welt die jungen Menschen zum Denken und zur systematischen Arbeit motivieren. Hier werden wissenschaftliche Aktivitäten freigesetzt, die ursprünglich theoretisch und praktisch und, auch das ist neu, von vornherein international angelegt sind. Mit den Umweltthemen hat sich auch das Verhältnis zur Natur entideologisiert. Das zeigt sich auch am Interesse an den vergleichenden Studien über tierisches und menschliches Verhalten sowie an der kulturellen Anthropologie. Längst werden die in den Feuilletons zwischen Neurobiologen und Philosophen ausgetragenen Kontroversen über Freiheit und Bewusstsein in konkreten Forschungsprojekten fortgeführt. Auch das lange unterbrochene Gespräch mit der Psychologie ist auf der Ebene der Forschung wieder aufgenommen worden. Hier hat die fällige Wiederentdeckung der Gefühle eine stimulierende Rolle gespielt. Dass an dieser Entwicklung auch die Kunst- und Kulturwissenschaften Anteil haben, sollte dem Literaturwissenschaftler wichtig sein. Immer seltener wird die Geschichte als bloßes Arsenal für Extrembeispiele verwendet, mit denen man in der nächsten Rätselecke überwintern kann. Es gibt eine, wenn auch noch junge Blüte der Wiederbeschäftigung mit der Antike, dem Mittelalter und der frühen Neuzeit. Leider kann man ein Gleiches nicht für die von Bohrer mit Recht gerühmten Klassiker sagen. Mit der Ausnahme von Kant und Nietzsche werden alle bedeutenden Denker des deutschen Sprachraums sträflich vernachlässigt. Bei Leibniz, Fichte, Schelling, Hegel und Marx gibt es immerhin gerade abgeschlossene oder zügig voranschreitende Gesamtausgaben. Das gleiche gilt für Simmel und Cassirer. Aber die Forschung über sie kommt nur schleppend voran, weil Nachwuchskräfte nicht ausreichend gefördert werden. Wer heute Neues über Herder, Dilthey oder Jaspers hören will, muss nach Italien fahren. Husserl wird wie ein Emigrant behandelt, den es nach Leuven verschlagen hat. Bei Heidegger, der, weiß Gott, eine kritische Beschäftigung verdient, haben wir das Kuriosum, dass alle Welt ihn liest und für bedeutend hält, im eigenen Land aber nur ein Lehrstuhl zur vorrangigen Beschäftigung mit seinem Werk zur Verfügung steht. Wie ein einziger Hochschullehrer in der Lage sein soll, die Heerscharen der jungen Amerikaner, Italiener, Japaner und Chinesen zu betreuen, die über Heidegger promovieren wollen, ist ein Rätsel. Gleichwohl gehört das lebendige Interesse an
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Sein und Zeit und dem Denken nach der „Kehre“ zur deutschen Gegenwartsphilosophie. Doch ich widerstehe der Versuchung, ins Detail der jüngeren deutschen Philosophenszene zu gehen, und wende mich stattdessen dem Ansatz von Karl Heinz Bohrer zu. Denn in den Prämissen seiner Evaluation liegt der Grund für deren negatives Ergebnis. Dazu sei festgehalten, wie erfreulich es ist, einmal von außen zu hören, dass von den Philosophen reine Theorie erwartet wird. Gleichwohl ist dem darin liegenden Missverständnis mit aller Entschiedenheit zu widersprechen: Aus dem Desinteresse an gesellschaftlicher Relevanz lässt sich kein Gütezeichen des Philosophierens gewinnen. Die Auszeichnung der theoria (also der bloßen „Schau“ des reinen Denkens) war schon bei Aristoteles nicht eliminativ gemeint. Sie sollte nur das äußerste Ziel des Philosophierens kenntlich machen. Die vita contemplativa stand als säkulare Gnade am Ende eines Wegs, der lebenslang durch ein von Sorgen überschattetes philosophisches Gelände führte. Unter neuzeitlichen Konditionen wird der Weg zum Ziel. Für ihn gilt die kritische Einsicht Kants, dass der „praktischen Vernunft“ selbst in den unaufgebbaren spekulativen Fragen der „Primat“ zukommt. Doch die historischen Stationen mögen sein, wie sie wollen: Als lebendige Wesen kommen wir nicht umhin, für alles, was wir tun, organische Ursachen, psychische Energien und soziale Triebkräfte anzunehmen. Also haben wir in allen Fällen auch von einem Erkenntnisinteresse auszugehen. Es leitet uns selbst dann noch, wenn wir davon überzeugt sind, dass der Distanzgewinn gegenüber den Interessen zu den wichtigsten Leistungen des Erkennens gehört. 7. Abgrenzungsfragen. Es ist hier nicht der Ort, über Bohrers PlatonDeutung zu streiten. Nach meinem Urteil darf der Siebente Brief nicht als Abschied von der Politischen Philosophie oder gar von der Praxis gelesen werden. Er ist ein bewegendes literarisches Zeugnis für den durch dreimaliges Scheitern erzwungenen Verzicht auf eigene politische Ambitionen. Aber der Anspruch, die politische Existenz des Menschen zu bedenken und zu bessern, besteht unverändert fort. Der Philosoph muss in die Höhle zurück. Anders wäre Platons Alterswerk, die Verfassungslehre der Nomoi, nicht zu verstehen. Im Übrigen könnte man sich an Platon, der als Philosoph und Dichter unübertroffen ist, vor Augen führen, dass die Grenzlinie zwischen Kunst und Wissenschaft nicht notwendig zwischen verschiedenen Texten verläuft. Sie kann sich, wie das Symposion anschaulich lehrt, im selben Kunstwerk dort ergeben, wo es mitten in der Fiktion um die Wahrheit und ihre Folgen für das menschliche Handeln geht. Warum Robert Musil gleich mehrfach als Autorität in den Grenzstreitigkeiten zwischen Literatur und Philosophie angerufen wird, könnte ebenfalls
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eine Frage sein. So groß er als Dichter auch sein mag, so eingeschränkt ist er in seinem Urteil über die Philosophie. Natürlich steht auch er unter dem Einfluss Nietzsches. Aber er folgt doch eher dem Strom der analytischen Ernüchterung, die von dessen Sprach-, Psychologie- und Metaphysikkritik ausgeht und die im Wiener Positivismus zu großer Form gefunden hat. Hier wären Fritz Mauthner, der Wittgenstein des Tractatus sowie Schlick und Carnap zu nennen. Aber sind das die philosophischen Größen, die Bohrer imponieren? Könnte er den späten Wittgenstein so loben, wie er es tut, wenn er Musils Auffassung vom Philosophieren teilte? Müsste dann bei ihm nicht auch die sprachanalytische Philosophie in höherem Ansehen stehen? Ich räume ein, dass der Wiener Dichter gegenüber dem notorisch unterschätzten Nicolai Hartmann modern erscheint. Das Gleiche gilt, wenn es um Musils ebenfalls von Nietzsche angeregte Theorie der Metapher geht. Aber ist Musil die erste Instanz, um in Grenzfragen zwischen Literatur und systematischer Philosophie herangezogen zu werden? Wie wäre es, wenn wir einen der anderen großen Denker des 20. Jahrhunderts, sagen wir: Thomas Mann zu Rate ziehen? Trotz der opulenten philosophischen Passagen in allen seinen Romanen, trotz seiner brillanten literarischen und politischen Essays beharrt er auf der im Nachwort zum Doktor Faustus gewissenhaft protokollierten Differenz zwischen Kunst und Wissenschaft, die den Anspruch beider Seiten wahrt, und die auch bei Thomas Mann inmitten seiner Texte verläuft. 8. Die Ironie in der betonten Ironie. Bohrers großes Lob für Kurt Flasch teile ich uneingeschränkt und auch für Richard Rorty habe ich, trotz mancher Einwände, große Sympathie. Er hat dem philosophischen Denken auch in Deutschland wichtige Impulse gegeben. Die von ihm vollzogene Selbstkritik der sprachanalytischen Philosophie, sein entspannter Anschluss an die grundlegenden Einsichten des Pragmatismus sowie sein Brückenschlag zum poststrukturalistischen Denken bezeugen seine intellektuelle Kraft nicht weniger als seinen persönlichen Mut. Bei Bohrer erfolgt die Auszeichnung dieses Denkers jedoch auf einer epochenkritischen Leistungsskala. Am Ende muss ein kategorialer Modernitätsgewinn herausspringen. Ich kann nicht sagen, dass mir ein Fortschritt dieser Art unlieb oder gar unheimlich wäre. Doch ich erkenne ihn nicht. Mit dem Romantiker Friedrich Schlegel und mit dem Spätromantiker Friedrich Nietzsche verknüpft Bohrer paradigmatische Veränderungen, die das Vorangehende grundsätzlich veraltet erscheinen lassen. Das Versöhnliche an dieser diachronen Antithetik ist, dass im Neuesten das Älteste, wie zum Beispiel der antike Mythos oder die Tragödie, wiederkehren. Aber in der historischen Erkundung der modernen Geistesgeschichte führt sie zu einem Notengefälle zwischen der für den Augenblick offenen, nur dem
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eigenen Stil verpflichteten literarischen Assoziation und dem zur Schwerfälligkeit und Umständlichkeit neigenden philosophischen Traktat: Hier die leichtfüßige Behändigkeit der Ironie und dort das sich selbst fesselnde Schema des Systems. Und nach diesem – selbst einem Schema gehorchenden – Bewertungsprinzip wird dann auch über die deutsche Philosophie der Gegenwart geurteilt. Bohrer weiß natürlich, dass der ästhetische Topos der Leichtfüßigkeit in Platons früher Ästhetik eine Rolle spielt. Die Plötzlichkeit und das Unwiederbringliche des Augenblicks haben in der Lehre vom kairos ebenfalls eine platonische Herkunft, die den Aufklärern des 18. Jahrhunderts gegenwärtig war, als sie die Urteilskraft theoriefähig machten. Und dass die Ironie ein sokratisches Stilmittel ist, hat Wieland noch vor ihrer romantischen Wiederentdeckung populär gemacht. Es fällt also nicht leicht, das radikal Neue in der von Bohrer ausgezeichneten Epoche einer in heroischer Gebrochenheit über sich selbst hinauswachsenden Romantik zu entdecken. Wie nahe sich System und Ironie auch an der für Bohrer entscheidenden Geschichtsschwelle sind, kann hier nur angedeutet werden: Als der für sein Systemdenken sprichwörtliche Kant im Alter von siebzig Jahren wegen seiner unbotmäßigen Äußerungen zur Religion in Konflikt mit seinem König geraten war und miterleben muss, dass der geistlose Herrscher seine Truppen in Frankreich einrücken lässt, um der von Kant begrüßten Revolution ein Ende zu machen, greift der unter verschärfter Zensurbeobachtung stehende Systematiker – zur Ironie. Er schreibt den Traktat Zum ewigen Frieden. Die kleine Schrift ist zu einem der wirkungsmächtigsten Texte der neuzeitlichen Philosophie geworden. Völkerbund, Menschenrechtscharta und die Konzeption der internationalen Föderationen folgen den hier entwickelten Ideen. Aber in Titel, Aufbau und Durchführung ist der Text eine Parodie auf die damaligen Friedensverträge, die das Papier nicht wert waren, auf dem sie geschrieben sind. Und damit die Zensurbehörde von ihren dummen Gedanken nicht auf richtige Schlüsse kommt, ironisiert Kant die Macht der Philosophie als ein reines, unter allen Bedingungen gelingendes, aber absolut folgenloses Gedankenspiel. Wer aber liest und kommentiert den kleinen Text als erster, um darauf in ernstester Absicht Kants republikanische Lehre zu radikalisieren? Es ist niemand anderes als der nun von Bohrer für seine ironische Abkehr vom Systemdenken belobigte Friedrich Schlegel. 9. Essayistisches Philosophiespiel. Bohrers systematische Bewertung historischer Konstellationen steht hinter seiner Abgrenzung zwischen „systematischer Praxisphilosophie“ auf der einen Seite und dem „essayistischen Philosophiespiel“ auf der anderen. Die philosophische Essayistik findet er natürlich „interessanter“, dies aber nicht, weil sie seinem Metier näher
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steht, sondern weil sie sich, wie er findet, „zur klassischen Philosophie gedanklich konkurrierend“ verhalte. Die Unterscheidung setzt voraus, dass die klassische Philosophie weder essayistisch noch aphoristisch ist. Wäre dem so, würde sich der Bestand an philosophischen Klassikern beträchtlich dezimieren. Außerdem entfielen jene Denker, deren Brief- und Nachlass-Editionen uns mit ihrer aus dem Augenblick geborenen, ganz und gar „momentanistischen“ Aphoristik vertraut gemacht haben. Hierzu zählt der Systematiker Kant. Bohrers Abgrenzungskriterium kann somit nicht als trennscharf bezeichnet werden. Der Befund ändert sich nicht, wenn man die Reihe der Autoren durchgeht, die als Beispiele für die Spielphilosophie der Essayisten genannt werden: Sloterdijk, Žižek, Thomä, Vogl, Hogrebe und Seel. Die beiden zuletzt Genannten sind durch mehrere, höchst beachtliche systematische Arbeiten im Bereich der klassischen Philosophie hervorgetreten. Thomä ist nach einer Aufsehen erregenden philosophiehistorischen Untersuchung über Heideggers Verständnis des Selbst wesentlich durch die von Bohrer wenig geschätzte, der „systematischen Praxisphilosophie“ zugeschlagene Ratgeberliteratur hervorgetreten. Vogl ist als anerkannter Kulturwissenschaftler ein mit Recht viel beachteter Grenzgänger zwischen der französischen und der deutschen Philosophie. Und die Heterogenität dieser Gruppe verringert sich nicht, wenn man ihr Sloterdijk und Žižek voranstellt. Beide allerdings sind, wenn ich so sagen darf, ausgemachte Praxisphilosophen. Slavoj Žižek ist zwar für jede These gut, aber er hat vor noch gar nicht langer Zeit für den „Mut“ plädiert, den „ersten Stein zu werfen“. Und Peter Sloterdijk hat jüngst aus Rilkes religiös gestimmter Umkehrformel sein brachiales: „Du musst dein Leben ändern“ gemacht. Alle von Bohrer genannten Autoren nehmen aktuelle Themen auf, behandeln sie geistreich, schreiben gut und finden Aufmerksamkeit. Was immer man von ihren Überlegungen im Einzelnen hält: Es wäre abwegig, darüber zu streiten, ob sie Philosophen sind oder nicht. Ihr Erfolg bestätigt die unverminderte Aktualität philosophischer Fragen, macht die Verbindung zwischen Theorie und Lebenspraxis offensichtlich und gibt ein Beispiel dafür, dass auch anspruchsvolles Denken ein größeres Publikum finden kann. Es ist eine Stärke der Philosophie, dass sie so vielfältig sein kann, und sie hat sich dagegen zu wehren, durch eine von außen stammende, ihrer inneren Lebendigkeit und Vielfalt fremde Systematik in zwei Teile zerlegt zu werden. Eine Separierung dieser Art muss zwangsläufig in die Frage münden, auf welcher Seite denn die „wahre“ Philosophie betrieben wird. Bohrer ist, wie man gleich sieht, um die Antwort nicht verlegen. 10. Systematische Praxisphilosophie. Die an erster Stelle genannte Gruppe von Philosophen wird ohne Erwähnung von Namen vorgeführt. Man darf
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aber davon ausgehen, dass der vorher beiläufig zitierte Otfried Höffe dazugehören soll. Da ich es war, der Bohrer vor Jahresfrist in einem freundschaftlichen Gespräch auf die disziplingeschichtliche Bedeutung der Ethikräte hingewiesen hat, nehme ich mir die Freiheit, mich auch hinzu zu zählen. Im Übrigen braucht man nur die Mitgliederlisten der nationalen, regionalen, kommunalen, universitären, klinischen, und ständepolitischen Ethikräte durchzugehen, kann die „publikumswirksamen Stichwortgeber für alle ungelösten Lebensfragen“ hinzu addieren und braucht nur noch jene „Universitätsphilosophen“ aufzunehmen, die sich auf „religiöse Debatten“ (zwar nicht „theologisch“, aber doch immerhin „moralisch“) einlassen – und schon hat man die bunte Schar beisammen, die Bohrer unter seinem Systemtitel der „systematischen Praxisphilosophie“ versammelt. Hier also findet man die Repräsentanten der „Tendenz, die eigentlich mit Platons sizilianischem Abenteuer zu Ende gegangen sein sollte“. Sie haben, so müssen wir das Diktum aus dem Off der Literaturwissenschaften verstehen, den schon vor etwa zweitausenddreihundertsechzig Jahren geschlagenen Gong nicht gehört. Wer die große Zahl derer in den Blick nimmt, die unter Bohrers Kategorie der „systematischen Praxisphilosophen“ fallen, der wird leicht feststellen, dass hier reichlich großzügig geurteilt wird. Doch das soll kein Streitpunkt sein, denn das Kriterium der „Praxis“ ist so weit gefasst, dass es alles einschließt, was bewusstes Denken unter den Konditionen des menschlichen Daseins meint. Natürlich gehören auch Sloterdijk, Žižek, Thomä, Vogl, Hogrebe und Seel dazu, die damit kein alternatives Gegenüber, sondern nur eine Teilmenge in der Gesamtheit der Philosophen bilden. So gedeutet könnten vermutlich alle mit Bohrers Vorschlag leben. Das Problem ist nur, dass dann alle Philosophen dem angeblichen Verdikt des Siebenten Briefs verfallen. Die gesamte Philosophie, die mit einigem Recht von einem bedeutenden Denker des 20. Jahrhunderts als Fußnote zu Platon bezeichnet worden ist, wäre dann unter einem Missverständnis angetreten. Für wahrscheinlich halte ich das nicht. 11. Ein Nachtrag zum Ethikrat. Die Arbeit in den zahlreichen Ethikräten, die inzwischen in so gut wie allen Ländern der Erde tätig sind, hat einen prinzipiellen Aspekt, den es bei einer Bewertung der Lage der Philosophie zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu bedenken gilt. Er hängt mit einer grundsätzlichen Wandlung zusammen, die neben der Philosophie vor allem das Recht betrifft. Wer sie nicht beachtet, läuft Gefahr, die Epoche zu verfehlen, über die er spricht. Das grundlegend Neue in der Geistesgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte liegt weniger darin, dass Philosophen ältere Weltbilder revolutionieren oder Dichter mit neuen poetischen Formen experimentieren. Selbst ihr vereintes Bemühen, gesellschaftliche Revolutionen in Gang zu
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bringen, ist ohne nennenswerte Folgen geblieben. Die vollkommen andere Konditionen schaffende Veränderung liegt vielmehr darin, dass bloße Ideen zu realgeschichtlichen Bedingungen politischer Machtausübung geworden sind. Das ist in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika erstmals ausdrücklich geschehen, wurde wenig später in der Gesetzgebung der ersten Französischen Republik wiederholt und ist nach einem schwierigen, mit zahllosen Rückschlägen verbundenen Prozess zur Generalbedingung des politischen Handelns nicht nur in der westlichen Hemisphäre geworden. Freiheit, Gleichheit und menschliche Würde sind zu einklagbaren Rechtsprinzipien geworden, nach denen sich eine rechtsstaatlich verfasste Politik zu richten hat. Die grundlegenden Ideen des politischen Handelns müssen nun nicht mehr bloß von außen an die überlegene Macht herangetragen werden; sie dienen mit der Autorität des in drei Gewalten aufgeteilten Staates der Kontrolle politischer Macht. Souverän ist nicht mehr die Regierung, sondern das Menschenrecht, dem sie zu folgen hat, wenn sie an der Macht bleiben will. John Rawls hat dies begriffen. Darauf basiert der einzigartige Erfolg seiner politischen Philosophie, die nur auf Ideen gründet, aber ihre Prinzipien und Verfahren so anlegt, dass sie in Vertrags- und Gerichtsverhandlungen umgesetzt werden können. Was seiner Theorie fehlt, ist die Integration der bleibenden Tatsache, dass es auch unter diesen Bedingungen eines ständigen Kampfes um das Recht bedarf. Die Arbeit der Ethikkommissionen erfolgt auf dem grundrechtlichen Niveau politischen Handelns: Da die beschleunigten Veränderungen der modernen Lebenswelt neue Konventionen fordern, müssen sie nach den verfassungsrechtlichen Prämissen, unter Aufnahme des neuesten Wissens und mit Einbindung gesellschaftlich relevanter Gruppen neu verhandelt und gesetzlich verankert werden. Wenn daran, neben der Medizin, den Natur- und Rechtswissenschaften und der Theologie, auch die Philosophie beteiligt ist, lässt sich das gewiss als Indiz für ihren disziplinären Einfluss werten. Philosophisch entscheidend aber ist, dass sie mit ihren Begriffen der Freiheit, der Gleichheit und der menschlichen Würde längst zum auslegenden Teil der politischen Macht geworden ist. So erleben wir, dass die höchstrichterlichen Urteile dem bereits Rechtskraft verleihen, wofür die Philosophen in den Ethikkommissionen noch vergeblich argumentieren. Mehr Macht hatte die Philosophie, trotz der Schwäche ihrer einzelnen Vertreter und trotz der Mängel in der Ausstattung ihrer Institute, noch nie. 12. Der Blick von außen. Die These des letzten Punktes wird man schwerlich unter die Selbstverständlichkeiten rechnen können, die aus der disziplinären Sicht der Philosophie zu Bohrers wahrhaft anregendem Lage-
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bericht zu sagen sind. Alles andere ist Auslegung eines Selbstverständnisses, nach dem ich die Philosophie gerade in ihrer Vielfalt als Einheit begreife. Nach meinem Urteil kann man von Philosophie überhaupt nur sprechen, wenn man diese Einheit in der phantastischen Heterogenität der Anlässe, Absichten, Aufgaben und Erwartungen sowie in der Pluralität der Methoden bereits angenommen hat. Sie habe ich verteidigt, weil ich in Bohrers Grenzziehung zwischen schwerfälligen Systematikern und einfallsreichen Experimentatoren die Gefahr einer Abwertung angeblich mittelmäßiger Arbeit gegenüber der in geistige Höhenlagen vorstoßenden Kunst erkenne. Diesen Unterschied gibt es im Einzelnen natürlich oft genug und er kann auf beiden Seiten ein Glück bedeuten. Aber er ist nicht mit der Tätigkeit selbst verbunden. Es gibt geniale Systematiker und triviale Aphoristiker. Also muss man die Philosophie vor der – selbst wieder – systematischen Installation eines solchen Schemas schützen. Doch ich gestehe zu, dass ich mich irren kann. Die Kritik von Karl Heinz Bohrer beruht auf einer geschichtsphilosophischen Überzeugung, die einen Epochenwandel unterstellt. Deren Beweis kann erst die Zukunft bringen. Vielleicht kommt es ja so, dass die Zukunft der Philosophie nur dem Spiel gehört und die systematische Anstrengung entweder nicht mehr benötigt oder von den elektronischen Rechnern erledigt wird. Deshalb reicht meine Verteidigung der deutschen Philosophie tatsächlich nur bis zu dieser Gegenwart. Sie schließt allenfalls jenen Fetzen Zukunft ein, den wir vorherzusehen glauben. Bisher ist alle Geschichtsphilosophie an dieser Gegenwart gescheitert. Wie sollte ich ausschließen können, dass es in Zukunft anders ist? Meine Kritik an Karl Heinz Bohrer steht aber nicht nur unter dem Vorbehalt der Zeit. Der ehemalige Feuilletonchef und unerschrockene LondonKorrespondenz der FAZ und preisgekrönte Literaturordinarius in Bielefeld (mit Wohnsitz in Paris und London), der nunmehr schon seit Jahren in Stanford lehrt, verfügt über eine Welterfahrung, die für sich schon Grund genug ist, sein Urteil ernst zu nehmen. Es nimmt Wertungen auf, die im internationalen Diskurs der Kulturwissenschaften zu vernehmen sind und die sich auch bei zahlreichen an der Philosophie interessierten Journalisten finden. Darüber kann die Philosophie nicht hinweg gehen, nur weil sie die Epochenmechanik oder die Systematik nicht teilt, die solchen Urteilen zugrunde liegt. Es ist allemal interessant zu hören, was an ihrer Arbeit als aufregend oder langweilig empfunden wird. Im Übrigen kann es ihr nicht schaden, den Ehrgeiz zu haben, leicht und spielerisch zu erscheinen. Schließlich bekenne ich, dass mich Bohrers Leiden an den deutschen Verhältnissen, dem er in seinen Essays beredten Ausdruck gegeben hat und das auch in seiner Philosophiekritik zum Ausdruck kommt, berührt.
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Durch dies und einiges Andere erhöht sich das Gewicht der schlechten Note, die Bohrer der deutschen Gegenwartsphilosophie gibt. Deshalb widerspreche ich mit meiner ausführlichen Antwort auch jenen, die seine Schelte erst gar nicht an sich herankommen lassen. Es wäre auch falsch, sie nur deshalb beiseite zu schieben, weil sich im Vergleich mit anderen Ländern andere Einsichten aufdrängen. Wer von China aus auf die deutschen Verhältnisse blickt, der kann nur beklagen, dass wir die großen Problemfelder der philosophischen Theorien, also die Theoretische und Praktische Philosophie, die Ästhetik, die Anthropologie, die Kultur- und Religionsphilosophie sowie die Metaphysik, nicht mehr mit dem gebührenden schulischen Ernst traktieren und die weiten Felder unserer philosophischen Überlieferung brach liegen lassen. 13. Alles andere als positiv. Blicke ich zurück auf meine Erwiderung, die in einer gekürzten Fassung bereits für den Merkur in Druck gegangen ist, stellt sich die Befürchtung ein, Leser, die mich nicht kennen, könnten meine Replik für eine vorbehaltlose Verteidigung des Bestehenden halten. Das ist sie gewiss nicht! Um das kenntlich zu machen, schließe ich mit einer Handvoll kritischer Anmerkungen zur gegenwärtigen Verfassung der Philosophie in Deutschland: An erster Stelle ist das geringe Interesse der akademischen Philosophie an ihrer eigenen philosophischen Überlieferung zu beklagen. Wer aus dem Ausland kommt, ist entsetzt zu sehen, wie wenig Personal bei uns zur Erforschung der Tradition nicht nur von Meister Eckhart bis Pufendorf, sondern auch von Leibniz bis Cassirer und Blumenberg zur Verfügung steht. Wir haben uns auch vorzuwerfen, dass wir die Geschichte des Denkens in anderen Sprachräumen sowie in den außereuropäischen Kulturen vernachlässigen. Wer arbeitet über die Traditionen des Denkens in China und Indien? Nur ein paar rühmenswerte Einzelgänger, die aber in der die standards behauptenden community nicht ernst genommen werden. Wo findet eine Auseinandersetzung mit der großen arabischen Philosophie des Mittelalters statt, der Europa so viel verdankt?2
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Hier, wie vermutlich auch in anderen Punkten meiner Darstellung, bestätigen Ausnahmen die Regel. Um die Verbindungen der westlichen Tradition zur arabischen Philosophie hat sich nun schon seit einigen Jahren die von der Volkswagen-Stiftung mitfinanzierte Forschungsstelle „Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte der griechisch-arabisch-lateinischen Tradition” am Institut für Philosophie der Universität Würzburg unter Leitung von Professor Dag Hasse verdient gemacht. An der Humboldt-Universität in Berlin besteht ebenfalls die Erwartung, die spätantike Philosophie in Byzanz und die frühmittelalterliche Wissenschaft im arabischen Raum näher zu erforschen.
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Auch die Jahrzehnte lange Vernachlässigung von Mittelalter und Antike darf nicht unerwähnt bleiben, obgleich hier immerhin die Hoffnung besteht, dass es durch die Bemühungen in München, Berlin und Bonn zu einer Trendwende kommt. Doch es steht unverändert schlecht um die Aufarbeitung der Theoriegeschichte, wenn ein Philosoph wie Henning Ottmann es schafft, eine große, originell konzipierte und exzellent geschriebene neunbändige Geschichte des politischen Denkens vorzulegen, aber nicht befürchten muss, dafür in eine Akademie gewählt zu werden. An zweiter Stelle steht das im Einzelnen zwar große, in der Breite aber viel zu geringe Interesse an der philologischen Erhaltung unserer philosophischen Tradition. Die Leistungen der Erschließung, Sicherung und Vergegenwärtigung der gedanklichen Überlieferung werden zu wenig geschätzt. Wer an Gesamtausgaben arbeitet, wird im Kollegenkreis eher mitleidig belächelt. Schlägt man eine in den Archiven erfolgreich tätige Editorin, die seit mehr als drei Jahrzehnten eine große, international verbreitete Gesamtausgabe dem Abschluss nahe gebracht hat, für die Verleihung einer philosophischen Ehrendoktorwürde vor, muss man sich sagen lassen, Edieren sei keine philosophische Leistung. Wer hätte das je behauptet. Aber sie gehört wesentlich zu dem, was vom Fach zu bewältigen ist. An dritter Stelle steht die Selbstvergessenheit, mit der sich eine ganze Generation deutscher Philosophen der sprachanalytischen Methode verschrieben hat, so als wäre sie selbst schon eine philosophische Theorie. Wüssten wir nicht, dass in England und den USA (sowie in allen Ländern, deren philosophischer Nachwuchs sich an ihnen orientiert) der gleiche Fehler gemacht worden ist, könnten wir die sprachanalytische Vereinsmeierei für eine typisch deutsche Charakterschwäche halten. Immerhin hat sie sich hier mit der Gründung ihrer eigenen Gesellschaft für Analytische Philosophie (GAP), die sich als gleichrangiger Konkurrent der Deutschen Gesellschaft für Philosophie begreift, eine auf ewig im Vereinsregister festgehaltene Blöße gegeben. Man verstehe mich nicht falsch: Die sprachanalytischen Methoden können produktiv sein. Ihre schulmäßige Normierung kann eine Präzisierung der Argumentationsstandards mit sich bringen, die aber nur so weit reicht wie der Konsens über die Methode. Auch gegen den Ansatz bei der Alltagssprache ist nichts einzuwenden. So hatten schon Xenokrates und Platon eingesetzt. Aber wenn ganze Philosophiekarrieren auf die sich kleinteilig zuspitzende Analyse einer einzigen Konjunktion oder Präposition oder auf die Beantwortung der Frage, was es heiße, einer Regel zu folgen, gegründet sind, dann ist der akademische Grenznutzen erreicht. Ich bin sehr dafür, diese für die vergleichende Sprachforschung und für den Aufbau elektronischer Verständigung hilfreichen Untersuchungen durch Projektmittel zu fördern. Aber Spezialisten diesen einsamen Ranges auf
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Philosophielehrstühle zu berufen, ist ruinös – nicht zuletzt deshalb, weil man aus Erfahrung weiß, dass diese Exponenten des Details ihr Amt in der Überzeugung exekutieren, dass nur sie die Philosophie vertreten, der die Zukunft gehört. An vierter Stelle möchte ich den Hang zur Schulbildung nennen, der die Berufungspraxis schon immer verdorben hat, und der auch heute immer wieder zu verhängnisvoller Einseitigkeit führt. Fragt man einen Sprachanalytiker, was Sprachanalytische Philosophie ist, erklärt er, dass es sie gar nicht gebe. Hört man ihn in einer Berufungskommission argumentieren, kann man sicher sein, dass er nur Sprachanalytiker wirklich gut findet. Da niemand alles kennt und stets nur einen kleinen Kreis von Wissenschaftlern aus näherer Kenntnis beurteilen kann, ist es menschlich verständlich, wenn man bei denen ausführlich wird, die im eigenen Theoriekontext tätig sind. Aber gerade weil das so ist, sollte man erwarten können, dass man sich bei Personalentscheidungen von den eigenen Präferenzen distanziert und sich besonders für jene Bewerber interessiert, die einen anderen Ansatz vertreten und gerade dadurch interessant sein könnten, weil sie zu anderen Ergebnissen kommen. Das philosophische Fragen, so belehren wir die Erstsemester, entsteht aus der Distanz zum Selbstverständlichen, vornehmlich aus der Distanz zu sich selbst. Es ist ein von Generation zu Generation neu aufgeführtes Trauerspiel, dass die professionelle Philosophie dies in der Selbstergänzung ihres eigenen Personals immer wieder vergisst. Natürlich steht die Eitelkeit des je Einzelnen dagegen. Aber da die Zunft durch Kommissionsarbeit und Gutachterverfahren an den Entscheidungen beteiligt ist, sollte es zum Ethos der Institution gehören, Gegengewichte zu schaffen. Man tut keiner Person und auch keiner Schule einen Gefallen, wenn man zulässt, dass sie ihre Schüler berufen, schon deshalb nicht, weil die Berufenen mit dem Makel des Epigonalen belastet sind. Denn diese Glücklichen haben mit Motiven zu kämpfen, die dem sachhaltigen Nachdenken nicht günstig sind. Zur Beförderung des Gegenteils lohnt es sich zu fragen, welches Schicksal philosophische Schulen haben. Sie zerfallen, vor allem wenn am Anfang ein machtbewusstes Schulhaupt steht, oft schon in der zweiten Generation. Nicht selten ist dann die einzig verbleibende Frage, wer denn eigentlich dazu gehört. So ist es der Ritter-Schule, der Erlanger Schule und den beiden Varianten der Heidelberger Schule mit dem Gadamer- und dem Henrich-Zweig ergangen. Einzig die Frankfurter Schule macht eine Ausnahme, dies aber um den Preis, dass die von Habermas repräsentierte zweite Generation nur noch das Thema der Gesellschaft und den Anspruch der Kritik beibehalten, ansonsten aber alles geändert hat. Da die Gesellschaft ein seit Heraklit im Zentrum des Philosophierens stehendes Dauerthema ist und Kritik, namentlich seit Kant, der Sache aber seit Sokrates, das konstitu-
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tive Verfahren des philosophischen Denkens ist, ist dieser Schule ihre Auflösung in Philosophie schon vorgezeichnet. Dass es sie unter dem redundanten, aber werbewirksamen Titel einer „kritischen Theorie“ immer noch gibt, hat politische Ursachen, die mit der nachwirkenden Aktualität des Marxismus unter den Bedingungen der deutschen Teilung zusammen hängt und den noch nicht bewältigten Folgen ihrer Überwindung. An fünfter und letzter Stelle stehe ein Wort zur Abspaltung der Kulturwissenschaften, die sich im Bewusstsein mancher ihrer Vertreter in ausdrücklicher Abgrenzung von der Philosophie vollzogen hat. In irrtümlicher Identifikation des in den Geisteswissenschaften in Anspruch genommenen Geistes mit Hegels Geistbegriff, in abwegiger Deutung der dialektischen Geistkonzeption als „substanzialistisch“ und in der unzutreffenden Annahme, die Philosophie erschöpfe sich darin, eine Geisteswissenschaft zu sein, wurde mit dem wesentlich in der deutschen Philosophietradition zwischen Herder und Cassirer entwickelten Begriff der Kultur dem nachgeeifert, was sich mit den Cultural Studies in den Vereinigten Staaten entwickelt hatte. Dabei kam auch einiges zur Geltung, was in den Humanities amerikanischer Provenienz betrieben wurde. Das führte rasch zu einer großen Palette von Lehr- und Forschungsgebieten, die inzwischen ihren eigenen Rang gewonnen haben. Es ist daher gar nicht mehr nötig, dass die Professoren der Kulturwissenschaften im Außenverhältnis Wert darauf legen, als Philosophen bezeichnet zu werden; es tut der Philosophie aber auch keinen Abbruch, wenn es geschieht. Auch wenn man nach einer relativ kurzen Zeit von etwa dreißig Jahren noch nicht sicher sagen kann, ob sich die Kulturwissenschaften auf Dauer etabliert haben, plädiere ich dafür, es so zu sehen. Es ist ein Zeichen der Lebendigkeit der Philosophie, wenn sie neue Disziplinen aus sich entlässt. Allein die Vervielfältigung der Medien und ihre enge Beziehung zu allem, was mit der Kommunikation und Produktion des Menschen zu tun hat, verdient eine besondere disziplinäre Aufmerksamkeit, die von der akademischen Philosophie nicht auch noch erbracht werden kann. Das Gleiche gilt mit Blick auf das Anwachsen des kulturellen Sektors unter den arbeitsteiligen Bedingungen einer modernen Zivilisation. Schließlich kommen die Fragen hinzu, die mit der aktualisierten Interdependenz der Kulturen im beschleunigten Prozess der Globalisierung aufgeworfen sind. Das alles erfordert theoretisch wie praktisch eine Beschäftigung mit den Problemen der Vermittlung, der Erinnerung und der Vergegenwärtigung. Die Notwendigkeit eigener Forschung und spezialisierter Ausbildung ist, so meine ich, offenkundig. Das ist aus der Sicht der Philosophie nicht zuletzt deshalb so nachdrücklich zu betonen, weil die Politik endlich einsehen muss, dass die Kulturwissenschaften für Aufgaben eigenen Rechts zuständig sind. Es kann
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nicht länger hingenommen werden, wenn der Aufbau der neuen kulturwissenschaftlichen Disziplinen auf Kosten der Philosophie betrieben wird, die durch das Neue in keinem Punkt entlastet wird. Bisher aber ist die begrüßenswerte Förderung der Kulturwissenschaften aus den mitunter brachial freigesetzten Ressourcen der Philosophie erfolgt. Das hat Spuren hinterlassen, die wohl zu erwägen sind, wenn man die Defizite der deutschen Gegenwartsphilosophie beklagt. Sie selbst darf darin jedoch keine Entschuldigung für die bestehenden Mängel sehen, sondern hat mit ihren Leistungen innerhalb wie außerhalb der Institutionen davon zu überzeugen, dass sie nach gut zweitausendfünfhundert Jahren, in denen sie außer Medizin, Astronomie, Rhetorik und Geschichtsschreibung so gut wie alle anderen Wissenschaften aus sich entlassen hat, so reich an Fragen ist wie nie zuvor. Dem kommt das wachsende öffentliche und private Sinnbedürfnis sowie das an die Philosophie herangetragene Interesse an Weltorientierung entgegen.
Hinweise zu den Autoren Marcel van Ackeren, geb. 1971, studierte Pädagogik, Soziologie, Politische Wissenschaft (Dipl. 1995) und Philosophie in Duisburg, Bochum und Glasgow. Promotion (2001) in Bochum; Habilitation (2010) in Köln. Forschungsaufenthalte in Oxford (1996–1998), Cambridge (2003 und 2007) und Bern (2004–2005). Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Bochum (1998), Bonn (2003–2004) und Köln (seit 2007). Veröffentlichungen: Das Wissen vom Guten (2003), Eric Voegelin. Kritische Einführung (2004), Hannah Arendt. Kritische Einführung (2004), Leo Strauss. Kritische Einführung (2004), Platon Verstehen (2004, ed.), The Political Identity of the West (2005, co-ed.), Heraklit (2005), Understanding Ancient Philosophy / Antike Philosophie Verstehen (2006, co-ed.), Meditations and Representations. Marcus Aurelius in Interdisciplinary Light (2011, co-ed.), Blackwell Companion to Marcus Aurelius (2011, ed.), Die Philosophie Marc Aurels, 2 Bände (2011). Zahlreiche Aufsätze zur Antiken und Praktischen Philosophie. Ansgar Beckermann, geb. 1945, studierte an der Universität Hamburg und der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt/M. Philosophie, Soziologie und Mathematik. Promotion (1974) in Frankfurt/M., Habilitation (1978) in Osnabrück. Von 1982–1992 Professor für Philosophie an der Georg-August-Universität Göttingen; von 1992–1995 Professor für Philosophie an der Universität Mannheim und von 1995–2010 Professor für Philosophie an der Universität Bielefeld. Veröffentlichungen: Gründe und Ursachen (1977), Descartes’ metaphysischer Beweis für den Dualismus – Analyse und Kritik (1986), Einführung in die Logik (32011), Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes (32008, dritte Auflage), Das Leib-Seele-Problem (2008), Gehirn, Ich, Freiheit. Neurowissenschaften und Menschenbild (2008). Zahlreiche Herausgaben und Aufsätze zu den Arbeitsgebieten Handlungstheorie, Philosophie des Geistes, Willensfreiheit, Erkenntnistheorie und Religionsphilosophie. Roland Bernecker, geb. 1961 in Bendorf, ist seit dem 1. Dezember 2004 Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität Frankfurt am Main und nach Forschungs- und Lehrtätigkeiten in Deutschland, Italien und Frankreich war er Direktor des deutsch-französischen Kulturinstituts
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Hinweise zu den Autoren
in Nantes. 1998 kam er als Kulturreferent zur Deutschen UNESCO-Kommission. Von April 2002 bis Juli 2004 war er im Auswärtigen Amt in Berlin tätig. Promotion 1995 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt am Main, mit einer Arbeit über Die Rezeption der „idéologie“ in Italien. Sprachtheorie und literarische Ästhetik in der europäischen Aufklärung. Karl Heinz Bohrer, geb. 1932 in Köln; Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Köln und Göttingen; Promotion 1962 in Heidelberg; Habilitation 1977 in Bielefeld. 1967–74 Literaturkritiker und Literaturblattchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; 1974–82 Kulturkorrespondent der FAZ in London. 1982–1997 Ordentlicher Professor für neuere deutsche Literaturgeschichte und Ästhetik an der Universität Bielefeld; seit 2003 Visiting Professor an der Stanford University. Seit 1984 Herausgeber des Merkur. Veröffentlichungen: Surrealismus und Terror. Oder die gefährdete Phantasie (1970), Der Lauf des Freitag. Utopie und Dichtung (1973), Die Ästhetik des Schreckens (1978), Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins (1981), Der romantische Brief. Zur Entstehung ästhetischer Subjektivität (1987), Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne (1989), Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit (1994), Der Abschied. Theorie der Trauer (1996), Die Grenzen des Ästhetischen (1998), Ästhetische Negativität (2002), Ekstasen der Zeit (2003), Imaginationen des Bösen (2004), Großer Stil. Form und Formlosigkeit in der Moderne (2007), Das Tragische. Erscheinung, Pathos, Klage (2009). Zahlreiche Herausgaben, u. a.: Mythos und Moderne (1983), Sprachen der Ironie und Sprachen des Ernstes (2000) sowie die Reihe Ästhetica bei Suhrkamp (1994–2000). Christoph Böhr, geb. 1954, studierte Philosophie, Politikwissenschaft, Germanistik und Neuere Geschichte, Promotion 2000. Er war über zwei Jahrzehnte Abgeordneter und Oppositionsführer im Landtag, 1983 bis 1989 Bundesvorsitzender der Jungen Union Deutschlands und von 2002 bis 2006 Stellvertretender Vorsitzender der CDU Deutschlands sowie Mitglied des Präsidiums der Partei; er unterrichtet derzeit Sozialwissenschaften an der Universität Düsseldorf und bekleidet eine Dozentur für zeitgenössische Philosophie an der Hochschule Heiligenkreuz (Wien). Böhr war von 2007 bis 2010 Vorsitzender der Deutschen Cusanus-Gesellschaft. Veröffentlichungen: Politischer Protest und parlamentarische Bewältigung. Zu den Beratungen und Ergebnissen der Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat“ (21986), Liberalismus und Minimalismus. Kritische Anmerkungen zur philosophischen und politischen Entfaltung einer zeitgenössischen Minimalstaatskonzeption (1985), Der
Hinweise zu den Autoren
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schwierige Weg zur Freiheit. Europa an der Schwelle zu einer neuen Epoche (21995), Die Vision der Verantwortungsgesellschaft. Politik in einer Zeit des Umbruchs (1996), Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants (2003), Der Maßstab der Menschenwürde. Christlicher Glaube, ethischer Anspruch und politisches Handeln (2003), Gesellschaft neu denken. Einblicke in Umbrüche (2004), Arbeit für alle – kein leeres Versprechen (2005), Friedrich Spee und Christian Thomasius. Über Vernunft und Vorurteil. Zur Geschichte eines Stabwechsels im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert (22006), Eine neue Ordnung der Freiheit (2007, co-ed.), Ethik in der Krise der Ökonomie (2011). Er ist Mitherausgeber der philosophischen Schriften Karol Wojtyáas und seit 2008 Mitglied im International Editorial Advisory Board der Zeitschrift ETHOS (Lublin). Klaus Draken, geb. 1959, Studium der Sozialwissenschaften, Musik, Erziehungswissenschaften, Philosophie und Praktischen Philosophie in Siegen, Wuppertal und Münster. 1. Staatsexamen 1985, Erweiterungsprüfungen für Philosophie 1995, für Praktische Philosophie 2006. 1986–1987 Referendariat in Wuppertal. 2. Staatsexamen 1987. 1988–2008 Lehrer an der Städt. Gesamtschule Solingen, seit 2007 am Städt. Gymnasium Bayreuther Straße (Wuppertal). Seit 2003 StD als Fachleiter für Philosophie, seit 2006 auch als Hauptseminarleiter am Studienseminar Solingen/Wuppertal. Seit 2004 Landesvorsitzender NRW im Fachverband Philosophie e.V. Einsatz in Lehrerfortbildung und Kommissionstätigkeit für Bezirksregierungen und Ministerium. Veröffentlichungen u. a.: Philosophieunterricht in Nordrhein-Westfalen. Beiträge und Informationen (jährl. seit 2005), Philosophieren 1 – Einführung in die Philosophie, Anthropologie, Erkenntnistheorie (2005, co-ed.); Philosophieren 2 – Ethik, Politische Philosophie, Geschichtsphilosophie (2006, co-ed.); Methoden III: Lernen lassen (EU, Heft 2/2007, co-ed.); Orientierung durch Philosophieren (2007, co-ed.); philopraktisch Bd. 1–3 (Mitautor; hg. von J. Peters u. B. Rolf, 2008–2010); Aufsätze zu Fachdidaktik und Methodik der Fächer Philosophie und Praktische Philosophie. Rainer Enskat, geb. 1943, Studium der Philosophie, Politischen Wissenschaft und Soziologie an den Universitäten Hamburg, Marburg und Göttingen; seit 1984 Professor an der Universität Heidelberg, seit 1992 Professor an der Universität Halle. Veröffentlichungen: Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes (1976), Wahrheit und Entdeckung. Logische und erkenntnistheoretische Untersuchungen über Aussagen und Aussagenkontexte (1986); Die Hegelsche Theorie des praktischen Bewußtseins (1986), Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in prak-
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Hinweise zu den Autoren
tischer Hinsicht (2005), Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft (2008). Zahlreiche Abhandlungen zu Problemen und zur Problemgeschichte der Erkenntnistheorie, der Philosophie des Geistes und der Praktischen Philosophie. Volker Gerhardt, geb. 1944, Prof. Dr. Dr. h.c., Promotion 1974, Habilitation 1984. 1985 Professor für Philosophie in Münster; nach Stationen in Zürich, Köln und Halle seit 1992 Professor für Philosophie an der HU Berlin. Honorarprofessor an der University of Wuhan/China. Seit 1998 Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften; Vorsitzender der Nietzsche-, der Kant-Kommission sowie der Wissenschaftlichen Kommission der Union der Akademien; Senator der Deutschen Nationalstiftung; Nationaler und Deutscher Ethikrat; Hochschulbeirat der EKD; Grundwertekommission der SPD; Vorsitzender des Konzils der HU Berlin. Buchveröffentlichungen: Vernunft und Interesse (1976), Immanuel Kant (zus. mit F. Kaulbach, 1980), Pathos und Distanz (1989), Friedrich Nietzsche (42006), Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden (22006), Vom Willen zur Macht (1996), Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität (1999), „Berliner Geist“. Zur philosophischen Tradition der Berliner Universität (zus. mit R. Mehring u. J. Rindert, 1999), Individualität. Das Element der Welt (2000), Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Humanität (2001), Immanuel Kant. Vernunft und Leben (2002), Die angeborene Würde des Menschen (2004), Partizipation. Das Prinzip der Politik (2007), Exemplarisches Denken (2008), Existenzieller Liberalismus (2009), Die Funken des freien Geistes (2011), Öffentlichkeit. Die politische Form des Geistes (2011). Zahlreiche Herausgaben und Aufsätze zur Ethik, Politik, Ästhetik sowie zur Philosophie Nietzsches, Kants und Platons. Paul Hoyningen-Huene, 1946 in München geboren, studierte Physik und Philosophie in München, London und Zürich. 1984–1985 arbeitete er als Visiting Scholar am Massachusetts Institute of Technology (Cambridge/MA) bei Prof. Thomas S. Kuhn und 1987–1988 als Senior Visiting Fellow am Center for Philosophy of Science der Universität Pittsburgh. 1988 wurde er mit einer Arbeit zur Wissenschaftsphilosophie habilitiert. 1990 wurde er Professor an der Universität Konstanz für Grundlagentheorie und Geschichte der Wissenschaften, insbesondere der exakten Wissenschaften. Seit 1997 ist er Leiter der Zentralen Einrichtung für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik an der Leibniz Universität Hannover. Veröffentlichungen u. a.: Wozu Wissenschaftsphilosophie? Positionen und Fragen zur gegenwärtigen Wissenschaftsphilosophie (1988, co-ed.), Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns. Rekonstruktion und Grundlagenprobleme (1989, englische Übers. 1993). Incommensurability and
Hinweise zu den Autoren
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Related Matters (2001, co-ed.), Formale Logik. Eine philosophische Einführung (1998, englische Übers. 2004), Ethische Probleme in den Biowissenschaften (2001, co-ed.), Rethinking Scientific Change and Theory Comparison: Stabilities, Ruptures, Incommensurabilities (2008, co-ed.), Der universale Leibniz: Denker, Forscher, Erfinder (2009, co-ed.). Theo Kobusch, geb. 1948, Studium der Philosophie und der Klassischen Philologie in Gießen und Bern, Promotion 1972 (Bern), Habilitation 1982 (Tübingen), 1983–1988 Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, 1990–2003 Lehrstuhl für Philosophisch-Theologische Grenzfragen in Bochum, seit 2003 Professor für Philosophie an der Universität Bonn. Veröffentlichungen u.a.: Studien zur Philosophie des Hierokles von Alexandrien. Untersuchungen zum christlichen Neuplatonismus (1976), Sein und Sprache. Historische Grundlegung einer Ontologie der Sprache (1987), L. Oeing-Hanhoff: Metaphysik und Freiheit. Gesammelte Abhandlungen (1988, co-ed.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuerer Forschungen (1996, co-ed.), Platon in der abendländischen Geistesgeschichte (1997, co-ed.), Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild (21997), Philosophen des Mittelalters (2000, ed.), Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne (2001, co-ed.), Metaphysik und Religion. Zur Signatur des spätantiken Denkens (2002, co-ed.), Selbst – Singularität – Subjektivität. Vom Neuplatonismus zum Deutschen Idealismus (2002, co-ed.), Querdenker. Visionäre und Außenseiter in Philosophie und Theologie (2005, co-ed.), Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität (2006). Seit 1986 Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, zahlreiche Aufsätze zu den verschiedenen Epochen der Philosophiegeschichte. John Marenbon, born 1955, BA 1976, MA, PhD 1980, LittD 2001 (all Cambridge); Title A (junior research) Fellow, Trinity College, Cambridge (1978), Title C (teaching) Fellow, Trinity College, Cambridge (1979–2004), Title B (senior research) Fellow, Trinity College, Cambridge (since 2005); Honorary Professor of Medieval Philosophy in the University of Cambridge (since 2010); Fellow of the British Academy (2009). Publications: From the Circle of Alcuin to the School of Auxerre (1981), Early Medieval Philosophy (480–1150): an introduction (1983), Later Medieval Philosophy (1150–1350): an introduction (1987), The Philosophy of Peter Abelard (1997), Aristotle in Britain during the Middle Ages (ed. 1996), Medieval Philosophy (1998, ed.), Aristotelian Logic, Platonism and the Context of Early Medieval Philosophy in the West (2000), Poetry and Philosophy in the Middle Ages (2001, ed.), Boethius (2003), Le temps, l’éternité et la prescience de Boèce à Thomas d’Aquin (2005), Medieval Philosophy. An
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Hinweise zu den Autoren
historical and philosophical introduction (2007), The Cambridge Companion to Boethius (2009, ed.), Methods and Methodologies. Aristotelian logic in East and West, 500–1500 (2011, co-ed.). Jürgen Mittelstraß, geb. 1936, Studium der Philosophie, Germanistik und evangelischen Theologie in Bonn, Erlangen, Hamburg und Oxford. Promotion 1961 (Erlangen), Habilitation 1968 (Erlangen), 1970 bis 2005 Ordinarius für Philosophie und Wissenschaftstheorie in Konstanz, seit 1990 zugleich Direktor des Zentrums Philosophie und Wissenschaftstheorie. 1997–1999 Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, 2002–2008 Präsident der Academia Europaea (der Europäischen Akademie der Wissenschaften mit Sitz in London), seit 2005 Vorsitzender des Österreichischen Wissenschaftsrates. Veröffentlichungen u. a.: Die Rettung der Phänomene (1962), Neuzeit und Aufklärung (1970), Die Möglichkeit von Wissenschaft (1974), Wissenschaft als Lebensform (1982), Der Flug der Eule (1989), Geist, Gehirn, Verhalten (mit M. Carrier, 1989, engl. [erweitert] 1991), Leonardo-Welt (1992), Die unzeitgemäße Universität (1994), Die Häuser des Wissens (1998), Wissen und Grenzen (2001). Herausgeber: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 4 Bde. (1980–1996; 2. Aufl. in 8 Bänden, 2005ff.). Lutz Möller, geb. 1973, studierte Physik an der LMU München und Philosophie an der Hochschule für Philosophie München und der University of Oxford. Diplom (2000) und Promotion (2004) in theoretischer Physik in München. Seit 2004 Leiter des Fachbereichs „Wissenschaft, Menschenrechte“ der Deutschen UNESCO-Kommission in Bonn. Veröffentlichungen: Zahlreiche Herausgaben, u. a.: Allgemeine Erklärung der Bioethik (2006), UNESCO-Biosphärenreservate: Modellregionen von Weltrang (2007), UNESCO Science Report: Zusammenfassung (2010). Jörn Müller, geb. 1969, Studium der Philosophie, Geschichte und Pädagogik an den Universitäten Bonn und Edinburgh, Promotion (2001) und Habilitation (2008) in Bonn, 2000–2001 Unternehmensphilosoph bei der Biodata Information Technology AG, 2002–2007 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Philosophie der Universität Bonn, 2007 Visiting Scholar am de Wulf-Mansion Centre for Ancient and Medieval Philosophy der Universität Leuven, 2007–2010 Lehrstuhlvertretungen für Geschichte der Philosophie in Würzburg und Bochum, seit Oktober 2010 Akademischer Rat am Institut für Philosophie in Würzburg. Veröffentlichungen u.a.: Natürliche Moral und philosophische Ethik bei Albertus Magnus (2001); Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Aristoteles und seine Relevanz für die Ethik (2006); Das Problem der Willensschwäche in der mittel-
Hinweise zu den Autoren
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alterlichen Philosophie (2006, co-ed.), Antike Philosophie verstehen / Understanding Ancient Philosophy (2006, co-ed.); Die Lüge. Ein Alltagsphänomen aus wissenschaftlicher Sicht (2007, co-ed.); Grundpositionen philosophischer Ethik. Von Aristoteles bis Jürgen Habermas (2009, co-ed.); Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (2009, co-ed.); Willensschwäche in Antike und Mittelalter. Eine Problemgeschichte von Sokrates bis Johannes Duns Scotus (2009); Wille und Handlung in der Philosophie der Kaiserzeit und Spätantike (2010, co-ed.); zahlreiche Aufsätze zur Philosophie der Antike und des Mittelalters sowie zur Praktischen Philosophie. Ada Neschke, geb. Hentschke (*Berlin 1942), Dr. phil. habil., emeritierte Professorin. 1961–1968 Studium in Frankfurt und Heidelberg der Klassischen Philologie, Philosophie und Politikwissenschaft, Promotion 1968, Habilitation 1977 in Frankfurt für Klassische Philologie und Antike Philologie. Seit 1969 Lehrtätigkeit in Frankfurt, Gastprofessorin in Lille III/F und Louvain-la-Neuve (Lehrstuhl Cardinal Mercier).Von 1991–2006 ordentliche Professorin für antike Philosophie und ihre Wirkungsgeschichte an der Universität Lausanne. Veröffentlichungen: Politik und Philosophie bei Platon und Aristoteles (22004), Die Poetik des Aristoteles (1981), Platonisme politique et théorie du droit naturel, Vol. I: Le platonisme politique dans l’Antiquité (1995), Platonisme politique et théorie du droit naturel,vol II: Platonisme et jusnaturalisme chrétien (2003), La naissance du paradigme herméneutique (22008, co-ed.), Politischer Aristotelismus. Die Rezeption der aristotelischen „Politik“ von der Antike bis zum 19. Jahrhundert (2008, co-ed.), Philosophische Anthropologie. Ursprünge und Aufgaben (2008, co-ed.), Argumenta in dialogos Platonis, Teil I: Platoninterpretation und ihre Hermeneutik von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (2010, ed.). Zahlreiche Aufsätze zur antiken Philosophie, politischen Philosophie, philosophischen Anthropologie und Hermeneutik. Michael Quante, geb. 1962, studierte an der FU Berlin und der WWU Münster Philosophie und Germanistik. Staatsexamen (1989), Promotion (1992) und Habilitation (2001) in Münster. Von 2004–2005 Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Duisburg Essen; von 2005–2009 Professor für Praktische Philosophie der Neuzeit und Gegenwart an der Universität zu Köln und seit dem WS 2009 Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Veröffentlichungen: Hegels Begriff der Handlung (1993), Ethik der Organtransplantation (2000), Personales Leben und menschlicher Tod (2002), Hegel’s Concept of Action (2004, pbk. 2007), Enabling Social Europe (2005), Einführung in die Allgemeine Ethik (32008), Person (2007), Karl Marx: Ökonomisch-Philosophische
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Hinweise zu den Autoren
Manuskripte (2009), Menschenwürde und personale Autonomie (2009). Zahlreiche Herausgaben und Aufsätze zu den Arbeitsgebieten Deutscher Idealismus (Schwerpunkt Hegel und Marx), Philosophie des Geistes und der Person, Rechts- und Sozialphilosophie sowie Ethik und biomedizinische Ethik. Thomas Reydon, geb. 1969 in Den Haag; Doppelstudium der Physik und der Wissenschaftsphilosophie in Leiden, Promotion in Philosophie der Biologie in Leiden mit einer Arbeit zum Artbegriff in der Biologie; 2004–2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zentralen Einrichtung für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik der Leibniz Universität Hannover, im Zeitraum 2006–2008 mit einem Forschungsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Thema natural kinds in den Lebenswissenschaften; seit Ende 2009 Juniorprofessor für Philosophie der Biologie and der Leibniz Universität Hannover. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Biologie, allgemeine Wissenschaftstheorie; daneben auch Interessen in Bioethik & Wissenschaftsethik, Philosophie der Physik und Philosophie der Sozialwissenschaften. Veröffentlichungen: Current Themes in Theoretical Biology: A Dutch Perspective (2005, co-ed.), Der universale Leibniz: Denker, Forscher, Erfinder (2009, co-ed.). Mitherausgeber der Zeitschrift Acta Biotheoretica (Dordrecht: Springer). Wilhelm Schmid, geb. 1953, studierte Philosophie und Geschichte in Berlin, Paris und Tübingen und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Viele Jahre lang war er als Gastdozent in Riga/Lettland und Tiflis/Georgien sowie als „philosophischer Seelsorger“ an einem Krankenhaus bei Zürich/Schweiz tätig. Homepage: www.lebenskunstphilosophie.de. Veröffentlichungen: Die Geburt der Philosophie im Garten der Lüste (1987), Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst (1991), Philosophie der Lebenskunst – Eine Grundlegung (1998), Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst (2000), Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst (2004), Die Kunst der Balance (2005), Die Fülle des Lebens (2006), Glück – Alles, was Sie darüber wissen müssen und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist (2007), Ökologische Lebenskunst (2008), Die Liebe neu erfinden. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen (2010). Ludwig Siep, geb. 1942, Studium der Philosophie, Germanistik, Geschichte und politischen Wissenschaft an den Universitäten Köln und Freiburg. Promotion (1969) und Habilitation (1976) an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Von 1979 bis 1986 Professor für Philosophie an der Universität Duisburg, von 1986 bis zur Emeritierung im Frühjahr 2011 Profes-
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sor für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Diverse Gastprofessuren in den USA. Veröffentlichungen: Hegels Fichtekritik und die Wissenschaftslehre von 1804 (1970, japan. Übersetzung 2001), Anerkennung als Prinzip der Praktischen Philosophie (1979, ital. Übersetzung 2007), Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus (1992), Der Weg der Phänomenologie des Geistes (2000), Konkrete Ethik (2004, japan. Übersetzung 2007), Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels (2010). Hrsg. u. a.: G.W.F. Hegel, Grundlagen der Philosophie des Rechts (22005, Klassiker auslegen), John Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung. Hrsg. und Kommentar (2007). Weitere Herausgaben und zahlreiche Aufsatzveröffentlichungen auf den Gebieten der Geschichte der praktischen Philosophie, der Philosophie des Deutschen Idealismus sowie der Allgemeinen und angewandten Ethik. Martin Thomé, geb. 1960, Studium der Katholischen Theologie und der Philosophie in Saarbrücken, Wien, Freiburg und Jerusalem, Promotion 1997 (Freiburg), 1992 Referent für Theologie und Philosophie an der Thomas-Morus-Akademie Bensberg, 2005 Wissenschaftsmanager in der Geschäftsstelle der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz, Bonn, 2006 Koordinator des Wissenschaftsjahres 2007: ‚Die Geisteswissenschaften – ABC der Menschheit‘ im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Bonn, 2008 Koordinator des Wissenschaftsjahres 2009 ‚Forschungsexpedition Deutschland‘ ebd., seit Oktober 2009 im Referat ‚Kulturelle Bildung‘ im BMBF; geschäftsführender Vorstand der Deutsch-Japanischen Gesellschaft für Integrative Wissenschaft; zahlreiche Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen und Beratungstätigkeit für Unternehmen, Bildungseinrichtungen, Hochschulen und Kulturinstitutionen. Veröffentlichungen: Existenz und Verantwortung. Untersuchungen zur existenzial-ontologischen Fundierung von Verantwortung auf der Grundlage der Philosophie Martin Heideggers (1998), Theorie Kirchenmanagement: Potentiale des Wandels (1988, ed.), Einander zugewandt. Die Rezeption des christlich-jüdischen Dialogs in der Dogmatik (2005, ed.), Coincidentia. Zeitschrift für Europäische Geistesgeschichte, Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte (erscheint seit 2010).
Personenregister Der nachfolgende Index enthält im Haupttext oder in den Anmerkungen genannte Personen. Nicht berücksichtigt wurden Autorennamen, die bloß als Referenz in bibliographischen Verweisen bzw. in den Literaturverzeichnissen angeführt sind. Abel, G. 333 Ackeren, M. van 1ff., 17ff., 349 Adams, D. 271 Adorno, T. W. 324–328 Agamben, G. 325f. Anselm von Canterbury 66, 74 Apel, K.-O. 305, 319, 333 Arendt, H. 40, 331 Aristides von Athen 91 Ariston von Chios 206 Aristoteles 4, 23 27, 40–46, 51, 57, 61, 65, 67f., 70f., 77, 80f., 85, 91, 167, 195, 199, 205, 325, 301 Arnim, B. von 193 Ashley-Cooper, A. (Earl von Shaftesbury) 86 Assheuer, T. 17 Augustinus 25, 76, 325 Averroes 76 Avicenna 65, 77 Ayer, A. J. 320 Bacon, F. 27, 79 Bartuschat, W. 333 Bauer, B. 183 Bax, C. 320 Beck, U. 282 Beckermann, A. 5, 105ff., 334, 349
Benjamin, W. 317, 319, 324 Bergson, H. 322, 324 Berkeley, G. 111 Bernecker, R. 3, 13f., 349 Bieri, P. 331 Birnbacher, D. 333 Blanchot, M. 321 Blum, L. 303, 309 Blumenberg, H. 29, 332f. Böhme, H. 31 Böhme, J. 79 Böhr, C. 8, 217ff., 350 Boethius, A. M. S. 65, 76 Bohrer, K. 11, 315ff., 329–342, 350 Boliay, J. 117 BonJour, L. 117 Brandt, R. 333 Brock, E. 12 Brown, W. A. 139 Bubner, R. 29, 40 Buhlmann, E. 273 Busche, H. 334 Camus, A. 323 Carnap, R. 108–114, 147, 149, 336 Carrier, M. 132, 333 Cassirer, E. 335, 346 Chang, H. 137f.
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Personenregister
Chrysipp 77 Cicero, M. T. 25 Clarke, S. 120 Cousin, V. 76
Friedrich II. von Preußen (d. Gr.) 220 Früchtl, J. 198 Frühwald, W. 160–162
Darwin, C. 122, 123 Deleuze, G. 323, 325 Derrida, J. 305, 321, 323, 327 Descartes, R. 65, 67, 77, 79, 83, 106, 115, 150, 315 Dewey, J. 209 Di Fabio, U. 227 Dilthey, W. 335 Diogenes von Sinope 195 Dion von Syrakus 316 Dionysius II. von Syrakus 316 Draken, K. 10, 281ff., 351 Duhem, P. 6, 149f. Engelen, E.–M. 293 Enskat, R. 6, 132, 147ff., 351 Epiktet 199 Epikur 195 Esser, A. 334 Euklid 116f.
Gabriel, M. 334 Gadamer, H.-G. 345 Gauß, J. C. F. 117 Gehlen, A. 44, 325 Gehring, P. 334 Gerhardt, V. 11, 311f., 329ff., 352 Gethmann, C.-F. 333 Giffords, G. 241 Glock, H. 110 Glotz, P. 333 Glucksmann, A. 323 Goethe, J. W. von 70 Gosepath, S. 334 Gregor von Nyssa 207–210 Grote, T. 12 Grotius, H. 91, 93–96, 101 Gründer, K. 333 Grundmann, T. 334 Gutmann, M. 334
Falkenburg, B. 333 Feyerabend, P. 134 Fichte, J. G. 335 Ficino, M. 76 Figal, G. 334 Filmer, R. 84 Flasch, K. 324, 333, 336 Flew, A. 118 Forst, R. 334 Foucault, M. 7, 197f., 202, 205, 208f., 325 Frank, M. 324 Frede, D. 333 Frege, G. 67, 72, 119f., 155f., 320 Freud, S. 325
Habermas, J. 30, 171, 318f., 323, 327, 333f. Hadot, P. 198, 200, 204 Hahn, H. 108 Hampe, M. 334 Hansson, S. O. 136, 138 Hartmann, N. 315, 322, 336 Hasse, D. 344 Hauréau, J.-B. 76 Hawking, S. 271 Hegel, G. W. F. 79, 90–92, 97f., 100f., 183, 251, 254, 260f., 317, 319, 322, 327, 333, 346 Heidegger, M. 24, 27, 164, 197, 210, 262, 319–325, 335 Heitmeyer, W. 283
Personenregister
Henrich, D. 318, 333, 345 Heraklit 27, 52 Herder, J. G. 42, 335, 345 Hersch, J. 304 Hinsch, W. 334 Hinske, N. 240 Hobbes, T. 79, 81–87, 90, 93, 221f. Höffe, O. 317, 333, 340 Hölderlin, F. 317 Hogrebe, W. 323, 326, 333, 339f. Homer 70 Honneth, A. 333 Horkheimer, M. 325 Hoyningen-Huene, P. 5f., 127ff., 352 Hubig, C. 334 Hühn, L. 334 Hull, D. 139f. Humboldt, W. von 263 Husserl, E. 319 Huxley, A. 301 Huxley, J. 304 Jaeggi, R. 203, 334 Jamblichos 80 James, W. 130 Janich, P. 333 Jaspers, K. 304, 335 Johannes Duns Scotus 65f., 70f., 74f. Jonas, H. 331 Joyce, J. 322 Kafka, F. 320, 325 Kambartel, F. 159 Kant, I. 28, 40, 65, 67, 77, 89f., 92, 95–98, 100f., 106, 119f., 124, 142, 151, 152, 154, 160, 198, 222, 225, 255f., 258, 261–264, 291, 299, 319, 325, 333, 335f., 338
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Keil, G. 334 Kenny, A. 69f. Kersting, W. 198, 202f., 210, 333 Kleist, H. von 317 Klippert, H. 292 Kobusch, T. 1ff., 197ff., 353 Kompa, N. 334 Küng, H. 305 Künne, W. 333 Kuhn, T. 137, 159 Lacoue-Labarthe, P. 321 Ladyman, J. 133 La Rochefoucauld, F. de 324 Leibniz, G. W. 65, 77, 120, 33, 335 Lévi-Strauss, C. 305 Lévy, B.-H. 323 Lichtenberg, G. C. 265 Lobatschewski, N. I. 112 Locke, J. 83f., 86f., 89, 92, 101 Losee, J. 133 Lübbe, H. 29, 333 Lübbe, W. 334 Luhmann, N. 21, 83, 174, 333 Luig, K. 95 Lutz-Bachmann, M. 333 Machiavelli, N. 79, 83, 219 MacPherson, C. B. 83 Maimonides, M. 65, 74 Maine de Biran, F.-P.-G. 197 Man, Paul de 315 Mann, T. 336 Marcuse, H. 329 Marenbon, J. 4, 65ff., 353 Margolis, J. 318 Maritain, J. 304 Mark Aurel 204 Marquard, O. 31, 159, 204, 333 Martens, E. 292 Marx, K. 171, 203, 221, 335
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Personenregister
Mauthner, F. 337 Meister Eckhart 204, 210f., 324 Menke, C. 334 Merker, B. 334 Merleau-Ponty, M. 320 Meyer, H. 292 Meyer, K. 334 Meyer, T. 236 Mittelstraß, J. 9, 251ff., 333, 354 Möller, L. 10f., 299ff., 354 Montaigne, M. De 195, 197, 315, 324 Moore, A. 71 Müller, J. 1ff., 17ff., 355 Müller, Olaf 334 Müller, Oliver 334 Mulla Sadra 76 Musil, R. 315, 322, 325, 336 Nehamas, A. 321 Neschke-Hentschke, A. 4, 39ff., 355 Neurath, O. 108, 111, 115 Nida-Rümelin, J. 1f., 11, 270, 333 Nietzsche, F. 7, 11, 197f., 202, 204f., 262, 319–322, 324–328, 331, 335f. Normore, C. 69 Novalis (F. von Hardenberg) 317 Ottmann, H. 333, 343 Parmenides 52 Pascal, B. 197 Patzig, G. 333 Pauen, M. 334 Perler, D. 334 Peter Abaelard 65, 324 Pico della Mirandola, G. 205, 208, 224
Platon 4, 11, 23, 27, 39, 43–57, 59–61, 68, 77, 80, 195, 197, 205, 207, 219, 222, 252f., 316f., 319, 322f., 325, 327f., 336, 338, 344 Plessner, H. 331 Plotin 46, 51, 77, 204, 207, 210 Popper, K. 110f., 149f., 328 Porphyrios 207 Poser, H. 333 Postman, N. 284 Prauss, G. 333 Proklos 76 Proust, M. 322, 327 Pufendorf, S. 95 Pyrrhon von Elis 195 Pythagoras 52f. Quante, M. 6f., 171ff., 334, 355 Quine, W. v. O. 111–115, 138, 147f., 153f. Rapp, C. 334 Rawls, J. 113, 328, 341 Recki, B. 334 Rentsch, T. 334 Reydon, T. 5f., 127ff., 356 Riedel, M. 159 Rilke, R.-M. 339 Ritter, J. 159 Rösch, A. 291 Rohbeck, J. 291 Rohs, P. 333 Rorty, R. 205, 209, 326f., 336 Ross, D. 133 Rousseau, J.-J. 96 Russell, B. 29, 130 Saint-Pierre, Abbé de 96 Sandkaulen, B. 334 Sartre, J.-P. 183, 20f., 305, 320, 323
Personenregister
Scheibe, E. 157–159 Schelling, F. W. J. 208, 335 Schirp, H. 293 Schlegel, F. 315, 317, 336, 338 Schleiermacher, F. 316 Schlick, M. 337 Schmid, W. 7, 187ff., 197, 202f., 205f., 210, 356 Schmidt, T. 334 Schnädelbach, H. 332 Schöne-Seifert, B. 334 Schopenhauer, A. 208 Schwemmer, O. 333 Sebald, W. G. 326 Seel, M. 31, 323, 326, 339f. Sellars, J. 199 Seneca 195, 202, 206 Sennett, R. 283 Seuse, H. 211 Shakespeare, W. 70, 120 Shusterman, R. 197, 209 Sidney, A. 84 Siep, L. 4f., 45, 79ff., 333, 356 Simmel, G. 335 Simplikios 76f. Skinner, Q. 83 Sloterdijk, P. 323, 339f. Sneed, J. 156f., 159 Sokrates 9, 43f., 48, 55, 59f., 80, 141, 199, 201, 233f., 244, 254, 282, 291 Sommer, M. 333 Sommermann, K.-P. 88 Spaemann, R. 328, 332f. Spinoza, B.de 77, 86f., 116, 317 Spitzer, M. 285 Stefan, A. 293 Stegmüller, W. 6, 148, 152–154, 157f. Strabo 199 Striker, G. 67f.
363
Sturma, D. 334 Suárez, F. 76 Tauler, J. 211 Taylor, C. 328 Tennemann, W. G. 317, 319 Tetens, H. 334 Thales von Milet 18, 26, 252 Theunissen, M. 318, 333 Thomä, D. 203, 323, 339f. Thomé, M. 9, 267ff., 357 Tugendhat, E. 318, 333 Uhl, S. 293 Vauvergnes, Marquis de 324 Vergil 70 Vermeren, P. 303 Vico, G. 165 Vogl, J. 323, 326, 339 Vossenkuhl, W. 333 Weber, M. 80 Weinberg, S. 128 Wells, H. G. 118 Westerwelle, G. 239 Wieland, W. 159 Wilhelm von Ockham 74, 324 Willaschek, M. 334 Williams, B. A. 71f., 206 Wimsatt, W. 134ff. Wingert, L. 334 Wittgenstein, L. 27, 106f., 110, 147, 205, 255, 271, 320, 325, 336 Wolff, C. 81 Woolf, V. 322 Xenokrates 344 Xenophon 44 Žižek, S. 323, 339f.