Springer-Lehrbuch
Prof. Dr.-Ing. Dietmar Gross studierte Angewandte Mechanik und promovierte an der Universität Rosto...
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Springer-Lehrbuch
Prof. Dr.-Ing. Dietmar Gross studierte Angewandte Mechanik und promovierte an der Universität Rostock. Er habilitierte an der Universität Stuttgart und ist seit 1976 Professor für Mechanik an der TU Darmstadt. Seine Arbeitsgebiete sind unter anderen die Festkörper- und Strukturmechanik sowie die Bruchmechanik. Hierbei ist er auch mit der Modellierung mikromechanischer Prozesse befasst. Er ist Mitherausgeber mehrerer internationaler Fachzeitschriften sowie Autor zahlreicher Lehrund Fachbücher.
Prof. Dr. Werner Hauger studierte Angewandte Mathematik und Mechanik an der Universität Karlsruhe und promovierte an der Northwestern University in Evanston/Illinois. Er war mehrere Jahre in der Industrie tätig, hatte eine Professur an der Universität der Bundeswehr in Hamburg und wurde 1978 an die TU Darmstadt berufen. Sein Arbeitsgebiet ist die Festkörpermechanik mit den Schwerpunkten Stabilitätstheorie, Plastodynamik und Biomechanik. Er ist Autor von Lehrbüchern und Mitherausgeber internationaler Fachzeitschriften. Prof. Dr.-Ing. Jörg Schröder studierte Bauingenieurwesen, promovierte an der Universität Hannover und habilitierte an der Universität Stuttgart. Nach einer Professur für Mechanik an der TU Darmstadt ist er seit 2001 Professor für Mechanik an der Universität Duisburg-Essen. Seine Arbeitsgebiete sind unter anderem die theoretische und die computerorientierte Kontinuumsmechanik sowie die phänomenologische Materialtheorie mit Schwerpunkten auf der Formulierung anisotroper Materialgleichungen und der Weiterentwicklung der Finite-Elemente-Methode. Prof. Dr.-Ing. Wolfgang A. Wall studierte Bauingenieurwesen an der Universität Innsbruck und promovierte an der Universität Stuttgart. Seit 2003 leitet er den Lehrstuhl für Numerische Mechanik an der Fakultät Maschinenwesen der TU München. Seine Arbeitsgebiete sind unter anderem die numerische Strömungs- und Strukturmechanik. Schwerpunkte dabei sind gekoppelte Mehrfeld- und Mehrskalenprobleme mit Anwendungen, die sich von der Aeroelastik bis zur Biomechanik erstrecken.
Dietmar Gross · Werner Hauger Jörg Schröder · Wolfgang A. Wall
Technische Mechanik Band 2: Elastostatik 10., neu bearbeitete Auflage
Mit 165 Abbildungen
123
Prof. Dr.-Ing. Dietmar Gross Prof. Dr. Werner Hauger Prof. Dr. rer. nat. Dr.-Ing. E. h. Walter Schnell † Institut für Mechanik Technische Universität Darmstadt Hochschulstraße 1 64289 Darmstadt
Prof. Dr.-Ing. Jörg Schröder
Prof. Dr. Wolfgang A. Wall
Institut für Mechanik Universität Duisburg-Essen Campus Essen Universitätsstraße 15 45117 Essen
Lehrstuhl für Numerische Mechanik Technische Universität München Boltzmannstraße 15 85747 Garching
ISSN 0937-7433 ISBN 978-3-642-00564-0 e-ISBN 978-3-642-00565-7 DOI 10.1007/978-3-642-00565-7 Springer Dordrecht Heidelberg London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1983, 1989, 1990, 1993, 1995, 1999, 2002, 2004, 2006, 2009 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Sollte in diesem Werk direkt oder indirekt auf Gesetze, Vorschriften oder Richtlinien (z.B. DIN, VDI, VDE) Bezug genommen oder aus ihnen zitiert worden sein, so kann der Verlag keine Gewähr für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität übernehmen. Es empfiehlt sich, gegebenenfalls für die eigenen Arbeiten die vollständigen Vorschriften oder Richtlinien in der jeweils gültigen Fassung hinzuzuziehen. Umschlaggestaltung: WMXDesign GmbH, Heidelberg Herstellung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.de)
Vorwort Die Elastostatik setzt den ersten Band des mehrb¨andigen Lehrbuches der Technischen Mechanik fort. Sie besch¨ aftigt sich mit den Beanspruchungen und den Verformungen elastischer K¨orper. Das Buch ist aus Lehrveranstaltungen hervorgegangen, die von den Autoren f¨ ur Studierende aller Ingenieur-Fachrichtungen gehalten wurden. Der dargestellte Stoff orientiert sich im Inhalt an den Mechanikkursen, wie sie an deutschsprachigen Hochschulen abgehalten werden. Dabei wurde zugunsten einer ausf¨ uhrlichen Darstellung der Grundlagen auf die Behandlung mancher spezieller Probleme verzichtet. Auch dieser Band erfordert aktive Mitarbeit des Lesers, da die Mechanik nicht durch reines Literaturstudium zu erlernen ist. Eine sachgerechte Anwendung der wenigen Gesetzm¨aßigkeiten setzt nicht nur die Kenntnis der Theorie voraus, sondern erfordert auch ¨ Ubung. Letztere ist nur durch selbst¨ andiges Bearbeiten von Aufgaben zu erwerben. Die Beispiele in jedem Kapitel sollen hierf¨ ur eine Anleitung geben. Die freundliche Aufnahme, welche dieses Buch gefunden hat, macht eine Neuauflage erforderlich. Wir haben sie genutzt, um eine Reihe von Verbesserungen und Erg¨ anzungen vorzunehmen. Hingewiesen sei insbesondere auf das Zusatzmaterial im Netz, das wir beginnend mit dieser Auflage der Leserschaft zur Verf¨ ugung stellen. Diese interaktiven Lehrprogramme, Applets und Animationen finden sie unter http://www.tm-tools.de. Wir d¨ urfen an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass diese Internetseite eine aktive Beteiligung der Leser erm¨ oglicht. Die besten eingereichten Beitr¨ age werden mit Preisen ausgezeichnet. Die Technische Mechanik 2 geht zu einem bedeutenden Anteil auf unseren verstorbenen Kollegen Prof. Dr. Dr.h.c. Walter Schnell zur¨ uck, der auch bis zur sechsten Auflage Mitautor war. Seine Handschrift ist in der vorliegenden Neuauflage trotz der ¨ Uberarbeitung immer noch zu erkennen. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Frau Heike Herbst und Frau Veronika Jorisch, die mit großer Sorgfalt die Zeichnungen an-
VI
fertigten. Unser Dank gilt auch den Studenten Simon Altmannshofer, Andreas Bollinger, Bernd Budich, Matthias Mayr, Sonja Stegbauer, Fritz Wenzl und Simon Winkler, welche die ersten TMTools erstellt haben. Wir danken auch dem Springer-Verlag f¨ ur das Eingehen auf unsere W¨ unsche und f¨ ur die ansprechende Ausstattung des Buches. Darmstadt, Essen und M¨ unchen, im Januar 2009
D. Gross W. Hauger J. Schr¨oder W.A. Wall
Inhaltsverzeichnis Einf¨ uhrung.................................................................
1
1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7
Zug und Druck in St¨ aben Spannung......................................................... Dehnung .......................................................... Stoffgesetz ....................................................... Einzelstab ........................................................ Statisch bestimmte Stabsysteme............................. Statisch unbestimmte Stabsysteme ......................... Zusammenfassung ..............................................
7 13 14 18 28 33 40
2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.4
Spannungszustand Spannungsvektor und Spannungstensor .................... Ebener Spannungszustand .................................... Koordinatentransformation.................................... Hauptspannungen............................................... Mohrscher Spannungskreis .................................... D¨ unnwandiger Kessel .......................................... Gleichgewichtsbedingungen ................................... Zusammenfassung ..............................................
43 46 47 51 56 62 64 67
3 3.1 3.2 3.3 3.4
Verzerrungszustand, Elastizit¨ atsgesetz Verzerrungszustand ............................................. Elastizit¨atsgesetz................................................ Festigkeitshypothesen .......................................... Zusammenfassung ..............................................
71 76 83 86
4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.4
Balkenbiegung Einf¨ uhrung ....................................................... 89 Fl¨achentr¨agheitsmomente ..................................... 91 Definition ......................................................... 91 Parallelverschiebung der Bezugsachsen ..................... 98 Drehung des Bezugssystems, Haupttr¨agheitsmomente .. 100 Grundgleichungen der geraden Biegung .................... 108 Normalspannungen ............................................. 112
VIII
4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.6 4.6.1 4.6.2 4.7 4.8 4.9 4.10 4.11
Biegelinie ......................................................... Differentialgleichung der Biegelinie .......................... Einfeldbalken..................................................... Balken mit mehreren Feldern ................................. Superposition .................................................... Einfluss des Schubes ........................................... Schubspannungen ............................................... Durchbiegung infolge Schub .................................. Schiefe Biegung ................................................. Biegung und Zug/Druck ...................................... Kern des Querschnitts ......................................... Temperaturbelastung........................................... Zusammenfassung ..............................................
115 115 119 129 133 143 143 153 155 163 167 169 173
5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Torsion Einf¨ uhrung ....................................................... Die kreiszylindrische Welle .................................... D¨ unnwandige geschlossene Profile........................... D¨ unnwandige offene Profile ................................... Zusammenfassung ..............................................
177 178 188 197 205
6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6
Der Arbeitsbegriff in der Elastostatik Einleitung......................................................... Arbeitssatz und Form¨anderungsenergie ..................... Das Prinzip der virtuellen Kr¨afte ............................ Einflusszahlen und Vertauschungss¨atze ..................... Anwendung des Arbeitssatzes auf statisch unbestimmte Systeme .................................... Zusammenfassung ..............................................
7 7.1 7.2 7.3
Knickung Verzweigung einer Gleichgewichtslage ...................... 263 Der Euler-Stab .................................................. 266 Zusammenfassung .............................................. 276
8 8.1
Verbundquerschnitte Einleitung......................................................... 279
209 210 220 239 242 260
IX
8.2 8.3 8.4 8.5
Zug und Druck in St¨aben ..................................... Reine Biegung ................................................... Biegung und Zug/Druck ...................................... Zusammenfassung ..............................................
279 286 293 297
Englische Fachausdr¨ ucke .............................................. 299 Sachverzeichnis .......................................................... 307
Einf¨ uhrung Im ersten Band (Statik) wurde gezeigt, wie man allein mit Hilfe der Gleichgewichtsbedingungen ¨ außere und innere Kr¨afte an Tragwerken ermitteln kann. Dabei wurde der reale K¨orper durch den starren K¨ orper angen¨ ahert. Diese Idealisierung ist jedoch zur Beschreibung des mechanischen Verhaltens von Bauteilen oder Konstruktionen meist nicht hinreichend. Bei vielen Ingenieurproblemen sind auch die Deformationen der K¨ orper vorherzubestimmen, zum Beispiel um unzul¨ assig große Verformungen auszuschließen. Der K¨ orper muss dann als deformierbar angesehen werden. Um die Deformationen zu beschreiben, ist es erforderlich, geeignete geometrische Gr¨ oßen zu definieren; dies sind Verschiebungen und Verzerrungen. Durch kinematische Beziehungen, welche die Verschiebungen und die Verzerrungen verkn¨ upfen, wird die Geometrie der Verformung festgelegt. Neben den Verformungen sind die Beanspruchungen von Bauteilen von großer praktischer Bedeutung. In der Statik haben wir bisher nur Schnittkr¨ afte ermittelt. Sie allein lassen keine Aussage u unner bzw. ein ¨ ber die Belastbarkeit von Tragwerken zu (ein d¨ dicker Stab aus gleichem Material werden bei unterschiedlichen Kr¨ aften versagen). Als geeignetes Maß f¨ ur die Beanspruchung wird daher der Begriff der Spannung eingef¨ uhrt. Durch Vergleich einer rechnerisch ermittelten Spannung mit einer auf Experimenten und Sicherheitsanforderungen basierenden zul¨assigen Spannung kann man die Tragf¨ ahigkeit von Bauteilen beurteilen. Die Verzerrungen sind mit den Spannungen verkn¨ upft. Die physikalische Beziehung zwischen diesen Gr¨ oßen heißt Stoffgesetz. Es ist abh¨ angig vom Werkstoff, aus dem ein Bauteil besteht und kann nur mit Hilfe von Experimenten gewonnen werden. Die technisch wichtigsten metallischen und nichtmetallischen Materialien zeigen bei nicht zu großen Beanspruchungen einen linearen Zusammenhang von Spannung und Verzerrung. Er wurde schon von Robert Hooke (1635–1703) in der damaligen Sprache der Wissenschaft mit ut tensio sic vis (lat., wie die Dehnung so die Kraft) formuliert. Ein Werkstoff, der dem Hookeschen Gesetz gen¨ ugt, heißt linearelastisch; wir wollen ihn kurz elastisch nennen.
2
Einf¨ uhrung
Im vorliegenden Band werden wir uns auf die Statik solcher elastisch deformierbarer K¨ orper beschr¨ anken. Dabei setzen wir stets voraus, dass die Verformungen und damit auch die Verzerrungen sehr klein sind. Dies trifft in sehr vielen technisch wichtigen F¨ allen tats¨ achlich zu. Daneben bringt es den großen Vorteil mit sich, dass die Gleichgewichtsbedingungen mit guter N¨aherung am unverformten System aufgestellt werden k¨ onnen; auch die kinematischen Beziehungen sind dann einfach. Nur bei Stabilit¨atsuntersuchungen, wie zum Beispiel beim Knicken (Kapitel 7), muss man die Gleichgewichtsbedingungen am verformten System formulieren. Bei allen Problemen der Elastostatik muss man auf drei – ihrem Herkommen nach unterschiedliche – Arten von Gleichungen zur¨ uckgreifen: a) Gleichgewichtsbedingungen, b) kinematische Beziehungen, c) Elastizit¨ atsgesetz. Bei statisch bestimmten Systemen k¨ onnen die Schnittgr¨ oßen und damit die Spannungen aus den Gleichgewichtsbedingungen direkt ermittelt werden. Die Verzerrungen und die Verformungen folgen dann mit Hilfe des Elastizit¨ atsgesetzes und der kinematischen Beziehungen in getrennten Schritten. Die Ber¨ ucksichtigung von Deformationen macht es nun aber auch m¨ oglich, die Kr¨ afte und die Verformungen statisch unbestimmter Systeme zu analysieren. In diesem Fall sind die Gleichgewichtsbedingungen, die kinematischen Beziehungen und das Elastizit¨ atsgesetz gekoppelt und k¨ onnen nur gemeinsam gel¨ost werden. Wir werden uns in der Elastostatik nur mit einfachen Beanspruchungszust¨ anden befassen und uns auf die in der Praxis wichtigen F¨ alle von St¨ aben unter Zug bzw. Torsion und von Balken unter Biegung konzentrieren. Bei der Aufstellung der zugeh¨origen Gleichungen bedienen wir uns h¨ aufig bestimmter Annahmen u ¨ ber die Verformung oder die Verteilung der Spannungen. Diese Annahmen gehen auf experimentelle Untersuchungen zur¨ uck und gestatten es dann, das vorliegende Problem mit einer technisch ausreichenden Genauigkeit zu beschreiben. Eine besondere Bedeutung kommt bei elastischen K¨orpern dem Arbeitsbegriff und den Energieaussagen zu. So lassen sich verschiedene Probleme besonders zweckm¨ aßig mit Hilfe von Energie-
Einf¨ uhrung
3
prinzipien l¨ osen. Ihrer Formulierung und Anwendung ist Kapitel 6 gewidmet. Das Verhalten deformierbarer K¨ orper wurde seit Beginn der Neuzeit untersucht. So haben schon Leonardo da Vinci (1452– 1519) und Galileo Galilei (1564–1642) Theorien aufgestellt, um die unterschiedliche Tragf¨ ahigkeit von St¨ aben bzw. Balken zu erkl¨ aren. Die ersten systematischen Untersuchungen zum Verformungsverhalten von Balken gehen auf Jakob Bernoulli (1655–1705) und Leonhard Euler (1707–1783) zur¨ uck. Von Euler wurde in diesem Zusammenhang auch die Theorie des Knickens von St¨aben ¨ entwickelt; die große technische Bedeutung dieser Uberlegungen wurde erst viel sp¨ ater erkannt. Den Grundstein f¨ ur eine in sich geschlossene Elastizit¨atstheorie legte Augustin Louis Cauchy (1789– 1857); von ihm stammen die Begriffe Spannungszustand und Verzerrungszustand. Seitdem wurden sowohl die Elastizit¨atstheorie als auch die N¨ aherungstheorien, welche in der Technik bei speziellen Tragwerken zur Anwendung gelangen, durch Beitr¨age von Ingenieuren, Physikern und Mathematikern ausgebaut – eine Entwicklung, die auch heute noch anh¨ alt. Daneben wurden und werden immer noch Theorien aufgestellt, die nichtelastisches Materialverhalten (zum Beispiel plastisches Verhalten) beschreiben. Hiermit werden wir uns jedoch im Rahmen dieses Buches nicht besch¨ aftigen sondern verweisen auf Band 4.
Kapitel 1 Zug und Druck in St¨ aben
1
1 Zug und Druck in St¨ aben 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7
Spannung......................................................... Dehnung .......................................................... Stoffgesetz ....................................................... Einzelstab ........................................................ Statisch bestimmte Stabsysteme ............................ Statisch unbestimmte Stabsysteme ......................... Zusammenfassung ..............................................
7 13 14 18 28 33 40
Lernziele: In der Elastostatik untersucht man die Beanspruchung und die Verformung von elastischen Tragwerken unter der Wirkung von Kr¨ aften. Wir wollen uns im ersten Kapitel nur mit dem einfachsten Bauteil – dem Stab – befassen. Zus¨ atzlich zu den aus Band 1 bekannten Gleichgewichtsbedingungen ben¨ otigt man zur L¨ osung dieser Probleme kinematische Beziehungen und das Elastizit¨ atsgesetz. Die kinematischen Beziehungen beschreiben die Geometrie der Verformung, w¨ahrend durch das Elastizit¨ atsgesetz das Materialverhalten ausgedr¨ uckt wird. Die Studierenden sollen bef¨ ahigt werden, diese Gleichungen sachgem¨ aß anzuwenden und mit ihrer Hilfe sowohl statisch bestimmte als auch statisch unbestimmte Stabsysteme zu behandeln.
1.1
Spannung
7
1.1
1.1 Spannung Wir betrachten einen geraden Stab mit konstanter Querschnittsfl¨ ache A. Die Verbindungslinie der Schwerpunkte der Querschnittsfl¨ achen heißt Stabachse. Der Stab werde an seinen Enden durch die Kr¨ afte F belastet, deren gemeinsame Wirkungslinie die Stabachse ist (Abb. 1.1a). Die ¨außere Belastung verursacht innere Kr¨afte. Um sie bestimmen zu k¨ onnen, f¨ uhren wir in Gedanken einen Schnitt durch den Stab. Die in der Schnittfl¨ ache verteilten inneren Kr¨afte sind Fl¨ achenkr¨ afte und werden als Spannungen bezeichnet. Sie haben die Dimension Kraft pro Fl¨ ache und werden z.B. in der Einheit N/mm2 oder in der nach dem Mathematiker und Physiker Blaise Pascal (1623–1662) benannten Einheit 1 Pa = 1 N/m2 (1 MPa = 1 N/mm2 ) angegeben. Der Begriff der Spannungen wurde von Augustin Louis Cauchy (1789–1857) eingef¨ uhrt. W¨ahrend wir in der Statik starrer K¨ orper nur die Resultierende der inneren Kr¨ afte (= Stabkraft) verwendet haben, m¨ ussen wir uns in der Elastostatik nun mit den verteilten inneren Kr¨ aften (= Spannungen) selbst befassen. s F
F
F
a
s
σ b
c
N
A
s F
F
F
F
d
e
ϕ
τ σ ϕ
F
s
A∗= στ
A cos ϕ
F
F
Abb. 1.1
Wir w¨ ahlen zun¨ achst einen zur Stabachse senkrechten Schnitt s − s. In der Schnittfl¨ ache wirken dann Spannungen, die wir mit σ bezeichnen (Abb. 1.1b). Wir nehmen an, dass sie senkrecht zur Schnittfl¨ ache stehen und gleichf¨ ormig verteilt sind. Weil sie normal zum Schnitt stehen, nennt man sie Normalspannungen. Nach Band 1, Abschnitt 7.1, lassen sie sich zur Normalkraft N zusam-
8
1 Zug und Druck in St¨aben
menfassen (Abb. 1.1c). Daher gilt N = σA, und die Gr¨oße von σ kann aus der Normalkraft bestimmt werden: σ=
N . A
(1.1)
Da im Beispiel die Normalkraft N im Stab gleich der ¨außeren Kraft F ist, wird aus (1.1) σ=
F . A
(1.2)
Im Falle einer positiven Normalkraft N (Zugstab) ist auch die Spannung σ positiv (Zugspannung); bei einer negativen Normalkraft (Druckstab) ist sie negativ (Druckspannung). Wir wollen nun den Schnitt durch einen Zugstab nicht senkrecht zur Stabachse f¨ uhren, sondern in einer nach Abb. 1.1d um den Winkel ϕ gedrehten Richtung. Die inneren Kr¨afte (Spannungen) wirken dann auf die Schnittfl¨ ache A∗ = A/ cos ϕ, wobei wir wieder annehmen, dass die Verteilung gleichf¨ ormig ist. Wir zerlegen die Spannungen in eine Komponente σ normal und eine Komponente τ tangential zur Schnittfl¨ ache (Abb. 1.1e). Die Normalkomponente σ ist die Normalspannung, die Tangentialkomponente τ heißt Schubspannung. Kr¨ aftegleichgewicht am linken Stabteil liefert →: ↑:
σA∗ cos ϕ + τ A∗ sin ϕ − F = 0 , σA∗ sin ϕ − τ A∗ cos ϕ = 0 .
Mit A∗ = A/ cos ϕ folgt daraus σ + τ tan ϕ =
F , A
σ tan ϕ − τ = 0 .
Wenn wir diese beiden Gleichungen nach σ und τ aufl¨osen, so erhalten wir zun¨ achst σ=
1 F , 2 1 + tan ϕ A
τ=
tan ϕ F . 1 + tan2 ϕ A
1.1
Spannung
9
Mit den trigonometrischen Umformungen 1 = cos2 ϕ , 1 + tan2 ϕ sin ϕ cos ϕ =
cos2 ϕ =
1 (1 + cos 2 ϕ) , 2
1 sin 2 ϕ 2
und der Abk¨ urzung σ0 = F/A (= Normalspannung in einem Schnitt senkrecht zur Stabachse) ergibt sich schließlich σ=
σ0 (1 + cos 2 ϕ) , 2
τ=
σ0 sin 2 ϕ . 2
(1.3)
Die Spannungen h¨angen somit von der Schnittrichtung ϕ ab. Bei Kenntnis von σ0 k¨onnen σ und τ f¨ ur beliebige Schnitte aus (1.3) berechnet werden. Der Gr¨ oßtwert der Normalspannung tritt bei ur ϕ = π/4 ϕ = 0 auf: σmax = σ0 . Die Schubspannung erreicht f¨ ihr Maximum τmax = σ0 /2. Bei einem Schnitt s − s in der N¨ ahe eines Stabendes, an dem eine Einzelkraft F angreift (Abb. 1.2a), ist die Normalspannung nicht gleichm¨ aßig u ache verteilt: es kommt dort ¨ber die Schnittfl¨ zu Spannungsspitzen“ (Abb. 1.2b). Die Erfahrung zeigt jedoch, ” dass eine solche Spannungs¨ uberh¨ ohung auf die unmittelbare Umgebung des Angriffspunkts der Einzelkraft beschr¨ankt ist und mit zunehmendem Abstand vom Stabende sehr schnell abklingt (Prinzip von de Saint-Venant, Adh´emar Jean Claude Barr´e de SaintVenant (1797–1886)).
F
F
Abb. 1.2
F
a
s
s
s
s
F
σ
b
c
σ
F
F
Die gleichf¨ ormige Spannungsverteilung wird auch bei gelochten, gekerbten oder abgesetzten Querschnitten (allgemein: bei starker Querschnitts¨ anderung) gest¨ ort. Weist der Stab z.B. Kerben auf,
10
1 Zug und Druck in St¨aben
so tritt im Restquerschnitt (Schnitt s − s ) ebenfalls eine Spannungs¨ uberh¨ ohung auf (Abb. 1.2c). Die Ermittlung solcher Spannungsverteilungen ist mit der elementaren Theorie f¨ ur den Zugstab nicht m¨ oglich. Wenn der Querschnitt des Stabes l¨ angs der Stabachse nur schwach ver¨ anderlich ist, kann die Normalspannung in guter N¨aherung weiterhin aus (1.1) berechnet werden. Dann sind allerdings die Querschnittsfl¨ ache A und somit auch die Spannung σ vom Ort abh¨ angig. Wirken zus¨ atzlich zu den Einzelkr¨ aften noch Volumenkr¨ afte in Richtung der Stabachse, so h¨ angt auch die Normalkraft N vom Ort ab. Mit einer in Richtung der Stabachse gez¨ahlten Koordinate x gilt dann bei ver¨ anderlichem Querschnitt: σ(x) =
N (x) . A(x)
(1.4)
Dabei wird auch hier angenommen, dass die Spannungsverteilung in einem beliebigen Querschnitt (fester Wert x) gleichf¨ormig ist. Bei statisch bestimmten Systemen kann man allein aus Gleichgewichtsbedingungen die Normalkraft N ermitteln. Wenn die Querschnittsfl¨ ache A gegeben ist, dann l¨ asst sich daraus nach (1.4) die Spannung σ bestimmen (statisch unbestimmte Systeme werden wir im Abschnitt 1.4 behandeln). In der Praxis ist es erforderlich, die Abmessungen von Bauteilen so zu w¨ ahlen, dass eine vorgegebene maximale Beanspruchung nicht u ¨ berschritten wird. Bei einem Stab bedeutet dies, dass der Betrag der Spannung σ nicht gr¨ oßer als eine zul¨assige Spannung σzul werden darf: |σ| ≤ σzul (bei manchen Werkstoffen sind die zul¨ assigen Spannungen f¨ ur Zug und Druck verschieden). Mit σ = N/A l¨ asst sich daraus bei gegebener Belastung N die erforderliche Querschnittsfl¨ ache Aerf =
|N | σzul
(1.5)
berechnen. Diese Aufgabe nennt man Dimensionierung. Wenn dagegen der Querschnitt A vorgegeben ist, so folgt aus |N | ≤ σzul A die zul¨ assige Belastung des Stabes.
1.1
Spannung
11
Es sei angemerkt, dass ein auf Druck beanspruchter schlanker Stab durch Knicken versagen kann, bevor die Spannung einen unzul¨ assig großen Wert annimmt. Mit der Untersuchung von Knickproblemen wollen wir uns erst im Kapitel 7 besch¨aftigen. Beispiel 1.1 Ein konischer Stab (L¨ ange l) mit kreisf¨ormigem Querschnitt (Endradien r0 bzw. 2 r0 ) wird nach Abb. 1.3a durch eine Druckkraft F in der Stabachse belastet. Wie groß ist die Normalspannung σ in einem beliebigen Querschnitt bei einem Schnitt senkrecht zur Stabachse? r0
2r0 F
F l
a
F
x
B1.1
r(x) F
b
Abb. 1.3
L¨ osung Wir f¨ uhren eine Koordinate x l¨ angs der Stabachse ein (Abb. 1.3b). Dann wird r0 x x = r0 1 + . r(x) = r0 + l l
Mit der Querschnittsfl¨ ache A(x) = π r2 (x) und der konstanten Normalkraft N = −F erhalten wir nach (1.4) f¨ ur die Normalspannung σ =
N = A(x)
−F . x 2 πr02 1 + l
Das Minuszeichen zeigt an, dass eine Druckspannung vorliegt. Ihr Betrag ist am linken Ende (x = 0) viermal so groß wie am rechten Ende (x = l). Beispiel 1.2 Ein Wasserturm mit Kreisringquerschnitt (H¨ ohe H,
Dichte ) tr¨ agt einen Beh¨ alter vom Gewicht G0 (Abb. 1.4a). Der Innenraum des Turms hat den konstanten Radius ri . Wie groß muss der Außenradius r gew¨ ahlt werden, damit bei Ber¨ ucksichtigung des Eigengewichts u ¨ berall die gleiche Druckspannung σ0 herrscht?
B1.2
12
1 Zug und Druck in St¨aben
G0
r(x) ri
ri
H r
1111111 0000000 0000000 1111111 a
x
A
dG σ0
dx σ0 A+dA
b
Abb. 1.4
L¨ osung Wir fassen den Wasserturm als Stab auf. Durch (1.4) ist
ein Zusammenhang zwischen Spannung, Normalkraft und Querschnittsfl¨ ache gegeben. Dabei ist hier die konstante Druckspannung σ = σ0 bekannt; die Normalkraft N (hier als Druckkraft positiv gez¨ ahlt) und die Querschnittsfl¨ ache A sind unbekannt. Eine zweite Gleichung erhalten wir aus dem Gleichgewicht. Wir z¨ ahlen die Koordinate x vom oberen Ende des Turms und betrachten ein Stabelement der L¨ ange dx (Abb. 1.4b). F¨ ur den Kreisringquerschnitt an der Stelle x gilt A = π(r2 − ri2 ) ,
(a)
wobei r = r(x) der gesuchte Außenradius ist. Die Normalkraft ist dort nach (1.4) durch N = σ0 A gegeben. An der Stelle x + dx haben die Querschnittsfl¨ ache bzw. die Normalkraft die Gr¨oßen A + dA bzw. N + dN = σ0 (A + dA). Das Gewicht des Elements betr¨ agt dG = g dV , wobei das Volumen des Elements durch dV = A dx (bei Vernachl¨assigung von Termen h¨ oherer Ordnung) gegeben ist. Damit liefert das Kr¨aftegleichgewicht in vertikaler Richtung ↑: σ0 (A + dA) − g dV − σ0 A = 0 → σ0 dA − g A dx = 0 . Durch Trennen der Variablen und Integration ergibt sich daraus gx g A gx dA = dx → ln = → A = A0 e σ0 . (b) A σ0 A0 σ0
1.2
Dehnung
13
Die Integrationskonstante A0 folgt aus der Bedingung, dass auch am oberen Ende des Turms (f¨ ur x = 0 ist N = G0 ) die Normalspannung gleich σ0 sein soll: G0 = σ0 A0
→
A0 =
G0 . σ0
(c)
Aus (a) bis (c) erh¨alt man dann f¨ ur den Außenradius r2 (x) = ri2 +
G0 σg x e 0 . π σ0
1.2
1.2 Dehnung Nach den Spannungen wollen wir nun die Verformungen eines elastischen Stabes untersuchen. Hierzu betrachten wir zun¨achst einen Stab mit konstanter Querschnittsfl¨ ache, der im unbelasteten Zustand die L¨ange l hat. Wenn an seinen Enden eine Zugkraft angreift, dann verl¨ angert er sich um Δl (Abb. 1.5). Es ist zweckm¨ aßig, neben der Verl¨ angerung Δl als Maß f¨ ur die Gr¨oße der Verformung außerdem das Verh¨ altnis von L¨ angen¨anderung zu Ausgangsl¨ ange einzuf¨ uhren: ε=
Δl . l
(1.6)
Die Gr¨ oße ε heißt Dehnung; sie ist dimensionslos. Wenn sich zum Beispiel ein Stab der L¨ ange l = 1 m um Δl = 0, 5 mm verl¨angert, dann ist ε = 0, 5 · 10−3 ; dies ist eine Dehnung von 0,05%. Bei einer Verl¨ angerung (Δl > 0) ist die Dehnung positiv, bei einer Verk¨ urzung (Δl < 0) negativ. Wir werden im folgenden nur kleine Deformationen, d.h. |Δl| l bzw. |ε| 1 betrachten. Die Definition (1.6) f¨ ur die Dehnung gilt nur dann, wenn ε u ¨ber die gesamte Stabl¨ ange konstant ist. Hat ein Stab eine ver¨anderliche Querschnittsfl¨ ache oder wirken Volumenkr¨ afte l¨angs der Stab-
l Abb. 1.5
F
Δl F
14
1 Zug und Druck in St¨aben
dx
x
undeformierter Stab
u+du u deformierter Stab
dx+(u+du)−u
Abb. 1.6
achse, so kann die Dehnung vom Ort abh¨ angen. Man gelangt dann zu einer Definition der ¨ ortlichen Dehnung, indem man statt des gesamten Stabes ein Stabelement betrachtet (Abb. 1.6). Das Element hat im unbelasteten Stab die L¨ ange dx. Seine linke Querschnittsfl¨ ache befindet sich an der Stelle x, seine rechte an der Stelle x + dx. Wenn wir den Stab deformieren, erfahren die Querschnitte Verschiebungen, die wir mit u bezeichnen. Sie h¨angen vom Ort x des Querschnitts ab: u = u(x). Verschiebt sich der linke Querschnitt des Stabelementes um u, dann verschiebt sich der rechte Querschnitt um u + du. Die L¨ ange des Elements betr¨agt im belasteten Stab dx+(u+du)−u = dx+du. Seine L¨angen¨anderung ist somit durch du gegeben. Das Verh¨ altnis der L¨angen¨anderung zur urspr¨ unglichen L¨ ange dx ist die ¨ ortliche Dehnung: ε(x) =
du . dx
(1.7)
Wenn die Verschiebung u(x) bekannt ist, dann kann die Dehnung ε(x) durch Differenzieren ermittelt werden. Ist dagegen ε(x) bekannt, so l¨ asst sich u(x) durch Integrieren bestimmen. Die Verschiebung u und die Dehnung ε beschreiben die Geometrie der Verformung. Man bezeichnet sie daher als kinematische Gr¨oßen; Gleichung (1.7) nennt man eine kinematische Beziehung. 1.3
1.3 Stoffgesetz Spannungen sind Kraftgr¨ oßen und ein Maß f¨ ur die Beanspruchung des Materials eines K¨ orpers. Dehnungen sind kinematische Gr¨ oßen und ein Maß f¨ ur die Verformung. Diese h¨angt allerdings
1.3
Stoffgesetz
15
von der auf den K¨orper wirkenden Belastung ab. Demnach sind die Kraftgr¨ oßen und die kinematischen Gr¨ oßen miteinander verkn¨ upft. Die physikalische Beziehung zwischen ihnen heißt Stoffgesetz. Das Stoffgesetz ist abh¨ angig vom Werkstoff, aus dem der K¨ orper besteht. Es kann nur mit Hilfe von Experimenten gewonnen werden. Ein wichtiges Experiment zur Ermittlung des Zusammenhangs zwischen Spannung und Dehnung ist der Zug- bzw. der Druckversuch. Dabei wird ein Probestab in einer Pr¨ ufmaschine gedehnt bzw. gestaucht. Die von der Maschine auf den Stab ausge¨ ubte Kraft F ruft im Stab die Normalspannung σ = F/A hervor. Gleichzeitig ¨ andert sich die Meßl¨ ange l des Stabes. Aus der gemessenen L¨ angen¨ anderung Δl kann die Dehnung ε = Δl/l berechnet werden. Der Zusammenhang zwischen σ und ε wird in einem SpannungsDehnungs-Diagramm dargestellt. Abbildung 1.7 zeigt schematisch (nicht maßst¨ ablich) die in einem Zugversuch gewonnene Kurve f¨ ur einen Probestab aus Stahl. Man erkennt, dass zun¨achst Spannung und Dehnung proportional anwachsen. Dieser lineare Zusammenhang gilt bis zur Proportionalit¨atsgrenze σP . Wenn man die Spannung weiter erh¨ oht, dann w¨ achst die Dehnung u ¨ berproportional. Bei Erreichen der Fließspannung (Streckgrenze) σF nimmt die Dehnung bei praktisch gleichbleibender Spannung zu: der Werkstoff beginnt zu fließen (es sei angemerkt, dass viele Werkstoffe keine ausgepr¨ agte Streckgrenze besitzen). Anschließend steigt die σw = F Aw
σ
σ= F A
σF
Entlastung
σP A F Abb. 1.7
εpl
l
F
ε
16
1 Zug und Druck in St¨aben
Kurve wieder an, d.h. der Werkstoff kann eine weitere Belastung aufnehmen. Diesen Bereich bezeichnet man als Verfestigungsbereich. Man kann experimentell feststellen, dass bei der Verl¨angerung eines Stabes die Querschnittsfl¨ ache A abnimmt. Diesen Vorgang nennt man Querkontraktion. Bei hohen Spannungen verringert sich der Querschnitt des Probestabes nicht mehr gleichm¨aßig u ¨ ber die gesamte L¨ ange, sondern er beginnt sich einzuschn¨ uren. Dort beschreibt die auf den Ausgangsquerschnitt A bezogene Spannung σ = F/A die wirkliche Beanspruchung nicht mehr richtig. Man f¨ uhrt daher zweckm¨ aßig die auf die wirkliche Querschnittsfl¨ache Aw bezogene Spannung σw = F/Aw ein. Sie ist die wirkliche Spannung im eingeschn¨ urten Bereich. Man nennt σw auch die physikalische Spannung, w¨ ahrend σ die nominelle (konventionelle) Spannung heißt. Abbildung 1.7 zeigt beide Spannungen bis zum Bruch des Stabes. Wenn man einen Probestab bis zu einer Spannung σ < σF belastet und anschließend vollst¨ andig entlastet, so nimmt er seine urspr¨ ungliche L¨ ange wieder an: die Dehnung geht auf den Wert Null zur¨ uck. Dabei fallen die Belastungs- und die Entlastungskurve zusammen. Dieses Materialverhalten nennt man elastisch. Entsprechend heißt der Bereich σ ≤ σP linear-elastisch. Wird der Stab dagegen vor der Entlastung u ¨ber σF hinaus belastet, so verl¨ auft die Entlastungslinie parallel zur Geraden im linearelastischen Bereich, vgl. Abb. 1.7. Bei v¨ olliger Entlastung geht die Dehnung dann nicht auf Null zur¨ uck, sondern es bleibt eine plastische Dehnung εpl erhalten. Dieses Stoffverhalten heißt plastisch. Wir wollen uns im folgenden immer auf linear-elastisches Materialverhalten beschr¨ anken und dies kurz elastisch nennen (d.h. elastisch“ bedeutet im weiteren immer linear-elastisch“). Dann ” ” gilt zwischen Spannung und Dehnung der lineare Zusammenhang σ = Eε.
(1.8)
1.3
Stoffgesetz
17
Der Proportionalit¨atsfaktor E heißt Elastizit¨atsmodul. Das Elastizit¨ atsgesetz (1.8) wird nach Robert Hooke (1635–1703) das Hookesche Gesetz genannt. Es sei angemerkt, dass Hooke das Gesetz noch nicht in der Form (1.8) angeben konnte, da der Spannungsbegriff erst 1822 von Augustin Louis Cauchy (1789–1857) eingef¨ uhrt wurde. Die Beziehung (1.8) gilt f¨ ur Zug und f¨ ur Druck (der Elastizit¨ atsmodul ist f¨ ur Zug und f¨ ur Druck gleich). Damit (1.8) g¨ ultig ist, muss die Spannung unterhalb der Proportionalit¨atsgrenze σP bleiben, die f¨ ur Zug bzw. f¨ ur Druck verschieden sein kann. Der Elastizit¨ atsmodul E ist eine Materialkonstante, die mit Hilfe des Zugversuchs bestimmt werden kann. Seine Dimension ist (wie die einer Spannung) Kraft/Fl¨ ache; er wird z.B. in der Einur heit N/mm2 angegeben. In der Tabelle 1.1 sind Werte von E f¨ einige Werkstoffe bei Raumtemperatur zusammengestellt (diese Zahlenwerte sind nur Richtwerte, da der Elastizit¨atsmodul von der Zusammensetzung des Werkstoffs und der Temperatur abh¨angt). Eine Zug- bzw. eine Druckkraft erzeugt in einem Stab nach (1.8) eine Dehnung ε = σ/E .
(1.9)
L¨ angen¨ anderungen und damit Dehnungen werden allerdings nicht nur durch Kr¨ afte, sondern auch durch Temperatur¨anderungen hervorgerufen. Experimente zeigen, dass bei gleichf¨ormiger Erw¨armung eines Stabes die W¨ armedehnung εT proportional zur Temperatur¨ anderung ΔT ist: εT = αT ΔT .
(1.10)
Der Proportionalit¨atsfaktor αT heißt thermischer Ausdehnungskoeffizient (W¨armeausdehnungskoeffizient). Er ist eine weitere Werkstoffkonstante und wird in der Einheit 1/◦ C angegeben. Einige Zahlenwerte sind in Tabelle 1.1 zusammengestellt. Falls die Temperatur¨ anderung nicht u ¨ ber die gesamte Stabl¨ange gleich ist, sondern vom Ort abh¨ angt, dann ergibt (1.10) die ¨ortliche Dehnung εT (x) = αT ΔT (x).
18
1 Zug und Druck in St¨aben
Tabelle 1.1 Werkstoffkennwerte
E in N/mm2
αT in 1/◦ C
Stahl
2,1·105
1,2·10−5
Aluminium
0,7·105
2,3·10−5
Beton
0,3·105
1,0·10−5
4
2,2 ... 3,1·10−5
Gusseisen
1,0·105
0,9·10−5
Kupfer
1,2·105
1,6·10−5
Messing
1,0·105
1,8·10−5
Material
Holz (in Faserrichtung)
0,7... 2,0·10
Wirkt sowohl eine Spannung σ als auch eine Temperatur¨ande¨ rung ΔT , so folgt die Gesamtdehnung ε durch Uberlagerung (Superposition) von (1.9) und (1.10) zu ε=
σ + αT ΔT . E
(1.11)
Diese Beziehung kann auch in der Form σ = E(ε − αT ΔT )
(1.12)
geschrieben werden. 1.4
1.4 Einzelstab Zur Ermittlung der Spannungen und der Verformungen eines Stabes stehen drei verschiedene Arten von Gleichungen zur Verf¨ ugung: die Gleichgewichtsbedingung, die kinematische Beziehung und das Elastizit¨ atsgesetz. Die Gleichgewichtsbedingung wird je nach Problemstellung am ganzen Stab, an einem Teilstab (vgl. Abschnitt 1.1) oder an einem Stabelement formuliert. Wir wollen sie nun f¨ ur ein Element angeben. Dazu betrachten wir einen Stab, der durch Einzelkr¨ afte an den Stabenden und durch Linienkr¨afte n = n(x) in Richtung der Stabachse belastet ist (Abb. 1.8a). Aus dem Stab,
1.4
Einzelstab
19
n dx n(x)
F1
x dx
a
l
F2
N +dN
N b
x
dx
x+dx
Abb. 1.8
der sich im Gleichgewicht befinden soll, denken wir uns ein Element nach Abb. 1.8b herausgeschnitten. An der Schnittstelle x wirkt die Normalkraft N , an der Stelle x + dx die Normalkraft N + dN . Aus dem Kr¨ aftegleichgewicht in Richtung der Stabachse →:
N + dN + n dx − N = 0
folgt die Gleichgewichtsbedingung dN +n = 0. dx
(1.13)
Verschwindet die Linienkraft (n ≡ 0), so ist demnach die Normalkraft konstant. Die kinematische Beziehung f¨ ur den Stab lautet nach (1.7) ε=
du , dx
w¨ ahrend das Elastizit¨atsgesetz durch (1.11) gegeben ist: ε=
σ + αT ΔT . E
Wenn man in das Elastizit¨ atsgesetz die kinematische Beziehung und σ = N/A einsetzt, so erh¨ alt man N du = + αT ΔT . dx EA
(1.14)
Da diese Gleichung die Stabverschiebung u mit der Schnittkraft N verbindet, nennt man sie das Elastizit¨atsgesetz f¨ ur den Stab. Das Produkt EA aus Elastizit¨ atsmodul und Querschnittsfl¨ache wird als Dehnsteifigkeit bezeichnet. Die Gleichungen (1.13) und (1.14)
20
1 Zug und Druck in St¨aben
sind die Grundgleichungen f¨ ur den elastisch deformierbaren Stab. Die Verschiebung u eines Stabquerschnitts erh¨alt man durch Integration der Dehnung:
du ε= dx
→
du =
x ε dx
→
u(x) − u(0) =
ε d¯ x. 0
Die Stabverl¨ angerung Δl folgt aus der Differenz der Verschiebungen an den Stabenden x = l und x = 0 zu l Δl = u(l) − u(0) =
ε dx .
(1.15)
0
Mit ε = du/dx und (1.14) erh¨ alt man daraus l Δl =
N + αT ΔT EA
dx .
(1.16)
0
Im Sonderfall eines Stabes mit konstanter Dehnsteifigkeit, der nur durch eine Einzelkraft F belastet wird (n ≡ 0, N = F ) und der eine gleichf¨ ormige Temperatur¨ anderung erf¨ ahrt (ΔT = const), ergibt sich die L¨ angen¨ anderung zu Δl =
Fl + αT ΔT l . EA
(1.17)
F¨ ur ΔT = 0 folgt Δl =
Fl , EA
(1.18)
und f¨ ur F = 0 gilt Δl = αT ΔT l .
(1.19)
Bei der Behandlung von konkreten Aufgaben muss man zwischen statisch bestimmten und statisch unbestimmten Problemen
1.4
Einzelstab
21
unterscheiden. Bei statisch bestimmten Problemen kann man immer mit Hilfe der Gleichgewichtsbedingung aus der ¨außeren Belastung die Normalkraft N (x) bestimmen. Mit σ = N/A und dem Elastizit¨ atsgesetz ε = σ/E folgt daraus die Dehnung ε(x). Integration liefert dann die Verschiebung u(x) und die Stabverl¨angerung Δl. Eine Temperatur¨ anderung verursacht bei statisch bestimmten Problemen nur W¨armedehnungen (keine zus¨atzlichen Spannungen). Bei statisch unbestimmten Problemen kann die Normalkraft dagegen nicht mehr allein aus der Gleichgewichtsbedingung bestimmt werden. Daher m¨ ussen zur L¨ osung der Aufgabe alle Gleichungen (Gleichgewicht, Kinematik, Elastizit¨ atsgesetz) gleichzeitig betrachtet werden. Eine Temperatur¨ anderung kann hier zus¨atzliche Spannungen verursachen; diese werden W¨armespannungen genannt. Wir wollen abschließend die Grundgleichungen f¨ ur den elastischen Stab zu einer einzigen Gleichung f¨ ur die Verschiebung u zusammenfassen. Dazu l¨ osen wir (1.14) nach N auf und setzen in (1.13) ein: (EA u ) = − n + (EA αT ΔT ) .
(1.20a)
Dabei sind Ableitungen nach x durch Striche gekennzeichnet. Die Differentialgleichung (1.20a) vereinfacht sich f¨ ur EA = const und ΔT = const zu EA u = − n .
(1.20b)
Wenn die Verl¨ aufe von EA, n und ΔT gegeben sind, kann die Verschiebung eines beliebigen Stabquerschnitts durch Integration von (1.20) ermittelt werden. Die dabei auftretenden Integrationskonstanten werden aus den Randbedingungen bestimmt. Ist zum Beispiel das eine Ende eines Stabes unverschieblich gelagert, so gilt dort u = 0. Wenn dagegen ein Ende des Stabes verschieblich ist und dort eine Kraft F0 angreift, dann lautet nach (1.14) mit N = F0 die Randbedingung u = F0 /EA + αT ΔT . Am unbelasteten Ende (F0 = 0) eines Stabes, der nicht erw¨ armt wird (ΔT = 0), folgt daraus u = 0.
22
1 Zug und Druck in St¨aben
Wenn eine der in (1.20) auftretenden Gr¨ oßen u ¨ber die Stabl¨ange nicht stetig ist (z.B. Sprung im Querschnitt A), so muss man den Stab in Bereiche einteilen. Die Differentialgleichung (1.20) ist dann f¨ ur jeden Teilbereich zu l¨ osen; die Integrationskonstanten ¨ k¨ onnen in diesem Fall aus Rand- und aus Ubergangsbedingungen bestimmt werden.
111 000
N (x)
x l
G G∗= l−x G l
a
b
Abb. 1.9
Als Anwendungsbeispiel f¨ ur ein statisch bestimmtes System betrachten wir einen h¨ angenden Stab konstanter Querschnittsfl¨ache A unter der Wirkung seines Eigengewichts (Abb. 1.9a). Wir bestimmen zun¨ achst die Normalkraft im Stab. Dazu denken wir uns an der Stelle x einen Schnitt gelegt (Abb. 1.9b). Die Normalkraft N ist gleich dem Gewicht G∗ des Stabteils unterhalb der Schnittstelle. Dieses l¨ asst sich durch das Gesamtgewicht G ausdr¨ ucken: ∗ G (x) = G(l − x)/l. Aus (1.4) folgt damit N (x) G x σ(x) = = 1− . A A l Die Spannung ist demnach linear u ange des Stabes ver¨ ber die L¨ teilt und nimmt vom Wert σ(0) = G/A am oberen Ende auf den Wert σ(l) = 0 am unteren Ende ab. Aus (1.16) erhalten wir die Verl¨ angerung des Stabes: l Δl = 0
G N dx = EA EA
l 0
1−
x 1 Gl dx = . l 2 EA
1.4
Einzelstab
23
Sie ist halb so groß wie die Verl¨ angerung eines gewichtslosen Stabes, der an seinem Ende durch eine Kraft G belastet wird. Wir k¨ onnen die Aufgabe auch durch Integration der Differentialgleichung (1.20b) f¨ ur die Stabverschiebung l¨ osen. Mit der konstanten Streckenlast n = G/l folgt EA u = −
G , l
EA u = −
G x + C1 , l
EA u = −
G 2 x + C1 x + C2 . 2l
Die Integrationskonstanten C1 und C2 werden aus den Randbedingungen bestimmt. Am oberen Ende des Stabes verschwindet die Verschiebung: u(0) = 0. F¨ ur den spannungsfreien Querschnitt am unteren Ende gilt u (l) = 0. Daraus folgen C2 = 0 und C1 = G. Die Verschiebung und die Normalkraft sind damit bekannt: x 1 Gl x x2 . u(x) = 2 − 2 , N (x) = EA u (x) = G 1 − 2 EA l l l Die Verl¨ angerung des Stabes ist wegen u(0) = 0 gleich der Verschiebung des unteren Stabendes: Δl = u(l) =
1 Gl . 2 EA
Die Spannung erh¨ alt man zu N (x) G x σ(x) = = 1− . A A l Als Anwendungsbeispiel f¨ ur ein statisch unbestimmtes System betrachten wir einen abgesetzten Stab (Querschnittsfl¨achen A1 bzw. A2 ), der ohne Vorspannung zwischen zwei starren W¨anden gelagert ist (Abb. 1.10a). Gesucht sind die Lagerreaktionen, wenn der Stab im Bereich gleichf¨ ormig um ΔT erw¨armt wird. Es treten zwei Lagerkr¨ afte auf (Abb. 1.10b). Zu ihrer Ermittlung steht nur eine Gleichgewichtsbedingung zur Verf¨ ugung: →:
B −C = 0.
24
1 Zug und Druck in St¨aben
B a
B
1 0 0 1
1 0 0 1 0 1
ΔT
1
2
11 00 00 11
C
ΔT l
l
c
1 0 0= 0 1 0 1 1 0 1 C
C
B b
"0"− System
+
ΔT
1 0 0 1 0 1
"1"− System
X Abb. 1.10
Daher mu ¨ ssen wir die Verformungen in die Rechnung einbeziehen. F¨ ur die L¨ angen¨ anderungen in den beiden Teilbereichen und gilt nach (1.16) mit der konstanten Normalkraft N = −B = −C: Δl1 =
Nl + αT ΔT l , EA1
Δl2 =
Nl EA2
(der Stab wird im Bereich nicht erw¨ armt). Der Stab ist zwischen starren W¨ anden eingespannt. Daher muss seine gesamte L¨ angen¨ anderung Δl Null sein. Dies liefert die geometrische Bedingung Δl = Δl1 + Δl2 = 0 . Eine solche Bedingung wird auch Vertr¨aglichkeitsbedingung (Kompatibilit¨atsbedingung) genannt. Einsetzen ergibt Nl EA1 A2 αT ΔT Nl + αT ΔT l + = 0 → B = C = −N = . EA1 EA2 A1 + A2 Wir k¨ onnen die Aufgabe auch auf folgende Weise l¨osen. In einem ersten Schritt erzeugen wir aus dem gegebenen, statisch unbestimmten System ein statisch bestimmtes System. Dies geschieht dadurch, dass wir eines der Lager, z.B. das Lager C, entfernen. Die Wirkung des Lagers auf den Stab ersetzen wir durch die noch unbekannte Lagerkraft C = X. Die Gr¨ oße X wird statisch Unbestimmte genannt. Nun werden zwei verschiedene Belastungsf¨alle betrachtet. Der Stab unter der gegebenen Belastung (Temperaturerh¨ohung im Bereich ) heißt “0“-System (Abb. 1.10c). Durch die Temperaturanderung verl¨ angert sich im “0“-System der Stab im Bereich ¨
1.4
Einzelstab
25
(0)
um Δl1 (reine W¨armedehnung, Normalkraft N = 0), w¨ahrend (0) er im Bereich seine L¨ ange beibeh¨ alt. Die Verschiebung uC des rechten Endpunktes des Stabes ist daher durch (0)
(0)
uC = Δl1 = αT ΔT l gegeben. Im zweiten Lastfall wirkt auf den Stab nur die statisch Unbestimmte X. Dieses System nennt man “1“-System. F¨ ur die Verschiebung des rechten Endpunktes im “1“-System gilt (1)
(1)
(1)
uC = Δl1 + Δl2 = −
Xl Xl − . EA1 EA2
Im urspr¨ unglichen System wirken sowohl die gegebene Belastung als auch die Kraft X. Wir m¨ ussen daher die beiden Lastf¨alle u berlagern (Superposition). Die gesamte Verschiebung an der Stel¨ le C folgt damit zu (0)
(1)
uC = uC + uC . Da aber die starre Wand im wirklichen System bei C keine Verschiebung erlaubt, muss die geometrische Bedingung uC = 0 erf¨ ullt sein. Aus ihr folgt durch Einsetzen die statisch Unbestimmte: αT ΔT l −
Xl Xl − =0 EA1 EA2
→
X=C=
EA1 A2 αT ΔT . A1 + A2
Gleichgewicht (vgl. Abb. 1.10b) liefert schließlich die zweite Lagerreaktion B = C. Beispiel 1.3 In einem Hohlzylinder aus Kupfer (Querschnittsfl¨ ache
atsmodul ECu ) befindet sich ein Vollzylinder gleiACu , Elastizit¨ cher L¨ ange aus Stahl (Querschnittsfl¨ ache ASt , Elastizit¨atsmodul ESt ). Beide Zylinder werden durch die Kraft F u ¨ ber eine starre Platte gestaucht (Abb. 1.11a).
B1.3
26
1 Zug und Druck in St¨aben
Wie groß sind die Spannungen in den Zylindern? Wie groß ist die Zusammendr¨ uckung? F
FCu
F
FSt
FSt St Cu
FCu
l
1111 0000 a
1111 111 0000 000 0000 111 1111 000 b
Abb. 1.11
L¨ osung Wir bezeichnen die Druckkr¨ afte auf den Kupfer- bzw. auf den Stahlzylinder mit FCu bzw. FSt (Abb. 1.11b). Dann liefert das Kr¨ aftegleichgewicht an der Platte
FCu + FSt = F .
(a)
Hieraus k¨ onnen die beiden unbekannten Kr¨afte nicht ermittelt werden: das System ist statisch unbestimmt. Eine zweite Gleichung erhalten wir, wenn wir die Verformung des Systems ber¨ ucksichtigen. Die Verk¨ urzungen der Zylinder (hier positiv gez¨ahlt) sind nach (1.18) durch ΔlCu =
FCu l , EACu
ΔlSt =
FSt l EASt
(b)
gegeben. Dabei ist f¨ ur ECu ACu kurz EACu (= Dehnsteifigkeit des Kupferzylinders) gesetzt worden. Analog ist EASt die Dehnsteifigkeit des Stahlzylinders. Da die Platte starr ist, lautet die geometrische Bedingung cΔlCu = ΔlSt .
(c)
Au߬ osen von (a) bis (c) ergibt FCu =
EACu F, EACu + EASt
FSt =
EASt F. EACu + EASt
(d)
Daraus folgen nach (1.2) die Druckspannungen in den Zylindern:
1.4
σCu =
ECu F, EACu + EASt
σSt =
Einzelstab
27
ESt F. EACu + EASt
Durch Einsetzen von (d) in (b) erhalten wir schließlich die Zusammendr¨ uckung ΔlCu = ΔlSt =
Fl . EACu + EASt
¨ Beispiel 1.4 Uber einen Stahlbolzen , der ein Gewinde mit der Gangh¨ ohe h tr¨ agt, wird eine Kupferh¨ ulse der L¨ange l geschoben und durch eine Schraubenmutter ohne Vorspannung fixiert (Abb. 1.12a). Anschließend wird die Mutter um n Umdrehungen angezogen, und das System wird um ΔT erw¨ armt. Gegeben sind die Dehnsteifigkeiten und die W¨ armeausdehnungskoeffizienten f¨ ur den Bolzen und f¨ ur die H¨ ulse. Wie groß ist die Kraft im Bolzen? X nh 2
1
l
2
l−nh
X 1
X
Abb. 1.12
a
X
b
L¨ osung Wenn die Mutter angezogen wird, u ¨ bt sie eine Druckkraft
X auf die H¨ ulse aus, die sich dadurch verk¨ urzt. Die zugeh¨orige Gegenkraft wirkt u ¨ ber die Mutter auf den Bolzen und verl¨angert ihn. Wir legen diese Kr¨ afte durch Trennen von Bolzen und H¨ ulse frei (Abb. 1.12b). Die Kraft X kann aus Gleichgewichtsbedingungen allein nicht bestimmt werden. Das Problem ist daher statisch unbestimmt, und wir m¨ ussen die Verformungen ber¨ ucksichtigen. Die L¨ange des Bolzens im getrennten Zustand nach Anziehen der Mutter ist
B1.4
28
1 Zug und Druck in St¨aben
durch l1 = l − n h gegeben (Abb. 1.12b). F¨ ur seine Verl¨angerung erhalten wir daher bei einer Ber¨ ucksichtigung der W¨armedehnung Δl1 =
X(l − n h) + αT 1 ΔT (l − n h) EA1
bzw. (wegen n h l) Δl1 =
Xl + αT 1 ΔT l . EA1
Die L¨ angen¨ anderung der H¨ ulse betr¨ agt mit l2 = l Δl2 = −
Xl + αT 2 ΔT l . EA2
Da die L¨ angen von Bolzen und H¨ ulse nach der Verformung u ¨ bereinstimmen m¨ ussen, gilt die geometrische Bedingung l1 + Δl1 = l2 + Δl2
→
Δl1 − Δl2 = l2 − l1 = n h .
Einsetzen liefert die gesuchte Kraft: l l + X + (αT 1 − αT 2 )ΔT l = n h EA1 EA2 →
1.5
X=
n h − (αT 1 − αT 2 )ΔT l . 1 1 + l EA1 EA2
1.5 Statisch bestimmte Stabsysteme Die Methoden zur Ermittlung von Spannungen und Verformungen beim Einzelstab k¨ onnen auf die Untersuchung von Stabsystemen u anken uns in diesem Abschnitt ¨bertragen werden. Wir beschr¨ auf statisch bestimmte Systeme. Bei ihnen k¨ onnen zun¨achst aus den Gleichgewichtsbedingungen die Stabkr¨ afte ermittelt werden. Anschließend lassen sich die Spannungen in den St¨aben und die L¨ angen¨ anderungen bestimmen. Aus den L¨ angen¨anderungen folgen dann die Verschiebungen einzelner Knoten des Systems. Da
1.5
Statisch bestimmte Stabsysteme
29
wir voraussetzen, dass die L¨ angen¨ anderungen der St¨abe klein im Vergleich zu ihren L¨ angen sind, d¨ urfen wir die Gleichgewichtsbedingungen am unverformten System aufstellen. Wie man dabei vorgeht, sei am Beispiel des Stabzweischlags nach Abb. 1.13a dargestellt. Beide St¨ abe haben die gleiche Dehnsteifigkeit EA. Gesucht ist die Verschiebung des Knotens C, wenn dort eine vertikale Kraft F angreift. Wir bestimmen zun¨achst die Stabkr¨ afte S1 und S2 . Sie folgen aus den Gleichgewichtsbedingungen (Abb. 1.13b) ↑:
S2 sin α − F = 0
←:
S1 + S2 cos α = 0
→
S1 = −
F , tan α
S2 =
F . sin α
Nach (1.17) sind dann die L¨ angen¨ anderungen der St¨abe durch Δl1 =
Fl 1 S1 l 1 =− , EA EA tan α
Δl2 =
Fl 1 S2 l 2 = EA EA sin α cos α
gegeben. Der Stab 1 wird k¨ urzer (Druckstab), der Stab 2 verl¨angert sich (Zugstab). Die neue Lage C des Knotens C ergibt sich ¨ durch folgende Uberlegung: durch gedankliches L¨osen der Ver-
11 00 00 11 00 11 00 11 00 11 00 11
B
A
2
S2 α
α
C
1
F
F
b
l
a
C
S1 2 α
Δl1 C
1
2
α
C 1
Δl1
Δl2
v Abb. 1.13
c
C
d
C
u
Δl2
30
1 Zug und Druck in St¨aben
bindung in C machen wir das System beweglich. Dann k¨onnen sich die St¨ abe 1 bzw. 2 um die Punkte A bzw. B drehen. Die Endpunkte der St¨ abe bewegen sich dabei auf Kreisbogen, deren Radien die L¨ angen l1 + Δl1 bzw. l2 + Δl2 haben. Der Punkt C liegt im Schnittpunkt dieser Kreisbogen (Abb. 1.13c). Die L¨ angen¨ anderungen der St¨ abe sind sehr klein im Vergleich zu den Stabl¨ angen. Daher kann man mit guter N¨aherung die Kreisbogen durch ihre Tangenten ersetzen. Dies f¨ uhrt auf den Verschiebungsplan nach Abb. 1.13d. Bei maßst¨ ablicher Zeichnung des Verschiebungsplans kann die Verschiebung des Knotens C abgelesen werden. Wenn wir die Aufgabe grafoanalytisch l¨osen wollen, so gen¨ ugt eine Skizze. Aus ihr erhalten wir f¨ ur die Horizontalverschiebung u und die Vertikalverschiebung v: u = |Δl1 | =
Fl 1 , EA tan α
Δl2 u F l 1 + cos3 α v= + = . sin α tan α EA sin2 α cos α
(1.21)
Die Ermittlung der Verschiebungen von Knoten eines Fachwerks aus den L¨ angen¨ anderungen der einzelnen St¨abe ist im allgemeinen aufwendig und nur bei Fachwerken mit einer geringen Anzahl von St¨ aben zu empfehlen. Bei Fachwerken mit vielen St¨aben ist die Anwendung von Energiemethoden vorteilhafter (vgl. Kapitel 6). Wenn die St¨ abe nicht zu einem Fachwerk verbunden, sondern an starren K¨ orpern angeschlossen sind, dann kann man durch sinngem¨ aßes Vorgehen die Verschiebungen einzelner Punkte des Systems ermitteln. B1.5
Beispiel 1.5 Ein starrer Balken (Gewicht G) wird auf drei elasti-
schen St¨ aben gleicher Dehnsteifigkeit EA gelagert (Abb. 1.14a). Welchen Neigungswinkel hat der Balken nach der Montage? L¨ osung Wir berechnen zuerst die Stabkr¨ afte aus den Gleichge-
wichtsbedingungen (Abb. 1.14b): G G , S3 = − . S1 = S2 = − 4 cos α 2
1.5
a
a G
Statisch bestimmte Stabsysteme
a
G
1
2
B
A S1
αα
3
31
αα
S2 S3
b
EA a
A
B
A Δl1 α
c
1
vA A
Δl2
vA β 2
vB
a
d
Abb. 1.14
Mit l1 = l2 = l/ cos α und l3 = l folgen daraus die L¨angen¨anderungen der St¨ abe: Δl1 = Δl2 =
Gl S1 l 1 =− , EA 4EA cos2 α
Δl3 =
Gl S3 l 3 =− . EA 2 EA
Der Punkt B des Balkens senkt sich um den Wert vB = |Δl3 | ab. Zur Ermittlung der Absenkung vA des Punktes A skizzieren wir einen Verschiebungsplan (Abb. 1.14c). Hierzu tragen wir die Stabverk¨ urzungen Δl1 bzw. Δl2 in Richtung des jeweiligen Stabes auf und errichten die Lote. Deren Schnittpunkt liefert die neue Lage A des Punktes A. Seine Absenkung ist demnach durch vA = |Δl1 |/ cos α gegeben. Da vA und vB verschieden sind, ist der Balken nach der Montage geneigt. Der Neigungswinkel β ergibt sich nach Abb. 1.14d und wegen tan β ≈ β (kleine Deformationen) sowie mit l = a cot α zu β=
2 cos3 α − 1 G cot α vB − vA = . a 4 cos3 α EA
Wenn cos3 α > 12 (bzw. < 12 ) ist, dann ist der Balken nach rechts (links) geneigt. Im Sonderfall cos3 α = 12 , d.h. α = 37, 5◦, bleibt er nach der Montage waagerecht.
32
B1.6
1 Zug und Druck in St¨aben
Beispiel 1.6 Ein Fachwerk, das aus drei Stahlst¨ aben (E = 2 · 105 N/mm2 ) besteht, wird durch die Kraft F = 20 kN belastet (Abb. 1.15a). Wie groß m¨ ussen die Querschnittsfl¨ achen der St¨abe mindestens 2 sein, wenn die Spannungen nicht gr¨ oßer als σzul = 150 N/mm und die Verschiebung des Lagers B kleiner als 0,5 ‰ der L¨ange des Stabes 3 sein sollen? F
F C
C 1
l
S1
2 3
A
45◦ 45◦
S2 = S1
S2 45◦
B
S3 l
a
l
B
b
Abb. 1.15
L¨ osung Wir berechnen zuerst die Stabkr¨ afte. Aus den Gleichgewichtsbedingungen am Knoten C und am Lager B (Abb. 1.15b) erhalten wir (Symmetrie beachten) √ 2 F F, S3 = . S1 = S2 = − 2 2
Damit die zul¨ assige Spannung nicht u ¨ berschritten wird, muss gelten: |σ1 | =
|S1 | ≤ σzul , A1
|σ2 | =
|S2 | ≤ σzul , A2
σ3 =
S3 ≤ σzul . A3
Daraus folgt f¨ ur die mindestens erforderlichen Querschnittsfl¨achen A1 = A2 =
|S1 | = 94, 3 mm2 , σzul
A3 =
S3 = 66, 7 mm2 . σzul
(a)
Es ist außerdem die Bedingung zu erf¨ ullen, dass die Verschiebung des Lagers B kleiner als 0,5 ‰ der L¨ange des Stabes 3 sein soll. Diese Verschiebung ist gleich der Verl¨angerung Δl3 = S3 l3 /EA3 des Stabes 3 (das Lager A verschiebt sich nicht!). Aus Δl3 < 0, 5 · 10−3 l3 folgt damit
1.6
Statisch unbestimmte Stabsysteme
33
Δl3 S3 2 S3 3 F 10 = 103 = 100m . = < 0, 5 · 10−3 → A3 > l3 EA3 E E Durch Vergleich mit (a) erkennt man, dass A3 = 100 mm2 die erforderliche Querschnittsfl¨ ache ist.
1.6
1.6 Statisch unbestimmte Stabsysteme Bei statisch unbestimmten Stabsystemen k¨ onnen die Stabkr¨afte nicht aus den Gleichgewichtsbedingungen allein ermittelt werden, da diese weniger Gleichungen liefern als Unbekannte vorhanden sind. Wir m¨ ussen dann zur L¨ osung von Aufgaben alle Grundgleichungen gemeinsam betrachten: die Gleichgewichtsbedingungen, das Elastizit¨ atsgesetz und die Geometrie der Verformung (Kompatibilit¨ at). Als Anwendungsbeispiel betrachten wir das aus drei St¨aben bestehende, symmetrische Stabsystem nach Abb. 1.16a (Dehnsteifigkeiten EA1 , EA2 , EA3 = EA1 ). Das System ist einfach statisch unbestimmt (man kann eine Kraft in der Ebene nicht eindeutig nach drei Richtungen zerlegen, vgl. Band 1). Die zwei Gleichgewichtsbedingungen am Knoten K liefern (Abb. 1.16b) →:
→
− S1 sin α + S3 sin α = 0
S1 = S3 ,
↑: S1 cos α + S2 + S3 cos α − F = 0 → S1 = S3 =
F − S2 . 2 cos α
(a)
Die Stabverl¨ angerungen sind durch Δl1 = Δl3 =
S1 l 1 , EA1
Δl2 =
S2 l EA2
(b)
gegeben. Zum Aufstellen der Vertr¨ aglichkeitsbedingung zeichnen wir einen Verschiebungsplan (Abb. 1.16c). Aus ihm lesen wir ab: Δl1 = Δl2 cos α . Mit (a), (b) und l1 = l/ cos α folgt aus (c)
(c)
34
1 Zug und Druck in St¨aben
1111111 0000000 1
2 α α
3
S2 S1
l
1
3
K
K Δl3 α
F
K F
a
S3 = S1
α α
c
b
Δl1
K Δl2
111111 11111 000000 00000 00 000000 11 000000 111111 00000 111111 11111 00 11 "1"− System
"0"− System
1
2
3
F
d
+
=
F
X
X Abb. 1.16
S2 l (F − S2 ) l cos α . = 2 EA1 cos2 α EA2 Aufl¨ osen liefert S2 =
F . EA1 1+2 cos3 α EA2
Die beiden anderen Stabkr¨ afte erhalten wir dann aus (a) zu EA1 cos2 α EA2 F. S1 = S3 = EA1 1+2 cos3 α EA2 Damit liegen auch die Verl¨ angerungen der St¨ abe fest. Daraus ergibt sich f¨ ur die Vertikalverschiebung v des Kraftangriffspunktes S2 l v = Δl2 = = EA2
Fl EA2 . EA1 1+2 cos3 α EA2
1.6
Statisch unbestimmte Stabsysteme
35
Die Aufgabe kann auch mit der Methode der Superposition gel¨ ost werden. Durch Entfernen des Stabes 2 erhalten wir einen (statisch bestimmten) Stabzweischlag (Abb. 1.16d). Die Belastung in diesem “0“-System besteht aus der gegebenen Kraft F . (0) (0) aben 1 und 3 folgen aus den Die Kr¨ afte S1 und S3 in den St¨ Gleichgewichtsbedingungen zu (0)
S1
(0)
= S3
=
F . 2 cos α
angerungen Mit l1 = l/ cos α lauten dann die Stabverl¨ (0)
(0)
S1 l 1 Fl . = EA1 2 EA1 cos2 α
(0)
Δl1 = Δl3 =
(d)
Im “1“-System wirkt die statisch Unbestimmte X auf den Stabzweischlag und entgegengesetzt auf den Stab 2 (actio=reactio). Wir erhalten (1)
S1
(1)
= S3
(1)
(1)
Δl1 = Δl3
X (1) , S2 = X , 2 cos α Xl Xl (1) , Δl2 = =− . 2 EA1 cos2 α EA2
=−
(e)
Die gesamte Verl¨ angerung der St¨ abe ergibt sich durch Superposition der beiden Lastf¨ alle: (0)
(1)
Δl1 = Δl3 = Δl1 + Δl1 ,
(1)
Δl2 = Δl2 .
(f)
Die Vertr¨ aglichkeitsbedingung (c) wird auch hier aus dem Verschiebungsplan (Abb. 1.16c) abgelesen. Aus ihr folgt mit (d) bis (1) (f) die unbekannte Stabkraft X = S2 = S2 : Xl Xl Fl cos α − = 2 2 2 EA1 cos α 2 EA1 cos α EA2 → X = S2 =
F . EA1 1+2 cos3 α EA2
¨ der Die Stabkr¨ afte S1 und S3 erhalten wir durch Uberlagerung beiden Lastf¨ alle zu
36
1 Zug und Druck in St¨aben
(0)
EA1 cos2 α EA2 F. = EA1 1+2 cos3 α EA2
(1)
S1 = S3 = S1 + S1
Ein Stabsystem heißt n-fach statisch unbestimmt, wenn die Zahl der Unbekannten um n gr¨ oßer ist als die Zahl der Gleichgewichtsbedingungen. Zur Berechnung der Stabkr¨afte werden daher bei einem n-fach unbestimmten System zus¨atzlich zu den Gleichgewichtsbedingungen noch n Vertr¨ aglichkeitsbedingungen ben¨ otigt. Aufl¨ osen aller Gleichungen liefert dann die Stabkr¨afte. Man kann ein n-fach statisch unbestimmtes System auch dadurch behandeln, dass man es durch Entfernen von n St¨aben auf ein statisch bestimmtes System zur¨ uckf¨ uhrt (die Wirkung dieser St¨ abe wird durch die statisch Unbestimmten Si = Xi ersetzt). Man betrachtet n + 1 Lastf¨ alle: im “0“-System wirkt nur die gegebene Belastung, im “i“-System (i = 1, 2, ..., n) jeweils nur die staur jeden (statisch bestimmten) tisch Unbestimmte Xi . Wenn man f¨ Lastfall mit Hilfe des Elastizit¨ atsgesetzes die L¨angen¨anderungen der St¨ abe ermittelt und in die Vertr¨ aglichkeitsbedingungen einsetzt, erh¨ alt man n Gleichungen f¨ ur die n unbekannten Stabkr¨afte afte k¨ onnen anschließend durch SuperpoXi . Die u ¨brigen Stabkr¨ sition der Lastf¨ alle berechnet werden. B1.7
Beispiel 1.7 Ein starrer, gewichtsloser Balken h¨ angt an drei verti-
kalen St¨ aben gleicher Dehnsteifigkeit (Abb. 1.17a). Wie groß sind die Stabkr¨ afte, wenn a) die Kraft F wirkt (ΔT = 0), b) der Stab 1 um ΔT erw¨ armt wird (F = 0)?
111111111 000000000 1
ΔT
a
F
a/2 a/2
2
3
l
S1 F
S2
S3 Δl1
A a
b
Δl2
Δl3
c
Abb. 1.17
1.6
Statisch unbestimmte Stabsysteme
37
L¨ osung Das System ist einfach statisch unbestimmt; f¨ ur die drei
Stabkr¨ afte Sj (Abb. 1.17b) stehen nur zwei unabh¨angige Gleichgewichtsbedingungen zur Verf¨ ugung. Im Fall a) lauten sie ↑ :
S1 + S2 + S3 − F = 0 ,
−
A:
(a)
a F + a S2 + 2 a S3 = 0 . 2
Die L¨ angen¨ anderungen der St¨ abe lauten f¨ ur ΔT = 0: Δl1 =
S1 l , EA
Δl2 =
S2 l , EA
Δl3 =
S3 l . EA
(b)
Aus einem Verschiebungsplan (Abb. 1.17c) lesen wir als geometrische Bedingung ab (Strahlensatz): Δl2 =
Δl1 + Δl3 . 2
(c)
Damit stehen sechs Gleichungen f¨ ur die drei Stabkr¨afte und die drei Stabverl¨ angerungen zur Verf¨ ugung. Aufl¨ osen liefert S1 =
7 F, 12
S2 =
1 F, 3
S3 =
1 F. 12
Im Fall b) lauten die Gleichgewichtsbedingungen ↑ : S1 + S2 + S3 = 0 ,
(a )
A : aS2 + 2aS3 = 0 ,
und die L¨ angen¨ anderungen der St¨ abe sind Δl1 =
S1 l + αT ΔT l , EA
Δl2 =
S2 l , EA
Δl3 =
S3 l . EA
(b )
Die geometrische Bedingung (c) gilt auch hier. Aufl¨osen von (a ), (b ) und (c) liefert S1 = S3 = −
1 EA αT ΔT , 6
S2 =
1 EA αT ΔT . 3
38
B1.8
1 Zug und Druck in St¨aben
Beispiel 1.8 Der bei der Herstellung um den Wert δ zu kurz gerate-
ne Stab 3 soll mit dem Knoten C verbunden werden (Abb. 1.18a). Dabei gilt δ l. a) Welche horizontale Montagekraft F ist dazu n¨otig (Abb. 1.18b)? b) Wie groß sind die Stabkr¨ afte nach der Montage? δ δ
1111111 0000000 0000000 1111111 0000000 1111111 0000000 1111111 0000000 1111111 3
2
l
a
l
Δl3
F
C
1
1111111 0000000 0000000 1111111 0000000 1111111 0000000 1111111 0000000 1111111
v∗
l
b
1
C∗ 2
3
c
Abb. 1.18
L¨ osung a) Durch die Montagekraft F wird der Knoten C verscho-
ben. Damit sich der Stab 3 mit dem Knoten verbinden l¨asst, muss die Horizontalkomponente dieser Verschiebung gleich dem Wert δ sein. Die dazu notwendige Kraft folgt mit α = 45◦ aus (1.21): √ F l 1 + 2/4 EA δ √ v= =δ → F = √ . EA 2/4 (2 2 + 1) l b) Nach der Montage wird die Kraft F entfernt. Dann verschiebt sich der Knoten C nochmals. Da auf ihn nun die Stabkraft S3 wirkt, geht er nicht mehr in die Lage vor der Montage (Ausgangslage) zur¨ uck, sondern er nimmt eine Lage C ∗ ein, deren horizontaler Abstand von der Ausgangslage durch √ S3 l 1 + 2/4 √ v∗ = EA 2/4 gegeben ist. Nach Abb. 1.18c gilt die geometrische Bedingung v ∗ + Δl3 = δ , wobei
1.6
Δl3 =
Statisch unbestimmte Stabsysteme
39
S3 l S3 (l − δ) ≈ EA EA
die Verl¨ angerung des Stabes 3 ist. Damit folgt √ S3 l 1 + 2/4 S3 l EA δ √ + =δ → S3 = √ . EA EA 2/4 2( 2 + 1)l Aus den Gleichgewichtsbedingungen am Knoten ergeben sich dann die anderen Stabkr¨afte zu √ S2 = − S3 . S1 = 2 S3 ,
40
1.7
1 Zug und Druck in St¨aben
1.7 Zusammenfassung • Normalspannung in einem Schnitt senkrecht zur Stabachse: σ = N/A , N Normalkraft, A Querschnittsfl¨ ache. • Dehnung: ε = du/dx , |ε| 1 , u Verschiebung eines Querschnitts. Sonderfall gleichf¨ ormiger Dehnung: ε = Δl/l. • Hookesches Gesetz: σ =Eε, E Elastizit¨ atsmodul. • L¨ angen¨ anderung: l Δl =
N + αT ΔT EA
dx ,
0
EA Dehnsteifigkeit, αT thermischer Ausdehnungskoeffizient, ΔT Temperatur¨ anderung. Sonderf¨ alle: N = F,
ΔT = 0,
EA = const
N = 0,
ΔT = const
Fl , EA
→
Δl =
→
Δl = αT ΔT l .
• Statisch bestimmtes Stabsystem: Normalkr¨afte, Spannungen, Dehnungen, L¨ angen¨ anderungen und Verschiebungen k¨onnen der Reihe nach aus Gleichgewicht, Elastizit¨atsgesetz und Kinematik ermittelt werden. Temperatur¨ anderungen verursachen keine Spannungen. • Statisch unbestimmtes Stabsystem: Alle Gleichungen (Gleichgewicht, Elastizit¨ atsgesetz und Kinematik) m¨ ussen gleichzeitig betrachtet werden. Temperatur¨ anderungen verursachen i.a. W¨ armespannungen.
Kapitel 2 Spannungszustand
2
2 Spannungszustand 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.4
Spannungsvektor und Spannungstensor .................... Ebener Spannungszustand .................................... Koordinatentransformation.................................... Hauptspannungen............................................... Mohrscher Spannungskreis.................................... D¨ unnwandiger Kessel .......................................... Gleichgewichtsbedingungen ................................... Zusammenfassung ..............................................
43 46 47 51 56 62 64 67
Lernziele: Im ersten Kapitel wurden Spannungen in St¨a¨ ben untersucht. Wir wollen nun diese Uberlegungen auf allgemeinere Tragwerke erweitern. Dazu f¨ uhren wir zun¨achst den Spannungstensor ein. Anschließend betrachten wir den ebenen Spannungszustand in Scheiben. Er ist durch die Spannungskomponenten in zwei senkrecht aufeinander stehenden Schnitten gegeben. Dabei zeigt sich unter anderem, dass die Normal- bzw. die Schubspannungen f¨ ur ausgezeichnete Schnittrichtungen extremal sind. Die Studierenden sollen lernen, wie man den Spannungszustand bei ebenen Problemen analysiert und die Spannungen f¨ ur verschiedene Schnittrichtungen ermittelt.
2.1
Spannungsvektor und Spannungstensor
43
2.1
2.1 Spannungsvektor und Spannungstensor Bisher wurden Spannungen nur in St¨ aben bestimmt. Wir wollen sie nun auch in anderen Tragwerken ermitteln und betrachten dazu einen K¨ orper, der beliebig belastet ist, zum Beispiel durch achenlasten p (Abb. 2.1a). Die a¨ußere BeEinzelkr¨ afte Fi und Fl¨ lastung verursacht innere Kr¨ afte. Bei einem Schnitt s – s durch den K¨ orper sind die inneren Kr¨ afte (Spannungen) u ¨ber die gesamte Schnittfl¨ ache A verteilt. Diese Spannungen sind im allgemeinen u ache ver¨ anderlich (im Gegensatz zum ¨ber die Schnittfl¨ Zugstab, bei dem sie u ¨ber den Querschnitt konstant sind, vgl. Abschnitt 1.1). ΔF
p s
A
F2
t
τ ΔA F1
F1
P
n
σ
s Abb. 2.1
a
Fi
b
Fi
Wir m¨ ussen daher die Spannung in einem beliebigen Punkt P der Schnittfl¨ ache definieren. Auf ein Fl¨ achenelement ΔA, in dem P enthalten ist, wirkt eine Schnittkraft ΔF (vgl. Abb. 2.1b) (Beachte: nach dem Wechselwirkungsgesetz wirkt eine gleich große, entgegengesetzt gerichtete Kraft auf die gegen¨ uberliegende Schnittfl¨ ache). Durch den Quotienten ΔF /ΔA (Kraft pro Fl¨ache) wird die mittlere Spannung f¨ ur das Fl¨ achenelement definiert. Wir setzen nun voraus, dass das Verh¨ altnis ΔF /ΔA f¨ ur den Grenz¨ ubergang ΔA → 0 gegen einen endlichen Wert strebt: t = lim
ΔA→0
dF ΔF = . ΔA dA
(2.1)
Diesen Grenzwert nennt man den Spannungsvektor t. Man kann den Spannungsvektor in eine Komponente normal zur Schnitt߬ ache und eine Komponente in der Schnitt߬ache (tan-
44
2 Spannungszustand
gential) zerlegen. Die Normalkomponente heißt Normalspannung σ, die Tangentialkomponente nennt man Schubspannung τ . Der Spannungsvektor t ist im allgemeinen von der Lage des Punktes P in der Schnittfl¨ ache (d.h. vom Ort) abh¨angig. Die Spannungsverteilung in der Schnittfl¨ ache ist bekannt, wenn der Spannungsvektor t f¨ ur alle Punkte von A angegeben werden kann. Durch t wird allerdings der Spannungszustand in einem Punkt P der Schnittfl¨ ache noch nicht ausreichend beschrieben. Legt man n¨ amlich durch P Schnitte in verschiedenen Richtungen, so wirken dort entsprechend der unterschiedlichen Orientierung der Fl¨achenelemente unterschiedliche Schnittkr¨ afte. Die Spannungen sind demnach auch von der Schnittrichtung (charakterisiert durch den Normalenvektor n) abh¨ angig (vgl. zum Beispiel die Spannungen (1.3) bei unterschiedlichen Schnittrichtungen in einem Zugstab). Man kann zeigen, dass der Spannungszustand in einem Punkt P durch die drei Spannungsvektoren in drei senkrecht aufeinander stehenden Schnittfl¨ achen festgelegt wird. Diese Schnittfl¨achen lassen wir zweckm¨ aßig mit den Koordinatenebenen eines kartesischen Koordinatensystems zusammenfallen. Um sie anschaulich darzustellen, denken wir sie uns als die Seitenfl¨achen eines infinitesimalen Quaders mit den Kantenl¨ angen dx, dy und dz in der Umgebung von P (Abb. 2.2a). In jeder der sechs Fl¨achen wirkt ein Spannungsvektor, den wir in seine Komponenten senkrecht zur Schnittfl¨ ache (= Normalspannung) und in der Schnittfl¨ache (= Schubspannung) zerlegen. Die Schubspannung wird dann noch in die Komponenten nach den Koordinatenrichtungen zerlegt. Zur Kennzeichnung der Komponenten verwenden wir Doppelindizes: z τzx dz x a
P
τzy
τyz
τxz σxx τxy dy
σz τzy
z
σzz
τyx
τyz σyy
dx
M
σy τyz
y
dz/2
σy
dz/2
y
τzy σz b
dy/2
dy/2
Abb. 2.2
2.1
Spannungsvektor und Spannungstensor
45
der erste Index gibt jeweils die Richtung der Fl¨ achennormale an, w¨ ahrend der zweite Index die Richtung der Spannungskomponente charakterisiert. So ist zum Beispiel τyx eine Schubspannung in einer Fl¨ ache, deren Normale in y-Richtung zeigt; die Spannung selbst zeigt in x-Richtung (Abb. 2.2a). Bei den Normalspannungen kann man die Schreibweise vereinfachen. Hier haben die Fl¨ achennormale und die Spannung jeweils die gleiche Richtung. Daher stimmen die beiden Indizes immer u ugt, nur einen Index anzugeben: ¨ berein, und es gen¨ σxx = σx ,
σyy = σy ,
σzz = σz .
Wir werden im folgenden nur noch diese k¨ urzere Schreibweise verwenden. Mit diesen Bezeichnungen lautet der Spannungsvektor zum Beispiel f¨ ur die Schnittfl¨ ache, deren Normale in y-Richtung zeigt: t = τyx ex + σy ey + τyz ez .
(2.2)
F¨ ur die Spannungen gibt es eine Vorzeichenkonvention analog zu der bei den Schnittgr¨ oßen (vgl. Band 1, Abschnitt 7.1): Positive Spannungen zeigen an einem positiven (negativen) Schnittufer in die positive (negative) Koordinatenrichtung. Danach beanspruchen positive (negative) Normalspannungen den infinitesimalen Quader auf Zug (Druck). In Abb. 2.2a sind die positiven Spannungen an den positiven Schnittufern eingezeichnet. Durch das Zerlegen der Spannungsvektoren in ihre Komponenten haben wir drei Normalspannungen (σx , σy , σz ) sowie sechs Schubspannungen (τxy , τxz , τyx , τyz , τzx , τzy ) erhalten. Die Schubspannungen sind jedoch nicht alle unabh¨ angig voneinander. Um dies zu zeigen, bilden wir das Momentengleichgewicht um eine zur x-Achse parallele Achse durch den Mittelpunkt des Quaders (vgl. Abb. 2.2b). Da Gleichgewichtsaussagen nur f¨ ur Kr¨afte gelten, m¨ ussen wir die Spannungen mit den zugeordneten Fl¨achenelementen multiplizieren:
46
2 Spannungszustand
M:
2
dy dz (τyz dx dz) − 2 (τzy dx dy) = 0 2 2
→
τyz = τzy .
Entsprechende Beziehungen erh¨ alt man aus dem Momentengleichgewicht um die anderen Achsen: τxy = τyx ,
τxz = τzx ,
τyz = τzy .
(2.3)
Demnach gilt: Schubspannungen in zwei senkrecht aufeinander stehenden Schnitten (z.B. τxy und τyx ) sind gleich. Man nennt sie einander zugeordnete Schubspannungen. Da sie das gleiche Vorzeichen besitzen, zeigen sie entweder auf die gemeinsame Quaderkante zu oder sie sind beide von ihr weggerichtet (vgl. Abb. 2.2). Wegen (2.3) gibt es nur sechs unabh¨angige Spannungen. Man kann die Komponenten der einzelnen Spannungsvektoren in einer Matrix anordnen: ⎤ ⎡ ⎤ ⎡ σx τxy τxz σx τxy τxz ⎥ ⎢ ⎥ ⎢ (2.4) σ = ⎣τyx σy τyz ⎦ = ⎣τxy σy τyz ⎦ . τzx
τzy
σz
τxz
τyz
σz
Die Hauptdiagonale wird von den Normalspannungen gebildet; die u ¨brigen Elemente sind die Schubspannungen. Wegen (2.3) ist die Matrix (2.4) symmetrisch. Die Gr¨ oße σ heißt Spannungstensor (den Begriff Tensor werden wir in Abschnitt 2.2.1 erl¨ autern). Die Elemente in (2.4) sind die Komponenten des Spannungstensors. Durch die Spannungsvektoren f¨ ur drei senkrecht aufeinander stehende Schnitte und damit durch den Spannungstensor (2.4) ist der Spannungszustand in einem Punkt eindeutig festgelegt. 2.2
2.2 Ebener Spannungszustand Wir wollen nun den Spannungszustand in einer Scheibe untersuchen. Hierunter versteht man ein ebenes Fl¨ achentragwerk, dessen
2.2
Ebener Spannungszustand
47
Dicke t klein gegen die L¨ angen der Seiten ist und das nur in seiner Ebene belastet wird (Abb. 2.3). Die Ober- und die Unterseite der Scheibe sind unbelastet. Da keine Kr¨ afte in z-Richtung auftreten, k¨ onnen wir mit hinreichender Genauigkeit annehmen, dass auch die Spannungen in dieser Richtung verschwinden: τxz = τyz = σz = 0 . y
Fi
F2 F1 t
x
Abb. 2.3
Wegen der geringen Dicke d¨ urfen wir außerdem voraussetzen, dass die Spannungen σx , σy und τxy = τyx u ¨ ber die Dicke der Scheibe konstant sind. Eine solche Spannungsverteilung heißt ebener Spannungszustand. F¨ ur ihn verschwinden die letzte Zeile und die letzte Spalte in der Matrix (2.4), und es bleibt
σx τxy . σ= τxy σy Im allgemeinen h¨ angen die Spannungen von den Koordinaten x und y ab. Wenn die Spannungen nicht vom Ort abh¨angen, heißt der Spannungszustand homogen. 2.2.1 Koordinatentransformation
Bisher wurden die Spannungen in einem Punkt einer Scheibe in Schnitten parallel zu den Koordinatenachsen betrachtet. Wir wollen nun zeigen, wie man die Spannungen in einem beliebigen Schnitt senkrecht zur Scheibe aus diesen Spannungen ermitteln kann. Dazu betrachten wir ein aus der Scheibe herausgeschnittenes infinitesimales Dreieck der Dicke t (Abb. 2.4). Die Schnittrich-
48
2 Spannungszustand
tungen sind durch das x, y-Koordinatensystem sowie den Winkel ϕ charakterisiert. Wir f¨ uhren ein ξ, η-System ein, das gegen¨ uber dem x, y-System um den Winkel ϕ gedreht ist und dessen ξ-Achse normal zur schr¨ agen Schnittfl¨ ache steht. Dabei z¨ahlen wir ϕ entgegen dem Uhrzeigersinn positiv. y ξ τξη
dy ϕ η
σx
σξ dη
τxy
ϕ τyx
x
dx σy
Abb. 2.4
Entsprechend den Koordinatenrichtungen bezeichnen wir die Spannungen in der schr¨ agen Schnittfl¨ ache mit σξ und τξη . Diese Schnittfl¨ ache ist durch dA = dη t gegeben. Die beiden anderen Schnittfl¨ achen haben die Gr¨ oßen dA sin ϕ bzw. dA cos ϕ. Das Kr¨ aftegleichgewicht in ξ- und in η-Richtung liefert dann
: σξ dA − (σx dA cos ϕ) cos ϕ − (τxy dA cos ϕ) sin ϕ − (σy dA sin ϕ) sin ϕ − (τyx dA sin ϕ) cos ϕ = 0 , : τξη dA + (σx dA cos ϕ) sin ϕ − (τxy dA cos ϕ) cos ϕ − (σy dA sin ϕ) cos ϕ + (τyx dA sin ϕ) sin ϕ = 0 . Mit τyx = τxy erh¨ alt man daraus σξ = σx cos2 ϕ + σy sin2 ϕ + 2 τxy sin ϕ cos ϕ , (2.5a) τξη = − (σx − σy ) sin ϕ cos ϕ + τxy (cos ϕ − sin ϕ) . 2
2
Wir wollen nun zus¨ atzlich noch die Normalspannung ση ermitteln. Sie wirkt auf eine Schnittfl¨ ache, deren Normale in η-Richtung zeigt. Der Schnittwinkel f¨ ur diese Fl¨ ache ist durch ϕ + π/2 gegeben. Wir erhalten daher ση , wenn wir in der ersten Gleichung (2.5a) die Normalspannung σξ durch ση und den Winkel ϕ durch
2.2
Ebener Spannungszustand
49
ϕ + π/2 ersetzen. Mit cos (ϕ + π/2) = − sin ϕ und sin (ϕ + π/2) = cos ϕ folgt dann ση = σx sin2 ϕ + σy cos2 ϕ − 2 τxy cos ϕ sin ϕ .
(2.5b)
Es ist u ¨ blich, die Gleichungen (2.5a, b) noch umzuformen. Unter Verwendung von 1 (1 + cos 2 ϕ) , 2 1 sin2 ϕ = (1 − cos 2 ϕ) , 2
cos2 ϕ =
2 sin ϕ cos ϕ = sin 2 ϕ , cos2 ϕ − sin2 ϕ = cos 2 ϕ
erhalten wir schließlich σξ =
1 1 (σx + σy ) + (σx − σy ) cos 2 ϕ + τxy sin 2 ϕ , 2 2
ση =
1 1 (σx + σy ) − (σx − σy ) cos 2 ϕ − τxy sin 2 ϕ , 2 2
(2.6)
1 − (σx − σy ) sin 2 ϕ + τxy cos 2 ϕ . 2 Die Spannungen σx , σy und τxy sind die Komponenten des Spannungstensors im x, y-System. Mit (2.6) k¨ onnen aus ihnen die Komponenten σξ , ση und τξη im ξ, η-System berechnet werden. Man nennt (2.6) die Transformationsgleichungen f¨ ur die Komponenten des Spannungstensors. In Abb. 2.5 sind die Spannungen im x, ySystem und im ξ, η-System jeweils an einem Element eingetragen. τξη =
y
η
σy τyx
ση
τηξ τξη
τxy
σξ σx
ϕ ξ x
Abb. 2.5
Eine Gr¨ oße, deren Komponenten zwei Koordinatenindizes be¨ sitzen und beim Ubergang von einem Koordinatensystem zu einem
50
2 Spannungszustand
dazu gedrehten Koordinatensystem nach einer bestimmten Vorschrift transformiert werden, heißt Tensor 2. Stufe. F¨ ur den Span¨ nungstensor ist diese Vorschrift beim Ubergang vom x, y-System zum ξ, η-System durch die Transformationsgleichungen (2.6) gegeben. Weitere Tensoren 2. Stufe werden wir in den Abschnitten 3.1 und 4.2 kennen lernen. Es sei angemerkt, dass auch die Komponenten von Vektoren Transformationsgleichungen erf¨ ullen. Da Vektorkomponenten nur einen Index besitzen, nennt man Vektoren auch Tensoren 1. Stufe. Wenn man die ersten beiden Gleichungen in (2.6) addiert, so erh¨ alt man σξ + ση = σx + σy .
(2.7)
Demnach hat die Summe der Normalspannungen in jedem Koordinatensystem den gleichen Wert. Man bezeichnet daher die Summe σx + σy als eine Invariante des Spannungstensors. Man kann sich durch Einsetzen davon u ¨ berzeugen, dass die Determi2 der Matrix des Spannungstensors eine weitere nante σx σy − τxy Invariante darstellt. Wir betrachten noch den Sonderfall, dass im x, y-System die Normalspannungen gleich sind (σx = σy ) und die Schubspannungen verschwinden (τxy = 0). Dann folgt nach (2.6) σξ = ση = σx = σy ,
τξη = 0 .
Die Normalspannungen sind demnach in allen Schnittrichtungen gleich (d.h. unabh¨ angig von ϕ), w¨ ahrend die Schubspannungen immer verschwinden. Man nennt einen solchen Spannungszustand hydrostatisch, da der Druck in einem Punkt einer ruhenden Fl¨ ussigkeit ebenfalls in allen Richtungen gleich ist (s. Band 4, Abschnitt 1.2). Es sei angemerkt, dass man auch Schnitte f¨ uhren kann, bei denen der Normalenvektor der Schnittfl¨ ache nicht in der Scheibenebene liegt (schr¨ ager Schnitt). Darauf wollen wir hier nicht eingehen, sondern verweisen auf Band 4, Abschnitt 2.1.
2.2
Ebener Spannungszustand
51
2.2.2 Hauptspannungen
Die Spannungen σξ , ση und τξη h¨ angen nach (2.6) von der Schnittrichtung – d.h. vom Winkel ϕ – ab. Wir untersuchen nun, f¨ ur welche Winkel diese Spannungen Extremalwerte annehmen und wie groß diese sind. Die Normalspannungen werden extremal f¨ ur dσξ /dϕ = 0 bzw. uhren auf f¨ ur dση /dϕ = 0. Beide Bedingungen f¨ − (σx − σy ) sin 2 ϕ + 2 τxy cos 2 ϕ = 0. Daraus folgt f¨ ur den Winkel ϕ = ϕ∗ , bei dem ein Extremalwert auftritt tan 2 ϕ∗ =
2 τxy . σx − σy
(2.8)
Die Tangensfunktion ist mit π periodisch. Daher gibt es wegen tan 2 ϕ∗ = tan 2(ϕ∗ + π/2) zwei senkrecht aufeinander stehende ur die (2.8) erf¨ ullt ist. Diese Schnittrichtungen ϕ∗ und ϕ∗ + π/2, f¨ Schnittrichtungen werden Hauptrichtungen genannt. Die zu diesen Schnittrichtungen geh¨ orenden Normalspannungen erh¨ alt man, indem man die Bedingung (2.8) f¨ ur ϕ∗ in σξ bzw. uhrt. Dabei verwendet man die trigonometriση nach (2.6) einf¨ schen Umformungen 1 σx − σy = , cos 2 ϕ∗ = 2 ∗ 2 1 + tan 2 ϕ (σx − σy )2 + 4 τxy tan 2 ϕ∗ 2 τxy = . sin 2 ϕ∗ = 2 ∗ 2 1 + tan 2 ϕ (σx − σy )2 + 4 τxy
(2.9)
Mit den Bezeichnungen σ1 und σ2 f¨ ur die Extremwerte der Spannungen ergibt sich σ1,2 =
bzw.
1 2 2 τxy (σx − σy )2 1 (σx + σy ) ± 2 ± 2 2 2 (σx − σy )2 + 4 τxy (σx − σy )2 + 4 τxy
52
2 Spannungszustand
σ1,2
σx + σy ± = 2
σx − σy 2
2 2 . + τxy
(2.10)
Die beiden Normalspannungen σ1 und σ2 werden Hauptspannungen genannt. Es ist u ¨ blich, sie so zu nummerieren, dass σ1 > σ2 gilt (positives Vorzeichen der Wurzel f¨ ur σ1 ). Bei konkreten Problemen liefert (2.8) zwei Zahlenwerte f¨ ur die ∗ ∗ Winkel ϕ und ϕ + π/2. Die Zuordnung dieser beiden Winkel zu den Spannungen σ1 und σ2 kann zum Beispiel dadurch erfolgen, dass man einen davon in die erste Gleichung von (2.6) einsetzt. Dann erh¨ alt man als zugeh¨ orige Normalspannung entweder σ1 oder σ2 . ur τξη Wenn man die Winkel ϕ∗ bzw. ϕ∗ +π/2 in die Gleichung f¨ nach (2.6) einsetzt, so erh¨ alt man τξη = 0. Demnach verschwinden die Schubspannungen in den Schnittrichtungen, f¨ ur welche die Normalspannungen ihre Extremalwerte σ1 und σ2 annehmen. Wenn umgekehrt in einem Schnitt keine Schubspannung auftritt, so ist die in diesem Schnitt wirkende Normalspannung eine Hauptspannung. Ein Koordinatensystem, dessen Achsen zu den Hauptrichtungen parallel sind, nennt man Hauptachsensystem. Wir bezeichnen die Achsen mit 1 und 2: die 1-Achse zeige in Richtung von σ1 (erste Hauptrichtung), die 2-Achse in Richtung von σ2 (zweite Hauptrichtung). In Abb. 2.6a bzw. b sind die Spannungen an einem Element im x, y-System bzw. im Hauptachsensystem dargestellt. σy
σ2
2
τmax
τyx σM
σ1
τxy
1
σx y a
σM
τmax x
b
ϕ∗
c
ϕ∗∗= ϕ∗+ π 4 Abb. 2.6
2.2
Ebener Spannungszustand
53
Wir bestimmen nun noch die Extremalwerte der Schubspannung und die zugeh¨ origen Schnittrichtungen. Aus der Bedingung dτξη =0 dϕ
→
− (σx − σy ) cos 2 ϕ − 2 τxy sin 2 ϕ = 0
folgt f¨ ur den Winkel ϕ = ϕ∗∗ , bei dem ein Extremalwert auftritt: tan 2 ϕ∗∗ = −
σx − σy . 2 τxy
(2.11)
Hieraus erh¨ alt man die zwei Winkel ϕ∗∗ und ϕ∗∗ + π/2. Durch Vergleich von (2.11) mit (2.8) erkennt man, dass wegen tan 2 ϕ∗∗ = −1/ tan 2 ϕ∗ die Richtungen 2ϕ∗∗ und 2ϕ∗ senkrecht aufeinander stehen. Dies bedeutet, dass die Richtung ϕ∗∗ extremaler Schubspannung zu den Richtungen ϕ∗ extremaler Normalspannung unter 45◦ geneigt sind. Die Extremalwerte der Schubspannung nennt man auch Hauptschubspannungen. Sie ergeben sich durch Einsetzen von (2.11) in (2.6) unter Verwendung von (2.9) zu τmax = ±
σx − σy 2
2 2 . + τxy
(2.12a)
Da sie sich nur durch das Vorzeichen (ihre Richtungen) unterscheiden, spricht man von maximalen Schubspannungen. Mit Hilfe der Hauptspannungen (2.10) kann man τmax auch in der Form 1 τmax = ± (σ1 − σ2 ) 2
(2.12b)
schreiben. Die Richtung der maximalen Schubspannungen findet man, indem man als Verdrehwinkel des ξ, η -Systems den Winkel ϕ∗∗ w¨ ahlt. Durch Einsetzen von ϕ∗∗ in die dritte Gleichung von (2.6) erh¨ alt man dann τξη = τmax einschließlich des Vorzeichens. Einsetzen von ϕ∗∗ in eine der Gleichungen (2.6) f¨ ur die Normalspannungen liefert einen von Null verschiedenen Wert, den wir mit
54
2 Spannungszustand
σM bezeichnen: σM =
1 1 (σx + σy ) = (σ1 + σ2 ) . 2 2
(2.13)
In den Schnitten extremaler Schubspannungen verschwinden demnach die Normalspannungen im allgemeinen nicht. Abb. 2.6c zeigt die Spannungen in den entsprechenden Schnitten. B2.1
Beispiel 2.1 In einem Blech wirkt ein homogener Spannungszu2
2
stand mit den Spannungen σx = − 64 N/mm , σy = 32 N/mm 2 und τxy = −20 N/mm . In Abb. 2.7a sind die Spannungen mit den Richtungen eingezeichnet, wie sie im Blech wirken. Man bestimme a) die Spannungen in einem Schnitt unter 60◦ zur x-Achse, b) die Hauptspannungen und die Hauptrichtungen, c) die Hauptschubspannungen sowie die zugeh¨origen Schnittrichtungen. Die Spannungen sind jeweils an einem Element zu skizzieren. y y
η
σy τyx σξ σx
τξη 60◦
τxy
ϕ = − 30◦
x a
x
ξ
b
τmax
σ2 ϕ∗ c
σM
2 σM τmax
σ1 1
ϕ∗∗ d
Abb. 2.7
L¨ osung a) Wir schneiden das Blech in der gegebenen Richtung.
Zur Charakterisierung des Schnitts f¨ uhren wir analog zu Abb. 2.5
2.2
Ebener Spannungszustand
55
ein ξ, η-System ein, bei dem die ξ-Achse normal auf dem Schnitt steht (Abb. 2.7b). Da es aus dem x, y-System durch Drehung um 30◦ im Uhrzeigersinn hervorgeht, ist der Drehwinkel negativ: ϕ = ur die Spannungen −30◦ . Damit erhalten wir nach (2.6) f¨ 1 1 (−64 + 32) + (−64 − 32) cos(−60◦ ) − 20 sin(−60◦ ) 2 2 N = −22, 7 , mm2
σξ =
1 N τξη = − (−64 − 32) sin(−60◦ ) − 20 cos(−60◦ ) = −51, 6 . 2 mm2 Beide Spannungen sind negativ. Sie sind mit entsprechendem Richtungssinn in Abb. 2.7b eingezeichnet. b) Die Hauptspannungen ergeben sich nach (2.10) zu 2 −64 − 32 −64 + 32 ± σ1,2 = + (−20)2 2 2 →
σ1 = 36
N , mm2
σ2 = −68
N . mm2
(a)
Aus (2.8) folgt f¨ ur eine zugeh¨ orige Hauptrichtung tan 2ϕ∗ =
2(−20) = 0, 417 −64 − 32
→
ϕ∗ = 11, 3◦ .
Um zu entscheiden, welche Hauptspannung zu dieser Schnittrichtung geh¨ ort, setzen wir ϕ∗ in die erste Gleichung von (2.6) ein und erhalten 1 1 σξ (ϕ∗ ) = (−64 + 32) + (−64 − 32) cos(22, 6◦ ) 2 2 N − 20 sin(22, 6◦ ) = −68 = σ2 . mm2 Demnach geh¨ ort die Hauptspannung σ2 zum Winkel ϕ∗ . Die Hauptspannung σ1 wirkt in einem Schnitt senkrecht dazu (Abb. 2.7c). c) Die Hauptschubspannungen ergeben sich mit (a) aus (2.12b) zu
56
2 Spannungszustand
1 N τmax = ± (36 + 68) = ±52 . 2 mm2 Die zugeh¨ origen Schnittrichtungen sind zu den Hauptrichtungen ◦ um 45 geneigt. Somit erhalten wir ϕ∗∗ = 56, 3◦ . Die Richtung von τmax ergibt sich durch Einsetzen von ϕ∗∗ in (2.6) aus dem positiven Vorzeichen von τξη (ϕ∗∗ ). Die zugeh¨origen Normalspannungen sind nach (2.13) durch σM =
N 1 (−64 + 32) = −16 2 mm2
gegeben. Die Spannungen sind in Abb. 2.7d mit ihren wirklichen Richtungen dargestellt. 2.2.3 Mohrscher Spannungskreis
Aus den Spannungen σx , σy und τxy k¨ onnen mit Hilfe der Transur ein formationsgleichungen (2.6) die Spannungen σξ , ση und τξη f¨ ξ, η-System berechnet werden. Diese Gleichungen erlauben aber auch eine einfache geometrische Darstellung. Dazu ordnen wir die achst um: Beziehungen (2.6) f¨ ur σξ und τξη zun¨ 1 1 σξ − (σx + σy ) = (σx − σy ) cos 2 ϕ + τxy sin 2 ϕ , 2 2 1 τξη = − (σx − σy ) sin 2 ϕ + τxy cos 2 ϕ . 2
(2.14)
Durch Quadrieren und Addieren kann der Winkel ϕ eliminiert werden: 2 2 σx − σy 1 2 2 = + τxy . (2.15) σξ − (σx + σy ) + τξη 2 2 Wenn man in (2.14) statt der Gleichung f¨ ur σξ die entsprechende f¨ ur ση nimmt, so findet man, dass in (2.15) σξ durch ση ersetzt wird. Deshalb werden im folgenden die Indizes ξ und η weggelassen.
2.2
Ebener Spannungszustand
57
Der Ausdruck auf der rechten Seite von (2.15) ist bei gegebenen Spannungen σx , σy und τxy ein fester Wert, den wir mit r2 abk¨ urzen: 2 σx − σy 2 + τxy . (2.16) r2 = 2 Mit σM = 12 (σx + σy ) und (2.16) wird dann aus (2.15) (σ − σM )2 + τ 2 = r2 .
(2.17)
Dies ist die Gleichung eines Kreises in der σ, τ -Ebene: die Punkte (σ, τ ) liegen auf dem nach Otto Mohr (1835–1918) benannten Spannungskreis mit dem Mittelpunkt (σM , 0) und dem Radius r (Abb. 2.8a). Durch Umformen von (2.16) erh¨ alt man r2 =
1 2 (σx + σy )2 − 4(σx σy − τxy ) . 4
Da die Ausdr¨ ucke in den runden Klammern invariant sind (vgl. Abschnitt 2.2.1), ist auch r eine Invariante. Der Spannungskreis l¨ asst sich konstruieren, wenn die Spannungen σx , σy und τxy bekannt sind. Dazu brauchen wir σM und r nicht zu berechnen; man kann den Kreis mit den gegebenen Spannungen unmittelbar zeichnen. Hierzu werden zun¨achst auf der σ-Achse die Spannungen σx und σy unter Beachtung ihrer Vorzeichen eingezeichnet. In diesen Punkten wird dann die Schubspannung τxy nach folgender Regel aufgetragen: vorzeichenrichtig u ¨ ber σx und mit umgekehrtem Vorzeichen u ¨ber σy . Mit P und P liegen zwei Punkte des Kreises fest (Abb. 2.8a). Der Schnittpunkt ihrer Verbindungslinie mit der Abszisse liefert den Kreismittelpunkt, und damit kann der Kreis gezeichnet werden. Der Spannungszustand in einem Punkt einer Scheibe wird durch den Mohrschen Spannungskreis beschrieben; zu jedem Schnitt geh¨ ort ein Punkt auf dem Kreis. So geh¨ oren zum Beispiel der Punkt P zu dem Schnitt, in dem σx und τxy wirken, und der Punkt P zu
58
2 Spannungszustand
τ P τ r xy
τmax
τ P r σy
2ϕ∗
σ σ2
σM σx
τxy P σM =
τxy
1 (σx−σy ) 2
1 (σx+σy ) 2
Q
2ϕ
ση
σM σy
σx
τξη
σ
σξ σ1
2ϕ∗∗
Q
P
τmax b
a
η
y
ϕ ξ x
Abb. 2.8
dem dazu senkrechten Schnitt. Aus dem Spannungskreis k¨onnen die Spannungen in beliebigen Schnitten sowie die Extremalwerte der Spannungen und die zugeh¨ origen Schnittrichtungen bestimmt werden. Die Hauptspannungen σ1 und σ2 sowie die Hauptschubspannung τmax sind unmittelbar ablesbar (Abb. 2.8b). Wir wollen nun zeigen, dass man die Spannungen σξ , ση und τξη in einem um den Winkel ϕ (positiv entgegen dem Uhrzeigersinn) gegen¨ uber dem x, y-System gedrehten ξ, η-System auf folgende Weise erh¨ alt: der Punkt Q, der zu einem Schnitt mit den ort, ergibt sich durch Antragen des Spannungen σξ und τξη geh¨ doppelten Winkels – d.h. 2ϕ – in entgegengesetzter Drehrichtung (Abb. 2.8b); der zum dazu senkrechten Schnitt geh¨orende Punkt uber. Die Hauptrichtungen sowie die Richtungen Q liegt Q gegen¨ der Hauptschubspannungen sind schließlich durch die Winkel ϕ∗ und ϕ∗∗ gegeben. Zum Beweis lesen wir zun¨ achst aus den Abb. 2.8a,b ab: tan 2 ϕ∗ =
2 τxy , σx − σy
1 (σx − σy ) = r cos 2ϕ∗ , 2
τxy = r sin 2ϕ∗ .
Wenn man dies in die Transformationsgleichungen f¨ ur σξ und ση einsetzt, erh¨ alt man
2.2
Ebener Spannungszustand
59
1 (σx + σy ) + r cos 2ϕ∗ cos 2ϕ + r sin 2ϕ∗ sin 2ϕ 2 1 = (σx + σy ) + r cos (2ϕ∗ − 2ϕ) , 2
σξ =
τξη = − r cos 2ϕ∗ sin 2ϕ + r sin 2ϕ∗ cos 2ϕ = r sin (2ϕ∗ − 2ϕ) . Dies kann man aber auch aus Abb. 2.8b ablesen, d.h. der Mohrsche Kreis ist die geometrische Darstellung der Transformationsgleichungen. Wenn man den Mohrschen Kreis zur L¨ osung von Problemen anwenden will, so m¨ ussen drei Bestimmungsst¨ ucke gegeben sein osungen ist dabei ein (zum Beispiel σx , τxy , σ1 ). Bei grafischen L¨ Maßstab f¨ ur die Spannungen zu w¨ ahlen. Wir betrachten abschließend noch drei Sonderf¨alle. Bei einachsigem Zug (Abb. 2.9a) gilt σx = σ0 > 0, σy = 0, τxy = 0. Da die Schubspannung Null ist, sind σ1 = σx = σ0 und σ2 = σy = 0 τ y σ2 = 0 σ0 x
a
σM = σ0/2
τmax σ = σ 1 0 σ σM
τmax= σ0/2 45◦
τ y τ0
σ1 = τ0
τmax σ = τ 1 0
σ2 = −τ0
σ x
b
y
σ2 = −τ0 45◦
τ
σ0
σ0
c
Abb. 2.9
σ0 x
σ0
σ
ϕ
σ0
60
2 Spannungszustand
die Hauptspannungen. Der Mohrsche Kreis tangiert die τ -Achse und liegt rechts von ihr. Die maximale Schubspannung τmax = σ0 /2 tritt in Schnitten unter 45◦ zur x-Achse auf (vgl. auch Abschnitt 1.1). Liegt ein Spannungszustand mit σx = 0, σy = 0 und τxy = τ0 vor, so spricht man von reinem Schub. Dann f¨allt wegen σM = 0 der Mittelpunkt des Mohrschen Kreises mit dem Ursprung des Koordinatensystems zusammen (Abb. 2.9b). Die Hauptspannungen sind σ1 = τ0 und σ2 = −τ0 ; sie treten in Schnitten unter 45◦ zur x-Achse auf. Im Falle eines hydrostatischen Spannungszustandes gilt σx = σy = σ0 und τxy = 0. Dann entartet der Mohrsche Spannungskreis zu einem Punkt auf der σ-Achse (Abb. 2.9c). Die Normalspannungen haben f¨ ur alle Schnittrichtungen den gleichen Wert σξ = ση = σ0 , und die Schubspannungen verschwinden (vgl. Abschnitt 2.2.1). B2.2
Ein ebener Spannungszustand ist durch σx = 50 N/mm2 , σy = −20 N/mm2 und τxy = 30 N/mm2 gegeben. Man bestimme mit Hilfe eines Mohrschen Kreises a) die Hauptspannungen und die Hauptrichtungen, b) die Normal- und die Schubspannung in einer Schnittfl¨ache, deren Normale den Winkel ϕ = 30◦ mit der x-Achse bildet. Die Ergebnisse sind in Schnittbildern zu skizzieren.
Beispiel 2.2
a) Aus den gegebenen Spannungen kann nach Festlegung eines Maßstabs der Mohrsche Kreis konstruiert werden (die gegebenen Spannungen sind in Abb. 2.10a durch gr¨ une Kreise markiert). Die Hauptspannungen und die Hauptrichtungen lassen sich daraus direkt ablesen:
L¨ osung
2
σ1 = 61 N/mm ,
2
σ2 = −31 N/mm ,
ϕ∗ = 20◦ .
b) Zur Bestimmung der Spannungen in der gedrehten Schnittfl¨ ache f¨ uhren wir ein ξ, η-Koordinatensystem ein, dessen ξ-Achse mit der Normalen zusammenf¨ allt. Die gesuchten Spannungen σξ und τξη erhalten wir, wenn wir im Mohrschen Kreis den Winkel
2.2
Ebener Spannungszustand
61
2ϕ entgegengesetzt zur Richtung von ϕ antragen. Wir lesen ab: 2
σξ = 58, 5 N/mm ,
2
τξη = −15, 5 N/mm .
Die Spannungen mit ihren wirklichen Richtungen und die zugeh¨ origen Schnitte sind in Abb. 2.10b veranschaulicht. τ
σy τxy
20 N/mm2
σx 2ϕ∗
σ2
τxy σξ σ1
2ϕ
σy
σx
σ2
σ
τξη
σ1 ϕ∗
η
y
ξ ϕ
a
Abb. 2.10
x b
ϕ
σξ τξη
Beispiel 2.3 Von einem ebenen Spannungszustand sind die bei-
den Hauptspannungen σ1 = 40 N/mm und σ2 = −20 N/mm gegeben. Welche Lage hat ein x, y-Koordinatensystem, in dem σx = 0 und τxy > 0 ist in Bezug auf die Hauptachsen, und wie groß sind σy und τxy ? 2
2
Mit den gegebenen Hauptspannungen σ1 und σ2 l¨asst sich der Mohrsche Kreis maßst¨ ablich zeichnen (Abb. 2.11a). Aus ihm kann die Lage des gesuchten x, y-Systems entnommen werden: dem Winkel 2ϕ entgegen dem Uhrzeigersinn (vom Punkt σ1 zum Punkt P ) im Mohrschen Kreis entspricht der Winkel ϕ im Uhrzeigersinn zwischen der 1-Achse und der x-Achse. Wir lesen f¨ ur den Winkel und die gesuchten Spannungen ab: L¨ osung
2 ϕ = 110◦
→
ϕ = 55◦ , σy = 20
N N , τxy = 28 . mm2 mm2
B2.3
62
2 Spannungszustand
Die Spannungen und die Koordinatensysteme sind in Abb. 2.11b skizziert. 20 N/mm2
τ
2
σ2
P
σ2
σ1
τxy
2ϕ
σx
σy
1 σ1
σ
1 y
ϕ
σy τxy
a
x
b
Abb. 2.11
2.2.4 D¨ unnwandiger Kessel
Als Anwendungsbeispiel f¨ ur den ebenen Spannungszustand betrachten wir nun einen d¨ unnwandigen, zylindrischen Kessel (Abb. 2.12a) mit dem Radius r und der Wandst¨ arke t. Er stehe unter einem Innendruck p. Der Innendruck verursacht in der Wand des Kessels Spannungen (Abb. 2.12b), die wir ermitteln wollen. t σx p σx 2r a
p c
b
σϕ
σϕ t
2r σϕ
p
d
Δl Abb. 2.12
In hinreichender Entfernung von den Deckeln ist der Spannungszustand unabh¨ angig vom Ort (homogen). Wegen t r d¨ urfen die Spannungen in radialer Richtung vernachl¨assigt wer-
2.2
Ebener Spannungszustand
63
den. In der Mantelfl¨ ache des Kessels liegt daher lokal n¨aherungsweise ein ebener Spannungszustand vor (das Element nach Abb. 2.12b ist zwar gekr¨ ummt, es wird aber durch ein Element in der Tangentialebene ersetzt). Der Spannungszustand kann durch die Spannungen in zwei zueinander senkrechten Schnitten beschrieben werden. Zuerst schneiden wir den Kessel senkrecht zu seiner Achse (Abb. 2.12c). Da der Druck im Gas u ¨ berall gleich ist, herrscht auch auf der gesamten Schnittfl¨ ache πr2 der Druck p. Nehmen wir an, dass die L¨ angsspannung σx wegen t r u ¨ber die Wanddicke gleichf¨ ormig verteilt ist, so liefert das Kr¨aftegleichgewicht (Abb. 2.12c) σx 2 π r t − p π r2 = 0
→
σx =
1 r p 2 t
.
(2.18)
Wir schneiden nun ein Halbkreisrohr der L¨ange Δl gem¨aß Abb. 2.12d aus dem Kessel. In den horizontalen Schnittfl¨achen wirken die Umfangsspannungen σϕ , die u ¨ber die Dicke ebenfalls konstant sind. Mit der vom Gas auf das Halbkreisrohr ausge¨ ubten Kraft p 2 rΔl liefert dann die Gleichgewichtsbedingung in vertikaler Richtung 2 σϕ t Δ l − p 2 rΔl = 0
→
σϕ = p
r t
.
(2.19)
Die beiden Gleichungen (2.18) und (2.19) f¨ ur σx und σϕ werden Kesselformeln genannt. Wegen t r gilt nach (2.18) bzw. (2.19) f¨ ur die Spannungen σx , σϕ p. Daher ist die zu Beginn dieses Abschnittes getroffene Annahme gerechtfertigt, dass die Spannungen assigt werden d¨ urfen (| σr |≤ p). σr in radialer Richtung vernachl¨ Da in beiden Schnitten keine Schubspannungen auftreten (Symmetrie), sind die Spannungen σx und σϕ Hauptspannungen: σ1 = σϕ = p r/t, σ2 = σx = p r/(2t). Die maximale Schubspannung folgt nach (2.12b) zu τmax =
1 1 r (σ1 − σ2 ) = p ; 2 4 t
64
2 Spannungszustand
sie wirkt in Schnitten unter 45◦ . Es sei angemerkt, dass in der N¨ ahe der Deckel kompliziertere Spannungszust¨ande herrschen, die einer elementaren Behandlung nicht zug¨ anglich sind. Bei einem d¨ unnwandigen, kugelf¨ ormigen Kessel vom Radius r (Abb. 2.13a) treten unter einem Innendruck p die Spannungen σt und σϕ in der Kesselwand auf (Abb. 2.13b). Wenn wir den Kessel durch einen Schnitt nach Abb. 2.13c halbieren, so erhalten wir aus der Gleichgewichtsbedingung σt 2 π r t − p π r2 = 0
→
σt =
1 r p . 2 t
Ein dazu senkrechter Schnitt liefert entsprechend σϕ 2 π r t − p π r2 = 0
→
σϕ =
1 r p . 2 t
Demnach gilt σt = σϕ =
1 r p . 2 t
(2.20)
Bei einem kugelf¨ ormigen, d¨ unnwandigen Kessel wirkt daher in der Kesselwand in jeder beliebigen Richtung eine Spannung der Gr¨oße p r/(2 t). p σt σt
p r
σϕ t
a
b
c
Abb. 2.13
2.3
2.3 Gleichgewichtsbedingungen Nach Abschnitt 2.1 wird der Spannungszustand in einem Punkt eines K¨ orpers durch den Spannungstensor beschrieben. Die Komponenten des Spannungstensors sind in Abb. 2.2a veranschaulicht.
2.3
y
dy
σx
Abb. 2.14
τxy
Gleichgewichtsbedingungen
65
∂σ σy + ∂yy dy ∂τ τyx+ yx dy ∂y ∂τ τxy+ xy dx fy ∂x fx σx + ∂σx dx ∂x x τyx σy dx
Sie sind im allgemeinen nicht unabh¨ angig voneinander, sondern durch die Gleichgewichtsbedingungen miteinander verkn¨ upft. Zur Herleitung dieser Bedingungen betrachten wir zun¨achst in Abb. 2.14 ein aus einer Scheibe (Dicke t) herausgeschnittenes Element mit den zugeh¨ origen Spannungen (ebener Spannungszustand). Da die Spannungen im allgemeinen von x und y abh¨angen, sind sie auf gegen¨ uberliegenden Fl¨ achen nicht gleich groß; sie unterscheiden sich durch infinitesimale Zuw¨ achse. So wirkt zum Beispiel auf der linken Schnittfl¨ ache die Normalspannung σx und auf ∂σx der rechten Fl¨ ache die Spannung σx + dx (erste Glieder der ∂x Taylor-Reihe, vgl. auch Abschnitt 3.1). Das Symbol ∂/∂x kennzeichnet die partielle Ableitung nach x. Außerdem wird das Element durch die Volumenkraft f mit den Komponenten fx und fy belastet. Das Kr¨ aftegleichgewicht in x-Richtung liefert ∂σx dx dy t − σx dy t − τyx dx t + σx + ∂x ∂τyx + τyx + dy dx t + fx dx dy t = 0 ∂y bzw. ∂τyx ∂σx + + fx = 0 . ∂x ∂y
(2.21a)
66
2 Spannungszustand
Entsprechend erh¨ alt man aus dem Kr¨ aftegleichgewicht in y- Richtung ∂σy ∂τxy + + fy = 0 . ∂x ∂y
(2.21b)
Die Gleichungen (2.21a, b) heißen Gleichgewichtsbedingungen. Sie sind zwei gekoppelte partielle Differentialgleichungen f¨ ur die drei Komponenten σx , σy und τxy = τyx des Spannungstensors (ebener Spannungszustand). Aus ihnen kann der Spannungszustand nicht eindeutig ermittelt werden: das Problem ist statisch unbestimmt. F¨ ur einen r¨aumlichen Spannungszustand erh¨alt man entsprechend die Gleichgewichtsbedingungen ∂σx ∂τyx ∂τzx + + + fx = 0 , ∂x ∂y ∂z ∂τxy ∂σy ∂τzy + + + fy = 0 , ∂x ∂y ∂z
(2.22)
∂τyz ∂σz ∂τxz + + + fz = 0 . ∂x ∂y ∂z Dies sind drei gekoppelte partielle Differentialgleichungen f¨ ur die sechs Komponenten des Spannungstensors. Bei einem homogenen Spannungszustand sind die Komponenten des Spannungstensors konstant. Dann verschwinden alle partiellen Ableitungen in (2.21a, b) bzw. (2.22). Die Gleichgewichtsbedingungen sind in diesem Fall nur dann erf¨ ullt, wenn fx = fy = fz = 0 gilt. Daher ist ein homogener Spannungszustand unter der Wirkung von Volumenkr¨ aften (bzw. von Massenkr¨aften) nicht m¨ oglich. Es sei angemerkt, dass aus dem Momentengleichgewicht am Element auch bei Ber¨ ucksichtigung der Spannungszuw¨achse die Symmetrie des Spannungstensors folgt (vgl. Abschnitt 2.1).
2.4
Zusammenfassung
67 2.4
2.4 Zusammenfassung • Der Spannungszustand in einem Punkt eines K¨orpers ist durch den Spannungstensor σ gegeben. Er hat im r¨aumlichen Fall 3 × 3 Komponenten (beachte Symmetrie). Im ebenen Spannungszustand (ESZ) reduziert er sich auf
σx τxy mit τxy = τyx . σ= τyx σy • Vorzeichenkonvention: positive Spannungen zeigen an einem positiven (negativen) Schnittufer in positive (negative) Koordinatenrichtungen. • Transformationsbeziehungen (ESZ): σξ = 12 (σx + σy ) + 12 (σx − σy ) cos 2ϕ + τxy sin 2ϕ , ση = 12 (σx + σy ) − 12 (σx − σy ) cos 2ϕ − τxy sin 2ϕ , τξη = − 12 (σx − σy ) sin 2ϕ + τxy cos 2ϕ . Die Achsen ξ, η sind zu x, y um den Winkel ϕ gedreht. • Hauptspannungen und -richtungen (ESZ): 2 , σ1,2 = 12 (σx + σy ) ± 14 (σx − σy )2 + τxy tan 2ϕ∗ =
2τxy σx − σy
→
ϕ∗1 , ϕ∗2 = ϕ∗1 ± π/2 .
Hauptspannungen sind extremale Spannungen; in den zugeh¨origen Schnitten sind die Schubspannungen Null. • Maximale Schubspannungen und ihre Richtungen (ESZ): 2 , ϕ∗∗ = ϕ∗ ± π/4 . τmax = 14 (σx − σy )2 + τxy • Der Mohrsche Kreis erlaubt die geometrische Darstellung der Koordinatentransformation. • Gleichgewichtsbedingungen f¨ ur die Spannungen (ESZ): ∂τyx ∂σx + + fx = 0 , ∂x ∂y
∂σy ∂τxy + + fy = 0 . ∂x ∂y
Im r¨ aumlichen Fall gibt es drei Gleichgewichtsbedingungen.
Kapitel 3 Verzerrungszustand, Elastizit¨ atsgesetz
3
3 Verzerrungszustand, Elastizit¨ atsgesetz 3.1 3.2 3.3 3.4
Verzerrungszustand ............................................. Elastizit¨atsgesetz................................................ Festigkeitshypothesen .......................................... Zusammenfassung ..............................................
71 76 83 86
Lernziele: Die Deformation eines Stabes haben wir im ersten Kapitel durch die Dehnung und die Verschiebung beschrieben. Wir wollen diese kinematischen Gr¨ oßen jetzt auf den r¨aumlichen Fall verallgemeinern. Zu diesem Zweck f¨ uhren wir neben dem Verschiebungsvektor den Verzerrungstensor ein, durch welchen L¨ angen- und Winkel¨ anderungen beschrieben werden. Daneben werden wir das bereits bekannte eindimensionale Hookesche Gesetz auf den zwei- bzw. den dreidimensionalen Fall erweitern. Schließlich lernen wir Hypothesen kennen, mit deren Hilfe man bei einem r¨ aumlichen Spannungszustand die Beanspruchung des Materials beurteilen kann. Die Studierenden sollen lernen, wie man aus den Deformationsgr¨ oßen die Spannungen - und umgekehrt bestimmen kann.
3.1
Verzerrungszustand
71
3.1
3.1 Verzerrungszustand Bei der einachsigen Deformation eines Zugstabes wurden als kinematische Gr¨ oßen die Verschiebung u und die Dehnung ε = du/dx eingef¨ uhrt (Abschnitt 1.2). Wir wollen nun untersuchen, wie man die Verformung von fl¨ achenf¨ ormigen oder r¨ aumlich ausgedehnten K¨ orpern beschreiben kann. Dabei beschr¨ anken wir uns zun¨achst auf Verformungen in der Ebene und betrachten hierzu eine Scheibe, in der zwei gegeneinander geneigte Quadrate und markiert sind (Abb. 3.1). Wenn die Scheibe z.B. durch eine Normalspannung σ beansprucht wird, dann erf¨ ahrt ein Punkt P eine Verschiebung u aus seiner urspr¨ unglichen Lage in eine neue Lage P . Der Verschiebungsvektor u ist ortsabh¨ angig. Daher ¨ andern sich bei der Verschiebung die Seitenl¨ angen (Quadrat ) bzw. die Seitenl¨angen und die Winkel (Quadrat ).
Abb. 3.1
11 00 00 11 00 11 00 11 00 11 00 11 00 11
undeformierte Scheibe
1
2
deformierte Scheibe
P
P u
σ
¨ Im folgenden betrachten wir die Anderungen der Seitenl¨angen und der Winkel. Dabei beschr¨ anken wir uns auf kleine Deformationen. Abbildung 3.2 zeigt ein infinitesimales Rechteck P QRS mit den Seitenl¨ angen dx und dy im undeformierten Zustand. Bei der Verformung geht es in die neue Lage P Q R S u ¨ ber. Der Verschiebungsvektor u (x, y) des Punktes P (x, y) hat die Komponenten u(x, y) bzw. v(x, y) in x- bzw. in y-Richtung. Die Verschiebung eines zu P benachbarten Punktes kann mit Hilfe von TaylorReihen bestimmt werden. F¨ ur die von den beiden Variablen x und y abh¨ angigen Funktionen u und v gilt dann u(x + dx, y + dy) = u(x, y) +
∂u(x, y) ∂u(x, y) dx + dy + . . . , ∂x ∂y
72
3 Verzerrungszustand, Elastizit¨atsgesetz
v(x + dx, y + dy) = v(x, y) +
∂v(x, y) ∂v(x, y) dx + dy + . . . . ∂x ∂y
Dabei kennzeichnen ∂/∂x bzw. ∂/∂y die partiellen Ableitungen nach den Variablen x bzw. y. u+ ∂u dy ∂y v+ ∂v dy ∂y
S
y
x
R
R
S α
dy
v
∂u dy ∂y
π/2 −γxy u
P u
P dx
Q β
Q u+ ∂u dx ∂x
∂v dx ∂x v+ ∂v dx ∂x
Abb. 3.2
Die Reihen vereinfachen sich f¨ ur die Punkte Q und S. Da sich beim Fortschreiten von P nach Q die y-Koordinate nicht ¨andert (dy = 0), verschiebt sich der Punkt Q bei Vernachl¨assigung von Gliedern h¨ oherer Ordnung um u + ∂u/∂x dx bzw. v + ∂v/∂x dx in x- bzw. in y-Richtung (Abb. 3.2). Entsprechend erhalten wir f¨ ur den Punkt S wegen dx = 0 die Verschiebungskomponenten u + ∂u/∂y dy bzw. v + ∂v/∂y dy. Bei der Verformung geht die Strecke P Q in die Strecke P Q u ¨ber. Da wir uns auf kleine Deformationen (β 1) beschr¨anken, aherungsweise gleich der L¨ange der Proist die L¨ ange von P Q n¨ jektion auf die x-Achse (Abb. 3.2): ∂u ∂u dx − u = dx + dx. P Q ≈ dx + u + ∂x ∂x Wenn wir analog zu Abschnitt 1.2 die Dehnung εx in x-Richtung als das Verh¨ altnis von L¨ angen¨ anderung zu Ausgangsl¨ange einf¨ uh-
3.1
Verzerrungszustand
73
ren, so erhalten wir
∂u dx + dx − dx ∂u P Q − P Q ∂x = . = εx = dx ∂x PQ
Entsprechend geht die Strecke P S in die Strecke ∂v ∂v dy − v = dy + dy P S ≈ dy + v + ∂y ∂y u ¨ ber. Die Dehnung εy in y-Richtung ist dann durch ∂v dy − dy dy + ∂v P S − P S ∂y = εy = = dy ∂y PS gegeben. Demnach gibt es in einer Scheibe die beiden Dehnungen εx =
∂u , ∂x
εy =
∂v . ∂y
(3.1)
¨ Die Anderung des urspr¨ unglich rechten Winkels bei der Verformung ist nach Abb. 3.2 durch α und β gegeben. Wir lesen ab: ∂u dy ∂y , tan α = ∂v dy dy + ∂y
∂v dx ∂x tan β = . ∂u dx dx + ∂x
Wegen der Beschr¨ankung auf kleine Deformationen wird daraus bei Vernachl¨ assigung der zweiten Terme in den Nennern (εx , εy 1) α=
∂u , ∂y
β=
∂v . ∂x
Bezeichnen wir die gesamte Winkel¨ anderung mit γxy , dann erhalten wir γxy = α + β
→
γxy =
∂u ∂v + . ∂y ∂x
(3.2)
74
3 Verzerrungszustand, Elastizit¨atsgesetz
Die Gr¨ oße γ wird Gleitung oder Scherung (Winkelverzerrung) genannt; die Indizes x und y geben an, dass γxy die Winkel¨anderung in der x, y-Ebene beschreibt. Vertauscht man x mit y und u mit v, so erkennt man: γyx = γxy . Unter Verzerrungen versteht man sowohl die Dehnungen als auch die Gleitungen. Sie sind durch die kinematischen Beziehungen (3.1) und (3.2) mit den Verschiebungen verkn¨ upft. Wenn die Verschiebungen gegeben sind, k¨ onnen die Verzerrungen nach (3.1) und (3.2) durch Differenzieren berechnet werden. Durch εx , εy und γxy ist der ebene Verzerrungszustand im Punkt P festgelegt. Man kann zeigen, dass die Dehnungen εx und εy sowie die halbe Winkel¨ anderung εxy = γxy /2 Komponenten eines symmetrischen Tensors ε sind. Dieser Tensor heißt Verzerrungstensor; er l¨ asst sich als Matrix schreiben: ⎤ ⎡ ⎤ ⎡ 1 εx γ εx εxy xy 2 ⎦=⎣ ⎦. ε=⎣ 1 εyx εy 2 γxy εy Die Hauptdiagonale wird von den Dehnungen gebildet, in der Nebendiagonalen stehen die halben Gleitungen. Die in Abschnitt 2.2 angegebenen Eigenschaften des Spannungstensors bei einem ebenen Spannungszustand k¨onnen sinngem¨aß auf den Verzerrungstensor u ¨ bertragen werden. Wir erhalten die Komponenten εξ , εη und εξη = γξη / 2 in einem um den Winkel ϕ (positiv entgegen dem Uhrzeigersinn) gedrehten ξ, η -Koordinatensystem aus den Komponenten εx , εy und γxy / 2 mit Hilfe der Transformationsbeziehungen (2.6). Dabei sind die Spannungen durch die Verzerrungen zu ersetzen: εξ = 12 (εx + εy ) + 12 (εx − εy ) cos 2ϕ + 12 γxy sin 2ϕ , εη = 12 (εx + εy ) − 12 (εx − εy ) cos 2ϕ − 12 γxy sin 2ϕ , (3.3) 1 2 γξη
=
− 12 (εx − εy ) sin 2ϕ + 12 γxy cos 2ϕ .
3.1
Verzerrungszustand
75
Der Verzerrungstensor hat (wie der Spannungstensor) zwei senkrecht aufeinander stehende Hauptrichtungen, die sich in Analogie zu (2.8) aus der folgenden Gleichung bestimmen lassen: tan 2 ϕ∗ =
γxy . εx − εy
(3.4)
Die Hauptdehnungen ε1 und ε2 lauten (vgl. (2.10))
ε1,2
εx + εy ± = 2
εx − εy 2
2 +
1 γxy 2
2 .
(3.5)
Analog zum Mohrschen Spannungskreis kann man einen Mohrschen Verzerrungskreis einf¨ uhren. Dabei sind die Spannungen σ und τ durch die Verzerrungen ε und γ/2 zu ersetzen. ¨ Ein r¨aumlicher Verformungszustand kann durch die Anderungen der Kantenl¨ angen und der Winkel infinitesimaler Quader beschrieben werden. Der Verschiebungsvektor u hat im Raum die Komponenten u, v und w. Dabei h¨ angen die Verschiebungen jetzt von den drei Koordinaten x, y und z ab. Aus ihnen lassen sich die Dehnungen εx =
∂u , ∂x
εy =
∂v , ∂y
εz =
∂w ∂z
(3.6a)
sowie die Gleitungen γxy =
∂w ∂u ∂v ∂u ∂w ∂v + , γxz = + , γyz = + ∂y ∂x ∂z ∂x ∂z ∂y
(3.6b)
bestimmen. Sie bilden die Komponenten des symmetrischen Verzerrungstensors ε und k¨ onnen wie der Spannungstensor (2.4) in einer Matrix angeordnet werden: ⎤ ⎡ ⎤ ⎡ 1 1 εx εx εxy εxz γ γ xy xz 2 2 ⎥ ⎢ ⎥ ⎢ ⎥ ⎢ ⎥ ⎢ 1 1 ⎢ ⎥ ⎥ = (3.7) ε=⎢ γ yz ⎥ ⎢ εyx εy εyz ⎥ ⎢ 2 γxy εy 2 ⎦ ⎣ ⎦ ⎣ 1 1 εzx εzy εz εz 2 γxz 2 γyz
76
3 Verzerrungszustand, Elastizit¨atsgesetz
Die Hauptdiagonale wird dabei von den Dehnungen gebildet; die u ¨brigen Elemente sind die halben Gleitungen. Es sei darauf hingewiesen, dass man die zweiten und die dritten Gleichungen in (3.6a) und (3.6b) aus der jeweils ersten auch einfach durch zyklische Vertauschung erhalten kann (man ersetzt dabei x durch y, y durch z und z durch x sowie u durch v, v durch w und w durch u).
3.2
3.2 Elastizit¨ atsgesetz Die Verzerrungen in einem Bauteil sind von der Belastung und damit von den Spannungen abh¨ angig. Nach Kapitel 1 sind Spannungen und Verzerrungen durch das Elastizit¨ atsgesetz verkn¨ upft. Es hat im einachsigen Fall (Stab) die Form σ = E ε, wobei E der Elastizit¨ atsmodul ist. Wir wollen nun das Elastizit¨ atsgesetz f¨ ur den ebenen Spannungszustand angeben. Dabei beschr¨ anken wir uns auf Werkstoffe, die homogen und isotrop sind. Ein homogener Werkstoff hat an jeder Stelle die gleichen Eigenschaften; bei einem isotropen Werkstoff sind die Eigenschaften in allen Richtungen gleich. Ein Beispiel f¨ ur ein anisotropes Material ist Holz: durch die Faserung sind die Steifigkeiten in verschiedenen Richtungen unterschiedlich. σx
σx
y x
Abb. 3.3
Zur Herleitung des Elastizit¨ atsgesetzes betrachten wir ein aus einer Scheibe herausgeschnittenes Rechteck, in dem nach Abb. 3.3 nur eine Normalspannung σx wirkt. Dann gilt entsprechend (1.8) εx =
1 σx . E
Messungen zeigen, dass die Spannung σx nicht nur eine Vergr¨ oßerung der L¨ ange, sondern gleichzeitig eine Verkleinerung der Breite des Rechtecks bewirkt. Daher tritt auch eine Dehnung εy in
3.2
Elastizit¨atsgesetz
77
y-Richtung auf. Diesen Vorgang nennt man Querkontraktion. Der Betrag der Querdehnung εy ist proportional zur L¨angsdehnung εx ; es gilt: εy = − ν εx .
(3.8)
Der dimensionslose Faktor ν heißt Querkontraktionszahl oder nach Sim´eon Denis Poisson (1781–1840) Poissonsche Zahl. Diese Zahl ist eine Materialkonstante und aus Experimenten zu bestimmen. F¨ ur die meisten metallischen Werkstoffe gilt ν ≈ 0, 3. Die Spannung σx verursacht demnach die Dehnungen εx = σx /E und εy = −ν σx /E. Entsprechend erzeugt eine Spannung σy die Dehnungen εx = −ν σy /E und εy = σy /E. Wirken sowohl σx als auch σy , so erhalten wir die gesamten Dehnungen durch Superposition: εx =
1 (σx − ν σy ) , E
εy =
1 (σy − ν σx ) . E
(3.9)
Es sei angemerkt, dass die Spannungen σx und σy auch zu einer Querkontraktion in z-Richtung f¨ uhren: ν ν ν σx − σy = − (σx + σy ) . εz = − E E E Demnach ruft ein ebener Spannungszustand einen r¨aumlichen Verzerrungszustand hervor. Da wir hier nur die Verformungen in der Ebene untersuchen, wird die Dehnung in z-Richtung im folgenden nicht mehr betrachtet. τxy
τxy
y x Abb. 3.4
π/2 −γxy
Wenn man eine Scheibe (Abb. 3.4) nur durch Schubspannungen τxy belastet (reiner Schub), so stellt man im Experiment einen linearen Zusammenhang zwischen der Gleitung γxy und der Schub-
78
3 Verzerrungszustand, Elastizit¨atsgesetz
spannung τxy fest: τxy = G γxy .
(3.10)
Der Proportionalit¨ atsfaktor G heißt Schubmodul. Er ist ein Materialparameter und kann experimentell in einem Schubversuch oder in einem Torsionsversuch ermittelt werden. Der Schubmodul G hat die gleiche Dimension wie der Elastizit¨atsmodul E, d.h. Kraft/Fl¨ ache, und er wird z.B. in N/mm2 angegeben. Man kann zeigen, dass f¨ ur isotrope elastische Werkstoffe nur zwei unabh¨angige Materialkonstanten existieren. Zwischen den drei Konstanten E, G und ν besteht der Zusammenhang G=
E . 2(1 + ν)
(3.11)
Die Beziehungen (3.9) und (3.10) stellen das Hookesche Gesetz f¨ ur einen ebenen Spannungszustand dar: εx =
1 (σx − ν σy ) , E
εy =
1 (σy − ν σx ) , E
γxy =
1 τxy . G
(3.12)
Wenn man (3.12) in (3.4) zur Bestimmung der Hauptrichtungen des Verzerrungstensors einsetzt, so erh¨ alt man mit (3.11) 1 τxy E τxy G = tan 2 ϕ = 1 1 G(1 + ν)(σx − σy ) (σx − ν σy ) − (σy − ν σx ) E E 2 τxy . = σx − σy ∗
Durch Vergleich mit (2.8) erkennt man, dass (bei einem isotropen elastischen Werkstoff) die Hauptrichtungen des Verzerrungstensors mit denen des Spannungstensors u ¨ bereinstimmen.
3.2
Elastizit¨atsgesetz
79
Das Hookesche Gesetz (3.12) gilt in jedem beliebigen kartesischen Koordinatensystem. Speziell in einem Hauptachsensystem lautet es 1 1 ε2 = (σ2 − ν σ1 ). (3.13) ε1 = (σ1 − ν σ2 ) , E E Ohne auf die Herleitung einzugehen, wollen wir noch das Hookesche Gesetz im Raum angeben. Dabei sollen außerdem Temperatur¨ anderungen ber¨ ucksichtigt werden. Wie Experimente zeigen, f¨ uhrt eine Temperatur¨ anderung ΔT bei isotropem Material nur zu Dehnungen: εxT = εyT = εzT = αT ΔT. Winkel¨ anderungen treten infolge ΔT nicht auf. Dann lautet das Hookesche Gesetz in Verallgemeinerung von (3.12) εx =
1 [σx − ν(σy + σz )] + αT ΔT , E
εy =
1 [σy − ν(σz + σx )] + αT ΔT , E
εz =
1 [σz − ν(σx + σy )] + αT ΔT , E
γxy =
1 τxy , G
γxz =
1 τxz , G
γyz =
(3.14)
1 τyz . G
Beispiel 3.1 In einem Stahlblech wurden mit Hilfe einer Dehnungs-
messstreifenrosette die Dehnungen εa = 12 · 10−4 , εb = 2 · 10−4 und εc = −2 · 10−4 in den drei Richtungen a, b und c gemessen (Abb. 3.5a). Man bestimme die Hauptdehnungen, die Hauptspannungen und die Hauptrichtungen. L¨ osung Wir f¨ uhren die beiden Koordinatensysteme x, y und ξ, η nach Abb. 3.5b ein. Mit dem Winkel ϕ = −45◦ folgt aus den ersten zwei Transformationsgleichungen (3.3)
B3.1
80
3 Verzerrungszustand, Elastizit¨atsgesetz
y Dehnungsmessstreifen
c
η 2 ∗
45◦
ϕ b
x
45◦
ϕ = − 45◦
ξ a
εξ =
1
b
a
1 1 (εx + εy ) − γxy , 2 2
εη =
Abb. 3.5
1 1 (εx + εy ) + γxy . 2 2
Addieren bzw. Subtrahieren liefert εξ + εη = εx + εy ,
εη − εξ = γxy .
Mit εξ = εa , εη = εc und εx = εb folgen daraus εy = εa + εc − εb = 8 · 10−4 ,
γxy = εc − εa = −14 · 10−4 .
Die Hauptdehnungen und die Hauptrichtungen erhalten wir nach (3.5) und (3.4): √ ε1,2 = (5 ± 9 + 49) · 10−4 → ε1 = 12, 6 · 10−4 , ε2 = −2, 6 · 10−4 , tan 2 ϕ∗ =
−14 = 2, 33 → ϕ∗ = 33, 4◦ . −6
Durch Einsetzen in (3.3) kann man feststellen, dass zu diesem ort. Die Hauptachsen 1 und 2 Winkel die Hauptdehnung ε2 geh¨ sind in Abb. 3.5b dargestellt. Aufl¨ osen von (3.13) nach den Spannungen liefert σ1 =
E (ε1 + ν ε2 ), 1 − ν2
σ2 =
E (ε2 + ν ε1 ) . 1 − ν2
Mit E = 2, 1 · 105 N/mm2 und ν = 0, 3 ergibt sich 2
σ1 = 273 N/mm ,
2
σ2 = 27 N/mm .
3.2
Elastizit¨atsgesetz
81
Beispiel 3.2 Ein Stahlquader mit quadratischer Grundfl¨ ache (h = 60 mm, a = 40 mm) passt im unbelasteten Zustand genau in einen Hohlraum mit starren W¨ anden (Abb. 3.6a). Wie a ndert sich seine H¨ ohe, wenn er ¨
a) durch eine Kraft F = 160 kN belastet wird, oder armt wird? b) gleichm¨ aßig um ΔT = 100◦ C erw¨ Dabei soll angenommen werden, dass die Kraft F gleichf¨ormig u ache verteilt wird und der Quader an den Seiten¨ ber die Deckfl¨ fl¨ achen reibungsfrei gleiten kann. F
1111111 0000000 0000000 1111111 0000000 1111111 0000000 1111111 0000000 1111111 0000000 1111111
σz z
h
Abb. 3.6
a
a
y
x σx
b
L¨ osung a) Im Quader herrscht ein homogener, r¨ aumlicher Span-
nungszustand. Die von der Druckkraft F hervorgerufene Spannung σz in vertikaler Richtung (vgl. Abb. 3.6b) ist bekannt: σz = −
F . a2
Da der Quader in x- und in y-Richtung keine Dehnungen erfahren kann, gilt εx = εy = 0 . Wenn man dies in die ersten zwei Gleichungen des Hookeschen Gesetzes (3.14) einsetzt, so erh¨ alt man mit ΔT = 0: σx − ν (σy + σz ) = 0 σy − ν (σz + σx ) = 0
→
σx = σy =
ν σz . 1−ν
B3.2
82
3 Verzerrungszustand, Elastizit¨atsgesetz
Damit folgt aus der dritten Gleichung (3.14) die Dehnung in vertikaler Richtung: 1 σz 2 ν2 εz = [σz − ν(σx + σy )] = 1− E E 1−ν =−
F (1 + ν)(1 − 2 ν) . a2 E 1−ν
Die Dehnung εz ist konstant. Sie ist daher gleich der H¨ohen¨anderung Δh bezogen auf die H¨ ohe h (vgl. Abschnitt 1.2): εz = Δh/h. Daraus ergibt sich mit E = 2,1 ·105 N/mm2 und ν = 0,3 die H¨ ohen¨ anderung Δh = εz h = −
F h (1 + ν)(1 − 2 ν) = −0, 02 mm . a2 E 1−ν
b) Nun werde der Quader um ΔT erw¨ armt, ohne dass auf der Deckfl¨ ache eine Druckkraft wirkt (F = 0). Dann verschwindet die Spannung in vertikaler Richtung: σz = 0 . Da sich der Quader in x- und in y-Richtung nicht ausdehnen kann, gilt weiterhin εx = εy = 0. Die ersten zwei Gleichungen des Hookeschen Gesetzes (3.14) liefern nun σx − ν σy + E αT ΔT = 0 σy − ν σx + E αT ΔT = 0
→
σx = σy = −
E αT ΔT . 1−ν
Damit folgt aus der dritten Gleichung (3.14) die Dehnung in vertikaler Richtung zu εz = −
ν 1+ν (σx + σy ) + αT ΔT = α ΔT . E 1−ν T
Dies ergibt mit αT = 1, 2 · 10−5 /◦ C die H¨ ohen¨anderung Δh = εz h =
1+ν α ΔT h = 0, 13mm . 1−ν T
3.3
Festigkeitshypothesen
83
3.3
3.3 Festigkeitshypothesen F¨ ur einen Stab unter Zugbelastung kann man aus dem SpannungsDehnungs-Diagramm entnehmen, bei welcher Spannung ein Versagen der Tragf¨ ahigkeit des Stabes (zum Beispiel plastisches Fließen oder Bruch) eintritt. Um ein solches Versagen auszuschließen, f¨ uhrt man eine zul¨assige Spannung σzul ein und fordert, dass die Spannung σ im Stab nicht gr¨ oßer als σzul wird: σ ≤ σzul (vgl. Kapitel 1). In einem beliebigen Bauteil herrscht ein r¨ aumlicher Spannungszustand. Auch hier stellt sich die Frage, bei welcher Beanspruchung das Bauteil seine Tragf¨ ahigkeit verliert. Da es keine Versuchsanordnung gibt, mit der sich diese Frage allgemein beant¨ worten l¨ asst, stellt man mit Hilfe von theoretischen Uberlegungen und speziellen Experimenten Hypothesen auf. Bei einer solchen Festigkeitshypothese berechnet man nach einer bestimmten Vorschrift aus den im Bauteil auftretenden Normal- und Schubspannungen eine Spannung σV . Diese Spannung soll, wenn man sie an einem Zugstab aufbringt, den Werkstoff genau so stark beanspruchen wie der gegebene r¨ aumliche Spannungszustand den betrachteten K¨ orper. Man kann somit die Beanspruchung im Bauteil mit der in einem Zugstab vergleichen; aus diesem Grund heißt σV Vergleichsspannung. Damit das Bauteil seine Tragf¨ahigkeit nicht verliert, darf daher die Vergleichsspannung nicht gr¨oßer als die zul¨ assige Spannung sein: σV ≤ σzul .
(3.15)
Wir wollen im folgenden drei verschiedene Festigkeitshypothesen angeben, wobei wir uns auf ebene Spannungszust¨ande beschr¨ anken. 1) Normalspannungshypothese: Hier wird angenommen, dass f¨ ur die Materialbeanspruchung die gr¨ oßte Normalspannung maßgeblich ist: σV = σ1 .
(3.16)
84
3 Verzerrungszustand, Elastizit¨atsgesetz
2) Schubspannungshypothese: Dieser Hypothese liegt die Annahme zugrunde, dass die Materialbeanspruchung durch die maximale Schubspannung charakterisiert werden kann. Nach (2.12b) ist im ebenen Zustand τmax = 12 (σ1 − σ2 ); in einem Zugstab, der durch σV belastet wird, ist die maximale Schubspannung nach (1.3) durch τmax = 12 σV gegeben. Gleichsetzen liefert τmax =
1 1 (σ1 − σ2 ) = σV 2 2
→
Mit (2.10) erh¨ alt man daraus 2 . σV = (σx − σy )2 + 4 τxy
σV = σ1 − σ2 .
(3.17)
´ Diese Hypothese wurde 1864 von Henri Edouard Tresca (1814– 1885) aufgestellt und wird h¨ aufig nach ihm benannt (Anmerkung: ur den ebenen Fall gilt nur, wenn Die Beziehung σV = σ1 − σ2 f¨ beide Spannungen unterschiedliche Vorzeichen haben. Andernfalls aßig gr¨ oßte Spannung σ1 oder σ2 gew¨ahlt muss als σV die betragsm¨ werden). 3) Hypothese der Gestalt¨anderungsenergie: Hierbei wird angenommen, dass die Materialbeanspruchung durch denjenigen Ener¨ gieanteil charakterisiert wird, der zur Anderung der Gestalt“ ” (bei gleichbleibendem Volumen) ben¨ otigt wird. Wir geben die Vergleichsspannungen an, ohne auf die Herleitung einzugehen: σV = σ12 + σ22 − σ1 σ2 bzw. σV =
2 . σx2 + σy2 − σx σy + 3τxy
(3.18)
Diese Hypothese wird auch nach Maxymilian Tytus Huber (1872– 1950), Richard von Mises (1883–1953) und Heinrich Hencky (1885– 1951) benannt. Bei z¨ ahen Werkstoffen stimmt die Hypothese der Gestalt¨anderungsenergie am besten mit Experimenten u ¨ berein, w¨ahrend bei spr¨ odem Material die Normalspannungshypothese bessere Ergebnisse liefert.
3.3
Festigkeitshypothesen
85
Im Beispiel 5.3 wird die Hypothese der Gestalt¨anderungsenergie zur Dimensionierung einer Welle angewendet, die auf Biegung und Torsion beansprucht wird.
86
3.4
3 Verzerrungszustand, Elastizit¨atsgesetz
3.4 Zusammenfassung • Der Deformationszustand in einem Punkt eines K¨orpers wird durch den Verschiebungsvektor u und durch den Verzerrungstensor ε beschrieben. Letzterer hat im r¨ aumlichen Fall 3 × 3 Komponenten (beachte Symmetrie). Im ebenen Verzerrungszustand (EVZ) reduziert er sich auf
εx 21 γxy εx εxy = 1 mit εxy = εyx . ε= εyx εy 2 γyx εy • Zusammenhang zwischen den Verschiebungen u, v, den Dehanderung γxy : nungen εx , εy und der Winkel¨ εx =
∂u , ∂x
εy =
∂v , ∂y
γxy =
∂u ∂v + . ∂y ∂x
• Die Transformationsbeziehungen sowie die Gleichungen zur Bestimmung der Hauptdehnungen und Hauptdehnungsrichtungen sind analog zu denen f¨ ur die Spannungen. Entsprechendes gilt f¨ ur den Mohrschen Verzerrungskreis. • Die Hauptspannungsrichtungen und Hauptdehnungsrichtungen stimmen beim elastischen isotropen Material u ¨ berein. • Hookesches Gesetz (dreidimensional): Eεx = σx − ν(σy + σz ) + EαT ΔT ,
Gγxy = τxy .
Je zwei weitere Gleichungen ergeben sich durch zyklische Vertauschung. • Zusammenhang zwischen G, E und ν bei isotropem Werkstoff: G=
E . 2(1 + ν)
• Zur Beurteilung der Materialbeanspruchung bestimmt man im zwei- bzw. im dreidimensionalen Fall mit Hilfe einer Festigkeitshypothese eine Vergleichsspannung σV . Beispiel: Gestalt¨ anderungsenergiehypothese (v. Mises) im ESZ 2 . σV = σx2 + σy2 − σx σy + 3τxy
Kapitel 4 Balkenbiegung
4
4 Balkenbiegung 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.4 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.6 4.6.1 4.6.2 4.7 4.8 4.9 4.10 4.11
Einf¨ uhrung ....................................................... Fl¨achentr¨agheitsmomente ..................................... Definition ......................................................... Parallelverschiebung der Bezugsachsen..................... Drehung des Bezugssystems, Haupttr¨agheitsmomente . Grundgleichungen der geraden Biegung ................... Normalspannungen ............................................. Biegelinie ......................................................... Differentialgleichung der Biegelinie ......................... Einfeldbalken..................................................... Balken mit mehreren Feldern ................................ Superposition .................................................... Einfluss des Schubes ........................................... Schubspannungen ............................................... Durchbiegung infolge Schub.................................. Schiefe Biegung ................................................. Biegung und Zug/Druck ...................................... Kern des Querschnitts ......................................... Temperaturbelastung........................................... Zusammenfassung ..............................................
89 91 91 98 100 108 112 115 115 119 129 133 143 143 153 155 163 167 169 173
Lernziele: In diesem Kapitel werden die Grundgleichungen der Balkentheorie behandelt. Es wird gezeigt, wie man mit ihrer Hilfe die Durchbiegung von Balken und die dabei auftretenden Spannungen bestimmt. Diese Theorie versetzt uns auch in die Lage, statisch unbestimmt gelagerte Balken zu analysieren. Die Studierenden sollen lernen, wie man die Gleichungen zur L¨osung von konkreten Problemen zweckm¨ aßig anwendet.
4.1
Einf¨ uhrung
89
4.1
4.1 Einf¨ uhrung Wir wollen uns in diesem Kapitel mit einem der wichtigsten Konstruktionselemente – dem Balken – befassen. Hierunter versteht man ein stabf¨ ormiges Bauteil, dessen Querschnittsabmessungen sehr viel kleiner sind als seine L¨ ange und das im Unterschied zum Stab jedoch senkrecht zu seiner L¨ angsachse belastet ist. Unter der Wirkung der ¨ außeren Lasten deformiert sich der urspr¨ unglich gerade elastische Balken (Abb. 4.1a); man spricht in diesem Fall von einer Biegung des Balkens. In den Querschnitten treten dabei verteilte innere Kr¨afte – die Spannungen – auf, deren Resultierende die Querkraft Q und das Biegemoment M sind (vgl. Band 1). Es ist Ziel der Balkentheorie, Gleichungen zur Berechnung der Spannungen und der Deformationen bereitzustellen. F
a
undeformierter Balken
F
q
x
c
deformierter Balken
F
a
a
x
y
S
y
σ
σ
z
z dA
b
A
=
x
M y
x
z d
z
Abb. 4.1
Wir betrachten zun¨ achst einen Balken mit einfach-symmetrischem Querschnitt und f¨ uhren ein Koordinatensystem ein (Abb. ¨ 4.1b). In Ubereinstimmung mit Band 1 zeigt die x-Achse (Balkenachse) in Balkenl¨ angsrichtung und geht durch die Fl¨achenschwerpunkte S aller Querschnitte (eine Begr¨ undung hierf¨ ur werden wir
90
4 Balkenbiegung
in Abschnitt 4.3 geben). Die z-Achse zeigt nach unten, und y bildet mit x und z ein Rechtssystem. Der Balken sei zun¨ achst so belastet, dass als einzige Schnittgr¨ oße ein Biegemoment M auftritt. Die entsprechende Beanspruchung nennt man reine Biegung. So ist zum Beispiel der Tr¨ager nach Abb. 4.1c zwischen den beiden Kr¨ aften F auf reine Biegung beansprucht. In einem solchen Fall wirken in den Querschnitten nur Normalspannungen σ in x-Richtung (Abb. 4.1b, d). Sie sind, wie wir in den Abschnitten 4.3 und 4.4 zeigen werden, linear u ¨ ber den Querschnitt verteilt. Mit einem Proportionalit¨atsfaktor c gilt σ (z) = c z .
(4.1)
Das Biegemoment M ist ¨ aquivalent zum Moment der verteilten Normalspannungen bez¨ uglich der y-Achse (Abb. 4.1d). Es ergibt sich mit der infinitesimalen Kraft dF = σ dA aus dem infinitesimalen Moment dM = z dF = z σ dA (Abb. 4.1b) zu M = z σ dA . (4.2) Einsetzen von (4.1) liefert M = c z 2 dA . F¨ uhren wir mit I = z 2 dA
(4.3)
das Fl¨achentr¨agheitsmoment I ein, so ergibt sich c = M/I. Damit folgt aus (4.1) der Zusammenhang zwischen der Spannung und dem Biegemoment: σ=
M z. I
(4.4)
Wie man aus (4.4) ablesen kann, h¨ angt die Spannung an einer beliebigen Stelle z nicht nur vom Moment M , sondern auch vom Fl¨ achentr¨ agheitsmoment I ab. Letzteres ist eine geometri-
4.2
Fl¨achentr¨agheitsmomente
91
sche Gr¨ oße des Querschnitts, die bei der Biegung eine wesentliche Rolle spielt. Der Name Fl¨ achentr¨ agheitsmoment“ leitet sich ” vom Tr¨ agheitsmoment“ eines K¨ orpers ab. Diese dem Fl¨achen” tr¨ agheitsmoment ¨ ahnliche Gr¨ oße tritt in der Kinetik (vgl. Band 3) auf und beschreibt die Tr¨ agheitswirkung einer Masse bei der Drehung. Wir werden uns im n¨ achsten Abschnitt eingehender mit den Eigenschaften von Fl¨ achentr¨ agheitsmomenten befassen.
4.2
4.2 Fl¨ achentr¨ agheitsmomente 4.2.1 Definition
Wir betrachten in Abb. 4.2 eine Fl¨ ache A in der y, z-Ebene. Die Bezeichnung der Achsen und die Achsenrichtungen (z nach unten, y nach links) w¨ ahlen wir dabei in Anlehnung an die Verh¨altnisse bei einem Balkenquerschnitt. Der Koordinatenursprung 0 liege an einer beliebigen Stelle. A y
0 z r dA
Abb. 4.2
y
z
1 y dA, zs = Bei der Bestimmung der Koordinaten ys = A 1 z dA des Fl¨ a chenschwerpunktes treten die Fl¨ a chenmomente A erster Ordnung oder statischen Momente Sz = y dA (4.5) Sy = z dA, bez¨ uglich der y-Achse bzw. der z-Achse auf (vgl. Band 1, Abschnitt 4.3). Sie enthalten die Abst¨ ande y bzw. z des Fl¨achenelementes dA in der ersten Potenz. Fl¨ achenintegrale, welche die Abst¨ ande des Fl¨ achenelementes in zweiter Potenz oder als Produkt enthalten, bezeichnet man als
92
4 Balkenbiegung
Fl¨achenmomente zweiter Ordnung oder Fl¨achentr¨agheitsmomente. Sie sind wie folgt definiert: Iy = Iyz = Ip =
z 2 dA, Izy = −
Iz =
y 2 dA ,
(4.6a)
y z dA ,
(4.6b)
r2 dA = (z 2 + y 2 ) dA = Iy + Iz .
(4.6c)
ugMan nennt Iy bzw. Iz das axiale Fl¨achentr¨agheitsmoment bez¨ lich der y- bzw. der z-Achse, Iyz das Deviationsmoment oder Zentrifugalmoment und Ip das polare Fl¨achentr¨agheitsmoment. Fl¨achentr¨ agheitsmomente haben die Dimension L¨ange4 ; sie werden z.B. in Vielfachen der Einheit cm4 angegeben. Die Gr¨ oße eines Fl¨ achentr¨ agheitsmoments ist von der Lage des Koordinatenursprungs und von der Richtung der Achsen abh¨angig. W¨ ahrend Iy , Iz und Ip immer positiv sind, kann Iyz positiv, negativ oder Null sein. Letzteres tritt insbesondere dann ein, wenn die Fl¨ ache A symmetrisch bez¨ uglich einer der Achsen ist. So existiert zum Beispiel bei Symmetrie bez¨ uglich der z-Achse (Abb. 4.3a) zu jedem Fl¨ achenelement dA mit positivem Abstand y ein Element mit gleichem negativen Abstand. Das Integral (4.6b) u ¨ ber die gesamte Fl¨ ache ist daher Null. In manchen F¨ allen ist es zweckm¨ aßig, an Stelle der Fl¨achentr¨agheitsmomente die zugeordneten Tr¨agheitsradien zu verwenden. Sie A3
A
A4 A2
0 y z dA a
z
+y −y z
0
y
dA
A1 b
z
Abb. 4.3
4.2
werden definiert durch Iy Iz iy = , iz = , A A
Fl¨achentr¨agheitsmomente
ip =
Ip A
93
(4.7)
und haben die Dimension einer L¨ ange. Aus (4.7) folgt zum Bei2 spiel Iy = iy A. Demnach kann man iy als denjenigen Abstand von der y-Achse interpretieren, in dem man sich die Fl¨ache A konzentriert“ denken muss, damit sie das Tr¨ agheitsmoment Iy ” besitzt. H¨ aufig ist eine Fl¨ ache A aus Teilfl¨ achen Ai zusammengesetzt (Abb. 4.3b), deren Tr¨ agheitsmomente man kennt. In diesem Fall errechnet sich z.B. das Tr¨ agheitsmoment bez¨ uglich der y-Achse aus den Tr¨ agheitsmomenten Iyi der einzelnen Teilfl¨achen bzgl. dieser Achse: Iyi . Iy = z 2 dA = z 2 dA + z 2 dA + . . . = A
A1
A2
Analog erh¨ alt man auch die anderen Fl¨ achentr¨agheitsmomente durch Summation: Izi , Iyz = Iyzi . Iz = In einem Anwendungsbeispiel berechnen wir die Fl¨achenmomente zweiter Ordnung f¨ ur ein Rechteck (Breite b, H¨ohe h) bez¨ uglich der seitenparallelen Achsen y und z durch den Schwerpunkt ahlen wir ein Fl¨achenS (Abb. 4.4a). Zur Bestimmung von Iy w¨ element dA nach Abb. 4.4b, bei dem alle Punkte den gleichen Abstand z von der y-Achse haben. Damit erhalten wir Iy =
+h/2 2
z 2 (b dz) =
z dA = −h/2
b z 3 +h/2 b h3 . = 3 −h/2 12
(4.8a)
Durch Vertauschen von b und h ergibt sich Iz =
h b3 . 12
(4.8b)
94
4 Balkenbiegung
b
−h/2
y¯ S
y
h
y
z
dz
dA = b dz
+h/2
z
a
z¯
b
z
Abb. 4.4
Da im Beispiel die z-Achse eine Symmetrieachse ist, verschwindet das Deviationsmoment: Iyz = 0
(4.8c)
(in diesem Beispiel ist auch die y-Achse eine Symmetrieachse). Das polare Tr¨ agheitsmoment errechnen wir nach (4.6c) zweckm¨aßig mit Hilfe der schon bekannten Gr¨ oßen Iy und Iz : Ip = Iy + Iz =
h b3 bh 2 b h3 + = (h + b2 ). 12 12 12
(4.8d)
Die Tr¨ agheitsradien folgen aus (4.7) mit der Fl¨ache A = b h und √ 2 der L¨ ange d = b + h2 der Rechteckdiagonalen zu h iy = √ , 2 3
b iz = √ , 2 3
d ip = √ . 2 3
(4.8e)
In einem weiteren Beispiel bestimmen wir die Tr¨agheitsmomente f¨ ur eine Kreisfl¨ ache (Radius R) mit dem Koordinatenursprung im Mittelpunkt (Abb. 4.5a). Da wegen der Symmetrie die Tr¨ agheitsmomente f¨ ur alle Achsen gleich sind, gilt mit (4.6c) Iy = Iz =
1 Ip . 2
(4.9)
Das Deviationsmoment Iyz ist Null (Symmetrie). Wir berechnen ahlen dazu als Fl¨ achenelement einen infinihier zuerst Ip und w¨ tesimalen Kreisring (Abb. 4.5b). Bei ihm haben alle Punkte den
4.2
Fl¨achentr¨agheitsmomente
95
dr R
S y
r
y
a
b
z
dA = 2πr dr
z
t