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Stefan Lautenbacher Siegfried Gauggel (Hrsg.) Neuropsychologie psychischer Störungen 2., vollständig aktualisierte und erweiterte Auflage
Stefan Lautenbacher Siegfried Gauggel (Hrsg.)
Neuropsychologie psychischer Störungen 2., vollständig aktualisierte und erweiterte Auflage
Mit 51 zum Teil farbigen Abbildungen und 54 Tabellen
123
Prof. Dr. Stefan Lautenbacher Otto-Friedrich-Universität Bamberg Lehrstuhl für Physiologische Psychologie Markusplatz 3 96045 Bamberg
Prof. Dr. Siegfried Gauggel RWTH Aachen Institut für Medizinische Psychologie und Soziologie Pauwelsstraße 30 52074 Aachen
ISBN 978-3-540-72339-4 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Springer-Verlag GmbH ein Unternehmen von Springer Science+Business springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2004, 2010 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literarturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden.
Planung: Monika Radecki Projektmanagement: Michael Barton Lektorat: Friederike Moldenhauer, Hamburg Layout und Umschlaggestaltung: deblik Berlin Fotonachweis des rechten Überzugfotos: © tabato/imagesource.com Satz und digitale Bildbearbeitung: Fotosatz-Service Köhler GmbH – Reinhold Schöberl, Würzburg SPIN: 11759706 Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126 – 5 4 3 2 1 0
V
Geleitwort zur 2. Auflage Die Neuropsychologie hat – im Einklang mit der von mir vertretenen psychiatrischen Forschung – schon immer die Ansicht vertreten, dass jeder psychischen Veränderung eine Veränderung von Hirnfunktion und -struktur zugrunde liegen muss. In dieser grundlegenden Hypothese sind sich Neuropsychologie und Psychiatrie, die sich sonst in der klinischen und wissenschaftlichen Methodik oft unterscheiden, einig. Sollte eine solche heutzutage fast selbstverständlich anmutende Annahme nur gelten, wenn Patienten von Schlaganfällen, Schädel-Hirn-Traumata oder atrophischen Hirnprozessen befallen sind, also wenn die Erkrankungen den neurologischen Krankheitsbildern zuzuordnen sind? Natürlich nicht, auch wenn die traditionelle Neuropsychologie manchmal diesen Standpunkt zu vertreten scheint. Es ist unbestreitbar, dass auch bei den psychischen Störungen die noch immer in diagnostische Kategorien zusammengefasst werden, zelluläre Funktionsänderungen vorliegen, die zu Beeinträchtigungen in der Ausbreitung neuronaler Aktivität in spezialisierten Schaltkreisen führen. Die Funktion des Gehirns ist nur in anderer Weise gestört, etwa durch biochemische Imbalancen sowie Inkohärenzen in neuronalen Netzwerkstörungen und nicht durch massenhafte Zelluntergänge in bestimmten Erkrankungsbzw. Verletzungsfeldern. Es ist daher nötig, auch zu fragen, ob und welche neuropsychologischen Fehlfunktionen bei Patienten mit psychischen Störungen zu beobachten sind. Die Forschung zu kognitiven Beeinträchtigungen bei Patienten mit der Diagnose Schizophrenie unterstreicht, dass hier sogar stark ausgeprägte Störungen der Kognition auftreten können. Auf solche Sachverhalte hingewiesen zu haben, war das große Verdienst der Professoren Stefan Lautenbacher (Bamberg) und Siegfried Gauggel (Aachen) bereits bei der ersten Auflage. Erfreulicherweise verspricht die 2. Auflage dieses wichtigen Werkes, die noch immer nicht ganz selbstverständliche Perspektive einer Neuropsychologie psychischer Störungen zu verstetigen und weiter zu vertiefen. In der zweiten Auflage werden die neuen Erkenntnisse erläutert und in der ersten Auflage bereits dargestellte Zusammenhänge auf den neuesten Stand gebracht. Die Neuropsychologie des Schlafes bzw. der posttraumatischen Belastungsstörungen sind hierfür besonders eindrucksvolle Beispiele. Ich wünsche daher der zweiten Auflage des vorliegenden Buches einen ähnlich großen Erfolg wie ihn schon die erste Auflage hatte. Professor Dr. Dr. Dr. h.c. Florian Holsboer Direktor des Max-Planck-Institutes für Psychiatrie (München)
Geleitwort zur 1. Auflage Neuropsychologisch fundierte Verfahren – experimentelle, klinisch-diagnostische wie auch therapeutische – sind bereits seit langer Zeit Teil eines Instrumentariums psychiatrischer Forschung und Krankenversorgung. Spezifische neuropsychologische Defizitprofile waren und sind Hilfsmittel, um Informationen zur funktionell-neuroanatomischen Lokalisation und Organisation psychischer Erkrankungen zu erhalten. Neuropsychologische Diagnostik ist vielfach ein zentraler Bestandteil von Untersuchungen zu erwünschten oder unerwünschten Wirkungen von psychopharmakologischen Interventionen bei unterschiedlichen psychiatrischen Erkrankungsbildern oder zu differenzialdiagnostischen Abgrenzungen, z.B. im Kontext einer Depressions- oder Demenzdiagnostik. Der Stellenwert neuropsychologischer Diagnostik und Intervention im Kontext psychiatrischer Forschung und Krankenversorgung hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht, was u.a. in der Tatsache, dass bereits viele psychiatrische Kliniken eigenständige neuropsychologische Abteilungen unterhalten, zum Ausdruck kommt. Dennoch ist die Neuropsychologie im fachlichen Selbstverständnis vieler Nervenärzte, Psychiater und Psychotherapeuten noch mit dem Label der »Hilfswissenschaft« versehen. In dem vorliegenden Buch zur »Neuropsychologie psychischer Störungen« wird nunmehr erstmalig in der deutschsprachigen Literatur ein Perspektivwechsel dargestellt. Psychische Störungen werden aus dem spezifischen Blickwinkel neuropsychologischer Forschung, Diagnostik und Therapie diskutiert. Damit ist es den Autoren und Herausgebern gelungen, nicht nur den Stellenwert der Neuropsychologie zu untermauern, sondern ebenso einen Beitrag zur neurowissenschaftlichen Fundierung der Erforschung und Behandlung psychischer Störungen zu leisten. Prof. Dr. Dr. Manfred Herrmann Zentrum für Kognitionswissenschaften, Universität Bremen
VII
Vorwort zur 2. Auflage Liebe Leserinnen, lieber Leser, wir freuen uns, dass das Interesse an unserem Buch nach seiner Publikation so groß gewesen ist, dass die erste Auflage relativ schnell vergriffen war und der Springer-Verlag uns gebeten hat, eine zweite Auflage herauszugeben. Wir waren sehr erfreut und auch geehrt über dieses Angebot und haben die Gelegenheit genutzt, um zusammen mit den vielen Autoren der ersten Auflage die verschiedenen Kapitel nicht nur zu überarbeiten, sondern auch noch weitere – aus unserer Sicht – sehr interessante und spannende neue Kapitel in die zweite Auflage aufzunehmen. Dadurch hat sich nicht nur die Seitenzahl der zweiten Auflage vergrößert, was dem Verlag einige Kopfschmerzen bereitet hat, sondern auch die Anzahl der behandelten Themen. Die zweite Auflage hat jetzt eine noch größere thematische Breite und verdeutlicht sehr anschaulich, welchen eminenten wissenschaftlichen Beitrag die Neuropsychologie bei der Erforschung psychischer Störungen geleistet hat und noch immer leistet. Dank der Ergebnisse neuropsychologischer Studien haben wir heute ein viel besseres Verständnis der Entstehung und der Natur psychischer Störungen. Es sind jetzt zahlreiche sehr gut spezifizierte Modelle vorhanden, anhand derer die normale und gestörte funktionelle Architektur mentaler Prozesse beschrieben werden kann. Auch unser Verständnis der neuronalen Implementierung dieser Prozesse und über die neuropathologischen Veränderungen dieser Implementierung ist umfassender und detaillierter geworden. Es kann davon ausgegangen werden, dass das Forschungsgebiet der Neuropsychologie psychischer Störungen auch in der Zukunft von großer wissenschaftlicher Bedeutung sein wird. Weitere wichtige Impulse für die Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen (z. B. für demenzielle Erkrankungen) sind zu erwarten. Wir möchten uns bei allen Autoren recht herzlich für ihre engagierte und geduldige Mitarbeit bedanken. Uns ist bewusst, dass wir ohne die tatkräftige Mithilfe der vielen Autoren dieses Buch nicht hätten veröffentlichen können. Natürlich gilt unser Dank auch dem Verlag und seinen Mitarbeitern (Monika Radecki, Michael Barton), die uns tatkräftig bei der Gestaltung und Publikation des Buches geholfen haben und immer ein offenes Ohr für unsere Wünsche hatten. Stefan Lautenbacher & Siegfried Gauggel Bamberg, Aachen
Vorwort zur 1. Auflage Wenn Chronisten einer Disziplin über viele Jahre behaupten, dass ein Fach eine große Zukunft hat, fragt man sich nach einigen Wiederholungen, ob diese Zukunft wirklich eintreten wird. Alternativ könnte natürlich die Zukunft bereits Gegenwart geworden sein und keiner hat die Veränderungen bemerkt. Letzteres scheint die Situation der Neuropsychologie in der Psychiatrie zu charakterisieren. Über viele Jahre immer als wichtiges Zukunftsfeld besungen, haben die im Bereich der Neurologie und neurologischen Rehabilitation tätigen Neuropsychologen lange nicht bemerkt, dass auch in der Psychiatrie neuropsychologische Ansätze eine zunehmende Verbreitung und Akzeptanz finden. Es waren vorrangig klinische Psychologen und auch psychologisch interessierte Psychiater, die mit »neuropsychologischen« Untersuchungsverfahren kognitive Funktionsdiagnostik und -analysen bei Patienten mit psychischen Störungen betrieben. Wie viele in der Psychiatrie tätige Kollegen sich einem neuropsychologischen Ansatz verpflichtet fühlten, wurde 2000 in einer Umfrage an deutschsprachigen psychiatrischen Kliniken deutlich. Mehrere hundert Kollegen beschrieben sich als neuropsychologisch interessiert und konnten in ein kleines »Who-is-Who der Neuropsychologie in der Psychiatrie« aufgenommen werden. Die in diesem Verzeichnis aufgeführten Kollegen sind keineswegs alle als »klassische« Neuropsychologen zu verstehen, sondern stellen eine interdisziplinäre Gruppe dar, die psychische Erkrankungen aus wissenschaftlichem und klinischem Interesse aus einer neuropsychologischen Perspektive heraus verstehen möchte. Ein wesentliches Motiv für die neuropsychologische Ausrichtung dieser Kollegen besteht in den Vorzügen einer qualifizierten kognitiven Funktionsanalyse und -diagnostik, die einer rein beschreibenden Psychopathologie überlegen ist. Meilensteine in der Etablierung der neuropsychologischen Perspektive in der deutschsprachigen Psychiatrie waren 2000 die Gründung eines Arbeitskreises »Neuropsychologie in der Psychiatrie« in der Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP) und die Durchführung eines sehr erfolgreichen Kongresses zur Neuropsychologie psychischer Störungen in Marburg 2001. Das vorliegende Buch soll zum Einen das Interesse an der Neuropsychologie psychischer Störungen bei interessierten Personen wecken, zum Anderen aber bei all denen weiter festigen, die schon auf diesem Gebiet arbeiten. Das Buch wendet sich dabei nicht nur an Psychologen, sondern auch an ein interdisziplinäres Publikum, das sich in Forschung und Praxis mit psychisch gestörten Patienten beschäftigt und die neurobiologischen und neuropsychologischen Grundlagen psychischer Störungen besser verstehen möchte. Eine zeitgemäße Neuropsychologie ist dabei immer eingebettet in das große Gebiet der kognitiven Neurowissenschaften. Aus diesem Grund finden sich in diesem Buch nicht nur aktuelle Darstellungen von Struktur-Funktions-Zusammenhängen bei verschiedenen psychischen Störungen, sondern auch Kapitel, die Entwicklungen in anderen neurowissenschaftlichen Gebieten, wie z.B. der funktionellen Bildgebung, der Verhaltensgenetik, der Psychopharmakologie und der Psychoneuroendokrinologie, aufgreifen. Interdisziplinäre Bekenntnisse degenerieren oft zu folgenlosen Lippenbekenntnissen, trotzdem sind wir fest überzeugt, dass ohne eine interdisziplinär erweiterte Perspektive und eine Mehrebenen-Betrachtung die Neuropsychologie psychischer Störungen scheitern muss. Daher wünschen wir diesem Buch einen disziplinär buntgemischten Leserkreis. Stefan Lautenbacher, Siegfried Gauggel Bamberg, Chemnitz 2003
IX
Inhaltsverzeichnis 1
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Lautenbacher, Siegfried Gauggel
1.1
Neue Anforderungen an die Neuropsychologie . . . . . . . . . . . . . . . Zum Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 1.3
1
2.4
2 4 5
2.5 2.6
3 2
2.1 2.1.1 2.2 2.2.1 2.2.2
2.2.3 2.2.4
2.2.5 2.2.6 2.2.7 2.2.8 2.3 2.3.1
2.3.2
2.3.3
Entwicklung und Stand der Psychiatrie und der Neuropsychologie . . . . . . . . Bruno Preilowski Eine vorläufige Antwort . . . . . . . . . . . Die moderne klinische Neuropsychologie . . . . . . . . . . . . . . . Eine kurze Geschichte der Psychiatrie . . Dominanz der Moral- und Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . Die Medizin wird zur Naturwissenschaft, die Psychiatrie eine Domäne der Mediziner . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm Griesinger und die biologischen Grundlagen psychischer Störungen . . . . Wilhelm Griesinger bringt die Psychiatrie an die Universität und die Anstaltsleiter gegen sich auf . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lokalisation von Hirnfunktionen und die Bedeutung Franz Joseph Galls . . Emil Kraepelin etabliert die Psychiatrie als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . Die Abkehr von der biologisch-naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie Was werden die nächsten Jahre bringen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung der klinischen Neuropsychologie . . . . . . . . . . . . . . . Psychotechnik und Hirnpathologie als Grundlagen der klinischen Neuropsychologie . . . . . . . . . . . . . . . Die »Entwicklung« der klinischen Neuropsychologie bis zum Ende des 2. Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . Die Wiederentstehung der klinischen Neuropsychologie nach dem 2. Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7 3.1 8 3.1.1 8 9 9
3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2
10 3.2.3 10
11
3.3 3.4 3.4.1
12 14
3.4.2
15
3.5
16
3.6
16
4
17
4.1 4.2
18
4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3
18
Klinische Neuropsychologie: Eigendefinition oder flexible Anpassung und Erweiterung? . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Beitrag der Neuropsychologie für die Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . Karin Münzel, Josef Zihl Die Rolle der Neuropsychologie in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . Hypothese einer »gemeinsamen Endstrecke« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgabe der Neuropsychologie . . . . . . Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Störungen und Störungsmuster . . . . . . . . . . . . . Arbeitsgedächtnis und exekutive Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Visuelle Informationsverarbeitung und Blickmotorik . . . . . . . . . . . . . . . . Affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . Neue Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . Kognitive Funktionsstörungen als Prädiktoren für den Krankheitsverlauf und die Ansprechbarkeit auf pharmakologische Therapien . . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Aspekte normalen und pathologischen Alterns . . . . . . . . Neuropsychologische Rehabilitation in der Psychiatrie? . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der »kognitive Kern« der Neuropsychologie . . . . . . . . . . . . . . Jascha Rüsseler Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben und Ziele der neuropsychologischen Diagnostik . . . . . . . . Die ICF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die neuropsychologische Untersuchung Anamnese und Fremdanamnese . . . . . Die testpsychologische Untersuchung . . Die Verhaltensbeobachtung . . . . . . . .
20 21 22
25
26 27 28 29 29 30 31 34 35
35 36 36 39
43 44 44 45 47 47 49 51
X
Inhaltsverzeichnis
4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5 4.6
Diagnostik unterschiedlicher Funktionsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Lernen und Gedächtnis . . . . . . . . . . . Exekutive Hirnfunktionen (»Planen und Handeln«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere kognitive Funktionsbereiche . . . Affektivität und Persönlichkeit . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52 52 56 58 60 62 64
5
Neuropsychologie der Motivation . . Siegfried Gauggel
67
5.1 5.2
Historisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Störungen der Motivation bei verschiedenen Krankheitsbildern . . . . . Apathiesyndrom – Eine schwere Störung der Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose der Apathie . . . . . Verfahren zur Diagnostik von Motivationsstörungen . . . . . . . . . . . . Fremd- und Selbstbeurteilungsverfahren Andere Verfahren zur Erfassung von Motivationsstörungen . . . . . . . . . Funktionelle Neuroanatomie der Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Interventionen bei Motivationsstörungen . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10 5.11
6
6.1 6.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.4 6.4.1
6.6
71 72
81 85 86 87
. . . .
90 90
. . . .
93 93 94 94
. .
99
. . 100 . . 100
. . . . . .
. . . . . .
101 103 104 105 107 111
. . . 114 . . . 116
7.1
Neuroendokrinologie der HypothalamusHypophysen-Nebennierenrinden-Achse Methodische Aspekte . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Wirkungen der Hormone der HypothalamusHypophysen-Nebennierenrinden-Achse Kortisol und Gedächtnis . . . . . . . . . . . ACTH und Aufmerksamkeit . . . . . . . . . CRH vs. Kortisol, Angst und Depression . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.2 7.3
7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.4
122 126
127 127 133 137 140
8
Genetische Aspekte der Neuropsychologie psychischer Störungen . 145 Michael Wagner, Nadine Petrovsky
8.1 8.2
Genetik psychischer Störungen . . . . . Genetische Aspekte der Neuropsychologie einzelner psychischer Störungen . Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . Affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . Zwangserkrankungen . . . . . . . . . . . Entwicklungsstörungen . . . . . . . . . . Degenerative Erkrankungen . . . . . . . Alkoholabhängigkeit . . . . . . . . . . . . Molekulargenetik kognitiver Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6 8.3 8.4
. . . .
. . . . . .
Psychoendokrine Aspekte neuropsychologischer Funktionen: Die Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse . . . . . . . . 121 Ullrich Wagner, Jan Born
73 74 78
Affektive Störung . . . . . . . . . . . . Zwangsstörung . . . . . . . . . . . . . Posttraumatische Stresserkrankung Substanzabhängigkeit . . . . . . . . . Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . Demenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick für die Neuropsychologie in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
69
Bildgebende V Verfahren bei psychischen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Dieter F. Braus, Heike Tost, Traute Demirakça Forschungsansätze der Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modell über Hirnfunktion . . . . . . . . Bildgebende Verfahren: Darstellung von Hirnstruktur und -funktion . . . . . Makromorphologische Bildgebung . . Mikromorphologie: Diffusions-TensorBildgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionelle Bildgebung . . . . . . . . . Biochemische Bildgebung: MR-Spektroskopie . . . . . . . . . . . . . Befunde zur Bildgebung in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . Angststörung . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5 6.4.6 6.4.7 6.5
. 146 . . . . . . .
149 149 156 156 157 158 159
. 160 . 162
9
Neuropsychologie des Schlafes . . . . 165 Ullrich Wagner, Susanne Diekelmann, Jan Born
9.1
Neuropsychologische Funktionen des normalen Schlafs . . . . . . . . . . . . . 166 Gedächtniskonsolidierung im Schlaf . . . 166
9.1.1
XI Inhaltsverzeichnis
9.1.2 9.2 9.2.1 9.2.2
9.2.3 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.4 9.5 9.5.1 9.5.2 9.5.3 9.5.4 9.5.5 9.5.6 9.6 9.7 9.8
10
10.1 10.2 10.3 10.4
10.5 10.6
Deklaratives vs. nondeklaratives Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle verschiedener Schlafphasen . Erste Studienergebnisse mithilfe der selektiven REM-Schlaf-Deprivation Methodische Verbesserungen durch das Untersuchungsparadigma des Nachthälftenvergleichs . . . . . . . . Reaktivierung als zugrunde liegender Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionale Verarbeitung im Schlaf . . . Emotionale Gedächtnisbildung . . . . . Emotionale Bewertungsprozesse . . . . Klinische Implikationen . . . . . . . . . . Wahrnehmung und Aufmerksamkeit während des Schlafes . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Auswirkungen von Schlafdeprivation . . . . . . . . . . . Effekte totaler Schlafdeprivation . . . . . Exekutive Funktionen . . . . . . . . . . . . Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Effekte partieller Schlafdeprivation f und interindividuelle Differenzen . . . . Schlaf und präfrontale Funktionen bei neuropsychologischen Störungen . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Neuropsychologie affektiver Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Thomas Beblo
11.1
Neuropsychologische Beeinträchtigungen bei affektiven Störungen . . . . . . . . Art und Häufigkeit der neuropsychologischen Auffälligkeiten . . . . . . . . . . Profil neuropsychologischer Beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit neuropsychologischer Beeinträchtungen und weitere Einflussfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . Neuronale Grundlagen neuropsychologischer Auffälligkeiten . . . . . . . . . . . Neuropsychologie und Bildgebung . . . . Integrierende Modelle und pathophysiologische Mechanismen . . . . . . . Therapiesensitivität neuropsychologischer Beeinträchtigungen . . . . . . . Querschnittsstudien . . . . . . . . . . . . . Verlaufsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Leistungen im Tagesverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Defizite bei affektiven Störungen: Trait oder State? . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 170 11.2 . 173
11.2.1
. . . . .
11.2.2
176 177 177 178 178
. 179 . . . . . . .
180 181 181 182 183 184 184
11.3 11.3.1 11.3.2 11.4 11.4.1 11.4.2 11.4.3 11.4.4
200 201 201
207 210 210 213 213 214 214 215 215 216
. 185
11.5
. 185 . 186
12
Neuropsychologie der Zwangsstörung . . . . . . . . . . . . . . . 219 Bernd Leplow
12.1
Das Standardmodell des Zwangssyndroms als Angststörung . . . . . . . . . Verhaltensneuropsychologie der Zwangsstörung . . . . . . . . . . . . . Verhaltensbeobachtung . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Befunde . . . . . . . Ergebnisse der Bildgebung . . . . . . . . . Psychopharmakologie: Die Rolle des serotonergen Systems . . . . . . . . . . Neuroanatomie, Elektrophysiologie und Neurochirurgie . . . . . . . . . . . . . . Modellbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . Biologische Grundlagen . . . . . . . . . . . Das Konzept derZwangsspektrumsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhaltensneuropsychologische Synopsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Neuropsychologie der Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Stefan Lautenbacher Neuropsychologische Befunde bei Patienten mit Panikstörung . . . Neuropsychologische Befunde bei Patienten mit sozialer Phobie . . Neuropsychologische Befunde bei generalisierter Angststörung . . Aufmerksamkeits- und Gedächtnisverzerrungen bei angstbezogenem Reizmaterial . . . . . . . . . . . . . . . Wirkung von Benzodiazepinen auf neuropsychologische Funktionen . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 . 170 . 170
. . . 190 . . . 193
12.2 12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.2.4
. . . 193 12.2.5 . . . 194 . . . 195 . . . 197
12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.4
220 221 221 222 226 227 229 230 230 232 234 237
XII Inhaltsverzeichnis
13
13.1 13.2 13.3
Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) . . . 241 Kristina Hennig-Fast, Hans-Joachim Markowitsch
Trauma und PTBS . . . . . . . . . . . Pathogenese der PTBS . . . . . . . . Risikofaktoren und Komorbidität der PTBS . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4 Psychobiologie der PTBS . . . . . . . 13.4.1 Physiologische Korrelate der PTBS . 13.4.2 Ergebnisse aus der Bildgebung bei der PTBS: MRT, PET und SPECT . . . 13.5 Modelle zur Entstehung der PTBS . 13.6 Neurokognition der PTBS . . . . . . 13.7 Ausgewählte kognitive Modelle der PTBS . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.8 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . 242 . . . . 243 . . . . 244 . . . . 252 . . . . 252
15
Neuropsychologie des EcstasyAbusus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Joerg Daumann
. . . . 254 . . . . 258 . . . . 262
15.1 15.2
. . . . 271 . . . . 274
15.3 15.4
Neurotoxizität von Ecstasy – Tierexperimentelle Untersuchungen . . . Neurotoxizität von Ecstasy – Relevanz für den Menschen . . . . . . . . . . . . . Kognition bei Ecstasykonsumenten . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Fred Rist
14.1
Kognitive Beeinträchtigungen als Folge des Konsums psychotroper Substanzen . Persistierende substanzinduzierte amnestische Störung: Das KorsakoffSyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinisches Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Befunde . . . . . . . Neuropathologische Befunde . . . . . . . Das Ausmaß kognitiver Beeinträchtigungen alkoholabhängiger Patienten . . Testpsychologische Befunde . . . . . . . . Vergleiche zwischen alkoholabhängigen und hirnorganisch geschädigten Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dimensionen der kognitiven Beeinträchtigung alkoholabhängiger Patienten . . . Beeinträchtigungen spezifischer Funktionsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . Lokalisierbarkeit von Defiziten . . . . . . . Risikofaktoren für kognitive Beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . . Restitution der kognitiven Beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . . Strukturelle Veränderungen des Gehirnes bei alkoholabhängigen Patienten . . . . . Konsequenzen der kognitiven Beeinträchtigungen für die Therapie . . .
14.2
14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.3 14.3.1 14.3.2
14.4 14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.4.4 14.5 14.6
14.6.1 Der Einfluss kognitiver Beeinträchtigungen auf den Therapieerfolg . . . . . . 304 14.6.2 Rehabilitationansätze bei kognitiven Beeinträchtigungen alkoholabhängiger Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 14.7 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
Neuropsychologie der Essstörungen Christoph J. Lauer
16.1
Neuropsychologische Befunde bei Patienten mit Anorexia nervosa und Bulimia nervosa während der akuten Erkrankungsphase . . . . Neuropsychologische Befunde nach Abschluss der Therapie . . . . . Neuropsychologische Befunde als Prädiktor für den Therapieerfolg? Neuropsychologisches Profil von Therapieabbrechern . . . . . . . . Neuropsychologisches Profil und Psychopathologie . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16.2
293 293
16.3 16.4 16.5 16.6
294
298 300 302 304
321
. . . 322 . . . 326 . . . 328 . . . 328 . . . 328 . . . 330
17
Neuropsychologie der Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . 331 Stefan Lautenbacher, Miriam Kunz
17.1
Bedeutung neuropsychologischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufmerksamkeitsstörungen . . . . . . . . Gedächtnisstörungen . . . . . . . . . . . . Störungen der Exekutivfunktionen . . . . Störungen des Arbeitsgedächtnisses . . . Ursachen der neuropsychologischen Defizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss von Psychopharmaka . . . . . . . Neuropsychologische Prognostik des Krankheitsverlaufs und der Rehabilitation
295 296 297
. . 312 . . 313 . . 319
16
286
288 288 289 292
. . 311
17.2 17.3 17.4 17.5 17.6 17.7 17.8
332 333 335 337 338 338 340 342
XIII Inhaltsverzeichnis
17.9 Neuropsychologische Therapie . . . . . . 343 17.10 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
18
Neuropsychologie der Demenz . . . . 347 Thomas Jahn
18.1 18.2 18.3 18.3.1 18.3.2 18.4 18.4.1 18.4.2 18.4.3 18.5 18.5.1 18.5.2 18.5.3 18.6 18.6.1 18.6.2 18.7 18.8
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Kriterien und Nosologie Neuropsychologische Untersuchung . . Kontext und Ziele . . . . . . . . . . . . . . Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Befunde . . . . . . Alzheimer-Demenz . . . . . . . . . . . . . Vaskuläre Demenzen . . . . . . . . . . . . Frontotemporale Demenz . . . . . . . . . Differenzialdiagnostische Probleme . . Früherkennung . . . . . . . . . . . . . . . . Verschiedene Demenzformen . . . . . . Demenz vs. Depression . . . . . . . . . . Neuropsychologische Intervention . . . Kognitive Trainingsprogramme . . . . . Selbst-Erhaltungs-Therapie . . . . . . . . Neuropsychologische Prävention . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
Neuropsychologie der BorderlinePersönlichkeitsstörung . . . . . . . . . . 383 Thomas Beblo, Christoph Mensebach
19.1 19.2 19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.2.4 19.2.5 19.2.6 19.2.7 19.3 19.3.1 19.3.2 19.3.3 19.3.4
Einführung in die BorderlinePersönlichkeitsstörung . . . . . . . . Profil neuropsychologischer Defizite bei BPS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . Exekutivfunktionen . . . . . . . . . . . Visuoräumliche Funktionen . . . . . . Emotionale Faktoren . . . . . . . . . . Leistungskonsistenz . . . . . . . . . . Zusammenfassende Gewichtung der Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . Neurobiologische Befunde . . . . . . Strukturelle und spektroskopische Bildgebungsbefunde . . . . . . . . . . Funktionelle Bildgebungsbefunde . Befunde zur Stresshormonachse . . . Zusammenfassung der neurobiologischen Befunde . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
348 348 350 350 352 360 360 364 366 368 368 370 370 373 373 376 377 379
. . . 384 . . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
385 385 385 385 389 389 389
. . . 390 . . . 391 . . . 391 . . . 392 . . . 394
19.3.5 Die Bedeutung komorbider Erkrankungen für das Verständnis neuropsychologischer Auffälligkeiten bei BPS . . . . . . . . . . . . 395 19.4 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . 397
20
Neuropsychologie von tiefgreifenden Entwicklungsstörungen . . . . . . 399 Helmut Remschmidt, Gerd Schulte-Körne, Inge Kamp-Becker
20.1 20.1.1 20.1.2 20.1.3
Was sind Entwicklungsstörungen? . . . . Tiefgreifende Entwicklungsstörungen . . Umschriebene Entwicklungsstörungen . Bedeutung der Entwicklungsdimension bei anderen Störungen . . . . . . . . . . . . Tiefgreifende Entwicklungsstörungen . . Frühkindlicher Autismus . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Auffälligkeiten . . . Diagnostik und Differenzialdiagnostik . . Asperger-Syndrom und High Functioning Autism (HFA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20.2 20.2.1 20.2.2 20.2.3 20.2.4 20.3
400 400 401 402 402 402 403 408 411 425
21
Neuropsychologie von umschriebenen Entwicklungsstörungen . . . . . . . . . . 431 Gerd Schulte-Körne, Helmut Remschmidt
21.1 21.1.1 21.1.2 21.1.3 21.1.4
Lese-Rechtschreib-Störung (Legasthenie) Neuropsychologische Auffälligkeiten . . . Auditive Wahrnehmung . . . . . . . . . . . Visuelle Wahrnehmung . . . . . . . . . . . Diagnostik neuropsychologischer Auffälligkeiten der LRS . . . . . . . . . . . . Modellvorstellungen zur Ätiologie . . . . Auditive Wahrnehmung . . . . . . . . . . . Interventions- und Therapieansätze . . . Rechenstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Auffälligkeiten . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modellvorstellungen zur Ätiologie . . . . Interventions- und Therapieansätze . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21.1.5 21.1.6 21.1.7 21.2 21.2.1 21.2.2 21.2.3 21.2.4 21.3
432 432 432 436 437 438 439 441 443 443 445 446 449 450
22
Neuropsychologie der Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Kerstin Konrad, Beate Herpertz-Dahlmann
22.1 22.2
Klinik und Epidemiologie . . . . . . . . . . 454 Komorbiditäten . . . . . . . . . . . . . . . . 457
. . . 395
XIV
22.3 22.3.1 22.3.2 22.3.3 22.3.4 22.3.5 22.4 22.4.1 22.4.2 22.4.3 22.5 22.6 22.6.1 22.6.2 22.6.3 22.6.4 22.6.5 22.7 22.8
23
23.1 23.2 23.3 23.4
23.5 23.6 23.7 23.8
Inhaltsverzeichnis
Ätiologische Modelle der ADHD . . . . . Kognitive Modelle . . . . . . . . . . . . . . Neurobiologische Modelle . . . . . . . . Dopaminhypothese . . . . . . . . . . . . . Noradrenerge Hypothese . . . . . . . . . Serotoninerge Hypothese . . . . . . . . . Bildgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Morphometrische Befunde . . . . . . . . Funktionelle Studien . . . . . . . . . . . . Evozierte Potenziale und Befunde der transkraniellen Magnetstimulation . Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Befunde bei nichtmedizierten ADHD-Patienten . Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . Exekutive Funktionen . . . . . . . . . . . . Lernen und Gedächtnis . . . . . . . . . . Neuropsychologische Befunde im Entwicklungsverlauf . . . . . . . . . . Neuropsychologische Veränderungen unter Medikation . . . . . . . . . . . . . . Vorschlag eines diagnostischen Prozederes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . .
459 460 460 461 462 462 463 463 463
. 464 . 465 . . . .
467 467 468 469
24
Neuropsychologische Therapie psychischer Störungen . . . . . . . . . . 493 Carsten Diener, Robert Olbrich
24.1
Neurokognitive Dysfunktionen psychischer Erkrankungen . . . . . . . . Wahrnehmung und Aufmerksamkeit . . Lernen und Gedächtnis . . . . . . . . . . Exekutive Funktionen . . . . . . . . . . . . Neurokognitive Trainingsmaßnahmen . Traditionelle Trainingsverfahren . . . . . PC-gestützte Trainingsverfahren . . . . . Wirksamkeit neurokognitiver Trainingsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . Horizontale Generalisierungseffekte . . Vertikale Generalisierungseffekte . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24.1.1 24.1.2 24.1.3 24.2 24.2.1 24.2.2 24.3 24.3.1 24.3.2 24.4
Bildgebung und die Pathophysiologie psychischer Störungen . . . . . . . . . . . . Plastizität des Gehirnes . . . . . . . . . . . . Veränderung metabolischer Aktivitäten durch Psychopharmaka . . . . . . . . . . . Veränderung metabolischer Aktivitäten durch psychotherapeutische Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderung metabolischer Aktivitäten durch Stimmungsinduktion/Meditation Vorhersage des Therapieerfolges anhand von spezifischen Hirnaktivierungen . . . . Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
478 478 479
480
508 508 517 522
25.1 25.2 25.3 25.3.1 25.3.2
Psychopharmakologie und Psychiatrie Pharmakoepidemiologie . . . . . . . . Benzodiazepine . . . . . . . . . . . . . . Einteilung und Pharmakologie . . . . . Effekte auf neuropsychologische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung und Pharmakologie . . . . . Effekte auf neuropsychologische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . Antipsychotika . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung und Pharmakologie . . . . . Effekte auf neuropsychologische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . Antidementiva . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung und Pharmakologie . . . . . Effekte auf neuropsychologische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . Synopsis der Effekte psychopharmakologischer Behandlung auf neuropsychologische Funktionen . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25.4 25.4.1 25.4.2 25.5 25.5.1 25.5.2 25.6 25.6.1 25.6.2
486 25.7 488 489 491
. . . .
Klinisch-Neuropsychologische Aspekte der Therapie mit Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . 525 Alexander Brunnauer, Gerd Laux
. 470
Bildgebende Verfahren V und deren Bedeutung für die Psychotherapie . . . . . . . . . . . 477 Siegfried Gauggel
494 494 495 498 500 500 501
25 . 469
. 471 . 472
. . . . . . .
25.8
. . . .
. . . .
526 527 528 528
. . 529 . . 530 . . 530 . . 533 . . 535 . . 535 . . 538 . . 542 . . 542 . . 543
. . 544 . . 547
XV Inhaltsverzeichnis
26
Ausblick: Die Neurowissenschaften als integrative Kraft für die klinische Psychologie und Psychiatrie . . . . . . . 551 Siegfried Gauggel, Stefan Lautenbacher
26.1
Relevanz der Neuropsychologie für die klinische Psychologie und Psychiatrie . 26.2 Zusammenspiel kognitive Psychologie und neurowissenschaftliche Methoden 26.3 Bedeutung der Plastizität des Gehirnes für die Psychotherapie . . . . . . . . . . . 26.4 Grenzen eines neurobiologischen Forschungszuganges . . . . . . . . . . . . 26.4.1 Kulturspezifische psychische Störungen 26.4.2 Bedeutung der Psychologie bei der Verhaltensgenetik und der Bildgebung 26.5 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 552 . 553 . 556 . 559 560 . 561 . 563
Anhang Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Testglossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589
XVII
Autorenverzeichnis Beblo,Thomas, Dr.
Diekelmann, Susanne
Evangelisches Krankenhaus Bielefeld Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel Remterweg 69/71 33617 Bielefeld
Medizinische Universität zu Lübeck Klinische Forschergruppe für Neuroendokrinologie Ratzeburger Allee 160 23562 Lübeck
Diener, Carsten, Prof. Dr. Born, Jan, Prof. Dr. Medizinische Universität zu Lübeck Klinische Forschergruppe für Neuroendokrinologie Ratzeburger Allee 160 23562 Lübeck
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Institut für Neuropsychologie und Klinische Psychologie J5 68159 Mannheim
Braus, Dieter F., Prof. Dr.
Gauggel, Siegfried, Prof. Dr. phil.
Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie HSK Dr. Horst Schmidt Klinik Ludwig-Erhard-Str. 100 65199 Wiesbaden
Institut für Medizinische Psychologie und Soziologie der RWTH Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen
Brunnauer, Alexander, Dr.
Gouzoulis-Mayfrank, Euphrosyne, Prof. Dr.
Inn-Salzach-Klinikum Neuropsychologie Gabersee 7 83512 Wasserburg/Inn
LRV-Klinik Allgemeine Psychiatrie Wilhelm-Griesinger-Str. 23 51109 Köln
Danmann, Joerg, PD Dr. Uniklinik Köln Zentrum für Neurologie und Psychiatrie Arbeitsgruppe Experimentelle Psychiatrie Kerpener Str. 62 50937 Köln
Demirakça, Traute, Dr. Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Neuroimaging Postfach 12 21 20 68072 Mannheim
Henning-Fast, Kristina, Dr. Klinikum der LMU München Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bereich für klinische Psychologie u. Psychophysiologie Nußbaumstr. 7 80336 München
Herpertz-Dahlmann, Beate, Prof. Dr. Universitätsklinikum der RWTH Aachen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Neuenhoferweg 21 52074 Aachen
Jahn, Thomas, Prof. Dr. Klinikum rechts der Isar TU München Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Ismaninger Str. 22 81675 München
Kamp-Becker, Inge Universitätsklinikum Gießen und Marburg Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Schützenstr. 49 35039 Marburg
Konrad, Kerstin, Prof. Dr. Universitätsklinikum der RWTH Aachen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Arbeitsgruppe Klinische Neuropsychologie Neuenhoferweg 21 52074 Aachen
Kunz, Miriam, Dr. Otto-Friedrich-Universität Bamberg Markusplatz 3 96045 Bamberg
XVIII
Autorenverzeichnis
Lauer, Christoph J., Prof. Dr.
Olbrich, Robert, Prof. Dr. Dr.
Schulte-Körne, Gerd, PD Dr.
Klinikum Ingolstadt Schlafmedizinisches Zentrum Krumenauerstr. 25 85049 Ingolstadt
Universität Mannheim Mannheimer Zentrum für Arbeit und Gesundheit Otto-Selz-Institut für Angewandte Psychologie 68131 Mannheim
Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Pettenkoferstr. 8a 80336 München
Lautenbacher, Stefan, Prof. Dr. Otto-Friedrich-Universität Bamberg Markusplatz 3 96045 Bamberg
Laux, Gerd, Prof. Dr. Inn-Salzach-Klinikum Gabersee 7 83512 Wasserburg
Petrovsky, Nadine, Dipl.-Psych. Universitätsklinikum Bonn Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn
Tost, Heike, Dr. Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Abt. Neuroimaging Postfach 12 2 120 68072 Mannheim
Preilowski, Bruno, Prof. Dr. Leplow, Bernd, Prof. Dr. Martin-Luther-Universität Institut für Psychologie Brandbergweg 23 06099 Halle/Saale
Universität Tübingen Eperimentelle und Klinische Neuropsychologie Christophstr. 2 72072 Tübingen
Markowitsch, Hans Jürgen, Prof. Dr.
Remschmidt, Helmut, Prof. Dr. Dr.
Universität Bielefeld Abt. für Psychologie Postfach 10 01 31 33501 Bielefeld
Universitätsklinikum Gießen und Marburg Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und-psychotherapie Hans-Sachs-Str. 6 35039 Marburg
Mensebach, Christoph Medizinische Universität zu Lübeck Klinische Forschergruppe für Neuroendokrinologie Ratzeburger Allee 160 23562 Lübeck
Rheinische Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn
Wagner, Ullrich, Dr. University of Geneva Laboratory of Behavioral Neurology and Imaging of Cognition 1 rue Michel-Servet CH-1211 Geneva
Rist, Fred, Prof. Dr. Universität Münster Psychologisches Institut Fliednerstr. 21 48149 Münster
Münzel, Karin, Prof. Dr. Ludwig-Maximilians-Universität Institut für Psychologie Leopoldstr. 15 80802 München
Wagner, Michael, Prof. Dr.
Rüssler, Jascha, Prof. Dr. Otto-Friedrich-Universität Bamberg Allgemeine Psychologie Markusplatz 3 96045 Bamberg
Zihl, Josef, Prof. Dr. Ludwig-Maximilians-Universität Institut für Psychologie Leopoldstr. 15 80802 München
1 1 Einführung Stefan Lautenbacher, Siegfried Gauggel
1.1
Neue Anforderungen an die Neuropsychologie – 2
1.2
Zum Inhalt
1.3
Literatur
–4 –5
2
1
Kapitel 1 · Einführung
Den Effekt makrostruktureller Schädigungen des Gehirns (Hirninfarkt, Schädel-Hirn-Trauma, zerebrale Neoplasmen etc.) auf Kognition, Motivation, Emotion und Verhalten zu erfassen, ist Tradition der Neuropsychologie. Mikrostrukturelle oder gar funktionelle Beeinträchtigungen des Gehirnes waren lange Zeit nicht fassbar und daher der korrelativen Betrachtung der Neuropsychologie entzogen. Daher wurden die kognitiven, motivationalen, emotionalen und behavioralen Veränderungen, die bei psychischen Störungen auftreten, weitgehend ohne Bezugnahme auf zerebrale Prozesse erklärt. Unbeantwortet blieb daher auch die Frage, ob es sich bei Schizophrenie, Depression, Angst- und Zwangsstörung etc. um Struktur- und Funktionsstörungen des Gehirnes handelt. Die Vernachlässigung zerebraler Prozesse wurde lange Zeit durchgehalten, obwohl es erste neuropsychiatrische Ansätze bereits im 19.Jahrhundert gab. Hierbei denke man an Wilhelm Griesinger, der bereits zu dieser Zeit »die Geisteskrankheiten als Gehirnkrankheiten« bezeichnete. Die Psychiatrie und klinische Psychologie des 20.Jahrhunderts bedienten sich hingegen psychodynamischer, lern- oder milieutheoretischer Erklärungen psychischer Störungen. Obwohl behavioristische, mentalistische und idealistische Krankheitskonzepte in ihrem theoretischen Gehalt sehr unterschiedlich sind, ähneln sie einander darin, dass ihre Anwendung auf psychische Störungen zu einem Neglekt für zerebrale Prozesse geführt hat.
Es waren zuerst Fortschritte im Feld der biologischen Psychiatrie, die hier ab Mitte des 20. Jahrhunderts langsam eine überfällige Wende einleiteten. Die ersten Varianten der Monoaminhypothese ließen schon vermuten, dass die Neurotransmission zwischen Nervenzellen im Gehirn bei psychischen Störungen gestört sein könnte. Solche Hypothesen versuchten noch post hoc den Erfolg von Antidepressiva und Neuroleptika der ersten Stunden zu erklären. Mittlerweile gibt es schon Generationen von Psychopharmaka, die in Teilen oder gänzlich hypothesengeleitet entwickelt wurden. Die psychische Störung und deren Behandlung wurden so zur Dysfunktion neuronaler Kommunikation und deren Beseitigung (Andreasen 1997, 2002; Kandel 1998). Mittlerweile ermöglichen es die bildgebenden Verfahren, die makro- und mikrostrukturellen Ver-
änderungen sichtbar zu machen und mit hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung funktionelle Störungen des Gehirns darzustellen. Psychische Störungen können längst eindeutig als Funktionsund/oder Strukturstörung des Gehirnes identifiziert werden. Es ist daher höchste Zeit, dass die Neuropsychologie psychische Störungen in ihren wissenschaftlichen und klinischen Verantwortungsbereich aufnimmt.
1.1
Neue Anforderungen an die Neuropsychologie
Heißt das nun, dass psychische Störungen unter dem gleichen neuropsychologischen Blickwinkel zu betrachten sind wie neurologische Erkrankungen? Die Erkenntnis, dass psychische Störungen Struktur- und Funktionsstörungen des menschlichen Gehirns sind, sollte nicht den Blick dafür verschließen, dass hier eine andere Art von Neuropsychologie notwendig wird. Bei psychischen Störungen gibt es meist weder fokale Schädigungen noch monokausale Ätiologien. Das Gehirn ist in seinen Netzwerkeigenschaften verändert, seine funktionelle Konnektivität ist gestört, wobei meist multiple Risikofaktoren und Auslöser interagieren. Es ist meist nicht ein Gen, sondern es sind viele Gene, die da und dort im Gehirn Nervenzellen mikrostrukturell verändern und ihre Funktionalität einschränken. Selbst eine solche Netzwerkhardware kann noch störungsfreie Funktionen erlauben und damit nur mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko einhergehen, sie kann jedoch durch bestimmte singuläre oder kumulative psychische Stressoren und ungünstige Lernbedingungen endgültig pathogen verändert werden. Das resultierende pathologische Netzwerk insgesamt oder einzelne seiner Teilkomponenten erlauben dann keine angemessene Informationsverarbeitung mehr. Betroffen sind daher immer Netzwerke und ihre subkortikalen und kortikalen Komponenten, nicht einzelne zerebrale Module. Selbst wenn einzelne zerebrale Module besonders betroffen zu sein scheinen, so sind dies meist die zerebralen Hubs, die Verteilerknoten, wie der Gyrus cinguli, der Thalamus, das Zerebellum und die Basalganglien oder die zerebralen Modulatoren wie die Hirnstamm-
3 1.1 · Neue Anforderungen an die Neuropsychologie
nuklei der aufsteigenden Monoaminsysteme oder die neuroendokrinen Regelkreise im Hypothalamus. Auf diese Weise wird auch die fokale Primärstörung immer zur sekundären Netzwerkstörung (Andreasen 1997, 2002; Kandell 1998). Die wichtigste Erkenntnislogik der traditionellen Neuropsychologie, die doppelte Dissoziation, ist wenig brauchbar, weil durch den Netzwerkcharakter der Schädigung eine lokalisatorische Festlegung der Schädigung kaum möglich ist. Vielmehr gibt es häufig gemeinsame Endstrecken bei ganz unterschiedlichen Primärstörungen, sodass unterschiedliche psychische Störungen oft ähnliche Veränderungen der Informationsverarbeitung auslösen. Insofern haben psychische Störungen definitiv neuropsychologische Auswirkungen, müssen jedoch unter einer anderen Perspektive betrachtet werden als neurologische Erkrankungen.
In . Tab. 1.1 stellen wir einige Unterschiede dar, die für das neuropsychologische Verstehen neurologischer Erkrankungen und psychischer Störungen relevant sind. Es ist klar, dass die dort beschriebenen Unterschiede für den neuropsychiatrischen Übergang zwischen den beiden Störungsfeldern wie etwa bei der Demenz nicht mehr gelten, und dass die Darstellung idealtypisch vereinfachend ist. Deutlich wird jedoch, dass die Unterschiede in den neuropsychologischen Ausfällen eine andere Art der Diagnostik mit stärkerer Gewichtung eines breiten Defizitscreenings und die Unterschiede in den Ursachen eine andere Art des Störungswissens mit stärkerer Gewichtung genetischer und neurochemischer Kompetenz erfordern. Maßgabe der Berücksichtigung dieser Unterschiede ist der Nutzen der neuropsychologischen Therapie und Rehabilitation sicherlich auch bei psychischen Störungen erheblich.
. Tab. 1.1. Neuropsychologische Perspektiven auf neurologische Erkrankungen und psychische Störungen
Neuropsychologische Perspektive
1
Neurologische Erkrankungen
Psychische Störungen
Intensität
Mittelgradig bis stark
Schwach bis mittelgradig
Profil
Selektive Ausfälle
Generalisierte Ausfälle
Verlauf
Schnell und/oder starke Variationen, somatische Auslöser und Mediatoren besonders wichtig
Langsame und/oder schwache Variationen, psychische Auslöser und Mediatoren besonders wichtig
Pathognomie
Wichtiges Symptom
Basisstörung
Makroskopische Hirnläsionen
Oft
Selten
Verteilung der Hirnläsionen
Umschrieben
Diffus
Primäre Assoziation mit neurochemischen Dysfunktionen
Kaum
Stark
Heredität
Gering
Mittelgradig bis hoch
Direktes Behandlungsziel bisher
Oft
Selten
Prognostische Relevanz
Hoch
Hoch
Therapie- und Rehabilitationsrespondenz
Gering bis sehr gut
Gering bis sehr gut
Kompetenz der Behandler bisher
Mittel bis hoch
Gering bis mittel
Art der Funktionsstörung
Ätiologie
Behandlung und Prognose
4
1
Kapitel 1 · Einführung
Mit dem vorliegenden Buch wird die neue Perspektive der Neuropsychologie auf die psychischen Störungen vertieft. Es werden der historische und theoretische Rahmen dieser Perspektive geliefert, Wissen über psychische Störungen mit Relevanz für das neuropsychologische Verstehen vermittelt sowie die auf diesem Feld notwendigen Modifikationen neuropsychologischen Diagnostizierens und Therapierens erläutert.
1.2
Zum Inhalt
Die Beiträge von Preilowski (»Entwicklung und Stand der Psychiatrie und der Neuropsychologie«) und Zihl und Münzel (»Der Beitrag der Neuropsychologie für die Psychiatrie«) liefern Bestandsaufnahmen zur Entwicklung der Neuropsychologie in der Psychiatrie und ihren unterschätzten Möglichkeiten. Jacobs (»Der kognitive Kern in der Neuropsychologie«) versucht zu erklären, dass die Neuropsychologie nie nur einzelne kognitive Funktionen widerspiegelt, sondern immer auch der Motivation und der Emotionen offen steht, eine Einsicht, die bei der Analyse psychischer Erkrankungen besondere Relevanz besitzt. Der erste Beitrag von Gauggel (»Neuropsychologie der Motivation«) unterstreicht diese Perspektive mit der Akzentuierung motivationaler Prozesse als zentraler Größe in der Neuropsychologie. Braus, Trost und Demirakça (»Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen«) liefern mit den Resultaten der modernen Bildgebung nochmals den Nachweis, dass psychische Störungen Erkrankungen des Gehirnes sind und unterstreichen den Netzwerkcharakter der neuronalen Pathophysiologie. Die wichtige Rolle von neurochemischen Prozessen wird von Wagner und Born (»Psychoendokrine Aspekte neuropsychologischer Funktionen«) und die hohe Relevanz der modernen Genetik von Wagner (»Genetische Aspekte der Neuropsychologie psychischer Störungen«) vermittelt, wobei es jeweils Ziel ist, zu verdeutlichen, dass auf diesen Feldern besonders ätiologierelevantes Wissen zu erwarten ist. Letzteres gilt auch für die Beschäftigung mit den neuropsychologischen Konsequenzen gesunden und gestörten Schlafes, die von Wagner und Born dargestellt werden (»Neuropsychologie des Schlafes«).
Nach der Darstellung der historischen, theoretischen und grundlagenorientierten Momente der neuropsychologischen Perspektive auf die psychischen Störungen werden im Störungsteil des vorliegenden Buches die einzelnen psychischen Störungen mit ihren neuropsychologischen Auswirkungen und Ursachen dargelegt. Die Darstellung unterscheidet Störungen im Erwachsenenalter mit Beiträgen von Beblo (»Neuropsychologie affektiver Störungen« und »Neuropsychologie der Borderline-Störung«), Fast und Markowitsch (»Neuropsychologie des PTSD«), Jahn (»Neuropsychologie der Demenz«), Lauer (»Neuropsychologie der Essstörungen«), Lautenbacher (»Neuropsychologie der Angststörungen«), Lautenbacher und Kunz (»Neuropsychologie der Schizophrenie«), Leplow (»Neuropsychologie der Zwangsstörung«), Moritz (»Neuropsychologie des Ecstasy-Abusus«) und Rist (»Neuropsychologie des Alkoholismus und Substanzmissbrauchs«) von Störungen im Kindes- und Jugendalter mit Beiträgen von Konrad und Herpertz-Dahlmann (»Neuropsychologie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHD)«), Remschmidt und Schulte-Körne (»Neuropsychologie von tief greifenden Entwicklungsstörungen«) und Schulte-Körne und Remschmidt (»Neuropsychologie von umschriebenen Entwicklungsstörungen«). Über die ersten Ansätze zum Verständnis der im Zuge von Psychotherapien möglichen und notwendigen, funktionalen Veränderungen des Gehirnes und deren neuropsychologische Relevanz berichtet Gauggel in seinem zweiten Beitrag (»Bildgebende Verfahren und deren Bedeutung für die Psychotherapie«). Diener und Olbrich (»Neuropsychologische Therapie psychischer Störungen«) widmen sich der Frage, inwieweit die aus der neurologischen Rehabilitation bekannten Funktionstrainings bei Patienten mit psychischen Störungen – gegebenenfalls mit entsprechenden Modifikationen – erfolgversprechend anzuwenden sind. Sind die neuropsychologischen Wirkungen von Psychotherapien noch weitgehend unbekannt, ist die Neuropsychologie in Form der »Neurokognition« schon lange zentrales Thema bei der psychopharmakologischen Behandlung psychischer Störungen. Brunnauer und Laux (»Klinisch-neuropsychologische Wirkungen und Nebenwirkungen von Psychopharmaka«) zeigen auf, welche neuropsychologischen Wirkungen
5 1.3 · Literatur
Psychopharmaka haben, und wie dieser Nachweis schlüssig zu erbringen ist. Gauggel und Lautenbacher (»Ausblick: Die Neurowissenschaften als integrative Kraft für die klinische Psychologie, Psychiatrie und Neurologie«) schlagen zur Abrundung des Buches einen Entwurf vor, der den Neurowissenschaften – und hier speziell der Neuropsychologie – eine zentrale Rolle bei der Integration von Psychiatrie, Neurologie und klinischer Psychologie zuweist, die den intradisziplinären Isolationismus überwinden helfen könnte.
1.3
Literatur
Andreasen N. C. (1997). Linking mind and brain in the study of mental illnesses: a project for a scientific psychopathology. Science 275: 1586–1593. Andreasen N. C (2002). Brave new brain. Berlin: Springer. Kandel E. R. (1998). A new intellectual framework for Psychiatry. American Journal of Psychiatryy 155: 457–469.
1
2 2 Entwicklung und Stand der Psychiatrie und der Neuropsychologie Bruno Preilowski
2.1
Eine vorläufige Antwort
–8
2.1.1 Die moderne klinische Neuropsychologie
2.2
–8
Eine kurze Geschichte der Psychiatrie – 9
2.2.1 Dominanz der Moral- und Naturphilosophie – 9 2.2.2 Die Medizin wird zur Naturwissenschaft, die Psychiatrie eine Domäne der Mediziner – 10 2.2.3 Wilhelm Griesinger und die biologischen Grundlagen psychischer Störungen – 10 2.2.4 Wilhelm Griesinger bringt die Psychiatrie an die Universität und die Anstaltsleiter gegen sich auf – 11 2.2.5 Die Lokalisation von Hirnfunktionen und die Bedeutung Franz Joseph Galls – 12 2.2.6 Emil Kraepelin etabliert die Psychiatrie als Wissenschaft – 14 2.2.7 Die Abkehr von der biologisch-naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie – 15 2.2.8 Was werden die nächsten Jahre bringen? – 16
2.3
Die Entwicklung der klinischen Neuropsychologie – 16
2.3.1 Psychotechnik und Hirnpathologie als Grundlagen der klinischen Neuropsychologie – 17 2.3.2 Die »Entwicklung« der klinischen Neuropsychologie bis zum Ende des 2. Weltkrieges – 18 2.3.3 Die Wiederentstehung der klinischen Neuropsychologie nach dem 2. Weltkrieg – 18
2.4
Klinische Neuropsychologie: Eigendefinition oder flexible Anpassung und Erweiterung? – 20
2.5
Ausblick – 21
2.6
Literatur
– 22
8
2
Kapitel 2 · Entwicklung und Stand der Psychiatrie und der Neuropsychologie
International gesehen, ergibt sich für die Entstehung der Neuropsychologie über die letzten 150 Jahre ein relativ geradliniger Verlauf, der im Wesentlichen durch die gleichzeitige Entwicklung der Neurowissenschaften und der experimentell-naturwissenschaftlichen Psychologie gefördert wurde. Die Ausformung des Berufsbildes eines klinischen Neuropsychologen verlief jedoch, v. a. im deutschsprachigen Bereich, etwas holpriger. Erst in den letzten dreißig Jahren erfolgte die eigentliche Professionalisierung, die v. a. aufgrund des Stellenangebots im Rehabilitationsbereich und der berufspolitischen Bemühungen der Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP) ein bestimmtes Aufgabenfeld definierte. Nun wird, im Zusammenhang mit dem Psychotherapeutengesetz, wieder verstärkt über den Tätigkeitsbereich der klinischen Neuropsychologen diskutiert. Es geht dabei um mehr als um eine Standortbestimmung der neuropsychologischen Therapie. Es geht hauptsächlich auch um die Frage, welche Rolle in Zukunft psychische Störungen in der neuropsychologischen Diagnostik und Therapie spielen werden. Für denjenigen, der versucht, die Entwicklung der Neuropsychologie nachzuvollziehen, drängen sich dabei folgende Fragen auf: Welche Bedeutung hatten psychische Störungen und die Bereiche Psychiatrie, Psychotherapie sowie klinische Psychologie für die Entwicklung der Neuropsychologie? Wie kam es, dass trotz der bedeutsamen Beiträge von Psychiatern zur Hirnforschung und den Anfängen der Neuropsychologie, die klassischen psychiatrischen Störungen kein Gegenstand der Neuropsychologie wurden?
2.1
Eine vorläufige Antwort1
Wenn man die Entwicklung der Psychiatrie und Psychotherapie betrachtet, fällt auf, dass immer wieder mit Problemen gerungen wurde, die auch die philosophische und wissenschaftstheoretische Diskussion während der Entwicklung der naturwissen1 Die erste Version dieses Kapitels hat der Autor während eines Aufenthaltes an der Gesamthochschule Universität Kassel geschrieben. Herrn Prof. Dr. Tennstedt und dem Dekan des Fachbereiches Sozialwesen sei herzlichst für die Bereitstellung eines Arbeitsplatzes und des Bibliothekzugangs gedankt. Dank auch an Florian Tennstedt für die freundschaftliche Hilfe in schwerer Zeit.
schaftlichen Psychologie beherrschten. Dazu gehörten z. B. Fragen nach 4 dem Beitrag von Erbe und Umwelt, 4 der Leib-Seele-Problematik, 4 den Interaktionen von körperlichen und psychischen Prozessen, 4 der Stellung des Menschen in der Natur, 4 der Rolle des Bewusstseins, 4 der Determiniertheit und Freiheit unseres Denkens und Handelns oder auch 4 der Definition von Normalität und Krankheit. Lange Zeit gab es in dieser Diskussion eine sehr enge Verbindung zwischen Psychologie und Psychiatrie. Während sich dann aber große Teile der Psychologie von der hemmenden Dominanz dieser Diskussionen nach und nach befreiten, wurde die Psychiatrie länger und tiefer greifend als andere Fächer von den Auseinandersetzungen um die oben erwähnten Probleme geprägt. Darüber hinaus kam es unter den Psychiatern zu materialistischen vs. humanistischen Lagerbildungen. Zusammen mit polemisch zugespitzten Streitigkeiten unter einzelnen Fachvertretern führte dies zu extremen Pendelschwüngen vorherrschender Doktrinen. Manchmal, wie z. B. in den Auseinandersetzungen um die Psychoanalyse, wurden selbst zentrale Begriffe wie organisch, somatisch und psychisch in ihr Gegenteil verkehrt und damit zur Ursache weiterer Verwirrung. Diese scheinbar fruchtlosen Disputationen bei gleichzeitigen längeren Phasen eines therapeutischen Nihilismus mögen mit dafür verantwortlich gewesen sein, dass sich naturwissenschaftlich orientierte Mediziner und Psychologen von der Psychiatrie und klinischen Psychologie abwendeten. Die Entwicklung der Neurologie als eigenständige neurowissenschaftlich-medizinische Disziplin im Laufe des letzten Jahrhunderts war nicht nur durch die zunehmende Spezialisierung innerhalb eines anwachsenden Wissensbereiches bedingt, sondern auch eine Konsequenz dieser divergierenden Interessen.
2.1.1 Die moderne klinische
Neuropsychologie Die moderne klinische Neuropsychologie entstand während des 1. Weltkrieges aus den Bemühungen
9 2.2 · Eine kurze Geschichte der Psychiatrie
von Neurologen, Pädagogen und naturwissenschaftlich, experimentell orientierten Psychologen um die Diagnose und Therapie von Hirngeschädigten. Die institutionelle Psychiatrie hatte an diesen Bemühungen keinen Anteil. Gleiches gilt übrigens auch für die institutionelle, d. h. akademische Psychologie: Das verstärkte Interesse der Universitätspsychologie an der Neuropsychologie ist relativ neuen Datums; das der Psychiatrie fällt immer noch sehr verhalten aus. Und umgekehrt gibt es auch von Seiten der neuropsychologischen Praktiker eine gewisse Zurückhaltung, insbesondere gegenüber der Psychiatrie. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe Zum einen präsentiert sich die Psychiatrie für Außenstehende auch heute noch als ein Gebilde, in dem Unterscheidungen zwischen nervenheilkundlicher, neurowissenschaftlicher und psychologischer, pädagogischer oder sozialpsychologischer Psychiatrie eher als Gegensätze, anstatt als sich notwendig ergänzende Teile gesehen werden. Als Neuropsychologe fühlt man sich daher in der Kooperation mit Neurologen oder Neurochirurgen, deren Interessen und Vorstellungen vorhersagbarer sind, wohler. Auf der anderen Seite aber macht diese Vermeidungshaltung, die zwischen Neuropsychologen und Psychiatern herrscht, auch eine gewisse Bequemlichkeit in der Auseinandersetzung mit psychischen Störungen möglich. Waren die Probleme eines Patienten nicht mit den gängigen neuropsychologischen Methoden fassbar, konnte man ihn an die Psychotherapeuten oder Psychiater weiterverweisen. In Zukunft wird sich die klinische Neuropsychologie fragen müssen, ob und wenn ja, mit welcher Begründung man bestimmte psychische Störungen der Psychiatrie, Psychotherapie oder klinischen Psychologie überlässt: aus selbstbestimmter Eingrenzung der Kompetenz und Zuständigkeit oder weil man sich mit bestimmten besonders schwierigen Problemen nicht auseinandersetzen will? Allerdings gibt es von Seiten vieler Psychiater auch eine definitive Ablehnung jeglicher biologischer und experimentell-psychologischer Orientierung, wie sie die Neuropsychologie auszeichnet. Und hierbei geht es nicht nur um eine fachlich begründete Abgrenzung. Oft steht die Grenzziehung unter dem Motto: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.« Wilhelm Dilthey wollte
2
gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit diesem Satz die Eigenständigkeit der geisteswissenschaftlichen Methodik gegenüber der zunehmend dominierenden naturwissenschaftlich experimentellen Psychologie Wundts betonen (Dilthey 1894). Aber mit der Zeit erhielt seine Aussage, entgegen seiner Absicht, einen bewertenden Ton: Hier biologisch-neurowissenschaftlicher Reduktionismus, dort verstehende menschliche Einfühlsamkeit. Die Existenz solcher Grenzen lässt sich leichter aus ihrer Entwicklung verstehen, und ein verbessertes Verständnis kann zur Vermeidung von gegenseitigen, vorurteilsbelegten Typisierungen beitragen. Daher erscheint es sinnvoll, einige der verworrenen Fäden der Entwicklung der Psychiatrie nachzuverfolgen. Weiterhin soll dadurch das Bild von der Entwicklung der Neuropsychologie vervollständigt und Denkanstöße für eine mögliche zukünftige Entwicklung gegeben werden.
2.2
Eine kurze Geschichte der Psychiatrie
2.2.1 Dominanz der Moral-
und Naturphilosophie Für den Zweck dieser Diskussion genügt es, wenn dieser Exkurs im sog. Zeitalter der Aufklärung, also gegen Ende des 17. Jahrhunderts, beginnt. Die Medizin war eine Art Naturphilosophie, eine Psychiatrie oder Psychologie im eigentlichen Sinne gab es noch nicht. Zu dieser Zeit war immer noch unsicher, wer sich um die Menschen zu kümmern hätte, die unter psychischen Störungen litten. Gewöhnlich handelten die Kommunen oder herrschaftlichen Institutionen nur, wenn sie sich durch diese Personen bedroht fühlten, oder wenn die Geistesgestörten Gefahr liefen, zugrunde zu gehen. Soweit kirchlich-karitative Institutionen die Armen und Irren nicht versorgten, wurden für sie Asyle eingerichtet, oder sie wurden zusammen mit anderen Asozialen weggesperrt. Einen Arzt sahen sie höchstens, wenn offensichtliche körperliche Krankheitssymptome vorlagen. Über das Phänomen des Irreseins dachten Philosophen, Theologen oder Dichter nach. Erst langsam wurde unter den Eingesperrten differenziert. Es entstanden zuerst Zucht- und Toll-
10 Kapitel 2 · Entwicklung und Stand der Psychiatrie und der Neuropsychologie
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häuser und schließlich Irrenanstalten; dann sogar Heil- und Pflegeanstalten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam es in Frankreich, England und Nordamerika zu einer Bewegung, die etwas euphemistisch als »Befreiung der Geisteskranken« gekennzeichnet wurde. Oft wurden die Ketten jedoch nur durch Zwangsjacken oder durch entsprechend kräftiges Personal ersetzt. Die als »human« gekennzeichnete Veränderung betraf eher die Beurteilung des Irreseins als die Behandlung der Patienten. Diese wurden auch weiterhin mit eiskalten Bädern oder Drehstühlen und Ähnlichem nicht minder brutal traktiert. Das geschah ganz im Sinne der Aufklärung, d. h. der Vernunft, als Erziehung der Unvernünftigen, nach der Devise »Irresein ist selbstverschuldete Unvernunft«. Sowohl religiöse als auch moralische Gesichtspunkte rechtfertigten jedes Mittel, entweder um die durch Sünde erkrankte körperlose Seele zu befreien oder der Sittlichkeit zum Sieg zu verhelfen. Diese Einstellung der Anstaltsleiter, die von der medizinischen Geschichtsschreibung als »Romantiker« oder »Psychiker« bezeichnet werden, dominierte bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts. Demgegenüber hatten die sog. »Somatiker« noch keinen sehr großen Einfluss. Letztere vertraten im Prinzip ebenfalls erzieherische Ideale. Aber sie befreiten die Kranken vom Stigma der Schuld, denn sie vermuteten körperliche Ursachen für die Geisteskrankheiten. Allerdings stützte sich diese Vermutung nur auf dem Argument, dass die körperlose Seele nicht erkranken könne.
genommen. Verbesserte Mikroskope erlaubten verlässliche Beobachtungen zellulärer Strukturen und deren Veränderungen. Quantitative physikalischchemische Analysen führten zur Beschreibung der chemischen Vorgänge im lebenden Organismus. Darüber hinaus wurden innerhalb der nächsten 50 Jahre die Erreger von Krankheiten identifiziert, die die Menschheit seit Jahrtausenden heimgesucht hatten. Außerdem, und das machte den Siegeszug der Naturwissenschaften unumkehrbar, wurden erfolgreiche Therapien entwickelt. Namen wie Wöhler, von Liebig, Virchow, Pasteur, Lister, Koch in der Biochemie bzw. Pathologie und du Bois-Reymond, Claude Bernard, von Helmholtz als physiologische Theoretiker und Experimentalisten oder auch Histologen wie Henle, Schwann, Schleiden wären hier zu nennen. Dieser Aufbruchstimmung war es sicher auch zu verdanken, dass ein 1845 zuerst veröffentlichtes Lehrbuch zur »Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten« so erfolgreich war, und dass sein Verfasser, Wilhelm Griesinger, in den nächsten zwanzig Jahren gegen den Widerstand der Naturphilosophen die Grundlagen der naturwissenschaftlichen Psychiatrie legen konnte. Nach Griesinger waren die Probleme geistig Gestörter nicht Folgeerscheinungen von moralisch verursachter psychischer Erkrankung. Vielmehr seien es körperliche Erkrankungen und zwar Erkrankungen des Gehirns – die zu Geisteskrankheiten führten.
2.2.3 Wilhelm Griesinger und 2.2.2 Die Medizin wird zur Natur-
wissenschaft, die Psychiatrie eine Domäne der Mediziner Etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts begann eine Entwicklung, die die Medizin schließlich in eine Naturwissenschaft verwandelte und die Psychiatrie zu einer Domäne der Mediziner machte. Physik und Chemie zeigten ab diesem Zeitpunkt eine solch rasante Entwicklung, dass die Naturwissenschaft das leitende Modell sowohl für die Medizin als auch für die Psychologie wurde. In der Medizin wurden neue diagnostische Techniken entwickelt, pathologische, anatomische und physiologische Befunde systematisch erhoben sowie statistische Auswertungen vor-
die biologischen Grundlagen psychischer Störungen Wilhelm Griesinger wird hier etwas ausführlicher beschrieben, nicht nur weil er Geisteskrankheiten zu Gehirnkrankheiten machte, sondern weil mit ihm ein Beispiel dafür gegeben werden kann, wie die Entwicklung sowohl durch den Zeitgeist als auch durch einzelne Personen bestimmt wurde. Ferner wird durch seine persönlichen und fachpolitischen Kämpfe etwas von dem deutlich, was sich bis heute in akademisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzungen findet. Griesinger hatte schon während seines Studiums in Tübingen eine sehr kritische Haltung gegenüber
11 2.2 · Eine kurze Geschichte der Psychiatrie
den medizinischen Romantikern und Vertretern der Naturphilosophie, die an den Universitäten vorherrschten, demonstriert. Weshalb er von der Universität Tübingen verwiesen wurde, ist nicht genau bekannt, aber seine Haltung gegenüber der Professorenschaft wird ihm nicht geholfen haben. Er setzte sein Studium in Zürich fort, wo Johann Lukas Schoenlein, ein Vertreter der sich entwickelnden modernen wissenschaftlichen Medizin, lehrte. Griesinger legte dann trotz allem schon mit 21 Jahren seine Examina in Tübingen ab. Nach einem Aufenthalt in Paris, wo er mit dem Physiologen und experimentellen Mediziner Francois Magendie (BellMagendie-Gesetz: Trennung sensorischer und motorischer Nervenbahnen) in Kontakt kam, ließ er sich als praktischer Arzt in Friedrichshafen nieder. Kurze Zeit später wechselte er als Assistenzarzt an die Irrenanstalt Winnenthal, dessen Direktor, Ernst Albrecht von Zeller, sowohl als »frommer Liederdichter« als auch als hervorragender Fachmann für Geisteskranke beschrieben wird. Nach 2-jähriger Tätigkeit in Winnenthal besuchte er nochmals Paris und dann Wien, beides Zentren der sich entwickelnden Naturwissenschaften. Danach folgte eine wiederum nur kurze Tätigkeit als niedergelassener praktischer Arzt in Stuttgart, bevor er als Assistent zurück nach Tübingen wechselte. Hier hatte sein Schul- und Studienfreund Carl Reinhold Wunderlich mittlerweile die Leitung der medizinischen Klinik inne und teilte sich, was nicht minder wichtig war, mit einem weiteren gemeinsamen Studienfreund, Wilhelm Roser, die Herausgeberschaft des »Archivs für physiologische Heilkunde«. Das Ziel der Zeitschrift wurde, nicht zuletzt durch Griesingers teilweise sehr aggressiven Artikel, die Durchsetzung der empirischen Forschung in der Medizin und die Abrechnung mit der naturphilosophischen Spekulation.
2.2.4 Wilhelm Griesinger bringt
die Psychiatrie an die Universität und die Anstaltsleiter gegen sich auf Wunderlich wurde mit der Zeit zu einem der Begründer der physiologischen Medizin (u. a. setzte er sich für eine planmäßige Messung der Körpertemperatur der Kranken ein) und damit auch zu einem
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Wegbereiter der deutschen Medizin als Naturwissenschaft. Der für das Fach Innere Medizin habilitierte Griesinger etablierte seinerseits die Psychiatrie als Teil der naturwissenschaftlichen Medizin an der Universität. Das Lehrbuch, in dem Griesinger die Erfahrungen seiner 2-jährigen Tätigkeit in Winnenthal verarbeitet hatte, erschien im Jahr 1845, in dem Jahr seiner Habilitation. 1847 wurde er in Tübingen zum außerordentlichen Professor ernannt, 1849 nach Kiel und kurz darauf als Leibarzt des Vizekönigs von Ägypten und Leiter des Medizinalwesens nach Kairo berufen. Dort blieb er zwei Jahre. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er die Ergebnisse seiner Untersuchungen über parasitäre Erkrankungen in Ägypten. 1854 wurde er Ordinarius und Leiter der medizinischen Klinik in Tübingen. Als er 1860 nach Zürich wechselte, wurde er gewissermaßen Nachfolger seines bewunderten Lehrers Schoenlein, der mittlerweile in Berlin tätig war. In Zürich konnte sich Griesinger endlich wieder vermehrt der Erforschung der psychischen Krankheiten widmen, denn er hatte sowohl die Leitung des Kantonsspitals als auch der kantonalen Irrenanstalt inne. Zwar hatte sich Griesinger auch in Tübingen mit psychiatrischen Fragestellungen beschäftigt, aber es fehlten an den deutschen Universitäten nach wie vor die Patienten, die in größerer Anzahl nur in den Einrichtungen (Irrenanstalten) außerhalb der Universitätsstädte zu finden waren. In Zürich erhielt er u. a. auch die Möglichkeit, die Pläne für eine neu zu bauende eigenständige psychiatrische Klinik zu erstellen. Allerdings wechselte er noch vor der Vollendung dieser Klinik (dem »Burghölzli«) im Jahre 1865 nach Berlin. Entscheidend für diesen Entschluss war wahrscheinlich nicht nur die Tatsache, dass es ihm in Berlin gelang, sowohl den Lehrstuhl für Psychiatrie als auch den für Neurologie zugesprochen zu bekommen und somit eine »Psychiatrische und Nervenklinik« etablieren zu können. In der Neurologie folgte er dem Gründer der Neurologie in Deutschland, M. H. Romberg, und mit der Psychiatrie übernahm er einen Lehrstuhl, der von den von ihm bekämpften »Romantikern« gewissermaßen als Erbhof betrachtet wurde. Letzteres muss den streitbaren Schwaben besonders gereizt haben. Es war eine mutige Entscheidung, denn Griesinger hatte schon seit Längerem die Leiter der Anstaltspsychiatrien gegen
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2
sich: Obwohl die Thesen seines mittlerweile in der 2. Auflage erschienenen Lehrbuches allgemeine Zustimmung fanden, kritisierte man ihn wegen seiner Herkunft aus der inneren Medizin und als jemand, der eher nur akademischen Umgang mit psychisch Kranken gehabt habe. Griesinger hatte ferner gleich zu Anfang seiner Berliner Tätigkeit in einer Denkschrift die Pläne für eine neue psychiatrische Klinik und eine neue Ausgestaltung des »klinischen Asyls« vorgestellt. Dann gründete er 1867 die Zeitschrift »Archiv für Psychiatrie« in Konkurrenz zur etablierten »Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie«. Als er schließlich im 1. Band des Archivs die Einrichtung von »Stadtasylen« anstelle der seiner Meinung nach zu großen und zu teuren stadtfernen Anstalten propagierte, kam es zu Auseinandersetzungen mit deren Vertretern. Dieser Streit wurde von beiden Seiten mit erbitterter Schärfe geführt. Für die Psychiatrie ist es von besonderer Tragik, dass diese Auseinandersetzungen zwischen der »Anstaltspsychiatrie« und der »Universitätspsychiatrie« anhielten, obwohl man sich in den nachfolgenden Jahren bzgl. der generellen Ziele der Behandlung von psychisch Kranken überwiegend einig war. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Anstalten durch das generelle Fehlen effektiver Behandlungsmethoden von Geisteskrankheiten benachteiligt waren. Auch die von den Akademikern vertretene physiologische Medizin hatte nicht die erhofften Therapien generiert. Nachdem zu Anfang viele Geisteskranke, die durch die Spätfolgen der Syphilis in den Irrenanstalten gelandet waren, geheilt werden konnten, machte sich später wieder zunehmend eine therapeutische Hilflosigkeit breit. Als Konsequenz ergaben sich immer mehr chronische Verläufe psychischer Erkrankungen. Diese chronisch »Unheilbaren« sammelten sich in den immer größer werdenden Anstalten, wo trotz heldenhafter Bemühungen nur für wenige leichtere Fälle bestimmte therapeutische Angebote (z. B. Arbeits- und Beschäftigungstherapien) zur Verfügung standen. An den Universitäten sah man hauptsächlich akute Fälle mit zumeist gutartigen Verläufen, die dann nach relativ kurzem Aufenthalt als geheilt entlassen wurden. Die schwer gestörten Patienten wurden entweder gleich in die Anstalten eingeliefert oder sie wurden nach kurzer Zeit von den Uni-
versitätspsychiatrien dorthin verlegt. Auch in anderer Hinsicht verschlechterte sich die Situation der Anstalten zunehmend. Denn zu der immer größer werdenden Zahl der zu versorgenden Patienten kam später auch noch die wachsende materielle Not der Weltkriegsjahre. Diese Verhältnisse unterstützten vielleicht auch die Anfälligkeit der Anstaltspsychiatrie dafür, die eugenischen und rassehygienischen Maßnahmen der Nationalsozialisten zu tolerieren. Auf der anderen Seite gab es gerade auch Universitätspsychiater, die diese Situation in krimineller Weise für ihre Forschung ausnutzten und solche, die Zwangssterilisation sowie den 1000-fachen Mord von Patienten mit psychischen Störungen durch unwissenschaftliche genetische Theorien zu legitimieren suchten. Allerdings hatte die Degenerationslehre in der Psychiatrie insgesamt eine lange Tradition, und es gibt Hinweise darauf, dass bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine bislang ungeklärte Anzahl von Sterilisationen und Kastrationen an Geisteskranken vorgenommen wurde. Die Auswirkungen dieses dunklen Kapitels der Psychiatriegeschichte sind bis heute eine schwere Belastung für interdisziplinäre Interaktionen mit der Psychiatrie: Zum einen gibt es nach wie vor ein Misstrauen gegenüber einer ideologisch anfälligen unwissenschaftlichen Psychiatrie, zum anderen haben die Psychiater ihrerseits Vorbehalte gegenüber einer wissenschaftlichen Medizin, die aufgrund einer materiellen Sicht wiederum zu einer inhumanen Behandlung von psychisch Gestörten führen könnte. Dieses Verhältnis der Psychiatrie zur biologisch-wissenschaftlichen Medizin soll im Folgenden noch näher gekennzeichnet werden.
2.2.5 Die Lokalisation von Hirnfunk-
tionen und die Bedeutung Franz Joseph Galls Wie bereits erwähnt, führte die Ablösung der Naturphilosophie durch die naturwissenschaftliche Medizin ab 1850 zur medizinisch orientierten Psychiatrie. Analog zur Bakteriologie sowie Zellund Pathophysiologie hoffte man, ebenso für die Geisteskrankheiten pathologische Veränderungen im Gehirn nachweisen zu können. Dies gelang auch für einige Formen der Demenzen, und damit konn-
13 2.2 · Eine kurze Geschichte der Psychiatrie
te die Bedeutung des Gehirnes für die psychischen Erkrankungen vorerst gesichert werden. Aber ein ganz wesentliches Problem war damit noch nicht gelöst worden: Die Identifizierung der Funktionen des Gehirnes, die man als Grundlagen der normalen menschlichen Leistungen und Fähigkeiten hätte ansehen und in ihren pathologischen Veränderungen untersuchen können stand weiterhin aus. Auch unabhängig von möglichen Zuordnungen zu einem organischen Substrat hatte sich die Frage nach den sensomotorischen und psychischen Grundfunktionen seit jeher in der Philosophie und der Psychologie gestellt. Bis zum Mittelalter war man den Vorstellungen der Griechen gefolgt und mit einer geringen Anzahl von Fähigkeiten, wie Fantasie, Vernunft und Gedächtnis, die man in den Hohlräumen des Gehirnes lokalisieren konnte, ausgekommen. Es ist das Verdienst des in Tiefenbronn (Baden) geborenen Anatomen Franz Joseph Gall, nicht nur das Gehirn als Substrat des Geistes in die Diskussion gebracht zu haben. Er hatte in seinen Veröffentlichungen (Gall u. Spurzheim, 1810–1819), auch die Auffassung vertreten, dass zur Erklärung der Fähigkeiten von Lebewesen in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt sehr viel mehr an Grundfunktionen notwendig seien. Er definierte also für den Menschen 29 solcher Fähigkeiten, die alle in ihrer Ausprägung durch die Größe der jeweiligen zugehörigen Kortexorgane bestimmt seien. 19 dieser Fähigkeiten teile der Mensch mit den Tieren. Damit können bei Gall sowohl Ansätze zur Hirnlokalisation von Funktionen als auch zur differenziellen und zur vergleichenden Psychologie gefunden werden. Diese Vorstellungen Galls hatten einen sehr großen Einfluss. Schon vor Griesinger regten sie Ärzte, wie z. B. Johann Christian Reil, zu – wenn auch spekulativen – Überlegungen über die nervösen Ursprungsorte von psychischen Krankheiten an. Selbst aus den Versuchen, Gall zu widerlegen (z. B. von Flourens 1824), ergaben sich wichtige Grundlagen für die nachfolgenden Auseinandersetzungen über die Funktionen des Gehirnes. Mit dem Nachweis der elektrischen Reizbarkeit des Kortex und der Auslösung spezifischer motorischer Reaktionen durch Fritsch und Hitzig (1870) sowie weiteren sorgfältigen Stimulations- und Ablationsexperimenten (Ferrier 1873; Munk 1877) konnte die Lokalisation von sensomotorischen und
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visuellen Funktionen bestätigt werden. Etwa zur gleichen Zeit erweiterten die Befunde von Broca (1861, 1865) und Wernicke (1874) die lokalisatorischen Zuordnungen auf die spezifisch menschliche Fähigkeit der Sprache und bildeten somit die Grundlage für die Entwicklung der Neuropsychologie. Darüber hinaus erbrachten sie die ersten wissenschaftlich fundierten Belege für eine funktionelle zerebrale Asymmetrie beim Menschen. Doch so bedeutsam und einflussreich diese Erkenntnisse auch bis heute sind, sie lösten nicht das Problem der Identifizierung von Grundfunktionen des Gehirnes.2 Dies war sicher mit ein Grund dafür, dass die Lokalisationisten in der Folge durchaus keinen leichten Stand hatten. Noch bis in die 1930er-Jahre gab es eine starke Bewegung zugunsten der Annahme einer Äquipotenzialität des Kortex, mit Karl Lashley als dem wahrscheinlich prominentesten Vertreter. Aber zuerst hatten die Auseinandersetzungen über die Lokalisation von Funktionen gerade in der Psychiatrie eine weitere verstärkte neuroanatomische Orientierung zur Folge. Besonders zu nennen ist hier das Wirken Theodor Meynerts in Wien, der die Psychiatrie durch die anatomische Grundlegung zu einer wissenschaftlichen Disziplin machen wollte, und dessen Einfluss Wernicke für seine Arbeit besonders hervorhob. Aber auch an vielen anderen psychiatrischen Einrichtungen wurde neuroanatomisch sowie neuropathologisch geforscht und an einigen wurden auch besondere anatomische bzw. pathologische Laboratorien etabliert. Die Namen der mit diesen Arbeiten verbundenen Ärzte und Forscher begegnen uns noch heute in den Bezeichnungen von histologischen Techniken oder der verschiedensten Hirnstrukturen. In Wien z. B. wäre außer Meynert noch von Economo zu nennen. Unter den Mitarbeitern der Irrenanstalt Frankfurt am Main findet man Namen, wie z. B. Edinger, Weigert, Nissl, Alzheimer, Brodmann. In Berlin gehörten dazu der Nachfolger Griesingers, 2 Man könnte argumentieren, dass auch durch die Anwendung funktioneller bildgebender Verfahren mit immer besserer zeitlicher und räumlicher Auflösung dieses Problem prinzipiell nicht zu lösen ist. Die Neuropsychologie kann sich auch heute mithilfe dieser Techniken einer Lösung durch immer bessere, empirisch überprüfbare Hypothesen nur nähern.
14 Kapitel 2 · Entwicklung und Stand der Psychiatrie und der Neuropsychologie
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Carl Westphal, und Otto Binswanger, später auch das Ehepaar Vogt. Zu Binswangers Mitarbeitern zählten dann, nach seiner Berufung an die Universität Jena, (neben Hans Berger) auch Oskar Vogt und Korbinian Brodmann. Paul Flechsig, bekannt für seine Forschung zur Myelogenese des Gehirnes, war 42 Jahre lang Direktor der Irrenklinik der Universität Leipzig. In Zürich fanden sich zu verschiedenen Zeiten Gehirnforscher wie von Gudden, Hitzig und Forel als Leiter der Psychiatrie und von Monakow mit einem eigenen Forschungsinstitut. Man kann durchaus sagen, dass zum Ende des 19. Jahrhunderts die Psychiatrie die Hirnforschung dominierte. Und teilweise war es auch umgekehrt. Aber es wäre falsch, von einer Ausschließlichkeit der »Gehirnpsychiatrie« zu sprechen. Zwar war die Hoffnung sehr groß, die neuen Erkenntnisse der Medizin und der Hirnforschung würden die Psychiatrie revolutionieren. Selbst Sigmund Freud, der übrigens auch einige Zeit bei Theodor Meynert neuroanatomisch und neurophysiologisch gearbeitet hatte, schloss dies noch 1920 nicht aus. Aber gleichzeitig wurde auch daran gearbeitet, die Psychiatrie anhand der psychopathologischen Zustandsbilder zu systematisieren, und es gab Anfänge einer empirischen Forschung auch auf der Verhaltensebene. Der wahrscheinlich bedeutendste dieser Systematiker und empirischen Forscher sowie einer derjenigen, die sowohl die Neuropathologie als auch die Verhaltensforschung besonders förderten, war Emil Kraepelin.
2.2.6 Emil Kraepelin etabliert
die Psychiatrie als Wissenschaft Seine ersten Assistenzjahre verbrachte Kraepelin in München bei Bernhard von Gudden. Dieser ist hauptsächlich wegen seiner hirnanatomischen, tierexperimentellen Forschung über das visuelle System bekannt und wohl auch wegen der ihm übertragenen Aufgabe, die Regierungsunfähigkeit des Bayernkönigs Ludwig II nachzuweisen, der ihn – so wird vermutet – 1886 ermordete, bevor er sich dann selbst ertränkte. Studiert hatte Kraepelin in Würzburg und später in Leipzig, wo er auch an Seminaren des Psychologen Wilhelm Wundt teilnahm. Als er dann 1882 von München nach Leipzig auf eine
Stelle bei Paul Flechsig zurückkehrte, wollte er v. a. mit Wundt experimentieren. Dies führte dann wohl zum Bruch mit Flechsig. Durch die Vermittlung von Wundt konnte Kraepelin in der neurologischen Klinik von Wilhelm Erb (bekannt für Untersuchungen zur Neurologie, Physiologie und Pathologie neuromuskulärer Erkrankungen) arbeiten. Er war aber weiterhin auf ein Dozentenstipendium angewiesen. Zwar kam mangels Zuhörer keine Vorlesung in der Psychiatrie zustande, aber in den Osterferien 1883 schrieb er – angeregt durch einen Vorschlag Wundts – das Compendium der Psychiatrie. Dieses Büchlein wurde die Grundlage eines Lehrbuches der Psychiatrie, das dann in mehreren Auflagen zum Standard der psychiatrischen Krankheitslehre und Systematik wurde. Die letzte von Kraepelin selbst bearbeitete 8. Auflage erschien in vier Bänden zwischen 1909 und 1915. Eine weitere Auflage wurde 1927, ein Jahr nach Kraepelins Tod, von seinem langjährigen Mitarbeiter J. Lange nach Kraepelins Vorgaben herausgebracht. Wundt war es auch, der Kraepelin davon abriet, sich ganz der Psychologie zu widmen. Außerdem wird berichtet, dass sich der damals 27-jährige Kraepelin vornahm, mit 30 Jahren Professor der Psychiatrie zu sein, was er auch tatsächlich schaffte und zwar 1886 in Dorpat (Estland). 1891 wechselte er nach Heidelberg und 1903 nach München. Schon in Heidelberg waren unter seinen Mitarbeitern bekannte und später berühmte Neurowissenschaftler wie Nissl und Alzheimer. In München stieß dann auch Brodmann dazu. Wenn Kraepelin als derjenige bezeichnet wird, der die Psychiatrie zu einer Wissenschaft machte, dann gibt es dafür viele Gründe. Seine Systematik wurde bereits erwähnt, wichtig ist aber auch, dass er diese Systematik einer ständigen empirischen Überprüfung unterzog. Er führte über jeden Patienten detaillierte sog. »Zählkarten«, um möglichst vollständige Beobachtungsreihen zu erhalten und auswerten zu können. Neben dem Versuch, möglichst objektive Beobachtungsmethoden zu verwenden, wurden auch Experimente Wundtscher Prägung durchgeführt, z. B. Wortassoziations- und Reaktionszeitexperimente. Darüber hinaus waren seine Versuche, durch Belastung oder verschiedene Pharmaka »künstliche Geistesstörungen« herbeizuführen und seine »fortlaufende Arbeitsmethode« (Zah-
15 2.2 · Eine kurze Geschichte der Psychiatrie
len fortlaufend zu addieren) anregend für die angewandte Psychologie. Insbesondere die von ihm definierte Arbeitskurve hatte großen Einfluss auf die Arbeitspsychologie (Kraepelin 1902). Die experimentelle und die physiologische Psychologie waren für Kraepelin wichtige Bausteine der wissenschaftlichen Psychiatrie. In Dorpat und in Heidelberg hatte er Vorlesungen hierzu gehalten und ebenso Kurse zur »Anleitung zum experimentell-psychologischen Arbeiten im psychologischen Laboratorium«, aus denen er interessierte studentische Mitarbeiter rekrutierte. Die Forschungsergebnisse aus seinen Laboratorien wurden schließlich auch in einer eigenen Schriftenreihe unter dem Titel Psychologische Arbeiten veröffentlicht. Ein Meilenstein in der Etablierung der Psychiatrie als Wissenschaft war schließlich auch die 1917 erfolgte Errichtung der von ihm seit langem angestrebten Forschungsanstalt für Psychiatrie (des späteren Max-Planck-Instituts für Psychiatrie). Dies wurde insbesondere durch die großzügige Unterstützung des reichen Amerikaners James Loeb, den Kraepelin behandelt hatte, ermöglicht.
2.2.7 Die Abkehr von der biologisch-
naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie Schon Kraepelin schien in den letzten Jahren seines Wirkens von den Ergebnissen der Neuroanatomie für die Psychiatrie enttäuscht zu sein und der experimentellen Psychologie als Grundlage der Psychiatrie den Vorzug zu geben. Zwar hatte z. B. der von ihm geschätzte und geförderte Alois Alzheimer eine Reihe von Erkrankungen in der Psychiatrie mit Veränderungen des Gehirnes in Zusammenhang gebracht. So beschrieb er sklerotische Ammonshornveränderungen bei Epilepsien (damals noch ein Gegenstand der Psychiatrie) und (zusammen mit Nissl) das organische Substrat der progressiven Paralyse. Ferner kennzeichnete Alzheimer die histologischen Veränderungen bei Patienten, deren Demenz von Arnold Pick beschrieben worden war. Schließlich hatte Alzheimer in München auch die neuropathologischen Erscheinungen der Krankheit entdeckt, die nach ihm benannt wurde. Die Patientin, deren Gehirn er hierfür analysierte, hatte er Jah-
2
re zuvor in Frankfurt psychiatrisch untersucht. Aber für die Überprüfung der auf exakten Verhaltensbeschreibung beruhenden Systematik Kraepelins waren diese ansonsten bedeutsamen neuropathologischen Befunde scheinbar keine große Hilfe. Tatsächlich machte sich nach der anfänglichen neurowissenschaftlichen Euphorie langsam Ernüchterung breit, zumal auch therapeutisch keine weiteren Fortschritte erzielt werden konnten. In dieser Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts eroberte sich die Psychoanalyse, trotz anfänglichen Widerstandes von Seiten führender Psychiater wie Kraepelin und trotz heftiger Auseinandersetzungen unter den Vertretern der verschiedenen analytischen Richtungen, die Führung in der Psychiatrie. Zuerst wurden nur Teilbereiche wie Neurosen und Persönlichkeitsveränderungen, später auch die Psychosen Ziel der neuen Methode. Psychoanalytiker wie Carl Gustav Jung und Carl Abraham waren aufgrund der aufgeschlossenen Haltung des Zürcher Psychiatrieleiters Eugen Bleuler am Burghölzli tätig. Bleuler, der die Bezeichnung »Schizophrenie« einführte und auch den Begriff »Tiefenpsychologie« geprägt haben soll, unterschied sich hier sehr von seinem Vorgänger am Burghölzli, August Forel. Dieser praktizierte zwar die Hypnose sehr erfolgreich, die Psychoanalyse aber lehnte er ab. In einem Brief schrieb er: »Ich habe jetzt einen Fall (durch Hypnose) in Behandlung, der durch Psychoanalyse von Freud und Schule total kaputt gemacht worden ist. Aus lauter sexuellen Deutungen aller harmlosesten Dinge ist die Betreffende halb toll geworden. Mit der Kombination von Größenwahn, Eigendünkel und Schweinerei, genannt Freud, Jung und Kompanie will ich nichts zu tun haben« (zit. nach Amrein 2001; www.getwellness.ch/index.asp?1000). Die Abkehr von der naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie war jedoch weltweit und führte zu einer jahrzehntelangen Dominanz der geisteswissenschaftlich-humanistischen Psychiatrie. Deren therapeutische Erfolge waren nicht unbedingt überwältigend, aber doch, gemessen an denen der bisherigen medizin-psychiatrischen Interventionen, ein Fortschritt. Die Psychotherapie dehnte sich dann weiter in den allgemein medizinischen Bereich aus. Aber auch in der Psychosomatik fehlte es zunächst an Bemühungen einer wissenschaftlichen Fundierung. »Es sei gut möglich«, schreibt
16 Kapitel 2 · Entwicklung und Stand der Psychiatrie und der Neuropsychologie
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Wolfgang U. Eckart (1994, S. 95), »dass die Heilerfolge auf den zwei unverstandenen grundlegenden Mechanismen der Beichte und der Suggestion beruhen, die auch der Medizinmann schon so erfolgreich verwendet«. Es war also nicht die Wissenschaftlichkeit, sondern das menschlichere Gesicht dieser Psychiatrie und der Anreiz, eine therapeutische Kunst auszuüben, die man als treibende Kräfte dieser Entwicklung vermuten kann. Während der Rest der Medizin die rasante naturwissenschaftliche Entwicklung, v. a. der Molekularbiologie, Biochemie und Biophysik für ihre wissenschaftliche Stärkung nutzte, koppelte sich die Psychiatrie immer mehr von den biologischen Wissenschaften soweit ab, dass einige der Medizinwissenschaftler unter den Psychiatern etwas zynisch fragten, wozu man als psychiatrischer Therapeut überhaupt noch Medizin studieren müsse. Mit der Einführung wirksamer Psychopharmaka (1952 Chlorpromazin, 1949–1970 Lithium, 1963 Valium) änderte sich die Situation in den psychiatrischen Anstalten und allmählich auch die Psychiatrie. Aber im Grunde konnte man noch viele Jahre lang feststellen, dass – in den Worten von Klaus Mayer – in der Psychiatrie Krankheiten behandelt wurden, deren Ursachen unbekannt waren, mit Medikamenten, deren Wirkung man nicht kannte. Die Medikamente wurden genutzt und dennoch blieben viele Psychiater bei ihrer ablehnenden Haltung gegenüber den Naturwissenschaften. Und das, obwohl gerade erst die Psychopharmaka einen psychotherapeutischen Zugang und damit einen großen Teil ihrer Erfolge ermöglichten. Es gab Ausnahmen, wie z. B. Ernst Kretschmer, dessen somatische Typologie weltweite Anerkennung gefunden hatte. Er förderte, ähnlich wie Kraepelin, psychopharmakologische und testpsychologisch-experimentelle Untersuchungen. Unter anderem hatte er an der Tübinger Nervenklinik auch ein arbeitspsychologisches Laboratorium aufgebaut.
selbst zurückzuführen. Die lernpsychologisch ausgerichteten Verhaltenstherapien der klinischen Psychologen haben selbstbewusst die wissenschaftliche Diskussion angestoßen, und die Psychoanalyse verliert an Akzeptanz, solange sie sich nur auf defensive Reaktionen beschränkt. Abstoßend wirkt auch das quasi religiöse, sektiererische Gehabe einiger analytischer Psychotherapieschulen. Interessanterweise ist auch bzgl. der Systematik der psychischen Störungen ein Trend zurück zu Kraepelin zu beobachten. Am deutlichsten wird dies in der 1980 erfolgten Bereinigung des Diagnostic and Statistical Manuals der American Psychiatric Association (DSM-III) von psychoanalytischen Einflüssen. Sehr bedeutsam ist sicher, dass die Erfolge medikamentöser Behandlung stetig zunahmen und nicht, wie bisher so oft mit anderen Therapien in der Psychiatrie geschehen, nach einiger Zeit wieder an Bedeutung verloren. Damit stieg auch seit der Einführung der ersten wirksamen antipsychotischen Medikamente die Bedeutung der Psychopharmakologie immer weiter an: Es gibt nun mehr und mehr differenziert einsetzbare Psychopharmaka; ihre Wirkmechanismen werden mittlerweile zumindest teilweise besser verstanden, und dies erlaubt auch eine genauere Abschätzung möglicher Nebenwirkungen. Fortschritte der Molekularbiologie und Genetik, die Anwendung tierexperimenteller Modelle sowie verbesserter pharmakologischer Analysetechniken und der bildgebenden Verfahren (EEG, MEG, SPECT, fMRT) haben die experimentellen Möglichkeiten extrem erweitert. Sogar die Wirkung von psychotherapeutischen Interventionen und Placebobehandlungen können als hirnfunktionelle Veränderungen nachgewiesen werden. Das bedeutet, dass der Druck auf die Psychiatrie, sich der Naturwissenschaft wieder zu öffnen, enorm zunimmt (Beutel 2002; Kandel 1998, 1999; Spitzer 1997).
2.3
Die Entwicklung der klinischen Neuropsychologie
2.2.8 Was werden die nächsten
Jahre bringen? Inzwischen scheint das Pendel wieder in die andere Richtung zu schwingen. Teilweise ist dies auf Entwicklungen im psychotherapeutischen Bereich
Wenn man die Entwicklung der klinischen Neuropsychologie vor diesem Hintergrund betrachtet, wird deutlich, dass seit der Abwendung der Psychiatrie von ihrer biologischen, neurowissenschaftlichen Ausrichtung um 1920 keine Basis mehr für
17 2.3 · Die Entwicklung der klinischen Neuropsychologie
eine Interaktion zwischen beiden Bereichen gegeben war. Die Neuropsychologie war durch die experimentelle Psychologie von Anfang an naturwissenschaftlich geprägt, und auch das neuroanatomisch lokalisatorische Denken ist bis heute für sie kennzeichnend geblieben.
2.3.1 Psychotechnik und Hirn-
pathologie als Grundlagen der klinischen Neuropsychologie Als die eigentliche klinische Neuropsychologie während des 1. Weltkrieges entstand, geschah dies durch die Bemühungen von Ärzten, Pädagogen und Psychologen um die Versorgung von hirnverletzten Soldaten. Das diagnostische und therapeutische Instrumentarium dieser frühen Neuropsychologen wurde aus den Tests der differenziellen und angewandten Psychologie entwickelt, die in einigen Bereichen der Erziehung (Binet u. Simon 1905; Meumann 1901), der Psychiatrie (Kraepelin 1895/1896) und der Industrie (Münsterberg 1891, 1914) entwickelt und eingesetzt worden waren. Der Einfluss der Testpsychologie wurde insbesondere durch die Psychotechnik gestützt, die im Zeitalter der zunehmenden Industrialisierung und Mechanisierung eine enorme Entwicklung erfahren hatte. Die wichtigste Aufgabe der Psychotechniker war die Personenauswahl und das Training für die verschiedensten Berufe, in denen mit den neuen Maschinen und Geräten umgegangen werden musste. Noch waren nämlich die technischen Möglichkeiten für eine Anpassung der Maschinen an den Durchschnittsmenschen nicht gegeben. Stattdessen mussten z. B. für die Berufe des Kran-, Straßenbahn- und Lokomotivführers oder Flugzeugpiloten besonders geeignete Personen gefunden werden. Wie bereits dargestellt, kamen die hirnanatomischen, lokalisatorischen Grundlagen aus der Psychiatrie und der sich langsam abspaltenden Neurologie in Form der Hirnpathologie. Diese basierte auf der differenzierten morphologischen Neuroanatomie (Brodmann 1909; Flechsig 1901; Meynert 1867), den Ablations- und Stimulationsexperimente an Tieren (Ferrier 1886; Fritsch u. Hitzig 1870; Munk 1890) und den Beschreibungen von Funktionseinbußen nach Schädigungen des Zentralner-
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vensystems (Bonhoeffer 1899; Broca 1861; Gudden 1896; Jackson 1878; Liepmann 1900; Wernicke 1874; Wilbrand 1887). Für die Versorgung der hirngeschädigten Soldaten wurden also während des Krieges spezielle Lazarette und darüber hinaus psychologische Laboratorien sowie Schulen eingerichtet. Hier sollten die überwiegend jungen und – bis auf die Hirnverletzung – eigentlich gesunden Männer wieder zu »produktiven« Mitgliedern der Gesellschaft rehabilitiert werden (Fuchs 1918; Goldstein 1916, 1919; Moede 1917; Poppelreuter 1916, 1917, 1918). Dabei spielten durchaus auch sozialpolitische Aspekte eine Rolle, die durch das um die Jahrhundertwende entstandene Sozialversicherungswesen bestimmt wurden. Die soziale und berufliche Wiedereingliederung stellte sich jedoch bald als eine besonders schwierige Aufgabe heraus. Für die Langzeitfolgen der Hirnverletzungen, insbesondere die traumabedingten Epilepsien, gab es noch keine effektiven Therapien. Viele Hirngeschädigte blieben aufgrund dieser Spätepilepsien, aber auch wegen anderer Behinderungen wie leichte Reizbarkeit, vorschnelle Ermüdung, Überforderung in komplexe Situation, deren spezifische Ursachen man noch nicht richtig einschätzen konnte, auf eine dauernde Behandlung und Betreuung angewiesen. Während die Hirnverletztenlazarette nach 1918 als medizinische Einrichtungen bestehen blieben und bis zum Anfang des 2. Weltkrieges sogar noch weiter ausgebaut wurden, verkümmerte die Neuropsychologie mehr und mehr: Die gerade erst entstandene interdisziplinäre klinische Neuropsychologie hörte gegen 1933 auf zu existieren. Über die Jahre erschienen nur noch einzelne Publikationen, in denen die Erfahrungen aus den Untersuchungen der hirnverletzten Soldaten beschrieben wurden (Gelb u. Goldstein 1920; Kleist 1934). Weiterhin wurde versucht, für die Mediziner eine neue Spezialisierung der »medizinischen Psychologie« zu entwickeln, die die Diagnose und Begutachtung von Behinderungen in ärztlicher Hand garantieren sollte (Poppelreuter 1928). Aber auch das war erfolglos. Pädagogen, Psychologen und Neurologen gingen daraufhin wieder getrennte Wege in Richtung Psychotechnik und Hirnpathologie pur.
18 Kapitel 2 · Entwicklung und Stand der Psychiatrie und der Neuropsychologie
2.3.2 Die »Entwicklung« der
klinischen Neuropsychologie bis zum Ende des 2. Weltkrieges
2
Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts lag das Zentrum der für die Neuropsychologie wichtigen neurowissenschaftlichen und experimentalpsychologischen Entwicklungen in Europa, insbesondere in Deutschland und Österreich. Dies endete mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in den 1930er-Jahren. Eine international anerkannte neurowissenschaftliche Forschung verschwand nach und nach, v. a. aufgrund der Verfolgung und Vertreibung führender Wissenschaftler (Peiffer 1998), nur einige wenige konnten, zumeist sehr zurückgezogen, weiterarbeiten. Ähnliches widerfuhr der Psychologie, die durch die Rassengesetze ganze Bereiche der Experimentalpsychologie verlor (Wyatt u. Teuber 1944). Zwar kam es mit dem Aufbau der Wehrmacht zu einer enormen Ausbreitung der angewandten Psychologie und durch die Diplom-Prüfungsordnung für Psychologen von 1941 zu einer Professionalisierung der Psychologie, doch spielte dabei die Neuropsychologie keine Rolle. Im Vordergrund der Etablierung der Psychologie an den Universitäten standen Ausdrucks- und Charakterpsychologie sowie militärpsychologische Bereiche. Im Jahr 1942 schließlich, gewissermaßen auf dem Höhepunkt ihrer professionellen Entfaltung, wurde die Psychologie wieder demontiert: Ab diesem Zeitpunkt wurde die Luftwaffen- und Heerespsychologie aufgelöst. Ferner wurde die Verwendung von Psychologen in den Sonderlazaretten für Hirnverletzte verboten. Hier wirkte sich auch der Kampf der Psychiater gegen die neuen Diplompsychologen aus, die sie als eine »neue KurpfuscherGruppe« charakterisierten. Um ihr 1933 und 1935 gesetzlich festgeschriebenes Monopol der Krankenversorgung zu sichern, setzten die Ärzte z. B. 1942 eine Veränderung der gerade einmal ein Jahr alten Diplom-Prüfungsordnung der Psychologen durch, wobei jetzt nicht mehr »biologisch-medizinische Hilfswissenschaften«, sondern »biologische Hilfswissenschaften« zu studieren waren. Ferner weigerten sich die Psychiater, die nach der Prüfungsordnung verlangte Ausbildung von Psychologen im Fach »Allgemeine Psychopathologie« durchzuführen. Diejenigen, die sich – wie Ernst Kretschmer –
nicht an diesem Boykott beteiligten, wurden von ihren Kollegen heftig kritisiert. Einen Eindruck von der Stimmung unter den politisch führenden Medizinern erhält man durch ein Zitat aus einem Brief von Prof. Otto Wuth an Prof. Oswald Bumke vom 23.02.1942 (beide waren zu dieser Zeit als Wehrmachtspsychiater tätig): Ich habe … auf die Gefahr für die deutsche Psychiatrie eindringlichst aufmerksam gemacht, die darin besteht, dass einerseits die Psychologen, andererseits die Psychotherapeuten das ganze Gebiet der Psychopathie [Neurosen] usw. für sich beanspruchen und dass die Geisteskranken unter die Euthanasie fallen. Um den Nachwuchs wird es schlecht bestellt sein, wenn das Gebiet so beschnitten wird … (zit. nach Geuter 1984, S. 386).
2.3.3 Die Wiederentstehung
der klinischen Neuropsychologie nach dem 2. Weltkrieg Nach dem Krieg wurden insbesondere in Nordamerika und in England sowie im Ostblock interdisziplinäre neuropsychologische Arbeitsgruppen aufgebaut, deren Aufgabe – ähnlich wie während des 1. Weltkrieges in Deutschland – die Rehabilitation von hirngeschädigten Soldaten war. Im deutschsprachigen Bereich und in Frankreich war das Spektrum dieser Bemühungen hauptsächlich auf die medizinische Versorgung von Hirnverletzungen begrenzt und – was die Neuropsychologie betraf – im Wesentlichen auf die Aphasieforschung eingeengt. Ab 1950 entstand im Bereich der Neuropsychologie ein intensiver internationaler Austausch, der insbesondere durch den Einfluss nordamerikanischer und englischer Psychologen auch in Kontinentaleuropa zu einem relativ raschem Wachstum einer wissenschaftlich interdisziplinär ausgerichteten klinischen Neuropsychologie führte. Interessant war hierbei, dass bei den ersten internationalen Treffen (z. B. 1950 am Mondsee in Österreich) Kontinentaleuropa überwiegend durch Neurologen sowie Psychiater und England (später dann auch Nordamerika) ausschließlich durch Psychologen vertreten wurde.
19 2.3 · Die Entwicklung der klinischen Neuropsychologie
Mit dem Wiederaufbau der experimentellen Psychologie an den deutschen Universitäten, der auch durch im Ausland ausgebildete Psychologen befördert wurde, erweiterte sich das Spektrum der Forschungsschwerpunkte. Es entstanden Kooperationen mit den Neurologen, und neben der klinischen Forschung über Aphasien wurden nun auch andere Bereiche wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit und visuelle Funktionen bearbeitet. Allerdings blieb die neuropsychologische Forschung vorläufig auf die neurologischen Kliniken beschränkt. An einigen psychologischen Instituten der Universitäten gab es zwar erste Anfänge einer klinischen Psychologie, aber noch keine Neuropsychologie. Die ersten Professuren für Neuropsychologie im Bereich der Psychologie wurden erst in den 1980er-Jahren eingerichtet. Die Entwicklung der klinischen Neuropsychologie, wie wir sie heute kennen, fand also ohne Zutun der akademischen Psychologie statt. Der Wiederaufbau und die berufspolitische Entwicklung der klinischen Neuropsychologie in Deutschland begann mit den ab 1952 etablierten Rehabilitationseinrichtungen für Hirnverletzte. Dabei waren in den ersten dieser Einrichtungen, z. B. den von Friedrich Schmieder aufgebauten Kliniken in Gailingen an der Schweizer Rheingrenze, Ärzte als Diagnostiker sowie Handwerker und Künstler als Therapeuten tätig. Diese wurden erst nach und nach durch professionelle Therapeuten und Diplompsychologen ergänzt. An anderen ebenfalls neu entstandenen Kliniken für neurologisch Geschädigte kam es zu ähnlichen Entwicklungen. Wichtig für die Formierung einer neuropsychologischen Identität waren die Treffen in Arbeitskreisen, in denen sowohl wissenschaftlich-fachliche als auch berufspolitische Diskussionen geführt wurden. Einige der beteiligten Psychologen waren auch zusammen mit anderen in der Rehabilitation tätigen Berufsgruppen in interdisziplinären Verbänden organisiert. Allerdings wurden diese Gesellschaften von den Ärzten, wenn auch nicht inhaltlich, so doch politisch geführt. Volle Mitgliedschaft erhielten beispielsweise die Psychologen in der eigentlich interdisziplinären »Gesellschaft für Neurotraumatologie und klinischer Neuropsychologie« erst einige Jahre, nachdem sie 1986 ihre eigene »Gesellschaft für Neuropsychologie« (GNP) gegründet hatten. Im Rah-
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men der GNP wurde dann bis 1994 auch ein Kurrikulum für die postgraduierte Weiterbildung in klinischer Neuropsychologie erarbeitet. Dieses Kurrikulum war die Basis für Gespräche über die Bildung einer »Gemeinsamen Kommission Klinische Neuropsychologie« mit der Föderation deutscher Psychologenvereinigungen (gebildet aus der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und dem Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen) und Vertretern der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Die Kommission konstituierte sich 1995, und 1998 verabschiedeten die Trägervereinigungen ein dem GNP-Kurrikulum inhaltlich vergleichbares Ausbildungskonzept. Zu einem Wechsel der Verantwortlichkeit für Akkreditierungen von Ausbildungseinrichtungen und Ausbildern sowie für die Zertifizierungen der Ausgebildeten von den seit einigen Jahren bereits funktionierenden Gremien der GNP auf die noch zu bildenden Einrichtungen der Gemeinsamen Kommission Klinischer Neuropsychologie kam es aber bisher nicht. Denn mit der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes am 1.01.1999 trat nun die Frage nach der Einordnung der Klinischen Neuropsychologie als psychotherapeutische Tätigkeit und damit einer möglichen Zuständigkeit des Gesetzgebers bzw. der neu einzurichtenden Psychotherapeutenkammern für die Aus-, Fort- und Weiterbildung auf. Im Vorfeld war schon heftig darüber diskutiert worden, ob die klinischen Neuropsychologen unter das Psychotherapiegesetz fallen sollten, oder ob sie sich außerhalb des Gesetzes ihren Bereich abgrenzen könnten, bzw. sollten. Nicht zuletzt aufgrund der wechselnden Gesetzesentwürfe mit unterschiedlichen Definitionen der Zuständigkeit von psychologischen Psychotherapeuten schwankte auch die Einschätzung der Neuropsychologen. In den Entwürfen wurde die Neuropsychologie nie direkt angesprochen, also blieb nur die Möglichkeit, die unterschiedlichen Gesetzesformulierungen zu interpretieren. Gemäß einiger Entwürfe wäre eine neuropsychologische Tätigkeit überhaupt aus dem Rahmen des Gesetzes herausgefallen, aber nach einem anderen Entwurf wären die Neuropsychologen bei genauer Anwendung des Textes die einzigen gewesen, auf die das Gesetz zutraf. Als sich schließlich die endgültige Fassung abzeichnete, war klar,
20 Kapitel 2 · Entwicklung und Stand der Psychiatrie und der Neuropsychologie
2
dass man mitziehen musste. Es konnte dann zumindest erreicht werden, dass die im Gesetz benannten Arbeitsbereiche über die psychiatrischen Kliniken hinaus auf die neurologischen Einrichtungen erweitert wurden. In einem nächsten Schritt wurde mit Unterstützung der Gemeinsamen Kommission Klinischer Neuropsychologie erreicht, dass die neuropsychologische Therapie vom wissenschaftlichen Beirat als therapeutisches Verfahren anerkannt wurde. Wie und in welchem Umfang sich die klinische Neuropsychologie unter diesen neuen Rahmenbedingungen verändern wird, lässt sich im Augenblick noch nicht entscheiden.
2.4
Klinische Neuropsychologie: Eigendefinition oder flexible Anpassung und Erweiterung?
Zurück zur ursprünglichen Frage nach der Rolle der Psychiatrie und der psychischen Funktionen in der Entwicklung der klinischen Neuropsychologie. Tatsächlich steht die klinische Neuropsychologie durch die vom Psychotherapeutengesetz erzwungenen Entscheidungen zum ersten Mal vor der Aufgabe, sich selbst umfassender zu definieren oder sich wiederum nur anzupassen, so wie bisher. Tatsache ist, dass sich die Neuropsychologie, ohne eine etablierte akademische Tradition, inhaltlich am Markt entwickelte und noch weiterentwickelt. Die ersten in den Rehabilitationskliniken tätigen Neuropsychologen passten ihre psychologischen Kenntnisse großenteils autodidaktisch an die Anforderungen der arbeitgebenden Kliniken an. Die später von diesen Praktikern entwickelten Vorstellungen über Aus- und Weiterbildung zum klinischen Neuropsychologen reflektierten diese Berufsausrichtung. Somit wurden indirekt die Rahmenbedingungen von den Neurologen, die als Leiter der Einrichtungen den Arbeitgeber vertraten, vorgegeben. Man könnte also durchaus etwas provozierend behaupten, dass die Neuropsychologie sich vielleicht ganz anders entwickelt hätte, wenn es ein ausreichendes Stellenangebot an psychiatrischen Einrichtungen gegeben hätte. Gerechterweise aber muss man auch hinzufügen, dass sich die klinischen Neuropsychologen die
Stellen in den neurologischen Einrichtungen oft erst erarbeitet haben. Weshalb dies erst jetzt mit einiger Verspätung auch im psychiatrischen Bereich stattfindet, ist nicht ohne Weiteres klar. Zum einen ist es denkbar, dass sich in der Psychiatrie weniger Anreize ergaben, eigene neuropsychologische Arbeitsbereiche zu definieren. Das mag an den vordringlichen Fragestellungen in der Psychiatrie liegen oder auch daran, dass die dort tätigen klinischen Psychologen, wie die Psychiater, lange Zeit keinen großen Gefallen an einer experimentell naturwissenschaftlich ausgerichteten Neuropsychologie fanden. Zum anderen arbeiten Neuropsychologen nun zunehmend insbesondere im Kinder- und Jugendlichenbereich sowie in der Geriatrie. Damit wird bestätigt, dass die wachsende Zahl von Neuropsychologen hauptsächlich darauf zurückzuführen ist, dass sie sich jeweils erfolgreich neuer Aufgaben annehmen konnten. Zu diesen neuen Aufgaben gehörten bisher bereits z. B. die Frührehabilitation, deren Anforderungen sich sehr von denen der bisher üblichen Rehabilitationsarbeit unterscheiden. Neuropsychologen arbeiten jetzt zunehmend in Kinderkliniken, beispielsweise im Bereich der Neuropädiatrie, und ebenso in wachsender Zahl in unterschiedlich ausgerichteten sozialpädiatrischen Diensten. Wird, was zunehmend der Fall zu sein scheint, an eine neurologische Rehabilitationseinrichtung eine psychosomatische Abteilung angegliedert, so sind es häufig die gleichen Neuropsychologen, die sich nun verstärkt psychotherapeutischen Fragestellungen aussetzen. Der Vorteil der flexiblen Anpassung und Ausformung des Berufsbildes in der Neuropsychologie ist aber auch gleichzeitig ein Nachteil, weil in den verschiedenen noch neuen Bereichen immer wieder um die fachliche Anerkennung gerungen werden muss. Dies trifft die ambulant arbeitenden Kollegen besonders, da sie sich nicht durch den Aufgabenbereich einer Institution definieren, sondern ihre Funktion selbst bestimmen müssen. Dies geschieht ohne Rückgriff auf etablierte und von der Öffentlichkeit und dem Gesundheitswesen anerkannte Modelle. Ein Beispiel für das Dilemma, dass sich aus der Freiheit der Möglichkeiten und der nicht absehbaren Konsequenz einer irgendwann notwendigerweise getroffenen Wahl ergibt, ist die augenblick-
21 2.5 · Ausblick
liche Situation der Neuropsychologen, nachdem das Psychotherapeutengesetz in Kraft getreten ist. Schon in den Bemühungen, bei der Erarbeitung des Psychotherapeutengesetzes nicht außen vorgelassen zu werden, war den Neuropsychologen die Gefahr bewusst, dass man sich mit dem Gesetz und der damit verbundenen Freiheit von ärztlicher Dominanz evtl. auch eine Beschneidung der Therapiefreiheit einhandeln könnte. Ganz abgesehen davon, dass die Ausbildung zum klinischen Neuropsychologen in Zukunft durch eine zusätzlich geforderte psychotherapeutische Ausbildung vielleicht die doppelte Anzahl von Jahren beanspruchen würde.
2.5
Ausblick
In einer Zeit, in der kritische Entscheidungen anstehen und unterschiedliche Entwicklungsverläufe von Neuropsychologie und Psychiatrie denkbar sind, möge man dem Autor verzeihen, wenn er sich nicht mit den Bemühungen um eine erklärende Chronik zufriedengeben mag. Vielmehr möchte er, gewissermaßen als hoffnungsvollen Abschluss, auf die offensichtlichen Vorteile hinweisen, die für Neuropsychologie und Psychiatrie durch eine stärkere Interaktion erwachsen. Ein nach wie vor großes Plus für die kooperative Arbeit sind die experimentalpsychologischen, methodologischen Kenntnisse und Fertigkeiten der Psychologen. Aber darüber hinaus ergeben sich aus den spezifischen zusätzlichen Kenntnissen eines Neuropsychologen besondere Ansätze zur interdisziplinären Erforschung psychischer Beeinträchtigungen. Der Autor möchte dabei nur einen Aspekt dessen, was die Neuropsychologie in der Psychiatrie leisten kann, aufzeigen: Es ist seines Erachtens ein sehr wichtiger und gewissermaßen der Psychologie und Psychiatrie inhärenter Aspekt, der zu Anfang dieses Kapitels schon angesprochen wurde. Es geht um die psychischen Grundleistungen oder psychologischen Phänomene. Wenn man die psychischen Störungen betrachtet, die als Folge einer Hirnschädigung auftreten können, so unterscheiden sie sich zumindest bzgl. der begrifflichen Kennzeichnung nicht von denen, die mit psychiatrischen Erkrankungen verbunden sind: Wahrnehmung, Verhalten und Persönlichkeit sind in beiden Fällen betroffen; ferner
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
2
Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Denken, Planen, Problemlösen, Sprache und kommunikatives Verhalten sowie Emotion, Motivation und soziale Fertigkeiten.
Ebenso muss man davon ausgehen, dass psychogene Reaktionen ebenso wie physiologische Anpassungsprozesse und neuronale Plastizität eine bedeutsame Rolle in der weiteren individuell spezifischen Entwicklung von neuropsychologischen und psychiatrischen Erkrankungen spielen. Sicher sind die psychischen Störungen von hirngeschädigten und psychiatrischen Patienten nicht identisch. Die obige Auflistung ist wiederum nur ein Versuch, normale menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten nach Grundfunktionen aufzugliedern, die mit Gehirnfunktionen in Beziehung gesetzt werden können. Inwieweit sich die Störungen dieser Funktionen durch Unterschiede in der Ätiologie von neuropsychologischen und psychiatrischen Erkrankungen erklären lassen, ist eine der wichtigen zu beantwortenden Fragen. Der Vergleich zwischen den Auswirkungen eines Verlustes von funktioneller Substanz und denen, die durch Veränderungen innerhalb funktioneller Systeme (z. B. von Transmittersystemen) bewirkt werden, sollte, grob vereinfachend als erster Ansatz, wichtige Informationen liefern. Dass Struktur- und Systemveränderungen sich gegenseitig bedingen, ist selbstverständlich. Aber es scheint doch wichtige Unterschiede bezüglich dieser Veränderungen in der zeitlichen Abfolge und den primären Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu geben. Diese Unterschiede könnten in ihren Kontrasten wichtige Hinweise für ein Verständnis von Gehirnfunktionen ergeben, was dann wiederum zum Verständnis von psychischen Störungen sowohl im neuropsychologischen wie psychiatrischen Bereich beitragen würde. Besonders interessante Aspekte ergeben sich u. a. auch aus der Möglichkeit, dass Systemveränderungen bei psychiatrischen Patienten mit Leistungen verbunden sein könnten, die
22 Kapitel 2 · Entwicklung und Stand der Psychiatrie und der Neuropsychologie
2
über der Norm von gesunden Probanden (mit normal funktionierenden Systemen) liegen. Mithilfe des recht gut ausgearbeiteten methodischen Repertoires der experimentellen und klinischen Neuropsychologie (das ja teilweise auch – wie oben ausgeführt – in der Psychiatrie entwickelt wurde) könnte viel zur Aufklärung von psychischen Erkrankungen geleistet werden. Dabei sollte der in der klinischen Neuropsychologie bedeutsame Aspekt der Prozessorientierung besonders hervorgehoben werden. Gut konstruierte Tests können zwar oft die Möglichkeiten sinngebend eingrenzen, ein bestimmtes Testergebnis funktionell zu erklären. Aber oft sind die Attraktivität eines Tests für die Probanden, die testökonomischen Aspekte und die testtheoretischen Ansprüche nur schwer unter einen Hut zu bringen. Dann liefert zumeist erst eine detaillierte Analyse des Verhaltens des Probanden während der Aufgabenbearbeitung – und weniger das Endergebnis eines Testes – die wichtigen Informationen über veränderte Fertigkeiten und Fähigkeiten. Es ist zu vermuten, dass dieser Ansatz in den Vergleichen zwischen hirngeschädigten und psychiatrischen Patientengruppen von besonderer Bedeutung ist. Weitere interessante Probleme und Fragestellungen ergeben sich in dem Versuch einer Integration von theoretischen hirnlokalisatorischen und systemfunktionellen Ansätzen, die in beiden Bereichen unterschiedlich vorherrschend sind. Zwar haben weder Neuropsychologie noch Psychiatrie fertige Lösungen für alle diese Probleme. Aber beide Disziplinen haben die Voraussetzungen, um in der gemeinsamen Bearbeitung dieser Fragen wertvolle Informationen für ihre Patienten zu gewinnen.
Zusammenfassung Psychiater haben als Grundlagenforscher und Kliniker die Anfänge der neurowissenschaftlichen Hirnforschung und Neuropsychologie dominiert. Mit ihrer Abwendung von der naturwissenschaftlich orientierten Medizin überließen sie diese Bereiche den Neurologen und Psychologen. Mit der Wiederentdeckung des Gehirnes durch die Psychiater wächst nun 6
auch das Interesse an der Neuropsychologie. Die Entwicklung beider Fachrichtungen wird kurz dargestellt. Dabei wird versucht zu zeigen, dass die grundsätzlichen Fragen nach psychischen und kognitiven Basisfunktionen nach wie vor für Psychiatrie und Neuropsychologie nicht ausreichend beantwortet sind. Es wird postuliert, dass eine Integration von hirnlokalisatorischen und systemfunktionellen Ansätzen, die in den beiden Fachrichtungen unterschiedliches Gewicht besitzen, sowie ein Vergleich von psychischen und neuropsychologischen Störungen wichtige Anstöße zur Bearbeitung dieser Fragen und damit auch Informationen zum Nutzen von psychiatrischen und neuropsychologischen Patienten bringen wird.
2.6
Literatur3
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3 Anmerkung der Herausgeber: Eine Kommentierung einzelner Literaturstellen und deren Heraushebung als Schlüsselarbeiten würde nach Ansicht des Autors seiner Bearbeitung der historischen Literaturstellen nicht gerecht werden.
23 2.6 · Literatur
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3 3 Der Beitrag der Neuropsychologie für die Psychiatrie Karin Münzel, Josef Zihl
3.1
Die Rolle der Neuropsychologie in der Psychiatrie
3.1.1 Hypothese einer »gemeinsamen Endstrecke« 3.1.2 Aufgabe der Neuropsychologie – 28
3.2
Schizophrenie
– 26
– 27
– 29
3.2.1 Neuropsychologische Störungen und Störungsmuster – 29 3.2.2 Arbeitsgedächtnis und exekutive Funktionen – 30 3.2.3 Visuelle Informationsverarbeitung und Blickmotorik – 31
3.3
Affektive Störungen
– 34
3.4
Neue Entwicklungen – 35
3.4.1 Kognitive Funktionsstörungen als Prädiktoren für den Krankheitsverlauf und die Ansprechbarkeit auf pharmakologische Therapien – 35 3.4.2 Neuropsychologische Aspekte normalen und pathologischen Alterns – 36
3.5
Neuropsychologische Rehabilitation in der Psychiatrie? – 36
3.6
Literatur
– 39
26 Kapitel 3 · Der Beitrag der Neuropsychologie für die Psychiatrie
3
»We are back where Griesinger started … It is time again to challenge our neuroscientific understanding with the task of explaining mental disorders as a product of brain structure and function interacting with personal and social experience.« Diese Feststellung von Caine und Joynt (1986, S. 327) hat die Rolle der Neurowissenschaften und damit auch der Neuropsychologie in der Psychiatrie nicht nur wieder in Erinnerung gerufen, sondern auch den erwarteten Beitrag zur Erforschung psychischer Krankheiten und Störungen formuliert. Griesinger hatte in seinem Lehrbuch über die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten bereits 1867 die These vertreten, dass »… die pathologischen Thatsachen … uns so gut wie die physiologischen zeigen, dass nur das Gehirn der Sitz normaler und krankhafter geistiger Thätigkeiten sein kann, dass die Integrität der psychischen Processe an die Integrität dieses Organs gebunden ist« (1867, S. 1). Damit war der Grundstein für ein Programm zur interdisziplinären Erforschung psychischer Krankheiten gelegt, in dem die Neurowissenschaften eine besondere Rolle spielen sollten. Dieses Kapitel handelt vom Beitrag der Neuropsychologie zum Verständnis der Pathomechanismen und Symptome psychischer Störungen und ihrer Vermittlerrolle zwischen Neurowissenschaften und Psychiatrie. Bevor diese beiden Aspekte anhand der wohl häufigsten psychiatrischen Störungsbilder, Schizophrenie und affektive Störungen, exemplarisch beleuchtet werden, ist die Besprechung einiger wesentlicher Fakten und Ideen für das Verständnis der späteren Argumentation hilfreich.
3.1
Die Rolle der Neuropsychologie in der Psychiatrie
Das von Griesinger entwickelte interdisziplinäre Konzept zur Erforschung psychischer Störungen unter besonderer Berücksichtigung der Hirnforschung fand seine Institutionalisierung in der Gründung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München durch Kraepelin im Jahre 1917. In dieser Forschungseinrichtung sollten neben chemisch-serologischen Stoffwechselanalysen und pathologisch-anatomischen Untersuchungen auch experimentell-psychologische Studien einen besonderen Schwerpunkt bilden. Kraepelin hatte bereits
1867 auf die besondere Aufgabe der Psychologie in der Psychiatrie hingewiesen. Diese Aufgabe »ist schwerlich damit erschöpft, dass sie dem Psychiater die Orientirung und allgemeine Verständigung im Bereiche der geistigen Vorgänge vermittelt. Gerade seitdem sie … sich zum Range einer naturwissenschaftlichen Disciplin emporgehoben hat, ist es ihr gelungen, Methoden einer rein empirischen Forschung auszubilden, welche bei weiterer Entwicklung möglicherweise auch eine Uebertragung auf das schwierige Gebiet der krankhaften Geisteszustände gestatten. […] Haben doch die Ergebnisse, welche sie liefert, den nicht zu unterschätzenden Vorzug, dass sie an Sicherheit und wissenschaftlicher Verwerthbarkeit den Thatsachen der Nervenphysiologie durchaus an die Seite gestellt werden können.« (zit. nach Burgmair et al. 2003, S. 68 ff.) Das spätere Herauslösen der Psychiatrie aus der Nervenheilkunde einerseits und das Aufkommen statistisch dominierter Betrachtungsweisen in der Psychologie andererseits führten zu einem weitgehenden Verlust des interdisziplinären Ansatzes in der Psychiatrie. Die neurowissenschaftliche Ausrichtung wurde zwar in der Mitte des letzten Jahrhunderts von einer biologisch orientierten Psychiatrie teilweise wieder aufgenommen, sie blieb aber im Wesentlichen auf die Erforschung biochemischer Prozesse bzw. psychopharmakologischer Fragen beschränkt. Die Untersuchung psychischer Veränderungen erfolgte weitgehend auf der Basis von subjektiven Symptomen; sie fand ihren Niederschlag in der Entwicklung immer umfangreicherer Klassifikationssysteme und der Einführung einer sog. operationalisierten Diagnostik mit dem DSM-III (American Psychiatric Association 1980). Aus der Anzahl der seitdem erfolgten Anpassungen des DSM lässt sich u. a. ablesen, dass man sich nach wie vor in einer gewissen »methodischen Not« befindet; dies gilt v. a. für den Bereich der kognitiven Symptome. So werden in diesen Diagnosesystemen auch heute noch keine Untersuchungsverfahren verlangt, die die verschiedenen kognitiven Leistungen bzw. Störungen nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ erfassen können und den Anforderungen von Objektivität, Reliabilität und Validität genügen. Zwar wurden (und werden noch immer) in Forschung und Praxis psychometrische Verfahren meist in Form von Intelligenztests und kognitiven
27 3.1 · Die Rolle der Neuropsychologie in der Psychiatrie
Testbatterien eingesetzt, diese Verfahren erlauben jedoch kaum einen Bezug zu den zugrunde liegenden pathophysiologischen zentralnervösen Prozessen. Hinzu kommt, dass sie nicht störungsspezifisch orientiert sind, d. h. keine ausreichend zuverlässige differenzialdiagnostische Abgrenzung von Funktionsstörungen zulassen, obwohl sie häufig als »neuropsychologisch« bezeichnet werden (vgl. Zihl 1996). Seit der Einführung der bildgebenden Verfahren, die einen In-vivo-Nachweis der Schädigung bzw. Funktionsstörung des Gehirnes ermöglichen, konzentriert sich die Neuropsychologie wieder vermehrt auf die Rolle, die seit Beginn der Hirnforschung ihre Stärke war: die Funktionsanalyse auf der Basis der Pathologie psychischer Prozesse, die sich in Funktionen des Erlebens und Verhaltens abbilden lassen. In Kooperation mit anderen neurowissenschaftlichen Disziplinen steht die Erforschung der Zusammenhänge zwischen psychischen Funktionen und zentralnervösen Prozessen im Mittelpunkt des Interesses. Der immanent interdisziplinäre Ansatz erlaubt allgemeine Aussagen nicht nur über die funktionellen Folgen struktureller und pathophysiologischer zentralnervöser Ereignisse, sondern ermöglicht auch die Entwicklung von Modellen über die zentralnervöse Organisation kognitiver, motivational-affektiver, sprachlicher und sensomotorischer Funktionen. Die Untersuchung der Interaktionen verschiedener Mechanismen und die Modellierung der beteiligten Prozesse auf kortikaler und subkortikaler Ebene in Form von »Netzwerken« (z. B. Aakerlund u. Hemmingsen, 1998; Deco et al. 2005) ermöglichen das Studium der Koordination und Kooperativität von zentralnervösen Aktivitäten innerhalb einzelner oder zwischen mehreren Funktionssystemen. Die Ergebnisse bildgebender Verfahren lassen bisher keinen zuverlässigen systematischen Zusammenhang zwischen strukturellen Hirnveränderungen und neuropsychologischen Symptomen psychiatrischer Erkrankungen erkennen, auch wenn sich etwa für die Schizophrenie die Hinweise darauf verdichten, dass besonders präfrontale und mediale temporale Strukturen pathophysiologisch auffällig sind (z. B. Harrison 1999), wobei derzeit die Hypothese einer fronto-temporo-limbischen »Netzwerkstörung« favorisiert wird (Antonova et al. 2004; Meisenzahl et al. 2008; Minzenberg
3
et al. 2009). Allerdings wird in letzter Zeit zusätzlich auch eine strukturelle »Diskonnektivität« mit Betonung auf Marklagerabnormalitäten diskutiert (z. B. Kyriakopoulos u. Frangou 2009). Für affektive Störungen werden aktuell dorsale und ventrale Regionen des präfrontalen Kortex einschließlich der dazugehörigen Marklageranteile (z. B. Austin et al. 2001; Harrison 2002; Rogers et al. 2004) als »Orte« der funktionellen Neuropathologie diskutiert. Ohne die Erfassung der Auswirkungen dieser Netzwerkstörung auf Funktionsebene kann die Messung solcher Veränderungen jedoch kaum zur Aufklärung psychischen Störungen beitragen (Dickinson u. Harvey 2009; Kryspin-Exner 2006). Die kritische Frage bleibt, inwieweit die Herausforderung zu interdisziplinär angelegten Forschungsansätzen angenommen und die Bereitschaft zur Kooperation aufgebracht wird (Shapiro 1993). Erst die Zusammenarbeit zwischen den gefragten Fachdisziplinen wird die gestörte Interaktion psychischer und organischer Faktoren bzw. Einflussgrößen einem wissenschaftlichen Studium zugänglich machen (Andreasen 1997).
3.1.1 Hypothese einer »gemeinsamen
Endstrecke« Nach Restak (1993) stellt die Neuropsychologie ein wesentliches innovatives Instrument zur Erfassung, Erklärung und Behandlung von Funktionsstörungen bei Patienten mit psychischen Störungen dar. Im Gegensatz zur »klassischen« Neuropsychologie, die sich v. a. mit den Konsequenzen morphologischer Hirnschädigung befasst, ist die Neuropsychologie in der Psychiatrie auf andere Erklärungsmodelle des Zusammenhanges von Zentralnervensystem und Verhalten angewiesen. Ein Modell beruht auf der Annahme einer gemeinsamen Endstrecke (»final common pathway«), das z. B. auch die ähnlichen kognitiven Störungsmuster bei Schizophrenie und affektiven Störungen erklären könnte (vgl. Barch 2009; Caine u. Joynt 1986; Reppermund et al. 2009; Zihl et al. 1998). Die Hypothese einer »gemeinsamen Endstrecke« erfordert natürlich als Voraussetzung auch eine wechselseitige Vernetzung der Funktionssysteme. Diese Form der Vernetzung legt bereits die neuroanatomische Organisation des
28 Kapitel 3 · Der Beitrag der Neuropsychologie für die Psychiatrie
3
Zentralnervensystems nahe. Im Gegensatz zur Annahme einer mehr oder weniger engen Beziehung zwischen Schädigungsort und gestörter Funktion geht man davon aus, dass ähnliche Funktionsstörungen unabhängig vom »Ort des Geschehens« auftreten können, weil die beteiligten Subsysteme (»Module«) eines einzelnen Funktionssystems untereinander und verschiedene Funktionssysteme miteinander eng verbunden sind. Typische Beispiele dafür sind im kognitiven Bereich das Aufmerksamkeits- und das exekutive System. Das Aufmerksamkeitssystem besteht aus mehreren Subsystemen, die ihre Grundlage in verschiedenen subkortikalen (z. B. Hirnstamm, Mittel- und Zwischenhirn) und kortikalen (z. B. parietale und präfrontale Regionen; Cingulum) Strukturen haben. Jede Beeinträchtigung eines der beteiligten Subsysteme (Wachheit, Vigilanz, selektive und geteilte Aufmerksamkeit; Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit, Erwartung) resultiert in einer Störung von Aufmerksamkeitsfunktionen. Zusätzlich aber werden dadurch andere Funktionssysteme (indirekt) beeinträchtigt, weil deren Leistungen von der Intaktheit des Aufmerksamkeitssystems kritisch abhängen, z. B. Wahrnehmung, Lernen und Gedächtnis, Denken, Affektivität. Dies bedeutet konkret, dass eine Störung der Aufmerksamkeit sich zusätzlich als Beeinträchtigung der Wahrnehmung oder des Gedächtnisses manifestieren kann, weil beide Funktionssysteme eine gemeinsame Endstrecke ab der Prozessstufe aufweisen, ab der Aufmerksamkeit wesentlich für die Verarbeitung, Auswertung und Speicherung von Informationen erforderlich wird. Da dies bereits auf einer sehr frühen Stufe der Fall ist (Posner u. DiGirolamo 1999), kann man sich leicht vorstellen, dass die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten solcher »sekundärer« Funktionsstörungen sehr groß ist. Ein etwas andersartiger Zusammenhang ergibt sich für das exekutive Funktionssystem. Es scheint eine eher »lokalisierte« Repräsentation im präfrontalen Kortex aufzuweisen, ist aber mit allen anderen Funktionssystemen direkt oder indirekt reziprok verbunden. Das exekutive System überwacht und kontrolliert praktisch alle Hirnaktivitäten; es stellt Pläne und Problemlösestrategien zur Verfügung und steuert die verschiedenen Funktionssysteme in Abhängigkeit von internen (z. B. Handlungsziele,
Einstellungen und Erwartungen, Stimmungen) und externen Einflüssen (Umwelt) und den daraus resultierenden Aufgabenanforderungen (Fuster 1999). Die laufenden Abstimmungs- und Überwachungsprozesse und die Möglichkeit, Pläne und Handlungsstrategien unter Einbeziehung von relevanten Erfahrungen flexibel zu modifizieren, garantieren eine (zumindest teilweise) erfolgreiche Verhaltenssteuerung und -kontrolle. Zu den Überwachungsaufgaben gehören außerdem die Wahrnehmung des eigenen Verhaltens und seiner Wirkungen sowie das »Monitoring« der Informationsquellen, also die Unterscheidung zwischen selbstund fremdgenerierten Informationen und ihre Zuordnung zur »Innen-« bzw. »Außenwelt«, um z. B. sicher zwischen externer Realität und eigener Vorstellung unterscheiden zu können (Gilleen u. David 2005). Auch aus diesem Grunde braucht das exekutive System laufend Informationen aus den anderen Funktionssystemen über die dort ablaufenden Prozesse bzw. Zustände. Diese enge afferente und efferente Verzahnung zwischen dem exekutiven System und den anderen Funktionssystemen macht verständlich, warum sich eine Beeinträchtigung dieses Funktionssystems »global« auswirkt: Entweder wird der jeweils »exekutive« Anteil in den verschiedenen Funktionsbereichen fehlen, ohne den aber keines dieser Funktionssysteme erfolgreich arbeiten kann, oder das exekutive Funktionssystem bekommt aufgrund der Diskonnexion von anderen Systemen wichtige Informationen nicht mehr zugeliefert. Damit gilt auch für dieses System das Prinzip der »gemeinsamen Endstrecke«, also jenes Anteils, der aus dem afferenten und efferenten Zusammenspiel verschiedener Funktionen resultiert und als integrierte Leistung oder Verhaltensweise extern beobachtbar ist.
3.1.2 Aufgabe der Neuropsychologie Bereits aus den angeführten Überlegungen ergibt sich eine wichtige Aufgabe der Neuropsychologie in der Psychiatrie: den zuverlässigen Nachweis von Störungen in den verschiedenen Bereichen der Kognition (Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis, Planen und Problemlösen) sowie der Sensomotorik und der Sprache. Dazu sollten
29 3.2 · Schizophrenie
Untersuchungsvorgehen und -verfahren so gewählt werden, dass sich Funktionsstörungen als Folge zentralnervöser Veränderungen charakterisieren lassen. Die Neuropsychologie tritt dabei nicht in Konkurrenz zu anderen diagnostischen Zugängen (z. B. der Psychopathologie), sondern liefert aus den genannten Gründen einen eigenständigen Beitrag und stellt damit für die Untersuchung des »mentalen Status« das quantitative und qualitative Rückgrat dar (Caine u. Joynt 1986). Dabei spielt die Frage, ob z. B. die Störung einer kognitiven Leistung organischen oder psychischen Ursprungs ist, keine wesentliche Rolle (mehr), zumal eine zuverlässige differenzialdiagnostische Abgrenzung kaum möglich erscheint (Zihl 1996). Alles Psychische hat seine Grundlage in den Aktivitäten des Zentralnervensystems, das aus morphologischen Strukturen und ihren Verbindungen besteht. Dies bedeutet nicht, dass die psychische Funktionsebene den anatomischen und physiologischen Ebenen gleichzusetzen ist. Für die verschiedenen Funktionssysteme und ihre Interaktionen sind mittlerweile die strukturellen Grundlagen ausreichend bekannt (z. B. Gazzaniga 2000; Cummings u. Mega 2003). Diese Invarianten mögen für pathophysiologische Prozesse, wie sie psychischen Erkrankungen zugrunde liegen, schwieriger zu finden und aufwendiger nachzuweisen sein und sich in mancherlei Hinsicht von denen nach struktureller Hirnschädigung unterscheiden. Dies bedeutet aber nicht, dass sie nicht existieren oder qualitativ grundsätzlich andersartig und deshalb einer differenziellen quantitativen Diagnostik unzugänglich sind. Huber (1966) hat bereits auf diesen Punkt hingewiesen und festgestellt, dass hinsichtlich der »Defektsyndrome« bei schizophrenen und manisch-depressiven Erkrankungen »die Lehre vom grundsätzlich gegenüber organischen Psychosyndromen psychopathologisch heterogenen … Defekt den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht wird« (S. 424).
3
Bleuler verwendet, der auch die konzeptuelle Grundlage für das Verständnis dieser Erkrankung lieferte. Kraepelin hatte bereits 1896 den Begriff »Dementia praecox« als wesentliches Merkmal dieser Erkrankung eingeführt. Obwohl sowohl Kraepelin als auch Bleuler bereits auf die grundsätzlichen Defizite in den Bereichen Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Kognition hingewiesen hatten, beschäftigte sich die Schizophrenieforschung der nachfolgenden Jahrzehnte v. a. mit der Klassifikation der verschiedenen psychopathologischen Symptome, wobei die positiven Symptome im Mittelpunkt standen (Cromwell 1993). Erst ab etwa 1980 wandte sich die Schizophrenieforschung vermehrt den sog. Negativsymptomen zu. Etwa 10 Jahre später fand ein neuerlicher Wechsel in der Betrachtung statt: hinter den Phänomenen der Negativsymptomatik der Schizophrenie wurden »neurokognitive« Störungen vermutet (Green u. Nuechterlein 1999). Diese methodische und inhaltliche Ausweitung ermöglichte nicht nur den Nachweis von psychischen – v. a. kognitiven – Funktionseinbußen mit Messinstrumenten, die eine besondere oder zumindest ausreichende Validität für solche Veränderungen aufwiesen, sondern erlaubte auch die Generierung von Hypothesen über Funktionsstörungen im Rahmen von neurowissenschaftlichen Modellvorstellungen über die funktionelle Organisation des Gehirnes. Die Schizophrenie war somit wieder zu einer Krankheit des Gehirnes geworden, zu deren Erforschung und Beschreibung die gleichen Messinstrumente verwendet werden können wie für andere Erkrankungen des Zentralnervensystems. In konsequenter Anwendung neurowissenschaftlicher Modelle wird versucht, die neuropsychologischen Aspekte der Schizophrenie herauszuarbeiten (vgl. 7 Kap. 17 »Neuropsychologie der Schizophrenie« von Lautenbacher und Kunz, in diesem Band).
3.2.1 Neuropsychologische Störungen 3.2
Schizophrenie
Die Schizophrenie ist ohne Zweifel am frühesten als eigenständige psychische Erkrankung erkannt und erforscht worden. Der Begriff »schizophrene Psychose« wurde 1911 zum ersten Mal von Eugen
und Störungsmuster Im Vordergrund steht heute die Suche nach neuropsychologischen Störungen bzw. Störungsmustern, mit deren Hilfe sich die Schizophrenie genauer charakterisieren lässt. Dieses Bemühen steht in einem
30 Kapitel 3 · Der Beitrag der Neuropsychologie für die Psychiatrie
3
gewissen Gegensatz zum üblichen Vorgehen in der Neuropsychologie, die sich seit der Einführung der bildgebenden Verfahren vermehrt mit Fragen der Organisation psychischer Funktionen auf der Basis ihrer Störungen befasst. Fragen hinsichtlich der differenzialdiagnostischen Zuordnung zu Funktionssystemen und ihren Wechselwirkungen (»Nervennetzen«) kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, während Fragen zu Ätiologie und (strikter) Lokalisation vergleichsweise in den Hintergrund treten. Der Grund für diesen Perspektivenwechsel dürfte wohl darin zu suchen sein, dass die Schizophrenie als ein qualitativ ganz anderes Geschehen angesehen wurde als die sog. organischen Ätiologien, eben als eine in besonderer Weise »psychische« Erkrankung. Neuropsychologische Studien der ersten Forschungsperiode ergaben dementsprechend auch ausgesprochen heterogene Störungsmuster, ohne dass sich zentrale Charakteristika isolieren ließen (vgl. z. B. Antonova et al. 2004; Thoma u. Daum 2005). Trotzdem führten diese Ergebnisse zu der wichtigen Erkenntnis, dass Schizophrene kein differenzielles, sondern ein eher generalisiertes neuropsychologisches Störungsmuster zeigen (Sharma u. Harvey 2000), das relativ unabhängig von der klinischen Psychopathologie ist (z. B. Seaton et al. 2001). Die gefundenen Störungen betreffen in erster Linie Funktionssysteme, die als supramodal einzustufen sind und die Aktivitäten anderer Funktionssysteme modulieren bzw. kontrollieren; dazu gehören v. a. das Aufmerksamkeitssystem und das exekutive System. Die Beeinträchtigung dieser Systeme beeinflusst dementsprechend eine Vielzahl kognitiver Leistungen, darunter Informationsselektion, verbales und visuelles Gedächtnis, Sprache und Denken, Problemlösen und soziale Kognition (Antonova et al. 2004; Nuechterlein et al. 2004; Thoma u. Daum 2005; Weickert u. Goldberg 2000). Ein Schizophrenietypisches Störungsmuster hat sich nicht gewinnen lassen; die Heterogenität der Funktionseinbußen konnte auch nicht in zufriedenstellender Weise durch den Einfluss von Moderatorvariablen wie Alter, Geschlecht, Dauer der Erkrankung oder erhaltene Medikation erklärt werden. Deshalb wurde diese Heterogenität schließlich als Hinweis darauf gewertet, dass es nicht nur einen, sondern mehrere zentralnervöse »Orte des Geschehens« zu geben scheint (Antonova et al. 2004;
Hemsley 2005). Diese Annahme wird durch weitere Befunde unterstützt: 1. bereits im Frühstadium einer Schizophrenie, bei sog. First-episode-Patienten sowie bei unmedizierten schizophrenen Patienten finden sich Einbußen in den Bereichen Aufmerksamkeit und/oder exekutive Funktionen (Bartok et al. 2005; Bilder et al. 2000; Lussier u. Stip 2001; Zihl et al. 1998), 2. es findet sich kein konsistenter Zusammenhang zwischen der klinischen (d. h. psychopathologischen) Symptomatik und kognitiven Leistungseinbußen (Nieuwenstein et al. 2001; Pjinenborg et al. 2003), 3. die unter medikamentöser Wirkung beobachtete deutliche Verbesserung der psychopathologischen Symptomatik beeinflusst die kognitiven Störungen nicht (Weickert u. Goldberg 2000). Das sehr frühe Vorhandensein der kognitiven Defizite, ihre weitgehende Unabhängigkeit von der psychopathologischen Symptomatik, ihre Stabilität und ihre relative Unbeeinflussbarkeit durch Medikamente weisen darauf hin, dass sie ein genuines und zentrales Merkmal der Schizophrenie darstellen.
3.2.2 Arbeitsgedächtnis
und exekutive Funktionen Ein kognitives System, das in den letzten Jahren in den Vordergrund des Interesses neuropsychologischer Forschung getreten ist, ist das Arbeitsgedächtnis. Darunter versteht man, vereinfacht ausgedrückt, die Speicherung von Informationen, die für einen begrenzten Zeitraum nützlich oder relevant sind. Wesentliche Merkmale des Arbeitsgedächtnisses sind die aktive Verarbeitung, Manipulation und Wiederholung neuer Informationen sowie die Sicherstellung der Kontinuität zwischen Erfahrungen in der Vergangenheit und gegenwärtigen Prozessen bzw. Aktivitäten (Goldman-Rakic 1994). Das Arbeitsgedächtnis eignet sich somit in idealer Weise als »Servicestation« für Verstehen, Problemlösen und Planen, aber auch zur transienten »online-Überwachung« der verschiedenen Aktivitäten. Es ist noch nicht endgültig geklärt, ob es aus drei Komponenten
31 3.2 · Schizophrenie
besteht (zwei Sklavensysteme für verbale bzw. visuell-räumliche Informationen, eine zentrale Exekutive; vgl. Baddeley u. Hitch 1994) oder eher funktionell spezialisiert ist und sich somit aus mehreren, materialspezifischen Komponenten zusammensetzt (Goldman-Rakic 1994). Die für das Arbeitsgedächtnis kritische Hirnstruktur ist der dorsolaterale präfrontale Kortex, der mit dem parietalen, temporalen und cingulären Kortex in enger reziproker Verbindung steht; diese Strukturen gehören ebenfalls zum Netzwerk des Arbeitsgedächtnisses (Hazy et al. 2006). Patienten mit Schizophrenie zeigen in Arbeitsgedächtnisaufgaben Einbußen unabhängig vom verwendeten Reizmaterial; komplexe kognitive Störungen (z. B. Planen, Problemlösen, Überwachen und Kontrolle des Verhaltens) sind häufig mit diesen Funktionseinbußen assoziiert (Übersichten bei Keefe 2000; Lee u. Park 2005). Allerdings lassen sich diese Störungen des Arbeitsgedächtnisses auch durch Aufmerksamkeitsdefizite erklären (vgl. Brebion et al. 2001), wobei noch offen ist, ob das Arbeitsgedächtnis auch der exekutiven Steuerung der Aufmerksamkeit dient (De Fockert et al. 2001). Die Abgrenzung unterschiedlicher Störungen des exekutiven Systems im Kontext der Beeinträchtigung von Arbeitsgedächtnisleistungen wird somit ein interessantes und wichtiges Thema auch zukünftiger neuropsychologischer Forschung im Bereich Schizophrenie sein (Honey u. Fletcher 2006; Perry et al. 2001). Interessanterweise zeigen schizophrene Patienten bei Arbeitsgedächtnisaufgaben eine frontale Hyperaktivierung, was als Hinweis auf eine erhöhte Anstrengung bzw. auf einen kompensatorischen Mechanismus gedeutet wird, um die Aufgaben (doch) lösen zu können (Royer et al. 2009).
3.2.3 Visuelle Informations-
verarbeitung und Blickmotorik Störungen der visuellen Informationsverarbeitung sind wiederholt beschrieben worden, wobei vor allem die visuelle Suche (Tanaka et al. 2007), die Integration visueller Informationen (Silverstein et al. 2009) und das visuelle Arbeitsgedächtnis (Tek et al. 2002) betroffen sein können. Eine komplexe Leistung, die sowohl die Planung und Überwachung einer Aktivität als auch die vorübergehende Spei-
3
cherung von Informationen erfordert, ist die visuelle Steuerung der Blickmotorik in Übereinstimmung mit der Struktur der Reizvorlage (Szene) und der Intention der Aufgabe. An dieser Leistung sind je nach Aufgabentyp und visuellem Material v. a. präfrontale, parietale und temporale Strukturen beteiligt (Übersicht bei Awh et al. 2006; Leigh u. Zee 1999). Schizophrene Patienten zeigen abnormale Blickbewegungsmuster beim Betrachten von Gesichtern und Szenen und scheinen Schwierigkeiten zu haben, relevante von nichtrelevanten Informationsanteilen zu unterscheiden (Ishizuka et al. 1998). Die Blickbewegungsmuster gleichen denen von Patienten mit fokaler frontaler Hirnschädigung (Matsushima et al. 1992), was den Schluss nahelegt, dass trotz unterschiedlicher Ätiologie ähnliche Strukturen bzw. Funktionen betroffen sind (Tsunoda et al. 2005). Diese Annahme wird durch den Befund unterstützt, dass diese Veränderungen der Blickmotorik gemeinsam mit exekutiven Funktionsstörungen auftreten können (Radant et al. 1997). Eine ausschließliche Zuordnung dieser blickmotorischen Veränderungen zu präfrontalen Arealen scheint jedoch nicht sinnvoll, da Patienten mit fokaler posterior parietaler bzw. okzipitotemporaler Schädigung ähnliche Defizite aufweisen können (Zihl 1998; Zihl u. Hebel 1997). Dabei erweist sich die Störung des Blickbewegungsmusters sowohl von Patienten mit frontaler Hirnschädigung als auch von schizophrenen Patienten als unabhängig vom gewählten Reizmaterial (räumlich vs. Objekt), was auf eine ähnliche, übergeordnete Störung hinweist. > Fallbeispiel In . Abb. 3.1 sind Blickbewegungsmuster eines 27-jährigen Patienten dargestellt, der 8 Jahre vor dieser Untersuchung an Schizophrenie erkrankt war. Zum Vergleich sind die entsprechenden Blickbewegungsmuster eines gleichaltrigen Patienten mit einer traumatisch bedingten bifrontalen Hirnschädigung sowie einer 25 Jahre alten männlichen Normalperson abgebildet. Beide Patienten weisen gegenüber der Normalperson für alle Reizvorlagen deutlich veränderte Blickbewegungsmuster auf, die die räumliche Struktur der Reizvorlagen kaum widerspiegeln. Die Veränderungen sind durch eine deutlich höhere Anzahl an Fixationen und Fixa6
32 Kapitel 3 · Der Beitrag der Neuropsychologie für die Psychiatrie
3
. Abb. 3.1. Blickbewegungsmuster (Infrarot-Registrierung) während verschiedener Aufgaben. A Zählen von 30 zufällig verteilten Punkten; B Erfassen einer Szene; C Identitätsvergleich zweier Gesichter; D stummes Lesen; S 27-jähriger Patient mit Schizophrenie, FR gleichaltriger Patient mit einer bilateralen Frontalhirnschädigung, N 25-jähriger gesunder männlicher Proband. A–C x-Achse horizontale Ausdehnung des Reizfeldes (40°), y-Achse vertikale Ausdehnung (32°); Punkte Fixationsorte (Fixationsdauer: >100 ms). D x-Achse
Registrierzeiten (in s); y-Achse horizontale Ausdehnung der Zeile (Zeilenbeginn: unten). Bearbeitungszeiten. Aufgabe A: S=56,2 s (zählte 28 Punkte), FR=68,0 s (33 Punkte), N=9,5 s (30 Punkte); Aufgabe B: S=81,6 s (vollständige Wiedergabe); FR=60,4 s (partielle Wiedergabe); N=17,1 s (vollständige Wiedergabe); Aufgabe C: S=27,7 s; FR=31,6 s; N=2,5 s (jeweils korrekter Vergleich); Aufgabe D: Leseleistung in Wörtern pro Minute, S=63, FR=24, N=152
33 3.2 · Schizophrenie
3
. Abb. 3.1 (Fortsetzung)
tionswiederholungen charakterisiert; die Fixationen liegen zudem räumlich deutlich enger beisammen, was auf eine Störung der raum-zeitlichen Organisation des Blickpfades hinweist. Diese Veränderungen zeigen sich interessanterweise auch bei der visuellen Texterfassung (Lesen), die eine besonders genaue Steuerung der Blickbewegungen erfordert (Zihl 1995).
Diese Beobachtungen legen nahe, dass bei Patienten mit Schizophrenie, ähnlich wie bei Patienten mit einer Frontalhirnschädigung, das Planen visuell gesteuerter Blickbewegungen in Abhängigkeit von der Struktur der Reizvorlage sowie das kontinuierliche Überwachen (»online-updating« bzw. »monitoring«) der Fixationspositionen beeinträchtigt sein können. Zusätzlich scheint das Aufnahmefenster
34 Kapitel 3 · Der Beitrag der Neuropsychologie für die Psychiatrie
3
(»Aufmerksamkeitsfeld«) verkleinert zu sein, sodass die zeitliche und räumliche Integration von Informationen gestört ist, was sich u. a. in einem eingeschränkten Überblick und einer beeinträchtigten visuell-räumlichen Orientierung auswirken kann. Es handelt sich somit um eine komplexe, von der Art des visuellen Materials weitgehend unabhängige visuomotorische Störung, die sich als beeinträchtigte Kooperation zwischen den verschiedenen beteiligten Funktionssystemen interpretieren lässt, wobei sicherlich (prä-)frontalen Strukturen eine besondere Rolle zukommt. Diese Ergebnisse zeigen zusätzlich, wie wertvoll es ist, die beteiligten Prozesse bzw. Veränderungen mit geeigneten Verfahren, in diesem Fall der Blickbewegungsregistrierung, im Detail zu untersuchen. Die Vorgabe von Testvorlagen allein hätte im besten Fall einen gegenüber gesunden Vergleichsprobanden deutlich erhöhten Zeitbedarf ohne eine entsprechend erhöhte Fehlerzahl ergeben, der diagnostisch als allgemeine kognitive Verlangsamung eingeordnet worden wäre. Die Analyse der Blickbewegungsmuster erlaubt hingegen eine Fraktionierung der beteiligten Prozesse auch bei schizophrenen Patienten (Broerse et al. 2001).
3.3
Affektive Störungen
Die neuropsychologischen Veränderungen, die bei Patienten mit affektiven Störungen gefunden wurden, gleichen teilweise denen bei Patienten mit schizophrener Erkrankung (vgl. 7 Kap. 11 »Neuropsychologie affektiver Störungen« von Beblo, in diesem Band; Austin et al. 2001; Quraishi u. Frangou 2002; Zihl et al. 1998). Besonders betroffen scheinen die Funktionssysteme für die Aufmerksamkeit und das Gedächtnis, wobei bei erhöhter Anstrengung auch bessere Leistungen erzielt werden. Diese Leistungsdifferenz wird als Folge reduzierter Motivation bzw. als Fehlen angemessener Reaktionen auf Belohnungsreize (Leistungserfolg) interpretiert. Exekutive Störungen scheinen hingegen seltener vorzukommen; dies gilt v. a. für die Beeinträchtigung der kognitiven Flexibilität und der Selbstüberwachung kognitiver Prozesse, die ein typisches, bereits frühes Merkmal der Schizophrenie zu sein scheint (Zihl et al. 1998). Dies bedeutet nicht, dass Patienten mit
affektiver Störung keine Beeinträchtigung der Exekutive aufweisen können (Nakano et al. 2008); diese scheint jedoch vorwiegend die Generierung von (geeigneten) Strategien zu betreffen (Channon u. Green 1999; Dolan et al. 1993). Die Tatsache, dass davon nicht nur exekutive Funktionen, sondern auch andere komplexe Tätigkeiten, wie z. B. Wahrnehmung, Merkfähigkeit, Abruf sowie Produktion von Sprache betroffen sind, spricht für die Annahme einer supramodalen Störung, die sich klinisch am ehesten als »Antriebsstörung« im Sinne einer Hypoaktivität interpretieren lässt. Manchmal ist es möglich, die beeinträchtigte oder im Extremfall fehlende Generierung von eigenen Aktivitäten durch externe Einflüsse (z. B. motivierenden Zuspruch) zu reduzieren oder gar aufzuheben, sodass derselbe Patient, der unter »freien« Bedingungen den Eindruck eines kognitiv schwer Beeinträchtigten macht, durch diese Manipulation bessere und manchmal sogar altersentsprechende kognitive Testleistungen zu erbringen vermag. Die engen Verbindungen zwischen dem Antriebssystem und den verschiedenen kognitiven Systemen erschweren eine zuverlässige differenzialdiagnostische Abgrenzung. Die Tatsache, dass neuropsychologische Einbußen in den Bereichen Gedächtnis und exekutive Funktionen auch nach der Rückbildung einer Depression bestehen bleiben können, spricht jedoch gegen die Annahme einer generellen Antriebsstörung als alleinige Ursache für die kognitiven Defizite (Austin et al. 2001; Majer et al. 2005). Allerdings ist ungeklärt, ob die zur Erfassung der psychopathologischen Symptome verwendeten Verfahren auch in der Lage sind, Antriebsstörungen im kognitiven Bereich zu erfassen. Die affektive Störung würde somit ein durchaus brauchbares Modell zur Untersuchung des Funktionssystems »Antrieb« und seiner Wechselwirkungen mit anderen Funktionssystemen darstellen (Mesulam 2000). Ein interessanter Forschungsansatz zur Frage des Einflusses der Affektivität auf kognitive Prozesse ist die bei depressiven Patienten gefundene Verschiebung der Bewertung in die negative Richtung (Murphy et al. 1999). Dieser Bias findet sich nicht nur in der Informationsverarbeitung, sondern auch in der Speicherung und Verwendung von Informationen, in der Zuordnung von Aufmerksamkeitsressourcen sowie im Entscheidungsverhalten. Interes-
35 3.4 · Neue Entwicklungen
santerweise konnte diese Verschiebung nicht durch Störungen des Gedächtnisses oder der Exekutive selbst erklärt werden. Dieser Forschungsansatz könnte helfen, eine für affektive Störungen möglicherweise charakteristische neuropsychologische Störung bzw. Veränderung zu finden. Zusätzlich bietet er eine erfolgversprechende Grundlage für das Studium der verschiedenen interaktiven Prozesse zwischen den Motivations- und Bewertungssystemen einerseits und den Funktionssystemen für die Verarbeitung, Nutzung und Speicherung von Informationen, die Steuerung und Überwachung der zugehörigen Prozesse und efferenten Aktivitäten andererseits. Die in diesem Zusammenhang spannenden Fragen betreffen die Art der Selektion und Speicherung negativ getönter Informationen. Es ist zu erwarten, dass dies im Wesentlichen implizit erfolgt, was u. a. bedeuten würde, dass die »internen« Wirkungen ebenfalls implizit sind, d. h. sie können nicht ohne weiteres explizit (also intentional bzw. bewusst) überwacht und kontrolliert werden. Eine Folge dieser Wirkung könnte die fazilitierte Erinnerung negativ getönter Inhalte des Altgedächtnisses und die einseitig negative Vorwegnahme der Bewertung zukünftiger Ereignisse sein (Eich et al. 1997; Rude et al. 1999). Alternativ ließe sich aber auch annehmen, dass nicht die Erinnerung an negative Ereignisse besser ist, sondern dass positive Ereignisse aufgrund ihrer subjektiv geringeren Wertigkeit weniger zuverlässig gespeichert und damit rascher vergessen werden oder zumindest weniger Verhaltenswirksamkeit erlangen. Ähnlich wie oben bereits für die Schizophrenie ausgeführt, ist die Definition der beteiligten Prozesse Voraussetzung für eine differenzielle Klärung ihrer Rolle bei affektiven Störungen. Hinsichtlich funktionell-neuroanatomischer Annahmen zum »Ort des Geschehens« besteht eine auffallende Überlappung mit den für die pathophysiologischen Prozesse bei Schizophrenie vermuteten zentralnervösen Strukturen des ventralen und medialen präfrontalen Kortex sowie des vorderen Cingulums (Austin et al. 2001; Harrison 2002).
3.4
3
Neue Entwicklungen
In den letzten Jahren hat sich die neuropsychologische Forschung in der Psychiatrie neuen Fragestellungen zugewandt, die sowohl von theoretischer als auch klinischer Bedeutung sind. Nachfolgend stellen wir zwei innovative Themen kurz dar.
3.4.1 Kognitive Funktionsstörungen
als Prädiktoren für den Krankheitsverlauf und die Ansprechbarkeit auf pharmakologische Therapien Der konsistente Befund, dass ein Teil sowohl schizophrener als auch depressiver Patienten trotz deutlicher Abnahme der psychopathologischen Symptomatik nach pharmakologischer Therapie weiterhin kognitive Funktionsstörungen aufweist, lässt vermuten, dass es sich dabei um besondere Untergruppen handeln könnte. Zwar konnten bisher keine geeigneten biologischen Korrelate (z. B. morphologische, pathophysiologische oder genetische Merkmale) dafür gefunden werden, aber neuropsychologische Befunde lassen annehmen, dass zumindest das Ausmaß der kognitiven Funktionsstörungen vor pharmakologischer Behandlung einen Prädiktor für den Behandlungserfolg bzw. den weiteren Verlauf sowohl bei Patienten mit Schizophrenie (Helldin et al. 2006) als auch mit Depression (Majer et al. 2005; Weiland-Fiedler et al. 2004) darstellen könnte. Für die Schizophrenie scheint außerdem zu gelten, dass Funktionseinbußen in den Bereichen Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis und exekutive Funktionen bereits in den frühen (»präpsychotischen«) Stadien der Erkrankung nachweisbar sind (Bartok et al. 2005). »Prodromale« neuropsychologische Korrelate, insbesondere reduzierte exekutive Funktionen, wurden auch für die Borderlinepersönlichkeit und für suizidales Verhalten gefunden (LeGris u. van Reekum 2006). Neuropsychologische Prädiktoren könnten somit einen wichtigen Beitrag für die Einschätzung des Krankheitsverlaufs und die Ansprechbarkeit auf pharmakologische Therapien leisten (Ceskova et al. 2001; Woodward et al. 2005).
36 Kapitel 3 · Der Beitrag der Neuropsychologie für die Psychiatrie
3.4.2 Neuropsychologische Aspekte
normalen und pathologischen Alterns
3
In der Forschung zu altersbedingten kognitiven Veränderungen beginnt sich ein Perspektivenwechsel zu vollziehen: Altern wird nicht mehr (nur) als Defizitentwicklung (Demenz) im Kontrast zu den vorangegangenen Lebensperioden betrachtet, sondern als eigenständiger Lebensabschnitt, der auch eine eigene Betrachtungsweise erfordert. Auf diesem Hintergrund hat sich die Erforschung »erfolgreichen« (vielleicht besser: »normalen«) Alterns entwickelt, deren Konzept davon ausgeht, dass das ZNS über Möglichkeiten verfügt, die »normalen« morphologischen Abbauprozesse durch besondere Mechanismen der Plastizität zu kompensieren (Hedden u. Gabrieli 2004; Reuter-Lorenz u. Lustig 2005; Richards u. Deary 2005). Diese neurowissenschaftliche Erkenntnis sollte Ausgangspunkt für eine neuropsychologische Alternsforschung werden, in der die im Alter erhaltene Plastizität des Gehirns unter besonderer Berücksichtigung fazilitierender und inhibierender Faktoren im Mittelpunkt steht. In einer Zeit auffällig zunehmender Demenzdiagnosen stellt dabei die Abgrenzung normaler altersbedingter kognitiver Veränderungen (z. B. die Herabsetzung der kognitiven Leistungsgeschwindigkeit) von einer als pathologisch zu wertenden Veränderung kognitiver Funktionen eine besondere diagnostische Herausforderung dar. Solche Beeinträchtigungen werden als »mild cognitive impairment« (MCI), manchmal auch als »milde Demenz im Frühstadium« bezeichnet. Die enorme Schwankungsbreite der Häufigkeit von MCI (zwischen 1% und 30%, Ganguli 2006; Tuokko u. McDowell 2006) weist u. a. auf die Schwierigkeit in der Vergabe dieser Diagnose aufgrund unzureichender diagnostischer Kriterien und uneinheitlicher Verwendung von Untersuchungsverfahren hin (Fisk et al. 2003). Die Neuropsychologie normalen und pathologischen Alterns wird daher ohne Zweifel zu den wichtigen Forschungsthemen und klinischen Aufgaben der Zukunft gehören.
3.5
Neuropsychologische Rehabilitation in der Psychiatrie?
Zu den klinischen Aufgaben der Neuropsychologie gehören die Diagnostik und die Behandlung der kognitiven Funktionsstörungen. Jede ökologisch valide Verminderung von Funktionseinbußen bzw. Zunahme der Funktionsfähigkeit führt zu einer Abnahme der Behinderung und steigert die Selbstständigkeit und Lebensqualität der betroffenen Patienten. Für die meisten kognitiven Bereiche stehen mittlerweile ausreichend überprüfte neuropsychologische Behandlungsverfahren zur Verfügung (vgl. Hartje u. Poeck 2002; Lehrner et al. 2006), wobei festzuhalten ist, dass die ökologische Validität ein zentrales Thema der neuropsychologischen Rehabilitationsforschung darstellt (vgl. Twamley et al. 2003). In 7 Abschn. 3.2 und 3.3 wurden charakteristische kognitive Veränderungen bzw. Einbußen bei Schizophrenie und bei affektiven Störungen beschrieben. Die Behandlung dieser Störungen setzt ihren zuverlässigen diagnostischen Nachweis voraus. Mithilfe neuropsychologischer Untersuchungsverfahren können kognitive Störungsmuster zuverlässig und valide entdeckt und eingeordnet werden. Natürlich gelten auch in der neuropsychologischen Diagnostik die bekannten Testgütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität, wobei sich die Validität im Besonderen auf die spezifische Erfassbarkeit der Funktionsstörungen bezieht. Als wesentliches weiteres Kriterium kommt eine hypothesengeleitete Vorgehensweise bei der Auswahl, Anwendung und Ergebnisinterpretation von Testverfahren hinzu, die eng an den Erkenntnissen über die Funktionsweise des Gehirnes und den Folgen organischer Störungen orientiert ist. Für die neuropsychologische Diagnostik in der Psychiatrie gilt, dass nicht so sehr der differenzialdiagnostische Beitrag z. B. zur Schizophrenie oder Depression im Vordergrund steht, sondern die Zuordnung zu (Teil-)Leistungen bzw. Störungen von Funktionssystemen. Warum stellt sich nun die Frage einer Behandlung von kognitiven Funktionseinbußen auch bei diesen Patientengruppen? Diese Frage wäre hinfällig, würden die Funktionseinbußen entweder eine ausreichende Spontanremission zeigen oder sich nach erfolgreicher (z. B. medikamentöser) Behandlung ebenso wie die psychopathologischen Symp-
37 3.5 · Neuropsychologische Rehabilitation in der Psychiatrie?
tome zurückbilden. Dies ist leider nur teilweise der Fall (vgl. 7 Abschn. 3.2 und 3.3). Dies hat eine Reihe von Nachteilen in verschiedenen Bereichen des persönlichen Lebens zur Folge, weil z. B. alltagsrelevante Aktivitäten nicht ausreichend organisiert und überwacht, komplexe Informationen nur unzureichend verarbeitet und damit viele Situationen nicht vollständig oder zutreffend eingeschätzt werden können, die Compliance reduziert ist etc. (Janssen et al. 2006; McCall u. Dunn 2003). Obwohl es bereits seit Jahren entsprechende therapeutische Ansätze gibt, sind die Ergebnisse bisher insgesamt nur teilweise überzeugend (vgl. 7 Kap. 24 »Neuropsychologische Therapie psychischer Störungen« von Diener und Olbrich in diesem Band; Kraemer u. Heldmann 2001; Silverstein 2000). Das Problem liegt einerseits im zu wenig hypothesengeleiteten Vorgehen; zum anderen sind die untersuchten Gruppen meist zu klein, um eine zufriedenstellende Generalisierbarkeit zuzulassen. Zum hypothesengeleiteten Vorgehen ist anzumerken, dass bzgl. der Auswahl der behandelten Funktionsbereiche ein ausgesprochen »neuropsychologisches Defizit« besteht, da Zusammenhänge von Teilleistungen in einem Funktionssystem bzw. zwischen miteinander kooperierenden Funktionssystemen kaum in die Auswahl von diagnostischen und therapeutischen Verfahren einbezogen werden und auch für die Entwicklung der Studiendesigns keine besondere Rolle zu spielen scheinen. Hinzu kommen die bekannten generellen methodischen Schwierigkeiten bei Therapiestudien, z. B. die Festlegung von eindeutigen Ein- und Ausschlusskriterien, die eine ausreichende Homogenität der interessierenden Patientengruppe(n) gewährleistet und der zuverlässige Nachweis eines zumindest wesentlich auf die Intervention zurückzuführenden Effektes. Es besteht jedoch Einigkeit darüber, dass der Entwicklung und Anwendung von neuropsychologischen Behandlungsverfahren für Funktionsstörungen als komplementäres Mittel zur medikamentösen Therapie ein höherer Stellenwert als bisher zukommen sollte (Arolt u. Suslow 2001; Gold 2004; Green 1996; Twamley et al. 2003; Wykes et al. 2002). Durch ein systematisches neuropsychologisches oder »neurokognitives« Training lassen sich kognitive Basisleistungen in den verschiedenen Funktionsbereichen steigern und dadurch eine Verbesserung der kognitiven und sozialen Kompetenz,
3
der Selbstkontrolle und des Selbstwertgefühls erreichen. Insofern erscheint auch eine umfangreiche Vor- und Nachdiagnostik in nichtkognitiven Bereichen sinnvoll. Medalia und Richardson (2005) haben in ihrer Untersuchung zur Wirksamkeit von Interventionen auf kognitive Funktionen die Art des Behandlungsprogramms, die Behandlungsintensität und die fachliche therapeutische Qualifikation als wesentliche »Einflussfaktoren« gefunden. Dieses Ergebnis unterstreicht nicht nur den enormen konzeptuellen und methodischen Optimierungsbedarf im Bereich der neuropsychologischen Rehabilitation in der Psychiatrie (vgl. auch Silverstein 2000), sondern kann auch als Leitlinie für die dafür erforderliche Forschung sowie Aus- und Weiterbildung gelten. > Fallbeispiel In . Abb. 3.2 sind die Ergebnisse des kognitivenTrainings bei einem schizophrenen Patienten (vgl. Fallbeispiel und . Abb. 3.1) dargestellt. Aufgrund der diagnostischen Ergebnisse der Eingangsmessung wurde die Hypothese formuliert, dass die Aufmerks amkeitsleistungen in besonderer Weise betroffen und die übrigen kognitiven Störungen als Folge davon sekundär beeinträchtigt sind. Nach einer Periode von 6 Wochen pharmakologischer Therapie, die zu einer Besserung der psychopathologischen Symptome, nicht aber des kognitiven Status führte, wurde ein auf den Aufmerksamkeitsbereich begrenztes Training durchgeführt. Die nach dem Training gewonnenen Ergebnisse zeigen, dass nicht nur verschiedene Aufmerksamkeitsleistungen, sondern auch andere kognitive Leistungen deutlich verbessert waren. Außerdem nahm die Daueraufmerksamkeitsspanne für die Durchführung von Arbeiten am PC (Erstellung von Datenlisten) von ca. 20 min vor bzw. nach pharmakologischer Therapie auf etwa eine Stunde nach dem kognitiven Training zu.
Dieser Einzelfall weist exemplarisch darauf hin, dass eine hypothesengeleitete, neurowissenschaftlich orientierte Vorgehensweise zumindest den Nachweis erbringen kann, dass kognitive Störungen auch bei Schizophrenie reduzierbar sind. Die für die Behandlung von kognitiven Störungen bei Patienten mit schizophrener Erkrankung ausgeführten Überlegungen und Vorschläge gelten in analoger Weise auch für Patienten mit affektiven Störungen.
38 Kapitel 3 · Der Beitrag der Neuropsychologie für die Psychiatrie
3
A
C
. Abb. 3.2. Ergebnisse von einem 27-jährigen Patienten mit Schizophrenie in verschiedenen Aufgaben vor (grau) bzw. nach (schwarz) einem systematischen computergestützten Training der selektiven Aufmerksamkeit. A Es finden sich Verbesserungen in der selektiven Aufmerksamkeit (d2 und ZVT) und der kognitiven Flexibilität (TMTT B), aber keine Verbesserung in der geteilten Aufmerksamkeit (GA; Zimmermann u. Fimm 1994). B Zunahme der Daueraufmerk-
Zusammenfassung Dieses Kapitel befasste sich mit dem Beitrag der Neuropsychologie zur Psychiatrie. Es wurde aufgezeigt, dass die Neuropsychologie mit ihren Konzepten und Methoden eine wesentliche, komplementäre Rolle für Diagnostik, Behandlung und Erforschung v. a. kognitiver Einbußen von Patienten mit schizophrenen oder affektiven Störungen spielen kann. Der bisher erreichte Forschungsstand bestätigt die gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts formulierte Hypothese, dass psychische Störungen Ausdruck pathophysiologi6
B
D
samkeitsspanne für Arbeit am PC (V vor Trainingsbeginn; Wo Wochen). C und D Beim Blickbewegungsmuster ist nach dem Training (D) eine geordnete räumliche Struktur erkennbar; die Zeit für das genaue Betrachten der Szene hat deutlich abgenommen (C 55,8 s; D 15,6 s); x-Achse horizontale Ausdehnung des Reizfeldes (40°), y-Achse vertikale Ausdehnung (32°). Die Punkte zeigen Fixationsorte (Fixationsdauer: >100 ms) an
scher Prozesse zentralnervöser Funktionssysteme sind. Im Gegensatz zu den bei neurologischen Patienten bekannten »fokalen« Funktionsausfällen stehen Störungen übergeordneter Funktionssysteme im Vordergrund, wie z. B. Aufmerksamkeit, exekutive Funktionen, Antrieb und affektive Bewertung. Trotz der Komplexität der betroffenen Funktionssysteme erlauben neuropsychologische Verfahren eine ausreichend zuverlässige differenzialdiagnostische Abgrenzung der Funktionseinbußen. Eine ähnliche Vorgehensweise ist auch im Bereich altersbedingter kognitiver Veränderungen erforderlich.
39 3.6 · Literatur
Die reliable und valide Erfassung von Funktionseinbußen bildet die Grundlage für eine systematische Intervention zur Reduzierung der kognitiven Defizite. Aufgrund der mangelnden Beeinflussung kognitiver Störungen durch Medikamente einerseits und der Notwendigkeit ausreichender kognitiver Leistungen zur erfolgreichen Lebensgestaltung anderseits erscheint ein kognitives Funktionstraining grundsätzlich indiziert. Zwar ist seine Wirksamkeit noch nicht im erforderlichen Umfang überprüft bzw. nachgewiesen; die methodischen Probleme und der erforderliche Forschungsaufwand sollten jedoch nicht zu einem therapeutischen Pessimismus oder gar Nihilismus verleiten, sondern als Herausforderung angesehen werden. Eine weitere wesentliche Aufgabe für die zukünftige neuropsy-
3.6
Literatur
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3
chologische Forschung in der Psychiatrie besteht in der besseren Charakterisierung diagnostischer Gruppen und Untergruppen hinsichtlich kognitiver Störungsmuster, um deren Rolle für die Entstehung und den Verlauf der betreffenden Störungen und ihre Bedeutung als mögliche Prädiktoren näher zu klären. Es bleibt zu hoffen, dass solche Erkenntnisse nicht nur einen prinzipiellen Beitrag zur Erklärung von Genese und Dynamik psychischer Störungen liefern werden, sondern auch die Grundlage für präventive und therapeutische Maßnahmen darstellen können. Aufgrund der verschiedenen zu berücksichtigenden biologischen und psychischen Komponenten kann eine solche Forschung jedoch nur bei Zusammenarbeit aller erforderlichen Fachdisziplinen erfolgreich sein.
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4 4 Der »kognitive Kern« der Neuropsychologie Neuropsychologische Diagnostik bei psychiatrischen Erkrankungen Jascha Rüsseler
4.1
Vorbemerkung – 44
4.2
Aufgaben und Ziele der neuropsychologischen Diagnostik – 44
4.3
Die ICF – 45
4.4
Die neuropsychologische Untersuchung – 47
4.4.1 Anamnese und Fremdanamnese – 47 4.4.2 Die testpsychologische Untersuchung – 49 4.4.3 Die Verhaltensbeobachtung – 51
4.5
Diagnostik unterschiedlicher Funktionsbereiche – 52
4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5
Aufmerksamkeit – 52 Lernen und Gedächtnis – 56 Exekutive Hirnfunktionen (»Planen und Handeln«) Andere kognitive Funktionsbereiche – 60 Affektivität und Persönlichkeit – 62
4.6
Literatur
– 64
– 58
44 Kapitel 4 · Der »kognitive Kern« der Neuropsychologie
4
In einer neuropsychologischen Untersuchung wird ein Patient mit folgender Aufgabe konfrontiert: »In einem Regal stehen 18 Bücher. Auf einem Regalbrett stehen doppelt so viele Bücher wie auf dem anderen. Wie viele Bücher stehen auf jedem Regalbrett?« Die Antwort des Patienten lautet: 18×2=36; 36+18=54 Bücher. Es werden mehrere typische Schwierigkeiten von Patienten mit sog. exekutiven Funktionsstörungen deutlich: Wichtige Informationen werden vernachlässigt wie bspw. diejenige, dass nur 18 Bücher insgesamt in dem Regal stehen. Die generierte Lösung wird nicht mit der ursprünglichen Aufgabenstellung verglichen. Weiterhin wird deutlich, dass komplexe Informationsverarbeitungsprozesse aus Subprozessen bestehen, die jeweils einzeln gestört sein können und so die Ausführung komplexer Handlungen beeinträchtigen.
4.1
Vorbemerkung
Das Eingangsbeispiel zeigt einige typische Schwierigkeiten von Patienten mit Störungen der exekutiven Hirnfunktionen: Vernachlässigung von Informationen, das Handlungsziel aus dem Blick verlieren, mangelnde Fähigkeit, einzelne Teilhandlungen (wie beispielsweise das Unterteilen der Aufgabe in Teilaufgaben) zu koordinieren. Ebenfalls aus dem Beispiel ist ersichtlich, dass komplexe Informationsverarbeitungsprozesse aus einer Reihe von Teilkomponenten bestehen (Ausrichten der Aufmerksamkeit auf die Aufgabe, um sie verstehen zu können; Planung der einzelnen Rechenschritte; Ausrechnen der Teilaufgaben; Merken von Zwischenergebnissen; Zusammenfassen von Zwischenergebnissen zu einem Endresultat; Prüfung des generierten Ergebnisses; Mitteilung des Endergebnisses in einer angemessenen Form etc.). Eine Funktionsstörung jeder dieser Teilfunktionen kann zu einem fehlerhaften Ergebnis führen. So können starke Gedächtnisprobleme dazu führen, dass man sich Zwischenergebnisse nicht merken kann und nicht zur gewünschten Lösung kommt. Planungsschwierigkeiten, insbesondere dabei, die Reihenfolge festzulegen, wie einzelne Teilhandlungen ausgeführt werden sollen, erschweren die Ausführung komplexer Alltagshandlungen (z. B. Zubereitung von Mahlzeiten).
Die neuropsychologische Diagnostik stellt ein umfangreiches Repertoire an testpsychologischen Verfahren zur Verfügung, um kognitive Funktionen zu erfassen. Diese können dabei helfen, Ausfälle einzelner Funktionsbereiche aufzudecken. Derartige Verfahren werden üblicherweise zur Erhebung des kognitiven Status nach erworbenen Hirnschädigungen eingesetzt, finden jedoch auch im psychiatrischen Bereich vermehrt Anwendung. Dies erscheint vor allem vor dem Hintergrund gerechtfertigt, dass sich psychische Störungen häufig durch kognitive Beeinträchtigungen, vor allem im Bereich der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und der exekutiven Hirnfunktionen ankündigen. Häufig bleiben diese kognitiven Beeinträchtigungen auch über das Abklingen der psychopathologischen Symptomatik hinaus bestehen. Die Erforschung kognitiver Probleme psychiatrischer Patienten ist auch für das Verständnis psychischer Störungen von großer Bedeutung. In den letzten Jahren sind hier große Fortschritte erzielt worden, insbesondere was das Verständnis affektiver Störungen (7 Kap. 9, 10 und 11 des vorliegenden Bandes) und der Schizophrenie (7 Kap. 15) angeht. In diesem Kapitel wird zunächst auf die Ziele der neuropsychologischen Diagnostik eingegangen. Es folgt eine kurze Beschreibung der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung, und Gesundheit; WHO 2001), einem Klassifikationssystem, das die Einordnung der kognitiven Beeinträchtigungen in die Grunderkrankung erleichtert und dabei hilft aufzuzeigen, wodurch Beeinträchtigungen der Partizipation an Alltagsaktivitäten zustande kommen. Der Ablauf einer neuropsychologischen Untersuchung wird vorgestellt, wobei die einzelnen Informationsquellen (Anamnesegespräch, Fremdanamnese, Verhaltensbeobachtung, psychometrische Tests) betrachtet werden. Schließlich wird auf die testpsychologische Untersuchung der wichtigsten kognitiven Funktionsbereiche eingegangen.
4.2
Aufgaben und Ziele der neuropsychologischen Diagnostik
Die neuropsychologische Untersuchung dient dazu, die emotionalen, motivationalen und behavioralen
45 4.3 · Die ICF
Folgen, die im Rahmen einer hirnorganischen Schädigung oder einer psychiatrischen Erkrankung auftreten zu identifizieren und zu beschreiben. Sie hat verschiedene Funktionen (Gauggel u. Böcker 2008). Zunächst geht es um die Erfassung und Beschreibung der aktuell vorliegenden kognitiven, emotionalen und motivationalen Störungen (möglichst objektive Beschreibung des kognitiven Status). Dabei interessieren vor allem die Art, die Dauer und die Ausprägung der Störungen. Besondere Bedeutung kommt der Einschätzung zu, wie sich die festgestellten kognitiven und emotionalen Störungen im Alltag des Patienten auswirken. Die gewonnenen diagnostischen Informationen werden darüber hinaus dazu verwendet, die Entstehung und Aufrechterhaltung der Probleme des Patienten zu erklären. Weiterhin dienen sie der Prognosestellung, d. h. es werden in gewissem Rahmen Vorhersagen über den Verlauf gemacht. Die Planung von therapeutischen Interventionen setzt ebenfalls Wissen über die kognitiven Stärken und Schwächen des Patienten voraus. So kann beispielsweise bei einem Patienten mit starken Gedächtnisstörungen nicht davon ausgegangen werden, dass er sich noch an die Inhalte der vorangegangenen Therapiestunde erinnert. Schließlich dient die neuropsychologische Diagnostik der Evaluation, d. h. der Bewertung der Wirksamkeit therapeutischer Interventionen (Effektivitätsnachweis und Qualitätssicherung). Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Hilfe beim Treffen sozialrechtlicher Entscheidungen (im Rahmen neuropsychologischer Begutachtungen). Neuropsychologische Diagnostik Neuropsychologische Diagnostik dient der Beschreibung der kognitiven, emotionalen, motivationalen und behavioralen Folgen einer organischen Hirnverletzung oder einer psychiatrischen Erkrankung. Dabei werden unterschiedliche Ziele verfolgt: 1. Feststellung des aktuellen Status zerebraler Funktionen und Objektivierung der Funktionsbeeinträchtigungen, 2. Beurteilung der sich daraus für den Patienten ergebenden sozialen und beruflichen Konsequenzen, 6
4
3. Planung rehabilitativer Maßnahmen, 4. Prognosestellung, 5. Verlaufsbeurteilung und Therapieevaluation, 6. sozialrechtliche Begutachtung.
4.3
Die ICF
Die »Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit« (ICF; WHO 2001) liefert einen Organisationsrahmen und eine Beschreibung menschlicher Funktionsfähigkeit und ihrer Beeinträchtigungen. Sie bietet somit eine Hilfe, die Konsequenzen kognitiver Funktionsstörungen im Alltag psychiatrischer Patienten einzuordnen. Die Übersicht zeigt die wesentlichen Komponenten des Modells: Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation. Sie stehen in Wechselwirkung zu Umweltfaktoren und individuellen Faktoren. Ein Gesundheitsproblem wie bspw. ein aus Alkoholabhängigkeit resultierendes Korsakofff Syndrom hat Störungen des episodischen Gedächtnisses zur Folge (Ebene der körperlichen Funktionen/Strukturen). Daraus resultieren Konsequenzen für Alltagsaktivitäten wie das nicht Einhaltenkönnen von Verabredungen (Ebene der Aktivitäten), die nun ihrerseits zu Schwierigkeiten bei der Teilhabe an Aktivitäten des täglichen Lebens führen (z. B. Probleme, neue Freunde zu finden; Probleme, Aufgaben am Arbeitsplatz auszuführen; . Abb. 4.1; . Abb. 4.2). Die drei Ebenen körperliche Funktionen/Strukturen, Aktivitäten und Partizipation werden nun ihrerseits durch Umweltfaktoren und Persönlichkeitsmerkmale des Patienten beeinflusst. Deren Erfassung im diagnostischen Prozess ist wichtig, da sie in der Therapie – zumindest teilweise – aktiv verändert werden können. In unserem Beispiel könnten Umweltfaktoren die dem Patienten zur Verfügung stehenden Kompensations«technolo gien« sein (Gedächtnistagebuch, Kalender …), aber auch die Verfügbarkeit von (Psycho-)Therapie. Persönlichkeitsmerkmale beeinflussen die Folgen der Erkrankung ebenfalls. So könnte nach einem vergessenen Termin Gleichgültigkeit an den Tag gelegt werden oder eine katastrophisierende Reaktion er-
46 Kapitel 4 · Der »kognitive Kern« der Neuropsychologie
4
. Abb. 4.1. Grundstruktur der ICF
folgen (»Aufgrund meines Trinkens kann ich mir Dinge nicht mehr merken. Ich werde auch in Zukunft immer Termine vergessen. Die Leute warten dann vergebens auf mich und sind sauer. Ich werde nie mehr neue Freunde finden.«).
Wichtige Begriffe aus der ICF im Überblick Körperfunktionen: physiologische Funktionen von Körpersystemen einschließlich der psychologischen Systeme. Körperstrukturen: anatomische Teile des Körpers (Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile). Schädigungen: Beeinträchtigungen einer Körperfunktion oder Körperstruktur, z. B. eine wesentliche Abweichung oder ein Verlust. Aktivität: Durchführung einer Handlung. Partizipation (Teilhabe): Einbezogensein in eine Lebenssituation. Beeinträchtigungen der Aktivität: Schwierigkeiten, die ein Mensch bei der Durchführung einer Aktivität hat. Beeinträchtigungen der Partizipation (Teilhabe): Probleme, die ein Mensch beim Einbezogensein in eine Lebenssituation erlebt. Umweltfaktoren: Materielle, soziale und einstellungsbezogene Lebensumwelt.
Die Orientierung am ICF-Schema in der neuropsychologischen Diagnostik erbringt nützliche Hinweise für die Therapieplanung, indem sie hilft, Faktoren aufzudecken, die zu Einschränkungen in der Teilhabe führen. Hervorzuheben ist, dass dabei der Fokus von den Defiziten des Patienten auf seine gegenwärtig vorhandenen Fähigkeiten (Ressourcen) und die Lebensbedingungen und Anforderungen an den Patienten verschoben wird. Grundlagenbox
Die ICF Die ICF ist ein von der Weltgesundheitsorganisation entwickeltes Diagnoseschema, das zwischen der Grunderkrankung, körperlichen Funktionen, Aktivitäten und Teilhabe an Alltagsaktivitäten unterscheidet. Auch Umweltfaktoren und relevante Persönlichkeitseigenschaften werden dabei mit berücksichtigt. Die ICF hilft dabei, die durch kognitive Probleme verursachten Beeinträchtigungen psychiatrischer Patienten im Alltag zu beschreiben und entsprechende Interventionsansätze zu entwickeln. Dabei wird der Fokus von den Defiziten auf die gegenwärtig vorhandenen Fähigkeiten des Patienten verschoben.
47 4.4 · Die neuropsychologische Untersuchung
4
. Abb. 4.2. Das Modell der ICF und Beispiele für den Einsatz diagnostischer Verfahren, die Informationen über die verschiedenen Ebenen liefern
4.4
Die neuropsychologische Untersuchung
Eine ausführliche neuropsychologische Untersuchung wird zumeist auf mehrere, jeweils 1–3 Stunden dauernde Termine aufgeteilt. Nach den Leitlinien der Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP 2005) besteht eine neuropsychologische Untersuchung aus dem Studium der Vorbefunde, der Entwicklung einer konkreten diagnostischen Fragestellung (Bsp.: Für wie viele Stunden täglich ist ein beruflicher Wiedereinstieg möglich? Welche Tätigkeiten können von dem Patienten durchgeführt werden?), der Anamnese und Exploration (ggf. Fremdanamnese), der Planung und Durchführung der neuropsychologischen (testpsychologischen) Untersuchung, der Erfassung von ggf. die Testdurchführung oder die Ergebnisse beeinflussenden Faktoren (z. B. Medikation, besonderer Stress, anhängiges Schadensersatz- oder Berentungsverfahren etc.), der Verhaltensbeobachtung, der Feststellung von Aggravation (Übertreibung) bzw. Simulation bei der neuropsychologischen Diagnostik, der Analyse und Interpretation der Untersuchungsergeb-
nisse sowie schließlich der Dokumentation der Ergebnisse in Befundberichten oder Gutachten. Vor Beginn einer neuropsychologischen Untersuchung sollte der Patient über die Rahmenbedingungen, den Zweck der Untersuchung sowie die Verwendung der Untersuchungsergebnisse informiert werden. Auch die Form, in der Patienten Rückmeldung über die Testergebnisse erhalten, sollte deutlich gemacht werden.
4.4.1 Anamnese und Fremdanamnese Als Anamnese wird die Aufnahme der subjektiven Angaben der untersuchten Person durch ein exploratives Gespräch bezeichnet. Ziel ist es, etwas über die Entstehung der Erkrankung und über die momentanen Probleme des Patienten zu erfahren. Dabei steht seine subjektive Sichtweise im Mittelpunkt. Damit auch eine möglichst objektive Einschätzung vorgenommen werden kann, sollte man nach Möglichkeit nicht nur den Patienten, sondern auch dessen Angehörige als Informationsquellen nutzen (Fremdanamnese).
48 Kapitel 4 · Der »kognitive Kern« der Neuropsychologie
4
Zunächst werden grundlegenden Informationen wie Name, Geburtsdatum, Schulabschluss, Berufsausbildung, Familienstand, Wohnsituation (alleine oder mit Eltern/Lebenspartner, Kinder) sowie die medizinische Diagnose und Medikation erfragt (soweit sie nicht bekannt sind). Es werden die zeitliche, örtliche und die Orientierung des Patienten überprüft. Weiterhin interessiert die subjektive Einschätzung seiner Probleme. Dabei ist es sinnvoll, sich an einem Leitfaden zu orientieren. Probleme mit Aufmerksamkeit und Konzentration, Gedächt-
nis, Handlungsplanung und -überwachung, Belastbarkeit, Stimmungsschwankungen und somatische Beschwerden sollten auf jeden Fall abgefragt werden. . Tab. 4.1 stellt Funktionsbereiche und mögliche Fragen bzw. kurze Testaufgaben zur Erfassung von Defiziten zusammen. Als Ergänzung zu den im Anamnesegespräch erhobenen Informationen kann der Fragebogen zur geistigen Leistungsfähigkeit der Gesellschaft für Neuropsychologie verwendet werden (erhältlich unter: htpp://www.gnp.de/arbeitskreise/aknppsychiatrie).
. Tab. 4.1. Funktionsbereiche, die im Anamnesegespräch bei psychiatrischen Patienten erfragt werden mit Beispielfragen. (Mod. nach Rüsseler 2009)
Funktionsbereich
Beispielfragen
Zeitliche und örtliche Orientierung
»Wo befinden Sie sich gerade?« »Warum sind Sie hier?« »In welcher Etage sind Sie hier?« »Welchen Wochentag/Monat/Jahreszeit/Jahr haben wir?« »Wieviel Uhr ist es ungefähr (beantworten, ohne auf die Uhr zu sehen)?«
Orientierung zur Person
»Wie heißen Sie?« »Wie alt sind Sie?«
Selektive Aufmerksamkeit
Nach Problemen in Situationen fragen, in denen man sich nur auf eine Tätigkeit konzentriert, z. B. fernsehen, Kreuzworträtsel lösen.
Geteilte Aufmerksamkeit
Nach Problemen fragen, die in Situationen auftreten, in denen man sich auf mehrere Dinge gleichzeitig konzentrieren muss wie beispielsweise beim Autofahren oder beim Kochen.
Daueraufmerksamkeit
Nach Problemen fragen, die in Situationen auftreten, die Konzentration über einen langen Zeitraum hinweg erfordern. »Wenn Sie einen Film im Fernsehen anschauen, können Sie dann die gesamte Handlung verfolgen?«
Altgedächtnis
Fragen nach wichtigen Ereignissen oder Persönlichkeiten aus der Vergangenheit. »Wer war Bundeskanzler bei der Wiedervereinigung Deutschlands?« Fragen nach wichtigen Ereignissen aus der Biografie des Patienten. »Können Sie sich noch an Ihren Hochzeitstag erinnern? Wie war das Wetter damals?« »Was geschah am 11.09.2001?«
Tag-zu-Tag Gedächtnis
»Können Sie sich noch daran erinnern, was Sie heute zu Mittag gegessen haben/was Sie heute Morgen in der Zeitung gelesen haben?«
Handlungsplanung
Patient wird gefragt, ob er beim Einkaufen immer alles kauft, was er kaufen wollte.
Handlungsüberwachung
Beobachten, ob Patient Fehler bei der Ausführung von Testaufgaben bemerkt und wie er darauf reagiert.
Entscheiden
Erfragen, ob Patient Schwierigkeiten beim Treffen von Entscheidungen im Alltag hat (»Es fällt mir schwer, die Vor- und Nachteile von Entscheidungen abzuwägen (z. B. bei finanziellen Entscheidungen).« »Wenn ich wichtige Entscheidungen treffen muss, schiebe ich das lange vor mir her.«)
Belastbarkeit
»Fühlen Sie sich nach kleineren Tätigkeiten erschöpft?«
Antrieb
»Kommen Sie morgens gut aus dem Bett? Haben Sie Lust, den Tag in Angriff zu nehmen?«
Stimmungsschwankungen 6
»Hat sich Ihre Stimmung im Vergleich zu früher verändert?«
49 4.4 · Die neuropsychologische Untersuchung
4
. Tab. 4.1 (Fortsetzung)
Funktionsbereich
Beispielfragen
Unkontrolliertes Weinen/ Lachen
»Kommt es vor, dass Sie bei ganz geringen Anlässen weinen/lachen müssen?«
Schlaf
»Können Sie gut einschlafen (durchschlafen; frühmorgendliches Erwachen)?« »Wie lange schlafen Sie durchschnittlich in einer Nacht?« »Empfinden Sie Ihren Schlaf als erholsam?«
Grübeln
»Drehen sich manchmal Ihre Gedanken im Kreis? Haben Sie dann Probleme, sich von den Gedanken zu lösen?«
Schwindel
»Ist Ihnen manchmal schwindelig?« Wenn das der Fall ist, sollte eine weitere, ggf. neurologische Abklärung erfolgen.
Kopfschmerz
Wenn vorhanden sollte nach Situationen gefragt werden, in denen Kopfschmerz auftritt, um eventuelle Muster erkennen zu können.
Zukunftspläne
Ziele und Pläne für die Zukunft erfragen.
Affekt (Depression, Angst)
Nach der allgemeinen Stimmung fragen. Erfragen, ob regelmäßig Angst in bestimmten Situationen auftritt. Erfragen, ob generell ein erhöhtes Angstniveau besteht.
Zwanghaftes Verhalten und Denken
Nach zwanghaften Verhaltensweisen und nach Zwangsgedanken fragen.
Psychotische Symptome
Nach akustischen und visuellen Halluzinationen und nach Wahnvorstellungen fragen (Verfolgungswahn, Verarmungswahn etc.).
Grundlagenbox
Bestandteil der neuropsychologischen Untersuchung sind: 4 Studium der Vorbefunde, 4 Entwicklung einer diagnostischen Fragestellung, 4 Anamnese und Exploration (ggf. Fremdanamnese), 4 (Planung und) Durchführung der neuropsychologischen (testpsychologischen) Untersuchung, 4 Erfassung von ggf. die Testdurchführung oder die Ergebnisse beeinflussenden Faktoren,
4.4.2 Die testpsychologische
Untersuchung Standardisierte psychometrische Tests sind der wichtigste Baustein einer Untersuchung der kognitiven Stärken und Schwächen einer Person. Eine umfassende testpsychologische Untersuchung sollte folgende Bereiche berücksichtigen (GNP 2005):
4 Verhaltensbeobachtung, 4 Feststellung von Aggravation (Übertreibung) und Simulation bei der neuropsychologischen Diagnostik, 4 Analyse und Interpretation der Untersuchungsergebnisse, 4 Dokumentation der Ergebnisse in Befundberichten oder Gutachten.
4 4 4 4
basale und höhere Wahrnehmungsleistungen, Aufmerksamkeitsleistungen, Gedächtnisfunktionen, Planungs- und Kontrollfunktionen (»Exekutive Funktionen«), 4 Sprache, 4 sensomotorische Leistungen und motorische Planung,
50 Kapitel 4 · Der »kognitive Kern« der Neuropsychologie
4 räumlich-perzeptive, -kognitive und -konstruktive Leistungen, 4 intellektuelles Niveau und Leistungsprofil, 4 Affektivität und Persönlichkeit.
4
Darüber hinaus sollten immer auch Tests durchgeführt werden, die mangelnde Anstrengung oder Symptomvortäuschung (Simulation) durch den Patienten aufdecken (z. B. Testbatterie zur Forensischen Neuropsychologie. Überblick bei: Blaskewitz u. Merten 2007; Larrabee 2007; Merten 2003; Rüsseler et al. 2008). Im psychiatrischen Kontext spielen die Aufmerksamkeit, Gedächtnisfunktionen sowie die exekutiven Hirnfunktionen eine hervorgehobene Rolle, da psychiatrische Patienten insbesondere in diesen Bereichen häufig Beeinträchtigungen aufweisen.
Fragebögen und Ratingskalen werden in der neuropsychologischen Diagnostik eingesetzt, um systematisch Selbsteinschätzungen des Patienten zu bestimmten Funktionsbereichen zu erfassen, und um systematische Beurteilungen des Funktionsniveaus des Patienten durch andere Personen zu erhalten (Fremdbeurteilung). Die Analyse der Übereinstimmung bzw. Nicht-Übereinstimmung zwischen der Selbstbeurteilung des Patienten und der Fremdeinschätzung kann wichtige Informationen bezüglich des Krankheitsbewusstseins des Patienten erbringen. Außerdem können durch die Fremdbeurteilung Aktivitäts- und Partizipationseinschränkungen objektiver erfasst werden. Bei der Auswahl der in einer testpsychologischen Untersuchung eingesetzten Verfahren ist darauf zu achten, dass sie reliabel und valide sind.
Grundlagenbox
Testinterpretation und Gütekriterien Die Interpretation eines Testwertes in einem psychometrischen Testverfahren wird immer in Relation zu den Ergebnissen einer Vergleichspopulation vorgenommen. Hierzu wird von den Autoren eine Normierung des Tests vorgenommen, über die im zugehörigen Testhandbuch berichtet wird. Es wird zunächst beurteilt, ob ein Testergebnis über- oder unterdurchschnittlich ausgefallen ist. Hierzu benötigt man den Mittelwert einer Normstichprobe. Soll in einem weiteren Schritt ausgesagt werden, ob ein Testergebnis sehr weit überoder unterdurchschnittlich ist, muss die Standardabweichung des Merkmals (ein Maß für die Streuung) in der Normstichprobe bekannt sein. Nun wird die Abweichung vom Mittelwert durch die Standardabweichung dividiert und ausgesagt, wie viele Standardabweichungen ein individuelles Testergebnis vom Mittelwert der Normpopulation abweicht. Weiterhin lässt sich der Prozentrang (PR) des Probanden angeben. Prozentränge sagen aus, wie viel Prozent der Personen einer Vergleichsstichprobe einen niedrigeren/höheren Testwert als der untersuchte Proband haben. Ein PR von 10 bedeutet bspw., dass 90% der Personen der Vergleichsstichprobe einen besseren Wert (eine bessere Leistung) erzielt haben als der Proband.
Die Güte bzw. Qualität eines Tests hängt von seinen psychometrischen Eigenschaften ab. Dazu gehören Objektivität, Reliabilität und Validität. Objektivität ist ein Maß für die Unabhängigkeit der Testdurchführung, -auswertung und -interpretation von der Person des Untersuchers. Gemessen wird die Objektivität, indem berechnet wird, inwieweit die Ergebnisse verschiedener Untersucher bzw. Auswerter übereinstimmen. Standardisierte Tests mit festgelegter Instruktion und klaren Richtlinien für die Testauswertung erfüllen in aller Regel das Objektivitätskriterium. Reliabilität beschreibt die Genauigkeit eines Tests und bezieht sich auf den unsystematischen Fehler. Ein Test ist dann zuverlässig, wenn eine Testperson immer wieder das gleiche Ergebnis erzielt (Retestreliabilität; Voraussetzung hierfür ist die zeitliche Stabilität des gemessenen Merkmals), oder wenn ein Proband in verschiedenen Testteilen ein gleiches Ergebnis bekommt (Testhalbierung, innere Konsistenz). Die Reliabilität lässt sich verbessern, indem man den Test verlängert, d. h. man fügt Items hinzu, die das gleiche messen. Die Validität macht eine Aussage darüber, wie gut der Test misst, was er vorgibt zu messen. Quantifiziert wird die Validität durch die Korrelation mit einem Außenkriterium. . Tab. 4.2 fasst die wichtigsten Gütekriterien zusammen.
51 4.4 · Die neuropsychologische Untersuchung
4
. Tab. 4.2. Gütekriterien psychometrischer Tests
Gütekriterium
Beschreibung
Objektivität
Unabhängigkeit des Tests vom Versuchsleiter
Durchführungsobjektivität
Standardisierung der Testdurchführung: Inwieweit wird der Test von unterschiedlichen Testleitern in derselben Art und Weise durchgeführt?
Auswertungsobjektivität
Standardisierung der Testauswertung: Kommen verschiedene Testauswerter bei Auswertung desselben Testprotokolls zum gleichen Ergebnis?
Interpretationsobjektivität
Übertragung des Ergebnisses auf eine vorher festgelegte Klassifizierung (z.B. Prozentränge).
Reliabilität
Maß für die Genauigkeit eines Tests.
Retestreliabilität
Inwieweit sind bei wiederholter Messung eines zeitstabilen Merkmals mit demselben Test die gleichen Ergebnisse zu erwarten?
Paralleltestreliabilität
Liegt eine zweite, gleich schwere Version des Tests vor, so gibt die Paralleltestreliabilität die Korrelation der beiden Tests an.
Testhalbierungsreliabilität
Der Test wird in zwei Hälften geteilt, deren Testwerte miteinander korreliert werden.
Validität
Wie gut misst der Test das Merkmal, das er zu messen vorgibt?
Augenscheinvalidität
Expertenurteil darüber, wie gut der Test geeignet ist, das interessierende Merkmal zu erfassen.
Vorhersagevalidität
Inwieweit lässt die Testleistung eine Vorhersage auf spätere Ergebnisse zu (Wird ein Bewerber mit einem hohen IQ auch gute Noten im Studium erreichen)?
Kriteriumsvalidität
Korrelation eines Tests mit einem Außenkriterium (Bsp: Korrelation des Frontallappenscores (FLS) mit beobachtbaren Schwierigkeiten beim Einkaufen im Supermarkt).
Konstruktvalidität
Das zugrunde liegende theoretische Konstrukt (z. B. geteilte Aufmerksamkeit) muss in den Testitems repräsentiert sein. Wird in der Regel durch hohe Korrelationen mit anderen Tests, die dasselbe Merkmal messen (konvergente Val.) und niedrige Korrelationen mit Tests, die ein anderes Merkmal messen, nachgewiesen (divergente Val.)
Des Weiteren sollten Vergleichswerte einer hinreichend großen Stichprobe vorliegen. Dabei ist insbesondere darauf zu achten, inwieweit die vorliegenden Vergleichswerte für den Probanden angemessen sind (bzgl. Alter, Bildungsstand, evtl. auch bzgl. Merkmalen der Erkrankung). Sind wiederholte Messungen geplant, so muss darauf geachtet werden, ob es parallele Testversionen gibt. Die relevanten Angaben sind jeweils den Testhandanweisungen zu entnehmen.
mögliche kognitive, emotionale und motivationale Störungen. Im Mittelpunkt der Verhaltensbeobachtung während der Testdurchführung stehen folgende Aspekte: 4 Instruktionsverständnis, 4 Entwicklung von Lösungswegen, 4 Aspekte der Handlungsplanung wie Zerlegung der Aufgabe in Teilziele oder die Aufteilung von größeren Informationsmengen in Kategorien, 4 die Umsetzung zielgerichteter Handlungsschritte, 4 Erkennen und Korrigieren von Fehlern.
4.4.3 Die Verhaltensbeobachtung Die Beobachtung des Patientenverhaltens während der Testdurchführung gibt wertvolle Hinweise auf
Die Verhaltensbeobachtung in der Testsituation kann durch Beobachtung des Patienten in Alltagssituationen, z. B. auf Station, ergänzt werden. Hier-
52 Kapitel 4 · Der »kognitive Kern« der Neuropsychologie
bei ist jedoch zu beachten, dass die in der Testsituation bestehende Standardisierung der Situation nicht gegeben ist, wodurch eine objektive Erfassung und die Vergleichbarkeit mit anderen Personen erschwert sind. Grundlagenbox
Um die Ergebnisse der kognitiven Statusdiagnostik bei psychiatrischen Patienten richtig einschätzen zu können ist es hilfreich, Informationen über ihre affektiven und motivationalen Probleme zu haben. Einige wichtige Verfahren hierzu werden vorgestellt.
Verhaltensbeobachtung
4
Die Beobachtung des Verhaltens des Patienten während der Untersuchung spielt eine wichtige Rolle. Dabei stehen vor allem Instruktionsverständnis, Aspekte der Handlungsplanung, Entwicklung von Lösungswegen und Umgang mit Fehlern im Vordergrund. Ergänzt werden sollte die Verhaltensbeobachtung in der Testsituation durch Beobachtung des Patientenverhaltens im Alltag bzw. auf Station. Darüber können auch Angehörige und Stationspersonal Auskunft geben.
4.5
Diagnostik unterschiedlicher Funktionsbereiche
Um kognitive Beeinträchtigungen zu erfassen werden neuropsychologische Untersuchungsverfahren eingesetzt. Diese Verfahren lassen sich in folgende Funktionsbereiche unterteilen: 4 Aufmerksamkeit, 4 Lernen und Gedächtnis, 4 Planungs- und Kontrollfunktionen (exekutive Funktionen), 4 andere kognitive Funktionen (grundlegende Wahrnehmungsleistungen, räumliche Leistungen, kommunikativer Aspekt der Sprache, allgemeines kognitives Leistungsniveau), 4 Affektivität und Persönlichkeit. Im Folgenden werden die wichtigsten Verfahren für diese Bereiche kurz vorgestellt. Dabei wird vor allem auf die im psychiatrischen Kontext besonders wichtigen Funktionen Aufmerksamkeit, Gedächtnis und exekutive Hirnfunktionen eingegangen. Ausführliche Darstellungen finden sich in Kompendien neuropsychologischer Diagnostik (Lezak et al. 2004; Schellig et al. 2009; Strauss et al. 2006).
4.5.1 Aufmerksamkeit Das Mehrkomponentenmodell der Aufmerksamkeit von Posner und Boies (1971; Weiterentwicklungen von Posner u. Rafal 1987; van Zomeren u. Brouwer 1994) unterteilt Aufmerksamkeit in verschiedene Teilkomponenten. Zunächst werden die beiden Dimensionen der Intensität und der Selektivität der Aufmerksamkeit unterschieden (. Tab. 4.3). Die Intensitätskomponente wird in Vigilanz, Daueraufmerksamkeit und Alertness (Aktivierung) unterteilt, während bei der Selektivitätskomponente zwischen fokussierter Aufmerksamkeit, geteilter Aufmerksamkeit und dem Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus unterschieden wird. Vigilanz bezeichnet einen Aktiviertheitsgrad, der den Organismus in die Lage versetzt, eine Veränderung in einer Reihe gleichförmiger Reize wahrzunehmen. Daueraufmerksamkeit wird von Vigilanz dadurch unterschieden, dass bei Ersterer die Anzahl der kritischen, zu beachtenden Reize hoch ist, während sie bei der Vigilanz (Wachheit) gering ist (1–2 pro min). Vigilanz ist bspw. bei der Qualitätskontrolle von Waren am Fließband relevant, wenn nur gelegentlich fehlerhafte Teile aussortiert werden müssen. Im Gegensatz dazu stellt die Tätigkeit eines Fluglotsen hohe Anforderungen an die Daueraufmerksamkeit, da er ständig die Punkte (Flugzeuge) auf seinem Monitor im Auge behalten muss, um Kollisionen zu vermeiden. Vigilanz und Daueraufmerksamkeit sind Leistungen, die über einen längeren Zeitraum hinweg erbracht werden müssen (in den meisten Testverfahren über min. 30 min). Diese Leistungen können starken Schwankungen unterliegen. Daher ist es sinnvoll, auch den Verlauf genauer zu betrachten. Hierzu kann beispielsweise die Anzahl nicht entdeckter Zielreize in 5-Minuten-Intervallen abgetragen werden. Aufmerksamkeitsaktivierung (Alertness) bezeichnet die allgemeine Reaktionsbereitschaft des
53 4.5 · Diagnostik unterschiedlicher Funktionsbereiche
4
. Tab. 4.3. Taxonomie von Komponenten der Aufmerksamkeit (nach Sturm u. Zimmermann 2004) und an den entsprechenden Funktionen maßgeblich beteiligte Hirnstrukturen.
Aufmerksamkeitsdimension
Aufmerksamkeitskomponente
Intensität
Vigilanz
Selektivität
Neuronales Netzwerk
Daueraufmerksamkeit
Kerngebiete des Thalamus, Gyrus cinguli
Aufmerksamkeits-aktivierung (Alertness, Wachsamkeit)
Formatio retikularis, vor allem noradrenerge Kerngebiete, rechtshemisphärischer präfrontaler und parietaler Kortex
Selektive (fokussierte) Aufmerksamkeit
Linkshemisphärischer frontaler Kortex, fronto-thalamische Verbindungen zum Ncl. reticularis
Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus
Parietaler Kortex, Colliculi superiores, Thalamus
Geteilte Aufmerksamkeit
Bilateraler frontaler Kortex, vorderes Cingulum
Organismus. Dabei wird zwischen phasischer (kurzfristige Steigerung der Aufmerksamkeit nach Präsentation eines Hinweisreizes, z. B. gelbes Licht bei einer Verkehrsampel, bevor sie auf grün springt) und tonischer Alertness unterschieden (schnelle Aufmerksamkeitsaktivierung ohne vorherigen Warnreiz). Selektive oder fokussierte Aufmerksamkeit ist die Fähigkeit, schnell und richtig auf relevante Reize zu reagieren und sich dabei nicht von irrelevanten Informationen oder durch Störreize ablenken zu lassen. Dies ist beispielsweise auf einer Cocktailparty mit vielen Gästen gefragt. Hier ist es uns normalerweise auch in einer großen Gruppe von Partygästen möglich einem Gespräch zu folgen, ohne durch die Gespräche anderer irritiert zu sein. Ein Wechsel des Aufmerksamkeitsschwerpunktes ist hierbei notwendig, wenn beispielsweise ein Gespräch in einer Dreiergruppe geführt wird und die Rolle des aktiven Sprechers von einem zum nächsten Sprecher wechselt. Geteilte Aufmerksamkeit schließlich bezeichnet die Fähigkeit, zwei oder mehrere Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen. Hierbei müssen die zur Verfügung stehenden Ressourcen auf mehrere Handlungen verteilt werden (Bsp.: Auto fahren und sich gleichzeitig mit dem Beifahrer unterhalten).
Grundlagenbox
Taxonomie der Aufmerksamkeit Es werden verschiedene Komponenten der Aufmerksamkeit unterschieden: 4 Vigilanz, 4 Daueraufmerksamkeit, 4 Alertness, 4 selektive Aufmerksamkeit. Diese Funktionen können unabhängig voneinander gestört sein. Unterschiedliche neuronale Netzwerke sind für die beschriebenen Aufmerksamkeitsfunktionen zuständig.
Die Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP; Zimmermann u. Fimm 1992) ist das im deutschen Sprachraum am weitesten verbreitete computergestützte Verfahren zur Erfassung der einzelnen Aufmerksamkeitskomponenten. Ihre 12 Einzeltests, die auch jeweils isoliert durchgeführt werden können, sind in . Tab. 4.4 beschrieben. Bei allen Untertests werden Aufgaben mit möglichst geringer Komplexität verwendet, wodurch eine Beeinträchtigung der Testleistung durch sensorische und/oder motorische Ausfälle, Gedächtnis-, Sprach- oder andere Störungen so weit wie möglich
54 Kapitel 4 · Der »kognitive Kern« der Neuropsychologie
. Tab. 4.4. Untertests der Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP). (Zimmermann u. Fimm 1992)
4
Subtest
Beschreibung
Alertness
Messung des allgemeinen Aktivierungsniveaus sowie der Fähigkeit zur kurzzeitigen Anhebung der Aufmerksamkeit durch einen vorangehenden akustischen Hinweisreiz. Die Reaktionszeit auf einen einfachen visuellen Reiz wird mit (phasische Alertness) oder ohne vorangehende Präsentation eines Warntons erfasst (tonische Alertness).
Arbeitsgedächtnis
Fähigkeit zur kontinuierlichen Kontrolle des Informationsflusses durch den Kurzzeitspeicher. Eine auf dem Monitor dargebotene Ziffer muss mit der jeweils 2 Durchgänge zuvor vorher dargebotenen Ziffer verglichen werden (»n-back-task«).
Augenbewegung
Fähigkeit, sakkadische Augenbewegungen durchzuführen und einen relevanten Ausschnitt des Gesichtsfeldes einer detaillierten Analyse zuzuführen.
Gesichtsfeld-/ Neglectprüfung
Grobes Scanning auf das Vorliegen von Gesichtsfeldausfällen. Diese müssen vor einer ausführlichen Untersuchung mit der TAP ausgeschlossen werden. Auf dem Bildschirm erscheinen rasch wechselnde Zahlen, die als flackernder Reiz wahrgenommen werden. Sie erscheinen an zufällig ausgewählten Positionen im gesamten Gesichtsfeld in zufälligen Zeitintervallen. Der Proband muss schnellstmöglich mit Tastendruck auf das Erscheinen der Zahl reagieren. Als Ergebnis erhält man eine grobe Kartierung der Zielreizentdeckungsgeschwindigkeit für das gesamte Gesichtsfeld.
Geteilte Aufmerksamkeit
Die geteilte Aufmerksamkeit wird durch zwei simultan zu bearbeitende Aufgaben geprüft (Doppelaufgabenparadigma; hier: gleichzeitige Bearbeitung einer visuellen und einer akustischen Aufgabe. Beide Aufgaben erfordern die Entdeckung eines Zielreizes, der zwischen Ablenkerreizen dargeboten wird.).
Go-/No-Go-Test -
Fähigkeit eine nicht adäquate Reaktion zu unterdrücken (vor allem nach frontalen Hirnschädigungen beeinträchtigt). Es werden2 bzw. 5 verschiedene Stimuli dargeboten, wobei auf 1 bzw. 2 kritische Reize reagiert werden muss, nicht jedoch auf die übrigen.
Inkompatibilität
Fokussierung der Aufmerksamkeit. Dabei ist insbesondere von Interesse, inwieweit irrelevante, automatisch verarbeitete Aspekte eines Reizes ignoriert werden können. Links oder rechts von einem zentralen Fixationspunkt wird ein Pfeil dargeboten, dessen Spitze nach links oder rechts zeigen kann. Die Probanden müssen schnellstmöglich mit der linken oder rechten Hand jeweils die Taste drücken, die der Seite entspricht, auf die die Pfeilspitze deutet; es ist also gefordert, den Präsentationsort zu ignorieren.
Intermodaler Vergleich
Integration von Informationen aus unterschiedlichen sensorischen Kanälen. Ein visueller und ein akustischer Reiz werden simultan präsentiert. Zielreiz ist die Übereinstimmung eines nach oben bzw. unten zeigenden Pfeiles mit einem hohen bzw. tiefen Ton. Auf diese Zielreize muss schnellstmöglich mit Tastendruck reagiert werden.
Reaktionswechsel
Schneller Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus. Simultan rechts und links vom Fixationspunkt werden konkurrierende Reize dargeboten (verbal: ein Buchstabe, eine Zahl; non-verbal: eine runde und eine eckige Form), wobei jeweils die Taste auf der Seite zu drücken ist, auf der sich der Zielreiz befindet. Er wechselt dabei von Durchgang zu Durchgang; in der verbalen Variante ist also in Durchgang 1 die Zahl der Zielreiz, in Durchgang 2 der Buchstabe, in Durchgang 3 wieder die Zahl usw.
Verdeckte Aufmerksamkeitsverschiebung
Rechts oder links vom Fixationspunkt wird kurzzeitig ein einfacher Reiz dargeboten, auf den schnellstmöglich mit Tastendruck reagiert werden muss. Vor Erscheinen des kritischen Reizes wird in der Bildschirmmitte ein Hinweisreiz dargeboten (Pfeil), der in 80% der Fälle auf die Seite deutet, auf der der kritische Reiz anschließend erscheint (valider Hinweisreiz). In 20% der Durchgänge deutet der Hinweispfeil jedoch auf die falsche Seite (invalider Hinweisreiz). Die zeitliche Differenz der Reaktionszeiten zwischen Durchgängen mit validem und mit invalidem Hinweisreiz wird als Zeitbedarf für die verdeckte Aufmerksamkeitsverschiebung angesehen. Die Augenbewegungen werden vom dem Probanden gegenüber sitzenden Versuchsleiter beobachtet; Durchgänge mit beobachtbaren offenen Augenbewegungen werden von der Auswertung ausgeschlossen.
6
55 4.5 · Diagnostik unterschiedlicher Funktionsbereiche
4
. Tab. 4.4 (Fortsetzung)
Subtest
Beschreibung
Vigilanztest
Es stehen verschiedene visuelle und akustische Verfahren zur Prüfung der Vigilanz in der TAP zur Verfügung, die das Erkennen eines selten dargebotenen Zielreizes (alle 1–2 min) unter Distraktoren über einen Zeitraum von 30 min erfordern.
Visuelles Scanning
Beim visuellen Scanning müssen kritische Reize in einer kurzzeitig gezeigten 5×5 Zeichen großen Matrix entdeckt werden. Damit wird die Fähigkeit geprüft, das Gesichtsfeld schnell abzusuchen.
ausgeschlossen wird. Bei den Tests handelt es sich um einfache Reaktionsparadigmen, bei denen selektiv auf gut unterscheidbare, meist sprachfreie Reize mit Tastendruck zu reagieren ist. Als Parameter zur Leistungsbeurteilung werden die Reaktionsgeschwindigkeit und die Anzahl der begangenen Fehler herangezogen. Die TAP stellt das Standardverfahren der Aufmerksamkeitsdiagnostik in Deutschland dar. Bei psychiatrischen Patienten sollten bei einer Untersuchung der Aufmerksamkeitsfunktionen mindestens folgende Untertests durchgeführt werden (Empfehlung des GNP-Arbeitskreises Neuropsychologie in der Psychiatrie): Vigilanz, Go/No-Go,
geteilte Aufmerksamkeit, Reaktionswechsel. Werden Auffälligkeiten in diesen Untertests gefunden, so sollte darüber nachgedacht werden, weitere TAPUntertests durchzuführen. Andere Verfahren zur Aufmerksamkeitsdiagnostik, wie beispielsweise die Testbatterie für Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsfunktionen (WAF; Sturm 2006) sind nach ähnlichen Prinzipien aufgebaut (. Tab. 4.5). Diese Verfahren sollten dann durchgeführt werden, wenn die TAP nicht verfügbar ist oder in der TAP für eine interessierende Population keine Vergleichswerte zur Verfügung stehen (wenn diese in dem gewählten Verfahren vorhanden sind).
. Tab. 4.5. Aufmerksamkeitskomponenten, Art der verwendeten Testaufgaben und häufig angewendete Testverfahren. (Nach Heubrock u. Petermann 2001; s. a. Schmidt-Atzert et al. 2008)
Aufmerksamkeitskomponente
Testaufgabe
Testverfahren
Tonische Alertness
Reaktionen auf einfache visuelle oder auditive Reize ohne vorherigen Warnreiz
Wiener Test System (WTS:RT; erhältlich bei http://www.schuhfried.at)
Daueraufmerksamkeit
Längerfristige, einfache Signalentdeckung, hohe Zielreizdichte
Konzentrations-Verlaufs-Test (KVT; Abels 1974) WTS: Daueraufmerksamkeit (DAUF)
Vigilanz
Längerfristige, einfache Signalentdeckung, geringe Zielreizdichte
WTS: Vigilanztest
Visuelle selektive Aufmerksamkeit
Rasche Auswahl auf Reiz- und/oder Reaktionsseite; Wahlreaktionsaufgaben
Alterskonzentrationstest (AKT; Gatterer 2007) Farbe-Wort-Interferenztest (FWIT; Bäumler 1985) Aufmerksamkeits-Belastungstest d2 (Brickenkamp 2002) Frankfurter Aufmerksamkeitsinventar (FAIR; Moosbrugger u. Oehlschlägel 1996) WTS: RT; Determinationstest (DT)
Geteilte visuelle Aufmerksamkeit
Doppelaufgaben: Verteilung der Aufmerksamkeitsressourcen auf mehrere Reizquellen
Trail Making Test (TMT) Paced Auditory Serial Addition Test (PASAT; Gronwall 1977)
56 Kapitel 4 · Der »kognitive Kern« der Neuropsychologie
Der »Fragebogen erlebter Defizite der Aufmerksamkeit« (FEDA; erhältlich über die Gesellschaft für Neuropsychologie) erfasst subjektive Erlebnisse defizitärer Aufmerksamkeitsfunktionen. Hier können eine Selbst- und eine Fremdbeurteilung durchgeführt werden. Grundlagenbox
4
Diagnostik von Aufmerksamkeitsfunktionen Die Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP) ist ein computergestütztes Verfahren, mit dem die einzelnen Komponenten der Aufmerksamkeitsfunktionen messbar sind. Bei Patienten mit psychiatrischen Störungen sollten mindestens die Untertests Vigilanz, Go/No-Go, geteilte Aufmerksamkeit und Reaktionswechsel durchgeführt werden. Daneben stehen viele weitere Tests zur Verfügung. Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit im Alltag können mit Selbst- bzw. Fremdbeurteilungs-verfahren erfasst werden.
4.5.2 Lernen und Gedächtnis In einer neuropsychologischen Untersuchung sollten die folgenden Gedächtnisfunktionen berücksichtigt werden (Arbeitskreis Aufmerksamkeit und Gedächtnis der Deutschen Gesellschaft für Neuropsychologie GNP): 4 Kurzzeitgedächtnis: Erfassung der verbalen und der visuell-räumlichen Gedächtnisspanne: unmittelbares, serielles Reproduzieren immer längerer Folgen von Einzelinformationen, um Aussagen über die Kapazität der modalitätsspezifischen Kurzzeitgedächtnissysteme zu machen (verbale bzw. visuell-räumliche Schleife, Baddeley 2000). 4 Aufnahme neuer Informationen ins Langzeitgedächtnis: Abruf neu erworbener Information unmittelbar nach Darbietung des verbalen und visuellen Testmaterials (Listen, Paarassoziationen, Text- und Bildinformationen). Freier Abruf, das Erinnern mit Hinweisreizen sowie das Wiedererkennen sollten geprüft werden.
4 Mittel- und längerfristiges Behalten neuer Informationen: Abruf neuer Informationen nach einem bestimmten Zeitintervall (mind. 30 min). 4 Semantisches und episodisches Altgedächtnis: Weltwissen, domänenspezifisches Wissen (Schule, Beruf, Hobbies) sowie das autobiografische Gedächtnis sind hier zu überprüfen. . Tab. 4.6 enthält eine Übersicht häufig verwendeter
Testverfahren zur Untersuchung der einzelnen Gedächtnisfunktionen. An vielen der o. g. Testverfahren wird kritisiert, dass ihre Alltagsrelevanz nicht ausreichend sei. Problematisch ist insbesondere, dass das vorausschauende (prospektive) Gedächtnis selten erfasst wird. Der Rivermead Behavioral Memory Test (RBMT; Wilson et al. 1992) versucht hier Abhilfe zu schaffen. Er erfasst vor allem alltagsrelevante Gedächtnisleistungen wie das Erinnern an eine Verabredung, das Merken eines Weges, die Rekognition von Bildern, sich merken, dass eine Nachricht zugestellt werden soll, Namen merken, Gesichtererkennung sowie die unmittelbare und die verzögerte Wiedergabe von Geschichten. Der Einsatz des RBMT ist vor allem bei Patienten mit schweren Gedächtnisstörungen sinnvoll, die bei psychiatrischen Patienten jedoch selten auftreten. Bei der Interpretation der Testergebnisse von Gedächtnistests ist zudem zu beachten, dass Lernen und Abruf hier meist in einer relativ störungsfreien »Laborumgebung« erfolgen, und dass das zu erinnernde Material wenig emotionale Relevanz für den Probanden hat. Im Alltag kommen solche Situationen jedoch selten vor. Einprägen emotional bedeutsamer Information unter Anwesenheit vieler Störreize ist im Alltag eher die Regel als die Ausnahme. Dies ist vor allem für Patienten mit affektiven Störungen problematisch. Bei ihnen ist dann häufig in der Testsituation eine normale Gedächtnisleistung zu beobachten, obwohl die Patienten von massiven Gedächtnisproblemen im Alltag berichten.
57 4.5 · Diagnostik unterschiedlicher Funktionsbereiche
. Tab. 4.6. Testverfahren zur Erfassung verschiedener Gedächtnisfunktionen.
Funktionsbereich
Tests
Kurzzeitgedächtnis Einfache Merkspannen
Zahlenspanne vorwärts (WMS-R: Wechsler-Gedächtnis-Test, revidierte Fassung, Härting et al. 2000; NAI: Nürnberger Altersinventar, Oswald u. Fleischmann 1997) Blockspanne vorwärts (WMS-R; Wiener Testsystem)
Arbeitsgedächtnis
Zahlenspanne rückwärts (WMS-R, NAI) Blockspanne rückwärts (WMS-R) Arbeitsgedächtnis (TAP)
Kurzzeitiges und mittel-/längerfristiges Behalten neuer Information Verbale Information
Wörter: Wortliste aus dem NAI Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest (VLMT, Helmstaedter et al. 2001) Verbaler Lerntest (VLT; Sturm u. Willmes 1999) Paarassoziationslernen: NAI Wortpaare, WMS-R: verbale Paarerkennung I, unmittelbar Sätze: Satznachsprechen aus dem NAI Texte: Logisches Gedächtnis I (unmittelbare Wiedergabe) und II (Wiedergabe nach 30 min) aus der WMS-R
Visuelle Information
Figuren: Figurentest (NAI), Nonverbaler Lerntest (NVLT; Sturm u. Willmes 1999); Visuelle Wiedergabe I und II aus der WMS-R Alltagsgegenstände: Bildertest (NAI) Rey-Figur (Rey 1959)
Implizites Gedächtnis Visuelle Information
Fragmentierter Bildertest (FBT; Kessler et al. 1993)
Altgedächtnis Semantisch
Allgemeines Wissen und Wortschatz-Test aus dem Wechsler-Intelligenz-Test für Erwachsene (WIE; Aster et al. 2006)
Episodisch
Im Rahmen der Exploration
Grundlagenbox
Diagnostik von Lernen und Gedächtnis Mindestens folgende Gedächtnisfunktionen werden bei einer neuropsychologischen Untersuchung berücksichtigt: 4 Kurzzeitgedächtnis: verbale und visuellräumliche Gedächtnisspanne, 4 Aufnahme neuer Informationen ins Langzeitgedächtnis, 4 Mittel- und längerfristiges Behalten neuer Informationen, 4 Semantisches und episodisches Altgedächtnis.
Ein Problem vieler Gedächtnistests ist die fehlende Alltagsrelevanz. Weiterhin problematisch im Kontext der Untersuchung psychiatrischer Patienten ist die weitgehende Emotionsfreiheit des Testmaterials. Auch die störungsarme Umgebung und die dyadische Untersuchungssituation sind Faktoren, die zu Diskrepanzen zwischen dem Testergebnis und dem im Alltag beobachtbaren Patientenverhalten führen können.
4
58 Kapitel 4 · Der »kognitive Kern« der Neuropsychologie
4
Zur Diagnostik von Demenzerkrankungen stehen spezielle Verfahren zur Verfügung, die auch eine Aussage zum Typ der Demenz ermöglichen (7 Kap. 18 »Neuropsychologie der Demenz« von Jahn, in diesem Band). Eine Demenzdiagnostik besteht aus mehreren Elementen: Anamnese, neurologische und neuroradiologische Untersuchung, labormedizinische Untersuchung und testpsychologische Untersuchung. Im Folgenden werden einige für die testpsychologische Untersuchung bei der Demenzdiagnostik geeignete Verfahren vorgestellt. Die psychometrischen Untersuchungsverfahren für die Demenzdiagnostik lassen sich in 3 Gruppen einteilen: 1. kurze Screeningverfahren, 2. speziell für die Demenzdiagnostik entwickelte Testbatterien, 3. psychometrische Tests, die aufgrund ihrer Altersnormen auch im gerontopsychologischen Bereich eingesetzt werden können (Überblick: Rösler et al. 2003). Screeningverfahren (Mini Mental Status Test MMST bzw. Mini Mental Status Examination MMSE, Folstein et al. 1975; Uhrentest, Shulman 2000; DemTect, Kessler et al. 2000) sind einfach und schnell durchzuführen. Sie weisen jedoch erhebliche Mängel auf (mangelnde Sensitivität für leichte kognitive Defizite; häufig falsch-negative Diagnosen bei Personen mit hohem Bildungsstand; häufig falsch-positive Diagnosen bei Menschen mit niedrigem Ausbildungsniveau). Aufgrund der geringen Itemzahl ermöglichen Screeningverfahren keine differenzierte Betrachtung der kognitiven Leistungsfähigkeit. Testbatterien zur Demenzdiagnostik erfassen die bei Demenzen im Vordergrund stehenden kognitiven Symptome, also Gedächtnis, Sprache, örtliche und zeitliche Orientierung, Visuokonstruktion etc. Einige Verfahren ermöglichen zudem eine Differenzialdiagnose der Demenzform. Häufig verwendet werden: 4 ADAS (Alzheimer Disease Assessment Scale; Rosen et al. 1993), 4 CERAD (Consortium to Establish a Registry for Alzheimer’s Disease; dt. Version: http://www. memoryclinic.ch/tests; entwickelt an der Universität Basel),
4 SIDAM (Strukturiertes Interview für die Diagnose einer Demenz; Zaudig et al. 1990), 4 NAI (Nürnberger Altersinventar; Oswald u. Fleischmann 1997). Zur Abgrenzung der Demenz von einer depressiven Erkrankung bzw. um festzustellen, ob neben der Demenz auch depressive Symptome auftreten, sind Selbsteinschätzungsverfahren wie das BDI (Beck Depressions Inventar; BDI-II: Hautzinger et al. 2006) oder die GDS (Geriatric Depression Scale; Sheikh u. Yesevage 1986) sowie Fremdbeurteilungsskalen wie die HAMD (Hamilton Depression Scale; Hamilton 1995) geeignet. Es sind einige Skalen entwickelt worden, mit deren Hilfe das Ausmaß der Probleme eingeschätzt werden kann, die Demenzpatienten im Alltag haben. Diese Skalen können sinnvoll zur Ergänzung der Verhaltensbeobachtung und der Fremdanamnese eingesetzt werden (ADCS-ADL, Alzheimer’s Disease Cooperative Study Activities of Daily Living, Galasko et al. 1997; B-ADL, Bayer-Skala zur Einschätzung der Alltagskompetenz).
4.5.3 Exekutive Hirnfunktionen
(»Planen und Handeln«) Nach Matthes-von Cramon und von Cramon (2000) zählen die folgenden 7 Funktionen zu den exekutiven Funktionen: 1. Bildung und Auswahl von Handlungszielen, 2. Vorausschauendes Denken, 3. Abwägen der Vor- und Nachteile von Handlungsalternativen, 4. Planen, 5. Zielgerichtetes Durchführen von Handlungen, 6. Interne Überwachung und Steuerung einzelner Handlungsschritte, 7. Bewertung des Erreichten. In einer umfassenden neuropsychologischen Untersuchung werden diese Bereiche üblicherweise mit mehreren Testverfahren untersucht (. Tab. 4.7). Besonders relevant sind diese Funktionsbereiche bei Schizophrenie, schizoaffektiven, bipolaren affektiven und rezidivierenden depressiven Störungen, Suchterkrankungen, Demenzen sowie anderen hirn-
59 4.5 · Diagnostik unterschiedlicher Funktionsbereiche
4
. Tab. 4.7. Häufig in der Untersuchung von Patienten mit exekutiven Funktionsstörungen verwendete Testverfahren
Testverfahren
Untersuchte Funktion
Untertest Arbeitsgedächtnis aus der TAP (Zimmermann u. Fimm 1992)
Arbeitsgedächtnis
Farb-Wort-Interferenz-Test (FWIT)
Kognitive Flexibilität
TAP: Go/No-Go, TAP: Inkompatibilität, TAP: Reaktionswechsel
Initiierung und Kontrolle von Handlungen, Interferenzkontrolle
Trail Making Test (TMT, Reitan 1979)
Inhibition, Flexibilität, Aufmerksamkeitssteuerung
Regensburger Wortflüssigkeitstest (RWT, Aschenbrenner et al. 2001)
Kognitive Flexibilität
Design Fluency Test (Ruff Figural Fluency Test, RFFT; Ruff 1988)
Formal-lexikalische und semantische Flüssigkeit
Mosaik-Test aus dem WIE (insbesondere interessant ist die Verhaltensbeobachtung)
Visuokonstruktion, Problemlösen
Turm von Hanoi/Tower of London Test (verschiedene Versionen erhältlich, z. B. im Rahmen der Burgauer Exekutive Tests, http://www.psydat.de)
Problemlösen
Planungstest (Kohler; erhältlich unter: http://www.planungstest.de)
Planungsfähigkeit
Testbatterie »Behavioral Assessment of the Dysexecutive Syndrome« (BADS, Wilson et al. 1996)
Exekutive Funktionen allgemein
Frontal-Lappen-Score (FLS; Ettlin et al. 2000)
Exekutive Funktionen allgemein
organischen Psychosyndromen, da sie bei den betroffenen Patienten häufig beeinträchtigt sind. Eine besondere Rolle spielen auch Gespräche mit den Angehörigen (Fremdanamnese) sowie Fragebögen und Skalen zur Selbst- und Fremdbeurteilung (Gauggel 2001; Gauggel et al. 1998). Diese sind von Bedeutung, da Patienten mit exekutiven Störungen in der ruhigen, fokussierten diagnostischen Situation häufig unauffällig sind, obwohl sie von massiven Beeinträchtigungen im Alltag berichten. Beispiele für geeignete Verfahren sind die Frontal System Behavior Scale (Grace u. Mallory 2002) und das Behavior Rating Inventory of Executive Function (BRIEF; Goia et al. 2000). Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass viele der o. g. Tests exekutiver Funktionen nur bedingt dazu geeignet sind, Verhalten in realen Lebenssituationen vorherzusagen. Die ökologische Validität vieler Tests exekutiver Hirnfunktionen scheint unbefriedigend zu sein. Der wichtigste Grund dafür ist vermutlich die artifizielle testpsy-
chologische Untersuchungssituation: Es gibt eine klar definierte Aufgabe, die Untersuchung findet in einem leisen, von externen Störungen abgeschirmten Raum statt, es sind nur zwei Gesprächspartner vorhanden etc. (Manchester et al. 2004). Als Alternative zu den oben genannten Verfahren stehen standardisierte oder halbstandardisierte Verhaltensbeobachtungen zur Verfügung. Beispielsweise kann man einen Patienten dabei beobachten, wie er in einem Supermarkt Waren einkauft. Hier kann die Systematik des Weges, Suchverhalten, Vollständigkeit der Besorgung, Verhalten bei nicht Finden einzelner Artikel (Suche nach Personal; Fragen, wo ein Artikel sich befindet; Nachdenken und Suchen von Alternativen etc.) festgehalten werden. Derartige alltagsnahe Tests können auch für die Therapieevaluation genutzt werden (Sunderland et al. 2006). Zu beachten ist jedoch, dass die bei der Standardisierung und Normierung derartiger Testverfahren auftretenden Probleme noch nicht vollständig gelöst sind.
60 Kapitel 4 · Der »kognitive Kern« der Neuropsychologie
Grundlagenbox
Exekutive Hirnfunktionen
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Zu den exekutiven Funktionen zählen 4 Bildung und Auswahl von Handlungszielen, 4 Vorausschauendes Denken, 4 Abwägen der Vor- und Nachteile von Handlungsalternativen, 4 Planen, 4 Zielgerichtetes Durchführen von Handlungen, 4 Interne Überwachung und Steuerung einzelner Handlungsschritte, 4 Bewertung des Erreichten. Diese Funktionen sind häufig bei Patienten mit depressiven Störungen und bei Schizophrenie beeinträchtigt.
4.5.4 Andere kognitive Funktions-
bereiche Die neuropsychologische Untersuchung psychiatrischer Patienten sollte sich vor allem auf die Funktionsbereiche Aufmerksamkeit, Gedächtnis und exekutive Hirnfunktionen konzentrieren, da diese am häufigsten beeinträchtigt sind. In vielen Fällen erscheint es jedoch sinnvoll, auch andere Funktionen wie grundlegende Wahrnehmungsleistungen, räumliche Wahrnehmung, kommunikative Aspekte der Sprache sowie das allgemeine intellektuelle Leistungsniveau zu erfassen. Im Folgenden wird kurz auf einige Standardverfahren aus diesen Bereichen eingegangen.
Räumliche Wahrnehmungsleistungen Grundlegende Wahrnehmungsleistungen sollten überprüft werden, wenn Zweifel daran bestehen, dass die Voraussetzungen für die Durchführung weiterer Testverfahren, die intakte visuelle oder auditive Wahrnehmung voraussetzen, gegeben sind. In der visuellen Modalität stehen hierzu mehrere Verfahren in der Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP) zur Verfügung. Mit dem Untertest Gesichtsfeld/Neglectprüfung kann beispielsweise untersucht werden, ob eine Vernachlässigungs-
symptomatik vorliegt. Bei entsprechendem Verdacht sollte auch das Vorliegen einer Agnosie geprüft werden (mit Tests, die das Erkennen von Objekten oder Gesichtern erfassen). Analog wird auch die auditive Modalität auf verschiedenen Stufen überprüft (Hörleistung; Erkennung vertrauter Geräusche; Fähigkeit, gesprochene Sprache von nichtsprachlichen auditiven Reizen zu unterscheiden). Räumliche Wahrnehmungsleistungen können in 4 Bereiche unterteilt werden: 1. räumlich-perzeptive Leistungen (Raumwahrnehmung, z. B. Orientierung im Raum, Abschätzung des Raumes innerhalb und zwischen Objekten), 2. räumlich-kognitive Leistungen (mentale Manipulation eines Reizes nach räumlichen Aspekten, z. B. mentale Rotation, mentaler Perspektivenwechsel), 3. räumlich-konstruktive Leistungen (manuelle Konstruktion eines Objektes, z. B. freies Zeichnen, Abzeichnen, Konstruieren einer Gesamtfigur aus Einzelteilen), 4. räumlich-topografische Leistungen (Bestimmung der Position des eigenen Körpers im Raum; mentale Repräsentation eines größeren Raumes; »kognitive Landkarten«). Für die Diagnostik können Subtests aus Intelligenzmessverfahren verwendet werden (IntelligenzStruktur-Test IST-70 von Amthauer 1973; Leistungsprüfsystem LPS, Horn 1983; Wechsler-Intelligenz-Test für Erwachsene WIE, Aster et al. 2006). Als Beispiele seien die Untertests »Mosaiktest« und »Figurenlegen« aus dem WIE genannt. Beim Mosaiktest muss das Muster auf einer Vorlage mit farbigen Würfeln nachgebaut werden, beim Figurenlegen muss eine größere Figur aus ihren Einzelteilen erkannt und zusammengelegt werden. Beide Testverfahren erfordern ein möglichst schnelles Arbeiten und sind insbesondere gut dafür geeignet, die Anwendung von Strategien zu beobachten. Weiterhin existieren eine Reihe spezieller Verfahren, die die Differenzierung unterschiedlicher Aspekte der räumlichen Wahrnehmungsleistungen erlauben. Zur Untersuchung räumlich-perzeptiver und räumlich-kognitiver Leistungen kann die
61 4.5 · Diagnostik unterschiedlicher Funktionsbereiche
Birmingham Object Recognition Battery (BORB, Riddoch u. Humphreys 1993) verwendet werden. Hier werden vier elementare räumliche Leistungen erfasst (Linienorientierung, Längen-, Größen- und Positionsschätzung). Die Visual Object and Space Perception Battery (VOSP; Warrington u. James 1991) besteht aus einem Screening-Test und acht normierten Einzeltests, die auch einzeln durchgeführt werden können und verschiedene Aspekte der Objekt- und Raumwahrnehmung erfassen (unvollständige Buchstaben, Silhouetten, Objekterkennung, zunehmende Silhouetten, Punkte zählen, Positionen unterscheiden, Zahlen lokalisieren, Würfelanzahl lokalisieren). Mit dem Programm VS-Win (erhältlich bei: www.medicalcomputing.de) können folgende Funktionen erfasst werden: subjektive visuelle Vertikale und Horizontale, Orientierungsschätzung, Längen- und Distanzschätzung, Formschätzung Rechteck und Ellipse, Größenschätzung Quadrat und Kreis, Linienhalbierung, Abstandshalbierung, Positionsschätzung. Zur Fremdbeobachtung und zur qualitativen Erfassung der Alltagsprobleme von Personen mit Neglect eignet sich der Beobachtungsbogen für räumliche Störungen (BRS; Neumann et al. 2007). Räumlich-konstruktive Leistungen werden meist durch Zeichenaufgaben erfasst (freies Zeichnen eines Hauses, einer Uhr, einer Blume, eines Fahrrades; Abzeichnen eines Hauses, siehe Grossmann 1988).
Sprache Aphasische Störungen kommen bei psychiatrischen Patienten in der Regel nicht vor. Häufig sind jedoch Kommunikationsstörungen, d. h. Probleme in der korrekten Ausführung sprachlicher Handlungen im jeweiligen Kontext. Die kommunikative Effizienz zweier Kommunikationspartner ist das Ergebnis ihrer gegenseitigen Anpassung und Koordination, z. B. beim Sprecherwechsel. Bei psychiatrischen Patienten sind häufig Probleme bei derartigen Prozessen feststellbar. Auch das Herstellen und Verstehen von Referenzbezügen fällt gelegentlich schwer (vor allem bei Patienten mit Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis). Eine systematische Erfassung derartiger Kommunikationsstörungen ist beispielsweise mithilfe der Tangram-Figuren möglich (Bongartz 1998). Dabei legt einer der Teilnehmer abstrakte Tangram-Figuren in eine Ordnung, die
4
nur ihm bekannt ist. Der Kommunikationspartner hat, durch eine Sichtblende getrennt, dieselben Figuren vor sich liegen. Die Testperson hat nun die Aufgabe, dem Partner die Figuren in der gelegten Reihenfolge so zu erklären, dass dieser sie identifizieren und in der gleichen Reihenfolge anordnen kann. Die Sprachschwierigkeiten können dann mithilfe einer Konversationsanalyse detailliert beschrieben werden (Bongartz 1998). Mit dem Amsterdam-Nijmegen Everyday Language Test (ANELT; Blomert u. Buslach 1994) wird untersucht, wie Personen alltägliche Probleme, wie beispielsweise das Aussprechen von Einladungen, sprachlich lösen.
Intelligenz Im Rahmen einer ausführlichen neuropsychologischen Untersuchung wird auch das allgemeine intellektuelle Leistungsniveau erfasst. Hierzu kommen Intelligenztests zum Einsatz, die eine besonders gute Differenzierung im unteren Fähigkeitsbereich aufweisen. Der am häufigsten im klinischen Bereich eingesetzte Intelligenztest ist der WechslerTest (WIE, Aster et al. 2006 und sein Vorgänger, HAWIE-R, Tewes 1991). Der Vorteil einer umfassenden Intelligenzprüfung mit dem WIE liegt darin, dass man mit Hilfe der 14 Subtests (Verbalteil: Wortschatz-Test, Gemeinsamkeiten finden, rechnerisches Denken, Zahlen nachsprechen, allgemeines Wissen, allgemeines Verständnis, Buchstaben-Zahlen-Folgen; Handlungsteil: Bilder ergänzen, Zahlen-Symbol-Test, Mosaik-Test, Matrizen-Test, Bilder ordnen, Symbolsuche, Figuren legen) einen guten Überblick über Stärken und Schwächen des Probanden bekommt. Insbesondere lassen sich getrennte IQ-Werte für die verbale Intelligenz und für die Handlungsintelligenz berechnen. Weitere nützliche Kennwerte können für folgende Funktionsbereiche berechnet werden: Arbeitsgedächtnis, -geschwindigkeit, sprachliches Verständnis, Wahrnehmungsorganisation. Nachteilig ist die lange Testdurchführungsdauer (ca. 90–120 min, nur in Einzeltestung möglich). Sprachfreie Intelligenztests wie der Culture Fair Test (CFT-20, Weiss 1998) sind besonders für Patienten mit Störungen im Bereich der Sprachfunktionen oder für Patienten geeignet, die der deutschen Sprache nicht vollständig mächtig sind.
62 Kapitel 4 · Der »kognitive Kern« der Neuropsychologie
4.5.5 Affektivität und Persönlichkeit
Grundlagenbox
Diagnostik weiterer kognitiver Funktionsbereiche
4
Neben der Untersuchung von Aufmerksamkeit, Gedächtnis und exekutiven Hirnfunktionen kann es sinnvoll sein, weitere kognitive Funktionen zu untersuchen. Dabei sind zunächst grundlegende Wahrnehmungsfähigkeiten sowie räumliche Fähigkeiten zu nennen. Sprachstörungen kommen bei psychiatrischen Patienten vor allem in Form kommunikativer Probleme vor. Diese können beispielsweise im Rahmen einer Konversationsanalyse systematisch erfasst werden. Für die Einschätzung des allgemeinen intellektuellen Leistungsniveaus eignen sich Intelligenztests.
Affektive Störungen können die kognitiven Leistungen auf vielfältige Weise beeinträchtigen. Daher ist es in der neuropsychologischen Untersuchung notwendig, Angaben zu emotionalen Problemen des Patienten zu berücksichtigen. Sollten diese im psychiatrischen Kontext nicht ohnehin bereits vorliegen, sollten aus dem Anamnesegespräch relevante Bereiche identifiziert werden, die dann mithilfe von Fragebogenverfahren weiter untersucht werden. . Tab. 4.8 führt einige häufig im neuropsychologischen Untersuchungskontext angewendete Verfahren zur Diagnostik von affektiven Störungen, Sucht und Persönlichkeitseigenschaften auf.
. Tab. 4.8. Auswahl von im neuropsychologischen Untersuchungskontext verwendeten Verfahren zur Diagnostik von affektiven Störungen und Persönlichkeitseigenschaften.
Name des Verfahrens
Beschreibung
Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV (Wittchen et al. 1997)
Halbstrukturiertes Interview zur Erfassung von Achse-I und Achse-II- Störungen nach den Kriterien des DSM-IV.
Symptom-Checkliste SCL-90 R (dt.: Franke 2002)
Selbstbeurteilungsbogen zur Erfassung subjektiv empfundener körperlicher und psychischer Beschwerden.
Screening für Somatoforme Störungen (SOMS; Rief u. Hiller 2008)
Screening zur Erfassung körperlicher Beschwerden, die nicht auf eine organische Ursache zurückführbar sind. Statusdiagnostik und Veränderungsmessung sind getrennt möglich und normiert.
Freiburger Beschwerdenliste (FBL; Fahrenberg 1994); Giessener Beschwerdebogen (GBB-24; Brähler u. Scheer 1995)
Selbst- und Fremdbeobachtungsbögen, die sich auf die Erfassung von körperlichen und psychosomatischen Beschwerden konzentrieren.
Beck Depressions-Inventar (BDI-II; Hautzinger et al. 2006)
Selbstbeurteilungsverfahren zum Screening für das Vorliegen einer Depression. 21 Items, die kognitive (z. B. Versagensgefühle), verhaltensmäßige (z. B. sozialer Rückzug), affektive (z. B. Traurigkeit) und somatische (z. B. Appetitverlust) Komponenten der Depression messen.
Allgemeine Depressionsskala (ADS; Hautzinger u. Bailer 1993)
Selbstbeurteilungsverfahren, welches Vorhandensein und Dauer der Beeinträchtigung durch depressive Affekte, körperliche Beschwerden, motorische Hemmung und negative Denkmuster erfragt.
Depressivitäts-Skala (D-S; von Zerssen 1976)
Aus 16 Items bestehendes Selbstbeurteilungsverfahren zur Erfassung von depressiver, ängstlicher und reizbarer Verstimmung.
Hamburger Zwangsinventar (HZI; Zaworka et al. 1983) 6
Selbstbeurteilungsverfahren bestehend aus 6 sich auf spezielle Zwänge beziehenden Subskalen (Bsp.: Kontrollhandlungen, Waschen, Ordnen, zwanghafte Vorstellungen).
63 4.5 · Diagnostik unterschiedlicher Funktionsbereiche
. Tab. 4.8 (Fortsetzung)
Name des Verfahrens
Beschreibung
Eppendorfer Schizophrenie Inventar (ESI; Maß 2001)
Quantitative Erfassung subjektiver kognitiver Dysfunktionen, die charakteristisch sind für schizophrene Patienten. Geeignet für Differenzialdiagnostik, Früherkennung, Verlaufsbeschreibung. Selbstbeurteilungsverfahren.
Münchner Alkoholismus-Test (MALT; Feuerlein et al. 1999)
Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren zur Diagnose alkoholgefährdeter Personen.
Panik- und Agoraphobie-Skala (PAS; Bandelow 1997)
Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren. Umfasst die Bereiche Panikattacken, agoraphobe Vermeidung, antizipatorische Angst, Einschränkung im täglichen Leben und Gesundheitssorgen.
State-Trait -Angstinventar (STAI; Laux et al. 1981)
Selbstbeurteilungsverfahren, das Angst als zeitstabile Persönlichkeitseigenschaft (trait) und als aktuellen Zustand (state) unterscheidet.
Trierer Inventar zum chronischen Stress (TICS; Schulz et al. 2004)
Selbstbeurteilungsverfahren. Erfasst chronischen Stress in 10 Dimensionen.
Fragebogen zur sozialen Unterstützung (F-SozU; Fydrich et al. 2007)
Selbstbeurteilungsverfahren. Erfasst mit 54 Items emotionale und praktische Unterstützung, soziale Integration, Belastung aus dem sozialen Netzwerk, Reziprozität, Verfügbarkeit einer Vertrauensperson sowie Zufriedenheit mit sozialer Unterstützung.
Fazit Neuropsychologische Diagnostik erlaubt es dem Kliniker, ein umfassendes Bild der kognitiven Stärken und Schwächen eines Patienten zu bekommen, die in der Therapie mitberücksichtigt werden müssen. Darüber hinaus ist zu beachten, dass kognitive Symptome häufig über die eigentliche psychopathologische Symptomatik hinaus bestehen bleiben und einer gesonderten (ggf. ambulanten) Therapie bedürfen, um den Patienten die Integration in den Alltag zu erleichtern. Dies ist insbesondere für die Wiederherstellung der Berufsfähigkeit und die Reintegration in das Arbeitsleben von großer Bedeutung. Schwerpunkt der neuropsychologischen Diagnostik ist die Erfassung höherer kognitiver Funktionen wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, exekutive Funktionen, Sprache oder räumlich-konstruktive Leistungen, während emotionale und motivationale Vorgänge tendenziell den Schwerpunkt der klinisch-psychologischen und der psychiatrischen Diagnostik bilden. Kognitive Funktionen und motivationale sowie emo6
tionale Prozesse sind jedoch nur schwer voneinander zu trennen, sie stehen vielmehr in enger Interaktion miteinander. Die allgemeinpsychologische Grundlagenforschung hat viele emotionale Einflüsse auf menschliche Informationsverarbeitungsprozesse aufgedeckt. So engt beispielsweise extreme Angst die Aufmerksamkeit ein und fokussiert diese auf die Gefahrenquelle. Die Handlungsüberwachung und das Verarbeiten von Fehlern sind bei gesunden Personen von der aktuellen Stimmungslage beeinflusst (Wiswede et al. 2009). Patienten mit Zwangsstörungen (Endrass et al. 2008; Nieuwenhuis et al. 2005) Angststörungen (Hajcak et al. 2003; Olvet u. Hajcak 2008) oder Schizophrenie (Mathalon et al. 2009) haben große Probleme mit der Verarbeitung von Handlungsfehlern. Es ist daher davon auszugehen, dass affektive Störungen kognitive Prozesse beeinflussen und dass auch umgekehrt kognitive Störungen Auswirkungen auf die Affektivität haben. Bei psychischen Erkrankungen können weitreichende Störungen von Kognition, Emotion und
4
64 Kapitel 4 · Der »kognitive Kern« der Neuropsychologie
Motivation gemeinsam auftreten (7 Kap. 5 »Neuropsychologie der Motivation« von Gauggel, in diesem Band). Länger anhaltende emotionale Zustände beeinflussen selektiv die Kognitionen. So werden beispielsweise im Falle depressiver Verstimmungen negative Aspekte verstärkt wahrgenommen. Depressive Verstimmungen gehen zudem mit einer reduzierten Konzentrationsund Aufmerksamkeitsleistung einher, während in manischen Episoden verstärkte Ablenkbarkeit, Ideenflucht und reduzierte Kritikfähigkeit kennzeichnend sind (7 Kap. 11 »Neuropsychologie affektiver Störungen« von Beblo, in diesem Band). Zudem scheinen Störungen kognitiver Funktionen häufig der Manifestation psychischer Störungen voranzugehen. Dies ist z. B. bei Schizophrenien, affektiven oder somatoformen Störungen beobachtet worden. Schizophrene Patienten haben bspw. Schwierigkeiten, einen Aufmerk-
4
4.6
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samkeitsfokus zu bilden und irrelevante Reize und Unterbrechungen abzuwehren. Auch emotionale Reaktionen werden ständig unterbrochen und fallen entsprechend flüchtig und unkonzentriert aus. So bilden Schwierigkeiten im Bereich der Aufmerksamkeit gleichermaßen die Grundlage für affektive Probleme (Affektverflachung) wie für Schwierigkeiten bei höheren Denkprozessen (7 Kap. 17 »Neuropsychologie der Schizophrenie« von Lautenbacher und Kunz, in diesem Band). Die enge Verzahnung von emotionalen und kognitiven Prozessen führt dazu, dass sich Emotion und Kognition nicht voneinander trennen lassen. Die Untersuchung der kognitiven Probleme psychiatrischer Patienten kann dazu beitragen, diese Interaktionen besser zu verstehen. Auf diese Weise trägt neuropsychologische Diagnostik zu einem umfassenderen Verständnis psychiatrischer Erkrankungen bei.
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5 5 Neuropsychologie der Motivation Siegfried Gauggel
5.1
Historisches
5.2
Störungen der Motivation bei verschiedenen Krankheitsbildern – 69
5.3
Apathiesyndrom – Eine schwere Störung der Motivation
5.4
Differenzialdiagnose der Apathie – 72
5.5
Verfahren zur Diagnostik von Motivationsstörungen
5.6
Fremd- und Selbstbeurteilungsverfahren – 74
5.7
Andere Verfahren zur Erfassung von Motivationsstörungen
5.8
Funktionelle Neuroanatomie der Motivation
5.9
Therapeutische Interventionen bei Motivationsstörungen
5.10 Fazit
– 68
– 86
5.11 Literatur
– 87
– 71
– 73
– 78
– 81 – 85
68 Kapitel 5 · Neuropsychologie der Motivation
5
Theils der Ausgänge der zuletzt betrachteten Form, theils ohne dass die lautere und agitiertere Aeusserungsweise des Blödsinns vorausgegangen wäre, kommen als äusserste Grade psychischer Verkommenheit noch tiefere und ausgebreitetere Zustände von Seelen-Lähmung vor. Die Unfähigkeit, mehrere Vorstellungen zusammen zu fassen und zu vergleichen, nimmt hier immer mehr zu, und an die Stelle der bei den vorigen Formen noch möglichen Mannigfaltigkeit abrupter, unzusammenhängender Vorstellungen tritt allmählig eine fast gänzliche Abwesenheit von Bildern und Gedanken. Die Sinneseindrücke werden nicht mehr verarbeitet, es wird nichts weiter mehr aus ihnen gebildet; das Gedächtnis ist beinahe vollständig erloschen, so dass nicht nur von einem Augenblicke zum andern Alles vergessen wird, sondern auch aus dem früheren Leben der eigenen Person fast keine Erinnerung geblieben ist. Auch die Sprache ist oft zum grössten Theile vergessen, so dass die Kranken im besten Falle nicht einige geläufige, höchst beschränkte Ausdrücke halb zweckmässig anbringen können, häufiger die zurückgebliebenen Worte nur ganz automatisch wiederholen, oder, des Wortes selbst gar nicht mehr mächtig, nur noch Bruchstücke früher gewohnter Laute hervorbringen. Mit diesem höchsten Grade von Stumpfheit der Phantasie und dieser Nullität der Intelligenz geht gleichen Schritt die tiefste Schwäche des Willens. Nichts mehr kann der Kranke aus eigenem Antrieb thun, er muss sich vielmehr völlig passiv durch fremde Impulse, kaum noch durch Reste früherer Gewohnheiten bestimmen lassen; oft ist er nicht mehr fähig, für seine einfachsten Bedürfnisse zu sorgen, er muss gefüttert werden; verirrt sich jeden Augenblick in seinem eigenen Zimmer und seine Unkenntniss jeder Gefahr legt Anderen die Pflicht auf, ihn vor Unglücksfällen zu bewahren. Sein Benehmen ist unverändert, gleichförmig, bald scheinbar in sich gekehrt, schüchtern, träge, lautlos und bewegungslos, bald werden automatische Bewegungen, Hin- und Herwiegen des Körpers, Händereiben, Murmeln, Lallen etc. ohne Sinn und Zweck ausgeführt. Diese Geberden sind leblos, die Gesichtszüge ganz erschlafft, oder staunend, oder ohne Motiv scheinbar aufmerksam, und das leere Hinstarren oder Lächeln zeigt, dass keine Vorstellungen mehr da sind, welche der Kranke auszudrücken hätte. Doch kommen zuweilen noch 6
schwache Aeusserungen von Lust und Unlust und von Affecten vor, von gewohnter oder auch zuweilen von wenig motivirter, bizarrer Zuneigung zu einzelnen Personen, von Schamgefühl, von kindischer Schadenfreude, von Aengstlichkeit (Verstecken) etc.; in einzelnen besseren Stunden kehren wohl auch Anklänge aus dem früheren Leben, mehr Empfänglichkeit und Theilnahme für die Aussenwelt und ein lebhafteres Gefühl für freundliche Behandlung zurück, und es liegt in dem Uebrigbleiben solcher Spuren von Selbstempfindung und Gefühl wohl Aufforderung genug dazu, die menschliche Natur auch in ihrer tiefsten Versunkenheit noch an diesen Unglücklichen zu achten, deren stumme, unverständliche Geberde so oft, ihnen selbst unbewusst, eine finstere Vergangenheit anklagt. (Griesinger 1845, S. 279).
5.1
Historisches
In den Lehrbüchern der Psychiatrie des 19. Jahrhundert wurde ausführlich über die diagnostische Einordnung einer als Willensstörung (Abulie) oder als »Krankheit des Willens« bezeichneten Symptomatik und deren Abgrenzung zu anderen psychischen Störungen diskutiert (s. Berrios u. Gili 1995). In dem zu Beginn dieses Kapitels aufgeführten Textauszug beschreibt beispielsweise Griesinger (1845) eine solche Willens- und Antriebsstörung, der er den Namen »apathischer Blödsinn« gegeben hat. Die verbreitete Auffassung war damals, dass es sich bei der Abulie um einen Verlust oder einen Mangel der Willenskraft oder der Ausführung von Gedanken handelt. Die Störung durfte dabei nicht durch eine Lähmung oder eine sonstige Beeinträchtigung des motorischen Systems verursacht werden. Bei der Abulie sollte der Übergang vom Handlungsmotiv und dem Verlangen hin zur Ausführung der Handlung außerordentlich schwierig oder unmöglich sein. Aber nicht nur in psychiatrischen Lehrbüchern finden sich Beschreibungen und diagnostische Einordnungen von Patienten mit Störungen der Motivation, sondern auch in der neuropsychologischen Literatur. Der russische Neuropsychologe Luria (1973) berichtete ausführlich über Motivationsstörungen, die er immer wieder bei seinen hirnverletzten Soldaten beobachten konnte.
69 5.2 · Störungen der Motivation bei verschiedenen Krankheitsbildern
Die betroffenen Soldaten waren völlig passiv, äußerten keine Wünsche und Bedürfnisse, stellten keine Fragen. Luria bezeichnete dieses Krankheitsbild als »apathico-akinetico-abulic syndrome« (S. 198), das seiner Ansicht nach v. a. nach einer massiven Läsion der Frontallappen auftritt. Für Luria (1973) stellte dieses »apathico-akineticoabulic syndrome« eine maximale Störung höherer kognitiver Prozesse dar, die dadurch verursacht wird, dass Handlungspläne und Intentionen auff grund der Schädigung entsprechender neuronaler Systeme nicht mehr gebildet werden können. Neben Luria haben auch Blumer und Benson (1975) auf Störungen der Motivation infolge einer Hirnschädigung hingewiesen. Sie unterscheiden zwei Gruppen von Verhaltensstörungen, die nach einer Hirnschädigung, insbesondere nach einer Schädigung frontaler Hirnstrukturen, auftreten. Bei der pseudopsychopathischen (»pseudopsychopathic«) Störung dominieren 4 Hyp y eraktivität, 4 Ruhelosigkeit, 4 Euphorie, 4 Impulsivität und 4 Blödeleien. Bei der pseudodepressiven Symptomatik findet sich dagegen 4 Ap A athie, 4 Trägheit, 4 Lethargie, 4 Abulie, 4 Mangel an Spontanität, 4 Verlangsamung und 4 Schwerfälligkeit. Im Hinblick auf die Lokalisation der Läsion weisen Blumer und Benson auf den präfrontalen Kortex hin, da sie pseudopsychopathische Störungen vermehrt nach Läsionen orbitofrontaler Areale und pseudodepressive Störung vermehrt nach dorsolateralen Läsionen des Frontalhirns beobachten konnten.
5.2
5
Störungen der Motivation1 bei verschiedenen Krankheitsbildern
Störungen der Motivation finden sich in unterschiedlichem Ausmaß bei einer ganzen Reihe von Krankheitsbildern (Duffy 2000; Krupp u. Fogel 1997). Nicht immer sind es die im vorausgehenden Abschnitt beschriebenen extremen Formen einer Motivationsstörung, die im klinischen Alltag sichtbar werden. So sind Motivationsprobleme ein charakteristisches Merkmal einer depressiven Störung, und es wurde wiederholt auf die zentrale Bedeutung des Belohnungssystems bei der Ätiologie der Störung hingewiesen (Naranjo et al. 2001). Beispielsweise konnte wiederholt gezeigt werden, dass depressive Patienten auf Belohnungen nicht oder nur in geringerem Umfang ansprechen (Henriques et al. 1994; Layne et al. 1982). Motivationsprobleme können aber auch bei Patienten mit Substanzmittelabhängigkeit und -missbrauch auftreten. Entsprechende klinische Beschreibungen finden sich bei Personen mit chronischem Amphetamin-, Barbiturat-, Alkohol- oder Kokainmissbrauch (Kalechstein et al. 2002). Beeinträchtigungen der Motivation lassen sich darüber hinaus in unterschiedlichem Ausmaß bei psychotischen Patienten beobachten. Das klinische Bild vieler psychotischer Patienten ist durch A Apathie, affektive Verflachung und andere negative Symptome gekennzeichnet (Andreasen 1982). Schon Kraepelin (1913) hat auf das »sehr rasche Nachlassen der Willensspannung« (S. 692) bei diesen Patienten hingewiesen. Schmand et al. (1994) gehen sogar so weit, die kognitiven Probleme psychotischer Patienten insgesamt als motivationsbedingt anzusehen. Bei Infektionen (z. B. HIV-Infektion), endokrinen Störungen (z. B. Hyp y erthyreose) und nach Einnahme bestimmter Psychopharmaka (z. B. Neuro1 Der Begriff Motivation bezieht sich auf ein sehr breites und relativ unscharfes Konzept. Motivationsforscher versuchen die bestimmenden Faktoren (Motive) unserer Gedanken und Handlungen zu ermitteln. Sie untersuchen die Gründe und Mechanismen, warum und wie wir bestimmte Handlungen initiieren, diese mehr oder weniger intensiv über einen bestimmten Zeitraum ausführen, wieder stoppen und neue Aktivitäten aufnehmen.
70 Kapitel 5 · Neuropsychologie der Motivation
5
leptika, Sedativa) werden ebenfalls Störungen der Motivation beschrieben (für eine Übersicht s. Krupp u. Fogel 1997; Duffy u. Kant 1997). Am häufigsten werden Motivationsstörungen jedoch bei Patienten mit Schädel-Hirn-Traumen, zerebrovaskulären oder degenerativen Erkrankungen wie dem M. Alzheimer berichtet. Prigatano (1992) listet in seiner Übersichtsarbeit 25 häufig auftretende Verhaltensänderungen bei Patienten mit Schädel-Hirn-Traumen (SHT) auf, zu denen auch Störungen der Motivation (fehlende Spontanität, Adynamik, Interessenmangel) gehören. Schon vor der Arbeit von Prigatano hat Thomsen (1984, 1989) auf die Spätfolgen eines SHT hingewiesen. Bei einer Verlaufsuntersuchung von insgesamt 40 Patienten mit einem schweren SHT 4–5 Monate, 2,5 Jahre und mehr als 10 Jahren nach dem Unfall hat er feststellen können, dass die psychosozialen Folgen der Hirnschädigung längerfristig die schwerwiegendsten Probleme darstellen. Zwei Drittel aller untersuchten Patienten wiesen Veränderungen der Persönlichkeit und der Emotionalität auf. Hierzu zählten auch Probleme wie Antriebsmangel, Aspontanität und Interessenverlust, die sich über den mehrjährigen Untersuchungszeitraum kaum veränderten. Es kam sogar bei Symptomen wie Müdigkeit und Mangel an Interesse an der Umwelt, die als Merkmale einer Motivationsstörung interpretiert werden können, zu einer deutlichen Verschlechterung der Symptomatik (s. auch Oddy et al. 1985). Auch Kant et al. (1998) konnte bei insgesamt 59 (71%) der 83 untersuchten SHT-Patienten eine schwere Motivationsstörung (Apathie) in Verbindung mit oder ohne einer depressiven Verstimmung feststellen. Ein reines Ap A athie-Syndrom ohne depressive Störung wurde in dieser Untersuchung in 9 der 83 Fällen (11%) beobachtet. In einer von Starkstein et al. (1993) durchgeführten Studie zur Bestimmung der Prävalenzrate einer A Apathie bei Patienten mit zerebrovaskulären Erkrankungen (CVE) fand sich eine etwas höhere A athie-Rate als bei SHT-Patienten. Bei 18 (22,5%) Ap von 80 innerhalb der ersten 10 Tage nach Beginn der Erkrankung untersuchten Patienten konnten Starkstein et al. eine A Apathie diagnostizieren. Außerdem wiesen 9 dieser apathischen Patienten eine depressive Symptomatik auf. Starkstein et al. fanden darüber hinaus eine signifikante Korrelation zwi-
schen der A Apathie und dem Lebensalter (stärkere Ausprägung der A Apathie bei älteren Patienten) sowie zwischen der Apathie und den vorhandenen kognitiven Störungen und Aktivitätseinschränkungen (stärkere Ausprägung der A Apathie bei schwerer beeinträchtigten Patienten). Neue Studien bestätigen diese ersten Befunde (Mayo et al. 2009). In einer anderen Studie haben Starkstein et al. (1992) die Auftretenshäufigkeit einer A Apathie bei Parkinson-Patienten untersucht. Ein Ap A athie-Syndrom fand sich bei 12% der 50 untersuchten Parkinson-Patienten. Davon litten 26% unter einer Depression und wiesen 30% sowohl eine Ap A athie als auch eine Depression auf. Die Befunde von Starkstein et al. (1992) stimmen weitgehend mit den Ergebnissen einer Übersichtsarbeit von Bhatia und Marsden (1994) überein. Bhatia und Marsden kommen nach der Analyse von 240 in der Literatur berichteten Patienten mit Läsionen im Bereich der Basalganglien zu der Feststellung, dass A Apathie (Mangel an Initiative, an spontanen Gedanken und emotionalen Reaktionen) die am häufigsten nach einer Läsion der Basalganglien auftretende Verhaltensstörung darstellt. Bei insgesamt 13% der publizierten Fälle wurde eine Störung der Motivation berichtet, wobei bei 11 Patienten eine schwere Motivationsstörung nach einer kleinen uni- bzw. bilateralen Läsion im Nucleus caudatus aufgetreten war. Bei Patienten mit einer Alzheimer Demenz (AD), aber auch bei anderen Demenzformen, wurden ebenfalls wiederholt Störungen der Motivation beschrieben (zusammenfassend s. Landes et al. 2001). Bei Alzheimer-Patienten wird sogar davon ausgegangen, dass eine Störung der Motivation ein herausragendes Merkmal der Erkrankung darstellt (Mega et al. 1996). Beispielsweise war in der Studie von Mega et al. (1996), in der 50 konsekutiv aufgenommene Patienten mit dem neuropsychiatrischen Inventar untersucht wurden, eine Ap A athie die am häufigsten beobachtete Verhaltensstörung. Dabei zeigten 72% der Patienten diese Problematik, gefolgt von 4 Agitation (60%), 4 Ängstlichkeit (48%), 4 Irritierbarkeit (42%), 4 Dysphorie und anomalem motorischen Verhalten (beide 38%), 4 Disinhibition (36%),
71 5.3 · Apathiesyndrom – Eine schwere Störung der Motivation
4 Wahn (22%) und 4 Halluzinationen (10%). Mit steigendem Schweregrad der Demenz scheint sich die Auftretensrate der Ap A athie bei AlzheimerPatienten zu erhöhen. Bei den geringgradig kognitiv beeinträchtigten Patienten wiesen 42% eine Apathie auf, bei den mittelgradig beeinträchtigten waren es schon 80% und bei den schwer kognitiv beeinträchtigten Patienten 92% (Mega et al. 1996). Auf den engen Zusammenhang zwischen dem Schweregrad der kognitiven Störungen und einer A athie weist auch eine Studie von Starkstein et al. Ap (2001) hin. Allerdings fanden Starkstein et al. bei der Untersuchung von 319 Patienten mit einer Alzheimer Demenz eine deutlich geringere Prävalenzrate als Mega et al. (1996). Nur bei 13% aller Alzheimer-Patienten konnte eine Apathie dokumentiert werden. Bei 24% der Patienten lagen sowohl eine A athie als auch eine Depression vor. In einer ebenAp falls in die Untersuchung miteinbezogenen Patientengruppe von 117 älteren depressiven Patienten ohne Demenz fanden Starkstein et al. bei 32% der depressiven Patienten ebenfalls eine Ap A athie. Die aufgeführten und beschriebenen Studien machen deutlich, dass Motivationsstörungen gerade bei Patienten mit zerebralen Erkrankungen oder Verletzungen eher die Regel als die Ausnahme darstellen und von erheblicher klinischer Bedeutung sind (Andersson et al. 1999b). Die berichteten Prävalenzraten müssen aber mit Vorsicht interpretiert werden, da in den aufgeführten Studien trotz der schon im 19. Jahrhundert begonnenen Diskussion über die Bedeutung und Eigenständigkeit einer Motivationsstörung unterschiedliche diagnostische Kriterien und Untersuchungsverfahren eingesetzt wurden.
5.3
Apathiesyndrom – Eine schwere Störung der Motivation
Störungen der Motivation äußern sich in ganz unterschiedlicher Art und Weise. Im klinischen Kontext wurden und werden Patienten meistens dann als motivationsgestört bezeichnet, wenn sie 4 kein Interesse an den Geschehnissen in der Klinik haben,
4 4 4 4
5
in den Therapien nicht aktiv mitarbeiten, therapeutische Aufgaben nicht durchführen, nur auf Aufforderung reagieren und insgesamt einen affektiv verflachten, teilnahmslosen Eindruck machen.
Marin (1990, 1991) hat die Diskussion über die Existenz eines A Apathiesyndroms wieder aufgegriff fen und die Eigenständigkeit einer sehr schweren Form der Motivationsstörung betont. Er verwendet für dieses Krankheitssyndrom die Bezeichnung A athie und schlägt eine Abgrenzung zu anderen Ap Syndromen (z. B. Delir, Demenz, Depression) vor, bei denen ebenfalls Motivationsprobleme auftreten können. Seiner Ansicht nach stellt die Ap A athie eine eigenständige Krankheitsentität dar, die durch ein vermindertes zielgerichtetes Verhalten aufgrund einer verminderten Motivation gekennzeichnet ist. Das verminderte zielgerichtete Verhalten wird dabei nicht durch eine affektive Störung (z. B. Depression), kognitive (z. B. Amnesie, Delir) oder motorische Defizite (z. B. Paresen, Akinese) verursacht. A athie können aber parEinzelne Symptome einer Ap allel zu anderen psychischen Störungen koexistieren (z. B. zu einer Depression). Marin (1990, 1997a) sieht die Ap A athie als eine schwere Störung der Motivation, bei der die Patienten im Vergleich zu ihrem früheren Funktionsniveau, ihrer Altersgruppe und ihrem kulturellen Hintergrund einen stark verminderten Antrieb aufweisen. Die Motivationsstörung betrifft gleichzeitig 4 zielgerichtete Aktivitäten, 4 zielgerichtete Kognitionen und 4 emotionale Aspekte des zielgerichteten Verhaltens (s. nachfolgende Übersicht). Diagnostische Kriterien des Apathiesyndroms (aus Marin 1991, S. 245) Das grundlegende Merkmal des Apathiesyndroms ist eine verminderte zielgerichtete Aktivität aufgrund eines Motivationsmangels. A Der Motivationsmangel, relativ zu dem prämorbiden Funktionsniveau des Patienten, den Standards der Altersgruppe oder dem kulturellen Hintergrund des Patienten, muss 6
72 Kapitel 5 · Neuropsychologie der Motivation
5
B
gleichzeitig auf allen drei nachfolgenden Ebenen erkennbar und nachweisbar sein: 1. Vermindertes zielgerichtetes Verhalten, erkennbar durch: a) Mangel an Produktivität b) Mangel an Anstrengung c) Vernachlässigung früherer Interessen und Aktivitäten d) Mangel an Initiative oder Ausdauer e) Fügsamkeit gegenüber anderen Personen oder Abhängigkeit von der Initiative anderer Personen f ) weniger soziale Kontakte oder reduzierte Freizeitgestaltung. 2. Verminderte zielgerichtete Kognitionen, erkennbar durch: a) Verlust an Interessen, mangelndes Interesse neue Dinge zu lernen, mangelndes Interesse neue Erfahrungen zu machen b) Mangelnde Besorgnis über die persönliche Situation sowie gesundheitliche oder funktionelle Probleme c) Verminderte Bedeutung oder verminderte persönliche Wertigkeit von Sozialkontakten, Freizeit, Produktivität, Initiative, Ausdauer und Neugier. 3. Verminderte emotionale Aspekte des zielgerichteten Verhaltens, erkennbar durch: a) Unveränderlichen Affekt b) Mangelnde emotionale Reaktion auf positive oder negative Ereignisse Euphorischen oder verflachten Affekt c) Abwesenheit von Erregung oder emotionaler Spannung. Der Motivationsverlust ist das dominierende klinische Merkmal des Apathiesyndroms. Falls der Motivationsverlust nicht das dominierende Merkmal darstellt, handelt es sich bei der Apathie um ein Symptom im Rahmen eines anderen Syndroms (z. B. Demenz, Delir, Depression).
Dieser Mangel an Motivation und Antrieb muss, wenn er das dominierende klinische Erscheinungsbild darstellt, als Apathie-Syndrom klassifiziert werden. Steht er nicht im Mittelpunkt der klinischen Diagnose, wird die Motivationsstörung als Symptom anderer Syndrome (z. B. schwere depressive Episode, Schizophrenie) eingeordnet.
5.4
Differenzialdiagnose der Apathie
In der Vergangenheit wurde die Diagnose einer Motivationsstörung nicht einheitlich gestellt und es gab erhebliche differentialdiagnostische Probleme. Erst seit der von Marin (1990, 1991) postulierten Kriterien gibt es eine Operationalisierung für diese schwere Form der Störung. Unter Berücksichtigung der vorgeschlagenen Kriterien kann eine Apathie gegenüber einer Depression, einer Demenz, einem Delirium oder einer anderen Störung (z. B. Akinese, Bradyphrenie) besser abgegrenzt werden (Marin 1997b). Insbesondere die Abgrenzung zur Depression, Demenz und zum Delir dürfte dabei im klinischen Alltag von besonderer Relevanz sein. Bei einer Depression ist eine Unterscheidung über den Grad der vorhandenen emotionalen Störung möglich. Während bei einer Depression primär die Stimmung beeinträchtigt ist und die Patienten unter dieser gedrückten Stimmung leiden, fehlt dieses Leiden und die Affektstörung bei apathischen Patienten meistens (Marin et al. 1993, 1994). A athische Patienten wirken eher gleichgültig in Ap ihrer Stimmung und zeigen nicht die emotionalen Reaktionen auf negative oder positive Ereignisse wie depressive Patienten. Hinzu kommt, dass die Kognitionen depressiver Patienten durch eine negative Sicht des Selbst, der Gegenwart und der Zukunft gekennzeichnet sind (kognitive Triade). Ap A athischen Patienten fehlen solche negativen Kognitionen und auch die ausgeprägte negative Sicht der Dinge. Ein mangelndes Interesse bei depressiven Patienten kann daher eher auf Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Pessimismus zurückgeführt werden als auf ein Fehlen zielgerichteter Kognitionen (vgl. ▶ Kap. 11 »Neuropsychologie affektiver Störungen« von Beblo, in diesem Band).
73 5.5 · Verfahren zur Diagnostik von Motivationsstörungen
Die Studie von Levy et al. (1998), in der verschiedene Patientengruppen mit degenerativen Erkrankungen (AD, Huntington-Demenz, frontotemporale Demenz, M. Parkinson, progressive supranukleäre Parese-Patienten) im Hinblick auf das Auftreten einer Depression und A Apathie verglichen wurden, unterstreicht die Trennung von Depression und A Apathie. In den verschiedenen Patientengruppen war die Prävalenzrate der Ap A athie und Depression unterschiedlich, und es zeigte sich in der Gesamtgruppe keine signifikante Korrelation zwischen Depression und Demenz. Allerdings gibt es bei aller Unterschiedlichkeit auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Störungsbildern, wobei die wiederholt berichtete Koexistenz von Depression und A Apathie auf verwandte pathophysiologische Mechanismen hinweisen könnte (Marin et al. 1993). Problematisch ist allerdings, dass es inhaltliche Überlappungen bei den Messinstrumenten gibt, die zur Erfassung einer Depression oder einer A Apathie eingesetzt werden. Die Unterscheidung zwischen A Apathie und einer Demenz ist im Vergleich zur Abgrenzung zur Depression sicherlich schwerer zu treffen. Zwar sind demenzielle Erkrankungen durch massive kognitive Defizite und damit einhergehende Beeinträchtigungen im Verrichten von alltäglichen Aktivitäten gekennzeichnet (vgl. ▶ Kap. 18 »Neuropsychologie der Demenz« von Jahn, in diesem Band), diese können aber auch bei vielen aapathischen Patienten auftreten. Ein Patient, der Informationen nicht mehr oder nur noch sehr begrenzt verarbeiten kann, ist sicherlich auch in seinem zielgerichteten Handeln beeinträchtigt. Belegt ist, dass Patienten mit demenziellen Erkrankungen häufig Symptome einer A Apathie zeigen und der Schweregrad der kognitiven Störung mit der Ap A athiesymptomatik deutlich korreliert (Levy et al. 1998; Starkstein et al. 2001). Hier ist zu vermuten, dass durch die kognitiven Defizite die Fähigkeit zur Entwicklung von Handlungsplänen und/oder die Ausführung und Kontrolle von zielgerichteten Handlungen verloren geht und sich daher das Bild einer A Apathie herausbildet. In einer Studie von Andersson und Bergedalen (2002) zeigte sich bei 53 Patienten mit einem SHT ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Ap A athiesymptomatik und der Gedächtnisleistung, der psychomotorischen Geschwindigkeit sowie exekutiven Funktionen.
5
Bei nichtdegenerativen Krankheitsbildern (z. B. SHT, CVE) muss ein solcher enger Zusammenhang zwischen kognitivem Abbau und Apathie aber nicht grundsätzlich gegeben sein. Bei diesen Patienten fehlt auch die bei degenerativen Erkrankungen typische Progredienz der Symptomatik. Die Patienten sind zur Durchführung zielgerichteter Aktivitäten grundsätzlich in der Lage. Ihnen fehlt aber der Wille und der Antrieb zum Handeln. Trotz der beschriebenen Unterschiede zwischen einer A Apathie und Patienten mit einer Demenz dürfte gerade bei schwer betroffenen Patienten eine sichere Differenzialdiagnose schwierig sein. Für die Abgrenzung zum Delir gilt vergleichbares wie bei der Abgrenzung zur Demenz. Auch bei einem Delir treten kognitive Störungen auf, die aber noch von einer Störung des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit sowie des Schlaff Wach-Rhythmus begleitet werden. Da delirante Zustände meistens vorübergehender Natur und von wechselnder Intensität sind, kann eine Differenzialdiagnose primär über diese Merkmale erfolgen.
5.5
Verfahren zur Diagnostik von Motivationsstörungen
Zur Erfassung der Motivation und von Motivationsstörungen stehen bisher nur einige wenige Untersuchungsverfahren zur Verfügung. Der Mangel an Messinstrumenten ist sicherlich nicht nur in der bislang unscharfen Definition der Störung begründet, sondern dürfte auch daran liegen, dass das Konstrukt »Motivation« nicht einfach zu untersuchen ist und eine ganze Reihe von Faktoren die Motivation einer Person beeinflussen können. Hierzu zählen nicht nur Psychopharmaka oder bestimmte zerebrale Erkrankungen, sondern auch psychologische Faktoren wie die Klinikumgebung, soziale Interaktionen, Erfolgserlebnisse etc. (Miceli u. Castelfranchi 2000). Zwar finden sich in verschiedenen klinischen Skalen (z. B. »Neuropsychiatric Rating Schedule«, »Assessment of Negative Symptoms of Schizophrenia«) Items, anhand derer erste Hinweise auf Motivationsprobleme gewonnen werden können, dabei handelt es sich aber immer nur um einzelne Items, die nur teilweise die von Marin (1990, 1991)
74 Kapitel 5 · Neuropsychologie der Motivation
5
vorgeschlagenen kognitiven, emotionalen und behavioralen Merkmale einer Motivationsstörung erfassen. Normalerweise basiert die Diagnose einer Motivationsstörung auf der Einschätzung eines Klinikers, der sich am Verhalten des Patienten in der Klinik und an den Schilderungen anderer Personen orientiert. Problematisch ist hierbei, dass die Übereinstimmung bei solchen unstrukturierten und nicht standardisierten Beurteilungen meist sehr gering ist und »naive« Beurteiler häufig zwischen »wollen« und »können« nicht unterscheiden (z. B. King u. Barrowclough 1989). Beispielsweise lagen die Korrelationskoeffizienten in der Studie von King und Barrowclough (1989), in der die Übereinstimmung bei der Diagnose einer Motivationsstörung von Krankengymnasten, Krankenschwestern und Ärzten einer Rehabilitationsklinik verglichen wurden, zwischen 0,08 und 0,64. Um die Reliabilität der Beurteilung zu erhöhen, wurden deshalb in den vergangenen Jahren verschiedene standardisierte Beurteilungsverfahren entwickelt. Die meisten Verfahren liegen dabei als Fremdbeurteilungsverfahren vor. Vereinzelt sind auch Selbstbeurteilungsverfahren (z. B. ApathieEvaluationsskala) vorhanden, bei denen aber das Problem besteht, dass Patienten in der Lage sein müssen, ihren aktuellen Zustand genau zu beurteilen. Diese Fähigkeit ist aber nicht immer vorhanden. Neben den Beurteilungsverfahren gibt es aber auch noch einige Testverfahren, mit denen versucht wird, die Motivation eines Probanden in konkreten Anforderungssituationen zu erfassen.
5.6
Fremd- und Selbstbeurteilungsverfahren
Die Ap A athie-Evaluationsskala (AES). Zur Erfassung des postulierten A Apathie-Syndroms haben Marin et al. einen 18 Items umfassenden Fragebogen entwickelt und validiert (Marin et al. 1991). Die AES liegt sowohl in einer Selbstbeurteilungsform (AES-S) als auch in einer Fremdbeurteilungsform für Kliniker (AES-C) und Angehörige (AES-I) vor und verlangt auf einer vierstufigen Likert-Skala eine Beurteilung von Ap A athiemerkmalen, die sich nach der Definition des A Apathie-Syndroms von Marin (1991) rich-
ten. Die deutsche Übersetzung der AES findet sich in . Tab. 5.1 (s. auch Lueken et al. 2006). In der Studie zur Entwicklung der AES wurden nach verschiedenen vorausgehenden Schritten 27 Items aus einem Pool von 70 Items ausgewählt, die mit dem Gesamtwert der Skala korrelierten. Anhand der Korrelation mit der Hamilton-Depression-Rating-Skala und anhand der Ergebnisse einer Faktorenanalyse wurden schließlich 18 Items selektiert, die letztendlich die AES bilden. Davon beziehen sich 5 Items auf beobachtbare Verhaltensweisen, 8 auf kognitive Aspekte der Motivation, 2 auf emotionale Aspekte und 3 Items lassen sich nicht eindeutig zuordnen. Die interne Konsistenz lag bei den verschiedenen Versionen der AES zwischen 0,86 und 0,94. Die Test-Retest-Reliabilität schwankte bei einem mittleren Retest-Intervall von 25 Tagen zwischen 0,76 und 0,94. Intraklassenkorrelation für die beiden Kliniker betrug 0,94 und das durchschnittliche k betrug für alle 18 Items der AES 0,58. Auch eine gute Validität der Skala scheint gegeben. Moderate bis hohe Korrelation (r=0,43–0,72) zwischen den verschiedenen AES-Versionen weisen auf eine befriedigende konvergente Validität hin. Es konnten auch weitere Belege für die Validität sowie eine gute Differenzierungsfähigkeit der AES zwischen unterschiedlichen Ausprägungsgraden der A Apathie gefunden werden. Die prognostische Validität konnte in der Studie von Marin et al. (1991) gezeigt werden. Bei Versuchspersonen, die in einem Zimmer warten mussten, und die Möglichkeit zur Benutzung von verschiedenen Spielzeugen und Videospielen hatten, wurde die Zeit registriert, mit der sie sich mit den verschiedenen Spielen beschäftigten. Anhand höherer Ap A athiewerte konnten kürzere Beschäftigungszeiten mit den Spielen vorhergesagt werden, während ein geringeres Ausmaß an A Apathie mit einer zeitlich intensiveren Beschäftigung einherging (Marin et al. 1991). Seit Publikation der AES wurde die Skala wiederholt zur Untersuchung der Motivation bei verschiedenen Patientengruppen eingesetzt (Glenn et al. 2002; Lampe et al. 2001; Marangell et al. 2002; Resnick et al. 1998). Allerdings gibt es Hinweise, dass die AES nicht für alle Patientengruppen gleich gut geeignet ist. Glenn et al. (2002) wollten bei einer
5
75 5.6 · Fremd- und Selbstbeurteilungsverfahren
. Tab. 5.1. Deutsche Übersetzung der Apathie-Evaluationskala (AES)
Items mit einer positiven Bewertung sind mit einem + und Items mit einer negativen Bewertung mit einem – gekennzeichnet. Die Items der Skala erfassen den kognitiven (C), den emotionalen (E), den behavioralen (B) und andere Bereiche (O). Bei den mit SE gekennzeichneten Items handelt es sich um Items, bei denen die Patienten im Interview eine Selbstbeurteilung vornehmen sollen. Bei einer Reihe von Items, diese sind in der Tabelle mit Q gekennzeichnet, können Häufigkeitsangaben gemacht werden (z. B. Anzahl an Freunden, Anzahl an Hobbies). Die Kodierung 1 wird bei diesen Items vergeben, wenn das erfragte Verhalten oder Merkmal nicht vorkommt. Die Kodierung 2 wird vergeben, wenn das Verhalten/Merkmal 1-2-mal vorkommt. Die Kodierung 3 wird vergeben, wenn das Verhalten/Merkmal 2-3-mal vorkommt. Die Kodierung 4 wird vergeben, wenn das Verhalten/Merkmal 3-mal oder mehr als 3-mal vorkommt. Trifft nicht zu 1
Trifft etwas zu 2
Trifft zu
Trifft sehr zu
3
4
1
Sie/Er interessiert sich für Dinge in seiner Umwelt.
+ C Q*
2
Sie/Er erledigt Aufgaben während des Tages.
+BQ
3
Es ist wichtig für sie/ihn, Aufgaben aus eigenem Antrieb heraus zu beginnen.
+ C SE
4
Sie/Er möchte neue Erfahrungen machen.
+CQ
5
Sie/Er möchte neue Dinge lernen.
+CQ
6
Sie/Er strengt sich überhaupt nicht an.
-B
7
Sie/Er genießt das Leben.
+E
8
Es ist wichtig für sie/ihn, eine Aufgabe zu Ende zu bringen.
+ C SE
9
Sie/Er verbringt die Zeit mit Din gen, die sie/ihn interessieren.
+B
10
Jemand muss ihr/ihm immer sagen, was gemacht werden muss.
-B
11
Sie/Er ist nicht über ihre/seine Probleme besorgt, obwohl sie/er es eigentlich sein müsste.
-C
12
Sie/Er hat Freunde.
+BQ
13
Es ist wichtig für sie/ihn mit Freunden zusammen zu sein.
+ C SE
14
Sie/Er freut sich, wenn sich etwas Schönes ereignet.
+E
15
Sie/Er hat ein angemessenes Verständnis ihrer/ seiner Probleme
+0
16
Es ist wichtig für sie/ihn, etwas im Laufe des Tages erledigt zu haben.
+ C SE
17
Sie/Er zeigt Initiative.
+0
18
Sie/Er ist motiviert.
+0
76 Kapitel 5 · Neuropsychologie der Motivation
Gruppe von SHT-Patienten Cutofff Werte für die AES bestimmen. Dabei zeigte sich, dass es nicht möglich war, einen Cutofff Wert mit einer brauchbaren Sensitivität und Spezifität für die Gruppe der untersuchten SHT-Patienten zu ermitteln. Auch Leentjens et al. (2008) konnten bei Parkinson-Patienten zeigen, dass die verfügbaren Skalen unterschiedliche gut für die Erfassung einer Ap A athie geeignet sind.
5
»Children‘s Motivation Scale« (CMS). In Anlehung
an die AES wurde von Gerring et al. (1996) eine 16 Item umfassende Motivationsskala für Kinder konstruiert. Auf einer 5-stufigen Skala kann bei der CMS die Auftretenshäufigkeit verschiedener Motivationsprobleme beurteilt werden. Die Autoren haben 9 Items von der AES übernommen und 7 Items speziell für die Zielgruppe der Kinder neu formuliert. In zwei Normgruppen mit insgesamt 290 Schulkindern zeigte sich kein Einfluss des Alters und eine gute interne Konsistenz der CMS (Split-halff Methode: Spearman-Brown-Koeffizient =0,79). Auch war die Test-Retest-Reliabilität bei einer Teilstichprobe (n=75), die im Abstand von 2 Wochen untersucht wurde, gut (r=0,88). Bei zwei klinischen Stichproben von 127 Kindern einer psychiatrischen Klinik für Kinder und Jugendliche sowie 38 Kindern einer Ambulanz für affektive Störungen ergaben sich insgesamt etwas schlechtere Testkennwerte für die CMS. Die Test-Retest-Reliabilität lag bei einer Teilstichprobe von 35 Kindern nach zwei Wochen bei r=0,57. Die Split-halff Reliabilität lag bei 0,62. Die Interraterreliabilität zwischen zwei Krankenschwestern wurde bei 32 Kindern erhoben und betrug 0,61. Eine gute diskriminative Validität zeigte sich aufgrund eines signifikanten Unterschieds zwischen der Normgruppe und den Patientengruppen. Weitere Hinweise auf die Validität der CMS ergaben sich aus der geringen Korrelation der CMS mit der »Child Behavior Check List« (CBCL) und der JohnHopkins-Depressionsskala. Das Neuropsychiatrische Inventar (NPI). Das NPI
wurde von Cummings et al. (1994) zur Erfassung von Verhaltensstörungen bei Patienten mit demenziellen Erkrankungen entwickelt. Mit Hilfe des NPI werden zehn Verhaltensbereiche evaluiert, in denen
demente Patienten häufig Auffälligkeiten aufweisen. Es handelt sich hierbei um 4 Wahn, 4 Halluzinationen, 4 Agitation/Aggression, 4 Dysphorie, 4 Ängstlichkeit, 4 Euphorie, 4 Ap A athie, 4 Disinhibition, 4 Irritierbarkeit/Labilität und 4 abnormes motorisches Verhalten. Als Informanten dienen enge Bezugspersonen des Patienten, denen für jeden der 10 Bereiche zuerst einige Eingangsfragen gestellt werden. Werden die Fragen positiv beantwortet, erfolgt eine detaillierte Befragung, wobei hierbei sowohl die Häufigkeit als auch der Schweregrad der Symptomatik bei 7 bis 8 weiteren Items beurteilt werden müssen. Eine psychometrische Auswertung der Subskala »Ap A athie« des NPI liegt bisher nicht vor (s. . Tab. 5.2). Ingesamt erwies sich das NPI aber als zuverlässiges und valides Messinstrument. Die Screening-Fragen erwiesen sich als sehr sensitiv und spezifisch für die zu erfassende Symptomatik. Nur bei weniger als 5% der untersuchten Patienten wurde das problematische Verhalten durch die Screening-Fragen nicht erkannt (falschnegative Urteile) bzw. von den Angehörigen ein problematisches Verhalten berichtet, das aber bei genauerer Nachfrage dann doch nicht als solches eingestuft werden konnte (falschpositive Urteile). Die interne Konsistenz des NPI betrug 0,88 (Cronbach α). Es zeigte sich insgesamt eine gute Beurteilerübereinstimmung. Die prozentuale Übereinstimmung zwischen zwei Beurteilern lag zwischen 89,4% und 100%. Für die Subskala A Apathie betrugen die Werte 97,9% (Häufigkeit der Symptome) und 89,4% (Schweregrad der Symptome). Die Test-Retest-Reliabilität der 10 Subskalen des NPI war befriedigend und lag zwischen 0,51 und 0,98. Für die Subskala A athie lagen die Werte bei 0,74 (Häufigkeit der Ap Symptome) und 0,68 (Schweregrad der Symptome). Die Autoren der NPI haben auf die Berechnung von Cutofff Werten verzichtet, geben aber an, dass bei gesunden Personen keine Angaben bei den Subskalen Ap A athie, Agitation, Euphorie und abnormes
77 5.6 · Fremd- und Selbstbeurteilungsverfahren
5
. Tab. 5.2. Subskala des »Neuropsychiatric Inventory« (NPI) zur Erfassung einer Apathie/ Indifferenz
Screening-Fragen
Hat der Patient/die Patientin das Interesse an der Welt um sich herum verloren?
Hat er/sie das Interesse an Aktivitäten verloren oder mangelt es ihm/ihr an Motivation neue Aktivitäten zu beginnen?
Ist es schwierig, ihn/sie an Unterhaltungen oder Arbeiten im Haushalt zu beteiligen?
Ist der Patient/die Patientin apathisch oder indifferent?
Falls eine der obigen Fragen mit JA beantwortet wurde, bitte die folgenden Fragen stellen: 4
Erscheint der Patient/die Patientin weniger spontan oder aktiv als gewöhnlich?
4
Beginnt der Patient/die Patientin weniger häufig eine Unterhaltung?
4
Zeigt der Patient/die Patientin weniger Zuneigung oder Emotionen im Vergleich zu seinen/ihren früheren Gewohnheiten?
4
Trägt der Patient/die Patientin weniger als sonst zur Hausarbeit bei?
4
Zeigt der Patient/die Patientin weniger Interesse an Aktivitäten oder Plänen anderer Personen?
4
Hat der Patient/die Patientin das Interesse an Freunden oder Familienmitgliedern verloren?
4
Ist der Patient/die Patientin weniger enthusiastisch über seine/ihre üblichen Interessen?
4
Zeigt der Patient/die Patientin irgendein anderes Zeichen, dass er/sie sich nicht um das Unternehmen neuer Aktivitäten kümmert?
motorisches Verhalten gemacht werden. Von daher können Angaben zur Häufigkeit und zum Schwergrad auf diesen Subskalen als Hinweis auf ein entsprechendes Problemverhalten gewertet werden. »Dementia Apathy Interview and Rating« (DAIR).
Das DAIR wurde speziell zur Erfassung einer A Apathie bei Patienten mit einer leichten bis mittelgradig schweren Demenz entwickelt und will Veränderungen der Motivation, des Engagements und der Emotionen seit Krankheitsbeginn erheben (Strauss u. Sperry 2002). Mit Hilfe des DAIR werden Angehörige der betroffenen Patienten nach apathietypischen Verhaltensänderungen und -problemen befragt (z. B. »Neigt er dazu, einfach herumzusitzen und nichts zu tun?«, »Zeigt er Interesse an Neuigkeiten über Freunde und Angehörige?«). Eine Einschätzung erfolgt auf einer vierstufigen Skala nach der Auftretenshäufigkeit (0=«Nein, fast nie«, 3=»Ja, fast immer«) und berücksichtigt den Zeitraum der letzten 4 Wochen.
Zur Evaluation des DAIR wurden 50 Männer und 50 Frauen mit der Diagnose einer AlzheimerKrankheit einer geriatrischen Klinik sowie deren Angehörige untersucht mit 4 der DAIR, 4 der »Consortium to Establish a Registry for Alzheimer’s Disease« (CERAD), 4 der Verhaltensbeurteilungsskala für Demenz (BRSD), 4 dem »Mini Mental State Test« (MMSE), 4 der »Clinical Dementia Rating« (CDR) und 4 der »Blessed Dementia Rating Scale« (BDRS). Von den ursprünglich 29 Items wurden 13 Items aufgrund geringer Korrelationen mit dem Gesamtwert sowie geringer Ausprägung und semantischer Überlappung mit anderen Items aus der Sammlung entfernt. Eine Faktorenanalyse ergab eine hohe Ladung aller verbliebenen Items auf einem Apathiefaktor, der insgesamt 38% der Varianz erklärte. Die interne Konsistenz betrug 0,89. Die Re-Test-Relia-
78 Kapitel 5 · Neuropsychologie der Motivation
bilität bei 20 zufällig ausgewählten Angehörigen betrug nach 56 Tagen 0,85. Ferner ergab sich eine befriedigende konkurrente (Korrelation zwischen DAIR und einer Globaleinschätzung der Ap A athie durch verschiedene Kliniker=0,31–0,46) und diskriminative Validität (Korrelation zwischen DAIR und depressiver Symptomatik=0,08). Lille Apathy Rating Scale (LARS). Die LARS ist
5
eine Ratingsskala, die aus 33 dichotomen Items besteht. Die Beurteilung der Items erfolgt nach einem strukturierten Interview, wobei als Beurteiler auch Angehörige fungieren können (Sockeel et al. 2006; Dujardin et al. 2008). In einer Untersuchung mit Parkinson-Patienten zeigte die LARS zufriedenstellende psychometrische Eigenschaften (interne Konsistenz, Interrater-Reliabilität, Re-Test-Reliabilität) und eine gute Konstrukvalidität (Korrelation mit AES; Übereinstimmung mit Klinikerurteilen). Ein Faktorenanalyse ergab 4 Faktoren: intellektuelle Neugier, Einsicht (»selff awareness«), Emotion und Handlungsinitiierung. »Percent Participations Index« (PPI). Ein etwas
anderer Ansatz zur Feststellung einer Motivationsstörung bei Patienten einer neurologischen Rehabilitationsklinik wurde von Al-Adawi et al. (1998) in Form des PPI vorgeschlagen. Der PPI ist ein Indikator der aktiven Teilnahme eines Patienten an einer Behandlung. Zur Bestimmung des PPI wird die individuelle Anstrengung des Patienten während einer Behandlungseinheit durch den Therapeuten beurteilt und in Beziehung zur Dauer seiner aktiven Teilnahme an der Therapie gesetzt. Hierzu geben die Therapeuten die Dauer (in Minuten) des direkten Kontaktes innerhalb einer Behandlungseinheit an (X min) und dokumentieren die Zeit, in der der Patient aktiv an der Therapie teilnimmt (Y min). Anschließend wird anhand der ermittelten Werte der PPI berechnet (PPI=Y×100/X), der den Umfang der aktiven Beteiligung des Patienten während der Therapie widerspiegelt. In der Studie von Al-Adawi et al. (1998) wurde bei 54 hirnverletzten Patienten einer neurologischen Rehabilitationsklinik eine hohe Übereinstimmung zwischen verschiedenen Therapeuten gefunden (r=0,79–0,90), auch die Re-Test-Reliabilität war sehr hoch (r=0,93–0,97). Der PPI korrelierte
signifikant mit einem Motivationstest (»Cardarranging Reward Responsivity Objective Test«), der im nachfolgenden Abschnitt genauer beschrieben wird. Da die Erfassung der Motivation mit dem PPI nur innerhalb der Therapieeinheit erfolgt, erhält man allerdings kaum Informationen über selbstinitiierte zielgerichtete Aktivität außerhalb der Therapieeinheit. Diese scheinen jedoch angesichts der Befunde von Belmont (1969) von großer Bedeutung zu sein, da die Beteiligung innerhalb einer Therapiestunde sehr durch äußere Anreize (z. B. forderndes Verhalten des Therapeuten) beeinflusst bzw. »motiviert« wird.
5.7
Andere Verfahren zur Erfassung von Motivationsstörungen
Neben den aufgeführten Beurteilungsverfahren werden in der Literatur noch Testverfahren und Prozeduren beschrieben, mit denen direkt oder indirekt Rückschlüsse auf die Motivation von Patienten getroffen werden können. Ein Teil dieser Verfahren basiert dabei auf der Idee, dass Verhalten meist durch eine Belohnung (z. B. Geld, Lob, Nahrungsmittel) »motiviert« wird. Auf spezifische Motivationsdefizite wird geschlossen, wenn sich das belohnte Verhalten nicht von dem unbelohnten Verhalten unterscheidet bzw. wenn die Belohnung nicht zu einer Steigerung der Intensität, Persistenz oder einer Änderung der Richtung des Verhaltens geführt hat (s. folgende Theoriebox). »Card-Arranging Reward Responsivity Objective Test« (CARRO-Test). Einer dieser Motivationstests
stellt der von Al-Adawi et al. (1998) entwickelte CARRO-Test dar, dessen Ursprünge schon in den 1970er-Jahren des letzten Jahrhunderts zu finden sind. Bereits Higgins und Sherman (1978) haben bei schizophrenen Patienten Untersuchungen zur Motivation durchgeführt. Sie konnten zeigen, dass schizophrene Patienten, die zufällig einer Belohnungsbedingung zugeteilt wurden, sich signifikant in ihrer Leistung in einer Sortieraufgabe von schizophrenen Patienten unterschieden, die keine Belohnung erhalten hatten.
79 5.7 · Andere Verfahren zur Erfassung von Motivationsstörungen
Theoriebox
Kognitives Defizit vs. Motivationsstörung Bei der Untersuchung von Patienten mit psychischen Störungen (z. B. Depression, Schizophrenie) lassen sich häufig in unterschiedlichem Umfang und Ausprägung kognitive Defizite feststellen. Hierunter fallen v. a. Störungen des Gedächtnisses und der Aufmerksamkeit, aber auch Beeinträchtigungen im Planen und Problemlösen. Bei der Bewertung solcher kognitiver Störungen stellt sich für den Untersucher immer wieder die Frage, ob es sich dabei ein originäres Defizit handelt, das durch eine strukturelle Schädigungen oder Beeinträchtigung des entsprechenden neuronalen Systems verursacht wurde oder um Defizite, die durch psychologische Faktoren (insbesondere motivationale Faktoren) verursacht sind. Es ist also fraglich, ob die Verrechnung (»computational aspect«) oder die Energetisierung (»energetic aspect«) der Informationsverarbeitung nicht mehr gelingt (Sanders 1983). Beispielsweise fanden Elliott et al. in ihrer Studie Hinweise darauf, dass depressive Patienten unmittelbar nach einem negativen Feedback eine deutliche Leistungsverschlechterung zeigen (Elliott et al. 1997). Depressive Patienten, eine gesunde Kontrollgruppe sowie zwei weitere Patientengruppen (Parkinson-Patienten, Patienten mit einer Schizophrenie) absolvierten einen Gedächtnistest (»delayed matching to sample test«) und eine Planungsaufgabe (Turm von London), bei denen die Probanden nach jedem Durchgang erkennen konnten, ob die Aufgabe richtig oder falsch gelöst wurde. Bei beiden Aufgaben f wurde die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines Fehlers in Abhängigkeit eines vorausgehenden Fehlers berechnet. Hierbei zeigte sich, dass die Wahrscheinlichkeit nach einem fehlerhaften Durchgang einen weiteren Fehler zu machen bei depressiven Patienten signifikant höher war als bei allen anderen Gruppen. Dieses Ergebnis ist besonderes bedeutsam, da depressive Patienten in beiden Aufgaben ungefähr gleich viele Aufgaben richtig bearbeitet haben wie die anderen Patientengruppen und diese Übersensitivität auf 6
negatives Feedback auch am Ende der Behandlung (trotz deutlicher Symptomverbesserung) immer noch feststellbar war. Schmand et al. (1994) konnten zeigen, dass psychotische Patienten ebenfalls Motivationsprobleme aufweisen, und dass diese einen erheblichen Einfluss auf die Leistung der Patienten haben. Psychotische Patienten und Patienten einer klinischen nichtpsychotischen Kontrollgruppe mussten 17 min lang eine einfache und langweilige Reaktionszeitaufgabe (Reaktion auf zwei Pfeile mit Tastendruck) durchführen. Während der letzten 4 Minuten der Aufgabe wurde den Patienten bei jedem Durchgang mittels eines Glocken- oder Trommeltons signalisiert, ob die Reaktion richtig oder falsch war. Für jede Minute des Tests wurde die mittlere Reaktionszeit aller in dieser Periode durchgeführten Reaktionen berechnet. Psychotische Patienten waren zu Beginn der Aufgabe etwas, aber nicht signifikant langsamer als die klinische Kontrollgruppe. Während der nachfolgenden Durchgänge verlangsamte sich die Reaktion der psychotischen Patienten gegenüber der Kontrollgruppe (die Reaktionszeiten dieser Patienten stiegen nur leicht über die Zeitdauer des Tests an) deutlich. Unmittelbar nach Einführung des Feedbacks kam es in beiden Gruppen zu einer Leistungsverbesserung. Die zunehmende Verlangsamung der Reaktionszeiten über die Dauer der Aufgabe und die Leistungssteigerung nach der Einführung des Feedbacks könnenals Hinweise auf einen Motivationseffekt gewertet werden. Die Ergebnisse dieser beiden Studien machen auf das Problem der motivationalen Beeinflussung von Testleistungen von Patienten mit psychischen Störungen aufmerksam. Der Untersucher sollte sich einer solchen möglichen Konfundierung gerade bei Patienten mit psychischen Störungen bewusst sein. Zu dieser Konfundierung müssen auch absichtliche Verfälschungen durch den Probanden gerechtet werden (Orey et al. 2000). Auch in einem solchen Fall handelt es sich um ein motivationales Problem, das durch das Ziel des Patienten, sich einen Vorteil zu verschaffen, verursacht wird. Die Motivation des Probanden
5
80 Kapitel 5 · Neuropsychologie der Motivation
kann bei bestimmten diagnostischen Rahmenbedingungen (z. B. Rentenbegutachtung), aber auch bei bestimmten Aufgabenstellungen eine Rolle spielen. Aufgabenstellungen oder Tests sind dann prädestiniert für motivationale Einflüsse, wenn Sie Leistungsrückmeldungen vorsehen, langweilig, monoton oder für den Patienten sehr schwierig sind. Ein Leistungsabfall bei längerer Durchführung, Leistungsschwankungen bei
wiederholter Durchführung der Aufgabe, deutliche Veränderung der Leistung nach Rückmeldungen (inkl. Darbietung von Belohnungen) oder Instruktionsmanipulationen (z. B. Zielsetzungen) geben Hinweise auf motivationale Einflüsse. Das Fehlen solcher Leistungsveränderungen deutet auf strukturelle Beeinträchtigung des entsprechenden funktionellen Systems hin (Konrad et al. 2000).
5 Wie in den Studien von Higgins und Sherman müssen auch die Versuchspersonen beim CARROTest eine einfache Kartensortieraufgabe durchführen (60 Karten anhand von aufgedruckten Zahlen in drei Fächer sortieren). Nach einem Probedurchgang, in dem das spätere individuelle Tempo zum Sortieren der Karten ermittelt wird, folgen 3 weitere Durchgänge. Die Patienten erhalten dabei im 2. dieser drei Durchgänge nach jeweils 5 sortierten Karten einen kleinen Geldbetrag als Belohnung. Im 1. und 3. Durchgang wird dagegen keine Belohnung gegeben. Beim CARRO-Test wird von der Annahme ausgegangen, dass eine potenzielle Belohnung die Motivation und Anstrengungsbereitschaft steigert, was sich bei den belohnten Durchgängen in einem erhöhten Tempo bei der Bearbeitung der Aufgabe widerspiegeln sollte. Der CARRO-Test ermöglicht so den Vergleich der Sortiergeschwindigkeit in einer belohnten und einer unbelohnten Bedingung durch die Berechnung der Belohnungsreaktivität (Subtraktion der durchschnittlichen Sortierleistung in den beiden nicht belohnten Durchgängen von der Sortierleistung in dem belohnten Durchgang). In einer Studie, die mit gesunden Erwachsenen durchgeführt wurde, zeigte sich ein signifikanter Einfluss der Belohnung auf die Sortierleistung (Pickering et al. 1997). Auch in einer klinischen Studie konnte gezeigt werden, dass der CARRO-Test, aber auch der weiter oben schon erwähnte PPI sensitive Indikatoren für den Einfluss von Bromocriptin, einem Dopaminrezeptoragonisten, auf die Motivation von hirngeschädigten Patienten darstellen (Powell et al. 1996). Allerdings müssen die Ergebnisse des CARROTest trotz der bislang ermutigenden Befunde mit
Vorsicht interpretiert werden. Insbesondere vor einer individuellen Auswertung und Interpretation der Testergebnisse ist zu warnen. Die wiederholte Durchführung der Sortieraufgabe führt grundsätzlich bei jedem Patienten zu einer Leistungsverbesserung. Um solche positiven Transfereffekte zu kontrollieren, wird im CARRO-Test der Belohnungsdurchgang zwischen zwei Durchgängen ohne Belohnung eingebettet und später die Leistungsdifferenz zwischen dem belohnten und den beiden gemittelten unbelohnten Durchgängen gebildet. Eine solche Differenzbildung ist aber nur dann nützlich, wenn die Autoren differenzierte Normwerte angeben und zeigen können, dass der zu erwartende Übungseffekt bei verschiedenen Krankheitsbildern gleich ist. Aktigraphie. Trotz der Möglichkeiten zur Einschätzung und Beurteilung der Motivation über Fragebögen und Testverfahren, gestaltet es sich bisweilen schwierig, reliable Urteile über die Motivation von Patienten zur erhalten. Bei den eingesetzten Fragebögen besteht z. B. das Problem, dass im klinischen Umfeld der Umfang zielgerichteter Aktivitäten des Patienten in der therapiefreien Zeit oder in der Zeit, in der sich der Patient nicht in der Klinik befindet, meist nicht sicher beurteilt werden kann. Angaben der Angehörigen helfen hier nur bedingt weiter. Bei den Testverfahren besteht das Problem, dass anhand einer isolierten Laboraufgabe und einer durch Belohnung induzierten Leistungssteigerung auf die Motivation des Patienten geschlossen wird. Eine kontinuierliche Langzeitmessung der Bewegungsaktivität und somit des Aktivitätsniveaus eines Patienten kann hier eine zusätzliche diagnostische Hilfe sein (Bussmann u. Stam 1998). Eine solche Messung des Aktivitätsniveaus bietet sich an,
81 5.8 · Funktionelle Neuroanatomie der Motivation
da das von Marin postulierte A Apathiesyndrom v. a. durch einen Mangel an zielgerichteten Aktivitäten gekennzeichnet ist. Die Messung des Aktivitätsniveaus erfolgt meist über sog. Aktigraphen, die wie eine Uhr am Armgelenk oder an anderen Stellen des Körpers getragen werden und Bewegungen über einen miniaturisierten uni- oder multiaxialen piezoelektrischen Beschleunigungsmesser (Akzelerometer) registrieren. Dieser generiert ein elektrisches Signal, das in Abhängigkeit von der Dauer und dem Ausmaß der Bewegung variiert. Der kontinuierlich gemessene Wert des elektrischen Signals kann in vorher festgelegten Zeitabständen (z. B. 32 Hz) in einen Speicher eingelesen und später zur weiteren Auswertung aus dem Speicher wieder ausgelesen werden. Aktigraphen erlauben zwar keinen Rückschluss auf die Art und die Zielgerichtetheit der Bewegungen, geben aber einen guten Überblick über die zeitliche Verteilung der Bewegungen und ermöglichen so einen indirekten Rückschluss auf die motorische Aktivität einer Person während eines genau definierten Zeitraums. Erste Befunde einer von uns durchgeführten Studie weisen auf einen engen Zusammenhang zwischen Aktivitätswerten und A Apathiesymptomen hin. . Abb. 5.1 zeigt die unterschiedlichen Aktivitätsprofile eines SHT-Patienten und einer gesunden Kontrollperson. Wie diese Übersicht über verschiedene Methoden zur Erfassung der Motivation zeigt, gibt es momentan verschiedene Verfahren, mit denen Störungen der Motivation dokumentiert werden können. Die Entwicklung weiterer Verfahren, insbesondere die Entwicklung spezifischer Testverfahren, erscheint aber sinnvoll und notwendig, da die bislang verfügbaren Verfahren noch zahlreiche Schwächen aufweisen und auch die psychometrischen Kennwerte nicht immer optimal sind.
5.8
Funktionelle Neuroanatomie der Motivation
Die Feststellung von Motivationsstörungen bei Patienten mit bestimmten zerebralen Erkrankungen oder Verletzungen sowie der Einfluss psychotroper Substanzen auf die Motivation hat schon früh dazu geführt, über die neuroanatomische Verankerung
5
und Biochemie der Motivation zu spekulieren (z. B. Duffy 1997; Habib u. Galaburda 1999). Sowohl bei Luria (1973) als auch bei Blumer und Benson (1975) finden sich erste Überlegungen zur neuronalen Implementierung und zur Psychopathologie der Motivation. Luria (1973) postuliert ein Handlungsregulationssystem, das er im Bereich des präfrontalen Kortex implementiert sieht und für die Programmierung, Regulation und Verifikation von Handlungen verantwortlich macht. Eine Schädigung dieses Systems kann zu einer Störung zielgerichteten Handelns bis hin zu einem weitgehenden Verlust jeglicher Handlungsinitiative und -aktivität führen. Zahlreiche Fallberichte von hirngeschädigten Patienten belegen, dass es nach präfrontalen Läsionen, aber auch nach Läsionen im Bereich der Basalganglien (insbesonders bilateraler Läsionen des Caput nuclei caudati) und des Thalamus zu Störungen der Motivation kommen kann (Habib u. Galaburda 1999). Die genannten neuronalen Strukturen sind dabei vermutlich Bestandteile eines oder mehrerer neuronaler Netzwerke, in denen die für ein zielgerichtetes Verhalten notwendigen Prozesse realisiert werden. Wie komplex aber die funktionelle Architektur dieses Netzwerkes der Motivation ist, zeigen Watts und Swanson (2002; s. auch Jahanshahi u. Frith 1998). Ein vollständiges Modell eines neuronalen Netzwerkes der Motivation muss nicht nur die Gründe für zielgerichtetes Verhalten erklären können, sondern auch angeben, wie Verhaltenszustände (inkl. kognitive Aspekte der Motivation), interosensorische und exterosensorische Informationen und hormonelle Einflüsse motiviertes Verhalten realisieren und welche Kontrollsysteme sie dafür benutzen (Watts u. Swanson 2002; vgl. ▶ Kap. 4 »Der »kognitive Kern« der Neuropsychologie« von Rüsseler, in diesem Band). Die bislang empirisch am besten abgesicherten Modelle basieren auf tierexperimentellen Studien und versuchen insbesondere die funktionellen und biologischen Mechanismen des Belohnungssystems (als einem Aspekt der Motivation) zu identifizieren. Belohnungen werden dabei als Faktoren gesehen, die helfen physiologische Bedürfnisse oder Prozesse (»tissue needs«, Kupferman 1991) zu regulieren und dadurch Verhalten motivieren. Das Belohnungssystem spielt eine zentrale Rolle für das Überleben und das Wohlergehen von
82 Kapitel 5 · Neuropsychologie der Motivation
5
. Abb. 5.1. Aktivitätsprofile eines Patienten mit einem Schädel-Hirn-Trauma (Proband A) und einer gesunden Kontrollperson (Proband B). Bei Proband A handelt es sich um einen 57–jährigen männlichen SHT-Patienten mit einem linkshemisphärischen Subduralhämatom und Kontusions-
blutungen bifrontal und rechts temporal, der vor 17 Monaten ein SHT erlitten hat und motorisch nicht eingeschränkt ist. Bei Proband B handelt es sich um eine 64–jährige gesunde Kontrollperson
Individuen hat und auch beim Suchtverhalten eine maßgebliche Bedeutung. In den Studien zum Belohnungssystem werden Läsionsmethoden, elektrische Selbststimulation, psychopharmakologische Ansätze sowie physiologische Methoden wie die In-vivo-Mikrodialyse, Einzelzellableitungen und bildgebende Verfahren eingesetzt, um die für die Verarbeitung von Belohnungsreizen relevanten Strukturen und Neuro-
transmitter zu identifizieren (Schultz 2000). Aufgrund der Verwendung von Versuchstieren ist die Übertragung der Ergebnisse solcher Studien auf menschliches Verhalten leider begrenzt. Dennoch lassen sich anhand solcher Studien Informationen darüber gewinnen, wie Informationen über den hedonischen Wert (Belohnung, Bestrafung) eines Objekts, Informationen über die Vorhersagbarkeit und Verfügbarkeit von Belohnungen sowie Strate-
83 5.8 · Funktionelle Neuroanatomie der Motivation
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gien und Kosten zum Erreichen von Belohnung durch das Gehirn verarbeitet bzw. realisert werden (Schultz 2000). Wesentliche Bestandteile und Aufgaben eines solchen Belohnungssystems (»incentive model of motivation«, Watts u. Swanson 2002) mit den entsprechenden neuronalen Korrelaten sind in . Abb. 5.2 dargestellt. Dopaminerge Neurone (Dopamin scheint einer der zentralen Neurotransmitter bei der Verarbeitung von Belohnungsreizen zu sein; Schultz 2002) im Mittelhirn reagieren auf die unerwartete Verfügbarkeit und Darbietung einer Belohnung und produzieren ein globales Verstärkungssignal, das das Lernen neuer Verhaltensweisen unterstützt. Neurone im Bereich des medialen Temporallappens, aber auch im Striatum ermöglichen das Erkennen einer Belohnung. Diese Neurone sind auch dafür verantwortlich, dass die Art und die Identität der Belohnung identifiziert und wahrgenommen werden kann. Das Gehirn erkennt und analysiert aber nicht nur vergangene Ereignisse, sondern konstru-
iert und modifiziert auf der Grundlage vergangener Erfahrungen kontinuierlich Erwartungen über zukünftige Ereignisse und mögliche Belohnungen. Neurone im Bereich des medialen Temporallappens (z. B. Amygdala) und im orbitofrontalen Kortex scheinen auf diese Aufgabe spezialisiert zu sein. Informationen über die Verfügbarkeit einer Belohnung werden dann genutzt, um das Verhalten auf das Erreichen der Belohnung auszurichten. Die Erwartung einer Belohnung bestimmt also die Richtung, Intensität und Persistenz des Verhaltens. Neurone im dorsolateren präfrontalen, aber auch im prämotorischen und parietalen Kortex sind an der Repräsentation von Zielen (Arbeitsgedächtnisfunktion) und an der Planung und Ausführung von Handlungen beteiligt. Ein vergleichbares Modell der Motivation wurde von Marin (1996) postuliert (s. auch Duffy 1997, 2000). In diesem Modell wird davon ausgegangen, dass Umweltinformationen, die über posteriore Systeme analysiert und verarbeitet werden, zu Arealen des medialen Temporallappens (Amygdala und
. Abb. 5.2. An der Verarbeitung von Belohnungsreizen involvierte Hirnareale. (Mod. nach Schultz 2000, S. 200). Die aufgeführten Hirnareale und -strukturen sind beteiligt am Erkennen früherer Belohnungen, an der Vorhersage und der Erwartung zukünftiger Belohnung und am Gebrauch von Informationen über zukünftige Belohnung,
anhand derer zielgerichtetes Verhalten kontrolliert werden kann. Aktivierende Einflüsse Inhibierende Einflüsse (Die unterschiedlichen Pfeilarten spiegeln die verschiedenen Arten der Verbindung, aktivierend – inhibierend, wider.)
84 Kapitel 5 · Neuropsychologie der Motivation
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. Abb. 5.3. Zentrale neuronale Strukturen des Motivationsnetzwerkes und deren Verbindungen zu anderen neuronalen Arealen. (Mod. nach Marin 1996) Aktivierende Einflüsse Inhibierende Einflüsse
(Die unterschiedlichen Pfeilarten spiegeln die verschiedenen Arten der Verbindung, aktivierend – inhibierend, wider.)
Hippokampus) sowie zu anderen limbischen Strukturen gelangen, wo die eigentliche motivationale Verarbeitung der Information erfolgt. In der Amygdala und im orbitofrontalen Kortex wird der Belohnungswert eines Reizes festgestellt. Wie schon Schultz (2000) beschrieben hat, finden sich hier Neurone, die selektiv auf die Darbietung von Belohnungsreizen reagieren. Marin (1996) geht ferner davon aus, dass der motivationale Zustand eines Organismus in einem neuronalen Netzwerk (»core structure of the motivational circuitry«) repräsentiert ist, das aus dem Nucleus accumbens, dem ventralen Pallidum und dem ventralen Tegmentum besteht. Läsionen in diesem zentralen Motivationsnetzwerk führen bei Tieren zum Verlust von Lokomotionsverhalten. Aufgrund seiner zentralen Lage und seiner Verbindungen zu anderen Hirnarealen (Amygdala, Hippokampus und präfrontaler Kortex) scheint dieses System bestens geeignet, den motivationalen Zustand eines Individuums zu repräsentieren und kann über diese Verbindungen wichtige motorische Systeme, aber auch autonome
Zentren im Hirnstamm (Andersson et al. 1999a), beeinflussen. Das zentrale Motivationssystem (bzw. der motivationale Zustand einer Person) wird selbst wiederum durch das limbische System und/oder den präfrontalen Kortex beeinflusst. Dysfunktionen im zentralen Motivationsnetzwerkes sind laut Marin (1996) dafür verantwortlich, dass Motivationsstörungen entstehen und die Patienten nicht mehr in der Lage sind, Motivationszustände zu etablieren oder zu beeinflussen. Es kann aber auch sein, dass sie keine Handlungen mehr planen können oder nicht mehr in der Lage sind, zielgerichtetes Verhalten zu initiieren (Jahanshahi u. Frith 1998). Die beiden vorgestellten Modelle weisen eine große Ähnlichkeit auf und geben eine erste Vorstellung darüber, welche Hirnstrukturen an der Realisierung motivierten Verhaltens beteiligt sind. Die Modelle machen aber auch deutlich, dass die funktionelle Neuroanatomie der Motivation momentan nur in Ansätzen verstanden wird und sowohl auf funktioneller als auch neurobiologischer Ebene
85 5.9 · Therapeutische Interventionen bei Motivationsstörungen
noch wesentlich präzisere Theorien entwickelt werden müssen. Ein Hauptargument, warum die bisherigen eher biologisch ausgerichteten Motivationsmodelle nicht ausreichend sind, lässt sich leicht aus der alltäglichen Beobachtung menschlichen Verhaltens ersehen. Aus solchen Beobachtungen wird schnell deutlich, dass motiviertes Verhalten nur z. T. durch unmittelbare physiologische Bedürfnisse (Temperaturregulation, Ernährung, Durst) hervorgerufen und verursacht wird. Weder Sexualität noch Neugierverhalten lassen sich auf elementare physiologische Bedürfnisse zurückführen. Hinzu kommt, dass auch homöostatische Prozesse wie die Nahrungsaufnahme nicht nur durch primäre physiologische Faktoren und Regelkreise kontrolliert werden, sondern auch durch sekundäre Faktoren. Diese sekundären Faktoren (erlernte Verhaltensweisen, Kognitionen) modulieren das negative FeedbackSignal, das das physiologische Bedürfnis signalisiert. Primäre physiologische Signale sind so willentlich beeinflussbar und können zwecks Befriedigung anderer Bedürfnisse oder zwecks Erreichen anderer Ziele unterdrückt werden. Man denke hier nur an Personen, die auf bestimmte Nahrungsmittel verzichten oder ihre Kalorienzufuhr pro Mahlzeit stark reduzieren, um eine attraktive Figur zu erlangen oder zu behalten. Kognitive Theorien der Motivation erweitern die bislang eher biologisch ausgerichtete Sicht auf das Phänomen Motivation und erlauben die Integration von Motivatoren, die nicht unmittelbar der Bedürfnisbefriedigung dienen, sondern in Interaktion mit der Umwelt erlernt wurden (Dickinson u. Balleine 2002). Ein zentrales Merkmal solcher kognitiven Motivationstheorien besteht darin, dass in den Theorien »Ziele« als zentrale Konstrukte verwendet werden (Austin u. Vancouver 1996). Ziele stellen interne Repräsentationen von gewünschten oder erstrebenswerten Zuständen (»internal representations of desired states«) dar, wobei mit dem Begriff »gewünschte Zustände« eine breite Palette möglicher Handlungsergebnisse oder -ereignisse, aber auch Prozesse verstanden wird (Austin u. Vancouver 1996, S. 338). Ziele sind also ins Auge gefasste oder vorgestellte Zustände, die Personen willentlich anstreben und auf deren Erreichung sie aktiv hinarbeiten, bzw. die sie vermeiden möchten.
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Um verstehen zu können, was Menschen motiviert, ist es aus Sicht kognitiver Motivationsforscher wichtig, 1. Struktur und Eigenschaften von Zielen, 2. Dynamik der Zielprozesse und 3. Inhalte von Zielen zu untersuchen und zu verstehen. Bei der Erforschung der Struktur und Eigenschaften von Zielen innerhalb oder zwischen Personen stellen sich z. B. Fragen nach der Art und Lokalisation der neuronalen Repräsentation von Zielen, aber auch nach den Eigenschaften und Formen dieser Ziele. Die Dynamik der Zielprozesse beschreibt die Prozesse, die zum Erreichen eines oder multipler Ziele notwendig sind. Hierunter fallen die Etablierung von Zielen (z. B. Zuweisung von Zielen durch Umwelt, partizipative Entwicklung von Zielen), das Planen, das Anstreben, die Überwachung und die Revision von Zielen. Bei den Zielinhalten geht es um deren allgemeine Beschreibung und Kategorisierung. Es geht also um die Frage, welche Ziele Menschen überhaupt haben, und um die Frage nach übergreifenden Gemeinsamkeiten oder Taxonomien (Chulef et al. 2001). Beispielsweise haben Chulef et al. (2001) mittels Fragebogenerhebung und faktorenanalytische Auswertung sechs wesentliche Gruppen von Zielen gefunden. Es handelt sich um 1. interpersonelle Sorgen, 2. kompetitive Vorteile, 3. Exploration/Spiel, 4. balancierter Erfolg, 5. ökonomischer Status und 6. intellektuelle Orientierung.
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Therapeutische Interventionen bei Motivationsstörungen
Eine zielgerichtete und wirkungsvolle Behandlung einer Motivationsstörung, einschließlich des Ap A athiesyndroms, ist momentan nur begrenzt möglich. Motivationsstörungen, die durch eine Einnahme von Psychopharmaka oder anderen Medikamenten sowie durch reversible Krankheitsprozesse entstanden sind, können sicherlich kausal behandelt werden. Hierzu ist aber eine genaue Ursachenfor-
86 Kapitel 5 · Neuropsychologie der Motivation
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schung und Differenzialdiagnostik von entscheidender Bedeutung (Campbell u. Duffy 1997). In verschiedenen Einzelfallstudien und Fallserien mit hirngeschädigten oder geriatrischen Patienten, die eine sehr schwere Motivationsstörung aufwiesen, wurden Therapieerfolge mit Dopaminagonisten (z. B. Bromicriptine), NMDA-Antagonisten, katecholaminergen Psychostimulantien (z. B. Methylphenidat) oder antriebssteigernden Antidepressiva (z. B. Amitriptylin) berichtet (Campbell u. Duffy 1997; Marin et al. 1995). Kontrollierte Studien gibt es allerdings bislang nicht (Whyte et al. 2002). Die Motivation eines Patienten kann aber nicht nur durch bestimmte Psychopharmaka, sondern auch durch psychologische Maßnahmen beeinflusst werden. Intensive Stimulation durch angereicherte Umwelten, feste Aktivitätspläne, geplante soziale Interaktionen sowie der Einsatz von Verstärkern können ebenfalls einen positiven Effekt auf die Motivation eines Patienten haben (Campbell u. Duffy 1997). Zencius et al. (1989) haben z. B. Verhaltensverträge und Verstärkerprogramme (TokenProgramm und Response-cost-Methode) eingesetzt, um bei 2 hirngeschädigten Patienten die Teilnahme an Therapien zu verbessern. Alle 3 verwendeten Interventionen führten zu einer Verbesserung, wobei insbesondere das Token-Programm in Verbindung mit der Response-cost-Methode den größten Effekt erzielte. Gauggel et al. konnten zeigen, dass eine Motivierung durch kognitive Interventionen, das bedeutet die Setzung schwieriger Ziele, zu einer Leistungsverbesserung bei verschiedenen Aufgabenstellungen (z. B. Rechnen, Feinmotorik) führt und die erzielten Verbesserungen auch anhaltend sind (für eine Übersicht s. Gauggel u. Hoop 2004). Kritisch muss aber festgehalten werden, dass solche Interventionen nicht bei allen ätiologischen Gruppen erfolgversprechend sind.
5.10 Fazit In diesem Kapitel wurde ein Überblick über die Neuropsychologie der Motivation gegeben. Es wurde gezeigt, dass Motivationsstörungen im klinischen Alltag häufig vorkommen und von erheblicher Bedeutung für die Betroffenen und deren Angehörige
sind. Ferner wurden verschiedene Verfahren zur Diagnostik einer Motivationsstörung (insbesondere einer A Apathie) vorgestellt, mit denen auch Hinweise auf die kognitive Verarbeitung von Belohnungen gewonnen werden können. Anhand klinischer Fallbeschreibungen und tierexperimenteller Studien konnten erste Modellvorstellung über die neuronale Implementierung motivationaler Prozesse (Implementierung des Belohnungssystems) entwickelt werden. Allerdings wird deutlich, dass es momentan noch ein weiter Weg bis zu einem weitreichenden Verständnis der Motivation und seiner Neurobiologie ist. Es fehlt momentan insbesondere eine umfassendere psychologische Theorie der Motivation, anhand derer Untersuchungsparadigmen jenseits der klassischen Belohnungs- und Bestrafungsaufgaben entwickelt werden können. Ein Blick in den Alltag macht deutlich, dass das postulierte Motivationsmodell als Belohnungssystem nur sehr begrenzt die Vielzahl an Motiven und Motivationsunterschieden erklären kann. Um die Brücke vom Tier zum Menschen zu schlagen, müssen zukünftig sicherlich kognitive Theorien der Motivation bei der Entwicklung eines neuropsychologischen Modells der Motivation stärker berücksichtigt werden (Miceli u. Castelfranchi 2002). Die neuropsychologische Forschung konzentrierte sich bislang v. a. auf Triebe, Bedürfnisse und Verstärker (»incentives«). Durch die Fokussierung auf Handlungsziele und die Regulation dieser Ziele (Entwicklung von Zielen, Zielhierarchien, Zielimplementierung) im Rahmen einer Handlungsregulationsperspektive kann motiviertes Verhalten vermutlich besser analysiert und verstanden werden (Jahanshahi u. Frith 1998). Diese Handlungsregulationsperspektive versteht Menschen dabei als flexible Strategen, die die Richtung, Intensität und Persistenz ihres Verhaltens entsprechend der gesetzten Ziele ausrichten. Somit spielt die Analyse der Inhalte der Ziele, die Implementierung der Ziele, die Art der Zielsetzung und -gewichtung für das Verständnis der Motivation eine wichtige Rolle (Gauggel u. Hoop, in press).
87 5.11 · Literatur
Zusammenfassung Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Neuropsychologie der Motivation und mit Störungen der Motivation. Nach einer kurzen historischen Einführung werden verschiedene Krankheitsbilder vorgestellt, bei denen häufig Motivationsstörungen auftreten können. Im Anschluss daran werden die diagnostischen Kriterien einer sehr schweren Motivationsstörung, der Apathie, präsentiert und Kriterien für die Differenzialdiagnostik der Apathie diskutiert. Darüber hinaus werden Verfahren zur Untersuchung und Erfassung von Motivationsproblemen vorgestellt und beschrieben. Abschließend werden zwei neuroanatomische Modelle der Motivation skizziert und auf die Bedeutung kognitiver Modelle der Motivation hingewiesen.
5.11 Literatur Al-Adawi S, Powell JH, Greenwood RJ (1998) Motivational deficits after brain injury: A neuropsychological approach using new assessment techniques. Neuropsychol 12: 115–124 Andersson S, Bergedalen AM (2002) Cognitive correlates of apathy in traumatic brain injury. Neuropsychiatry Neuropsychol Behav Neurol 15: 184–191 Andersson S, Krogstad JM, Finset A (1999a) Apathy and depressed mood in acquired brain damage: Relationship to lesion localization and psychophysiologic reactivity. Psychol Med 29: 447–456 Andersson S, Gundersen PM, Finset A (1999b) Emotional activation during therapeutic interaction in traumatic brain injury: effect of apathy, self-awareness and implications for rehabilitation. Brain Inj 13: 393–404 Andreasen NC (1982) Negative symptoms in schizophrenia. Arch Gen Psychiatry 39: 784–788 Austin JT, Vancouver JB (1996) Goal constructs in psychology: Structure, process, and content. Psychol Bull 120: 338–375. Das Konstrukt »Ziel« wird bei vielen kognitiven Motivationstheorien als zentral angesehen. Die Autoren geben eine sehr lesenswerte Übersicht über die theoretische Bedeutung des Zielkonstruktes und stellen den aktuellen Stand der Forschung dar. Insbesondere gehen sie auf die Struktur und Eigenschaften von Zielen, deren Entstehung und Erreichung sowie Taxonomien von Zielen ein. Belmont I, Benjamin H, Ambrose J, Restuccia RD (1969) Effects of cerebral damage on motivation in rehabilitation. Arch Phys Med Rehabil 50: 507–511 Berrios GE, Gili M (1995) Abulia and impulsiveness revisited: a conceptual history. Acta Psychiatr Scand 92: 161–167 Bhatia KP, Marsden CD (1994) The behavioural and motor consequences of focal lesions of the basal ganglia in man. Brain 117: 859–876 Blumer D, Benson DF (1975) Personality changes with frontal and temporal lesions. In: Benson DF, Blumer D (eds) Psychiatric aspects of neurologic disease. Grune & Stratton, New York, pp 151–170 Bussmann JBJ, Stam HJ (1998) Techniques for measurement and assessment of mobility in rehabilitation: a theoretical approach. Clin Rehab 12: 455–464
5
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88 Kapitel 5 · Neuropsychologie der Motivation
5
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6 6 Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen Dieter F. Braus, Heike Tost, Traute Demirakça
6.1
Forschungsansätze der Neurowissenschaften – 90
6.2
Modell über Hirnfunktion – 90
6.3
Bildgebende Verfahren: Darstellung von Hirnstruktur und -funktion – 93
6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4
Makromorphologische Bildgebung – 93 Mikromorphologie: Diffusions-Tensor-Bildgebung – 94 Funktionelle Bildgebung – 94 Biochemische Bildgebung: MR-Spektroskopie – 99
6.4
Befunde zur Bildgebung in der Psychiatrie – 100
6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5 6.4.6 6.4.7
Angststörung – 100 Affektive Störung – 101 Zwangsstörung – 103 Posttraumatische Stresserkrankung – 104 Substanzabhängigkeit – 105 Schizophrenie – 107 Demenzen – 111
6.5
Ausblick für die Neuropsychologie in der Psychiatrie – 114
6.6
Literatur
– 116
90 Kapitel 6 · Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen
6
Ein wesentliches Ziel moderner Psychiatrie besteht darin, die biologischen Mechanismen mentaler Funktion und Dysfunktion besser zu verstehen. Besonderes Interesse gilt dabei der Erforschung der neuronalen Netzwerke, die es dem Individuum erlauben, die Umgebung wahrzunehmen und einzuordnen, Gedächtnisspuren zu bilden und abzurufen sowie adäquate Handlungsstrategien zu entwickeln und umzusetzen. Ein besonderer Fokus in der Psychiatrie liegt auch in der Erforschung der biologischen Basis emotionaler Prozesse: Fragen wie »Auf welche Weise beeinflussen Emotionen unser Denken?«, »Welche Bedeutung hat das Belohnungssystem für Lernen und Suchtgedächtnis?« oder »In welchem Zusammenhang steht die Regulation von Gefühlen, Gedanken und Handeln mit der Entstehung einer Angsterkrankung, Depression, Manie oder Schizophrenie?« gilt es dabei zu beantworten. Im Gegensatz zu den klassischen Anwendungsfeldern der Neuropsychologie bei neurologischen Störungsbildern entziehen sich die beobachteten Verhaltens- und Erlebensauffälligkeiten der Neuropsychiatrie jedoch (noch) häufig einer genauen Definierbarkeit des zugrunde liegenden Substrates. Gerade in diesem Forschungsfeld kommt der bildgebenden Grundlagenforschung deshalb eine besondere Funktion im Zuge der Erkenntnisgewinnung zu. Im Folgenden wird nach einem kurzen Rückblick über die zwei wesentlichen Forschungsansätze der Neurowissenschaften ein einfaches heuristisches Modell der Hirnfunktion als hypothesengenerierende Grundlage der bildgebenden Forschung dargestellt. Zusätzlich werden die methodischen Grundlagen der bildgebenden Techniken mit einem Schwerpunkt im Bereich der Kernspintomographie erörtert. Relevante Ergebnisse der Bildgebung in der Psychiatrie werden zusammengefasst und zukünftige Möglichkeiten und derzeitige Limitierungen diskutiert.
6.1
Forschungsansätze der Neurowissenschaften
In der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung wird die funktionelle Organisation des Gehirnes über zwei verschiedene Herangehensweisen untersucht. 1. Der reduktionistische Weg (Bottom-up-Ansatz) zielt darauf ab, Verhalten und Erleben auf Basis
der einzelnen elementaren Komponenten des Nervensystems (Zellpopulationen, Signaltransduktionsmechanismen, Gene) zu analysieren und zu erklären. Dieser Ansatz erbrachte im letzten Jahrhundert grundlegende Kenntnisse über die biochemischen Grundlagen der neuronalen Kommunikation und den Einfluss der Umwelt auf die Zellreifung und -differenzierung. Als Erfolgsbeispiel dieser Vorgehensweise kann die Beeinflussung ätiologischer und therapeutischer Ansätze in der Psychiatrie durch die Dopaminhypothese der Gruppe der Schizophrenien benannt werden. 2. Der holistische Weg (Top-down-Ansatz) geht in seinen Erklärungsbemühungen dagegen vom komplex funktionierenden Gesamtsystem aus. Dieser Ansatz versucht z. B. über Verhaltensbeobachtung und Analyse der neuropsychologischen Einbußen nach Hirnläsionen einen Zusammenhang zwischen Gehirnfunktion, Kognition und Verhalten herzustellen. Dank holistischer Forschungsbemühungen weiß man heute beispielsweise, dass die anatomische Untergliederung des Neokortex sowie die Differenzierung von Kortex und Subkortex von funktioneller Bedeutsamkeit sind. Beide wissenschaftlichen Ansätze weisen Vorteile bzw. Limitierungen auf und ergänzen einander. Nichtinvasive bildgebende Verfahren stellen dabei eine wichtige Schnittstelle zwischen beiden Ansätzen dar: Sie erlauben sowohl die Darstellung der Makroebene über die Anatomie als auch das Abbilden holistisch-funktioneller, mikrostruktureller und einzelner biochemischer Korrelate am lebenden Gehirn (s. nachfolgende Theoriebox).
6.2
Modell über Hirnfunktion
Ein gängiges Modell zur Erklärung der Hirnfunktion postuliert als Ausgangsbasis die Interaktion auf unterschiedlichen Ebenen agierender Neuronenpopulationen (Frackowiak et al. 1997): Einerseits sog. »eloquente« Areale, die modular aufgebaut aus Nervenzellen bestehen, die über einen hohen Differenzierungs- und Spezialisierungsgrad verfügen und damit rasch und effizient spezifische Teilaufgaben ausführen (»lokale Spezialisten«). Als Beispiel sind die verschiedenen Areale des visuellen Informationsverarbeitungsnetzwerkes zu erwähnen, die sich
91 6.2 · Modell über Hirnfunktion
6
Theoriebox
Die Bildgebung als Chance für die Psychiatrie. Die Gestaltpsychologie vermutete schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass Wahrnehmung eine hohe kortikale Leistung ist, bei der das Gehirn die externe Welt eigenständig rekonstruiert, um kohärente und in sich konsistente interne Repräsentationen dieser Welt zu kreieren. Zusammen mit der Entdeckung des antimanischen Effektes von Lithium und der antipsychotischen Wirkung von Chlorpromazin beeinflusste diese Sichtweise die Neuorientierung psychiatrischer Erklärungsmodelle in der Mitte des 20. Jahrhunderts stark: Psychische Störungen gehen demnach auf Basis eines individuellen psychosozialen und genetischen Ursachengefüges mit mannigfaltigen biochemischen Veränderungen im Gehirn einher. Durch die Entwicklung von neuen Methoden zur Untersuchung der Neurotransmission biogener Amine rückten insbesondere die Katecholamine (z. B. Dopamin) und Indolamine (z. B. Serotonin) in den Theorien über die Pathogenese und Therapie psychiatrischer Störungsbilder in den Mittelpunkt. Heute geht man davon aus, dass bei psychischen Störungen fundamentale Dysfunktionen auf unterschiedlichen Ebenen der neuronalen Informationsverarbeitung vorliegen, die konsekutiv zu psychopathologisch relevanten Verhaltens- und Erlebensveränderungen sowie neuropsychologischen Funktionseinbußen führen. Diese Symptome können einerseits als Störung auf der Zell- und Genebene, andererseits in der Interaktion neuronaler Netzwerke bzw. unterschiedlicher neuronaler Subsysteme und deren zeitlicher Interaktion (Systemebene) ver-
auf die Analyse und Weiterverarbeitung spezifischer Reizeigenschaften spezialisiert haben (. Abb. 6.1). Andererseits gibt es neben diesen lokal spezialisierten Arealen morphologisch und funktionell weniger differenzierte Neuronenpopulationen, die die Informationen dieser lokalen Spezialisten dynamisch modulieren und global integrieren. Als Beispiele sind die heteromodalen Assoziationskortizes im Frontal- oder posterioren Parietallappen zu nennen, denen die Aufgabe zukommt, die einzelnen
standen werden. Derzeit ist eines der wesentlichen Ziele der modernen Psychiatrie, die zentralnervösen Mechanismen, die diesen Funktionsstörungen zugrunde liegen, mit nichtinvasiven Methoden zu identifizieren. Besondere methodische Bedeutung kommt dabei der Kernspinresonanz zu, einer seit den 1950er-Jahren in der Chemie und Physik gut etablierten Methode zur nichtinvasiven Strukturanalyse. Durch die Entwicklung von Supraleitern konnte in den 1980er-Jahren eine hohe Magnetfeldhomogenität und zeitliche Stabilität bei höheren Feldstärken erzielt werden. Zusammen mit der raschen Fortentwicklung der Computertechnologie und der Entwicklung von schnellen Gradientensystemen wurde die Kernspinresonanz so auch für die Medizin nutzbar gemacht. Durch kontinuierliche Verbesserung der Technik ergaben sich mit Beginn der 1990er-Jahre in der Kernspintomographie über die klassische Morphologie hinaus zunehmend neue Möglichkeiten,die Physiologie und Biochemie des zentralen Nervensystems zu studieren. Neben den pharmakogenetischen und molekularbiologischen Techniken haben insbesondere nichtinvasive, bildgebende Verfahren maßgeblich dazu beigetragen, noch fehlende Anteile der »Brücke« zwischen Psychopathologie und Gehirn zu ergänzen. Unter Einsatz dieser Untersuchungsverfahren besteht die begründete Hoffnung, dass psychische Störungen zukünftig besser differenziert und früher diagnostiziert werden können. Auf dieser Basis lassen sich dann individuellere, an den Bedürfnissen des Patienten orientierte, Therapien mit höherer Effizienz und geringeren Nebenwirkungen konzipieren.
modalitätsspezifischen Wahrnehmungsareale funktionell zu verbinden (Goldman-Rakic 1988). Die Informationsaufbereitung erfolgt hierbei über die einzelnen Module des Netzwerkes sowohl über sequentiell-hierarchische als auch über parallele Verarbeitungsprozesse. Die Letztgenannten spielen bei höheren Funktionen wie beispielsweise von Aufmerksamkeitsprozessen sicher eine größere Bedeutung als bei einfachen sensomotorischen Prozessen.
92 Kapitel 6 · Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen
6
. Abb. 6.1. Dargestellt ist die bevorzugte neuronale Verarbeitung von statischen bzw. bewegten Bilddarbietungen im visuellen System anhand unterschiedlicher Farbkodierungen. Die Blaukodierung zeigt visuelle Areale im Thalamus (Nukleus geniculatum laterale, LGN) und der primären Sehrinde des Okzipitallappens (V1), die sowohl auf statische als auch bewegte Reize reagieren. Die zunehmende Grünfärbung entlang des dorsalen visuellen Verarbeitungsnetzwerkes spiegelt die Spezialisierung der Neuronenpopulationen auf die
Verarbeitung visuoräumlicher und bewegter Informationen (»Wo, Wohin-Weg«) wider. Wesentliche Konstituenten des dorsalen Pfades sind dabei das bewegungssensitive Areal V5 (entspricht funktionell den mediotemporalen bzw. mediosuperior-temporalen Arealen MT/MST im Affengehirn), der inferior-parietale (IPL) bzw. superior-parietaler Kortex (SPL), des dorsolateral-präfrontalen Kortex (DLPC) sowie das frontale Augenfeld (FEF). COR coronar, SAG sagittal, TRA transversal
Nur unter der Voraussetzung, dass alle neuronalen Teilfunktionen der unterschiedlichen Areale zu einer effektiv modulierten Gesamtwahrnehmung integriert werden, können die im Alltag eingehenden Informationen in einen sinnvollen Gesamtkontext eingeordnet, Neues erlernt und erfolgreiche Handlungsstrategien entworfen werden. Wesentlich für die Kohärenz der zentralnervösen Informationsverarbeitung ist die exakte Synchronisation der einzelnen, auf die Verarbeitung unterschiedlicher Wahrnehmungsdimensionen spezialisierten Neuronenverbände über sog. Bindungsprozesse (Singer 1990). Schon eine geringe Störung des »Bindings«, z. B. durch den Einfluss von Drogen, führt zu inkohärenten Wahrnehmungen und widersprüch-
lichen neuronalen Metarepräsentationen. Klinisch bekannte Phänomene wie Wahrnehmungsverzerrungen sind die mögliche Folge. Das menschliche Gehirn ist ein äußerst plastisches Organ, dessen neuronale Verschaltungsmuster sich den Änderungen der eingehenden Erregungsmuster anpassen: in Abhängigkeit von der Intensität der Benutzung bestimmter Regelkreise wird deren Aktivität verstärkt oder geschwächt. Die biologischen Mechanismen der neuronalen Plastizität ermöglichen hierbei, dass beständig Neues erlernt und behalten werden kann, und dass Inhalte auch modifiziert und vergessen werden (Merzenich 1998). Störungen neuronaler Interaktion beinhalten damit ebenso das Potenzial,
93 6.3 · Bildgebende Verfahren: Darstellung von Hirnstruktur und -funktion
4 sich zu erhalten (Chronifizierung) bzw. 4 andere, noch intakte Metarepräsentationen negativ zu beeinflussen (Generalisierung), aber auch die Möglichkeit 4 durch Lernvorgänge (z. B. Psychotherapie) verändert zu werden. Als direktes physiologisches Korrelat der beschriebenen Vorgänge lassen sich dabei untersuchbare Veränderungen des Nährstoffbedarfes von Nervenzellen beobachten. In den beteiligten Hirnregionen wird durch die stattfindende Neurotransmission Energie verbraucht, die dem Gehirn in Form von Glukose und Sauerstoff über das Blut bereitgestellt wird (Ogawa u. Lee 1990). Aus den messbaren biochemischen und vaskulären Signalveränderungen können mit bildgebenden Techniken neuronale Funktionskarten als Ausdruck der kohärenten bzw. inkohärenten Hirnrepräsentationen erfasst werden. Moderne bildgebende Verfahren versuchen, sich über die nichtinvasive Abbildung dieser neuronalen Kohärenzmarker der Darstellung neuropsychologischer und psychopathologischer Veränderungen zu nähern.
6.3
Bildgebende Verfahren: Darstellung von Hirnstruktur und -funktion
Unter dem Oberbegriff der bildgebenden Verfahren wird eine Vielzahl verschiedener Techniken subsumiert, die in Bezug auf die Struktur und Funktion des Gehirnes unterschiedliche Parameter erfassen und darstellen können. Grundsätzlich lassen sich hierbei folgende Verfahren unterscheiden: 4 makromorphologische, 4 ultrastrukturelle, 4 funktionelle und 4 biochemisch-metabolische.
6.3.1 Makromorphologische
Bildgebung Mit dem Aufkommen der Computertomographie (CT) in den 1970er-Jahren des letzten Jahrhunderts lebte die Hirnforschung in der Psychiatrie nach jah-
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relangem Stillstand wieder auf. Ein eng eingeblendeter Röntgenstrahl tastet bei der CT eine transversale Körperscheibe tangential aus zahlreichen Winkeln ab. Die räumliche Verteilung der Absorptionswerte wird computerunterstützt berechnet und im Zuge der Datennachbearbeitung zu einem GrautonBild verarbeitet. Diese Methode machte nichtinvasive Untersuchungen der Hirnmorphologie bei Probanden und psychisch kranken Patienten möglich. Mit ihr gelang es z. B. bei Subgruppen von schizophrenen Patienten eine Vergrößerung des Ventrikelsystems nachzuweisen (Johnstone et al. 1976), was bei Erstdiagnose als indirektes Korrelat einer intrauterinen Entwicklungsstörung gewertet werden kann. Die makromorphologische Bildgebung wurde mit Einführung der Magnetresonanztomographie (MRT) in den 1980er-Jahren deutlich verfeinert. Ihr liegt ein einfaches physikalisches Resonanzphänomen zugrunde: Im magnetfeldfreien Raum sind die magnetischen Momente einer Probe ungeordnet. Wird die Probe (z. B. das menschliche Gehirn) in ein äußeres Magnetfeld gebracht, so wird diese Unordnung aufgehoben: Ein Teil der Protonen richtet sich parallel oder antiparallel zum äußeren Magnetfeld aus. Durch Zuschaltung eines hochfrequenten elektromagnetischen Wechselfeldes (oder Radiofrequenz-Pulses) wird diese Ausrichtung verändert. Bei der Reorientierung in einen energieärmeren Zustand wird die dabei aufgenommene Energie wieder frei, die mit speziellen Empfängerspulen gemessen werden kann. Dieses Signal, das je nach Art des Gewebes unterschiedlich ausfällt, erlaubt nach mathematischer Bearbeitung indirekte Aussagen über die Struktur der untersuchten Probe. Die MRT ermöglicht – im Gegensatz zur CT – Aufnahmen mit einer höheren örtlichen Auflösung ohne durch Röntgenstrahlen zu belasten. Durch ständige Verbesserungen des Magneten (größere Feldstärke, besseres Homogenisieren des Feldes), der Akquisitionstechniken (Sequenzoptimierung für kürzere Untersuchungszeiten bei höherer Auflösung, 3D-Sequenzen) und der Datennachbearbeitung lassen sich mittlerweile hochaufgelöste strukturelle Messungen im Millimeterbereich sowie dreidimensionale Datensätze mit Rekonstruktionsmöglichkeiten (z. B. der Gefäße über die MR-Angiographie) erreichen. Dadurch wurde zum einen die Segmentierung
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von Rinde, Mark und Liquorräumen möglich, und zum anderen die indirekte Volumenbestimmung unterschiedlicher Regionen verbessert (sog. Voxel basierte Morphometrie – VBM). Die Heterogenität und Widersprüchlichkeit vieler älterer MR-morphologischer Befunde mahnen jedoch zur Vorsicht vor zu weit gehender Interpretation der Messergebnisse. Besonders bei der Longitudinaluntersuchung von Erkrankungen wie Demenzen, Schizophrenien oder chronischem Alkoholismus sind hohe Geräte- und Postprocessingstandards erforderlich, um reliables Bildmaterial zu gewinnen. Darüber hinaus sind regelmäßige externe Qualitätskontrollen der technischen Ausstattung erforderlich, um den Einfluss der Geräteparameter auf die Messung zu kontrollieren (z. B. durch Phantommessungen). In den letzten Jahren wurde unter Berücksichtigung dieser Standards die VBM jedoch immer valider und sensitiver, was dazu führte, dass dieses Verfahren z. B. zur Verlaufsbeobachtung von Demenzen eine größere Bedeutung gewinnt.
rakteristik unterschiedlich stark ausgeprägt. Wassermoleküle können in unstrukturierten Kompartimenten frei nach allen Richtungen gleich (isotrop) diffundieren. In biologischen Systemen wie z. B. der weißen Substanz im Gehirn ist die Beweglichkeit hingegen in den verschiedenen Raumrichtungen der Nervenfasern unterschiedlich groß und verhält sich damit »anisotrop«. Der Grad der Anisotropie wird durch die Myelinumscheidung der Axone, die Organisation des axonalen Zytoskeletts und die Dichte der Membranen im Gewebe, die sog. »BioBarrieren« bilden können, wesentlich beeinflusst (. Abb. 6.2). Prinzipiell sind so Erkrankungen nichtinvasiv darstellbar, bei denen sich Größe, Abstand, Permeabilität, Integrität oder Konnektivität der Markfasern von normalem Hirngewebe unterscheiden und zu einer veränderten Wassermolekülmobilität führen. Klinische Studien zeigen das Potenzial ergänzender DTI-Charakterisierungen zum Aufspüren diskreter Hirnentwicklungsstörungen bei den Schizophrenien (Pfefferbaum et al. 1999) oder in der Frühdiagnostik der demenziellen Syndrome (Sandson et al. 1999).
6.3.2 Mikromorphologie: Diffusions-
Tensor-Bildgebung 6.3.3 Funktionelle Bildgebung Neben der Makromorphologie erlaubt die MR-Technologie über die sog. diffusionsgewichtete Bildgebung auch indirekte Einblicke in die Mikrostruktur der weißen Substanz (Gadian 1995). Im klinischen Zusammenhang geben Diffusionsparameter Auskunft über das Funktionieren der Blut-Hirn-Schranke. Der effektive Diffusionskoeffizient ist z. B. bei entzündlich-demyelinisierenden und ischämischen Gewebeveränderungen jeweils gegenüber Normalwerten verändert. Insbesondere im Rahmen der Frühdiagnostik zerebraler Ischämien oder der Darstellung der Gewebeveränderungen bei der multiplen Sklerose hat dieses Verfahren große klinische Bedeutung gewonnen. Als Weiterentwicklung dieser Technologie ermöglicht die Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI) zusätzlich die Charakterisierung der Mobilität von Wassermolekülen in allen drei Raumrichtungen und erlaubt so die Darstellung der Ultrastruktur myelinisierter Faserzüge. Die Mobilität der Wassermoleküle ist in Abhängigkeit von der Gewebecha-
Nuklearmedizinische Methoden Mit der Weiterentwicklung der Computertechnologie wurde das Abbilden funktioneller Zustände des Zentralnervensystems (ZNS) mittels digitaler Schnittbildtechniken möglich. Dabei werden radioaktive Substanzen (Radionuklide) in den Körper eingebracht und insbesondere hämodynamische Parameter analysiert. Diese nuklearmedizinischen Methoden basieren auf dem radioaktiven Zerfall instabiler Isotope, die als Marker sowohl neurovaskuläre Phänomene als auch spezifische Rezeptorfunktionen messbar machen. Eine erhöhte neuronale Aktivität führt zu verstärktem Blutfluss und erhöhtem Sauerstoffverbrauch, die sich nach Injektion der instabilen Isotope mit Hilfe ringförmig angeordneter, durch Koinzidenzschaltkreise verbundener Strahlungsdetektoren (c-Kamera) abbilden lassen. In Abhängigkeit des eingesetzten Nuklids sind ein Photon (»Single Photon Emission Computerized Tomography«, SPECT) oder zwei
95 6.3 · Bildgebende Verfahren: Darstellung von Hirnstruktur und -funktion
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. Abb. 6.2. Mikrostrukturelle Landkarte über die Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI): In der weißen Substanz ist die Diffusion nicht nach allen Raumrichtungen gleich verteilt (isotrop), sondern senkrecht zum Nervenfaserverlauf deutlich niedriger als in deren Verlauf (anisotrop): Diese Anisotropie ist mit der DTI-Methode bestimmbar (rechts). Sie
gibt indirekt Auskunft über die Mikrostruktur der Axone und Dendriten und damit der Konnektivität. In der farbkodierten DTI lässt sich die dominierende Faserverlaufsrichtung nachvollziehen (Mitte). Im Bereich z. B. des Corpus callosum verlaufen die Bahnen erwartungsgemäß überwiegend horizontal (rote Achse)
Photonen (»Positron-Emission-Tomography«, PET) pro Kernzerfall nachweisbar, sodass man anhand der Anzahl der Photonen die funktionelle Beanspruchung unterschiedlicher Gehirnareale berechnen kann (Posner et al. 1988; Raichle et al. 1976). Daneben führt eine erhöhte neuronale Aktivität zu verstärktem Energieverbrauch, der sich in erhöhter Glukoseaufnahme widerspiegelt, was über radioaktiv markierte 2-Fluoro-Deoxyglukose (FDG) messbar ist. Bei Einsatz spezifischer Liganden (z. B. 11C-N-Methyl-Spiperone zur Untersuchung von dopaminerger und serotonerger Neurotransmission, 11C-Carfentanil für den Opiatrezeptor) kann man durch Subtraktionstechniken das Rezeptorprofil und dessen funktionelle Änderungen im Zeitverlauf in definierten Hirnregionen bestimmen. Auf der Ebene der funktionellen Module haben nuklearmedizinische Methoden aufgrund ihrer hohen Sensitivität und Spezifität in den letzten Jahrzehnten einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, normale und pathologische Prozesse zu charakterisieren, die Wirkungsweise neuer Psychopharmaka besser zu verstehen und auch Differenzialdiagnosen (z. B. Dopamin-Transporter beim
Parkinson-Syndrom) zu erleichtern. Untersuchungen mit diesen Verfahren haben eine begrenzte räumliche Auflösung, nur Areale mit einer Mindestgröße von 4,05×4,39 mm (z. B. Siemens ECAT EXACT HR+) sind abbildbar. Limitierend sind weiterhin 4 der große technische Aufwand, 4 die Invasivität, 4 die (geringe) Strahlenbelastung und 4 die relativ hohen Kosten. Longitudinaluntersuchungen an Gesunden bzw. größere Patienten-Stichproben werden dadurch eingeschränkt.
Funktionelle Kernspintomographie Seit Beginn der 1990er-Jahre letzten Jahrhunderts steht mit der funktionellen Kernspintomographie (fMRI) ein weiteres Verfahren zur Verfügung, das einen nichtinvasiven Einblick in die Arbeitsprozesse des lebenden Gehirnes ermöglicht (Stehling et al. 1991). Wie bei anderen dynamisch-bildgebenden Methoden auch, werden bei der fMRI die Eigenschaften der »neurovaskulären Kopplung« zur indirekten Analyse zentralnervöser Aktivierungszu-
96 Kapitel 6 · Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen
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stände genutzt. Nach diesem biologischen Grundprinzip reagieren die blutzuführenden Gefäße des ZNS auf eine lokale Erhöhung neuronaler Feuerungsraten mit einer reflektorischen Erweiterung. Neben der Zunahme des regionalen zerebralen Blutflusses (rCBF) ändern sich auch die Oxygenierungseigenschaften des Blutes: so steigt der lokale O2-Partialdruck mit einer Zeitverzögerung von ca. 2–5 s deutlich über das Ausmaß des tatsächlichen metabolischen Bedarfes an (Überkompensation). Der nachfolgend erhöhte intrakapillare Konzentrationsgradient bedingt eine erhöhte Sauerstoffsättigung der aktivierten Gewebeanteile (Übersicht in: Frackowiak et al. 1997). Wie Pauling schon 1936 zeigen konnte, unterscheiden sich die magnetischen Eigenschaften des oxygenierten Hämoglobins von denen des Desoxyhämoglobins (diamagnetisch vs. paramagnetisch). Die lokale Variation der Magnetfeldhomogenität in Abhängigkeit von der Sauerstoffsättigung verschiedener Gehirnbereiche wird bei der Untersuchung im Kernspintomographen als eine Art »natürliches Kontrastmittel« genutzt. Dieser sog. »BOLD-Kontrast« (von »blood oxygenation level dependent«) aktivierter Areale äußert sich hierbei in Form einer lokalen Signalerhöhung in den MR-Bildern.
Unter Einsatz standardisierter sensomotorischer, affektiver oder kognitiver Stimulationsparadigmen können so die lokalen Veränderungen neuronaler und astrozytärer Erregungszustände nebenwirkungsfrei erfasst und indirekt in Form von Aktivierungslandkarten dargestellt werden. Zentralnervöse Reaktionen z. B. auf simultane visuelle und akustische Stimulation können damit ebenso studiert werden wie die neuronale Basis affektiver Prozesse oder von Aufmerksamkeits- und Lernvorgängen (. Abb. 6.3). Bei der fMRI muss dabei die Zeitverzögerung und Dispersion der hämodynamischen Antwort im Sekundenbereich beachtet werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass bei geeigneter Auswahl des Paradigmas und der statistischen Datenanalyse die zeitliche Auflösung der fMRI nur im Sekundenbereich liegt. Obwohl das BOLD-Signal nach einem kurzen Ereignis noch anhält, ist die Kopplung an die auslösende neuronale Aktivität sehr präzise und erlaubt bei einer exakten zeitlichen Koordination von Stimulationsparadigma und fMRI-Datenakquisition Aussagen über Abläufe im Bereich von ca. 200 ms (s. nachfolgende Methodenbox).
. Abb. 6.3. Funktionelle Landkarte bei gleichzeitigem Hören und Sehen, gemessen mit funktioneller Kernspintomographie (fMRI): Die Abbildung zeigt links farblich kodiert und einem morphologischen 3D-Datensatz überlagert diejenigen Areale im visuellen und akustischen Kortex, die eine Veränderung der regionalen Signalintensität unter einer
definierten visuell-akustischen Aktivierungsbedingung aufweisen. Rechts: Beispielhafter Kurvenverlauf des BOLD-Signals eines Teilareals mit initialem Abfall als Ausdruck der Zunahme von desoxygeniertem Blut, steilem Signalanstieg während der Stimulation und Abfall sowie negative Nachschwankung am Ende der Stimulation
97 6.3 · Bildgebende Verfahren: Darstellung von Hirnstruktur und -funktion
Methodenbox
Aktivierungsparadigmen und Hirnfunktion Die Gestaltung von funktionellen Aktivierungsparadigmen zielt darauf ab, möglichst spezifische Teilkomponenten von Informationsverarbeitungsprozessen, Kognitionen oder Affekten zu induzieren. Angepasst an die technischen Randbedingungen der Bildgebung müssen die Paradigmen außerdem wiederholbar möglichst robuste Änderungen der Hirnaktivierung bewirken, um die Detektierbarkeit des zu messenden Signals im methodenimmanenten Rauschen überhaupt zu ermöglichen. Die in den Neurowissenschaften verwendeten Studiendesigns lassen sich im Wesentlichen 3 Bereichen zuordnen, deren Übergänge nicht immer scharf abgegrenzt sind. 1. Bei der Verwendung des sog. kategorialen Designs geht man davon aus, dass sich spezifische funktionelle Areale durch die Subtraktion der hämodynamischen Antwort (gemessen mit fMRI oder PET) zweier verschiedener Stimulationsbedingungen, Aufgaben oder Zustände ermitteln lassen. Entscheidend ist hier aber, dass der Unterschied zwischen zwei Aufgaben auch tatsächlich als separate kognitive oder sensomotorische Komponente formuliert werden kann. Die Konjunktionsanalyse stellt in gewissem Sinne eine Erweiterung dieser kognitiven Subtraktion dar. Es lassen sich damit die gemeinsamen Effekte einer Reihe von unterschiedlichen Aufgaben (oder Prozessen) prüfen. Gleichzeitig können auch schon an kleinen Kollektiven Aussagen über charakteristische neuronale Prozesse gemacht werden. 2. Studien bei psychiatrischen Störungen, die Unterschiede zwischen Patienten und Probanden darstellen wollen, benutzen heute üblicherweise ein faktorielles Design. Die abhängige Variable ist dabei die neuronale Antwort (z. B. »BOLD-Response«), während man unter den Faktoren z. B. verschiedene neuropsychologische Stimulationsbedingungen, den psychopathologischen Status oder die genetische Ausstattung einer Person ver6
steht. Der größte Vorteil dieses Designs ist die Möglichkeit, Interaktionen zwischen unterschiedlichen Faktoren zu identifizieren, also z. B. der Einfluss der Psychopathologie (z. B. Katatonie) auf die motorische Antwort bei sequenzieller Fingerbewegung. Ein weiteres Beispiel für faktorielle Designs sind pharmakologische Studien, bei denen die Aktivierung vor und nach Medikamentengabe erhoben wird. Dabei ist zu bedenken, dass es bei vielen Pathologie-vs.-Aufgaben-Interaktionen im klinischen Alltag schwierig zu beurteilen ist, ob eine gegebene Abweichung der neuronalen Aktivierung eher auf eine aktuell herabgesetzte Leistungsbereitschaft (Anstrengung, Motivation) oder auf die generell reduzierte Effizienz neuronaler Netzwerke zurückzuführen ist. In diesem Zusammenhang kommt in der psychiatrischen Forschung der simultanen Leistungskontrolle im Magneten bzw. der Entwicklung von motivationsunabhängigen Paradigmen eine große Rolle zu (vgl. 7 Kap. 5 »Neuropsychologie der Motivation« von Gauggel, in diesem Band). 3. Als dritte Alternative gibt es das parametrische Korrelationsdesign, das ohne Kontrollbedingung auskommt und in den letzten Jahren die psychiatrische Forschung zunehmend dominiert. Die zugrunde liegende Annahme ist, dass die regionale Physiologie systematisch mit dem Grad der kognitiven oder sensomotorischen Verarbeitung bzw. ihren Defiziten variiert. Unabhängige Variablen sind hier mehr oder weniger kontinuierliche externe Variablen, wie z. B. – Geschwindigkeit visueller Stimuli, – Wortpräsentationsraten, – Lautstärke der akustischen Stimulation oder aber autonome Reaktionen der Probanden wie – Hautwiderstandsänderungen oder – Leistungen bei einer motorischen Aufgabe, die jeweils simultan dokumentiert werden. Unabhängig von der Art des Studiendesigns gibt es zwei Ansätze für die Umsetzung der Paradig-
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98 Kapitel 6 · Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen
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men, um den Gegebenheiten des technischen Rauschens im MRT oder PET gerecht zu werden und die Empfindlichkeit der gewonnenen Signale zu optimieren. Der robuste, aber eher unflexible sog. geblockte Ansatz besteht aus einer Folge von längeren (16–30 s) Stimulations- bzw. Ruheperioden und eignet sich für die Untersuchung stationärer neuronaler Prozesse, wohingegen kurze dynamische Prozesse nicht erfasst werden. Dieser Ansatz wird meist bei PET verwendet. Eine flexiblere Gestaltung des Stimulationsablaufs wird durch den sog. ereigniskorrelierten (»event-related«) Ansatz erreicht, der aus einer Reihe von kurzen Einzelstimulationen besteht, die randomisiert wiederholt werden. Dieser Ansatz aus der Elektrophysiologie ist inzwischen auch bei der fMRI zur Untersuchung von Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfunktionen sowie affektiven Reaktionen weit verbreitet. Beide Ansätze zielen auf die Identifikation sog. »lokaler Spezialisten«. Die Auswertung der im Rahmen der Experimente akquirierten Bilddatensätze erfolgt üblicherweise mit den Softwarepaketen SPM8 (auf der Basis von
MATLAB) oder BrainVoyager QX. Dabei werden die schichtweise entstandenen Aufnahmen 3-dimensonal rekonstruiert und in kleiner Volumeneinheiten (Voxel) von etwa 3×3×3 mm aufgeteilt. Grundprinzip der statistischen Bearbeitung der Voxel im Zeitverlauf ist das allgemeine lineare Modell. Gesucht wird ein statistisches Modell, das die abhängige Variable (»BOLD-Antwort«) als Linearkombination der Erklärungsvariablen (Faktorstufen, erwartete Modellfunktion der »BOLD-Antwort« in Abhängigkeit von der Stimulation) und einem Fehlerterm möglichst gut darstellt. Dies gelingt in den Arealen, deren Aktivierung sich entsprechend des Paradigmas ändert. Diese Berechnung wird für jedes Voxel gesondert durchgeführt, dabei werden in benachbarten Voxel mit signifikanten Ergebnissen zu größeren Einheiten (Clustern) zusammengefasst. Die Ergebnisse dieser Analyse können in einem weiteren Schritt für die Ermittlung der neuronalen Konnektivität verwendet werden. Sie wird mit Korrelations- bzw. Pfadanalysen berechnet und beschreibt den Einfluss, den ein neuronales System auf ein anderes ausübt. Dieser Ansatz hat in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen.
Studienbox
Konnektivätsanalysen Die gängigen Modelle der Hirnfunktion spiegeln sich auch in den Forschungsmethoden wieder. Die oben dargestellten Methoden sind entwickelt worden, um die lokale Spezialisierung bzw. funktionelle Segregation der Hirnregionen zu untersuchen. Dazu werden univariate Analysen von regional spezifischen Effekten durchgeführt. Es wird versucht, die Areale zu bestimmen, die für verschiedene kognitive Fähigkeiten zuständig sind (funktionelle Landkarten). Durch den Vergleich verschiedener Personengruppen (z. B. Patienten und gesunde Kontrollgruppen) versucht man, Unterschiede in diesen funktionellen Karten festzustellen und deren Bedeutung für z. B. die Psychopathologie, Emotion oder Kognition zu klären. Geht man jedoch davon aus, dass das Gehirn ein komplex funktionierendes Gesamtsystem ist 6
und sich optimales Funktionieren aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Hirnregionen ergibt, so ist der nächste Schritt die genauere Analyse dieser funktionellen Integration. Die Untersuchung des Zusammenspiels verschiedener Areale erfolgt über eine multivariate Analyse von regionalen Interaktionen. Statistisch gesehen handelt es sich dabei um eine Korrelationsanalyse. Wie bei allen Korrelationen ist auch hier zu beachten, dass es sich zwar um einen zeitlichen Zusammenhang handelt, dass aber nicht unmittelbar auf einen Kausalzusammenhang geschlossen werden kann, da unbekannt ist, wie der Zusammenhang zwischen den beteiligten Regionen vermittelt wird. Möglicherweise wird er durch eine weitere unbenannte Variable oder auch durch die Aktivität einer weiteren Hirnregion moduliert.
99 6.3 · Bildgebende Verfahren: Darstellung von Hirnstruktur und -funktion
Elementare Voraussetzung für die Untersuchung der Konnektivität in den klinischen Neurowissenschaften ist das Vorliegen von spezifischen Hypothesen z. B. anhand von tierexperiementellen Befunden und das Erarbeiten von möglichst spezifischen Modellen hinsichtlich zusammenwirkender Hirnregionen, die an dem zu untersuchenden Netzwerk beteiligt sind. Es existieren auch Methoden zu hypothesenfreien Vorgehen (z. B. Granger-Causaility-Maps (Granger 1980; Goebel et al. 2003) bzw. die Group IndependentComponent-Analysis (ICA) (Hyvärinen 1999; Esposito et al. 2006). Sie stellen jedoch sehr hohe Anforderungen an die Kapazität der Auswerterechner. Die nachgelagerte Interpretation der Ergebnisse ist außerdem schwierig und zunächst sehr subjektiv, so dass sie derzeit in der psychiatrischen Forschung eher einen geringen Stellenwert haben. Für die Analyse der Konnektivität zwischen Hirnregionen wurden verschiedene Ansätze entwickelt, die sich hinsichtlich der möglichen Aussage und der Methode unterscheiden (Friston 2009). Bei der Analyse der funktionellen Konnektivität handelt es sich um die die zeitliche Korrela-
6.3.4 Biochemische Bildgebung:
MR-Spektroskopie Mit der Kernspintomographie lässt sich neben dem funktionellen Fenster auch ein begrenztes biochemisches Fenster öffnen. Mit der sog. metabolischen Bildgebung (»MR-Spectroscopic-Imaging«, MRSI) wird die anatomische Information der MR-Bildgebung zusammen mit der biochemischen Information der MR-Spektroskopie (MRS) im gleichen Messvorgang erfasst. Mit der MRS werden unterschiedliche Metaboliten aufgrund ihrer chemischen Verschiebung (»Chemical-shift-Effekt«) identifizierbar. Hierbei wird die variierende Resonanzfrequenz von Protonen in verschiedenen Molekülstrukturen zur Identifizierung untersuchter Substanzen im Magneten genutzt. Größte Bedeutung für die Psychiatrie haben dabei die Kernresonanzsignale von 1H und 31P (Gadian 1995). Das promi-
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tion zwischen neurophysiologischen Ereignissen in verschiedenen Hirnregionen. Hier kann lediglich die Aussage getroffen werden, dass der zeitliche Verlauf der Aktivität der untersuchten Hirnregionen mehr oder weniger gleichförmig ist. Die Psychophysiologische Interaktion (PPI) untersucht den Einfluss einer psychologischen Variablen auf die Beziehung zwischen zwei Gehirnarealen. Es wird die Frage untersucht, ob sich der korrelative Zusammenhang zwischen den Aktivierungen in zwei Arealen unter dem Einfluss einer äußeren Variablen (z. B. Aufmerksamkeit, andere Aufgabenbedingungen, unterschiedliches Stimulusmaterial) verändert. Diese Methode kann auch auf genetische Einfluss-Faktoren (z. B. Serotonin-Transporter-GenPolymorphismus) erweitert werden. Höhere Ansprüche an das Hypothesenmodell stellt eine Analyse der effektiven Konnektivität, die den Einfluss untersucht, den ein neuronales System auf ein anderes System ausübt. Berechnet wird hier, ob sich die Beziehung zwischen 2 Regionen in Abhängigkeit von der Aktivität in einer 3. Region verändert. Die Methode des Dynamic-Causal-Modelling stellt einen Spezialfall der Berechnung der effektiven Konnektivität dar (Büchel et al. 2005).
nenteste 1H-MR-Metaboliten-Signal stammt von N-Azetyl-Aspartat (NAA). NAA kommt in erster Linie in Neuronen und deren Axonen vor und gilt als neuronaler Funktions- bzw. Untergangsmarker. In 1H-Spektren des Gehirnes werden weiterhin Resonanzen von Cholin (Ch) und Kreatin (Cr) beobachtet, die im Gehirn auch in den Gliazellen vorkommen. Das Ch-Signal setzt sich aus mehreren Signalen von cholinhaltigen Verbindungen zusammen. Cholin ist z. B. eine biochemische Vorstufe des Azetylcholin und Phosphatidylcholin. Als integraler Bestandteil mancher Phospholipide ist Cholin an den permanenten Auf- und Abbauprozessen der Zellmembran (»Membran-Turnover«) beteiligt und der mögliche Ausdruck einer reaktiven Gliose. Das Cr-Signal stammt von Kreatin und Phosphokreatin, die als Zwischenspeicher für energiereiche Phosphate dienen. Eine Vielzahl weiterer Verbindungen
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Kapitel 6 · Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen
wie z. B. Laktat, Inositol, Glutamat und GABA (Gammaaminobuttersäure) können in-vivo in Gehirnspektren beobachtet werden. Sie sind jedoch nur bei bestimmten Pathologien nachzuweisen und erfordern aufgrund ihrer geringen Konzentration und der starken Kopplung der Wasserstoffkerne höhere Magnetfeldstärken (z. B. 3 Tesla), kurze Echozeiten oder spezielle Editierungsverfahren für ihren Nachweis. Eine Weiterentwicklung der MRS ist die funktionelle MRS, deren Haupteffekt wie bei der fMRI auf den Blutflussverhältnissen beruht. Der Vorteil für physiologische Fragestellungen liegt in einem optimierten Signal-Rausch-Verhältnis, einer hohen Re-Test-Stabilität und einer exzellenten zeitlichen Auflösung von ca. 30 ms. Der größte Nachteil ist derzeit die geringe Ortsauflösung. Das zweite in der Psychiatrie gängige MRS-Verfahren ist die in-vivo-31P-MRS, die zusätzlich über Signale von Phosphomonoester (PME) und Phosphodiester (PDE) Informationen über anabole und katabole Prozesse im Phospholipidmetabolismus liefert. Im Vergleich zur H-MRS ist der technische Aufwand größer und die Ortsauflösung aufgrund der geringeren Nachweisempfindlichkeit vergleichsweise schlecht. Darüber hinaus besteht bei der MRS zur Klärung psychiatrischer Fragestellungen das Problem, dass die genaue neurobiologische Bedeutung der detektierten Metaboliten bisher nicht endgültig geklärt ist. In der Grundlagenforschung wurden jedoch für die Differenzialdiagnose nutzbare Muster von Metabolitenauffälligkeiten bei verschiedenen Störungen wie Demenzen, Hirntumoren, ischämischen Läsionen und Temporallappenepilepsie erarbeitet. Die 1H- und 31P-MRS wird deswegen zwischenzeitlich neben der Forschung auch in ersten klinischen Anwendungen zur Diagnostik und Therapieverlaufskontrolle von zentralnervösen Störungsbildern eingesetzt. 1
6.4
Befunde zur Bildgebung in der Psychiatrie
6.4.1 Angststörung Angststörungen stellen eine Gruppe von Erkrankungen dar, die gekennzeichnet sind durch grund-
lose und übermäßige Besorgnis bzw. Angstsymptome (vgl. 7 Kap. 10 »Neuropsychologie der Angststörungen« von Lautenbacher in diesem Band). Die biologischen Mechanismen wurden in den letzten Jahren sowohl im Tiermodell als auch mittels Bildgebung beim Menschen untersucht. Die Daten geben Hinweise darauf, dass Hirnstamm (Locus coeruleus, Raphekern), Thalamus (Tor zum Bewusstsein), Amygdala, Hippokampus und Parahippokampus sowie der mediale präfrontale Kortex in die Regulation von Aufmerksamkeit und Emotionen involviert sind und beim Entstehen von Furchtreaktionen eine Rolle spielen. Abhängig von der Art der Störung (soziale Phobie, spezifische Angststörung, Panikstörung, generalisierte Angststörung, Zwang) ergeben sich andere Schwerpunkte hinsichtlich der beteiligten Hirnregionen. Neben wenigen Ergebnissen zu Volumetrie (erhöhtes Hirnstammvolumen bei Panikstörung) und Spektroskopie (Glutamatveränderung im anterioren Zinglum) (vgl. Protopopescu et al. 2006) haben einige Studien Patienten mit Angststörungen mittels fMRI untersucht. Diese Studien verfolgen neben dem grundlagenwissenschaftlichen Anspruch, die Amygdalafunktion und ihre Interaktion besser zu verstehen, im Wesentlichen zwei Ansätze: 1. die neuronale Reaktion auf potenziell furchtauslösende Stimuli, 2. das Erlernen einer Furchtreaktion auf einen vorher neutralen Stimulus durch klassische Konditionierung. Untersuchungen, bei denen Angstreaktionen bei Patienten oder Probanden direkt ausgelöst wurden, sind dagegen die Ausnahme. Insbesondere bei sozialen Phobien kommt der Aktivierung der Amygdala bei der Verarbeitung potenziell furchtauslösende Stimuli eine zentrale Rolle zu. So konnte z. B. nachgewiesen werden, dass Patienten mit einer sozialen Phobie diese Region im Gegensatz zu Kontrollprobanden nicht nur bei Gesichtern mit negativer Mimik (Furcht, Ärger, Ekel; Lira Yoon et al. 2007), sondern auch bei neutralen Reizen aktivieren (Birbaumer et al. 1998). In anderen Studien erhöhte sich während der Betrachtung von Gesichtern die neuronale Antwort der Amygdala linear zu der in den Gesichtern ausgedrückten Furcht. Dies war auch der Fall, wenn die emotionale
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Verarbeitung nicht explizit war, was auf einen hohen Grad an Automatisierung hinweist (Straube et al. 2004)). Eine weitere Studie konnte zeigen, dass auch der zeitliche Verlauf der Amygdala-Aktivierung bei Patienten mit sozialen Phobien bei der Reaktion auf emotionale Gesichter verändert ist (Campbell et al. 2006). Ergebnisse hinsichtlich der Spezifität dieser Aktivierung sind nicht eindeutig. Studien bei Gesunden finden eine Aktivierung der Amygdala bei verschiedenen Arten der emotionalen Verarbeitung (Vuilleumier u. Pourtois, 2007). Eine veränderte Aktivierung der Amygdala und des anterioren Zingulums auf Gesichter mit ängstlicher Mimik zeigte sich z. B. bei Patienten mit Panikstörung (Pillay et al. 2006). Insgesamt scheinen spezifische angstauslösende Stimuli (insbesondere Gesichter) eine sehr differenzierte Amygdalareaktion hervorzurufen (Larson et al. 2006), die bei Angsterkrankungen gestört ist. Weiter legen die Ergebnisse verschiedener Studien einen funktionellen Zusammenhang der emotionalen Verarbeitung zu bestimmten genetischen Polymorphismen des Menschen nahe (Heinz et al. 2005). Das klassische Konditionieren als einfachste Form des Lernens erlaubt eine Beobachtung der Entstehung einer Furchtreaktion auf einen ursprünglich neutralen Reiz. Das Individuum lernt, dass eine bestimmte Reizdarbietung (konditionierter Stimulus, CS+) das Erscheinen eines anderen Reizes (unkonditionierter Stimulus UCS, in diesem Falle aversiv) vorhersagt, während dies bei einem dritten Reiz (CS-) nicht der Fall ist. Für eine genaue Abbildung dieses Phänomens ist eine zufällige Anordnung der Reize Voraussetzung. Die genaue Untersuchung der klassischen Konditionierung mit bildgebenden Verfahren ist erst seit der Entwicklung des ereigniskorr elierten(»event-related«) fMRI möglich. Der Vergleich der »BOLD-Antwort« nach CS+ (ungepaart) mit CS- zeigt dabei eine differenzielle Aktivierung im anterioren Gyrus cinguli, bilateral in der anterioren Inselregion und im medialen parietalen Kortex. Auch Studien zu induzierter Angst bei Gesunden – entweder durch die Erwartung eines Elektroschocks oder pharmakologisch hervorgerufen (CCK4 oder Procain) – wiesen übereinstimmend eine Aktivierung in der anterioren Inselregion auf, was auf eine wichtige Rolle dieser Region bei der
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. Abb. 6.4. Eine zentrale Hirnregion bei der Angstinduktion (z. B. mit visuellem Material) ist die Amygdala. Gleichzeitig kommt es zu einer Aktivierung extrastriärer visueller Areale, die bei der affektiven Verarbeitung von Bildern und Gesichtern eine Bedeutung haben
Emotionsverarbeitung und auch für Empathie hindeutet. Die wenigen Studien zur klassischen Konditionierung bei Patienten mit sozialen Phobien finden ebenfalls eine verstärkte Aktivierung der Amygdala, des Hippokampus, des orbitofrontalen Kortex, der Insula und des anterioren Cingulums auf die aversiv konditionierten Reize (Veit et al. 2002). Zusammenfassend scheinen nach derzeitigen funktionellen Befunden subkortikale Areale in der Amygdala und im Hirnstamm sowie kortikale Regionen orbitofrontal, im Bereich des subgenualen Gyrus cinguli sowie die vordere Insel die größte Bedeutung für die Entstehung und Aufrechterhaltung pathologischer Angstreaktionen zu haben, was sich auch in Therapiestudien widerspiegelt (. Abb. 6.4; Linden 2006; Straube et al. 2006).
6.4.2 Affektive Störung Affektive Störungen gehören zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen in der Primärversorgung (vgl. 7 Kap. 11 »Neuropsychologie affektiver Störungen« von Beblo, in diesem Band). Neuro-
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Kapitel 6 · Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen
chemische Befunde sprechen für eine Störung in der serotonergen, noradrenergen bzw. dopaminergen Neurotransmission; neuroendrokrinologische Daten weisen auf eine Regulationsstörung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden- bzw. Schilddrüsen-Achse mit Hyperkortisolismus hin (Nestler et al. 2002). Die Ergebnisse der bildgebenden Verfahren sowohl zu strukturellen als auch zu funktionellen Befunden bei affektiven Störungen, speziell der Depression, sind nicht immer einheitlich. Dies hat einerseits methodische, andererseits klinische Ursachen. Wie bei den Schizophrenien handelt es sich bei den affektiven Störungen eher um einen Symptomkomplex. Wichtig für replizierbare Ergebnisse von morphologischen und funktionellen bildgebenden Verfahren sind eine exakte diagnostische Klassifikation der Patienten und möglichst geringe Unterschiede zwischen den Patienten bzgl. der klinischen Ausprägung der Erkrankung (Davidson et al. 2002). Die Ergebnisse morphologischer Studien bei Patienten mit primären affektiven Störungen sind deshalb weniger konsistent als z. B. bei organischen symptomatischen depressiven Patienten nach linkseitiger Hirnläsion. Bei unipolaren affektiven Störungen finden sich neben subkortikalen und periventrikulären Signalanhebungen vermehrt Volumenreduktionen im posterioren subgenualen anterioren Zingulum und im Frontalhirn. Hier sind besonders betroffen: 4 das dorsolateral-präfrontale Marklager (»white matter lesions«, WML), 4 der mediale orbitofrontale Kortex sowie 4 der dorsolaterale präfrontale Kortex. Weitere Auffälligkeiten lassen sich in der Amygdala, den Basalganglien (Caudatum und Putamen) sowie dem Zerebellum nachweisen (Drevets 2000). Bei bipolaren Störungen sind neben den WML eine Vergrößerung des dritten Ventrikels und Volumenminderungen des Kleinhirnwurmes beschrieben worden. Des Weiteren wurde bei der rezidivierenden depressiven Störung eine Reduktion des Hippokampusvolumens beobachtet, was im Zusammenhang mit der chronischen Stressreaktion gesehen wird (Überblick für Depression in Campbell u. MacQueen 2006; Ende et al. 2006; Sheline 2003; und für Bipolare Störungen: Friedman et al. 2006).
Bei den Untersuchungen mit PET bzw. SPECT handelt es sich bei den affektiven Störungen meistens um Resting-state-Untersuchungen mit zum Teil widersprüchlichen Ergebnissen. Aktivierungsstudien mit definierten Stimulationsparadigmen und fMRI sind erst in jüngster Zeit durchgeführt worden (s. unten). Meist wurden depressive Patienten während der Erkrankung mit Gesunden verglichen, aber auch mit dem Zustand nach Remission oder nach Behandlung der Erkrankung. Sowohl bei unipolaren als auch bei bipolaren Störungen wurde während einer Depression ein erhöhter Glukosemetabolismus in der Amygdala und dem ventromedialen orbitofrontalen Kortex sowie der Insula nachgewiesen. Gleichzeitig zeigte sich eine verminderte Funktion des dorsolateral-präfrontalen, lateral-orbitofrontalen und parietalen Kortex (Mayberg et al. 1999). Es scheint eine inverse Beziehung zwischen präfrontaler Aktivität und Schwere der Depression zu bestehen. Auf der zellulären Ebene finden sich in der MRS Auffälligkeiten im Phosphatmetabolismus im Frontallappen (Soares et al. 1996) sowie eine Verminderung von Glutamat im anterioren Gyrus cinguli (Auer et al. 2000; Rosenberg et al. 2005). MRS Auffälligkeiten finden sich bevorzugt in den Regionen, die für die Verarbeitung von Emotionen (s. o.) zuständig sind (Ende et al. 2006; Colla et al. 2009). In den letzten Jahren sind einige fMRI Studien mit depressiven Patienten durchgeführt worden. Sie lassen sich in zwei Bereiche einteilen, die sich aus der Symptomatologie ableiten. Da affektive Störungen durch Abweichungen bei der Wahrnehmung, Verarbeitung und Speicherung emotionaler Stimuli, insbesondere sozialer Stimuli (Mimik, Sprache), gekennzeichnet sind, konzentriert sich ein Teil der fMRI-Studien darauf, die explizite und implizite Verarbeitung dieser Reize bei Patienten mit unipolarer Depression zu untersuchen. Hypothesengerecht wurde dabei in verschiedenen Studien eine Hyperaktivität der Amygdala gefunden (Fu et al. 2004; Sheline et al. 2001; Surguladze et al. 2005), die sich nach Behandlung wieder reduzierte (Fu et al. 2004; Sheline et al. 2001). Der andere Teil der Studien beschäftigt sich mit den bei den Patienten gefundenen Einschränkungen der kognitiven Funktionen wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Flexibilität. Zur Untersuchung
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des Arbeitsgedächtnisses werden sog. n-Back-Aufgaben verwendet. Hier lässt sich die Schwierigkeit steigern, je nachdem, wie weit der zu erinnernde Stimulus zurückliegt. Eine Leistungskontrolle ist bei diesen fMRI Studien unerlässlich, denn nur dann können Aktivierungsunterschiede auf die Erkrankung zurückgeführt werden. Bei vergleichbarer Leistung zeigten Patienten mit unipolarer Depression eine stärkere Aktivierung des dorsolateralen präfrontalen Kortex (Harvey et al. 2005; Matsuo et al. 2007; Walter et al. 2007), des anterioren Gyrus cinguli (Harvey et al. 2005; Matsuo et al. 2006; Rose et al. 2006; Walter et al. 2007), sowie des medialen Orbitofrontalkortex (Rose et al. 2006) bei der Durchführung der n-Back-Aufgaben als Hinweis für verminderte Effizienz der Informationsverarbeitung. Der Stroop-Test ist eine Möglichkeit, die Funktion des präfrontalen Kortex und des Gyrus cinguli zu untersuchen. Diese beiden Regionen haben eine Schlüsselstellung im kognitiven und emotionalen Kontrollsystem. Auch hier zeigte sich ebenfalls eine Hyperaktivierung des anterioren Gyrus cinguli und des dorsolateralen präfrontalen Kortex (Videbech et al. 2004; Wagner et al. 2006) bei depressiven Patienten. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass basierend auf diesen morphologischen und funktionellen Daten sowie den psychopharmakologischen Befunden sich Netzwerkmodelle zur depressiven Störung entwickelt haben (Übersicht in Davidson et al. 2002). Besondere Beachtung findet das Modell von Mayberg (1999). In diesem Modell kommt den rostralen Anteilen des anterioren Gyrus cinguli (BA25) eine wichtige regulatorische Rolle bei der neuronalen Interaktion zwischen den dorsalen (Aufmerksamkeit, Kognition) und ventralen (Vegetativum) Hirnanteilen zu. Eine depressive Störung ist danach Ausdruck des Misslingens der koordinierten Interaktion eines Netzwerkes von dorsalen und ventralen kortikalen sowie subkortikalen Regionen. Beim Wechsel zwischen Gefühlszuständen ist dabei bei Patienten und bei Gesunden ein fast identisches Set von ventralen limbisch-paralimbischen und dorsalen neokortikalen Regionen involviert. Die Remission von einer depressiven Störung ist verbunden mit verminderter Aktivierung in paralimbischen Arealen und kortikalen Effizienzsteigerung in dorsal-neokortikalen Regionen. Vorübergehende
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Traurigkeit zeigt ein gegenläufiges Muster mit Aktivitätszunahme in ventralen paralimbischen Arealen und Abnahme in dorsal-neokortikalen Bereichen. Zukünftige Untersuchungen werden zeigen, inwieweit dieses Modell sich eignet, biologische Subgruppen zu identifizieren und Therapiestrategien zu optimieren. Eine Zusammenfassung von Bildgebungsstudien mit Patienten mit bipolaren Störungen ist derzeit nicht zuletzt aufgrund der verschiedenen möglichen emotionalen Zustände der Patienten schwierig (Friedman et al. 2006), die Ergebnisse sind entsprechend widersprüchlich.
6.4.3 Zwangsstörung Zwangsstörungen sind durch das wiederkehrende Auftreten zeitraubender Zwangsgedanken oder -handlungen, die eine deutliche Beeinträchtigung des Alltags bedeuten, charakterisiert (vgl. 7 Kap. 12 »Neuropsychologie der Zwangsstörung« von Leplow, in diesem Band). Die Lebenszeitprävalenz der Erkrankung wird auf 2–3% geschätzt. Die Betroffenen sind sich z. B. der bizarren Symptome voll bewusst und können sie trotz intensiver Bemühungen nicht kontrollieren. Es besteht eine auffällige kulturenübergreifende Konsistenz der Symptome, die bisweilen über Stunden anhalten können und über den Krankheitsverlauf eine Zunahme aufweisen. Diese Beobachtungen sprechen dafür, dass spezifische neuronale Module bzw. Modulgruppen repetitive dysfunktionale Muster von Gedanken oder Handlungen auslösen. Im Gegensatz zum Parkinson-Syndrom oder der Epilepsie gibt es dabei kein offensichtliches Hirnareal, das einer Zelldegeneration unterliegt. Neurophysiologische Untersuchungen zeigen jedoch, dass eine direkte Elektrostimulation des dorsalen Gyrus cinguli zu stereotypen Verhaltensmustern führt. Pharmakologisch zeigten sich Auffälligkeiten in der serotonergen und dopaminergen Neurotransmission, was auf eine Beteiligung der Basalganglien, des Belohnungssystems und des Frontalhirns hinweist. Veröffentlichungen zur strukturellen MRT weisen trotz der Inkonsistenz verschiedener Studienbefunde ebenfalls zumindest auf eine erhöhte Prädisposition zur Entwicklung von Zwangssymptomen nach Basalganglienläsionen hin
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Kapitel 6 · Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen
(Friedlander u. Desrocher 2006). PET-Befunde ergaben dazu passend veränderte Aktivierungsmuster im orbitofrontalen Kortex, dem anterioren Gyrus cinguli, medialen präfrontalen Arealen, dem vorderen Teil des Striatums sowie im Nukleus accumbens. Hierbei konnte ein Zusammenhang zwischen Symptomprovokation und erhöhtem Metabolismus sowie dem Abklingen klinischer Symptome und der Normalisierung von Aktivierungsmustern nachgewiesen werden (Baxter et al. 1992; Rauch et al. 1994). MRS wurde bei der neurobiologischen Erforschung der Zwangsstörung bisher eher selten und nur bei kleinen Fallzahlen eingesetzt. Die Ergebnisse der Studien sind z. T. sehr widersprüchlich, sodass Zurückhaltung bei der Beurteilung der Befunde geboten ist. Metabolitenveränderungen fanden sich in den Basalganglien (Fitzgerald et al. 2000). Einige mit fMRI durchgeführte Symptomprovokationsstudien (Mataix-Cols et al. 2004; Nakao et al. 2005) konnte sowohl bei medizierten als auch bei unmedizierten Patienten eine verstärkte Aktivierung eines umfassenden Netzwerkes aus paralimbischen, limbischen und striatalen Strukturen im Vergleich zur Kontrollbedingung und gesunden Kontrollen nachweisen. Eine besondere Bedeutung kommt dem anterioren Gyrus cinguli zu, einer Region, die bei der Verarbeitung von Fehlern und dem Konfliktmonitoring beteiligt ist. Patienten, die unter Zwangsstörungen leiden, zeigen hier bei entsprechend konstruierten kognitiven Aufgaben eine Hyperaktivierung dieser Region (Fitzgerald et al. 2005; Maltby et al. 2005). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die bisherigen Befunde eine Dysfunktion im striato-thalamo-fronto-kortikalen Netzwerk als Modell der Pathophysiologie von Zwangsstörungen favorisieren. Insbesondere unter Symptomprovokationsbedingungen scheint der Metabolismus in kortikostriatalen Projektionen überaktiv. Paralimbische Strukturen einschließlich dem anterioren Gyrus cinguli zeichnen sich nach den bisherigen Ergebnissen ebenfalls durch eine verstärkte Aktivierung bei Zwangspatienten aus. Gleichzeitig geht das Abklingen der klinischen Symptome mit einer Normalisierung der Aktivierungsmuster einher. Offen bleibt derzeit sowohl die Spezifität dieser Befunde als auch die Frage, welche Funktionen die mit Striatum, Thalamus und Frontalhirn verbundenen Hirnareale
haben bzw. welchen Einfluss diese auf die Ausprägung der Zwangssymptome nehmen. Außerdem zeigte sich, dass in Abhängigkeit von den Zwangssymptomen (z. B. Waschzwang oder pathologisches Horten) unterschiedliche Komponenten des striatothalamo-fronto-kortikalen Netzwerks Funktionsveränderungen aufwiesen, was zukünftig eine deutlich differenzierte Patientenrekrutierung erforderlich macht.
6.4.4 Posttraumatische
Stresserkrankung Bei der Posttraumatischen Stresserkrankung (PTSD) wird einerseits die Dissoziation zwischen explizitem und implizitem Gedächtnis beschrieben. Andererseits sind Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefizite bei Hyperarousal bekannt, die auf eine Dysfunktion des Frontallappens und der Hippokampus-Amygdala-Formation hinweisen (vgl. 7 Kap. 13 »Neuropsychologie des Posttraumatischen Stresssyndroms (PTSD)« von Fast und Markowitsch, in diesem
Band). In Tierversuchen wurde gezeigt, dass Stress funktionelle und morphologische Veränderungen v. a. im Hippokampus bewirkt (Sapolsky 1996). Dieser Effekt geht auf die stressinduzierte Konzentrationserhöhung von Glukokortikoiden und auf die Erhöhung von exzitatorischen Aminosäuren wie dem Glutamat zurück, die zytotoxisch auf den Hippokampus wirken. Im Einklang dazu wurde in mehreren MRI-Studien eine Reduktion des Hippokampusvolumens beschrieben. Diese Befunde sind jedoch mit Vorsicht zu bewerten, da bei den Kollektiven ein komorbider Alkoholmissbrauch zu beobachten war, der mit der Gesamtatrophie des Gehirnes korrelierte. Obwohl ein einzelnes traumatisches Erlebnis ausreicht, um eine PTSD zu verursachen, wurde in der Wissenschaftsliteratur bisher keine Volumenreduktion des Hippokampus im Zusammenhang mit singulären, schwer traumatisierenden Ereignissen berichtet. In den letzten Jahren sind neben diesen morphologischen Studien auch solche mit funktioneller Bildgebung mit Hilfe von PET, SPECT und fMRI veröffentlicht worden. Rauch et al. (1996) konfrontierten PTSD-Patienten während einer PET-Untersuchung mit traumatischen Situationen, wobei eine
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rechtsseitige rCBF-Erhöhung im medialen orbitofrontalen Kortex, der Inselregion, der rechten Amygdala, des medialen Temporallappens und im sekundären visuellen Kortex gemessen wurde. Eine rCBFVerminderung wurde im mittleren Temporallappen und im linken inferioren Frontallappen im Vergleich mit Gesunden gemessen. Liberzon et al. (1999) beschreiben in einer SPECT-Untersuchung nach der Vorgabe von traumabesetzten Geräuschen eine Aktivierung der linken Amygdala und des Nucleus accumbens. Im Zusammenhang mit der Darbietung von traumatischen Bildern konnten Shin et al. (1997) in einer PET-Untersuchung eine Vermehrung des rCBF in der rechten Amygdala und dem anteriorem Gyrus cinguli sowie eine Verminderung im linken frontalen Kortex zeigen. Bremner et al. (1999) beschreiben in einer vergleichenden PET-Untersuchung an Kriegsveteranen mit und ohne PTSD eine Verminderung des rCBF im medialen präfrontalen Kortex der traumatisierten Veteranen, während die nichttraumatisierte Kontrollgruppe einen verminderten Anstieg des rCBF im anterioren Gyrus cinguli aufwies. Das erstgenannte Areal nimmt durch eine Inhibition der Amygdala Einfluss auf emotionale Prozesse. Ebenfalls veränderte rCBF-Werte wurden für posteriores Gyrus cinguli, präzentralen und inferioren Parietallappen und Lingula gesehen, wobei diese Areale im Zusammenhang mit dem Gedächtnis und visuell-räumlichem Verarbeiten stehen. Rauch et al. (2000) konnten in einer fMRI-Studie zudem zeigen, dass Personen mit PTSD im Vergleich zu Kontrollpersonen eine verstärkte Amygdalaaktivierung bei der Präsentation furchteinflößender Gesichter zeigen. Zusammenfassend lässt sich aus den bisherigen Befunden aus der Bildgebung ableiten, dass Patienten mit PTSD scheinbar in erster Linie Veränderungen im Emotions-, Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsnetzwerk als auch im Broca-Areal zeigen. Die abbildbaren Netzwerkveränderungen zusammen mit der typischen PTSD-Symptomatik weisen auf eine funktionelle Integrationsstörung zwischen emotionalen und kognitiven Prozessen im Moment des Traumas hin. Auf neurobiologischer Ebene wird dies durch eine Überstimulation der Amygdala ausgelöst, die konsekutiv zu Funktionsstörungen im Thalamus mit Störungen der kortiko-kortikalen
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Konnektivität führt. Es bilden sich funktionelle Störungen zwischen präfrontalen und limbischen Arealen aus, die möglicherweise über neuroplastische Prozesse zur unkontrollierten Gedächtnisbildung führen. Diese Integrationsstörung bleibt nach dem Trauma bei PTSD erhalten und führt durch die dysfunktionale Einflussnahme präfrontaler Regionen auf die traumatischen Gedächtnisinhalte bei gleichzeitiger Übererregbarkeit der Amygdala zu dem charakteristischen Symptombild des PTSD. Zusätzlich können durch bildgebende Verfahren zwei Typen der Reaktionsweisen bei Wiedererleben der traumatischen Situation definiert werden, wobei ein Hyperarousal-Typ eine massive Widererlebenssymptomatik mit verminderter präfrontaler und erhöhter limbischer Aktivierung zeigt, während der dissoziative Typ sich neuronal mit verminderter limbischer und erhöhter präfrontaler Aktivität äußert (Übersicht: Jatzko et al. 2005).
6.4.5 Substanzabhängigkeit Die charakteristischen Begleiterscheinungen einer Suchterkrankung umfassen mehrere Beschreibungsebenen (vgl. 7 Kap. 14 »Neuropsychologie des Alkoholismus und des Substanzmissbrauchs« von Rist, in diesem Band). Die Verhaltensebene ist durch die eingeschränkte Kontrollfähigkeit suchtassoziierter Handlungsweisen gekennzeichnet. So werden anderweitige Interessen nach und nach durch Maßnahmen zur Substanzbeschaffung und -einnahme verdrängt, die Menge des konsumierten Stoffes kann hierbei immer schlechter eingegrenzt werden. Kognitiv äußert sich die Abhängigkeit in Form eines intensiven, zwangsähnlichen Verlangen nach dem Konsum des Suchtmittels (»craving«). Auf der körperlichen Ebene geht die anhaltende Einnahme psychotroper Substanzen mit einer zunehmenden Toleranzentwicklung einher. Versuche, die Substanzaufnahme einzuschränken oder zu unterlassen, führen dabei zur Entstehung von körperlichen Entzugssymptomen. Auf neuronaler Ebene kann die Entstehung einer Abhängigkeitserkrankung als Folge der längerfristigen Interaktion zwischen Suchtmittel, Rezeptormembran und veränderter Gentranskription verstanden werden. So beruht die kurzfristig entspannende Wirkung von Alkohol auf
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Kapitel 6 · Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen
dem hemmenden Einfluss, den Ethanol im Gegensatz zum exzitatorischen Neurotransmitter Glutamat auf neuronale N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptoren ausübt. Durch die Unterstützung der Wirkung von Gamma-Aminobuttersäure (GABA) an inhibitorischen Rezeptoren wird dieser Substanzeffekt noch verstärkt. Bei wiederholtem Alkoholkonsum kommen jedoch auch zunehmend neuroadaptive Mechanismen zum Tragen. So verändert die Nervenzelle in ihrem Bestreben nach Aufrechterhaltung eines geordneten Funktionsniveaus kompensatorisch die Anzahl und das Ansprechverhalten der substanzassoziierten Rezeptoren (Toleranzentwicklung). Die adaptiven Veränderungen an der Synapse führen in der Folge bei der Einschränkung des Suchtmittelkonsums zu einer aversiven Übererregbarkeit des Gehirns, die körperliche Stressreaktionen induziert (Entzugssyndrom). Die wiederholte Einnahme des Suchtmittels bewirkt darüber hinaus eine Sensitivierung der dopaminergen Neurone des Belohnungssystems in ihrer Reaktion auf suchtassoziierte Stimuli (»craving«; Robinson u. Berridge 2000). Über isolierte zelluläre Mechanismen hinaus erfordert die beschriebene Komplexität der Abhängigkeitsphänome die Berücksichtigung verhaltensund erlebensregulierender neuronaler Netzwerke in neuropsychologischen Erklärungsmodellen. Auf Basis der Ähnlichkeit zur Zwangssymptomatik erklären z. B. Modell et al. (1990) das pathologische Verlangen und die Impulskontrollproblematik Süchtiger auf Basis einer Störung striato-thalamokortikaler Regelkreise. Demnach führt der dysfunktionale dopaminerge Input von Nucleus accumbens auf den orbitofrontalen Kortex zu einer gestörten Bewertung der motivationalen Signifikanz von Suchtreizen. Dadurch können inadäquate Verhaltensmuster induziert werden. Der suchtassoziierte Umbau neuronaler Schaltkreise wird dabei wesentlich durch den Einfluss von Genen und Umweltfaktoren mitbestimmt (Goldman et al. 2005). So ist die Entstehung einer Alkoholabhängigkeit unter anderem an den Alkohol-Dehydrogenase 1B (ADH1B) und Aldehyd-Dehydrogenase 2 (ALDH2) Genotyp des Menschen gekoppelt (Oota et al. 2004; Thomasson et al. 1991). Allelkonstellationen, die eine hohe ADH1B-Aktivität und eine niedrige ALDH2-Aktivität nach sich ziehen sind »suchtprotektiv« – die re-
sultierende Akkumulation von Azetaldehyd im Gehirn wird vom entsprechend prädisponierten Individuum als unangenehm empfunden und hält es vom fortgesetzten Alkoholkonsum ab. Auf der Umweltseite wird der Einfluss von »Suchtgenen« durch eine Reihe protektiver bzw. risikofördender sozialer Faktoren moduliert (Gerra et al. 2007; Zimmermann et al. 2006). In der Vergangenheit haben Wissenschaftler unter Einsatz der verschiedensten bildgebenden Verfahren versucht, die neuroanatomische Basis der Toleranzentwicklung und des Suchtverlangens funktionell abzubilden. Die überwiegende Mehrheit der Studien berichtet hierbei im Zusammenhang mit der Verarbeitung suchtassoziierter Reize über eine gesteigerte Aktivität von Nucleus caudatus, Thalamus und Amygdala. Hommer (1999) integriert auf Basis der genannten Befunde zusätzlich den dorsolateral-präfrontalen Kortex (Arbeitsgedächtnis), anteriore Anteile des Gyrus cinguli (suchtassoziierte Aufmerksamkeitsmodulation) und die Amygdala (Reiz-Verstärker-Konditionierung) in ein übergreifendes Netzwerk der motivationalen Impulsgenerierung und Verhaltenskontrolle. Der kritische Einfluss des fronto-striatalen dopaminergen Verstärkersystems (Belohnungssystem) auf die Suchtentwicklung gilt dabei als belegt (Di Chiara u. Bassareo 2007). So konnte in einer Reihe von fMRI- und PET-Studien gezeigt werden, dass sowohl die Präsentation suchtassoziierter visueller Reize (Volkow et al. 2006; Due et al. 2002) als auch die akute Verabreichung von Suchtmitteln (Kufahl et al. 2005) im Gehirn Abhängiger zu einer Aktivierung mesolimbischer und mesokortikaler dopaminerger Neurone führt – ein Ausdruck des entgleisten verstärkerassoziierten Lernens (Volkow et al. 2002) und der defizienten Kontrolle übergeordneter Areale des präfrontalen Kortex (Goldstein et al. 2009). Auf der morphologischen Ebene geht der fortgesetzte Konsum psychotroper Substanzen direkt oder indirekt mit einer Häufung zentralnervöser Schäden einher (Cardenas et al. 2005). Eine Reihe von MRI-Befunden konnten sowohl bei Gelegenheitstrinkern (Taki et al. 2006) als auch aktiven und trockenen Alkoholikern (Mechtcheriakov et al. 2007; Fein et al. 2006; Chanraud et al. 2007) einen signifikanten negativen Zusammenhang zwischen
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konsumierter Alkoholmenge und Volumen der grauen Hirnsubstanz nachweisen. Die nachgewiesenen strukturellen Schäden betreffen am meisten den präfrontalen Kortex, die Inselregion, den Temporallappen einschließlich Hippokampus und das Kleinhirn. Im Bereich der weißen Substanz haben besonders die Diffusions-Tensor-Bildgebung und MR-Spektroskopie in den letzten Jahren zu einem verbesserten Verständnis von Alkoholfolgeschäden geführt. So berichteten beispielsweise Pfefferbaum et al. bereits im Jahre 2000 von feinmorphologischen Schäden der axonalen Faserverläufe im Bereich des vorderen und hinteren Corpus callosum (Pfefferbaum et al. 2000). Interessanterweise konnte darüber hinaus eine signifikante Assoziation der erfassten Faserintegrität mit verschiedenen neuropsychologischen Leistungsmaßen nachgewiesen werden (Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis). Jüngere DTI-Arbeiten der Arbeitsgruppe weisen zudem auf weit reichende Schäden im Bereich des supratentoriellen Marklagers hin (Pfefferbaum et al. 2006, 2007). Untersuchungen aus dem Bereich der MRProtonenspektroskopie deuten auf eine deutliche Reduktion des Cholin-Signals und des neuronalen Untergangsmarkers NAA im Frontalkortex entgifteter Alkoholiker hin. Als Hinweis auf die partielle Restaurierungsmöglichlichkeit alkoholassoziierter neuronaler Schäden konnte bei anhaltender Abstinenz eine deutliche Normalisierungstendenz dieser Parameter nachgewiesen werden (Bartsch et al. 2007; Ende et al. 2005).
6.4.6 Schizophrenie Basierend auf epidemiologischen und biologischen Daten werden heute unterschiedliche Hypothesen zur Pathogenese der schizophrenen Spektrumserkrankung diskutiert (vgl. 7 Kap. 17 »Neuropsychologie der Schizophrenie« von Lautenbacher und Kunz, in diesem Band). Die meisten pathogenetischen Arbeitsmodelle gehen dabei von einer genetisch prädisponierten Störung der intrauterinen Hirnentwicklung aus. Eine der einflussreichsten Theorien postuliert auf der Ebene des neurobiologischen Substrats eine intrauterin erworbene Läsion, die nach der Pubertät als Fehlvernetzung mesio-temporaler und präfrontaler Kortizes symptomatisch wird (Weinber-
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ger 1987). Präfrontale Funktionseinbußen werden dabei für das Auftreten von schizophrenen Negativsymptomen (z. B. Antriebseinbußen) und von neuropsychologischen Defiziten (z. B. Arbeitsgedächtnisstörungen, verbale Flüssigkeit) verantwortlich gemacht. Die Entstehung von Positivsymptomen wie Halluzinationen oder Wahnvorstellungen dagegen wird auf eine sekundäre Enthemmung der subkortikalen Dopaminsekretion, gestörter phasischer Dopaminfunktion im VTA sowie auf eine Supersensitivität des D2-Rezeptors im mesolimbischen System zurückgeführt (Meyer-Lindenberg et al. 2002). Mithilfe der morphologischen Bildgebung lassen sich relevante Schlüsselregionen in den betroffenen Netzwerken darstellen. Neben den schon in pneumenzephalographischen Röntgenuntersuchungen und in der CT nachgewiesenen Erweiterungen im Ventrikelsystem als Hinweis auf eine Hirnentwicklungsstörung zeigen MRI-Querschnittstudien bei Subgruppen schizophren Erkrankter zusätzlich auch Volumenabnahmen im fronto-parietalen Kortex, in der Temporalregion und im Thalamus. Temporolimbische Volumen- und Konnektivitätsverminderungen ließen sich dabei eher mit Positivsymptomatik assoziieren (Neckelmann et al. 2007; Hubl et al. 2004; Gaser et al. 2004), während Verminderungen des Frontallappenvolumens und posteroparietal eher mit Negativsymptomen und kognitiver Effizienz einhergehen (Antonova et al. 2005). Aktuelle Verlaufstudien mit seriellen MR-Untersuchungen ergaben bei Hochrisikopersonen und Subgruppen schizophren Erkrankter Hinweise auf fortschreitende Volumenänderungen in beiden Hemisphären, insbesondere im Frontal- und Temporallappen sowie im Parietalhirn (Job et al. 2007; Whitford et al. 2006). Die Daten können dahingehend interpretiert werden, dass möglicherweise bei einer prognostisch ungünstigen Subgruppe ein zusätzlicher subtiler degenerativer Hirnprozess den zunehmenden Volumenverminderungen zugrunde liegt, wobei der Einfluss langjähriger Neuroleptikamedikation mit hochaffine D2-Antagonisten, die sich ungünstig auf Neuroplastizität und Perfusion auswirken, unklar bleibt (Henn u. Braus 1999). In der Schizophrenieforschung spielen neben der Hirnmorphologie nuklearmedizinischen Techniken und die fMRI eine wichtige Rolle. Beide Verfahren erlauben die Evaluation der Informations-
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Kapitel 6 · Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen
verarbeitung von Patienten mit Schizophrenie auf der Systemebene. In den letzten Jahren untersuchte man damit u. a.: 4 sensomotorische, visuelle und akustische Funktionen, 4 emotionale Prozesse und Aufmerksamkeitsleistung, 4 psychopathologische Phänomene in Form der akustischen Halluzinationen oder Beziehungsideen und 4 höhere kognitive Funktionen in den Bereichen Sprachverarbeitung, Arbeitsgedächtnis, und Exekutivfunktion (. Tab. 6.2). Trotz einer gewissen Inkonsistenz der vorhandenen Daten lässt sich eine Fokussierung der Ergebnisse dahingehend erkennen, dass mit funktionellen Methoden bei Subgruppen auf unterschiedlichen Ebenen der perzeptiven, kognitiven und emotionalen Verarbeitung Dysfunktionen nachweisbar sind
(Braus et al. 2002b), die auf eine komplexe Netzwerkstörung mit prominenter Beteiligung des Frontalhirns hinweisen. Mit fMRI konnte die funktionelle Lokalisation der spontan auftretenden akustischen Halluzinationen identifiziert und ein Zusammenhang zwischen der Funktion der Amygdala und dem emotionalen Erleben der Patienten nachgewiesen werden. Im Bereich der kognitiven Funktionen wurden Zusammenhänge zwischen Sprachverarbeitung und der funktionellen Neuroanatomie sowie Aufmerksamkeits- und Arbeitsspeicherfunktionen aufgedeckt. Insgesamt weisen die Befunde auf Störungen komplexer dynamischer Netzwerke hin, die in Abhängigkeit der Aufgabenstellung und der kognitiven Anforderungen zu spezifischen Dysfunktionen führen. Die genaue Art der zugrunde liegenden funktionellen Pathologie schizophrener Patienten ist dabei aufgrund der Heterogenität der Krankheitsgruppe vielfältig. Frühere Bildgebungsstudien
. Tab. 6.2. Auswahl von fMRI-Befunde in der Schizophrenieforschung
Studien zu
Autor und Jahr
Ergebnis der fMRI-Untersuchung
Sensorik
Braus et al. 2000
Schon bei einfacher visuoakustischer Stimulation finden sich Störungen in der frühen Informationsverarbeitung im Thalamus und in der multimodalen frontoparietalen Integrationsleistung
Wible et al. 2001
Unter Mismatch-Stimulation reduzierte Aktivierung im superioren temporalen Gyrus
Braus et al. 2000
Sequenzielle Fingeropposition führt bei neuroleptikanaiven Patienten mit paranoidem Subtyp zu normaler kortikaler Aktivierung
Northoff et al. 1999
Sequenzielle Fingeropposition führt bei neuroleptikanaiven Patienten mit katatonem Subtyp zu veränderter Lateralisierung
Menon et al. 2001
Aktivierungsminderung und gestörte funktionelle Konnektivität von Thalamus und Nucleus lentiformis
Rogowska et al. 2004
Reduzierte Aktivierung sensomotorischer Kortizes und veränderte Hemisphärenasymmetrie bei sequenzieller Fingeropposition
Volz et al. 1999
Chronische Schizophrenie geht mit einer fundamentalen Störung frontaler Hirnareale bei Aufmerksamkeitsleistungen einher
Curtis et al. 1999
Bei Wortflüssigkeitsaufgaben aktivieren Patienten präfrontal weniger als Kontrollpersonen
Manoach et al. 1999
Unter Stimulation des Arbeitsgedächtnisses zeigt sich eine fehlerkorrigierte dorsolaterale präfrontale Hyperaktivierung
Volz et al. 2000
Störungen in der Zeitschätzung gehen mit einer spezifischen frontothalamostriatalen Dysfunktion einher
Motorik
Kognition / Exekutivfunktion
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6
. Tab. 6.2 (Fortsetzung)
Studien zu
Autor und Jahr
Ergebnis der fMRI-Untersuchung
Kognition / Exekutivfunktion
Barch et al. 2001
Störung der Verarbeitung des Kontext geht bei neuroleptikanaiven Patienten mit Schizophrenie mit einem selektiven Defizit im präfrontalen Kortex bei unauffälliger Aktivierung motorischer kortikaler Areale einher
Callicott et al. 2003
Defizitäre neurale Verarbeitungsstrategie in Form früher Überbeanspruchung präfrontaler Ressourcen
Callicott et al. 2004
Stärkere Beanspruchung präfrontaler Arbeitsgedächtnis- Ressourcen bei gesunden Geschwistern schizophrener Patienten
Heckers et al. 2004
Dislozierte bzw. fehlende Aktivierung des anterioren Gyrus cinguli bei kognitiver Interferenz
Weiss et al. 2003
Zusätzliche Rekrutierung präfrontaler und cingulärer Areale bei kognitiver Interferenz
Weiss et al. 2007
Kognitive Interferenz bei unmedizierten Patienten: komplexes Muster aus Hypoaktivierung (präfrontale, anterior cingulär, parietale) und Hyperaktivierung (temporal).
Dierks et al. 1999
Stimmenhören führt zur spontanen Aktivierung des Heschl-Gyrus und sekundär akustischer Areale bei Patienten
Lennox et al. 2000
Akustische Halluzinationen gehen mit spontaner Aktivität temporaler und präfrontaler auditiver Verarbeitungsareale einher
Shergill et al. 2000
Kortikosubkortikales auditives Netzwerk generiert akustische Halluzinationen
Lawrie et al. 2002
Frontotemporale Minderung der funktionellen Konnektivität korreliert mit der Schwere akustischer Halluzinationen
Braus et al. 1999
Unterschiede in der kortikalen Aktivierung nach sensomotorischer Stimulation zwischen typischen Neuroleptika und atypischen Antipsychotika
Braus et al. 2000
Abhängigkeit der frontalen Integrationsleistung von der Art der antipsychotischen Medikation
Honey et al. 1999
Umstellung auf atypisches Antipsychotikum restauriert frontale Aktivierung bei Arbeitsgedächtnisleistung
Ramsey et al. 2002
Abstraktes Denken: exzessive Rekrutierung präfrontaler Areale (neuroleptikanaiv) vs. unauffälliges Aktivierungsniveau unter Atypika
Bertolino et al. 2004
Rückbildung sensomotorischer Hypoaktivierung unter Olanzapin
Egan et al. 2001
Patienten mit einer Mutation des Gens für das Enzym des Dopaminabbaus (COMT) weisen abweichende präfrontale BOLD-Reaktionen, auffällige WCST-Befunde und ein erhöhtes Schizophrenierisiko auf
Hariri et al. 2002
Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der angstinduzierten BOLDResponse der Amygdala und einem Polymorphismus des SerotoninTransporter-Gens
Egan et al. 2004
Glutamat regulierenden Gens GRM3: Assoziation mit erhöhtem Schizophrenierisiko, ineffizienter präfrontaler Aktivierung, hippokampaler Minderaktivierung und erniedrigtem präfrontalen NAA
Psychopathologie
Therapieeffekte
Molekularbiologie
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Kapitel 6 · Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen
erbrachten meist Hinweise auf eine Minderaktivierung präfrontaler Hirnregionen in Ruhe und bei der Bearbeitung kognitiver Aufgaben (s. bspw. Volz et al. 1999). Das pathophysiologische Konzept einer primären schizophrenen »Hypofrontalität« musste in den folgenden Jahren jedoch wieder weitgehend revidiert werden (Callicott et al. 2003). Aktuelle Modellvorstellungen gehen von einer grundlegenden Störung im kognitiven Kontrollsystem aus. Danach kann sich die beeinträchtigte neuronale Strategie schizophrener Patienten bei der Bearbeitung kognitiver Aufgaben in Abhängigkeit von der jeweiligen Kapazitätsauslastung sowohl in Form einer präfrontalen Mehr- als auch Minderaktivierung in unterschiedlichen Frontalhirnmodulen äußern (Tan et al. 2006). Vermutlich spielt dabei die dopaminerge Fehlregulation des »Signal- zu RauschVerhältnisses« neuronaler Netzwerkrepräsentationen im präfrontalen Kortex eine pathogenetische Rolle (Rolls et al. 2008). In den vergangenen Jahren wurde deutlich, dass sich unter Einsatz funktioneller bildgebender Verfahren mit unterschiedlichen Stimulationsparadigmen klinische Subgruppen besser charakterisieren lassen. Zumindest für die chronische Schizophrenie konnten aufgrund klinischer, neuropsychologischer und funktioneller Befunde schon drei wesentliche klinische Hauptgruppen abgegrenzt werden: a) Schizophrene Patienten mit psychomotorischem Antriebsmangel, Defiziten im »VerbalFluency-Test« und im »Wisconsin-Card-Sorting-Test« (WCST) hatten einen verminderten Blutfluss im dorsolateralen präfrontalen Kortex, der normalerweise bei der Durchführung dieser Aufgaben aktiviert wird. b) Patienten mit Desorganisationssyndrom und verminderter Unterdrückung inadäquater Antworten im Stroop-Test zeigten einen abnormal erhöhten Blutfluss im dorsalen Gyrus cinguli und im Thalamus. c) Patienten mit gestörter Realitätswahrnehmung zeigten insbesondere im linken Temporallappen funktionelle Auffälligkeiten (Liddle 1995; Liddle u. Barnes 1990). Neben der Charakterisierung von phänotypischen Subgruppen liegt ein weiterer Fokus funktioneller Bildgebung in der Evaluation von psychopharmako-
logischen Fragestellungen und Behandlungseffekten (Braus et al. 2002a). In Einklang mit tierexperimentellen und neuropsychologischen Studienergebnissen geben eigene fMRI-Befunde in diesem Zusammenhang Hinweise auf eine differenzielle Modulation präfrontaler Hirnfunktionen durch antipsychotische Medikation. Auf der Systemebene unterscheiden sich die kortikalen Informationsverarbeitungsprozesse atypisch (z. B. Olanzapin oder Risperidon) medizierter Schizophrener im Vergleich zu Patienten mit klassischer Medikation (z. B. Haloperidol) weniger von denen gesunder Personen und lassen einen normalisierenden Einfluss atypischer Antipsychotika auf die frontalen Hirnfunktionen wahrscheinlich erscheinen (Bertolino et al. 2004; Braus et al. 1999; Ramsey et al. 2002; Honey et al. 1999). Die nuklearmedizinische Bildgebung gewährt darüber hinaus auf der Zellebene Einblicke in das Rezeptorprofil und dessen Modulation durch Antipsychotika und nimmt so wesentlichen Einfluss auf die Weiterentwicklung antipsychotischer Substanzen. Neben Morphologie und funktioneller Bildgebung werden in den letzten Jahren auch vermehrt spektroskopische Untersuchungen bei Patienten mit Schizophrenie durchgeführt. In Übereinstimmung mit den morphologischen Daten ergaben Querschnittstudien bei gesunden Hochrisikopersonen und Patienten Veränderungen von NAA, insbesondere im Hippokampus und im präfrontalen Kortex, ohne dass Hinweise für Cholinveränderungen als Ausdruck einer reaktiven Gliose nachweisbar waren Ohrmann et al. 2005; Jessen et al. 2006). Diese Befunde werden ebenfalls im Sinne eines stabilen Vulnerabilitätsmarkers für eine gestörte Hirnentwicklung interpretiert (Gangadhar et al. 2006). Neuere Daten weisen außerdem in Übereinstimmung mit fMRI-Befunden darauf hin, dass eine suffiziente Therapie auf die Progredienz des NAAAbfalls einen günstigen Einfluss hat, was nun durch prospektive Untersuchungen noch zu bestätigen ist (Bertolino et al. 2001; Braus et al. 2001a). Insgesamt unterstützen die bildgebenden Befunde die These, dass pathologische Veränderungen in spezifischen neuronalen Netzwerken und deren Verbindungen untereinander das Kernproblem bei der Gruppe der Schizophrenien darstellen (Braus 2005). Es ist denkbar, dass die Neurone von Patien-
111 6.4 · Befunde zur Bildgebung in der Psychiatrie
ten mit Schizophrenie in der fetalen Phase Migrationsdefizite aufweisen. Dadurch wird die optimale neuronale Konnektivität gestört, was zu einem verstärkten synaptischen Pruning-Prozess und einer Neuropilabnahme sowie zu verminderter Ausbildung der Hemisphärenlateralität führt. Treten diese diskreten Veränderungen der Hirnentwicklung in relevanten neuronalen Schaltstationen wie z. B. dem frontotemporolimbischen Netzwerk auf, wird die geordnete Funktion des Gehirnes substanziell beeinträchtigt (Crow et al. 1989; Murray et al. 1992). Unterschiedlich akzentuierte Netzwerkstörungen führen zu unterschiedlichen Symptomen und tragen damit zur klinischen Heterogenität bei. Durch Kombination von Neuropsychologie, Psychopathologie und Bildgebung lassen sich Endophänotypen besser charakterisieren, wodurch sich auch neue Möglichkeiten für die genotypische Charakterisierung ergeben. Erste aktuelle Befunde zeigen, dass mit diesem multimodalen Vorgehen neue Ansätze für eine individuell maßgeschneiderte Therapie denkbar sind (Egan et al. 2001).
6.4.7 Demenzen Demenzielle Störungsbilder sind häufig und ätiologisch äußerst heterogen (vgl. 7 Kap. 18 »Neuropsychologie der Demenz« von Jahn, in diesem Band). In Abwesenheit signifikanter Bewusstseinsveränderungen ist das gemeinsame klinische Zustandsbild durch den deutlichen Abbau des ursprünglichen kognitiven Leistungsvermögens gekennzeichnet. Bei meist schleichendem Beginn sind auftretende Gedächtnisstörungen das Kardinalsymptom des klinischen Erscheinungsbildes. Eine übliche nosologische Einteilung unterscheidet zwei große Gruppen demenzieller Manifestationen: 1. kortikale Krankheitsbilder ohne bedeutsame neurologische Begleiterscheinungen (z. B. Alzheimer Demenz) bzw. 2. subkortikal bedingte Störungen mit prominenten neurologischen Zeichen (z. B. HuntingtonChorea). Funktionell-bildgebende Untersuchungen stehen trotz des vielversprechenden Potenzials der Verfahren für die Differenzialdiagnose, Früherkennung
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und Therapieevaluation der Demenzen bisher nur begrenzt im Fokus der wissenschaftlichen Forschung. Methodisch dominieren bisher die PET-vermittelte Analyse des zerebralen Glukosemetabolismus bei Patienten in verschiedenen Krankheitsstadien sowie zur Differentialdiagnose DAT-PET oder -SPECT. Die vielfältigen funktionellen, biochemischen und ultrastrukturellen Abbildungsmöglichkeiten der Kernspintomographie wurden bei der Erforschung einiger Störungsbilder dagegen bei weitem noch nicht ausgereizt (Pantano et al. 1999).
M. Alzheimer Die Alzheimer-Krankheit (AD) ist eine primär degenerative Erkrankung des Gehirn mit schleichendem Beginn und kontinuierlichem Verfall des kognitiven Leistungsvermögens. Die Erkrankungswahrscheinlichkeit steigt exponentiell mit dem Lebensalter: so sind von den über 65-Jährigen ca. 7% von einer AD betroffen. Auf zellulärer Ebene kommt es im Krankheitsverlauf zur zunehmenden pathologischen Akkumulation von Proteinaggregaten, in deren Folge die Nervenzellen zugrunde gehen (Amyloidplaques, neurofibrilläre Knäuelbildung). Die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer AD ist dabei bei Menschen mit einem Polymorphismus eines bestimmten Proteins des Lipidstoffwechsels im Erbgut erhöht (Apolipoprotein-4-Gen). In Einklang mit neuropathologischen Ergebnissen konnte in einer Vielzahl struktureller MRT-Untersuchungen eine ausgeprägte Volumenminderung in der Hippokampus-Formation einschließlich entorhinalen und temporalen Kortex von AD-Patienten nachgewiesen werden . Abb. 6.5. Als metabolisches Frühzeichen einer Alzheimer-Erkrankung zeigen PET- und SPECT-Untersuchungen eine reduzierte Aktivität von posteriorem Gyrus cinguli und Präcuneus, ein Befund, der sich vermutlich auf die partielle Deafferenzierung der Areale von entorhinalen Rindenanteilen zurückführen lässt. In Einklang mit der zunehmenden Entwicklung von Gedächtniseinbußen zeigt sich im weiteren Krankheitsverlauf auch in mediotemporalen and parietalen Arealen des Kortex ein metabolischer Rückgang. Die interindividuelle Stabilität dieses metabolischen Musters erlaubt die relativ sensitive Diagnose einer AD unter Einsatz der FDGPET, die noch spezifiziert werden kann durch eine
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Kapitel 6 · Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen
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. Abb. 6.5. Vergleich der im MRI nachweisbaren Veränderungen bei vaskulärer Demenz (a) und Demenz vom Alzheimer-Typ (AD) (b): Bei der vaskulären Demenz finden sich charakteristische Signalanhebungen periventrikulär und im Bereich des Centrum semiovale bei nur geringer Verschmächtigung der Hippokampus-Amygdala-Formation (c, Pfeil).
Im Gegensatz hierzu findet sich bei der AD früh eine Verschmächtigung der Hippokampus-Amygdala-Fomation (c, Pfeil) bei frontotemporal akzentuierter Erweiterung der äußeren Liquorräume, aber Fehlen von vaskulären Signalanhebungen (d, Pfeil)
PET-Untersuchung, die pathologische Beta-Amyloid-Anreichung detektiert (sog. Beta-AmyloidPET). Der Nachweis vergleichbarer metabolischer Einbußen bzw. Anreicherungen bei asymptomatischen AD-Patienten und noch symptomfreien Risikogruppen (z. B. Trägern des veränderten Apolipoprotein-Genotyps) führen zukünftig sicher zu einem verstärkten Einsatz dieses Verfahrens im Rahmen der Frühdiagnose und Frühintervention. Bei der MRI spielt sicher die hochauflösendende strukturelle Bildgebung der Hippokampusformation mit besonderem Augenmerk auf dem Volumen des entorhinalen Kortex eine zunehmende Rolle. Trotz der guten Einblicksmöglichkeiten der fMRI in die neurobiologischen Grundlagen kognitiver
Prozesse fand dieses funktionelle Verfahren in den letzten 10 Jahren nur relativ zögerlich Einzug in die Demenzforschung. Der aktuelle Forschungsstand ergibt dementsprechend noch kein einheitliches Befundbild. Die bisherigen Studien von AD-Patienten und asymptomatischen Trägern des Apo-EIV-Genotyps weisen auf entorhinale und temporoparietale Signalverminderungen hin. Studien zur Bearbeitung von Verbalaufgaben legen die kompensatorische Rekrutierung präfrontaler und temporaler Areale nahe (Scarmeas et al. 2005). Ein wesentlicher Schwerpunkt der letzten Jahre stellt zudem die funktionelle Charakterisierung früher Krankheitsstadien und gesunder Individuen aus Hochrisikofamilien dar (Bassett et al. 2006). Mesiotemporale
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Auffälligkeiten konnten dabei sowohl unter Verwendung kognitiver Paradigmen (insbesondere Arbeitsgedächtnis- und Enkodierungsaufgaben) als auch in Ruhe nachgewiesen werden (Golby et al. 2005; Wang et al. 2006). Ein grundlegendes methodisches Problem stellt dabei jedoch immer noch die fehlende Atrophiekorrektur vieler Studien dar. Streng genommen kann so keine Aussage darüber getroffen werden, ob der detektierte Signalabfall einer untersuchten Neuronenpopulation auf eine echte »Hypofunktion« oder den partiellen Zelluntergang der Nervenzellen zurückzuführen ist. In Einklang mit dem bekannten neuronalen Zelluntergang bei AD konnte unter Verwendung der MR-Protonenspektroskopie in weiten Teilen der kortikalen Oberfläche von Patienten bereits im Frühstadium ein atrophieunabhängiger Abfall der NAA-Werte nachgewiesen werden (Soher et al. 2005). Als neuronaler Funktionsmarker wird der beschriebene NAA-Abfall in der Wissenschaftsliteratur dabei mit einer anhaltenden neuronalen Hypoaktivität sowie dem Prozess des Absterbens von Neuronenverbänden in Verbindung gebracht. Ebenso konsistent konnte in vielen Studien ein unspezifischer Anstieg der Myoinositolwerte bei Alzheimer-Patienten im Frühstadium beobachtet werden. Auch wenn die genauen neurophysiologischen Implikationen dieser Veränderungen bisher nicht geklärt sind, ist das Wissen um das Verhältnis der beiden Parameter differenzialdiagnostisch sehr wertvoll. Die bisherigen Befunde der MR-Phosphorspektroskopie sind weniger einheitlich, deuten jedoch auf eine vorübergehende Erhöhung der Phosphomonoester (PME) zu Krankheitsbeginn hin. Im Gegensatz hierzu lässt sich ein Anstieg des Phosphodiester-Signals im Krankheitsverlauf beobachten. Als Marker des Membranabbaus ist dieser Parameter mit der Zunahme amyloider Plaqueablagerungen und alzheimertypischer kognitiver Funktionsdefiziten korreliert (Hsu et al. 2001; Forlenza et al. 2005). Die Diffusions-Tensor-Technik wurde in der Alzheimer-Forschung bisher kaum eingesetzt. Eine der ersten Studien belegte ultrastrukturelle Veränderungen kortikaler Projektionsfasern (z. B. Splenium des Corpus callosum, Fasciculus longitudinalis superior). Im Gegensatz hierzu konnten in den absteigenden Faserverbindungen des Pyramidentraktes
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keine Auffälligkeiten erfasst werden. Dieser Befund lässt sich gut mit der fehlenden motorischen Beeinträchtigung von Alzheimer-Patienten vereinbaren und weist auf den zukünftigen differenzialdiagnostischen Nutzen des Verfahrens z. B. zu Motoneuronenerkrankungen hin (Rose et al. 2000). Eine neuere Arbeit zeigt zudem einen Zusammenhang zwischen der verminderten Anisotropie callosaler Axone und dem Verlust an grauer Substanz in assoziierten kortikalen Rindenarealen (Sydykova et al. 2007).
Lewy-Körper-Demenz Im fortgeschrittenen Lebensalter lassen sich ca. 20% aller Demenzen auf das Vorliegen einer Lewy-Körper-Demenz (DLB) zurückführen. Das klinische Bild zeichnet sich durch fluktuierende kognitive Beeinträchtigungen (einschließlich Vigilanz), visuelle Halluzinationen und parkinsonoide Bewegungsstörungen aus. Eine sichere Differenzialdiagnose kann streng genommen erst post mortem durch den Nachweis der klassischen intraneuronalen Einschlusskörper (»Lewy-Körper«) erfolgen. In morphologischen Untersuchungen zeigen sich atrophische Veränderungen besonders im Frontalkortex und Hippokampus bei starker Beteiligung des cholinergen Systems. Von der AD grenzt sich die DLB dabei durch die relative lange strukturelle Unversehrtheit des Temporallappens ab (Barber et al. 2000). Bildgebende Befunde über die funktionellen Besonderheiten der DLB sind beschränkt. Neben einer reduzierten Reaktivität des visuellen Kortex auf optische Stimulation bei visuellen Halluzinationen (fMRI) konnte auch eine okzipital betonte metabolische Unterfunktion mittels FDG-PET und 99 mTc-HMPAO-SPECT nachgewiesen werden. Darüber hinaus kann eine Erfassung der nigrostriatalen Dopaminaufnahme mit 18F-Fluorodopa-PET sowie eine verminderte DAT-Verfügbarkeit in den Basalganglien die differenzialdiagnostische Einschätzung einer DLB antemortem entscheidend verbessern. Im fMRI-Bereich verdichten sich dagegen die Hinweise auf eine diagnosespezifische Beteiligung des sog. »default networks«, d. h. von Hirnarealen, die sich durch eine Ruheaktivität auszeichnen (Sauer et al. 2006), und mit Tagträumen in Verbindung gebracht werden. Biochemische und volumetrische MR-Befunde zur Lewy-Körper-Demenz beschränken sich bisher auf Einzelstudien
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Kapitel 6 · Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen
und legen degenerative Veränderungen des Marklagers bei vergleichsweise erhaltenen mesio-temporalen Strukturen nahe (Burton et al. 2002; Molina et al. 2002; Okamura et al. 2001). Methodische gute Diffusions-Tensor-Studien zu dieser speziellen Demenzform fehlen bisher noch.
Vaskuläre Demenz
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Die neuropsychologischen Defizite bei Vorliegen einer Mikro- oder Makroinfarkt-Demenz basieren meist auf der Akkumulation ischämischer Läsionen periventrikulär und im Centrum semiovale infolge von Mikroangiopathien nach langjährigem Bluthochdruck (. Abb. 6.5). Epidemiologischen Untersuchungen zufolge sind auch ca. 20–30% aller Patienten nach Hirninfarkten von einer Demenz betroffen, wobei ausgeprägte linkshemisphärische Läsionen des vorderen Marklagers, paramediane Thalamusinfarkte und mediotemporaler Gewebeuntergang prädisponierende Faktoren darstellen (Guermazi et al. 2007). Unter den strukturellen Verfahren ist die diffusionsgewichtete MRT besonders geeignet, einen Hinweis für ein frisches zerebrales Infarktgeschehen zu geben. Funktionell-bildgebende Untersuchungen belegen einen Zusammenhang zwischen einer reduzierten zerebralen Ruheperfusion (SPECT) und dem Ausmaß kognitiver Leistungseinbußen von vaskulären Demenz-(VaD-)Patienten, während Aktivierungsstudien eine verstärkte kompensatorische Rekrutierung zusätzlicher symmetrischer Kortexareale bei der Bearbeitung kognitiver Aufgaben nahelegen. Befunde der MRS belegen reduzierte NAA-Werte in der weißen und grauen Substanz von Patienten mit VaD (Jones und Waldman 2004) und wurden bereits vereinzelt zur Therapiekontrolle eingesetzt.
6.5
Ausblick für die Neuropsychologie in der Psychiatrie
Mit funktioneller, biochemischer und mikrostruktureller MRT ist es möglich, neuronale Karten von der Struktur, der Funktion und der Biochemie nichtinvasiv und wiederholbar darzustellen (Braus 2004, 2005). Die Funktion und Dysfunktion von Regelkreisen, die an der Aufrechterhaltung kognitiver und affektiver Funktionsleistungen beteiligt
sind, können so untersucht werden (. Abb. 6.2–6.5). Annahmen über den Ablauf sensomotorischer, kognitiver und affektiver Prozesse im Gehirn, die für die Paradigmenentwicklung vorausgesetzt werden müssen, werden derzeit kontrovers diskutiert und limitieren folglich die Interpretation funktioneller Aktivierungsstudien. Auch wenn sich aus den neuen Methoden somit noch viele weitere Fragen ergeben, ist dennoch erkennbar, dass sie nichtinvasiv Einblicke in die Interaktion von Hirngebieten und deren Plastizität erlauben, die zu Zeiten klassischer Läsionsstudien undenkbar erschienen (Braus et al. 2001b; Shulman 2001; Friston 2009). Erste klinische Befunde in der (Neuro-)Psychiatrie und Neuropsychologie zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen den biologisch erhobenen Messwerten und psychopathologischen, emotionalen bzw. kognitiven Befunden besteht, also zwischen kategorial bzw. konzeptionell unterschiedlichen Variablen. Mit der DTI werden derzeit Hypothesen über morphologische Störungen der Mikroverdrahtung bei einer Reihe von psychischen Erkrankungen und neuropsychologischen Syndromen wie z. B. Dyslexie, der Gruppe der Schizophrenien oder der Alzheimer Erkrankung überprüft und erweitert. Erste PET-, fMRI- und MRSI-Befunde zeigen außerdem, dass therapeutische Einflussfaktoren wie Psychopharmaka, Elektrokrampftherapie und auch Psychotherapie (vgl. 7 Kap. 23 »Bildgebende Verfahren und deren Bedeutung für die Psychotherapie« von Gauggel, in diesem Band) im Verlauf abbildbar werden. Es ist absehbar, dass dadurch neue Einblicke in die Pathophysiologie und in die Überwachung von therapeutischen Interventionen möglich werden. Auch wenn bisher die Mehrzahl der Untersuchungen in erster Linie Forschungsfragestellungen verfolgt, ist die Hoffnung berechtigt, dass die vorgestellten bildgebenden Verfahren – vergleichbar der Ultraschalluntersuchung in der inneren Medizin – einen Beitrag zur diagnostischen Einordnung von Störungen leisten können, als auch in Verbindung z. B. mit der Molekulargenetik das Erarbeiten besserer Prognosefaktoren möglich machen werden. Nicht unerwähnt bleiben dürfen jedoch die offenen Fragen über z. B. die exakte Bedeutung der gemessenen MR-Signale und die Einschränkungen, die im Rahmen der klinischen Anwendung dieser
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. Abb. 6.6. Diagnostische Bausteine der Psychiatrie im 21. Jahrhundert
MR-Verfahren berücksichtigt werden müssen (Shulman 2001). So birgt gerade die Sensitivität und Variabilität des BOLD-Kontrastes gegenüber Bewegung im Magneten eine große Artefaktanfälligkeit in sich. Die Komplexität kognitiver fMRI-Paradigmen sowie die räumliche Enge und Geräuschentwicklung während der Untersuchung führen besonders bei psychisch Kranken zu weiteren Anwendungsproblemen. Reliable Untersuchungsdesigns und Auswertestrategien konnten darüber hinaus bisher nur für kategorielle Untersuchungsansätze im klinischen Alltag als Routinemaßnahmen umgesetzt werden. Dieser methodische Ansatz ist jedoch aufgrund der groben zeitlichen Rasterung der Befunde in seiner Anwendbarkeit auf relevante neuropsychologische und psychiatrische Fragestellungen stark limitiert. Bei der schrittweisen Methodenentwicklung ist deutlich geworden, dass eine artefaktbereinigte Beurteilung der gewonnenen Signale aufwendige Offline-Analysen erfordert. Um PET, fMRI, MRSI und DTI Daten zu interpretieren und in den Verhaltensund Erlebenskontext einzelner Patienten einbetten zu können, sind eine Integration von klinischen Befunden, NMR-Physik, Neurophysiologie, Neuropsychologie, Biophysik und Statistik Voraussetzung, sodass nur interdisziplinäre Arbeitsgruppen erfolgreich sein werden. Konsens über die Art, wie Daten ausgewertet werden müssen, um Vergleichbarkeit der Ergebnisse unterschiedlicher Arbeitsgruppen zu erreichen, ist ebenso essenziell wie die Auswahl der Methodik, die einer biologischen Fragestellung am ehesten gerecht wird. Aufgrund der großen funktionellen und anatomischen Variabilität des
Gehirnes sowie der Heterogenität psychischer Störungsbilder wird für das Herausarbeiten valider klinischer Prädiktoren außerdem die Untersuchung relativ großer Patientenzahlen im mehrdimensionalen Ansatz notwendig sein. Trotz dieser Limitierungen ist davon auszugehen, dass mit dem vermehrten Einsatz dieser bildgebenden Verfahren der funktionellen Neuroanatomie auch in der Neuropsychologie eine große Bedeutung zukommt. In Verbindung mit einer diff ferenzierten Anamnese unter Berücksichtigung psychosozialer Faktoren, einer sorgfältigen Psychopathologie und zusätzlich einer neuropsychologischen Charakterisierung der unterschiedlichen kognitiven Leistungsdomänen wird sich wohl auch das diagnostische Vorgehen in der Psychiatrie und Psychosomatik des 21. Jahrhunderts nachhaltig verändern und die Kluft zwischen Bildgebung und kognitivem Symptom verschmälern (. Abb. 6.6). Daraus könnte mittelfristig auch das derzeitige Diagnosesystem in der Psychiatrie weiterentwickelt werden, und die tägliche Beratung und Therapie der psychiatrischen Patienten ließe sich auf ein stabileres Fundament objektivierbarer Befunde stellen, was einen relevanten Beitrag zur Entstigmatisierung psychischer Störungen leistet (Braus 2004, 2005).
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Kapitel 6 · Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen
Zusammenfassung Die Fortschritte in der Molekularbiologie, Genetik und Computertechnologie haben in den letzten Jahren den Fokus der Erforschung psychischer Störungen von der differenzierten Beschreibung der Krankheitsphänomene, der Epidemiologie, der Psychodynamik, beeinflussender Umweltfaktoren und des Verlaufs hin zum Verständnis der neurobiologischen Basis verlagert. Methodische Weiterentwicklungen der PET und der MRT erlauben nicht nur nichtinvasive Untersuchungen der Anatomie, sondern auch Rückschlüsse auf die neuronale Aktivität und deren Interaktionen, die Biochemie sowie die Mikrostruktur im Gehirn. Damit lassen sich Netzwerkmodelle als Grundlage für Hirnfunktion und Dysfunktion auf ihre Nutzbarkeit für die Diagnose und die Differenzialdiagnose sowie die Therapie in der Psychiatrie und Psychotherapie überprüfen. Differenzierte neuropsychologische Analysen dürften helfen, die noch bestehende Kluft zwischen Befunden der Bildgebung und dem kognitivem Symptom zu füllen. Die methodischen Grenzen und zukünftigen Möglichkeiten moderner Bildgebung für das Verständnis der Pathophysiologie und die Behandlung psychischer Erkrankungen wurden aufgezeigt.
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6.6
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Kapitel 6 · Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen
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120
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Kapitel 6 · Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen
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7 7 Psychoendokrine Aspekte neuropsychologischer Funktionen: Die Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse Ullrich Wagner, Jan Born
7.1
Neuroendokrinologie der Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse – 122
7.2
Methodische Aspekte – 126
7.3
Neuropsychologische Wirkungen der Hormone der HypothalamusHypophysen-Nebennierenrinden-Achse – 127
7.3.1 Kortisol und Gedächtnis – 127 7.3.2 ACTH und Aufmerksamkeit – 133 7.3.3 CRH vs. Kortisol, Angst und Depression
7.4
Literatur
– 140
– 137
122
7
Kapitel 7 · Psychoendokrine Aspekte neuropsychologischer Funktionen
Der Patient P. leidet an einem Cushing-Syndrom. Sein Leben hat sich dramatisch verändert, seit aufgrund eines Tumors in seiner Hypophyse übermäßige Mengen der Stresshormone Kortikotropin (ACTH) und Kortisol freigesetzt werden. Äußerlich ist aus dem einst schlanken Mann ein fettleibiger Mensch geworden. Schlimmer für den Patienten P. sind die psychischen Auswirkungen der Hormonstörung. Seit Beginn der Krankheit ist er gereizt und leidet immer wieder unter depressiven Verstimmungen. Bei der Arbeit kann er sich nur mit Mühe konzentrieren, und sein Gedächtnis lässt ihn immer wieder im Stich. Erst seitdem sich der Patient P. einer Operation unterzogen hat, bei der der Tumor entfernt werden konnte, haben sich seine Hormonspiegel im Blut wieder normalisiert, und die psychischen Symptome haben sich deutlich gebessert.
Wie das Fallbeispiel des Patienten P. zeigt, können Störungen endokriner Systeme psychologische Funktionen im kognitiven und affektiven Bereich einschneidend beeinflussen, was bis hin zu klinisch relevanten Beeinträchtigungen führen kann. Dieses Kapitel zeigt anhand ausgewählter Forschungsergebnisse die Bedeutung endokriner Vorgänge für neuropsychologische Funktionen auf. Dabei stehen Untersuchungen an gesunden Menschen im Vordergrund, ergänzt einerseits durch tierexperimentelle Befunde und andererseits durch klinische Studien an Patienten mit bestimmten psychischen Störungen. Eine Vielzahl endokriner Systeme greift in die Regulation der körperlichen und psychischen Homöostase des Menschen ein. In die Körperperipherie freigesetzte Hormone gelangen über die Blutbahn auch ins Gehirn und wirken so afferent auf zentralnervöse Prozesse zurück, mit spezifischen Folgen für Psyche und Verhalten. Gut untersucht im Hinblick auf ihre neuropsychologischen Funktionen sind die »Stresshormone« der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHN-Achse; s. unten), bestimmte Sexualhormone wie Östrogen und Testosteron (z. B. Wagner u. Born 2000; Wolf 2003) sowie ansatzweise auch primär metabolisch regulierende Hormone wie Insulin (z. B. Kern et al. 2001; Strachan 2005) und die thyroidealen Hormone (z. B. Smith et al. 2002). Wir beschränken uns hier nicht nur aus Platzgründen auf eine exemplarische
Darstellung der neuropsychologischen Wirkungen der Hormone der HHN-Achse. Die neuropsychologischen Effekte dieser Achse sind auch beim Menschen am besten erforscht, und daher können anhand dieser Hormone einige grundlegende Prinzipien der endokrinen Regulation neuropsychologischer Funktionen gut dargestellt werden. Darüber hinaus zeichnen Störungen der Regulation der HHN-Achse im Sinne eines Hyperkortisolismus nicht nur das Cushing-Syndrom aus, sondern auch depressive Erkrankungen (vgl. 7 Kap. 11 »Neuropsychologie affektiver Störungen« von Beblo, in diesem Band) sowie den normalen Alterungsprozess. Eine solche neuroendokrine Störung könnte daher ursächlich an den bei Depression und im Alter typischerweise beobachteten neuropsychologischen Veränderungen beteiligt sein.
7.1
Neuroendokrinologie der Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse
Das Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-(HHN-)System wird einerseits durch »Stressoren« psychischer oder körperlicher Art aktiviert und andererseits durch zirkadiane Oszillatoren reguliert (. Abb. 7.1). Maximale Aktivität zeigt es in den frühen Morgenstunden, während es in den ersten Stunden des nächtlichen Schlafs einer ausgeprägten Hemmung unterliegt. Im Kern umfasst die HHN-Achse einen dreistufigen Prozess der Hormonfreisetzung, an dem der Hypothalamus, die Hypophyse und die Nebennierenrinde beteiligt sind. Übergeordnet unterliegt die HHN-Achse einer Regulation durch limbische Strukturen, insbesondere den Hippokampus (de Kloet et al. 1998). »Stressoren« führen akut auf hypothalamischer Ebene zur Freisetzung von Kortikotropin-Releasing-Hormon (CRH) und Vasopressin aus neurosekretorischen Zellen des Nucleus paraventricularis in das Blut des Pfortadersystems. Diese ReleasingHormone wiederum bewirken im Vorderlappen der Hypophyse die Ausschüttung von ACTH (adrenokortikotropes Hormon oder Kortikotropin), aber auch anderer Peptidhorme wie z. B. β-Endorphin, die von demselben Vorläufermolekül, Proopiomelanokortin (POMC), abstammen. ACTH gelangt über
123 7.1 · Neuroendokrinologie der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse
. Abb. 7.1. Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHN-Achse). Die Aktivierung des Systems im Rahmen von Stress und zirkadianer Rhythmik umfasst, vom Hypothalamus ausgehend, einen 3-stufigen Prozess der Hormonfreisetzung, in dessen Mittelpunkt die Hormone CRH (Kortikotropin-Releasing-Hormon), ACTH (Adrenokortikotropes Hormon) und Kortisol stehen. Details s. Text
die Blutbahn in die Körperperipherie und führt dort in der Nebennierenrinde zur Freisetzung von Kortisol, dem wichtigsten Vertreter der Glukokortikoide beim Menschen. (Bei Ratten ist Kortikosteron das funktionale Pendant des Kortisols.) Kortisol entfaltet neben den zu beschreibenden neuropsychologischen Veränderungen auch charakteristische metabolische (Glukoneogenese) und immunologische Wirkungen (Entzündungshemmung). Es wirkt zudem bei erhöhter Konzentration auf hypophysärer und – teilweise vermittelt über den Hippokampus – auf hypothalamischer Ebene im Sinne eines negativen Feedbacks auf die Freisetzung von ACTH bzw. CRH zurück, sodass dieses neuroendokrine System einen geschlossenen Regelkreis bildet (. Abb. 7.1). Wahrscheinlich übt dabei auch ACTH negative Feedback-Wirkungen auf die hypothalamischen Releasing-Hormone aus. Alle an der HHN-Achse beteiligten Substanzen erfüllen nicht nur endokrine regulatorische Funk-
7
tionen, sondern wirken über Rezeptoren im Gehirn auch auf zentralnervöse Strukturen, die verschiedene neuropsychologische Funktionen vermitteln. Das peripher freigesetzte Kortisol übt einen sehr direkten Einfluss auf zentralnervöse Rezeptoren aus, da es wegen seiner Lipophilität die Blut-HirnSchranke relativ leicht überwindet. Für Peptidhormone wie ACTH und CRH gilt dies nicht. Peripher freigesetztes ACTH kann allerdings durch aktiven Transport in geringen Mengen die Blut-HirnSchranke passieren. Außerdem bindet dieses Hormon an Rezeptoren, die in bestimmten zirkumventrikulären Organen lokalisiert sind, also an Orten, wo die Blut-Hirn-Schranke fehlt. Es ist gezeigt worden, dass eine solche Bindung von ACTH-Molekülen an Rezeptoren in der Area postrema zu einer Aktivierung zentralnervöser Neurone des Nucleus arcuatus führt, die wiederum ACTH-verwandte Moleküle als Neuropeptide freisetzen. Die Wirkungen von im Blut zirkulierenden Peptidhormonen auf das Gehirn könnten also nicht direkt, sondern über Rezeptoren an der Blut-Hirn-Schranke, etwa in den zirkumventrikulären Organen, erfolgen, die dann eine Freisetzung des entsprechenden Neuropeptids in bestimmten zentralnervösen Regionen vermitteln. Im Nucleus arcuatus des Hypothalamus befinden sich Neurone, die mit ACTH verwandte Substanzen, sog. Melanokortine, synthetisieren und auch als Neuropeptide synaptisch freisetzen. Das Vorläufermolekül dieser Melanokortine ist, wie bereits erwähnt, das POMC. Die Neurone des Nucleus arcuatus haben verzweigte Verbindungen u. a. zum präfrontalen Kortex und zu limbisch-hippokampalen Strukturen und können somit in vielfältigster Weise psychische Prozesse regulieren. Die hypothalamischen Neurohormone wie CRH und Vasopressin entfalten ihre neuropsychologischen Wirkungen sehr wahrscheinlich nicht über den Umweg ihrer hormonellen Freisetzung in das Pfortadersystem, sondern primär durch ihre direkte Freisetzung als Neuropeptide in bestimmten Hirnstukturen. So besitzen z. B. CRH-synthetisierende Neurone des Nucleus paraventricularis ein weit verbreitetes Netz von Kollateralen, über das sie Einflüsse sowohl auf neokortikale als auch auf limbische Verarbeitungsprozesse ausüben können. Stress und zirkadiane Faktoren wirken über diese hypothala-
124
7
Kapitel 7 · Psychoendokrine Aspekte neuropsychologischer Funktionen
mischen Neurone gleichzeitig und in koordinierter Weise einerseits auf systemische endokrine und andererseits auf übergeordnete kognitive und emotionale Prozesse ein. Die direkte Aktivierung hirneigener Zentren durch die hypothalamische Freisetzung von ACTH-verwandten Peptiden (POMC-Abkömmlinge) und CRH wird in . Abb. 7.1 durch vom Hypothalamus ausgehende Pfeile angedeutet. Für alle der hier interessierenden, an der Regulation beteiligten (Neuro-)Hormone des HHN-Systems ist das Vorkommen von mindestens zwei verschiedenen zentralnervösen Rezeptortypen bekannt, die unterschiedliche Bindungsaffinitäten für die entsprechende Substanz aufweisen und sich unterschiedlich über das Gehirn verteilen (s. nachfolgende Grundlagenbox). Das Verständnis der zu jedem psychologisch relevanten Hormon gehören-
den Rezeptorsysteme ist ein wesentlicher Bestandteil des neurochemischen Ansatzes innerhalb der Neuropsychologie (vgl. Wagner u. Born 2000), auf dem auch das vorliegende Kapitel beruht. Demnach basieren neuropsychologische Funktionen auf bestimmten neurochemischen Wirkungen, die über die Bindung spezifischer Signalstoffe (Neurohormone und Neurotransmitter) an ihre jeweiligen Rezeptoren in zentralnervösen bzw. peripheren Nervenzellen vermittelt werden. Der neurochemische Ansatz unterscheidet sich damit von dem in der neuropsychologischen Forschung traditionell vorherrschenden neuroanatomischen Ansatz, der versucht, bestimmte neuropsychologische Leistungen auf die Aktivität bestimmter anatomisch abgrenzbarer Gehirnstrukturen zurückzuführen. Jedoch stehen beide Ansätze nicht im Widerspruch
Grundlagenbox
Zentralnervöse Rezeptorsysteme der Stresshormone Im neurochemischen Ansatz der Neuropsychologie, der in diesem Kapitel verfolgt wird, spielt die Analyse zentralnervöser Rezeptorsysteme , die zu bestimmten biochemischen Signalstoffen (hier: Neurohormone, d. h. Hormone, die Wirkungen auf Nervenzellen entfalten) gehören, eine wesentliche Rolle. Hinsichtlich der Stresshormone Kortisol, ACTH und CRH ist das Rezeptorsystem für Kortisol am besten untersucht. Kortisol bindet im Gehirn an zwei verschiedene Rezeptortypen: die Mineralokortikoidrezeptoren (MR) und die Glukokortikoidrezeptoren (GR). Während GR in Neuronen und Gliazellen fast aller Gehirnregionen in mehr oder weniger hoher Dichte nachzuweisen sind, konzentrieren sich MR stark auf limbische Regionen, insbesondere auf den Hippokampus und umliegende Temporallappenstrukturen (de Kloet et al. 1998). Als Gehirnregion, in der sowohl GR als auch MR in hoher Zahl vorkommen, kommt dem Hippokampus somit eine Schlüsselstellung im Hinblick auf zentralnervöse Kortikosteroidwirkungen zu. Dem Zusammenspiel der beiden Rezeptortypen im Hippokampus wird nicht nur bei der Vermittlung des Kortikosteroid-Feedbacks auf die hypothalamische Akti6
vierung der HHN-Achse, sondern auch bei der Vermittlung von Kortikosteroideffekten auf neurobehaviorale Funktionen eine entscheidende Rolle zugeschrieben (Jacobson u. Sapolsky 1991; Peters et al. 2004). Zwar ist anzunehmen, dass die konkurrierende Vermittlung des Kortikosteroid-Feedbacks über hippokampale MR und GR artspezifische Besonderheiten aufweist (z. B. Sanchez et al. 2000), die Prinzipien dieser v. a. bei Ratten untersuchten Regulation besitzen aber wahrscheinlich auch beim Menschen Gültigkeit. Bestimmend für diese Regulation ist, dass 1. Kortisol (bzw. bei Nagern Kortikosteron) hippokampale MR mit deutlich höherer Affinität bindet als GR, und 2. dass über MR eine tonische positive FeedbackWirkung ausgeübt wird, die die Reagibilität des HHN-Systems steuert, während GR akute negative Feedback-Wirkungen auf dieses System vermitteln. Aufgrund ihrer höheren Affinität sind MR bereits unter Ruhebedingungen bei niedrigen Kortisolkonzentrationen (wie sie in den frühen Stunden des Schlafes vorliegen) zu mehr als 80% besetzt. Eine zusätzliche Bindung von GR findet v. a. bei akutem Stress statt. MR regulieren also im Rahmen
125 7.1 · Neuroendokrinologie der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse
eines »proaktiven Feedbacks« tonisch die Empfindlichkeit des HHN-Systems, während GR (in Koordination mit den MR) im Rahmen eines »reaktiven Feedbacks« die Erholung des Systems von phasischer Überaktivität infolge temporärer Stressanforderungen vermitteln (de Kloet et al. 1998). Dieses Zusammenspiel von MR und GR mit ihren differenziellen Wirkungen auf die Aktivität des HHN-Systems ermöglicht eine flexible, auf einen bestimmten »Setpoint« (Sollwert) abgestimmte Steuerung des HHN-Systems sowohl im Rahmen zirkadianer Rhythmik und Schlaf-WachRegulation als auch bei der akuten Antwort auf Stress. Es muss vermutet werden, dass über die balancierte Aktivierung von GR und MR darüber hinaus auch die Wirkungen von Kortisol auf die limbisch assoziierten psychischen Funktionen vermittelt und dementsprechend ebenso »Setpoint-bezogen« gesteuert werden (Sapolsky et al. 2000; Peters et al. 2004). In den letzten 10 Jahren sind zunehmend auch die Rezeptorsysteme der Peptidhormone bzw. Neuropeptide genauer untersucht worden. Im Gegensatz zu Steroidrezeptoren, die v. a. im Zytosol der Zelle lokalisiert sein können, sind Peptidrezeptoren ausschließlich in der Zellmembran zu finden. Für die Gruppe der Melanokortine, zu der die ACTH-verwandten Peptide zählen, sind bisher fünf Rezeptorsubtypen charakterisiert worden (MC1R–MC5R; vgl. Abdel-Malek 2001; Cone 2005), von denen die beiden Subtypen MC3R und MC4R ausschließlich im Gehirn vorkommen. Letzterer Rezeptortyp scheint eine herausragende Rolle bei der Vermittlung von hemmenden Wirkungen der Melanokortine auf die Nahrungsaufnahme zu spielen (Hallschmid et al. 2004; Butler 2006). Für die neuropsychologischen Wirkungen von ACTH und verwandten Peptiden auf Aufmerksamkeit und Lernen scheint die Sequenz 4–9 des Moleküls, die in 3-facher Kopie im POMC-Vorläufermolekül und in MSH enthalten ist, von besonderer Bedeutung zu sein (Greven u. de Wied 1977). Da ACTH/ MSH4–9 keine Affinität zum MC1R der Nebennierenrinde besitzt, stimuliert es die Kortisolsekretion nicht, induziert aber über zentralnervöse Rezeptoren Verhaltensänderungen, die mit den
Verhaltenswirkungen längerer ACTH- bzw. Melanokortinsequenzen vergleichbar sind. Zentralnervös bindet ACTH4–9, ebenso wie die Sequenz 4–10, neben den bereits identifizierten wahrscheinlich auch weitere, bisher nicht identifizierte Melanokortinrezeptoren. Für das CRH sind bisher zwei Rezeptortypen identifiziert worden: CRH1-Rezeptoren (CRHR1) und CRH2-Rezeptoren (CRHR2). Letztere lassen sich weiter unterteilen in die Subtypen CRHR2α und CRHR2β. Zumindest bei Ratten scheint mit Bezug auf die CRHR2-Rezeptoren nur der α-Subtyp zentralnervöse Wirkungen zu vermitteln, da dieser ausschließlich zentralnervös vorkommt. Das CRH-verwandte Neuropeptid Urokortin, das seinerseits in mehreren Subtypen auftritt, bindet CRH2-Rezeptoren mit wesentlich höherer Affinität als das als Releasing-Hormon des ACTH wirkende CRH. Insofern Urokortin sowohl im Hirn der Ratte als auch des Menschen isoliert wurde, könnte es den primären endogenen Liganden für diese Rezeptorgruppe repräsentieren, der auch an der Vermittlung entsprechender neuropsychologischer Effekte beteiligt ist (Dautzenberg et al. 2001; Pelleymounter et al. 2004). CRHR1 und CRHR2 verteilen sich sehr unterschiedlich im Zentralnervensystem (ZNS). Die größte Dichte von CRHR1 wurde gefunden in 4 verschiedenen Arealen des Kortex, 4 der Amygdala, 4 dem Zerebellum, 4 Teilen des Hippokampus, 4 dem Bulbus olfactorius und – im Hinblick auf die ACTH-stimulierende Wirkung – auch 4 der Hypophyse. Dagegen befinden sich CRHR2 v. a. im 4 Hypothalamus, 4 lateralen Septum und 4 Hippokampus. Diese unterschiedliche Verteilung im Gehirn deutet, wie bei den Kortikosteroidrezeptoren, auf eine differenzielle Funktionalität der beiden Rezeptortypen und ihr koordiniertes Zusammenspiel hauptsächlich in limbischen Strukturen hin (Dautzenberg et al. 2001; Bale u. Vale 2004).
7
126
Kapitel 7 · Psychoendokrine Aspekte neuropsychologischer Funktionen
zueinander, da sich das Vorkommen bestimmter Rezeptortypen, wie beschrieben, oft auf spezifische Gehirnregionen konzentriert. Vielmehr ergänzt der neurochemische den neuroanatomischen Ansatz um wichtige funktionelle Aspekte der Regulation neuronaler Aktivität in den interessierenden Strukturen, da über die entsprechenden neurohormonellen Rezeptormechanismen spezifische hemmende bzw. aktivierende Wirkungen vermittelt werden.
7.2
7
Methodische Aspekte
Wir gehen im Folgenden auf einige methodische Aspekte und Probleme ein, die insbesondere die hier im Vordergrund stehenden psychoendokrinologischen Studien des HHN-Systems beim gesunden Menschen betreffen. Grundsätzlich lassen sich in diesen Studien zwei experimentelle Ansätze unterscheiden. 1. Beim ersten Ansatz wird durch experimentell herbeigeführte Stresssituationen versucht, möglichst realitätsnah die gesamte HHN-Achse zu aktivieren. 2. Beim zweiten, pharmakologisch orientierten, Ansatz dagegen werden einzelne Hormonkomponenten des HHN-Systems selektiv durch die Gabe körpereigener oder synthetischer Rezeptoragonisten aktiviert bzw. durch entsprechende Antagonisten gehemmt. Gegenüber der experimentellen Gesamtaktivierung des Stresssystems besteht der Vorteil dieses Vorgehens darin, dass es in Abhängigkeit vom jeweils experimentell manipulierten Rezeptorsystem differenzielle Aussagen über die verschiedenen Subkomponenten des neuroendokrinen Systems ermöglicht. Obwohl dem pharmakologisch orientierten Untersuchungsansatz, vom analytischen Standpunkt aus, der Vorzug zu geben ist, birgt auch er Probleme. Zunächst werden auch bei diesem Ansatz meist über die oben beschriebenen Feedback-Wirkungen sekundär andere Komponenten des HHN-Systems mitbeeinflusst. Gaben von Kortisol hemmen z. B. die hypothalamische CRH- und hypophysäre ACTH-Aktivität, und gerade diese suppressiven Effekte könnten für die neuropsychologischen Ver-
änderungen entscheidender sein als die direkten Wirkungen des Kortikosteroids auf bestimmte Hirnstrukturen. Auch unterscheiden sich verschiedene Studien oft hinsichtlich Dosis, Dauer und Verabreichungsform einer Substanz, was häufig zu diskrepanten Befunden führt. Bei prolongierten Gaben ist mit einer Gegenregulation hinsichtlich der Rezeptorzahlen (»Downregulation«) zu rechnen, was auf neuropsychologischer Ebene zu vollkommen anderen Wirkungen führen kann als bei akuter Gabe. Beispielsweise wird nach Gabe von Kortikosteroiden akut eine Abnahme des REM (»rapid eye movement«)-Schlafes beobachtet, die bei chronischen Gaben solcher Substanzen (im Rahmen von Therapien) bisher nicht gefunden wurde. Gegenläufige Effekte von akuten und subchronischen Gaben wurden auch für Neuropeptide wie z. B. Vasopressin beobachtet (Born et al. 1998). Ein weiteres methodisches Problem resultiert aus der Tatsache, dass Peptide wie ACTH, CRH und Vasopressin die Blut-Hirn-Schranke aufgrund aktiver Transportmechanismen wahrscheinlich nur in geringen Mengen passieren. Um die neuropsychologisch relevanten Funktionen dieser zentralnervös synthetisierten und freigesetzten Neuropeptide zu untersuchen, reichen die durch systemische Gabe (z. B. durch intravenöse Infusion) im Gehirn induzierten Konzentrationen meist nicht aus. Zudem können diese Peptide wegen ihrer peripheren hormonellen Wirkungen nicht in unbegrenzt hohen Dosierungen verabreicht werden. Als ein gangbarer Weg für die Untersuchung direkter zentralnervöser Wirkungen von Neuropeptiden hat sich in diesem Zusammenhang die intranasale Gabe dieser Substanzen erwiesen. So ist gezeigt worden, dass die intranasale Gabe von Peptiden wie ACTH4–10 bei jungen, gesunden Menschen innerhalb von 30–60 min zu einem deutlichen Anstieg der Konzentration des entsprechenden Peptids in der Zerebrospinalflüssigkeit führt (Born et al. 2002). Bemerkenswerterweise zeigte sich nach intranasaler Verabreichung kein vergleichbarer Konzentrationsanstieg im Blut. Schließlich sind dem pharmakologischen Ansatz im Rahmen von Untersuchungen mit gesunden Probanden auch enge ethische Grenzen gesetzt, nämlich dort, wo schädigende Wirkungen physischer oder psychischer Art zu erwarten sind (z. B. angstauslösende Wirkungen einer Substanz). In
127 7.3 · Neuropsychologische Wirkungen der Hormone
diesem Fall bleibt die Grundlagenforschung auf Experimente an Tieren und Untersuchungen an Patienten mit entsprechenden Psychopathologien angewiesen.
7.3
Neuropsychologische Wirkungen der Hormone der Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse
Exemplarisch für den psychoendokrinen Ansatz der Neuropsychologie wird hier ein Überblick über die wichtigsten Befunde zum Einfluss der Hormone des HHN-Systems auf neuropsychologische Funktionen gegeben. Wir konzentrieren uns dabei auf die Wirkungen der drei »Kernhormone« Kortisol, ACTH und CRH, und vernachlässigen weitere, bei stressbedingter Stimulation des HHN-Systems ebenfalls freigesetzte Hormone (. Abb. 7.1), deren neuropsychologische Wirkungen z. T. bereits an anderer Stelle ausführlich diskutiert wurden (z. B. Born et al. 1998; Wolf u. Kirschbaum 1999). Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand liegt der Schwerpunkt der Wirkungen von Kortisol im Bereich der Gedächtnisbildung, obwohl dieses Steroid auch als Modulator von Emotionen und Stimmungen eine Rolle spielt. ACTH und verwandte Peptide beeinflussen insbesondere Aufmerksamkeitsfunktionen, während CRH-Wirkungen v. a. im Zusammenhang mit emotionalen Funktionen gefunden wurden. Mit Blick auf diese schwerpunktmäßigen Wirkungen der drei hier im Mittelpunkt stehenden Hormone behandelt die vorliegende Übersicht die neuropsychologischen Funktionsbereiche 4 Gedächtnis, 4 Aufmerksamkeit und 4 Emotionen.
7.3.1 Kortisol und Gedächtnis Von den neuropsychologischen Funktionen, die im Zusammenhang mit Wirkungen von Kortisol (bzw. Kortikosteron bei Nagern) human- und tierexperimentell erforscht wurden, sind Lern- und Gedächtnisprozesse am ausgiebigsten untersucht worden. Kortisol wurde auch von den drei Kernhormonen
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des HHN-Systems am engsten mit diesen Funktionen in Verbindung gebracht. Während man als Lernen allgemein die Ausbildung überdauernder Verhaltensänderungen aufgrund von Erfahrung bezeichnet, charakterisiert der Begriff des Gedächtnisses speziell den Speicheraspekt dieses Vorganges. Der Prozess der Gedächtnisbildung umfasst dabei drei Subprozesse: 1. Akquisition, 2. Konsolidierung und 3. Abruf. Unter Akquisition wird die Enkodierung oder transiente Aufnahme der Information verstanden (oft auch als »Lernen« im engeren Sinne bezeichnet), unter Konsolidierung die Festigung des Aufgenommenen, die ein »Behalten« über die Zeit ermöglicht; der Abruf schließlich kennzeichnet die Re-Aktivierung der gespeicherten Inhalte in einem Erinnerungstest zu einem späteren Zeitpunkt.
Deklaratives und nondeklaratives Gedächtnis Weiterhin werden Gedächtnissysteme differenziert, die auch unterschiedliche neurobiologische Grundlagen haben. Die hier wichtigste Unterscheidung betrifft die zwischen 4 deklarativem (explizitem) Gedächtnis und 4 nondeklarativem (implizitem, prozeduralem) Gedächtnis, wobei zahlreiche tier- und humanexperimentelle Studien gezeigt haben, dass das deklarative im Gegensatz zum nondeklarativen Gedächtnis essenziell vom Hippokampus und angrenzenden Strukturen des Temporallappens abhängig ist (Squire 1992). Während beim Menschen das deklarative (»erklärende«) Gedächtnis einer bewussten Steuerung unterliegt, die vom Probanden explizit erklärt bzw. beschrieben werden kann, ist dies beim nondeklarativen Gedächtnis nicht der Fall. Hier können Prozesse der Gedächtnisbildung nur implizit über verbesserte Leistungen bei der Ausführung bestimmter motorischer, perzeptueller oder kognitiver Fähigkeiten festgestellt werden. Ein typisches Paradigma zur Untersuchung deklarativer Gedächtnisfunktionen besteht im Wortpaar-Assoziationslernen, einer Art »Vokabellernen«. Im Tierversuch wird ein
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Kapitel 7 · Psychoendokrine Aspekte neuropsychologischer Funktionen
Äquivalent des deklarativen Gedächtnisses meist anhand von Aufgaben zum räumlichen Gedächtnis (Labyrinth-Lernen) untersucht (Eichenbaum 2000). Humanexperimentell werden räumliche deklarative Gedächtnisfunktionen häufig mit Aufgaben zur mentalen räumlichen Rotation untersucht (z. B. Kirschbaum et al. 1996). Typische Untersuchungsparadigmen nondeklarativer Gedächtnisfunktionen sind dagegen z. B. im motorischen Bereich das Spiegelzeichnen oder das sog. »finger tapping« und im verbalen Bereich das sog. »WortstammPriming« (z. B. Plihal u. Born 1997, 1999b; Walker et al. 2003).
Kortikosteroideffekte
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Kortikosteroideffekte auf die Gedächtnisbildung wurden zunächst sehr ausführlich durch Experimente an Ratten untersucht, wobei als Untersuchungsparadigmen v. a. räumliche »LabyrinthLernaufgaben« (z. B. »Morris water maze«) und verschiedene Konditionierungsaufgaben, etwa passive und aktive Vermeidungsaufgaben, verwendet wurden (Überblick bei Lupien u. McEwen 1997). In den meisten dieser Experimente stand der Aspekt der Gedächtniskonsolidierung im Vordergrund (McGaugh 2000), insofern die untersuchten Kortikosteroide oder entsprechende synthetische Rezeptoragonisten bzw. Antagonisten unmittelbar nach der Akquisitionsphase verabreicht wurden. Dabei führten Gaben von Kortikosteron oder dem GR-Agonisten Dexamethason (DEX; s. Grundlagenbox zur Unterscheidung zwischen GR und MR) nach dem Training bei moderater Dosierung generell zu einer verbesserten Gedächtnisbildung sowohl bei räumlichem Lernen als auch bei passivem Vermeidungslernen (Überblick bei Roozendaal 2000), wohingegen die Gabe hoher Dosen eher negative Effekte hatte. Diese Befunde deuten eine umgekehrt U-förmige Dosis-Wirkungs-Beziehung an, nach der Erhöhungen der Glukokortikoidkonzentration, die noch innerhalb des physiologischen Normbereichs liegen, gedächtnisfördernd wirken, supraphysiologische Konzentrationen dagegen gedächtnisverschlechternd. Die Tatsache, dass GR-Agonisten wie DEX ähnliche Wirkungen erzielten wie Kortikosteron, spricht dafür, dass diese Effekte über die verstärkte Aktivierung der GR vermittelt werden (deKloet et al. 1998).
Differenzielle Effekte von Kortikosteroiden auf die drei Teilprozesse der Gedächtnisbildung, Akquisition, Konsolidierung und Abruf, wurden nur in wenigen Fällen systematisch verglichen (Lupien u. McEwen 1997). Eine dieser Studien wurde von Oitzl und deKloet (1992) an Ratten durchgeführt, die eine Labyrinthaufgabe lösen mussten. In verschiedenen experimentellen Bedingungen wurden selektive Antagonisten der GR und der MR entweder vor der ersten Sitzung (Wirkung auf Akquisition und Beginn der Konsolidierung), oder nach der 1. Sitzung (Wirkung auf Konsolidierung), oder vor der 2. Sitzung (Wirkung auf Abruf) injiziert. Die Gabe des MR-Antagonisten hatte in keinem der Fälle einen signifikanten Effekt auf die Gedächtnisleistungen, sondern beeinflusste lediglich das Suchverhalten der Ratten. Dagegen beeinträchtigte der GR-Antagonist die Gedächtnisleistungen, wenn er vor oder direkt nach dem 1. Durchgang (= Lerndurchgang) verabreicht wurde, aber nicht bei Gabe vor der Abruftestung beim 2. Durchgang. Diese Befunde sprechen dafür, dass Kortikosteroide über die Aktivierung von GR tatsächlich den Prozess der Gedächtniskonsolidierung, aber auch den Prozess der Akquisition positiv beeinflussen. Während in dieser Studie der Abrufprozess nicht beeinflusst wurde, erbrachten neuere Tierstudien allerdings Hinweise darauf, dass der Gedächtnisabruf im Gegensatz zur Konsolidierung durch die Gabe von Glukocortikoiden normalerweise beeinträchtigt wird (Überblick bei Roozendaal 2002). In Humanstudien zum Einfluss von Kortikosteroiden auf die Gedächtnisbildung wurde zunächst ebenfalls die Differenzierung zwischen Wirkungen auf Akquisition, Konsolidierung und Abrufprozessen vernachlässigt. Die Untersuchungsdesigns waren meist so angelegt, dass ein summarischer Einfluss auf alle drei Teilprozesse zusammen evaluiert wurde. Exemplarisch dafür ist eine Studie von Kirschbaum et al. (1996), die zudem bemerkenswert ist, weil sie in zwei Experimenten beide der oben genannten Untersuchungsansätze abdeckt, indem sie Wirkungen von Stressinduktion einerseits und direkter Kortisolgabe andererseits vergleicht.
129 7.3 · Neuropsychologische Wirkungen der Hormone
> Fallbeispiel Im ersten der beiden Experimente wurden studentische Probanden dem »Trier Social Stress Test« (TSST) unterzogen, der u. a. eine 5-minütige öffentliche Rede vor Publikum verlangt. Zehn Minuten nach dieser Stresssituation hatten die Probanden im Rahmen einer deklarativen Gedächtnisaufgabe eine Liste von Wörtern zu lernen, von denen sie nach der Durchführung einer 5-minütigen Distraktoraufgabe alle Wörter mit einem bestimmten Wortanfang erinnern sollten. Die Kortisolspiegel wurden 5 Minuten vor und 10 Minuten nach dem TSST im Speichel gemessen. Es zeigte sich, dass der infolge der Stresssituation auftretende Kortisolanstieg (von durchschnittlich 8,46 nmol/l vor Stress auf 17,65 nmol/l nach Stress) stark negativ mit der Anzahl korrekt erinnerter Wörter korrelierte (r = – 0.70). Im zweiten Experiment wurde mittels Kortisolgabe nachgewiesen, dass dieser korrelative Zusammenhang auch kausal zu interpretieren ist. Den Probanden wurde 1 Stunde vor der Gedächtnisaufgabe Kortisol oral in einer Dosis von 10 mg verabreicht. Die Aufgabe begann mit der Präsentation von Wortlisten, wobei die Probanden den Klang der einzelnen Wörter beurteilen sollten (inzidentelles Lernen). Nach der Bearbeitung zweier Aufgaben zum räumlichen Gedächtnis (mentale Rotation) folgten dann ein impliziter und ein expliziter Erinnerungstest für die Wortlisten. Beim impliziten Erinnerungstest wurden den Probanden aus den Lernlisten abgeleitete Wortanfänge (Wortstämme) vorgelegt, die sie spontan zu dem ersten Substantiv ergänzen sollten, das ihnen einfiel. Implizites Gedächtnis drückt sich in dieser Auff gabe darin aus, dass die Wortstämme überzufällig häufig zu den Wörtern ergänzt werden, die bereits in der Lernphase (Klangbeurteilung) bearbeitet worden waren (»Wortstamm-Priming«). Beim anschließenden expliziten Gedächtnistest wurden den Probanden dieselben Wortstämme erneut vorgelegt mit der Instruktion, diese jeweils zu einem in der Klangbeurteilungsphase präsentierten Wort zu ergänzen (»cued recall«). Die Kortisolgabe verschlechterte im Vergleich zu Placebo die explizite (deklarative) Worterinnerung signifikant, ließ dagegen die implizite (nondeklarative) unberührt. Ebenfalls verschlechtert war nach Kortisolgabe das räumliche deklarative Gedächtnis in einem Test zur mentalen Rotation.
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Zu ähnlichen Ergebnissen führte eine Studie von Lupien et al. (1997) an einer Stichprobe älterer Versuchspersonen (> 60 Jahre). Auch hier waren deklarative, aber nicht nondeklarative Gedächtnisleistungen nach einer experimentell induzierten Stresssituation verschlechtert, und zwar insbesondere bei den Probanden, die auf diese Situation mit extremem Kortisolanstieg reagierten. Andere Untersuchungen zeigten, dass Kortisol nicht nur akut, sondern auch bei subchronischer Verabreichung über mehrere Tage selektiv deklarative Gedächtnisleistungen verschlechtert (Newcomer et al. 1999; Young et al. 1999). Mit Blick auf die Hippokampusabhängigkeit der deklarativen im Gegensatz zu den nondeklarativen Gedächtnisleistungen sprechen diese Befunde dafür, dass Kortisol seine negativen Effekte auf das deklarative Gedächtnis über die Aktivierung von Rezeptoren im Hippokampus ausübt. Die schädlichen Wirkungen des Kortisols auf das deklarative Gedächtnis werden dabei wahrscheinlich über GR vermittelt, denn ähnliche Effekte wurden auch nach der Verabreichung selektiverer GR-Agonisten wie DEX oder Prednison beobachtet (Newcomer et al. 1994; Schmidt et al. 1999). Diese Interpretation wird weiter unterstützt durch Befunde, dass GR-Aktivierung, im Gegensatz zu MR-Aktivierung, in Zellen der hippokampalen CA1-Region die synaptische Langzeitpotenzierung (»long-term potentiation«, LTP) inhibiert. LTP gilt als der fundamentale Mechanismus, der auf zellulärer Ebene Gedächtnisbildung innerhalb neuronaler Netzwerke vermittelt. Aus Tierversuchen ist bekannt, dass eine erhöhte Glukokortikoidexposition über längere Zeit zur Atrophie hippokampaler Dendriten bis hin zum Zelltod führen kann (Lupien u. McEwen 1997; Herbert et al. 2006). Klinische Befunde zeigen, dass Patienten mit Erkrankungen wie Depression und dem Cushing-Syndrom, die mit Hyperkortisolismus einhergehen, sowohl spezifische Defizite des deklarativen Gedächtnisses als auch eine damit einhergehende Atrophie des Hippokampus aufweisen (Sapolsky 2000). Auch der normale Alterungsprozess des Menschen ist – trotz erheblicher individueller Unterschiede – allgemein durch eine Disinhibition der HHN-Achse mit erhöhten Kortisolspiegeln gekennzeichnet. Langzeitstudien zeigen, dass genauso wie bei den genannten Erkrankungen auch
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Kapitel 7 · Psychoendokrine Aspekte neuropsychologischer Funktionen
bei gesunden älteren Probanden Hyperkortisolismus mit Störungen des deklarativen Gedächtnisses und hippokampaler Atrophie korreliert (Lupien et al. 1998; Li et al. 2006). Diese Befunde lassen sich insgesamt dahingehend interpretieren, dass die erhöhte Glukokortikoidausschüttung in Stresssituationen hippokampale Gedächtnisfunktionen durch übermäßige GR-Aktivierung beeinträchtigt, was langfristig sogar zu morphologischen Schädigungen des neuronalen Gewebes führt. Da der Hippokampus ein wesentliches Ziel von Glukokortikoidwirkungen darstellt und das hippokampale Gedächtnissystem v. a. für die allmähliche Überführung neu enkodierter Gedächtnisinhalte ins Langzeitgedächtnis, also speziell für die Konsolidierungsphase der deklarativen Gedächtnisbildung, relevant ist (Squire 1992), wurden auch die in den Humanexperimenten gefundenen negativen Gedächtniseffekte von Kortikosteroiden meist auf diesen Teilprozess der Gedächtnisbildung bezogen. Jedoch sind in den meisten Studien wie der hier beschriebenen von Kirschbaum et al. (1996) die Kortikosteroideffekte bzgl. Akquisition, Konsolidierung und Abruf nicht klar voneinander zu trennen, da die pharmakologische Beeinflussung aufgrund der subchronischen Gabe bzw. der Gabe vor der Akquisitionsphase, der in kurzem zeitlichen Abstand die Abruftestung folgte, gleichermaßen während aller drei Teilprozesse der Gedächtnisbildung wirksam war.
Spezifische Kortikosteroideffekte in Humanstudien Humanexperimente, die selektiv den Teilprozess der Gedächtniskonsolidierung pharmakologisch durch Glukokortikoidgabe beeinflussten, beziehen sich auf den nächtlichen Schlaf als Modellsituation der Konsolidierung. Es ist gut belegt, dass nächtlicher Schlaf die Konsolidierung zuvor gelernter Gedächtnisinhalte fördert (z. B. Stickgold 2005; Wagner et al. 2004; Born et al. 2006; vgl. 7 Kap. 9, »Neuropsychologie des Schlafs« von Wagner et al. in diesem Band) Bei bestimmten Gedächtnisaufgaben findet eine Konsolidierung ohne Schlaf überhaupt nicht statt (z. B. Gais et al. 2000). Dabei profitiert die Konsolidierung deklarativer (im Gegensatz zu nondeklarativer) Gedächtnisinhalte besonders vom tiefschlafreichen Schlaf der 1. Nachthälfte (Plihal u. Born 1997, 1999a,b). Interessanterweise ist der
frühe Nachtschlaf durch eine stark herabgesetzte Aktivität der HHN-Achse und entsprechend minimale Kortisolspiegel gekennzeichnet. Er repräsentiert somit physiologisch eine besonders stressfreie Situation. Der niedrige Kortisolspiegel stellt dabei offenbar eine notwendige Voraussetzung für den positiven Effekt des frühen Schlafes auf die deklarative Gedächtniskonsolidierung dar, denn sie kann im frühen Schlaf durch eine Infusion moderater Mengen von Kortisol vollständig blockiert werden (Plihal u. Born 1999a). Diese Blockade wird wahrscheinlich durch die Aktivierung von GR vermittelt, da die Verabreichung von DEX ganz ähnliche negative Wirkungen auf den Konsolidierungsprozess hervorrief (Plihal et al. 1999). Eine Untersuchung von de Quervain et al. (2000) wies darüber hinaus eine Beeinträchtigung des Gedächtnisabrufs durch Kortikosteroide nach. Diese Autoren differenzierten erstmals in einer Humanstudie innerhalb eines Experiments zwischen Kortikosteroideffekten auf die drei Teilprozesse Akquisition, Konsolidierung und Abruf. Die Abruff phase (»free recall«) fand in diesem Experiment 24 Stunden nach der Akquisitionsphase (Lernen einer Liste von 60 Wörtern) statt. Den Probanden wurden oral 25 mg Kortison (das im Körper schnell zu Kortisol gewandelt wird) bzw. Placebo entweder 1 Stunde vor der Lernphase (Akquisition) oder unmittelbar danach, oder 1 Stunde vor dem Abruf verabreicht. Kortison beeinträchtigte die Erinnerungsleistung nur bei der Gabe vor dem Abruf, jedoch nicht in den beiden anderen Bedingungen (s. . Abb. 7.2). Auch eine zusätzliche, unmittelbar nach der Akquisition durchgeführte Abruftestung wurde durch die Kortisongabe nicht beeinflusst. Insgesamt spricht dieses Muster also dafür, dass das Kortikosteroid selektiv den späteren Abrufprozess, aber nicht die Akquisition oder Konsolidierung beeinträchtigt. Auch in verschiedenen Folgestudien wurde dieser negative Effekt von Glukokortikoiden auf den Gedächtnisabruf generell bestätigt (Überblick in einer Meta-Analyse von Het et al. 2005; vgl. aber auch Beckner et al. 2006). Das Negativergebnis von de Quervain et al. (2000) in Bezug auf die Konsolidierung steht allerdings im Widerspruch zu den oben diskutierten Befunden, die eine Verschlechterung der Konsolidierung deklarativer Gedächtnisinhalte im frühen Schlaf durch gleichzeitige Dauer-
131 7.3 · Neuropsychologische Wirkungen der Hormone
. Abb. 7.2. Wirkungen von Kortison (25 mg oral; schwarze Säulen) bzw. Placebo (weiße Säulen) auf Gedächtnisleistungen in einer deklarativen Aufgabe (Lernen einer Liste von 60 Wörtern) bei Gabe vor dem Lernen (Akquisitionsphase), unmittelbar nach dem Lernen (Beginn der Konsolidierungsphase) und vor dem Abruf, der 24 h später stattfand. Die Gedächtnisleistung war beeinträchtigt, wenn das Kortikosteroid vor der Abruftestung verabreicht wurde, aber nicht bei Gabe unmittelbar vor oder nach der Akquisition. (Nach de Quervain et al. 2000)
infusion von Kortisol zeigten. Es könnte allerdings sein, dass in dem Experiment von de Quervain et al. (2000) die einmalige orale Gabe des Steroids direkt nach der Akquisition nur zu Beginn wirkte und Konsolidierungsprozesse im späten Teil des Intervalls unbeeinflusst ließ. Auch ist zu bedenken, dass der Schlaf sich physiologisch grundlegend vom Wachzustand unterscheidet, so dass die Konsolidierungsmechanismen im Wach- und Schlafmodus nicht dieselben sein müssen. In Bezug auf Glukokortikoide ist diese Frage in weiteren Studien zu klären, die wie de Quervain et al. (2000) den Konsolidierungsprozess im Wachzustand unabhängig von Akquisition und Abruf pharmakologisch beeinflussen. Ergebnisse anderer Humanstudien weisen auf beeinträchtigende Einflüsse von Kortisol auch auf Funktionen des Arbeitsgedächtnisses hin (Lupien et al. 1999: Item-Wiedererkennungstest; Young et al. 1999: räumliches Arbeitsgedächtnis; Al’Absi et al. 2002: mentale Rechenaufgabe; Elzinga u. Roelofs 2005: Zahlen-Nachsprechen). Da solche kurzfristigen Arbeitsgedächtnisfunktionen die aktuelle Aufnahme- und Verarbeitungskapazität während der
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Enkodierung des Materials widerspiegeln, muss davon ausgegangen werden, dass sie auch die Akquisition langfristig zu behaltender Gedächtnisinhalte beeinflussen. Da Arbeitsgedächtnisfunktionen insbesondere durch präfrontale Kortexstrukturen vermittelt werden (z. B. Smith u. Jonides 1999), deuten diese Studien darauf hin, dass diese Strukturen neben dem Hippokampus ein direktes Ziel gedächtnisrelevanter Glukokortikoidwirkungen sein könnten. In der Tat weist der präfrontale Kortex von Primaten eine hohe Dichte von GR auf (Sanchez et al. 2000). Zudem scheint der präfrontale Kortex ähnlich wie der Hippokampus Feedbackwirkungen von Glukokortikoiden auf die HHN-Aktivität zu vermitteln (Diorio et al. 1993). Insgesamt weisen die Humanexperimente überwiegend auf eine beeinträchtigende Wirkung des Kortisols auf deklarative, jedoch nicht auf nondeklarative Gedächtnisfunktionen hin. Negative Effekte wurden dabei für alle drei Teilprozesse der Gedächtnisbildung, Akquisition, Konsolidierung (im Schlaf) und Abruf, gefunden. Die beeinträchtigenden Wirkungen von Kortikosteroiden auf die Gedächtniskonsolidierung werden wahrscheinlich über GR im Hippokampus vermittelt, während die Wirkungen auf Arbeitsgedächtnisfunktionen möglicherweise mit der Aktivierung solcher Rezeptoren im präfrontalen Kortex assoziiert sind.
Differenzielle Wirkung von Kortikosteroiden auf emotionale vs. neutrale Gedächtnisinhalte Der emotionale Gehalt des Lernmaterials scheint allerdings den Einfluss von Glukokortikoiden auf die Gedächtnisbildung entscheidend zu modulieren. Dieser Aspekt der Gedächtnisbildung stand in einer ganzen Reihe neuerer Humanstudien im Mittelpukt des Interesses, nachdem zuvor hauptsächlich neuropsychologische Standardgedächtnisaufgaben mit emotional neutralem Lernmaterial verwendet worden waren. In einer der ersten Studien zu diesem Thema verglichen Buchanan u. Lovallo (2001) Kortikosteroidwirkungen auf die deklarative Gedächtnisbildung für emotional erregendes und neutrales Material, wobei die Probanden eine Stunde vor dem Lernen 20 mg Kortisol (Hydrokortison) oder Placebo oral einnahmen. In der Lernphase (Akquisition) betrachteten sie eine Serie von Bil-
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Kapitel 7 · Psychoendokrine Aspekte neuropsychologischer Funktionen
dern des »International Affective Picture System« (IAPS; Lang et al. 1988), eines standardisierten Systems von Bildern mit unterschiedlich emotionalem Gehalt zu verschiedenen Themengebieten (Menschen, Tiere, Landschaften, Haushaltsobjekte, Nahrung etc.). Die gezeigten Bilder variieren dabei auf den beiden Emotionsdimensionen Valenz (positivnegativ) und Erregung (hoch-niedrig). In einem »Cued recall«-Erinnerungstest, der eine Woche später stattfand, war die Gedächtnisleistung der Kortisolgruppe für die hoch erregenden Bilder gegenüber der Placebogruppe signifikant verbessert, wohingegen sich beide Gruppen hinsichtlich der wenig emotional erregenden (neutralen) Bilder nicht unterschieden. Vergleichbare Ergebnisse, die auf positive Glukokortikoid-Effekte auf die Gedächtnisbildung für emotionale im Vergleich zu neutralen Stimuli hinweisen, wurden inzwischen auch in weiteren Studien zum emotionalen Gedächtnis berichtet, insbesondere für emotional negative Stimuli (Tops et al. 2003, Kuhlmann u. Wolf 2006). Dieser differenzielle Effekt im Hinblick auf die Emotionalität des Lernmaterials könnte auf der spezifischen Beteiligung der Amygdala an emotionalen Lernprozessen beruhen, über die auch hippokampal vermittelte Gedächtnisprozesse moduliert werden (McGaugh 2000). Kortikosteroidrezeptoren kommen wie im Hippokampus auch in der Amygdala in hoher Dichte vor. Für die Verbesserung emotionaler Gedächtnisleistungen unter Kortisoleinfluss könnten insbesondere GR im Nucleus basolateralis der Amygdala im Konsolidierungsprozess eine wesentliche Rolle spielen (Roozendaal 2000, 2002). Die differenziellen Befunde zum emotionalen vs. neutralen Gedächtnis weisen auf einen möglichen Erklärungsansatz für den offenkundigen Widerspruch zwischen den bisherigen human- und tierexperimentellen Studien hin. Letztere zeigen nämlich im Gegensatz zu den Humanstudien in der Regel positive Glukokortikoidwirkungen auf Gedächtnisprozesse an. Dieser Widerspruch könnte darauf zurückzuführen sein, dass die üblichen Lernparadigmen im Tierversuch im Gegensatz zu Humanexperimenten fast immer mit hoch emotionalen Versuchsprozeduren verbunden sind, z. B. mit der Verabreichung von Elektroschocks oder mit Schwimmen durch kaltes Wasser im »Morris water
maze«. Im Tierversuch werden daher Gedächtnisprozesse unter sehr emotionalen Stimulusbedingungen erfasst, die offensichtlich im Gegensatz zu neutralem Gedächtnis von der Gabe von Glukokortikoiden profitieren. Anzumerken ist allerdings, dass die pharmakologische Manipulation in den oben genannten Humanstudien zum emotionalen Gedächtnis direkt vor der Akquisitionsphase stattfand und somit nicht eindeutig zwischen Effekten auf die Enkodierung und die Konsolidierung trennen konnte. (Ein Effekt auf den Abruf kann allerdings ausgeschlossen werden, da dieser mit deutlicher zeitlicher Verzögerung stattfand.) Dennoch erscheint es wahrscheinlich, dass der entscheidende Einfluss der Glukokortikoid-Manipulation tatsächlich den Konsolidierungsprozess betraf, da Studien, die die Enkodierung (durch Abfrage unmittelbar nach der Akquisition) und die Konsolidierung (durch verzögerte Abfrage) getrennt erfassten, Glukokortikoid-Effekte auf emotionale Gedächtnisbildung allein bei der verzögerten Abfrage fanden (Maheu et al. 2004; Kuhlmann u. Wolf 2006). Zudem weist eine Reihe anderer Humanstudien, die sich der Stressinduktion statt pharmakologischer Intervention bedienten, um einen Kortisolanstieg zu induzieren, auch bei Stressinduktion nach der Akquision in ihren Ergebnissen in dieselbe Richtung wie die genannten pharmakologischen Studien, nämlich einen positiven Effekt speziell auf die emotionale Gedächtnisbildung (Cahill et al. 2003; Abercrombie et al. 2006; Zorawski et al. 2006). Allerdings ist der lineare korrelative Zusammenhang zwischen stressinduzierter Kortisolausschüttung und späterer Gedächtnisleistung in diesen Studien eher gering bzw. zeigt sich nur in bestimmten Teilstichproben, was auf Einflüsse auch anderer Faktoren im Prozess der emotionalen Gedächtniskonsolidierung hinweist, darunter Geschlecht und individuelle Stresssensitivität der Probanden sowie zirkadiane Einflüsse (Lupien et al. 2002; Maheu et al. 2005). Zu beachten ist auch, dass gerade an der emotionalen Gedächtnisbildung auch noradrenerge Mechanismen, die über das Stresssystem des sympathischen Nervensystems gesteuert werden, entscheidend beteiligt sind, teilweise in Interaktion mit Glukokortikoiden (McGaugh 2000; Joels et al. 2006), was die Trennung dieser beiden stressbedingten Einflussfaktoren schwierig
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macht. Auch ob die Konsolidierung emotionaler Inhalte während des Schlafes oder im Wachzustand stattfindet, spielt eine wesentliche Rolle, denn Kortisolsuppression während des nächtlichen Schlafs durch Metyrapon verstärkt die Konsolidierung emotionaler relativ zu neutralen Gedächtnisinhalten, statt sie zu abzuschwächen, wie aus den Wachergebnissen zu vermuten gewesen wäre (Wagner et al. 2005). In einer Reihe von Studien wurde allerdings auch im Wachzustand nicht das oben beschriebene Muster einer positiveren Glukokortikoidwirkung auf emotionales als auf neutrales Material beobachtet (z. B. Rimmele et al. 2003; Abercrombie et al. 2003; Maheu et al. 2004). Interessanterweise berichten zwei Studien, die vergleichsweise komplexes Lernmaterial ohne besonders ausgeprägte emotionale Inhalte verwendeten (Film bzw. längerer Text), signifikante korrelative Zusammenhänge (linear bzw. umgekehrt U-förmig) zwischen der Kortisolreaktion, die durch einen nach der Akquisition verabreichten Stressor ausgelöst wurde, und der späteren Gedächtnisleistung (Beckner et al. 2006; Andreano u. Cahill 2006). Dies könnte darauf hindeuten, dass außer der Emotionalität selbst auch die Komplexität bzw. semantische Kohärenz des Lernmaterials die Glukokotikoid-Einflüsse auf die Gedächtniskonsolidierung bestimmt. Andere Studien verglichen emotionales und neutrales Gedächtnis speziell im Hinblick auf die Abrufphase. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass der oben für neutrale Gedächtnisinhalte erwähnte negative Effekt von Glukokortikoiden auf den Gedächtnisabruf für emotionale Inhalte sogar noch verstärkt ist (Wolf et al. 2004; Domes et al. 2004; Kuhlmann et al. 2005; Buchanan et al. 2006). Dieser Befund konnte inzwischen auch klinisch nutzbar gemacht werden, indem Patienten mit sozialer Phobie und Spinnen-Phobikern Glukokortikoide in phobiespezifischen Angstsituationen verabreicht wurde, was deren Angst in diesen Situationen deutlich reduzierte, vermutlich durch Unterdrückung der sonst auftretenden angstbesetzen Erinnerungen (Soravia et al 2006).
Gedächtniseffekte von ACTH und CRH Gedächtniseffekte von ACTH und CRH sind weit weniger gut untersucht und belegt als die von Kor-
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tisol. Im Tierversuch wurden für ACTH-verwandte Peptide in verschiedenen Lernparadigmen wie konditionierter Geschmacksaversion und aktivem und passivem Vermeiden positive Effekte beobachtet (z. B. Greven u. de Wied 1977), was jedoch die Folge einer erhöhten Motivation der Tiere in diesen Lernparadigmen sein könnte (de Wied u. van Ree 1989). Humanexperimentelle Studien erbrachten keine konsistenten Hinweise auf eine systematische Beeinflussung von Gedächtnisleistungen durch ACTH-verwandte Peptide (Born et al. 1986). Hinsichtlich möglicher Wirkungen von CRH auf Gedächtnisfunktionen bieten Ergebnisse aus tierexperimentellen Lernparadigmen (passives Vermeiden) ein uneinheitliches Bild (Überblick bei Dunn u. Berridge 1990). Es liegen auch keine direkten Hinweise auf gedächtnisrelevante Einflüsse von CRH aus Humanstudien vor.
7.3.2 ACTH und Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit im Sinne der Bereitstellung kognitiver Ressourcen für die Verarbeitung äußerer oder innerer Stimuli hat zwar einen bedeutenden Einfluss auf Prozesse der Gedächtnisbildung, da sie auch die Tiefe der Enkodierung im Rahmen der Akquisition von Gedächtnisinhalten mitbestimmt. Jedoch werden Aufmerksamkeitsfunktionen meist als eigenständiges Phänomen untersucht. In neuroendokrinologischen Studien wurden sowohl hormonelle Wirkungen auf die Aufmerksamkeitskapazität und ihre Aufrechterhaltung über die Zeit (Vigilanz) als auch Wirkungen auf die Selektivität der Aufmerksamkeit untersucht. Aufbauend auf tierexperimentellen Studien, die, wie erwähnt, positive Wirkungen auf Lernverhalten andeuteten, wurde versucht, vergleichbare Effekte von ACTH bzw. seiner verhaltenswirksamen Fragmente ACTH4–10 und ACTH4–9 auch beim Menschen nachzuweisen. Die Ergebnisse dieser Studien sprechen insgesamt für einen primären Einfluss des Peptids auf die Aufmerksamkeit, insbesondere auf den Aspekt der Selektivität der Aufmerksamkeit. Untersuchungen, die Wirkungen unter Bedingungen »selektiver« und »geteilter« Aufmerksamkeit verglichen, führten zu dem Schluss, dass ACTH-verwandte Peptide eine Erweiterung des Aufmerksamkeitsfokus im Sinne
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Kapitel 7 · Psychoendokrine Aspekte neuropsychologischer Funktionen
einer erhöhten Bereitstellung kognitiver Ressourcen auch für aufgabenirrelevante Stimuli bewirken (Born et al. 1986). Während in der Bedingung selektiver Aufmerksamkeit eine Klasse von Stimuli zu beachten und gleichzeitig eine andere Klasse von ablenkenden Reizen zu ignorieren ist, müssen bei geteilter Aufmerksamkeit alle präsentierten Reize gleichermaßen beachtet werden, d. h. es gibt hier keine Distraktorreize. ACTH führte bei selektiver, nicht aber bei geteilter Aufmerksamkeit zu einer Leistungsverschlechterung. Dies wurde erstmals von Dornbush und Nikolovski (1976) anhand einer Aufgabe demonstriert, bei der die Probanden sich akustisch präsentierte Zahlen bzw. visuell präsentierte Buchstaben kurzzeitig merken mussten. ACTH-Gabe beeinflusste hier die Leistungen der Probanden nicht bei unimodaler Präsentation der Items (akustisch oder visuell), führte aber zu einer Beeinträchtigung bei gleichzeitiger (bimodaler) Präsentation beider Reizserien, d. h. wenn die Auff merksamkeit für die zu beachtenden Reize durch die in der anderen Modalität präsentierten Reize abgelenkt wurde.
Ereigniskorrelierte Hirnpotenziale zur Identifizierung aufmerksamkeitserweiternder Wirkungen In sehr vielen Studien wurden EEG-Indikatoren bzw. ereigniskorrelierte Hirnpotenziale (EKP) verwendet, um die Wirkungen von ACTH-verwandten Peptiden auf Aufmerksamkeitsfunktionen zu charakterisieren. So wurde die gestörte Fokussierung der Aufmerksamkeit durch ACTH-verwandte Peptide sehr eindrucksvoll in einer Studie von Rockstroh et al. (1983) anhand der »Contingent Negative Variation« (CNV) demonstriert. Die CNV ist eine langsame, negativ gerichtete Potenzialverschiebung im EKP, die im Vorwarnintervall zwischen Warnreiz (S1) und imperativem Reiz (S2) einer gewarnten Reaktionszeitaufgabe auftritt. Auf den imperativen Reiz muss die Versuchsperson so schnell wie möglich per Knopfdruck reagieren. In dem Experiment von Rockstroh et al. (1983) wurde in der Hälfte der Durchgänge ein ablenkendes Geräusch (Lärm aus einem Schulklassenzimmer) während des 6-sekündigen Vorwarnintervalls zwischen S1 und S2 eingeblendet. In der Placebobedingung führte dies erwartungsgemäß zu einem Einbruch der CNV-
Amplitude in den Durchgängen mit ablenkender Stimulation. Dieser Einbruch wird in diesem experimentellen Kontext als Zeichen einer Unterdrückung der Verarbeitung der ablenkenden Reize interpretiert. Nach Gabe des ACTH4–10-Analogs ORG2766 war dagegen bei Einblendung der distraktiven Reize keine Amplitudenverminderung der CNV mehr erkennbar. Unter dem Einfluss des Peptids zeigte sich bei Distraktion sogar eine tendenziell erhöhte CNV. Offensichtlich ließen sich die Versuchspersonen nach Gabe des ACTH-Fragmentes von dem irrelevanten Geräusch stärker ablenken und neigten dazu, der Verarbeitung dieser Distraktoren mehr Aufmerksamkeitskapazität zur Verfügung zu stellen. Diese Interpretation einer erhöhten Ablenkbarkeit unter ACTH-Einfluss wurde in dieser Studie zusätzlich durch den Befund unterstützt, dass die Probanden auf den imperativen Reiz bei Präsentation des ablenkenden Geräusches nach ACTH-Gabe langsamer reagierten und auf diesen Reiz hin auch eine verminderte Amplitude der P3Komponente im EKP zeigten. Da die P3-Komponente die Reizverarbeitung innerhalb des Arbeitsspeichers abbildet, weist dies auf eine unter ACTHEinfluss verschlechterte Verarbeitung des imperativen Reizes nach Ablenkung hin. Interessanterweise war in den Durchgängen ohne Ablenkung die P3-Amplitude beim imperativen Reiz nach ACTHGabe im Vergleich zu Placebo sogar erhöht, was zeigt, dass die aufmerksamkeitserweiternde Wirkung des Peptids unter Bedingungen fehlender Distraktion zu einer Verbesserung der Verarbeitung führen kann.
ACTH-Effekte im Paradigma zum dichotischen Hören Ein beeinträchtigender Effekt von ACTH-verwandten Peptiden auf Aufmerksamkeit unter ablenkenden Bedingungen ließ sich ebenfalls sehr konsistent anhand von EKP-Komponenten nachweisen, die im Rahmen eines Paradigmas zum dichotischen Hören abgeleitet wurden. In diesem Paradigma werden dem Probanden über Kopfhörer in beide Ohren gleichzeitig unterschiedliche Sequenzen aus kurzen Tönen (»Pips«) vorgegeben. Die Sequenz in jedem Ohr besteht jeweils aus häufigen Standardtönen und seltenen, darin eingestreuten abweichenden (z. B. etwas höheren) Tönen. In der Bedingung se-
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lektiver Aufmerksamkeit muss sich der Proband auf die Sequenz in einem der beiden Ohren konzentrieren und hier die etwas höheren Zielreize von den Standardreizen diskriminieren, während die Töne im kontralateralen Ohr ignoriert werden sollen. Eine Kontrollbedingung bezieht sich auf die geteilte Aufmerksamkeit, bei der gleichzeitig in beiden Ohren auf die abweichenden Töne geachtet werden soll. Neben den Verhaltensmaßen der Zielreizerkennung stellt die Nd-Komponente (»Negative difference wave«, häufig auch als »processing negativity« bezeichnet) im EKP ein sensitives Maß der Fokussierung der Aufmerksamkeit dar. Sie wird als Differenzwelle in der Bedingung selektiver Aufmerksamkeit gebildet, indem die Potenzialreaktion auf die Töne im unbeachteten Ohr von der im beachteten Ohr abgezogen wird. Je größer die Differenz, desto größer die Selektivität der Aufmerksamkeit. Intravenöse Gabe von ACTH4–10 reduziert die Nd-Komponente (Born et al. 1987), insbesondere wegen einer relativ stärkeren Negativität der Komponente bei den irrelevanten Reizen. Diese Nd-Reduktion wird als eine verstärkte Beachtung der irrelevanten Reize interpretiert. Die Wirkungen von ACTH-verwandten Peptiden auf die Nd-Komponente des EKP im Rahmen des Paradigmas des dichotischen Hörens sind von besonderer Bedeutung, da anhand dieses Effekts sehr ausführlich die Pharmakodynamik der psychoendokrinologischen ACTH-Wirkungen beim Menschen charakterisiert wurde (Born et al. 1990). So wurde gezeigt, dass der Effekt einer reduzierten Nd-Komponente durch ACTH4–10 mit logarithmisch zunehmender Dosis (von 0,1 mg, 1 mg und 10 mg i.v.) linear zunimmt, jedoch nur kurzfristig. Für eine direkte zentralnervöse Vermittlung dieses Effekts spricht, dass eine entsprechende Nd-Reduzierung auch durch intranasale Gabe von ACTH4–10 induziert werden kann, die einen direkten Zugang zum Gehirn ermöglicht (Smolnik et al. 1999).
Dimensionale Komplexität des EEG als Indikator zur Identifizierung aufmerksamkeitserweiternder Wirkungen Ein weiteres elektrophysiologisches Maß, mit dem die aufmerksamkeitserweiternde Wirkung von ACTH belegt wurde, ist die dimensionale Komplexität des EEG (Mölle et al. 1997a).
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Dieses Maß, das sich aus der Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme ableitet, kann als Indikator der Anzahl gleichzeitig aktivierter neuronaler Zellensembles im Kortex und damit als Indikator kognitiver »Defokussierung« betrachtet werden. Eine Erweiterung des Aufmerksamkeitsfokus sollte zu einer Zunahme gleichzeitig kompetitiv aktivierter Zellensembles und damit zu einer Erhöhung der dimensionalen Komplexität des EEGs führen. Mölle et al. (1997a) untersuchten in dem bereits beschriebenen Untersuchungsparadigma des dichotischen Hörens den Einfluss von ACTH4–10 vs. Placebo auf die dimensionale EEG-Komplexität unter den Bedingungen selektiver und geteilter Aufmerksamkeit. Erwartungsgemäß war nach Placebogabe die dimensionale Komplexität des EEG bei selektiver Aufmerksamkeit signifikant niedriger als bei geteilter Aufmerksamkeit, d. h. die Fokussierung der Aufmerksamkeit drückt sich in einer Reduktion der Anzahl gleichzeitig kompetitiv aktivierter Zellensembles aus. Jedoch wurde speziell in dieser Bedingung selektiver Aufmerksamkeit, parallel zu der bekannten Reduktion der Nd-Komponente, auch eine erhöhte dimensionale Komplexität des EEG nach Gabe von ACTH4–10 im Vergleich zu Placebo festgestellt (. Abb. 7.3). Die Ergebnisse dieses Experimentes zeigen, dass ACTH auf neokortikaler Ebene zu einer Reduktion kompetitiver Hemmung zwischen gleichzeitig aktivierten Zellensembles führt und so einen speziellen Verarbeitungsmodus induziert, der durch eine weitere Verteilung der Ressourcen bei der Stimulusverarbeitung charakterisiert ist. Interessanterweise wurden analoge Ergebnisse auch für eine »nach innen gerichtete« Form der Aufmerksamkeit im Rahmen von Aufgaben zum konvergent-analytischen Denken (fokussierte Aufmerksamkeit) vs. divergent-kreativen Denken (defokussierte Aufmerksamkeit) gefunden (Mölle et al. 1997b).
Behaviorale Aufmerksamkeitsmaße Zwar scheinen elektrophysiologische Maße insgesamt sensitiver gegenüber Wirkungen von ACTH auf Aufmerksamkeitsfunktionen zu sein als entsprechende Verhaltensmaße, jedoch konnten in einigen Studien, in denen neben EEG-Indikatoren auch behaviorale Daten erfasst wurden, parallele Effekte auf beiden Ebenen nachgewiesen werden. Ein Beispiel ist die oben beschriebene Studie von
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Kapitel 7 · Psychoendokrine Aspekte neuropsychologischer Funktionen
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass ACTH bzw. die verhaltenswirksamen Fragmente dieses Peptids den Modus kognitiver Verarbeitung kurzzeitig und dosisabhängig im Sinne einer Defokussierung oder Aufmerksamkeitserweiterung verändern. Dieser Effekt wird natürlicherweise wahrscheinlich über ein »hirneigenes« System vermittelt, das vom Nucleus arcuatus des Hypothalamus ausgeht. Welche Rezeptoren für diese Wirkungen der ACTH-verwandten Peptide auf Aufmerksamkeitsprozesse verantwortlich sind, ist allerdings bisher nicht bekannt.
Effekte von CRH und Kortisol auf Aufmerksamkeit
7 . Abb. 7.3. Wirkung intravenöser Gaben von ACTH4–10 bzw. Placebo auf die dimensionale Komplexität des EEG unter Bedingungen selektiver und geteilter Aufmerksamkeit in einem Paradigma dichotischen Hörens. Die dimensionale Komplexität des EEG repräsentiert als Indikator der Anzahl gleichzeitig aktivierter kortikaler Zellensembles das Ausmaß kognitiver »Defokussierung«. Selektive Aufmerksamkeit (im Vergleich zu geteilter Aufmerksamkeit) stellt ohne ACTHEinfluss eine Bedingung reduzierter EEG-Komplexität (d. h. erhöhter kognitiver Fokussierung) dar. ACTH-Gabe führt in dieser Bedingung zu einer Erhöhung der dimensionalen Komplexität des EEG, d. h. zu einer kognitiven Defokussierung und damit zu einer Erweiterung des Aufmerksamkeitsfokus. Auf der Verhaltensebene finden sich entsprechend nach Gabe von ACTH4–10 Hinweise auf verschlechterte Leistungen selektiver Aufmerksamkeit. (Nach Mölle et al. 1997a)
Rockstroh et al. (1983). Dort spiegelte sich die in der erhöhten CNV-Amplitude sichtbare Ablenkbarkeit durch distraktive Reize auch in entsprechend erhöhten Reaktionszeiten wider. Auch im Paradigma des dichotischen Hörens wurden neben Verminderungen der Nd-Komponente bei selektiver Aufmerksamkeit auch verlangsamte Reaktionszeiten unter ACTH-Einfluss festgestellt (Born et al. 1987). In Aufmerksamkeitsaufgaben ohne Ablenkung wurden dagegen eher positive Effekte von ACTH gefunden, die auch auf der Verhaltensebene nachweisbar waren, etwa in Form von verbesserter Performanz bei Daueraufmerksamkeitsaufgaben und einfachen Vigilanzleistungen, z. B. in seriellen Reaktionszeitaufgaben (Born et al. 1986).
Im Gegensatz zu ACTH scheint CRH keinen Einfluss auf Aufmerksamkeitsfunktionen auszuüben. Lautenbacher et al. (2002) untersuchten Aufmerksamkeitsfunktionen in einer Einfachwahl-Reaktionszeitaufgabe. CRH-Gabe ließ die Reaktionszeit unverändert. Ebenso fanden Born et al. (1990) in einer Vigilanzaufgabe keinerlei Effekte von intravenösen CRH-Gaben auf akustisch evozierte hirnelektrische Potenziale. Auch Kortisol hatte in den meisten Fällen keine Wirkung auf spezifische Verhaltensmaße der Aufmerksamkeit (Newcomer et al. 1999; Schmidt et al. 1999). Jedoch wurden in mehreren Studien elektrophysiologisch messbare Kortisoleffekte auf automatisierte Aufmerksamkeitsfunktionen im frühen Zeitbereich der Reizverarbeitung gefunden (Überblick bei Born et al. 1992). Dabei hatte Kortisol im Gegensatz zu ACTH im Paradigma des dichotischen Hörens keinen Einfluss auf die Nd-Amplitude als Maß selektiver Aufmerksamkeit. Es bewirkte jedoch eine Abnahme der »mismatch negativity« (MMN), einer EKP-Komponente zwischen 170 und 200 ms nach Reizvorgabe, die die automatisierte Verarbeitung einer mehr oder weniger unerwarteten Reizveränderung (»mismatch«) anzeigt. Weitere Einflüsse von Kortisol auf präattentive EKP-Komponenten im Latenzbereich unter 200 ms betrafen die Reduktion der Amplitude der N1-Komponente und die Erhöhung der Latenz und Abnahme der Amplitude von P170 und N200. Andere Arbeiten berichteten dagegen von erhöhten EKP-Amplituden in diesem Latenzbereich (Born et al. 1988). Es scheint, dass diese Wirkungen auf die frühen, exogenen EKP-Komponenten stark
137 7.3 · Neuropsychologische Wirkungen der Hormone
durch die zirkadiane Rhythmik der HHN-Aktivität moduliert werden und unspezifische Effekte auf die Stimulus-induzierte kortikale Erregbarkeit widerspiegeln.
7.3.3 CRH vs. Kortisol, Angst
und Depression Stress stellt eine psychische Belastungssituation dar, die eine systematische Regulation der emotionalen Funktionen und der Stimmung erfordert. Als Emotion im engeren Sinne bezeichnet man eine spezifische, unmittelbar durch eine bestimmte Reizsituation ausgelöste Gefühlsreaktion, die sich auf drei Reaktionsebenen manifestiert: 1. Motorik, 2. Physiologie und 3. subjektives Erleben. Stimmungen stellen dagegen eher länger andauernde Gefühlslagen dar, die bestimmte emotionale Reaktionsmuster prädisponieren. Da bestimmte affektive Erkrankungen wie die Depression und manche Angststörungen mit einer erhöhten Aktivität der HHN-Achse einhergehen, ist die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen den Hormonen des HHN-Systems und emotionalen Funktionen bzw. Stimmungen insbesondere aus der klinischen Perspektive von Interesse. Eine herausragende Bedeutung im Bereich der emotionalen Funktionen kommt dem CRH zu. Allerdings lässt sich im Humanbereich die Rolle dieses Peptids nicht klar von den durch Kortikosteroide vermittelten Wirkungen abgrenzen. In zahlreichen Tierversuchen wurde in verschiedenen experimentellen Paradigmen ein anxiogener Effekt des CRH aufgezeigt (Dunn u. Berridge 1990; Heilig et al. 1994). Ein typisches Paradigma ist dabei das »elevated plus maze«, das aus vier in Form eines Pluszeichens (Kreuzes) angeordneten Wegen besteht, die ca. 50 cm über dem Boden verlaufen und von denen zwei mit Wänden versehen, die anderen beiden aber offen sind. Eine Ratte gilt als umso ängstlicher, je weniger Zeit sie bei der Exploration dieses angehobenen Labyrinths auf den ungeschützten, offenen Wegen verbringt. Die intrazerebroventrikuläre Gabe von CRH reduziert die auf den offenen
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Wegen verbrachte Zeit. Nach Stressexposition (z. B. durch Hineinsetzen einer männlichen Ratte in das Territorium eines anderen Männchens) ist die Explorationszeit auf den offenen Wegen ebenfalls reduziert, und die intrazerebroventrikuläre Gabe von α-helikalem CRH9–41, einem CRH-Antagonisten, hebt diesen stressinduzierten Effekt auf (Heinrichs et al. 1992). Die anxiogenen Wirkungen werden höchstwahrscheinlich über den CRH1-Rezeptor vermittelt, denn Untersuchungen an Rhesusaffen zeigten, dass Antalarmin, ein selektiver CRH1-Rezeptorantagonist, stressinduziertes Angstverhalten hemmt (Habib et al. 2000). Ebenso zeigten Knockout-Mäuse, denen der CRH1-Rezeptor fehlt, eine reduzierte Ängstlichkeit, und zwar auch dann, wenn gleichzeitig das fehlende Kortikosteron bei diesen Mäusen durch externe Gabe ersetzt wurde, was eine Kortikosteroidvermittlung des Effektes ausschließt (Timpl et al. 1998). Anxiogene Wirkungen wurden allerdings auch nach Gabe von Kortikosteroiden beobachtet (z. B. Calvo u. Volosin 2001; Ardayfio u. Kim 2006). Diese Effekte sind insgesamt allerdings nicht konsistent, denn es gibt auch Hinweise, die eher auf einen anxiolytischen Kortikosteroideffekt hindeuten (File et al. 1979). In Humanstudien an gesunden Probanden wurden endokrinologische Effekte auf emotionale Funktionen zumeist mit Fragebogenmethoden wie der Eigenschaftswörterliste (EWL; Janke u. Debus 1978) untersucht. Die EWL erfasst die aktuelle Stimmung bzw. emotionale Befindlichkeit anhand von 15 verschiedenen emotionalen Dimensionen. Im Gegensatz zu den eindeutigen tierexperimentellen Befunden hatte die Gabe von CRH in derartigen Untersuchungen keine nachweisbaren anxiogenen oder sonstigen Wirkungen auf die emotionale Befindlichkeit (Lautenbacher et al. 2002; Pietrowsky et al. 1992). Allerdings basieren die Ergebnisse der Humanstudien meist auf der i. v.-Gabe des Peptids, was zur gleichzeitigen Aktivierung der ACTH- und Kortisolfreisetzung führt, während in den Tierexperimenten vorzugsweise die intrazerebroventrikuläre Gabe zur Anwendung gelangt und die Tiere häufig zusätzlich adrenalektomiert sind. Auch die Gabe von ACTH zeigte in den Humanstudien nur schwache Wirkungen auf die Stimmung, die am ehesten als leicht aktivierend zu interpretieren sind (Pietrowsky et al. 1992; Born et al. 1990). Ausgepräg-
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Kapitel 7 · Psychoendokrine Aspekte neuropsychologischer Funktionen
ter waren dagegen die Effekte von Glukokortikoiden. Akute Kortisolgaben erhöhten die subjektiv wahrgenommene Aktiviertheit und Konzentration und reduzierten die Müdigkeit (Plihal et al. 1996; Born et al. 1988; Reuter 2002; vgl. aber auch Al’Absi et al. 2002). Analoge kurzfristig aktivierende Effekte hatte der GR-Agonist Dexamethason (DEX), während nach längerfristiger Verabreichung dieses Glukokortikoids über mehrere Tage negative Stimmungsveränderungen (Zunahme von Ärger und Traurigkeit) auftraten (Plihal et al. 1996). Ein vergleichbarer Effekt wurde nach mehrtägiger Verabreichung höherer Dosen (160 mg/Tag) von Prednison mit Hilfe einer der EWL ähnlichen Adjektivliste gefunden (Schmidt et al. 1999). Da DEX ebenso wie Prednison relativ selektiv GR aktiviert, scheint die langfristig dysphorische Wirksamkeit über diesen Rezeptortyp vermittelt zu sein, möglicherweise durch eine mit der langfristigen Gabe einhergehende Downregulation dieser Rezeptoren. Interessanterweise verbesserte sich die negative Stimmung nach viertägiger DEX-Gabe, wenn zusätzlich Kortisol verabreicht wurde, was vermutlich auf die dadurch erfolgte zusätzliche MR-Aktivierung zurückzuführen ist (Plihal et al. 1996). Die langfristig negative Wirkung von Glukokortikoiden auf das emotionale Wohlbefinden zeigt sich auch im klinischen Bereich, denn Patienten, die längere Zeit mit Glukokortikoiden behandelt werden, weisen neben kognitiven Beeinträchtigungen teilweise auch erhebliche emotionale Störungen auf, ein Syndrom, das in seiner schwersten Ausprägung als »Steroid-Psychose« bekannt ist (Wolkowitz et al. 1997; Brown et al. 2004). Neuere Feldstudien an nicht klinischen Stichproben bestätigt diesen negativen Zusammenhang. Diese Studien zeigen, dass höhere basale Cortisolspiegel allgemein mit verschlechterten Parametern positiver Affektivität einhergehen (Lai et al. 2005; Steptoe u. Wardle 2005; Jacobs et al. 2006).
Implikationen hinsichtlich affektiver Erkrankungen Während also in Tierversuchen negative Effekte auf emotionale Funktionen v. a. für CRH im Sinne anxiogener Wirkungen aufgezeigt wurden, weisen die Ergebnisse der Humanstudien vor allem auf langfristig dysphorische Effekte durch Glukokorti-
koide hin. Vor diesem Hintergrund wurde sowohl dem CRH als auch den Glukokortikoiden eine entscheidende Rolle in der Pathogenese affektiver Störungen, insbesondere der Depression zugeschrieben (z. B. Barden et al. 1995; Keck u. Holsboer 2001). Die Tatsache, dass in Untersuchungen an gesunden Probanden keine negativen Stimmungsveränderungen nach CRH-Gabe gefunden wurden, spricht nicht notwendigerweise gegen eine Rolle des CRH, denn dies könnte teilweise durch die schlechte Hirngängigkeit des Peptids nach systemischer Applikation bedingt sein. Eine messbare negative Wirkung könnte erst bei höheren Dosierungen oder bei längerfristiger Verabreichung auftreten, wenn größere Mengen des Peptids das ZNS erreichen. Außerdem hat die, in den Humanversuchen vorwiegend genutzte, systemische Applikationsform den Nachteil, dass die Freisetzung von ACTH und Kortisol, die durch CRH stimuliert wird, durch eigene Effekte die eigentlichen CRHWirkungen maskieren kann. Gegen diese Möglichkeit spricht allerdings, dass die Verabreichung von Kortikosteroiden, wie beschrieben, ebenfalls z. T. recht deutliche negative Wirkungen auf die Stimmung hat. Da davon auszugehen ist, dass derartige Kortikosteroidgaben beim Menschen aufgrund ihrer negativen Feedbackwirkungen die zentralnervöse CRH-Freisetzung hemmen, stehen diese humanexperimentellen Beobachtungen einer depressiogenen Wirkung von Kortikosteroiden in der Tat im Widerspruch zu der v. a. tierexperimentell untermauerten Hypothese, nach der CRH als primärer Verursacher negativer Stimmung und Angst im Zustand erhöhter HHN-Achsenaktivität anzusehen ist. Auch Befunde aus Studien an depressiven Patienten selbst lassen diesbezüglich keine eindeutigen Schlüsse zu. Die für Depression typische Hyperaktivität der HHN-Achse bezieht sich sowohl auf CRH als auch auf Kortisol. Wirkungen beider Hormone bzw. Störungen in deren Rezeptorsystemen könnten die affektive Erkrankung ursächlich mitbedingen. Einige Hinweise sprechen für eine primäre Bedeutsamkeit des CRH. Bei Patienten mit Depressionen sind erhöhte CRH-Konzentrationen in der Zerebrospinalflüssigkeit festgestellt worden (z. B. Nemeroff et al. 1984). Diese normalisieren sich im Zuge der therapiebedingten Besserung
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der Symptomatik (Arborelius et al. 1999). Auch bei Patienten mit bestimmten Angststörungen wurden erhöhte Konzentrationen von CRH in der Zerebrospinalflüssigkeit gefunden (Arborelius et al. 1999), wobei diesen Störungen wahrscheinlich zumindest teilweise dieselben pathophysiologischen Mechanismen zugrunde liegen wie der Depression (Boyer 2000). Insgesamt gaben derartige Befunde Anlass zu der Hypothese, dass die Hyperaktivität der HHNAchse und der daraus resultierende Hyperkortisolismus bei depressiven Patienten auf eine Überaktivität hypothalamischer CRH-Neurone zurückzuführen sind, weshalb die Behandlung dieser Patienten mit CRH-Antagonisten als möglicher therapeutischer Ansatz geprüft wird (Holsboer 2001; Zorilla u. Koob 2004). Die erhöhte CRH-Aktivität bei Depressiven könnte aber auch Folge einer reduzierten Feedbackhemmung durch Glukokortikoide sein (Barden et al. 1995). In der Tat sprechen einige Beobachtungen dafür, dass depressive Erkrankungen primär durch ein ineffizientes GR-Feedback charakterisiert sind. So gilt als wichtiges endo-
krines Symptom der Depression die verminderte Supprimierbarkeit der morgendlichen Kortisolfreisetzung durch Dexamethason (DexamethasonSuppressionstest). Bei erfolgreicher antidepressiver Behandlung normalisiert sich auch die Supprimierbarkeit der Kortisolfreisetzung (Holsboer 2001). Vermutet wurde auch, dass die klinisch relevanten Wirkungen klassischer Antidepressiva über eine Verstärkung der GR-Expression vermittelt werden (Barden et al. 1995). Allerdings zeigten sich positive Behandlungseffekte teilweise auch bei antiglukokortikoider Medikation, wodurch negatives Feedback auf CRH reduziert wird (Wolkowitz u. Reus 1999; Young et al. 2004). Insgesamt zeigen die tier- und humanexperimentellen Befunde, dass sowohl CRH als auch Glukokortikoide Emotionen und Stimmungen negativ beeinflussen können. Im Fall der Depression, die mit einer Hypersekretion sowohl von CRH als auch von Kortisol einhergeht, wurden Behandlungserfolge sowohl durch CRH-Antagonisten als auch durch GR-bezogene Medikamentenbehandlung erzielt.
Zusammenfassung In diesem Kapitel wurden exemplarisch anhand der drei »Kernhormone« der HHN-Achse, CRH, ACTH und Kortisol, die psychoendokrine Bedingtheit neuropsychologischer Funktionen aufgezeigt, wobei humanexperimentelle Studien im Vordergrund standen. Obwohl diese Hormone Bestandteile desselben Regelsystems sind und in Stresssituationen gemeinsam ausgeschüttet werden, lassen die Forschungsergebnisse eine gewisse funktionale Spezialisierung jedes Hormons auf einen bestimmten neuropsychologischen Funktionsbereich vermuten. CRH scheint hauptsächlich Emotionen und Stimmungen zu beeinflussen, und zwar in negative Richtung. ACTH und verwandte Neuropeptide zeigten nur im Bereich der Aufmerksamkeitsfunktionen deutliche Effekte im Sinne einer defokussierenden Wirkung. Kortisol hat die deutlichsten Effekte auf Gedächtnisfunktionen: beeinträchtigende Effekte auf das hippokampal vermittelte deklarative Gedächtnis (Konsolidierung im Schlaf sowie 6
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Gedächtnisabruf ) und verstärkende Effekte auf das amygdalär vermittelte emotionale Gedächtnis (Enkodierung und Konsolidierung im Wachzustand). Zusätzlich entfaltet Kortisol vor allem bei langfristiger Erhöhung auch direkte anxiogene bzw. depressiogene Wirkungen. Die neuropsychologischen Effekte jedes dieser Hormone werden wahrscheinlich über das koordinierte Zusammenspiel jeweils mehrerer zentralnervöser Rezeptortypen vermittelt. Gut untersucht ist diesbezüglich v. a. die Rolle von GR und MR für die Wirkung des Kortisols. Sein schädlicher Einfluss auf die Gedächtniskonsolidierung und wahrscheinlich auch seine negative Wirkung auf die emotionale Befindlichkeit beruhen auf einer verstärkten Aktivierung von GR bzw. einer Verschiebung der MR-GR-Balance zugunsten dominierender GR-Aktivierung. Während Kortisol nach peripherer Freisetzung über die BlutHirn-Schranke rasch ins Gehirn gelangt und so reafferent auf die zentralnervösen MR und GR zurückwirkt, sind die mit ACTH und CRH assoziierten
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Kapitel 7 · Psychoendokrine Aspekte neuropsychologischer Funktionen
neuropsychologischen Effekte sicherlich nicht Folge einer Wirkung der ins Blut freigesetzten Hormone. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass es im Rahmen von Stress einerseits zu einer Aktivierung von hirneigenen Zentren kommt, in denen ACTH-verwandte Peptide freigesetzt werden; andererseits wird CRH über Kollaterale entsprechender hypothalamischer Neurone freigesetzt. Da alle drei untersuchten Hormone in Stresssituationen gemeinsam freigesetzt werden, sind ihre Effekte unter natürlichen Bedingungen sicherlich gegenseitig stark überlagert. Ebenso sind die verschiedenen neuropsychologischen Funktionsbereiche (Aufmerksamkeit, Gedächtnis, emotio-
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Kapitel 7 · Psychoendokrine Aspekte neuropsychologischer Funktionen
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7
8 8 Genetische Aspekte der Neuropsychologie psychischer Störungen Michael Wagner, Nadine Petrovsky
8.1
Genetik psychischer Störungen
8.2
Genetische Aspekte der Neuropsychologie einzelner psychischer Störungen – 149
8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6
Schizophrenie – 149 Affektive Störungen – 156 Zwangserkrankungen – 156 Entwicklungsstörungen – 157 Degenerative Erkrankungen – 158 Alkoholabhängigkeit – 159
8.3
Molekulargenetik kognitiver Funktionen – 160
8.4
Literatur
– 162
– 146
146
8
Kapitel 8 · Genetische Aspekte der Neuropsychologie psychischer Störungen
Die neuropsychologischen Funktionsdefizite bei psychischen Störungen, wie sie in den anderen Beiträgen dieses Buches im Einzelnen dargestellt werden, sind nicht immer nur die diagnostisch und therapeutisch relevanten Begleiterscheinungen oder Konsequenzen von manifesten Erkrankungen. Sie können auch der Diagnose einer psychischen Störung vorausgehen, ihr Abklingen überdauern und z. T. auch bei biologisch verwandten Familienangehörigen in abgeschwächter Form vorhanden sein. Bei denjenigen psychischen Störungen, bei denen dies der Fall ist, können neuropsychologische Funktionsänderungen als primäre, möglicherweise genetisch bedingte Störungen betrachtet werden. In diesem Kapitel stellen wir dar, in welchem Ausmaß genetische Faktoren nach heutigem Wissen an der Entwicklung psychischer Störungen und neuropsychologischer Veränderungen im Rahmen dieser Störungen beteiligt sind.
8.1
Genetik psychischer Störungen
Die Ursachen der meisten psychischen Störungen sind im Einzelnen nicht bekannt. Daher ist bei psychischen Störungen bislang auch noch keine ursachenorientierte Klassifikation möglich, wie das in den meisten Bereichen der somatischen Medizin der Fall ist. Vielmehr sind für die Einteilung psychischer Störungen Diagnosesysteme auf der Basis von reliabel erfassbaren Symptomen notwendig, wobei in gewissem Umfang auch Verlaufscharakteristika mit einbezogen werden (z. B. ICD-10,). Die zahlreichen Revisionen dieser Diagnosesysteme in den letzten Jahrzehnten zeugen von der Variabilität der diagnostischen Grenzen, die eine solche primär phänomenologisch-deskriptive Klassifikation notwendig zur Folge hat. Die Suche nach familiären Häufungsmustern ist ein erster Ansatzpunkt, um trotz mangelnder Kenntnis der Krankheitsursachen zu ätiologisch homogeneren Krankheitseinheiten zu gelangen, was selbst eine wichtige Voraussetzung für die weitere Ursachenforschung darstellt (Maier 1998). Grundlegend für diesen Ansatz ist die Annahme, dass die familiäre Häufung einer psychischen Erkrankung auf gleichartig wirkende familiäre Ursachen zurückgeht. Erfasst man etwa die Lebenszeitprävalenz psychischer
Störungen bei Verwandten eines Indexpatienten mit Krankheit A und findet bei diesen eine Häufung der Störungen A und B (im Vergleich zu Verwandten zufällig ausgewählter Personen aus der Allgemeinbevölkerung), nicht aber eine Häufung der Störungen C und D, kann man einige begründete Schlussfolgerungen ziehen: 1. das vermehrte Auftreten von A geht wahrscheinlich auf gleiche familiäre (genetische und nicht genetische) Ursachen zurück, 2. den Störungen A und B liegen zumindest teilweise gleiche Ursachen zugrunde und 3. die Störungen C und D gehen wahrscheinlich nicht auf die gleichen familiären Ursachen wie Störung A zurück. In den Fällen (1) und (2) müsste dann durch andere Untersuchungsstrategien, etwa Adoptionsuntersuchungen, geklärt werden, ob die familiären Ursachen genetischer oder nichtgenetischer Art sind. Die Heritabilität vieler psychischer Funktionen und Störungen, wie sie Zwillings-, Familien- und Adoptionsdaten abzuschätzen erlauben, ist teilweise beträchtlich. . Abb. 8.1 zeigt solche Erblichkeitsschätzungen für einige psychische Störungen und Merkmale. Im oben genannten Beispiel müssen die Störungen B–D nicht unbedingt kategorialen Diagnosen entsprechen. Es kann auch sein, dass quantitative Merkmale (z. B. Leistung in neuropsychologischen Testverfahren, neurophysiologische Auffälligkeiten, Persönlichkeitszüge) bei Verwandten eines Patienten mit Diagnose A anders ausgeprägt sind als bei Kontrollpersonen. Auch in diesem Fall ist die Hypothese sinnvoll, dass der Störung A und der Abweichung in diesem Merkmal gemeinsame familiäre Ursachenfaktoren zugrunde liegen. Dort, wo familiäre Häufungen auftreten, ist die Suche nach krankheitsassoziierten Genen ein logischer weiterer Schritt (vgl. nachfolgende Theoriebox). Assoziations- und Kopplungsuntersuchungen sind die beiden hierfür zur Verfügung stehenden Untersuchungsstrategien. Beide bedienen sich polymorpher, über einzelne Chromosomen oder über das gesamte Genom verteilter Marker, die durch inzwischen hoch automatisierte Methoden ein engmaschiges »Abtasten« der DNA ermöglichen. Assoziationsstudien prüfen, ob einzelne Marker bei Er-
147 8.1 · Genetik psychischer Störungen
8
. Abb. 8.1. Heritabilitätsschätzungen für einige psychische Funktionen und Störungen (basierend auf Zwillingsuntersuchungen). Quellenangaben: (Mod. nach McGuffin et al. 2001)
krankten häufiger auftreten als bei einer Kontrollpopulation, was bedeuten würde, dass diese Marker sich in der Nähe eines Suszeptibilitätsgens befinden. Allerdings sind Assoziationsstudien anfällig für Stichprobenartefakte; eine unzureichende Parallelisierung von Kontrollgruppe und Patientengruppe kann leicht zu falschpositiven Ergebnissen führen. Kopplungsanalysen weisen diese Störanfälligkeit nicht auf, weil hier die Kosegregation (gemeinsame Weitergabe = Kopplung) von Markern mit der Erkrankung innerhalb von Familien mit mindestens zwei Erkrankten untersucht wird. Während Assoziationsstudien eine sehr große Zahl (mehrere Hundert) von erkrankten Personen und Kontrollpersonen benötigen, sind für Kopplungsuntersuchungen weniger, aber auch seltenere genetisch informative Familien mit zwei erkrankten Verwandten erforderlich. Beide Forschungsstrategien erfordern beträchtlichen Aufwand. Im nächsten Abschnitt werden für einzelne psychische Störungen die familiären Häufungsmuster
bzw. Heritabilitätsschätzungen berichtet, die Datenlage zu neuropsychologischen und neurophysiologischen Merkmalsabweichungen bei Verwandten von Patienten mit diesen Störungsbildern und die bisherigen Befunde zu den molekulargenetischen Ursachen der Störungen bzw. Dysfunktionen dargestellt. Dabei werden v. a. jene Erkrankungen besprochen, bei denen genetische Faktoren eine bedeutende Rolle spielen und zugleich konsistente neuropsychologische Beeinträchtigungen vorliegen. Die weitaus umfangreichste Literatur und auch die am weitesten entwickelten Modellvorstellungen zur Bedeutung neuropsychologischer Störungen für die Entstehung einer Erkrankung liegen bisher für das Störungsbild der Schizophrenie vor.
148
Kapitel 8 · Genetische Aspekte der Neuropsychologie psychischer Störungen
Theoriebox
Genetische Schlüsselbegriffe
8
Das menschliche Genom ist die Gesamtheit der auf den 23 Chromosomenpaaren enthaltenen Gene. Gene stellen die an einem paarigen Genort befindliche Information dar. Gene kodieren durch spezifische DNA-Sequenzen für Genprodukte (Proteine), die den Aufbau und die Funktion des Organismus steuern. Genexpression ist die Bezeichnung für die Biosynthese eines spezifischen Genprodukts. Polymorphismen sind Varianten der genetischen Kodes, die nicht notwendig an einem Genort vorkommen müssen, sondern auch in der nichtkodierenden DNA liegen können; dann werden sie auch als Marker bezeichnet. Die Vielfalt und interindividuelle Verschiedenheit der Marker ist nicht nur Grundlage des individuellen »genetischen Fingerabdrucks«, sondern auch methodische Voraussetzung für Kopplungs- und Assoziationsanalysen zur Genortsuche. Allele sind Varianten der Information an einem Genort. Genkopiezahlvarianten (kurz CNVs, »gene copy number variants«) bezeichnen Abweichungen der Anzahl von Genen. Diese Segmente umfassen Tausende bis Millionen von Basenpaaren. Bisher sind mehr als 1.400 CNVs im menschlichen Genom bekannt. Der Genotyp ist durch die Information an einem Genort festgelegt; sofern an diesem allelische Varianten existieren, kann die Information an einem paarigen Genort identisch sein (homozygot) oder verschieden (heterozygot). Der Phänotyp ist ein spezifisches kategorielles (z. B. psychische Störung) oder dimensionales Merkmal (z. B. psychische Funktion). Bei vielen Erkrankungen ist die Beziehung zwischen Genotyp und Phänotyp nicht eindeutig, einem Phänotyp liegen verschiedene genetische Mechanismen zugrunde (genetische Heterogenität). Sofern eine genetische Ursache und eine nicht genetische Ursache zum gleichen
Phänotyp führen, bezeichnet man letzteren als Phänokopie. Monogene Erkrankungen werden durch das einfache (bei dominantem Erbgang, z. B. bei Huntington-Chorea) oder gepaarte Vorkommen eines Allels (bei rezessivem Erbgang, z. B. bei Phenylketonurie) verursacht, die Weitergabe des Gens folgt dabei den Mendel-Regeln. Polygene Erkrankungen entstehen durch das Zusammenwirken mehrerer Allele an mehreren Genorten, wobei dann keine strenge Kausalität zwischen einem einzelnen Gen und einer Erkrankung mehr besteht, sondern das Gen die Auftretenswahrscheinlichkeit der Erkrankung probabilistisch beeinflusst (Suszeptibilitätsgen). Bei einem polygen beeinflussten quantitativen Merkmal nennt man ein solches statistisch zur Merkmalsausprägung beitragendes Gen auch »Quantitative Trait Locus« (QTL). Für die Mehrzahl der psychischen Störungen ist von einer multifaktoriellen Verursachung auszugehen, bei der polygen genetische und Umweltfaktoren zusammenwirken. Suszeptibilitätsgene müssen nicht zu Erkrankungen führen, sondern können – etwa bei günstigen Umweltbedingungen oder bei günstigem genetischen Hintergrund – auch nur zu quantitativen Merkmalsvarianten führen. Solche genetisch mit einer Erkrankung assoziierten Normvarianten (z. B. leichte kognitive Dysfunktionen oder erhöhte emotionale Reagibilität) werden als Endophänotypen bezeichnet, sie könnten – weil genetisch vermutlich weniger komplex determiniert – für die weitere Suche nach Suszeptibilitätsgenen besser geeignet sein als die Erkrankung selbst (vgl. 2. Theoriebox). Erblichkeit (Heritabilität) ist ein Maß der quantitativen Verhaltensgenetik zur Beschreibung des relativen Anteils genetischer Faktoren an der phänotypischen Varianz; zur Berechnung werden Ähnlichkeitsmaße bzw. Wiederholungsraten aus Familien- und Adoptionsstudien herangezogen.
149 8.2 · Genetische Aspekte der Neuropsychologie einzelner psychischer Störungen
8.2
Genetische Aspekte der Neuropsychologie einzelner psychischer Störungen
8.2.1 Schizophrenie Die familiäre Häufung von Erkrankungen zählt zu den wenigen gesicherten Erkenntnissen der Schizophrenieforschung. Das Wiederholungsrisiko für schizophrene Psychosen liegt bei 1.-gradigen Verwandten bei etwa 10% im Vergleich zu etwa 1% Lebenszeitprävalenz in der Allgemeinbevölkerung. Adoptionsstudien verweisen darauf, dass der nicht genetische familiäre Anteil eher gering ist, sodass die Heritabilität auf etwa 70% geschätzt wird. Die Vielzahl der in Kopplungsanalysen replizierten Kandidatenregionen für Schizophrenie macht es sehr wahrscheinlich, dass mehrere Gene zu der Erkrankung beitragen. Replizierte Befunde liegen bisher für Regionen auf den Chromosomen 5, 6, 8, 10, 13, 18 und 22 vor. Seit 2002 wurden mehrere Suszeptibilitätsgene in diesen Regionen gefunden (z. B. Dysbindin 1 auf Chromososm 6, Neuregulin 1 auf Chromosom 8), die direkt pathogenen Varianten sind aber noch nicht identifiziert. Möglicherweise beeinflussen einige dieser Suszeptibilitätsgene die glutamaterge Signaltransmission über den NMDA-(N-Methyl-D-aspartat-)Rezeptor (Harrison u. Weinberger 2005). Seit wenigen Jahren sind aufgrund gentechnischer Fortschritte auch genomweite (hypothesenfreie) Assoziationsstudien (GWAS) möglich, die bei häufigen und komplexen somatischen Erkrankungen bereits neue und replizierbare genetische Ursachen aufdecken konnten. Auch für die weitere Erforschung psychiatrischer Erkrankungen wird diese Methodik neuerdings eingesetzt. Im Jahr 2008 hat eine GWAS eine Assoziation des ZNF804A-Gens auf Chromosom 2 mit Schizophrenie aufgedeckt (O‘Donovan et al. 2008). Dieser Befund konnte von einer anderen Arbeitsgruppe repliziert werden (Riley et al. 2009). Des Weiteren zeigte eine Studie, dass die Risikovariante des ZNF804A-Gens Auswirkungen auf die Gehirnaktivität gesunder Personen hat (Esslinger et al. 2009). Mit der Genvariante zusammenhängende Veränderungen der Aktivitätsmuster fanden sich im dorsolateralen präfrontalen Cortex (DLPFC), im Hippokampus und in der Amygdala – Hirnregio-
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nen, die mit der Erkrankung Schizophrenie in Verbindung gebracht werden. Dem gentechnischen Fortschritt ist es auch zu verdanken, dass neuerdings auch sog. Genkopiezahlvarianten (=CNVs, s. a.Theoriebox zu genetischen Schlüsselbegriffen) typisiert werden können. Neue, groß angelegte genetische Studien haben gezeigt, dass Schizophrenie mit CNVs auf den Chromosomen 1, 2 und 15 assoziiert ist (Tam et al. 2009). Möglicherweise ist es so, dass bestimmte CNVs nicht nur das Risiko erhöhen, an einer Schizophrenie zu erkranken, sondern dass sie auch das Erkankungsrisiko für andere psychiatrische Störungen anheben (Stefansson et al. 2009). Neuropsychologische Funktionsstörungen bei Verwandten schizophrener Patienten Schizo-
phrene Patienten weisen – als Gruppe betrachtet – Defizite in zahlreichen neuropsychologischen Testverfahren auf, die nicht auf die medikamentöse Behandlung zurückführbar sind (vgl. 7 Kap. 17 »Neuropsychologie der Schizophrenie« von Lautenbacher und Kunz, in diesem Band). Eine Metaanalyse von Studien, die schizophrene Patienten mit Gesunden hinsichtlich mindestens eines Leistungsbereichs verglichen, zeigt in verschiedenen Funktionsbereichen Leistungsminderungen im Umfang von 0,46–1,41 Standardabweichungen (Heinrichs u. Zakzanis 1998), mit den relativ deutlichsten Einbußen im Bereich 4 des verbalen Gedächtnisses, 4 der exekutiven Funktionen und 4 der Aufmerksamkeit. Im intraindividuellen Langzeitverlauf sprechen die Daten für eine relative Stabilität der Defizite, ohne Hinweise für eine Progredienz (im Sinne einer Dementia praecox). Die interindividuelle Variabilität der Defizite korreliert dabei erheblich und bedeutsam mit der klinischen Symptomatik und dem Verlauf, z. B. im Hinblick auf die soziale Anpassung (Green 1996). Die Befunde sprechen klar dafür, dass kognitive Defizite und auch neurophysiologische Auffälligkeiten intrinsischer Bestandteil des Phänotyps der Schizophrenie sind. Zahlreiche Daten weisen außerdem darauf hin, dass diese Defizite zumindest teilweise genetische Ursachen haben. Bei biologischen Angehörigen Schizophrener, die selbst nie in ihrem
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Kapitel 8 · Genetische Aspekte der Neuropsychologie psychischer Störungen
Leben an einer psychischen Erkrankung litten, treten überzufällig häufig Normabweichungen in neuropsychologischen und -physiologischen Parametern auf, die sich auch bei Schizophrenen finden. Dies gilt sowohl für »High-risk-Kinder« schizophrener Eltern als auch für erwachsene Verwandte, die die Risikoperiode für die Entwicklung einer Erkrankung bereits weitgehend durchlaufen haben. Die Übersichten von Cornblatt und Keilp (1994) sowie von Kremen et al. (1994) zeigen, dass in Bezug auf neuropsychologische Funktionsstörungen v. a. Aufmerksamkeitsdefizite, Beeinträchtigungen des deklarativen Gedächtnisses, und Beeinträchtigungen bei der Konzeptbildung als potenzielle Endophänotypen infrage kommen. Insbesondere die Daueraufmerksamkeit, meist mit einem »Continuous Performance Test« (CPT) gemessen, ist – v. a. unter erhöhten perzeptuellen oder kognitiven Anforderungen – bei Familienangehörigen schizophrener Patienten beeinträchtigt. Dies gilt sowohl für (»High-risk«)Kinder Schizophrener (Nuechterlein 1983), für erwachsene Angehörige schizophrener Patienten (Franke et al. 1994), als auch für Personen mit schizotyper Persönlichkeitsstörung (Roitman et al. 1997). Auch das räumliche Arbeitsgedächtnis ist bei Angehörigen Schizophrener gestört (Park et al. 1995). Vor allem bei hohen Anforderungen an die exekutive Kontrolle sind – unabhängig vom Inhalt - Defizite des Arbeitsgedächtnisses bei Angehörigen festzustellen, was als Hinweis auf eine genetisch vermittelte Funktionsbeeinträchtigung des dorsolateralen präfrontalen Cortex gewertet wird (Conklin et al. 2005). Das verbale Gedächtnis, über das Lernen von Wortlisten oder Geschichten erfolgt, ist in mehreren Untersuchungen mit erwachsenen Angehörigen Schizophrener als signifikant reduziert beschrieben worden (Cannon et al. 1994; Faraone et al. 1995). Wie bei den schizophrenen Patienten scheint das deklarative Gedächtnis auch bei den Angehörigen die am stärksten beeinträchtigte Funktion zu sein, generell ist das Defizitprofil bei Patienten und Angehörigen über mehrere Funktionsbereiche hinweg ähnlich (Cannon et al. 1994). Exekutive Funktionen (Abstraktion und Flexibilität) werden meist mit dem »Wisconsin Card Sorting Test« (WCST) erfasst. Die Befundlage ist hier – in Bezug auf die Familienangehörigen Schi-
zophrener – nicht ganz einheitlich: Einige Studien fanden hier Beeinträchtigungen (Franke et al. 1993), andere jedoch nicht (Stratta et al. 1997). Auch die sehr umfangreiche Harvard-Brockton-Studie (77 Verwandte schizophrener Patienten, 100 Kontrollpersonen) fand bei Verwandten keine Defizite im WCST (Faraone et al. 2000), wohl aber bei einem anderen Verfahren zur Prüfung exekutiver Funktionen, der »Object Alternation Task« (Faraone et al. 1999). Bei einer weiteren Veröffentlichung aus der Harvard-Brockton-Studie (Faraone et al. 2000) wurden die (»nichtpsychotischen«) Familienangehörigen schizophrener Patienten danach unterschieden, ob sie, außer dem Indexpatienten, einen weiteren Angehörigen 1. Grades mit einer Schizophrenie hatten (»multiplex families«) oder nicht (»simplex families«). Dabei wurde davon ausgegangen, dass bei ersteren eine höhere Belastung mit krankheitsassoziierten Genen besteht (»genetic loading«) als bei letzteren. Bei den »multiplex« Angehörigen waren signifikant stärkere Defizite im Bereich des verbalen und visuellen Kurzzeitgedächtnisses vorhanden als bei »simplex« Angehörigen (die sich allerdings auch noch von den Kontrollgruppen unterschieden). Interessanterweise war dieser »load« Effekt nur bei Frauen, nicht aber bei Männern vorhanden, was von den Autoren als Hinweis für eine höhere Erkrankungsschwelle bei Frauen diskutiert wurde (d. h. genetisch stärker belastete Frauen können dies noch kompensieren, Männer nicht). Eine Untersuchung von kernspintomographischen Aufnahmen ergab zudem, dass der linke Hippokampus bei Familienangehörigen schizophrener Patienten, v. a. bei solchen aus »Multiplex-Familien«, signifikant kleiner war als bei Kontrollgruppen, und dass diese Volumenminderung mit den verbalen Gedächtnisdefiziten korrelierte (Seidman et al. 2002). Neurophysiologische Besonderheiten. Hinsicht-
lich neurophysiologischer Maße liegen deutliche Belege für okulomotorische Funktionsstörungen bei Angehörigen schizophrener Patienten vor. Es kommt bei einem Teil der Angehörigen zu Störungen der langsamen Augenfolgebewegungen (Holzman et al. 1984), in der Antisakkadenaufgabe können sie zudem fehlerhafte reflexive Sakkaden
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schlechter hemmen (Curtis et al. 2001, Ettinger et al. 2006). Auch für mehrere Komponenten akustischer ereigniskorrelierter Potenziale liegen Befunde bei Angehörigen schizophrener Patienten vor. Die P50Komponente (50 ms nach einem Reiz) weist bei ihnen eine geringere Habituation bei Reizwiederholung auf (Clementz et al. 1998), die Amplitude der »Mismatch negativity« (Michie et al. 2002) und der P300 ist meist reduziert (Weisbrod et al. 2001; Frangou et al. 1997), die Latenz der P300 in einigen Studien auch verzögert (Frangou et al. 1997). Interpretiert werden diese neurophysiologischen Normabweichungen als möglicherweise genetisch bedingte Störungen der Informationsverarbeitung und der Aufmerksamkeit. Aufgrund von weiteren schizophrenen Erkrankungsfällen in der Herkunftsfamilie ist es bei einem kleinen Teil der nicht an einer Psychose erkrankten Eltern schizophrener Patienten wahrscheinlich, dass sie Überträger krankheitsassoziierter Gene sind, sog. obligate Anlageträger. Gleiches gilt für nicht selbst erkrankte Geschwister schizophrener Patienten, deren Kind an einer Schizophrenie erkrankt ist. Diese Konstellation ist sehr selten, aber besonders informativ, erlaubt sie doch, die vermutete Wirkung krankheitsrelevanter Gene (die bei der betreffenden Person mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhanden sind), auf neuropsychologische und neurophysiologische Leistungen zu untersuchen. Es liegen aber erst wenige Studien mit kleinen Fallzahlen hierzu vor. Harris et al. (1996) fanden bei wahrscheinlichen Anlageträgern schlechtere Leistungen in den Aufmerksamkeitsfunktionen als bei den Elternteilen ohne einen weiteren erkrankten Angehörigen. Zudem unterschieden sich die gesunden obligaten Anlageträger in diesem Funktionsbereich nicht von ihren erkrankten Kindern. Die gleiche Arbeitsgruppe fand bei denselben wahrscheinlichen Genträgern und ihren erkrankten Kindern zudem eine gestörte Inhibition reflexiver Sakkaden (d. h. eine erhöhte Antisakkadenfehlerrate, Ross et al. 1998a) und eine erhöhte Häufigkeit von antizipatorischen Sakkaden bei langsamen Augenfolgebewegungen (Ross et al. 1998b). Eine neuere Studie von Petrovsky et al. (2009) zeigte ebenfalls, dass Eltern schizophrener Patienten mehr Antisakkadenfehler machten und erhöhte Antisakkadenlatenzen aufwiesen. Beide Parameter
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waren zudem bei Eltern mit einem weiteren Erkrankungsfall in der Herkunftsfamilie in stärkeren Maße auffällig. Ein (statistisch) größeres »Risiko« schizophrenierelevanter Gene geht also mit einer stärkeren Ausprägung der okulomotorischen Endophänotypen einher, was für einen kausalen Zusammenhang spricht. Frangou et al. (1997) fanden eine verlängerte Latenz der akustischen P300 nicht nur bei schizophrenen Patienten, sondern auch gehäuft bei deren Elternteilen, die aufgrund der Familienanamnese wahrscheinliche Anlageträger waren. In der gleichen Stichprobe wie bei Frangou et al. (1997) fanden Sharma et al. (1999) eine fehlende Volumenasymmetrie frontaler Hirnregionen nur bei den wahrscheinlichen Anlageträgern und bei ihren schizophrenen Kindern, nicht aber bei den Elternteilen, die eine »leere« Familienanamnese für Schizophrenie aufwiesen. Die Ergebnisse aus diesen beiden kleinen Stichproben obligater Anlageträger sprechen dafür, dass bestimmte Störungen der Informationsverarbeitung gemeinsam mit der Disposition zur Schizophrenie vererbt werden. »Endophänotypen« Eine eigene Metaanalyse von
Studien, in denen nicht selbst erkrankte Verwandte 1. Grades (Kinder, Geschwister, Eltern) von schizophrenen Patienten mit gesunden Probanden verglichen wurden (vgl. . Abb. 8.2), ergab über verschiedene neuropsychologische Funktionsbereiche hinweg eine mittlere Beeinträchtigung um knapp 0,5 Standardabweichung (Schröder et al. 2002), dies entspricht etwa der Hälfte der bei schizophrenen Patienten gefundenen Defizite (Heinrichs und Zakzanis 1998). Neuere Metaanalysen bestätigen dies (Sitskoorn et al. 2004, Snitz et al. 2005). Sitskoorn et al. (2004) fand die größten Normabweichungen (d ~ 0,5) bei Untersuchungen mit Angehörigen im Bereich des verbalen Gedächtnisses und bei visomotorischen Aufgaben, gefolgt von Maßen wie dem Continuous Performance Test oder dem Wisconsin Card Sorting Test (d ~ 0,3). Die Identifikation psychometrischer, neurofunktioneller und neuromorphologischer Auffälligkeiten bei gesunden Angehörigen ist eine wichtige Forschungsstrategie zur Definition von »Endophänotypen«, die möglicherweise unmittelbarer als die klinischen Phänotypen Ausdruck bestimmter
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Kapitel 8 · Genetische Aspekte der Neuropsychologie psychischer Störungen
. Abb. 8.2. Neuropsychologische Defizite bei schizophrenen Patienten, Metaanalyse von 214 Studien (Zakzanis et al. 1999) und bei 1.-gradigen Verwandten schizophrener Indexpatienten, Metaanalyse von 33 Studien (Schröder et al. 2002). Alle Werte sind Effektstärken (mit 95% Konfidenzintervallen) und geben die Abweichung von den Leistungen gesunder Kontrollpersonen an
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krankheitsassoziierter Genotypen sind und sich daher besonders für molekulargenetische Untersuchungen eignen könnten (Leboyer et al. 1998; Gottesman u. Gould 2003). Der Grundgedanke dabei ist, dass einzelne Gene, die quantitativ nur einen geringen Beitrag zur Entwicklung einer Schizophrenie leisten, gleichwohl wesentlich zu einer zentralnervösen Funktionsstörung beitragen könnten, die im Zusammenwirken mit anderen genetischen und Umwelteinflüssen zu der Erkrankung Schizophrenie führt. Freedman et al. (1997) fanden in Familien Schizophrener eine Kopplung von verminderter P50-Suppression mit einem Polymorphismus am Genort des Alpha-7-Nikotinrezeptors auf Chromosom 15. Myles-Worsley et al. (1999) zeigten in Mehrgenerationenfamilien mit mehreren Schizophrenen eine Kopplung zwischen einem Inhibitionsphänotyp (gebildet aus P50-Suppression und Antisakkadenfehlern) und einem Abschnitt auf Chromosom 22. In beiden genannten Studien ergab sich keine Kopplung der genetischen Marker zum klinischen Phänotyp. Modellhafte Überlegungen (Faraone et al. 1995) zeigen, dass durch die simultane Verwendung mehrerer neuropsychologischer Variablen ein für gene-
tische Untersuchungen sinnvoller latenter Phänotyp konstruiert werden könnte. Bei einer Kopplungsanalyse in Familien schizophrener Patienten, bei dem ein solcher aus verschiedenen neuropsychologischen Parametern zusammengesetzter Wert verwendet wurde, wurde kürzlich eine Kopplung dieses neuropsychologischen Phänotyps mit einer Region auf Chromosom 6 beschrieben (Hallmayer et al. 2003). Solange solche Ergebnisse nicht in anderen Stichproben repliziert werden können, ist hier sicher Skepsis geboten. Aber derartige Untersuchungen können wahrscheinlich künftig Hinweise auf Kandidatenregionen geben, in denen für Hirnentwicklung und Hirnfunktion – und mittelbar auch für bestimmte Erkrankungen – relevante Gene lokalisiert sind. Eine weiterführende Darstellung aktueller Endophänotypbefunde zu Schizophrenie findet sich bei Wagner und Maier (2008).
Die Bedeutung neuropsychologischer Funktionsdefizite im Verlauf der Erkrankung In mehreren Ländern wurden seit 1952 sog. Highrisk-Studien durchgeführt, d. h. prospektive Unter-
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suchungen mit Kindern schizophrener Eltern, bei denen auch verschiedene (zwischen den Studien leider nur gering überlappende) neuropsychologische Variablen erhoben wurden. Die 6 bis 1980 begonnenen und teilweise noch andauernden Studien ergaben Erkrankungsraten von 7,7–20,8% bei den Kindern mit einem schizophrenen Elternteil, verglichen mit 0–2,9% bei den Kindern psychisch gesunder Eltern, wobei sich die Probanden zum Zeitpunkt der letzten Untersuchung meist im 3. oder 4. Lebensjahrzehnt befanden. Affektive Störungen traten bei den Kindern mit einem schizophrenen Elternteil hingegen nicht gehäuft auf. Als prognostisch relevant für die Entwicklung einer späteren Schizophrenie oder einer Spektrumsstörung erwiesen sich dabei über die Studien hinweg v. a. motorische Koordinationsstörungen und Aufmerksamkeitsstörungen (Erlenmeyer-Kimling 2000), wobei allerdings die eingeschränkte Breite der erfassten Funktionen berücksichtigt werden muss. So wurden etwa deklarative Gedächtnisfunktionen bei den schon länger begonnenen High-riskUntersuchungen nicht erfasst. Bei den aktuellen Untersuchungen, etwa der Edinburgh-Risikostudie mit einer großen Zahl von Jugendlichen aus Familien mit mehreren Erkrankungsfällen, werden deutlich breitere Untersuchungsbatterien verwendet. Verlaufsdaten weisen auf eine krankheitsprädiktive Bedeutung insbesondere von verbalen Gedächtnisdefiziten hin (Whyte et al. 2006). Auch prospektive Kohortenuntersuchungen und auf Fallregistern basierende retrospektive Untersuchungen von Patienten ohne schizophren erkrankte Eltern sprechen dafür, dass Patienten bereits lange vor dem Ausbruch der Erkrankung durch Entwicklungsverzögerungen, verminderten Intelligenzquotienten (IQ), diskrete neurologische Auffälligkeiten, erhöhte Ängstlichkeit und Neigung zum Alleinsein charakterisiert sind (Davies et al. 1998; Davidson et al. 1999). Das Aufwachsen mit einem schizophrenen Elternteil kann als Ursache für diese Auffälligkeiten hier ausgeschlossen werden, weshalb wahrscheinlich ist, dass neuropsychologische Funktionsdefizite frühe Vorboten einer beginnenden schizophrenen Erkrankung sein können. Diese Funktionsdefizite könnten daher auch zur Vorhersage und zur Frühintervention bei fraglich beginnenden schizophrenen Erkrankungen beitragen (Lencz et al. 2005).
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Schizophrenie – eine neuronale Entwicklungsstörung? Wie können die neuropsychologischen Funktionsstörungen bei Angehörigen und im Vorfeld von Schizophrenien erklärt werden und wie passen Sie mit anderen Daten der Schizophrenieforschung zusammen? Die Hypothese der neuronalen Entwicklungsstörung postuliert, dass pathologische Veränderungen im ZNS hinsichtlich Zellmigration, Zelldifferenzierung und Plastizität an der Entstehung von Schizophrenien ursächlich beteiligt sind. Diese Hypothese wird durch neuromorphologische und epidemiologische Daten so stark gestützt, dass sie derzeit weitgehend akzeptiert ist (Harrison 1999). Wesentliche und konsistente neuromorphologische Befunde aus Bildgebungs- und Post-mortem-Studien betreffen zytoarchitektonische Veränderungen (wie veränderte Dichte und Anordnung von Neuronen) sowie eine Erweiterung der Ventrikel und eine Volumenminderung des Kortex bereits in frühen Stadien der Erkrankung bei gleichzeitigem Fehlen von Hinweisen für eine Neurodegeneration. Zudem wird die Hypothese einer neuronalen Entwicklungsstörung gestützt durch die oben beschriebenen motorischen, intellektuellen und Verhaltensdefizite, die bereits im Kindesalter bei später an einer Schizophrenie erkrankenden Kindern auftreten, sowie durch die Tatsache, dass viele der bekannten Umweltfaktoren, die die Erkrankungswahrscheinlichkeit erhöhen, in prä- und perinatalen Entwicklungsstadien wirken (z. B. Infektionen während der Schwangerschaft, Geburtskomplikationen). Schließlich können neonatale Läsionen im Tiermodell zu verzögerten Auswirkungen auf Verhalten und neurochemische Parameter nach der Pubertät führen (was die zeitliche Entkopplung von primärer Schädigung und manifester Erkrankung bei der Schizophrenie erklären würde). Neuropsychologische Funktionsstörungen als Einflussfaktoren Ein auf den genannten Daten ba-
sierendes Stadienmodell zur Rolle neuropsychologischer Funktionsstörungen für die Entwicklung schizophrener Erkrankungen ist in . Abb. 8.3 verdeutlicht. Demnach führen Varianten von Genen, die an der Hirnentwicklung und Hirnfunktion beteiligt sind, zu neuropsychologischen Funktions-
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Kapitel 8 · Genetische Aspekte der Neuropsychologie psychischer Störungen
8 . Abb. 8.3. Stadienmodell der Schizophrenie
störungen. Auch prä- und perinatale Schädigungen können allein oder in Interaktion mit genetischen Faktoren (die z. B. die Anfälligkeit gegenüber Infektionen beeinflussen) zu einer solchen primären Störung beitragen, die bei Vorliegen günstiger Faktoren auch kompensierbar ist. Erst durch nachfolgende Reifungsprozesse oder nach Hinzutreten weiterer ungünstiger Bedingungen kommt es später dann zur Entwicklung einer manifesten schizophrenen Erkrankung. Die Hypothese einer neuronalen Entwicklungsstörung ist zwar am besten für die Schizophrenie gesichert, sie wird jedoch auch bei anderen psychischen Erkrankungen diskutiert, etwa bei Zwangserkrankungen oder bei affektiven Erkrankungen mit frühem Erkrankungsbeginn (Blanes u. McGuire 1997; van Os et al. 1997). Genetische Defekte können zu neuropsychologischen Störungen und zu Psychosen führen Aus
Mikrodeletionen auf dem langen Arm von Chromosom 22 (22q11) resultieren verschiedene klinische Syndrome (darunter das Velocardiofaziale-Syndrom, VCFS), die v. a. durch angeborene Herzfehler, Gesichtsmissbildungen, Gaumenanomalien und einen sprachlichen und psychomotorischen Ent-
wicklungsrückstand gekennzeichnet sind. Die Intelligenzleistungen von Kindern mit VCFS streuen erheblich und liegen im Mittel bei einem IQ von etwa 70. Im Vergleich zu gleichintelligenten Kontrollpersonen sind bei VCFS-Patienten zudem Störungen der visuellen Wahrnehmung, der Problemlösung und der Abstraktionsfähigkeit vorhanden (Henry et al. 2002). Erst in den letzten Jahren hat man erkannt, dass Patienten mit VCFS eine erhöhte Rate von psychotischen Störungen (Schizophrenien, bipolare Störungen) aufweisen, eine größere Studie fand bei 12 von 50 VCFS-Patienten (24%) eine schizophrene Psychose (Murphy u. Owen 2001). Auch andere Hinweise sprechen für einen Zusammenhang zwischen einer Region auf dem langen Arm von Chromosom 22 mit schizophrenen und bipolaren Störungen. Bei schizophrenen Patienten treten 22q11-Deletionen überzufällig häufig auf. Ferner wurden in mehreren Kopplungs- und Assoziationsstudien Regionen in der Nähe der VCFSRegion auf Chromosom 22 mit Schizophrenie bzw. bipolaren Störungen assoziiert. Diese Daten legen nahe, dass mindestens ein Gen auf Chromosom 22 in der Ätiologie sowohl der Schizophrenie als auch des VCFS eine Rolle spielt. Viele der Veränderungen bei VCFS sind eindeutig auf Störungen in der frühen Phase der embryonalen Entwicklung zurückzuführen. Da auch bei der Schizophrenie zahlreiche Hinweise auf eine neuronale Entwicklungsstörung während der Embryonalphase vorliegen, ist die Hypothese attraktiv, dass zumindest ein für die neuronale Entwicklung relevantes Gen auf 22q11 lokalisiert ist. Interessanterweise liegt auch das Katecholamintransferase-(COMT-)Gen in dem betreffenden Chromosomenabschnitt. Dieses ist jedoch nicht für die embryonale Entwicklung, sondern für den Dopaminstoffwechsel von Bedeutung, und wird aus diesem Grund mit Schizophrenie bzw. mit Frontalhirnfunktionen in Zusammenhang gebracht (vgl. nachfolgende Theoriebox). Bislang ist noch nicht ausreichend geklärt, ob die neuropsychologischen Defizite bei VCFS-Patienten denen von schizophrenen Patienten ähneln, und ob sie möglicherweise der Entwicklung psychotischer Symptome bei diesen VCFS-Patienten vorausgehen. Proteine, die bei der Hirnentwicklung eine Rolle spielen, kommen als Ursache genetisch beeinflusster
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Theoriebox
Ein Gen für den WCST und für Schizophrenie? Der Wisconsin Card Sorting Test (WCST) ist ein vielfach zur Prüfung frontaler Funktionen verwendetes Verfahren, bei dem schizophrene Patienten typischerweise Leistungsminderungen zeigen. Dopamin ist ein Neurotransmitter, der eine wichtige Rolle für das Arbeitsgedächtnis spielt, das für die Bearbeitung des WCST mit erforderlich ist. Könnte ein genetisch bedingter Mangel an Dopamin in präfrontalen Regionen für die Leistungsdefizite Schizophrener verantwortlich sein? Bei schizophrenen Patienten gibt es Hinweise für eine verminderte dopaminerge Signalübertragung in präfrontalen Regionen bei gleichzeitig gesteigerter dopaminerger Aktivität in mesolimbischen Arealen. Ein präfrontaler Dopaminmangel kann nicht nur durch eine verminderte Bereitstellung, sondern auch durch einen beschleunigten Abbau von Dopamin verursacht werden. Für den Dopaminabbau ist neben der Monoaminooxidase (MAO) auch die Catechol-O-methyltransferase (COMT) zuständig, wobei zwei etwa gleich häufige funktionelle (d. h. physiologisch unterschiedlich wirksame) Polymorphismen (Met und Val) im COMTT Gen auf Chromosom 22q11 vorliegen. Das Met-Allel führt zu einer deutlichen Abnahme der COMTT Enzymaktivität, und daher zu einer Zunahme der Dopaminkonzentration gerade im präfrontalen Kortex. Man sollte also erwarten, dass die Zahl der Met- bzw. Val-Allele (0, 1, oder 2) zu besseren oder schlechteren dopaminabhängigen kognitiven Leistungen führt. Tatsächlich fanden Egan et al. (2001) in einer Studie mit 175 schizophrenen Patienten, 219 nicht an einer psychotischen Störung erkrankten Geschwistern dieser Patienten, sowie 55 gesunden Kontrollprobanden eine Assoziation des Val-Allels mit der Zahl perseverativer Fehler im WCST. Der COMT Genotyp beeinflusste in allen drei Gruppen signifikant und dosisabhängig die Leistungen im WCST in der oben beschriebenen Richtung. Die durch den COMT Genotyp erklärte Varianz der WCSTT Fehlerzahl betrug freilich nur wenige Prozent. Egan et al. (2001) erhärteten den vermuteten Zusammenhang von COMTT Genotyp und Arbeitsgedächtnis in einer funktionellen Kernspinunter-
suchung, bei der schizophrene Patienten bzw. deren gesunde Geschwister eine Arbeitsgedächtnisaufgabe bearbeiteten, die häufig zu diesem Zweck eingesetzt wird. In zwei getrennten Stichproben fand sich eine stärkere dorsolateral präfrontale und cinguläre Aktivierung durch die Beanspruchung des Arbeitsgedächtnisses bei den Personen mit Val/Val-Genotyp, was angesichts der gleich guten Verhaltensleistung der Gruppen als Zeichen einer verminderten Effizienz interpretiert werden kann. Hat aber der COMT Genotyp auch etwas mit der Krankheit Schizophrenie zu tun? In Übereinstimmung mit zwei früheren Familienstudien fanden Egan et al. (2001) bei Untersuchung vollständiger Eltern-Kind-Trios (schizophrener Patient und seine leiblichen Eltern), dass das Val-Allel häufiger an das erkrankte Kind weitergegeben wurde, als zufällig zu erwarten gewesen wäre. Die Assoziationsanalyse (bei der die Genfrequenzen zwischen Patienten und außerfamiliären Kontrollen verglichen wurde), ergab jedoch keine signifikante Assoziation von Val und Erkrankung. Aktuelle Metaanalysen (über mehr als 50 Stichproben mit mehr als 30.000 Patienten und Kontrollen) sprechen inzwischen zwar klar gegen einen Zusammenhang von COMTT Genvarianten mit der Erkrankung p g Schizophrenie (www.schizophreniaforum.org/res/ sczgene). g Allerdings wurden Zusammenhänge von COMT mit kognitiven Leistungen inzwischen vielfach repliziert, wobei es auch vom Aufgabentyp abzuhängen scheint, ob Met- oder Val-Allelträger im Vorteil sind (Bilder et al. 2002, 2004; Joober et al. 2002; Malhotra et al. 2002). Die Studie von Egan et al. (2001) kennzeichnet beispielhaft die aktuelle Endophäntoyp-Forschungsstrategie: Der Ausgangspunkt ist nicht primär die psychischen Störung, sondern ein gut gesichertes neuropsychologisches Funktionsdefizit bei dieser Störung. Aufgrund plausibler, oft tierexperimentell begründeter, Hypothesen über die biologische Grundlage dieser kognitiven Funktion kann bei Patienten, Angehörigen und Kontrollpersonen systematisch die Assoziation von kognitiver Leistung mit Genen untersucht werden, die dieses biologische Teilsystem (z. B. die frontale Dopaminkonzentration) beeinflussen. Eine sehr gute Darstellung dieses Forschungsansatzes findet sich bei Meyer-Lindenberg u. Weinberger (2007).
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Kapitel 8 · Genetische Aspekte der Neuropsychologie psychischer Störungen
neuronaler Entwicklungsstörungen in Frage. Reelin etwa ist ein Protein, das die Zellmigration steuert, und das in Gehirnen schizophrener, bipolar-affektiver und autistischer Patienten vermindert exprimiert wird (Guidotti et al. 2000). Die Ausschaltung des Reelin-Gens im Mausmodell führt zu cytoarchitektonischen Veränderungen, die denen bei den Erkrankten teilweise ähneln. Allelische Varianten des Reelingens waren in einer Studie mit einem erhöhten Risiko für autistische Erkrankungen assoziiert (Persico et al. 2001). Es ist zu erwarten, dass das zunehmende Wissen über die an der Hirnentwicklung beteiligten Gene in den nächsten Jahren zu einer Vielzahl von Kandidatengenen führen werden, die dann gezielt auf Assoziation oder Kopplung mit psychischen Erkankungen geprüft werden können, bei denen eine Hirnentwicklungsstörung vermutet wird. Diese Suchstrategie stellt eine wichtige Ergänzung zur »blinden«, theoriefreien Suche nach krankheitsassoziierten Genen dar.
8.2.2 Affektive Störungen Auch bei affektiven Störungen sind neuropsychologische Funktionsdefizite vielfach beschrieben worden. Diese treten teilweise auch außerhalb von Krankheitsepisoden auf (vgl. 7 Kap. 11 »Neuropsychologie affektiver Störungen« von Beblo, in diesem Band). Familien- und Zwillingsuntersuchungen zeigen, dass genetische Faktoren bei der Entstehung affektiver Störungen eine Rolle spielen, wobei die Befunde für bipolare affektive Störungen eindeutiger sind als für die unipolare Depression. Bei bipolaren Störungen liegen die familiären Wiederholungsraten für Angehörige ersten Grades bei 8%, verglichen mit 1% in der Allgemeinbevölkerung, schwere unipolare Depressionen treten bei 9% der 1.-gradigen Verwandten von Patienten mit dieser Diagnose auf, während das Risiko bei 3% in der Allgemeinbevölkerung liegt (Plomin et al. 2001). Die familiär-genetischen Einflüsse bei milderen und häufigen Formen der Depression scheinen deutlich geringer zu sein. Zur Frage, ob auch bei den Angehörigen von affektiv Erkrankten neuropsychologische Defizite vorhanden sind, gibt es bislang nur relativ wenige Untersuchungen, allesamt bei Angehörigen bipolar
affektiv Erkrankter. Die Beeinträchtigungen sind danach insgesamt geringer ausgeprägt als bei Angehörigen Schizophrener. Keri et al. (2001) fanden etwa ein vermindertes verbales Langzeitgedächtnis bei Angehörigen bipolarer Patienten, während Angehörige schizophrener Patienten zusätzlich Störungen des visuellen Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnisses aufwiesen. Auch selbst nicht erkrankte eineiige Zwillingsgeschwister von bipolar affektiv Erkrankten wiesen Gedächtniseinschränkungen auf, nicht aber die bei den erkrankten Zwillingen ebenfalls beobachtbaren visuell-räumlichen Störungen (Gourovitch et al. 1999). Auch leichte formale Denkstörungen (Shenton et al. 1989), längere Reaktionszeiten sowie eine in der Amplitude reduzierte und in der Latenz verlängerte P300 im akustisch evozierten Potenzial wurden bei Angehörigen manischdepressiver Patienten beobachtet (Pierson et al. 2000). Andere Arbeiten fanden hingegen keine oder nur diskrete Beeinträchtigungen bei Angehörigen (Gilvarry et al. 2001; Kremen et al. 1998). Eine aktuelle Metaanalyse bestätigt aber, dass Angehörigen bipolarer Patienten ähnliche und ähnlich starke Defizite aufweisen wie Angehörige schizophrener Patienten (Arts et al. 2008), was angesichts überlappender genetischer Risikofaktoren plausibel ist.
8.2.3 Zwangserkrankungen Auch die Zwangsstörung tritt familiär gehäuft auf. Bei Angehörigen 1. Grades von Zwangserkrankten ist die Lebenszeitprävalenz mit 11,7% etwa 4-mal höher als in der Allgemeinbevölkerung (Nestadt et al. 2000). Die familiäre Belastung scheint v. a. bei Beginn der Störung im Jugendalter ausgeprägt zu sein. Zwangsstörungen gehen mit einer Reihe von neuropsychologischen Funktionsdefiziten einher (vgl. 7 Kap. 12 »Neuropsychologie der Zwangsstörung« von Leplow, in diesem Band). Mehrfach wurde etwa eine Perseverationsneigung in der Object-Alternation- bzw. Delayed-Alternation-Aufgabe beschrieben, einer – im Vergleich zum WCST – eher einfachen Aufgabe zur Regelabstraktion (Abbruzzese et al. 1997; Moritz et al. 2001). Purcell et al. (1998) fanden bei Zwangserkrankten eine spezifische Beeinträchtigung des räumlichen Arbeitsgedächtnisses. Die oft gefundenen Beeinträchtigungen v. a. des
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nonverbalen Gedächtnisses könnten mit einem »frontalen« Defizit bei der Organisation des Reizmaterials bei der Enkodierung zusammenhängen (Savage et al. 1999). Qualitativ weisen die Störungen auf eine frontostriatale Dysfunktion hin, was mit den Ergebnissen aus bildgebenden Untersuchungen übereinstimmt. Gemessen an den Beeinträchtigungen, die man etwa bei schizophrenen oder depressiven Patienten findet, sind die Defizite jedoch bei Zwangserkrankten eher schwächer ausgeprägt, und die Befundlage ist insgesamt heterogener. Es ist denkbar, dass dies auch auf eine ätiologische Heterogenität der Zwangserkrankung zurückgeht. Nach der Hypothese von Blanes und McGuire (1997) könnte ein Teil der Zwangserkrankungen analog der Schizophrenie als genetisch beeinflusste neurobiologische Entwicklungsstörung zu erklären sein, was nahelegt, die bei Zwangspatienten beschriebenen neuropsychologischen Defizite auch bei den Familienangehörigen zu untersuchen. Erste Ergebnisse weisen hier auf verminderte Flexibilität und motorische Inhibition bei Angehörigen von OCD Patienten hin (Chamberlain et al. 2007).
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weisen autistisch erkrankte Personen u. a. »exekutive« Funktionsstörungen auf. Mehrere Studien konnten bei Geschwistern und bei Eltern von autistischen Patienten spezifische Beeinträchtigungen in Planungs-, Wortflüssigkeits- und Konzeptwechselaufgaben nachweisen (Hughes et al. 1997; Ozonoff et al. 1993). Bei autistischen Kindern wurde zudem eine Überaufmerksamkeit auf Details beschrieben, die Happe et al. (2001) als »verminderte zentrale Kohärenz« bezeichnen. Happe et al. (2001) fanden bei Vätern von Autisten eine solche verminderte zentrale Kohärenz im Vergleich mit Eltern dyslektischer oder gesunder Kinder. Es ist aufgrund dieser Arbeiten also wahrscheinlich, dass auch beim Autismus krankheitsassoziierte Gene zu kognitiven Funktionsänderungen führen können, ohne eine Erkrankung zu verursachen.
Lese-Rechtschreib-Störung Etwa 10% aller Kinder haben Leseschwierigkeiten, viele von ihnen ohne dass eine geistige Behinderung, eine Hirnverletzung oder andere bekannte ursächliche Faktoren vorliegen (vgl. 7 Kap. 21 »Neuropsychologie von umschriebenen Entwicklungsstörungen« von Schulte-Körne und Remschmidt, in
8.2.4 Entwicklungsstörungen
Autismus Frühkindlicher Autismus ist eine seltene schwere Entwicklungsstörung, die v. a. durch eine soziale Kontaktstörung, stereotype Handlungsmuster und verzögerte Sprachentwicklung gekennzeichnet ist; auch eine Intelligenzminderung ist meist vorhanden (vgl. 7 Kap. 20 »Neuropsychologie von tiefgreifenden Entwicklungsstörungen« von Remschmidt et al., in diesem Band). Neuroanatomische Untersuchungen weisen darauf hin, dass auch bei frühkindlichem Autismus eine neuronale Entwicklungsstörung anzunehmen ist. Zwillings- und Familienstudien sprechen für eine erhebliche genetische Komponente (Plomin et al. 2001). Die Heritabilität scheint größer zu sein, wenn nicht nur die manifeste Erkrankung, sondern ein breiteres – auch kognitive Leistungen umfassendes – Spektrum zur Phänotypdefinition verwendet wird. In Kopplungsuntersuchungen wurden bislang Regionen für Suszeptibilitätsgene auf Chromosom 7, 13 und 15 identifiziert (Plomin et al. 2001). Auch bei normaler Intelligenz
diesem Band). Die Erblichkeit für Dyslexie wird nach Zwillingsuntersuchungen auf etwa 50% geschätzt. Cardon et al. (1994) beschrieben einen quantitativen Trait-Lokus für Dyslexie auf dem kurzen Arm von Chromsom 6. Dieser sowie ein weiterer QTL auf dem kurzen Arm von Chromosom 15 sind inzwischen in mehreren unabhängigen Stichproben repliziert worden, die in diesen Abschnitten liegenden Gene sind jedoch bis jetzt noch nicht identifiziert.
Hyperkinetische Störungen Zwillingsuntersuchungen belegen eine hohe Heritabilität (etwa 70%) der Aufmerksamkeitsdefizitstörung (Plomin et al. 2001). Geschwister von ADHS-Kindern (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, ADHS) zeigen geringere Gedächtnisleistungen und eine erhöhte Interferenzaneigung in der Stroop-Aufgabe, jedoch nur dann, wenn sie selbst die diagnostischen Kriterien einer ADHS erfüllen (vgl. 7 Kap. 22 »Neuropsychologie von Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörungen (ADHS)«
von Konrad und Herpertz- Dahlmann, in diesem
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Kapitel 8 · Genetische Aspekte der Neuropsychologie psychischer Störungen
Band). Neuropsychologische Störungen gehören bei diesem Störungsbild also zum Phänotyp, aber wahrscheinlich nicht zu einem auch bei nichterkrankten Angehörigen vorhandenen Endophänotyp (Seidman et al. 2000). Die bisherigen molekulargenetischen Studien von Kandidatengenen haben uneinheitliche Befunde erbracht.
8.2.5 Degenerative Erkrankungen
Demenzen
8
Demenzerkrankungen sind, auch aufgrund der steigenden Lebenserwartung, zunehmend häufige psychische Störungen. Sie werden klinisch anhand bestimmter Merkmale differenziert, wobei eine sichere Aussage über die Demenzform derzeit erst bei einer Autopsie anhand der für die einzelnen Unterformen charakteristischen neuropathologischen Veränderungen möglich ist. Bei allen Demenzen kommt es zu regional unterschiedlich betonten Degenerationsprozessen, die entsprechend der lokalen Verteilung und dem Fortschreiten der Krankheit zu unterschiedlichen neuropsychologischen Defiziten führen. (vgl. 7 Kap. 18 »Neuropsychologie der Demenz« von Jahn, in diesem Band). Entsprechend kommt der neuropsychologischen Diagnostik für die klinische Diagnose gerade in der Frühphase der Krankheit oftmals besonderes Gewicht zu. Neuropsychologische Untersuchungen von Verwandten von Demenzkranken sind selten, wohl auch, weil es (anders als etwa bei den Psychosen) bereits ein klares biologisches Substrat der Krankheit gibt und auch erste identifizierte Risikogene (s. unten). Daher kann man die kognitiven Leistungen bei Personen mit bestimmten Risikogenen auch außerhalb betroffener Familien untersuchen. Die Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT) ist durch eine fortschreitende Demenz im Sinne von Gedächtnisstörungen und Orientierungsstörungen gekennzeichnet. Bei Alzheimer-Patienten findet man u. a. Störungen an den Nervenzellen in vielen Bereichen des Gehirnes, die für das Gedächtnis zuständig sind. Aus noch nicht ganz geklärten Gründen kommt es zu Ablagerungen aus Betaamyloideiweiß in und an den Nervenzellen; neuropathologisch erscheinen diese als Fibrillen und Plaques. Diese Ablagerungen führen zu einer Funktions-
einschränkung und schließlich zum Absterben der Nervenzellen. Die Pathologie ist initial v. a. im Parietal- und im Temporalkortex ausgeprägt, später ist auch der Frontalkortex betroffen. Die meisten DAT-Patienten weisen einen Krankheitsbeginn nach dem 65. Lebensjahr auf, es gibt aber auch seltene Frühformen der Krankheit, für die genetische Ursachen identifiziert werden konnten. Die Wahrscheinlichkeit, an einer DAT zu erkranken, beträgt bis zum 9. Lebensjahrzent etwa 15%, bei Angehörigen von DAT-Patienten steigt dieses Risiko auf etwa 40%. Zwillingsuntersuchungen sprechen für eine mäßige Heritabilität bei der häufigen DAT mit spätem Krankheitsbeginn (Plomin et al. 2001). Wie aufgrund der familiären Häufung der Erkrankung zu erwarten, zeigen initial gesunde 1.-gradige Verwandte von Alzheimer-Patienten im Verlauf einer mehrjährigen Beobachtungsperiode eine stärkere Verminderung kognitiver Leistungen als Kontrollprobanden. Dies war besonders bei Angehörigen von relativ früh erkrankten Alzheimer-Patienten der Fall (La Rue et al. 1995). In den letzten Jahren sind erhebliche Fortschritte bei der Aufklärung der molekularen Ursachen demenzieller Erkrankungen erzielt worden. Seltene Formen der familiär gehäuft auftretenden Alzheimer-Demenz mit frühem Krankheitsbeginn können durch Mutationen der Gene präsenilin-1 (auf Chromosom 14), präsenilin-2 (auf Chromosom 1) und Amyloidprecursorprotein (APP, Chromosom 21) verursacht sein. Alle drei genannten Mutationen beeinflussen den APP-Metabolismus und könnten so auf eine gemeinsame pathophysiologische Endstrecke hinweisen. Jedoch sind diese Mutationen auch bei familiären Fällen der Alzheimer-Demenz selten. Asymptomatische Genträger der zu Alzheimer-Demenz führenden Mutation im Präsenilin-1-Gen weisen Jahre vor einer Erkrankung eine Verminderung der regionalen Hirndurchblutung im Hippokampus, Gyrus cinguli, dem posterioren Parietalkortex und im anterioren frontalen Kortex (Johnson et al. 2001) auf. Entsprechende »milde« kognitve Defizite etwa bei Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsleistungen wären bei diesen Genträgern zu erwarten. Die Assoziation der häufigen Alzheimer-Demenz mit spätem Krankheitsbeginn mit dem auf Chromosom 19 befindlichen e-4-Allel für Apolipo-
159 8.2 · Genetische Aspekte der Neuropsychologie einzelner psychischer Störungen
protein (ApoE) ist gut belegt (Corder et al. 1993). Das e-4-Allel ist für das Auftreten der DAT weder notwendig noch hinreichend, auch ist die genaue Funktion des Apolipoproteins bisher noch nicht verstanden. Nicht nur in klinischen Stichproben von bereits diagnostizierten Patienten, sondern auch in Populationsstichproben zeigen sich zuweilen beeinträchtigte kognitive Leistungen (z. B. in der »Mini Mental State Examination«) bei Personen, die das e-4-Allel tragen. Zudem korreliert der weitere Verlauf des demenziellen Abbaus mit der Zahl der e-4Allele (Helkala et al. 1996). Allerdings scheint das e-4-Allel im jüngeren Lebensalter mit besserer Gedächtnisleistung assoziiert zu sein (Mondadori et al. 2007). Das e-A4-Allel ist zwar ein Risikofaktor für die Alzheimer-Demenz, doch weil viele Personen mit diesem Allel keine Demenz entwickeln, ist eine genetische Testung allenfalls bei Vorliegen von kognitiven Beeinträchtigungen und anderen klinischen Zeichen sinnvoll, die auf eine Alzheimer-Demenz hindeuten (Lautenschlager et al. 1999). Die Demenz mit Lewy-Körperchen und die frontotemporale Demenz treten, mit Ausnahme sehr seltener familiärer Formen, überwiegend sporadisch auf, weshalb sie in diesem Kapitel nicht weiter relevant sind.
M. Parkinson Bei der Parkinson Krankheit kommt es aufgrund eines fortschreitenden Zellunterganges dopaminerger Neurone in der Substantia nigra und der resultierenden Störung striataler und frontalkortikaler Regionen zu motorischen, aber auch zu kognitiven Störungen. Die Krankheit tritt familiär gehäuft auf, wobei die Mehrzahl der Fälle jedoch sporadisch ist. Für seltenere familäre Formen wurden bereits genetische Mutationen identifiziert, eine Beteiligung von Genen im Sinne einer erhöhten Vulnerabilität für bislang nicht identifizierte Umweltnoxen ist auch bei den sporadischen Formen wahrscheinlich. Bei asymptomatischen 1.-gradigen Verwandten von Parkinson-Patienten wurden exekutive Funktionsstörungen beschrieben (Dujardin et al. 1999). Dies zeigte sich nicht nur bei Angehörigen aus Familien, in denen die Krankheit familiär gehäuft auftrat, sondern auch bei Verwandten sog. sporadischer Fälle (Kis et al. 2000). Auch Montgomery et al. (1999) fanden, dass asymptomatische 1.-gradige
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Angehörige von Parkinson-Patienten vermehrt auffällige Werte in einer Testbatterie erzielten, die motorische Koordination, Geruchsdiskrimination und Stimmung erfasste. Interessanterweise war es mit dieser Testbatterie möglich, bei fraglich beginnenden, diagnostisch noch unklaren Parkinson Erkrankungen die längsschnittlich gesicherte spätere Diagnose dieser Erkrankung mit hoher Spezifität und ausreichender Sensitivität vorhersagen (Montgomery et al. 2000).
Huntington-Chorea Huntington-Chorea ist eine autosomal dominante degenerative Hirnerkrankung, bei der Persönlichkeitsveränderungen, Vergesslichkeit und unwillkürliche Körperbewegungen das klinische Bild bestimmen. Die Krankheit zeigt sich meist im mittleren Erwachsenenalter und führt innerhalb von 10–20 Jahren zu Demenz, Verlust der motorischen Kontrolle und zum Tod. Der Genort wurde 1983 anhand von genetischen Markern auf Chromosom 4 lokalisiert, 1993 erfolgte die Identifikation des Gens selbst. Wie das Huntington genannte Genprodukt zunächst die Funktion der Basalganglien und später auch anderer Hirngebiete beeinflusst, ist bislang noch nicht aufgeklärt. Bei einem Teil der asymptomatischen Kinder von Huntington-Patienten, die das entsprechende Gen tragen, sind visuell-räumliche Funktionen und Frontalhirnfunktionen beeinträchtigt. Das Ausmaß der Defizite korreliert dabei mit der Anzahl wiederholter Aminosäuretriplets im mutierten Gen, die auch auf den Krankheitsbeginn Einfluss hat (HahnBarma et al. 1998). Interessant ist auch der Befund, dass bei asymptomatischen Genträgern der Huntington-Mutation ein spezifisches Defizit bei der Diskrimination der Emotion Ekel besteht (Gray et al. 1997). Aus Bildgebungsuntersuchungen ist bekannt, dass diese Emotion mit den Basalganglien zu tun hat (Phillips et al. 1997).
8.2.6 Alkoholabhängigkeit Alkoholabhängigkeit ist mit kognitiven Beeinträchtigungen verbunden, die teilweise unter Abstinenz reversibel sind, teilweise aber auch fortbestehen, wobei das Alter, sekundäre Schädigungen (durch
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Kapitel 8 · Genetische Aspekte der Neuropsychologie psychischer Störungen
Stürze oder Mangelernährung) und die Trinkmenge in den letzten Monaten moderierende Faktoren darstellen. Familien- und Adoptionsstudien zufolge ist von einer mäßig starken Heritabilität (etwa 60%) auszugehen, bei frühem Beginn und bei schwerem Verlauf der Suchterkrankung ist die Erblichkeit höher, einige Studien berichten auch eine höhere Erblichkeit für Männer als für Frauen. In den letzten Jahren hat sich ein recht konsistentes Bild hinsichtlich neuropsychologischer und neurophysiologischer Auffälligkeiten bei Kindern von alkoholkranken Vätern ergeben, wobei die Kinder meist im jugendlichen Alter untersucht wurden (vgl. 7 Kap. 14 »Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit« von Rist, in diesem Band). Diese Auffälligkeiten treten gemeinsam mit einer Reihe von psychopathologischen Symptomen, wie erhöhter Ängstlichkeit und Depressivität sowie vermehrten sozialen Verhaltensstörungen auf. Junge männliche Erwachsene mit einer positiven Familienanamnese für Alkoholismus zeigten sich beim Lernen visuell-räumlicher Assoziationen beeinträchtigt, für junge Frauen war dies nicht nachweisbar (Garland et al. 1993). Söhne von Vätern mit einer schweren Suchterkrankung wiesen stärkere Beeinträchtigungen auf als Söhne von länger abstinenten Alkoholikern oder Söhne von sozialen Trinkern ohne familiären Alkoholismus (Ozkaragoz et al. 1997). High-risk-Kinder aus Familien mit mehreren alkoholkranken Angehörigen in mindestens zwei Generationen wiesen geringere visuell-räumliche und Aufmerksamkeitsleistungen auf als gleichaltrige Kinder aus Familien ohne Fälle von Alkoholkrankheit; Kinder mit »nur« einem alkoholabhängigen Vater unterschieden sich nicht von der Kontrollgruppe (Corral et al. 1999). Giancola et al. (1996) fanden bei 10–12 Jahre alten Kindern von substanzabhängigen Vätern Beeinträchtigungen exekutiver Funktionen, die mit erhöhter Aggressivität 2 Jahre später korrelierten. Auch Gillen u. Hesselbrock (1992) weisen darauf hin, dass die neuropsychologischen Defizite bei Kindern Alkoholkranker typischerweise mit Antisozialität assoziiert sind. Diese Befunde legen nahe, dass man neuropsychologische Beeinträchtigungen bei Kindern substanzabhängiger Eltern als Risikofaktoren auffassen kann, die mit antisozialem Verhalten und Aggressivität zusammenhängen. Diese Faktoren begünstigen wiede-
rum die spätere Entwicklung einer Substanzabhängigkeit. Daraus ergeben sich Überlegungen für kognitive und psychotherapeutische Trainingsmaßnahmen bei Jugendlichen mit einem hohen familiären Suchtrisiko (Giancola et al. 1996). Nicht nur die Vulnerabilität für die Entwicklung einer Substanzabhängigkeit, sondern auch die Vulnerabilität für kognitive Dysfunktionen infolge von Substanzmissbrauch oder -exposition ist genetisch beeinflusst. Dies ist auch plausibel, spielen doch sowohl die Metabolisierung von Substanzen als auch neuroplastische Reparaturmechanismen eine Rolle bei der Frage, welche Schädigung eine Substanz dauerhaft im Gehirn verursacht. Bei alkoholabhängigen Patienten mit Korsakofff Syndrom im Vergleich zu Alholikern ohne Korsakofff Syndrom fand sich z.B . ein vermehrtes Auftreten des A1-Allels der für den Alkoholmetabolismus relevanten Alkoholdehydrogenase2 (Matsushita et al. 2000). Es ist zu erwarten, dass weitere genetische Risikofaktoren für neurotoxische Substanzeffekte identifiziert werden, mit offensichtlichen Konsequenzen für die Beratung und Behandlung von Suchtkranken und auch von Personen mit berufsbedingter Gefahrstoffexposition.
8.3
Molekulargenetik kognitiver Funktionen
Bisher stand die Frage im Mittelpunkt, inwieweit bei psychischen Erkrankungen, die genetisch beeinflusst sind, neuropsychologische Auffälligkeiten als primäre, auch bei Verwandten nachweisbare Funktionsstörungen vorhanden sind. Es ist jedoch möglich, auch jenseits etablierter Störungskonzepte nach Zusammenhängen von Genen und neuropsychologischen Funktionen zu fragen. Im Rahmen der quantitativen Verhaltensgenetik geht man der Frage nach, in welchem Ausmaß Unterschiede zwischen Individuen hinsichtlich bestimmter psychischer Funktionen genetisch determiniert sind. Die molekulare Verhaltensgenetik untersucht nicht nur, ob bestimmte Genvarianten (Allele) mit bestimmten Erkrankungen assoziiert sind, sondern auch, ob und wie diese Allele, die etwa für bestimmte Rezeptoren oder Enzyme kodieren, psychische Funktionen beeinflussen.
161 8.3 · Molekulargenetik kognitiver Funktionen
Die Befunde der quantitativen Verhaltensgenetik sprechen dafür, dass sich etwa die Hälfte der Varianz in Leistungen, die mit verschiedenen Intelligenztests gemessen werden, auf genetische Faktoren zurückführen lässt. Dabei kann man vom Zusammenwirken zahlreicher, noch nicht identifizierter Einzelgene ausgehen, die jeweils nur einen geringen Beitrag leisten. Die Untersuchung von bekannten Kandidatengenen, wie z. B. von Genen für einzelne neuronale Rezeptorsubtypen, hat jedoch bisher keine replizierbaren Ergebnisse für allgemeine Intelligenz erbracht (Plomin et al. 2001). Das für die Serotonin-Synthese wichtige Gen TPH2 scheint jedoch mit erhöhter kognitiver Impulsivität zusammenzuhängen (Stoltenberg et al. 2006, Reuter et al. 2007). Egan et al. (2001) fanden bessere Leistungen im WCST bei Personen, die eine bestimmte Variante des COMT-Gens trugen, das zu einer höheren Dopaminkonzentration führt (vgl. 2. Theoriebox). In den letzten Jahren gibt es Hinweise darauf, dass cholinerge Gene mit Aufmerksamkeitsleistungen assoziiert sind. Repliziert ist bisher der Zusammenhang vom CHRNA4-Gen mit Aufmerksamkeitsfunktionen (Greenwood et al. 2005; Parasuraman et al. 2005; Winterer et al. 2007). Eine Studie von Markett et al. (2009) zeigte, dass dopaminerge und cholinerge Genvarianten interaktiv die Leistung in einer visuell-räumlichen Arbeitsgedächt-
nisaufgabe beeinflussen, wie das auch neurobiologisch zu vermuten war. Eine genomweite (hypothesenfreie) Assoziationsstudie fand einen, inzwischen replizierten, Zusammenhang zwischen Gedächtnisleistung und dem KIBRA-Gen (Papassotiropoulos et al. 2006; Schaper et al. 2008). Auch eine Variante des Serotonin-2A Rezeptors ist mit dem episodischen Gedächtnis assoziiert (de Quervain et al. 2003; Wagner et al. 2008). Absehbar wird die Zahl der, im Hinblick auf menschliche kognitive Funktionen interessanten, Kandidatengene in den nächsten Jahren stark zunehmen. Auch dürften genomweite Studien (mit psychischen Erkrankungen als Phänotyp) weitere neue Gene identifizieren, die auch auf neuropsychologisch fassbare Funktionen wirken. Nach der weitgehenden Entschlüsselung des menschlichen Genoms wird es in Zukunft darum gehen, herauszufinden, wie die statistisch mit psychischen Erkrankungen assoziierten Gene wirken und zu psychischen Erkrankungen beitragen (funktionelle Genomik). Der Neuropsychologie wird für die Aufklärung der Bedeutung von genetischer Variation für normale und gestörte Hirnfunktionen eine wichtige Rolle zukommen, weil sie eine reliable Erfassung von Funktionen in sehr großen Stichproben erlaubt, was für die Identifikation von Genotyp-Phänotyp-Zusammenhängen entscheidend ist.
Zusammenfassung Familien- und Zwillingsuntersuchungen zeigen, dass genetische Faktoren bei den meisten psychischen Störungen eine bedeutsame Rolle spielen; die mit einem erhöhten Krankheitsrisiko assoziierten Gene sind aber noch überwiegend unbekannt. Die neuropsychologischen Normabweichungen bei psychischen Störungen können der Erkrankung vorausgehen und bei Verwandten von Patienten in abgeschwächter Form vorhanden sein, auch ohne dass diese Verwandten selbst erkranken. Vor allem für schizophrene Störungen ist dies gut gesichert, aber auch für bipolar affektive Erkrankungen, für Entwicklungsstörungen, degenerative Erkrankungen und Alkoholabhängigkeit gibt es entsprechende Evidenz. Möglicherweise führen einige der mit 6
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psychischen Erkrankungen assoziierten Gene primär zu einer veränderten Hirnentwicklung und Hirnfunktion, die erst im Zusammenwirken mit anderen Faktoren in einer Erkrankung resultieren. Für die genetisch orientierte Ursachenforschung haben diese Befunde die Konsequenz, dass nicht mehr allein nach Genen gesucht wird, die mit dem klinischen Phänotyp einer Diagnose assoziiert sind. Neuropsychologische Funktionsstörungen im Rahmen psychischer Erkrankungen könnten einen alternativen Phänotyp (»Endophänotyp«) darstellen, der genetisch weniger komplex determiniert ist als die Erkrankung selbst, und deshalb zur Identifikation wesentlicher krankheitsrelevanter Gene besser geeignet ist.
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Kapitel 8 · Genetische Aspekte der Neuropsychologie psychischer Störungen
Für die klinische Praxis schließlich ergibt sich aus den in diesem Kapitel dargestellten Befunden zumindest prinzipiell die Möglichkeit, beginnende Störungen und krankheitsvulnerable Personen unter Zuhilfenahme neuropsycholo-
8.4
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164
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Kapitel 8 · Genetische Aspekte der Neuropsychologie psychischer Störungen
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9 9 Neuropsychologie des Schlafes Ullrich Wagner, Susanne Diekelmann, Jan Born
9.1
Neuropsychologische Funktionen des normalen Schlafs – 166
9.1.1 Gedächtniskonsolidierung im Schlaf – 166 9.1.2 Deklaratives vs. nondeklaratives Gedächtnis – 170
9.2
Die Rolle verschiedener Schlafphasen
– 170
9.2.1 Erste Studienergebnisse mithilfe der selektiven REM-Schlaf-Deprivation – 170 9.2.2 Methodische Verbesserungen durch das Untersuchungsparadigma des Nachthälftenvergleichs – 173 9.2.3 Reaktivierung als zugrunde liegender Mechanismus – 176
9.3
Emotionale Verarbeitung im Schlaf – 177
9.3.1 Emotionale Gedächtnisbildung – 177 9.3.2 Emotionale Bewertungsprozesse – 178 9.3.3 Klinische Implikationen – 178
9.4
Wahrnehmung und Aufmerksamkeit während des Schlafes
– 179
9.5
Neuropsychologische Auswirkungen von Schlafdeprivation
– 180
9.5.1 9.5.2 9.5.3 9.5.4 9.5.5 9.5.6
Effekte totaler Schlafdeprivation Exekutive Funktionen – 181 Aufmerksamkeit – 182 Gedächtnis – 183 Sprache – 184 Emotionen – 184
9.6
Effekte partieller Schlafdeprivation f und interindividuelle Differenzen – 185
9.7
Schlaf und präfrontale Funktionen bei neuropsychologischen Störungen – 185
9.8
Literatur
– 186
– 181
166
9
Kapitel 9 · Neuropsychologie des Schlafes
»Tapfer hielt er bis zu seinem unglaublichen Ende bei sich, dass die Zeit des Schlafs Verschwendung und folglich Sünde sei, ihm dereinst im Fegefeuer aufgerechnet werde, denn im Schlaf sei man tot, jedenfalls lebe man nicht wirklich. Nicht von ungefähr vergliche ein altes Wort Schlaf und Tod mit Brüdern.« Dieses Zitat aus Robert Schneiders bekanntem Roman Schlafes Bruder macht die verbreitete Geringschätzung deutlich, die dem Schlaf von alters her zuteilwird. Das gilt ganz besonders für die heutige Leistungs- und Freizeitgesellschaft, in der der Schlaf zwar nicht mehr mit Tod oder Sünde gleichgesetzt, dafür aber umso mehr als überflüssige bzw. nutzlose Lebenszeit betrachtet wird ( »Das Leben ist zu kurz, um zu schlafen«). Aus neuropsychologischer Sicht ist der schlechte Ruf des Schlafs nicht zu rechtfertigen. Schlaf dient nicht nur der körperlichen Regeneration, sondern auch psychologischen Funktionen, ohne die eine normale Lebensführung auf die Dauer nicht möglich ist.. Dabei spielt der Schlaf eine durchaus aktive Rolle, die über die subjektiv spürbare Erholung, die durch guten Schlaf erreicht wird, weit hinausreicht. Das vorliegende Kapitel fasst den aktuellen Forschungsstand zur Bedeutung des Schlafes für neuropsychologische Funktionen zusammen.
liegt. Entsprechend dieser Differenzierung experimenteller Studien in diesem Bereich werden in dem vorliegenden Kapitel zunächst Untersuchungen zu neuropsychologischen Funktionen des normalen Schlafes zusammenfassend dargestellt, um dann in einem zweiten Abschnitt auf Untersuchungen zur Auswirkungen von Schlafdeprivation auf neuropsychologische Funktionen einzugehen. Vorauszuschicken ist, dass wir Schlaf hier ausschließlich als physiologischen Zustand betrachten (s. Grundlagenbox). Daher gehen wir nicht näher auf Studien ein, die sich auf die Funktion des Träumens beziehen. Das Träumen als psychischer Vorgang ist aus neurowissenschaftlicher Sicht als Epiphänomen bestimmter schlafbezogener physiologischer Vorgänge anzusehen, das für sich selbst genommen keine Funktion haben kann, die über die Funktionen der ihm zugrunde liegenden neurobiologischen Vorgänge hinausgeht (vgl. Theoriebox).
9.1
Neuropsychologische Funktionen des normalen Schlafs
9.1.1 Gedächtniskonsolidierung Dass der Schlaf psychologische Funktionen erfüllt, wird den meisten Menschen erst klar, wenn sie einmal über längere Zeit nicht schlafen können. Insomniker, also Patienten, die unter dauerhaften Einschlaf- und Durchschlafstörungen leiden, weisen erhebliche Beeinträchtigungen nicht nur des subjektiven Befindens, sondern auch der kognitiven Leistungsfähigkeit auf. Da Schlaf homöostatisch reguliert wird, beantwortet der Organismus den Mangel an Schlaf mit einem spezifischen Reaktionsmuster, das mit Veränderungen, meist Defiziten, hinsichtlich zahlreicher neurophysiologischer Funktionen einhergeht. Allerdings lässt sich aus diesen Veränderungen nach Schlafdeprivation nicht im Umkehrschluss auf die eigentliche Funktion des Schlafes schließen. Um die neuropsychologischen Funktionen des Schlafes zu untersuchen, haben zahlreiche Studien die Effekte von Schlaf und Wachheit verglichen, ohne dass dabei der Wachzustand mit einem akuten Schlafdeprivationszustand einherging. Diese Studien zeigen, dass eine wesentliche Funktion des Schlafes in der Gedächtnisbildung
im Schlaf Die Bildung von Gedächtnis lässt sich in drei Teilprozesse gliedern: die Aufnahme (Enkodierung bzw. Akquisition) der zu speichernden Gedächtnisinhalte, die Verfestigung (Konsolidierung) der frisch enkodierten Gedächtnisrepräsentationen, und den Abruf, also das Erinnern, der gespeicherten Inhalte. Zahlreiche Studien haben konsistent gezeigt, dass erwartungsgemäß Enkodierung und Abrufprozesse in effektiver Weise nur bei Wachheit stattfinden, während die Konsolidierung ein Prozess ist, der vor allem und höchst effektiv im Schlaf stattfindet. Wir konzentrieren uns daher hier auf den Einfluss des Schlafes bei der Konsoliderung. Gedächtniskonsolidierung ist ein latenter Prozess der »Offline«-Verarbeitung, der selbst nicht direkt messbar ist, sondern nur über Testleistungen bei Akquisition und Abruf erschlossen werden kann. Der Begriff der Konsolidierung wurde bereits im Jahr 1900 von Müller und Pilzecker in die Gedächtnispsychologie eingeführt, da schon in dieser An-
167 9.1 · Neuropsychologische Funktionen des normalen Schlafs
Grundlagenbox
Der Schlaf ist kein einheitlicher physiologischer Zustand, sondern setzt sich aus verschiedenen zyklisch wiederkehrenden physiologischen Zuständen (Schlafstadien) zusammen, die entsprechend der gängigen Einteilung nach Rechtschaffen und Kales (1968) als Schlafstadien S1, S2, S3 und S4 sowie REM-Schlaf bezeichnet werden (vgl. typisches Hypnogramm . Abb. 9.1). Die Stadien S3 und S4 werden dabei zumeist als »Tiefschlaf« zusammengefasst (auch »Deltaschlaf« bzw. »slow wave sleep« – wegen der im EEG vorherrschenden langsamen, sog. DeltaWellen im Frequenzbereich Non-speed-Tasks
208
11
Kapitel 11 · Neuropsychologie affektiver Störungen
al. (2005) stellten in ihrem Review die neuropsychologischen Profile von Patienten mit unipolarer Depression (UD) und bipolarer Störung (BD) gegenüber und berichteten neben vielen Gemeinsamkeiten auch Unterschiede in den Bereichen Gedächtnis (Defizite BD > UD), Aufmerksamkeit (Defizite Daueraufmerksamkeit: BD > UD) und Exekutivfunktionen (UD: semantische und formallexikalische Wortflüssigkeit betroffen, BD: nur semantische Wortflüssigkeit betroffen). Insgesamt scheinen bipolar Erkrankte also deutlichere Defizite aufzuweisen als unipolar Erkrankte. Im Rahmen unipolar depressiver Störungen sind weitere Patientengruppen verglichen worden. Pálsson et al. (2000) untersuchten Patienten mit Major Depression, Patienten mit Dysthymie sowie gesunde Kontrollpersonen. Während die Patienten mit Major Depression gegenüber den gesunden Kontrollpersonen deutlichere neuropsychologische Defizite aufwiesen, waren Patienten mit Dysthymie nur in wenigen Funktionen beeinträchtigt. Airaksinen et al. (2004) fanden bei Patienten mit Major Depression eher Gedächtnisdefizite während dysthyme Patienten vorrangig unter Flexibilitätseinbußen litten. Patienten mit Major Depression, die zusätzlich noch die Kriterien für den Subtyp »Melancholie« erfüllen scheinen stärkere Einbußen zu erleiden (Beblo u. Lautenbacher 2006). Im Vergleich von Patienten mit Major Depression mit und ohne psychotischem Subtyp resümieren Fleming et al. (2004) größere Leistungseinbußen bei den psychotischen Patienten, insbesondere in den Bereichen verbales Gedächtnis, Exekutivfunktionen und psychomotorische Geschwindigkeit. Zusammengenommen können die berichteten Resultate nicht überraschen: Patienten mit Diagnosen, die mehr oder zusätzliche psychopathologische Symptome voraussetzen, weisen meist auch deutlichere neuropsychologische Beeinträchtigungen auf. Möglicherweise gibt es auch Subtypen depressiver Störungen, die vom DSM IV oder ICD 10 nicht erfasst werden. Shenal et al. (2003) unterschieden Störungsbilder auf Basis verschiedener neurophysiologischer Veränderungen. Demnach sei eine linksfrontale Dysfunktion insbesondere mit einem Fehlen positiven Affekts, Sprecharmut und Verlangsamung assoziiert, während rechts-frontale Dysfunktionen mit emotionaler Labilität und Aufmerksamkeits-
problemen assoziiert seien. Rechts-posteriore Dysfunktionen würden nach Ansicht der Autoren zu Affektarmut und einer beeinträchtigten Fähigkeit, Affekte bei sich und anderen wahrzunehmen, führen. Ebenso könnten emotionale Konflikte nicht ausreichend verstanden werden. Hasler et al. (2004, 2006) betonen, dass die im DSM und ICD aufgeführten Diagnosen affektiver Störungen weder auf physiologischer noch auf psychologischer Ebene homogene Krankheitsbilder darstellen. Das Krankheitsbild einer affektiven Störung resultiert nach Auffassung der Autoren aus Veränderungen verschiedener psychophysiologischer Cluster, sog. Endophänotypen (z. B. eine veränderte Regulation der HypothalamusHypophysen-Nebennierenrindenachse mit exekutiven Dysfunktionen), die in sich ätiologisch und phänomenologisch homogener seien (zu den genetischen Aspekten der Neuropsychologie psychischer Störungen s. auch 7 Kap. 8 von Wagner, in diesem Band). Die Ausgestaltung des neuropsychologischen Profils eines Patienten mit affektiver Störung hängt demnach von der individuellen Konstellation der Endophänotypen zusammen. Überraschenderweise konnte ein einfacher korrelativer Zusammenhang zwischen dem Schweregrad der depressiven oder manischen Symptomatik innerhalb einer spezifischen Diagnose auf der einen Seite und neuropsychologischen Defiziten auf der anderen häufig nicht gefunden werden (vgl. z. B. Murphy et al. 1999; diese Daten erhärten die Hypothese, dass die neuropsychologischen Unterschiede zwischen verschiedenen Subtypen affektiver Störungen nicht ausschließlich die Erkrankungsschwere reflektieren.
Alter der Patienten Depressionsassoziierte neuropsychologische Defizite sind vorrangig bei älteren Patienten nachweisbar (Beblo u. Lautenbacher 2006). Über die Ursachen ist dabei häufig spekuliert worden. Es ist zum einen möglich, dass sich affektive Störungen im Alter qualitativ von affektiven Störungen im jüngeren Erwachsenenalter unterscheiden. So wurden etwa hirnorganische Auffälligkeiten eher bei älteren Patienten mit Depression gefunden (Simpson et al. 2001). Möglicherweise verstärkt die Depression im Alter den benignen Alterungsprozess, da die beobachteten organischen Veränderungen auch bei ge-
209 11.2 · Art und Häufigkeit der neuropsychologischen Auffälligkeiten
sunden älteren Menschen beobachtet werden, wenn auch weniger deutlich ausgeprägt. Eine weitere mögliche Erklärung zielt auf die häufige Koinzidenz depressiver und demenzieller Erkrankungen ab. Bereits Kral (1982) berichtete in einer Längsschnittstudie von 22 depressiven Patienten mit neuropsychologischen Beeinträchtigungen, von denen nur 2 Patienten innerhalb von 4–18 Jahren keine hirnorganisch bedingte Demenz entwickelten. In neuerer Zeit berichteten auch Geerlings et al. (2000) von einem höheren Risiko depressiver Patienten an einer senilen Demenz vom Alzheimer-Typ zu erkranken. Möglicherweise also gehen die kognitiven Defizite von einigen älteren depressiven Patienten auf eine beginnende Demenz zurück, die zum Zeitpunkt der neuropsychologischen Untersuchung noch nicht diagnostiziert wurde, und nicht auf die affektive Grunderkrankung.
Motivation und Verarbeitung von Misserfolg Weil depressive Patienten meist über Antriebslosigkeit klagen, werden die neuropsychologischen Defizite gelegentlich auf eine verminderte Motivation der Patienten zurückgeführt. Auch Seligman ging in seiner berühmten Theorie der erlernten Hilflosigkeit (1974) davon aus, dass Hilflosigkeit zu einer reduzierten Motivation führt. Im Gegensatz zu dieser Annahme wirken depressive Patienten während der neuropsychologischen Untersuchung nur in seltenen Fällen motivationsarm. Häufiger ist das Gegenteil zu beobachten: Die Patienten setzen sich unter Druck, sie möchten den Erwartungen des Untersuchers gerecht werden und einen guten Eindruck hinterlassen. Auch in Studien konnte die Bedeutung einer herabgesetzten Motivation zur Erklärung neuropsychologischer Defizite von Patienten mit affektiven Störungen nicht eindeutig bestätigt werden (Richards u. Ruff 1989). Wahrscheinlicher ist es, dass der klinische Eindruck des Sich-unter-Druck-Setzens kognitive Prozesse auf Seiten der Patienten impliziert, die mit der Aufgabenbearbeitung interferieren und somit zu einer verminderten Leistung führen. Depressive Patienten neigen in diesem Zusammenhang zu selbstabwertenden und misserfolgszentrierten Gedanken. Diese Annahmen werden durch die Ergebnisse der Untersuchungen von Beats et al. (1996)
11
sowie von Elliott et al. (1996) gestützt. Bei einer Planungsaufgabe wurde die Leistung depressiver Patienten durch die vorausgegangene Erfahrung von Misserfolg stärker beeinträchtigt als die Leistung gesunder Kontrollpersonen. Nach den Ergebnissen von Elliott et al. wird insbesondere die Genauigkeit der Aufgabenbearbeitung negativ beeinflusst. Hinsichtlich der Rückmeldung von Misserfolg scheint allerdings nur ein negativ verzerrtes Feedback die Leistung depressiver Patienten zu verschlechtern, während die Patienten ein der Wirklichkeit entsprechendes negatives Feedback konstruktiv umsetzen können (Murphy et al. 2003).
Medikation und EKT Patienten mit affektiven Störungen werden häufig pharmakologisch behandelt. Da diese Medikamente die zentralen Neurotransmittersysteme beeinflussen, wird die kognitive Leistungsfähigkeit von diesen Medikamenten beeinflusst (zu Medikamenteneffekte s. 7 Kap. 25 »Klinisch-Neuropsychologische Aspekte der Therapie mit Psychopharmaka« von Brunnauer und Laux, in diesem Band). Die wegen ihrer charakteristischen chemischen Struktur sog. trizyklischen Antidepressiva (TZA) unterdrücken den für kognitive Leistungen zentralen Neurotransmitter Acetylcholin. Sie können deshalb insbesondere bei älteren depressiven Patienten zu schweren kognitiven Nebenwirkungen bis hin zum lebensbedrohlichen Delir führen. Demgegenüber entwickeln selektive Serotonin-Rückaufnahmeinhibitoren (SSRI) keine oder nur sehr geringe anticholinerge Effekte. Die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen dementsprechend, dass SSRIs einen positiveren Effekt auf kognitive Leistungen entwickeln als TZAs (Peretti et al. 2000), wobei es nach Absetzen von SSRIs zu einer Leistungsverschlechterung kommen kann (Hindmarch et al. 2000). Es ist bekannt, dass die elektrokonvulsive Therapie (EKT) kurzfristig zu erheblichen neuropsychologischen Defiziten, insbesondere Gedächtnisstörungen, führen kann. Abas et al. (1990) konnten allerdings 10 Wochen nach der EKT-Behandlung keinen negativen Einfluss auf kognitive Leistungen mehr nachweisen. Christensen et al. (1997) berichteten in einer Metaanalyse, dass mit EKT behandelte Patienten stärkere neuropsychologische Defizite aufweisen würden, als Patienten ohne eine solche
210
Kapitel 11 · Neuropsychologie affektiver Störungen
Behandlung. Dieses Ergebnis reflektiert jedoch nicht unbedingt langfristige Auswirkungen der EKT-Behandlung. Es ist möglich, dass Patienten, die eine Indikation zur EKT aufweisen, einen besonders schweren Subtyp einer Depression aufweisen, der von deutlicheren kognitiven Defiziten begleitet wird. Johanson et al. (2005) fanden 6 und 12 Monate nach der Behandlung leichte Defizite im Arbeitsgedächtnis und episodischen Gedächtnis. Inwieweit es nach einer EKT Behandlung also auch längerfristig zu kognitiven Beeinträchtigungen des Gedächtnisses kommt, ist umstritten, kann bei derzeitiger Studienlage aber nicht ausgeschlossen werden.
Allgemeine Aufgabeneigenschaften: Itemvalenz, Zeitbegrenzung und Computerverfahren
11
Die Valenz der Aufgabenitems ist ein wichtiger systematischer Einflussfaktor: Depressive Patienten verarbeiten bevorzugt negative Begriffe, während manische Patienten positive Begriffe bevorzugt verarbeiten (Elliott et al. 2004; Leppanen 2006): In der Verarbeitung emotional valenter Stimuli sehen Chamberlain und Sahakian (2004) den zentralen Unterschied der neuropsychologischen Profile depressiver und manischer Patienten. Bei Lernaufgaben kommt es dabei zu einer reduzierten Lernleistung depressiver Patienten bei positiven Begriffen, während manische Patienten mit negativen Begriffen Probleme haben. Gleichzeitig scheinen negative Begriffe bei depressiven Patienten und positive Begriffe bei manischen Patienten eine verstärkte Interferenz auszulösen. Christensen et al. (1997) kommen in einer Metaanalyse zu dem Schluss, dass die Leistungsdefizite depressiver Patienten bei Aufgaben mit Zeitbegrenzung (»speed tasks«) deutlicher ausgeprägt sind als bei Aufgaben ohne Zeitbegrenzung (»non-speed tasks«). Es ist unklar, ob dies allein der allgemeinen, aber eher gering ausgeprägten Verlangsamung depressiver Patienten zuzuschreiben ist. Denkbar ist auch, dass die Patienten mit ihren misserfolgszentrierten Gedanken Zeit verlieren. In den letzten Jahren sind einige PC-gestützte neuropsychologische Verfahren entwickelt worden, und zunehmend können auch etablierte Papierund-Bleistift-Tests als Computerversion erworben
werden. Möglicherweise aber hat die Einstellung der Probanden gegenüber Computern einen systematischen Einfluss auf die Testleistung. Zu diesem Thema liegen inzwischen erste Ergebnisse vor. Weber et al. (2002) konnten insbesondere bei depressiven Patienten zeigen, dass eine negative Einstellung der Patienten gegenüber Computern sowohl mit einer erhöhten Nervosität als auch mit nach unten verzerrten Ergebnissen bei computerisierten Aufmerksamkeitsverfahren verknüpft ist.
11.3
Neuronale Grundlagen neuropsychologischer Auffälligkeiten
11.3.1
Neuropsychologie und Bildgebung
Es ist davon auszugehen, dass psychische Prozesse neuronale Korrelate aufweisen. Neuropsychologische Beeinträchtigungen müssen somit als Hinweis auf veränderte Hirnfunktionen oder -strukturen verstanden werden (vgl. 7 Kap. 6 »Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen« von Braus et al., in diesem Band). Der Schluss von einer gestörten Funktion auf eine organische Störung ist jedoch nicht ohne Weiteres möglich (Keefe 1995). Neuropsychologische Funktionen sind in der Regel in komplexen neuronalen Netzwerken repräsentiert, sodass eine klare Schlussfolgerung von einem kognitiven Defizit auf eine spezifische Hirnveränderung kaum zu ziehen ist. Zusammenhänge können eher aus Studien abgeleitet werden, die kognitiv funktionelle und hirnorganische Parameter miteinander in Beziehung setzen. Dabei werden verschiedene Untersuchungsansätze verfolgt. Auf der einen Seite werden strukturelle Auffälligkeiten, z. B. die Volumina bestimmter Hirnregionen, mit neuropsychologischen Daten korreliert. Auf der anderen Seite wird mittels funktioneller Bildgebung die Aktivierung neuronaler Systeme während der Durchführung neuropsychologischer Paradigmen untersucht. Eine weitere Strategie besteht in der Untersuchung gesunder Probanden, denen positive oder negative Emotionen experimentell induziert werden. Hickie et al. (2005) bestimmten mittels struktureller Kernspintomographie (MRT) das Hippo-
211 11.3 · Neuronale Grundlagen neuropsychologischer Auffälligkeiten
campusvolumen depressiver Patienten und gesunder Kontrollprobanden. Ebenso erhoben sie die verbale und visuelle Lernleistung. Dabei fanden sie primär bei älteren depressiven Patienten mit melancholischem Subtyp (Major Depression) und spätem Depressionsbeginn (»late onset«) verkleinerte Hippocampi. Zusätzlich zeigte sich ein Zusammenhang zwischen Volumenreduktion und Lerndefizit. Im Gegensatz dazu konnte in einer Studie von Krabbendam et al. (2000) kein Zusammenhang zwischen strukturellen Veränderungen des Gehirns und Testleistungen hergestellt werden: Patienten mit bipolarer Depression und primär frontal gelegene Schädigungen der weißen Substanz zeigten gegenüber hirnorganisch unauffälligen Patienten keine verminderte neuropsychologische Leistung. Elliott et al. (1997) untersuchten in einer Positronen-Emissions-Tomografie-Studie (PET) unipolar depressive Patienten während der Durchführung der Turm-von-Hanoi-Aufgabe, die mit Anforderungen an Planung und Problemlösefähigkeiten primär Exekutivfunktionen voraussetzt. Die Patienten wiesen gegenüber gesunden Kontrollpersonen sowohl eine reduzierte Testleistung als auch eine verminderte Aktivierung des präfrontalen Kortex und des Striatums auf. Ähnliche Ergebnisse zeigten sich in einer Single-Photonen-EmissionsComputertomografie-Studie (SPECT, Goethals et al. 2005): Die depressiven Patienten zeigten eine erhöhte Bearbeitungszeit und Veränderungen der Hirndurchblutung im rechten (Brodmann Area [BA] 6) und linken (BA 9) präfrontalen Cortex (reduzierte Durchblutung) sowie im rechten temporalen (BA 21) und insulären Cortex (erhöhte Durchblutung). Im Gegensatz dazu fanden Bremner et al. (2004) zwar eine verminderte Aktivierung des rechten Hippocampus und anterioren cingulären Cortex (ACC), allerdings kein Lerndefizit depressiver Patienten, und Videbech et al. (2003) demonstrierten zwar eine verminderte kognitive Leistung depressiver Patienten in einer Wortflüssigkeitsaufgabe, aber keine Aktivierungsveränderungen. Bei manischen Patienten liegen vergleichbare Studien vor. Sax et al. (1999) konnten bei manischen Patienten sowohl eine reduzierte Testleistung in einem Vigilanzparadigma nachweisen, als auch einen positiven Zusammenhang zwischen Testleistung und dem Volumen des präfrontalen Kortex.
11
Blumberg et al. (1999) nahmen in einer Untersuchung 5 gesunde Probanden sowie 11 Patienten mit bipolarer Störung auf, wovon 5 eine manische Episode aufwiesen und 6 zum Untersuchungszeitpunkt symptomfrei waren. Während der Durchführung einer Wortflüssigkeitsaufgabe und in Ruhe wurde der regionale zerebrale Blutfluss (rCBF) mittels PET bestimmt. Patienten mit Manie zeigten gegenüber symtomfreien Patienten und gesunden Kontrollpersonen eine verminderte Aktivierung im rechten präfrontalen Kortex (BA 10 und 11). In der Ruhephase war die Aktivierung des präfrontalen Kortex gegenüber den Kontrollprobanden bilateral reduziert. Die Autoren schließen auf eine präfrontale Dysfunktion bei Manie, die auch den (in dieser Studie allerdings nicht gefundenen) neuropsychologischen Defiziten zugrunde liegt. Baker et al. (1997) arbeiteten mit gesunden Kontrollprobanden (s. auch folgende Studienbox), denen sie positive und negative Stimmungen induzierten. Während der anschließenden PET-Untersuchung lösten die Probanden eine Wortflüssigkeitsaufgabe. Zum einen zeigte sich, dass das Aktivierungsmuster nach der Induktion positiver und negativer Stimmung sehr ähnlich war, was auf sich überlappende neuronale Netzwerke beider Stimmungen hinweist. Es zeigte sich außerdem, dass nach der Emotionsinduktion die Aktivierung in solchen Hirnregionen abgeschwächt wurde, die durch das Wortflüssigkeitsparadigma stimuliert wurden, insbesondere dem präfrontalen Kortex und, bei negativer Stimmung, dem ACC. In dieser abgeschwächten Aktivierung sehen die Autoren eine mögliche Basis neuropsychologischer Defizite bei Patienten mit affektiven Störungen. Es ist festzuhalten, dass in einigen Studien ein Zusammenhang zwischen Testleistung und neuronalen Veränderungen objektiviert werden konnte. Es liegen jedoch auch Studien mit anderen Ergebnissen vor, die deutlich machen, dass die genauen Zusammenhänge zwischen beiden Untersuchungsebenen noch nicht ausreichend verstanden sind. Eine weiterführende Darstellung neurobiologischer Veränderungen bei Patienten mit affektiven Störungen findet sich bei Beblo und Lautenbacher (2006).
212
Kapitel 11 · Neuropsychologie affektiver Störungen
Studienbox
»The interaction between mood and cognitive function studied with PET« von Baker et al. (1997)
11
Anliegen von Baker et al. war die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen positiver bzw. negativer Stimmung, kognitiver Flexibilität (Wortflüssigkeit) und der Aktivierung neuronaler Systeme. Baker et al. arbeiteten mit gesunden Kontrollpersonen, denen eine positive und negative Stimmung induziert wurde. Dabei gingen sie von einer Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Patienten mit affektiven Störungen aus. Es wurden 10 gesunde Probanden in die Untersuchung aufgenommen. Sie wurden zunächst aufgefordert, sich in eine negative bzw. positive Stimmung hineinzuversetzen. Diese Stimmungsinduktion wurde den Probanden durch das Verhalten des Untersuchungsleiters sowie der Vorgabe fröhlicher bzw. traurige Aussagen und Musik erleichtert. Für die Induktion positiver Stimmung wurden den Probanden außerdem 30 £ geschenkt. Anschließend musste eine Wortflüssigkeitsaufgabe und eine Kontrollaufgabe, in der Wörter nur wiederholt werden sollten, bearbeiten werden. Währenddessen wurde die rCBF mittels PET gemessen. Alle Probanden absolvierten diese Aufgaben unter der Induktion positiver, neutraler und negativer Stimmung. Die Autoren berichteten folgende Ergebnisse: 1. Bei 9 von 10 Probanden war die Stimmungsinduktion nach eigener Auskunft erfolgreich. Für die weitere Analyse wurden nur die Daten dieser neun Probanden verwendet. 2. Die Stimmungsinduktion hatte keinen signifikanten Einfluss auf die Testleistung. 3. Bei der Wortflüssigkeitsaufgabe gab es gegenüber der Kontrollaufgabe einen Durchblutungsanstieg im dorsolateralen präfrontalen
Kortex, im anterioren cingulären Cortex, der anterioren Insel, dem linken Gyrus angularis und im Thalamus. Eine Durchblutungsabnahme fand sich in Bereichen des temporalen, parietalen und okzipitalen Kortex. 4. Positive und negative Stimmung führten gegenüber der emotional neutralen Bedingung bilateral zu einem Durchblutungsanstieg im orbitofrontalen Kortex und einem Durchblutungsrückgang im rechten Nucleus caudatus. Obwohl es zusätzlich zu stimmungsspezifischen Durchblutungsveränderungen kam, schlossen die Autoren auf ein gemeinsames neuronales Substrat positiver und negativer Stimmung. 5. Das Hauptinteresse der Autoren zielte auf die Interaktion zwischen Aufgabenbearbeitung und Stimmung ab. Es zeigte sich, dass bei positiver und negativer Stimmung die Aktivierung von Strukturen abgeschwächt wurde, die bei neutraler Stimmung durch die Wortflüssigkeitsaufgabe aktiviert wurde. Die negative Stimmung führte gegenüber neutraler Stimmung zu einer verminderten Durchblutung im linken präfrontalen Kortex, dem rechten ACC und dem Thalamus. Mit Ausnahme der Aktivierungsabnahme im rechten ACC, die spezifisch für die negative Stimmung war, kam es bei positiver Stimmung zu vergleichbaren Resultaten. Baker et al. sehen in diesen Befunden eine mögliche Basis für die Interpretation neuropsychologischer Defizite bei Patienten mit affektiven Störungen, bei denen ebenfalls Zusammenhänge zwischen einer verminderten präfrontalen Aktivierung und reduzierten neuropsychologischen Leistungen gefunden wurden.
213 11.4 · Therapiesensitivität neuropsychologischer Beeinträchtigungen
11.3.2
Integrierende Modelle und pathophysiologische Mechanismen
In einigen Modellen affektiver Störungen werden pathophysiologische Mechanismen beschrieben, die den neuropsychologischen Beeinträchtigungen zugrunde liegen. Als zentrales Merkmal depressiver Störungen postuliert etwa Mayberg (1997) Veränderungen des rostralen ACC (. Abb. 11.1), dem eine Vermittlungsfunktion zwischen ventralen und dorsalen Hirnstrukturen zukommt. Es resultiert eine Unteraktivierung dorsaler Hirngebiete (DLPFC, dorsaler ACC, posteriorer cingulärer Cortex, infe f riorer parietaler Cortex) und eine Überaktivierung ventraler Areale (ventraler PFC, subgenualer ACC, anteriore Insel, Hypothalamus). Mayberg bringt die verminderte Aktivierung der dorsalen Komponente mit neuropsychologischen Beeinträchtigungen in Verbindung, während sie die Überaktivierung der ventralen Strukturen für die vegetativen und somatischen Symptome depressiver Störungen verantwortlich macht. Die negative Stimmung resultiert aus der veränderten Balance beider Komponenten. Wie oben bereits erwähnt, sehen Hasler et al. (2004, 2006) in affektiven Störungen keine homogenen Krankheitsbilder, sondern das Resultat des Zusammentreffens teilweise unabhängiger psychobiologischer Endophänotypen. Gedächtnisstörungen im Rahmen einer Major Depression bringen die Autoren insbesondere mit funktionellen und strukturellen Veränderungen des Amygdala-Hippokampuskomplexes zusammen, während sie exekutive . Abb. 11.1. Depressionsmodell vereinfacht. (Nach Mayberg 1997a)
11
Dysfunktionen im Rahmen der Veränderung neurochemischer Systeme interpretieren, unter Einbezug des hormonalen Stressachse (Hypothamus-Hypohysen-Nebennierendrinde) und katecholaminer Neurotransmittersysteme.
11.4
Therapiesensitivität neuropsychologischer Beeinträchtigungen
Wie in den einführenden Bemerkungen bereits beschrieben, wurde traditionell in der Verbesserung neuropsychologischer Leistungen bei Remission der affektiven Symptomatik ein differenzialdiagnostisch bedeutsames Kriterium in der Abgrenzung depressiver von demenziellen Erkrankungen gesehen. Inzwischen ist das Thema der Reversibilität neuropsychologischer Beeinträchtigungen im Therapieverlauf affektiver Störungen häufig untersucht worden, ohne dass dabei diese traditionelle Auffassung von neuropsychologischen Defiziten als reinen »State-Marker« affektiver Störungen bestätigt werden konnte. Im Folgenden werden einige dieser Studien beschrieben. Unterschieden werden können dabei Querschnittstudien, in denen neuropsychologische Beeinträchtigungen bei Patienten mit remittierter affektiver Störung (euthyme Patienten) untersucht werden, von Verlaufsstudien, in denen Patienten vor und nach Therapie untersucht werden. Ein weiterer Ansatz sieht die Untersuchung akut depressiver Patienten in depressiver Stimmung (z. B. morgens bei Patienten mit Morgentief) und in verbesserter Stimmung (abends) vor.
214
11.4.1
11
Kapitel 11 · Neuropsychologie affektiver Störungen
Querschnittsstudien
Ferrier et al. (1999) untersuchten euthyme Patienten mit einer bipolaren Störung, d. h. Patienten ohne aktuelle depressive oder manische Symptomatik. Den Patienten wurde eine umfangreiche neuropsychologische Testbatterie vorgelegt, mit der Aufmerksamkeitsleistungen, Exekutivfunktionen, Gedächtnisfunktionen und visuokonstruktive Fertigkeiten erhoben wurden. In einer ersten Datenanalyse zeigte sich, dass die Patienten in fast allen Untersuchungsbereichen Defizite aufwiesen. In einem zweiten Schritt kontrollierten Ferrier et al. neben Alter und geschätzter prämorbider Intelligenz auch die aktuelle Stimmung bzw. residuale Depressivität (die Testscores in der »Hamilton Depressions Ratingskala« lagen bei allen Patienten unter 8). Nach dieser statistischen Korrektur lagen Beeinträchtigungen allein im »Trail Making Test« (Reitan u. Wolfson 1985), der Wortflüssigkeit und der Zahlenmerkspanne rückwärts vor. Auch Clark et al. (2005) demonstrierten bei euthymen Patienten eine beeinträchtigte Flexibilitätsleistung. Ein anderes Profil neuropsychologischer Auffälligkeiten bei euthymen Patienten fanden allerdings van Gorp et al. (1998). Nur die über eine Wortliste operationalisierte verbale Gedächtnisleistung zeigte sich bei euthymen Patienten mit bipolarer Störung ohne komorbide Alkoholabhängigkeit als beeinträchtigt. Weiterhin war die verbale Gedächtnisleistung mit der Gesamtdauer manischer oder depressiver Episoden innerhalb der Lebensspanne negativ korreliert. Die Leistung im »Wisconsin Card Sorting Test« (Heaton 1981) war mit der Dauer und Anzahl manischer Episoden, die Leistung im Teil B des »Trail Making Tests« mit der Gesamtdauer depressiver Episoden negativ assoziiert. Bei jungen Patienten mit bipolarer Störung fanden Pavuluri et al. (2006) keinen Unterschied zwischen akut manischen und euthymen Patienten.
11.4.2
Verlaufsstudien
In einigen Verlaufsstudien zeigt sich, dass vornehmlich Fluencyleistungen mit dem Verlauf der depressiven Symptomatik korrelieren. In der im 7 Abschn. 11.2 bereits zitierten Studie (Beblo et al. 1999)
wurden Patienten mit Major Depression zu zwei Zeitpunkten untersucht: Zu Beginn der antidepressiven Therapie im akuten Krankheitsstadium und 4–5 Wochen später. Von den 27 untersuchten Patienten konnten 12 als »Responder« eingestuft werden, d. h. sie erfüllten zum zweiten Untersuchungszeitpunkt nicht mehr die diagnostischen Kriterien einer depressiven Störung. Außerdem lag der Punktwert im »Beck-Depressions-Inventar« (BDI; Beck u. Steer 1994) unter 18 und hatte im Vergleich zum ersten Untersuchungszeitpunkt um mindestens 50% abgenommen. Die deutlichste Leistungsverbesserung bei den Respondern zeigte sich in der semantischen Wortflüssigkeit, figuralen Flüssigkeit und in der kognitiven Flexibilität (TAP-Reaktionswechsel; Zimmermann u. Fimm 1992). Im Rahmen einer exploratorischen Diskriminanzanalyse zeigte sich, dass 85,7% der Patienten auf Basis einer verbesserten Leistung in der semantischen Wortflüssigkeit und figuralen Flüssigkeit korrekt als Responder oder Non-Responder klassifiziert werden konnten. Weitere Variablen leisteten in dieser multivariaten Analyse keinen signifikanten Beitrag. DeGroot et al. (1996) fanden eine Leistungssteigerung bei remittierten depressiven Patienten nur in der formallexikalischen Wortflüssigkeit. Diese Ergebnisse aus Gruppenstudien entsprechen weitgehend den Resultaten eines Fallberichts (van Gorp u. Cummings 1996). In dieser Studie wurde ein HIV-1 seropositiver Patient mit einer rezidivierenden depressiven Störung zu vier Untersuchungszeitpunkten untersucht. Zu zwei Zeitpunkten wies er eine depressive Symptomatik auf, zu den anderen zwei Zeitpunkten lagen keine klinisch relevanten Symptome vor. Die Autoren wiesen einen engen Zusammenhang zwischen dem Verlauf der depressiven Störung und den Leistungen in der formallexikalischen Wortflüssigkeit, der kognitiven Flexibilität (Teil B im »Trail Making Test«), der Reaktionshemmung (Stroop-Interferenzteil) sowie im Verbal-IQ nach. Der Handlungs-IQ und die psychomotorische Geschwindigkeit blieben im Verlauf der depressiven Störung weitgehend unverändert. Neuropsychologische Funktionen wurden auch im Verlauf manischer Episoden untersucht. Bulbena und Berrios (1993) legten manischen Patienten zu zwei Zeitpunkten eine neuropsychologische Testbatterie vor: Im akuten Stadium und 3–12 Monate
215 11.4 · Therapiesensitivität neuropsychologischer Beeinträchtigungen
später nach Remission der affektiven Störung. Dabei wurden Gedächtnisfunktionen (direkter und verzögerter freier Abruf), Aufmerksamkeitsfunktionen (Wahlreaktionen) und visuoräumliche Funktionen (»Benton Lines«; Benton et al. 1978) untersucht. Signifikante Leistungssteigerungen zeigten die Patienten insbesondere in den Gedächtnis- und visuoräumlichen Funktionen. Während die Patienten zum ersten Untersuchungszeitpunkt gegenüber gesunden Kontrollpersonen in allen Untersuchungsbereichen Defizite aufwiesen, zeigte sich im remittierten Stadium allein eine Beeinträchtigung der visuoräumlichen Leistung.
11.4.3
Neuropsychologische Leistungen im Tagesverlauf
Einen anderen Ansatz zur Untersuchung der Frage, ob die neuropsychologischen Defizite bei affektiven Störungen an die akute depressive oder manische Symptomatik gebunden sind, wählten Moffoot et al. (1994) sowie Porterfield et al. (1997). Moffoot et al. untersuchten Patienten mit Major Depression des Subtyps »Melancholie«. Alle Patienten wiesen ein Morgentief und somit deutliche Tagesschwankungen der Stimmung auf. Patienten und gesunde Kontrollpersonen wurden um 8 h und 20 h neuropsychologisch untersucht, wobei zwar Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfunktionen, jedoch keine exekutiven Funktionen berücksichtigt wurden. Bei 50% aller Probanden fand der erste Untersuchungstermin morgens statt, bei 50% abends. Die Befindlichkeit der Patienten war abends deutlich besser als morgens, jedoch noch nicht auf gesundem Niveau. Es zeigte sich, dass die Patienten abends in allen neuropsychologischen Bereichen nummerisch bessere Leistungen erzielten als morgens, statistisch signifikante Leistungssteigerungen traten in Aufmerksamkeitsfunktionen (Reaktionszeiten, Zahlensymboltest des HAWIE; Wechsler 1987) und Gedächtnisleistungen (Arbeitsgedächtnis/Zahlenmerkspanne vorwärts und rückwärts, Wortlistenlernen) auf. Im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen wiesen die Patienten morgens in fast allen neuropsychologischen Parametern Defizite auf. Abends war die Leistung nur im Zahlensymboltest und einer simultanen »Matching-to-sample-Aufga-
11
be« vermindert. Außerdem konnten die Autoren zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen neuropsychologischen Leistungssteigerungen und morgendlichem Hyperkortisolismus, wie er bei Patienten mit melancholischer Major Depression häufig gefunden wird, besteht. Porterfield et al. stützen sich mit einem ähnlichen Design primär auf exekutive Funktionen, ohne jedoch eine Kontrollgruppe zu berücksichtigen. Die Stimmungsbesserung fiel in ihrer Stichprobe geringer aus und nur in wenigen Funktionen erreichten die Patienten eine signifikante Verbesserung. Die deutlichste Leistungssteigerung trat in der formallexikalischen Wortflüssigkeit auf.
11.4.4
Neuropsychologische Defizite bei affektiven Störungen: Trait oder State?
Aus diesen Studien über die Reversibilität neuropsychologischer Beeinträchtigungen ist zunächst zu folgern, dass ein Teil der neuropsychologischen Defizite als Korrelat der allgemeinen depressiven oder manischen Symptomatik betrachtet werden kann, und im Krankheitsverlauf, ebenso wie die anderen Symptome affektiver Störungen, therapeutisch positiv beeinflussbar ist. In einer Stichprobe bipolar depressiver Patienten wurde gefunden, dass insbesondere bei jüngeren Patienten die neuropsychologischen Defizite an den Verlauf der affektiven Symptomatik gebunden sind (Savard et al. 1980). Insgesamt weisen die Untersuchungen auf Leistungssteigerungen in verschiedenen neuropsychologischen Domänen hin, wobei es bei depressiven Patienten insbesondere zu einer Verbesserung der Wortflüssigkeitsleistung zu kommen scheint. Neuropsychologische Defizite bei affektiven Störungen sind also nicht als reiner »Trait-Marker« zu interpretieren. Trotz dieser konsistent nachgewiesenen Leistungssteigerungen sind auch im remittierten Krankheitsstadium – zumindest bei einem Teil der Patienten – neuropsychologische Beeinträchtigungen objektivierbar. Neuropsychologische Defizite bei affektiven Störungen sind also ebenfalls nicht als reiner »State-Marker« zu bewerten. Ein klares Defizitprofil ist bei dieser Residualsymptomatik nicht ersicht-
216
Kapitel 11 · Neuropsychologie affektiver Störungen
lich. Für den Befund persistierender neuropsychologischer Defizite bieten sich verschiedene Interpretationsmöglichkeiten an. Wie in 7 Abschn. 11.3 dargestellt, zeigen einige Studien einen Zusammenhang zwischen strukturellen hirnorganischen Veränderungen und neuropsychologischen Leistungen. Gehen die neuropsychologischen Defizite auf strukturelle Veränderungen des Gehirnes zurück, ist eine unvollständige Reversibilität verständlich. Möglicherweise kann in diesem Rahmen auch der oben genannten Befund von van Gorp et al. (1998) eingeordnet werden, wonach die persistierenden neuropsychologischen Beeinträchtigungen mit der Gesamtdauer der affektiven Störung assoziiert sind. Es ist denkbar, dass eine langanhaltende affektive Störung mit chronischem Erleben von Stress zu objektivierbaren Veränderungen von Hirnstrukturen
mit neuropsychologischen Beeinträchtigungen führt (McEwen 2005; Sapolsky 2003). Es ist auch denkbar, dass die persistierenden neuropsychologischen Defizite als Teil einer allgemeinen residualen Symptomatik oder subklinischen Depression eingeordnet werden können. In diese Richtung weist der oben berichtete Zusammenhang zwischen neuropsychologischen Defiziten bei euthymen Patienten und residualer Depressivität (Ferrier et al. 1999). Spätfolgen antidepressiver Medikation sowie Nebenwirkungen aktueller (Dauer-)Medikation stellen eine weitere mögliche Erklärung für persistierende neuropsychologische Defizite dar. Da eindeutige Medikamenteneffekte bei akut Erkrankten bisher nicht nachgewiesen sind (7 Abschn. 11.2), halten Abas et al. (1990) diesen Erklärungsansatz allerdings für wenig wahrscheinlich.
Zusammenfassung
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Depressive Störungen und manische Episoden werden bei vielen Patienten von neuropsychologischen Beeinträchtigungen begleitet. Wie das eingangs geschilderte Fallbeispiel verdeutlicht, liegt eine wichtige klinische Bedeutung neuropsychologischer Untersuchungen in der Indikationsstellung für eine neuropsychologische Therapie und in der Planung beruflicher Rehabilitation. Einige Studien über neuropsychologische Beeinträchtigungen bei Patienten mit affektiven Störungen weisen darauf hin, dass es bei Depression vorrangig zu einer Beeinträchtigung kognitiver Flexibilität bzw. Fluencyleistungen kommt, während bei Manie eine verminderte Reaktionsinhibition im Vordergrund stehen könnte. Außerdem kommt es bei beiden Erkrankungen mit Störungen von (weiteren) Exekutivfunktionen, Aufmerksamkeitsleistungen und Gedächtnisdefiziten zu einer großen Breite an zusätzlichen unspezifischen Defiziten. Der Zusammenhang
11.5 Literatur Abas MA, Sahakian BJ, Levy R (1990) Neuropsychological deficits and CT scan changes in elderly depressives. Psychol Med 20: 507–520 Airaksinen, E, Larsson, M, Lundberg, I, Forsell, Y (2004) Cognitive functions in depressive disorders: evidence from a population-based study. Psychol Med 34: 83–91
zwischen affektiven Störungen und neuropsychologischen Auffälligkeiten wird von verschiedenen Faktoren, wie z. B. dem Subtyp der affektiven Störungen oder dem Alter der Patienten, moderiert. Untersuchungen, in denen neuropsychologische Testverfahren und (funktionelle) Bildgebung zum Einsatz kommen, weisen auf pathoanatomische bzw. pathophysiologische Korrelate neuropsychologischer Beeinträchtigungen – besonders im Bereich des präfrontalen Kortex – hin. Im Therapieverlauf sind die neuropsychologischen Beeinträchtigungen nur z. T. reversibel. Insbesondere Fluencyleistungen korrelieren bei depressiven Patienten zwar eng mit dem Remissionsverlauf, Defizite dieser Leistungen sind allerdings auch im remitiertem Krankheitsstadium nachweisbar. Neuropsychologische Defizite bei affektiven Störungen sind somit weder ausschließlich als »State-« noch eindeutig als »Trait-Marker« zu interpretieren.
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217 11.5 · Literatur
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Kapitel 11 · Neuropsychologie affektiver Störungen
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12 12 Neuropsychologie der Zwangsstörung Bernd Leplow
12.1 Das Standardmodell des Zwangssyndroms als Angststörung – 220 12.2 Verhaltensneuropsychologie der Zwangsstörung 12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.2.4 12.2.5
– 221
Verhaltensbeobachtung – 221 Neuropsychologische Befunde – 222 Ergebnisse der Bildgebung – 226 Psychopharmakologie: Die Rolle des serotonergen Systems – 227 Neuroanatomie, Elektrophysiologie und Neurochirurgie – 229
12.3 Modellbildung
– 230
12.3.1 Biologische Grundlagen – 230 12.3.2 Das Konzept derZwangsspektrumsstörungen – 232 12.3.3 Verhaltensneuropsychologische Synopsis – 234
12.4 Literatur
– 237
220
12
Kapitel 12 · Neuropsychologie der Zwangsstörung
Eine 32-jährige Hausfrau fühlt sich vor jedem Verlassen der Wohnung gezwungen, alle elektrischen Geräte, Fenster, Türen und Wasserhähne kontrollieren zu müssen. Dieses erfolgt in genau festgelegter Abfolge: erst die vier Herdschalter (jeden einzeln fixieren und halblaut jeweils langsam und konzentriert »aus-aus-aus!« sagen), dann die Kaffeemaschine, den Wasserkocher, das Bügeleisen, Radio und Fernseher sowie die Wasserhähne (Stellung stets über einem Abfluss und Stöpsel außerhalb des Beckens), dann alle Heizkörperventile, Fenster (jedes der Reihe nach 3-mal andrücken, ggf. dieses 3-fach wiederholen: »3-mal, dann ist gut!«), Kühlschrank – und schließlich die Wohnungstür. Der Türgriff wird 3-fach angedrückt und abschließend wird das ganze Körpergewicht gegen die Tür gestemmt. Bei Zeitdruck und anderen Formen emotionaler Belastung wird dieser Ablauf mehrfach ausgeführt. Außerdem wird jede Handlungssequenz stets wiederholt, wenn ein Teilschritt nicht mit hinreichender Konzentration ausgeführt wurde. Die Störung wurde manifest, nachdem die Patientin vergessen hatte, einen Herdschalter auszuschalten und etwa zeitgleich eine Nachbarwohnung niederbrannte. Die Kontrollhandlungen weiteten sich schnell auf eine immer größer werdende Zahl von Gegenständen aus, wobei die Rituale immer komplexer wurden. Bei Behinderung der Rituale tritt eine erhebliche, gelegentlich ängstlich getönte Unruhe auf. Diese wird sofort reduziert, wenn der Ehemann den ordnungsgemäßen Zustand der hinterlassenen Wohnung versichert.
12.1 Das Standardmodell
des Zwangssyndroms als Angststörung Dieses typische Fallbeispiel lässt vermuten, dass Zwangspatienten mit ihren behavioralen und/oder kognitiven Ritualen in erster Linie aufsteigende Ängste neutralisieren. Folgerichtig findet sich die Zwangsstörung sowohl in der ICD 10 (»International Classification of Diseases«, ICD; Dilling et al. 2000) als auch dem DSM IV (Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen, DSM; Saß et al. 2001) z. Zt. noch unter den Angsterkrankungen. Damit orientiert sich das Verständnis der Zwangsstörung im Wesentlichen an traditionellen
Vorstellungen zur Genese und Aufrechterhaltung von Ängsten. So erhalten an sich harmlose, möglicherweise jedoch Schädigung, Gefahr oder andere negative Konsequenzen ankündigende, diskriminative Stimuli eine besondere persönliche Bedeutung. Die damit verbundenen Vorstellungen drängen sich als Intrusion in das Bewusstsein, werden als äußerst relevant, schrecklich und beeinträchtigend erlebt, ohne dass sie sich durch normale Alltagsaktivitäten abschwächen ließen. Ferner empfinden die Betroffenen eine unmittelbare Verantwortung für die als sehr wahrscheinlich angesehenen negativen Konsequenzen. Besonders gravierend sind diesbzgl. Befürchtungen, denen zufolge negative Konsequenzen bzw. katastrophale Schädigungen v. a. durch unterlassene Handlungen eintreten. Da diese Sorgen nicht wie bei anderen Formen der Angst üblich, durch einfaches Flucht- oder Vermeidungsverhalten reduziert werden können, muss die durch sie ausgelöste quälende Unsicherheit auf andere Weise neutralisiert werden. Das geschieht in Form genau definierter gedanklicher oder behavioraler Rituale, die zumindest kurzfristig zur Reduktion der Schädigungsbefürchtungen führen. Da diese Reduktion jedoch nur selten komplett ist, kommt es aufgrund der hohen persönlichen Bedeutung, die den auslösenden Stimuli zugemessen wird, immer häufiger zur Entstehung von Angst, die letztlich durch immer komplexere Sicherheitsrituale »bewältigt« werden muss. Eine Verhinderung der Ritualausübung ist im Normalfall mit einem weiteren Angstanstieg verknüpft, da bei Nichtausübung des Rituals befürchtet wird, dass die durch die Ritualhandlungen und -gedanken gebannten aversiven Konsequenzen mit höchster Wahrscheinlichkeit eintreten werden. Obwohl die Rituale vom Patienten überwiegend als ausgesprochen belastend erlebt werden, wird dieser Zustand immer noch lieber ertragen, als das sonst befürchtete noch schlimmere Unheil. Damit werden die Rituale negativ verstärkt und sind somit als Form »aktiven Vermeidens« (»tue das, sonst …«) aufzufassen (Rachman 1998; Foltys 1999). Auf diese Weise werden Aufrechterhaltung und Ausweitung zwanghafter Verhaltensweisen und Gedankenabläufe als eine über operante Mechanismen gesteuerte Problematik angesehen. So wird ihr Auftreten durch Angst motiviert und durch Angstreduk-
221 12.2 · Verhaltensneuropsychologie der Zwangsstörung
tion aufrechterhalten. Diese lernpsychologisch fundierte Annahme wurde in den letzten Jahren durch verhaltensneurobiologische Modellvorstellungen ergänzt, die sehr unterschiedliches Quellenmaterial integrieren, nämlich: 4 Verhaltensbeobachtungen von Zwangsreaktionen, 4 Befunde neuropsychologischer Untersuchungen, 4 Ergebnisse der Bildgebung, 4 Daten aus Neuroanatomie, Elektrophysiologie und Neurochirurgie und 4 vergleichenden Betrachtungen verschiedener neurologischer Störungsbilder.
12.2
Verhaltensneuropsychologie der Zwangsstörung
12.2.1
Verhaltensbeobachtung
Die systematische Verhaltensbeobachtung von Zwangspatienten weist auf wichtige Besonderheiten des Zwangssyndroms hin, nämlich 1. die ritualisierte Reaktionswiederholung, 2. das aktive Aufsuchen angstrelevanter Stimuli, 3. die häufige Abwesenheit von Angst, 4. die Angstinduktion und 5. die geringe Zahl (phylogenetisch relevanter) Reaktionsklassen. Die ritualisierte Wiederholung eines Verhaltens oder Gedankens ist das auffälligste Charakteristikum des Zwangssyndroms. Vermeidungsverhaltensweisen werden bei nicht-zwangsbezogenen Ängsten dagegen einmalig gezeigt, indem z. B. die öffentliche Situation, die dunkle Kellertreppe oder der Fahrstuhl von vornherein gemieden oder die kritische Situation durch einfallsreiche Maßnahmen vorzeitig beendet wird. In diesen Fällen stehen die aktiven Vermeidungsstrategien im Einklang mit dem Konzept eines über negative Verstärkungen gesteuerten Lernprozesses: Ausgewählt werden solche Verhaltenseinheiten, die aufgrund der Erfahrung zum Nichteintreten oder zur Beendigung eines unerwünschten Zustandes geführt haben. Suboptimale Lösungsstrategien fallen dagegen dem über Versuch und Irrtum geregelten Selektionsprozess zum Opfer.
12
Das aktive Aufsuchen bedrohungsassoziierter Signalreize stellt eine weitere Besonderheit des Zwangssyndroms dar. Zwar findet sich auch bei nicht zwangsstörungsbezogenen Angstsyndromen eine selektive Aufmerksamkeit für entsprechende Stimuli, doch werden diese dann unverzüglich gemieden. Sind keine entsprechenden Stimuli erkennbar, herrscht ein Zustand relativen Wohlbefindens vor. Zwangspatienten tendieren dagegen dazu, ein kritisches Situationsumfeld solange gründlich nach dem möglichen Vorhandensein bedrohlicher Hinweisreize abzusuchen, bis derartige Stimuli auch tatsächlich gefunden werden. Selbst wenn derartige Stimuli nach eigenem Eingeständnis nicht identifizierbar sind, wird das situative Umfeld häufig in bedrohliche Areale unterteilt, innerhalb derer die infrage stehenden bedrohungsassoziierten Hinweisreize »hätten vorhanden sein können« und ggf. »jederzeit wieder erscheinen könnten«. Des Weiteren ist die Angst nicht notwendigerweise die Hauptemotion eines Zwangspatienten. Oft wird gar kein benennbares Gefühl, sondern nur eine diffuse Unruhe, Erregung oder unspezifische Anspannung (i. S. d. »something is wrong«, Schwartz 1998) berichtet, die sich klar von der konkreten Furcht z. B. eines Höhenphobikers oder den Angstzuständen eines sozial unsicheren Menschen kurz vor einer Mittelpunktsituation unterscheidet. Entsprechend vage sind bei Zwangspatienten die befürchteten Konsequenzen. Trotz der Eindeutigkeit der oftmals bizarren Rituale werden die möglichen negativen Folgen bei Nichtausüben der Zwangshandlungen und -gedanken auch bei hoher prämorbider Intelligenz und eindeutiger Störungseinsicht nicht selten als nicht weiter konkretisierbare »Gefahr«, als antizipiertes »Chaos« oder als Befürchtung »die Substanz« zu verlieren, beschrieben. Auch ist die Induktion ängstlich getönter Unruhe eine übliche Folge von Zwangshandlungen und -gedanken und nicht deren Reduktion. So lässt sich beobachten, dass sich Patienten im Verlauf ihrer Rituale in einen Angstzustand regelrecht hineinsteigern. Entsprechend erfolgt deren Beendigung oft erst bei starker externer Ablenkung, vorübergehend bei hoher, gegenläufiger Motivation oder aber beim Zusammenbruch des Verhaltensrituals durch völlige physische Erschöpfung. Angstpatienten erreichen dagegen üblicherweise eine
222
Kapitel 12 · Neuropsychologie der Zwangsstörung
deutliche Reduktion ihrer Erregungs- und Angstzustände kontingent als Funktion der »Wirkreaktion«, sodass es sich in diesen Fällen definitionsgemäß um ein Vermeidungsverhalten handelt. Schließlich ist die relativ geringe Zahl phylogenetisch relevanter Reaktionsklassen des Ordnens, Kontrollierens und Reinigens sowie anderer Sicherungen der persönlichen Integrität oder der einer nahestehenden Person für Zwangsrituale charakteristisch (Salkovskis u. Kirk 1996). Handelte es sich um ausschließlich operant erworbene Vermeidungsstrategien, müsste es sich bei Zwangshandlungen und -gedanken um eine zufällige Auswahl von Verhaltensweisen handeln (s. u. a. Gray 1987). Das ist ganz offensichtlich bei nicht zwangsbezogenen Angstpatienten der Fall, die eine Vielzahl ausgesprochen einfallsreicher und unterschiedlicher Strategien entwickeln, mit denen sich eine angstauslösende Situation umgehen lässt. Damit ergibt die Verhaltensbeobachtung der Zwangsstörung eine Reihe spezifischer Besonderheiten, die schon relativ früh zur Integration anderer, unter anderem neuropsychologischer, Datenquellen geführt haben.
ten in anstrengungsabhängigen Aufgaben mit der Notwendigkeit deduktiver Lösungsstrategien (z. B. bei arithmetischen Problemstellungen) sowie der Reproduktion sinnfreien Materials, bei dem keine Behaltensinstruktion gegeben wurde. Schlechtere Leistungen fanden sich dagegen beim Erlernen neutralen oder persönlich bedeutsamen Materials, das einen eher induktiven Zugang (z. B. dem Fortsetzen von Zahlenreihen) verlangt (Reed 1977b). In den folgenden Jahren wurde eine große Zahl neuropsychologischer Studien durchgeführt, die bei im Normalfall unbeeinträchtigten Intelligenzleistungen in ihrer Mehrheit Defizite in sog. »frontalhirnbezogenen« und »rechtshemisphärischen« Funktionen aufzeigten. Daneben wurde gelegentlich eine spezifische Minderung der Gedächtnisleistungen für Handlungen beobachtet (Sher et al. 1984; Tallis et al. 1999). Auch das Konzept des »reality monitoring«, bei dem die Probanden zwischen nur in der Vorstellung präsenten oder real ausgesprochen Begriffen zu unterscheiden haben, wurde eine Zeitlang v. a. an subklinischen Stichproben untersucht (z. B. Brown et al. 1994; Rubenstein et al. 1993; Sher et al. 1989). Lokalisatorische Zuordnungen Auf die Bedeutung
12
12.2.2
Neuropsychologische Befunde
Erste Beschreibungen Zu den ersten, die bei
Zwangspatienten kognitive Funktionsveränderungen dokumentierten, gehörte Reed (1969a, b). Ausgangspunkt war zunächst die Beobachtung des »under inclusion«-Phänomens, nämlich der Tendenz der Zwangspatienten zur Überstrukturierung. Diese zeigte sich in der Neigung, bei Sortieraufgaben eine übernormale hohe Zahl von Klassen mit jeweils wenigen Klasseninhalten zu bilden. Auch das im Eingangsbeispiel dargestellte, jedem Kliniker zunächst als »Vergessen« erscheinende Phänomen (»Habe ich den Wasserhahn wirklich zugedreht?«) wurde von Reed (1977a,b) untersucht. Da das scheinbare »Vergessen« jedoch in auffälligem Widerspruch zur ausgeprägten Fähigkeit umfänglicher und detailgenauer Berichte über Nebensächlichkeiten stand (Reed 1977a), war eine Interpretation der Zwangssymptome als »Gedächtnisstörung« zumindest unplausibel. Entsprechend zeigte Reed bessere Gedächtnisleistungen der Zwangspatien-
rechtsparietaler Hirnregionen wurde aufgrund solcher Defizite geschlossen, die mit den in der klinisch-neuropsychologischen Praxis üblichen visuokonstruktive und visuoräumliche Funktionen prüfenden Tests gefunden wurden (u. a. Grau 1991a,b; Dirson et al. 1995; Wilson 1998). Die Rolle präfrontaler Regionen ergab sich dagegen aus den wiederholt identifizierten Defiziten in Verfahren wie den »fluency«-Maßen, dem »Stroop-«, »Trail Making-«, Planungs- und »Wisconsin Card Sorting«-Tests sowie in unterschiedlichen Prüfverfahren zur Erfassung von Arbeitsgedächtnisleistungen, der Umstellfähigkeit und der Reaktionsunterdrückung. Entsprechend wurden diese Defizite im Sinne einer Störung solcher Regelkreise interpretiert, die von spezifischen Frontalhirnabschnitten zu den Basalganglien ziehen (u. a. Cavedini et al. 2001; Deckersbach et al. 2000a; Lucey et al. 1997; Okasha et al. 2000; Purcell et al. 1998a,b; Savage et al. 1996; Schmidtke et al. 1998). Zur Zeit werden vermehrt experimentell variierbare Testverfahren eingesetzt, mit denen sehr spezifische Konstrukte wie z. B. die
223 12.2 · Verhaltensneuropsychologie der Zwangsstörung
Akquisitionsfähigkeit kurz- vs. langfristiger, verteilter oder en bloque dargebotener Belohnungen bzw. Bestrafungen in ihrem Bezug zur funktionellen Neuroanatomie (z. B. dem ventromedialen Abschnitt des präfrontalen Cortex) untersucht werden (Cavedini et al. 2006). Das Fehlen adäquater klinischer Kontrollgruppen stellt ein großes Problem vieler älterer Studien dar. Werden nämlich konzeptuell ähnliche klinische Gruppen mit in die Designs einbezogen, ergeben sich sehr viel seltener signifikante Ergebnisse. So konnten Bellini et al. (1989) über die »LuriaNebraska-Testbatterie« keine Unterschiede zwischen Zwangs- und Schizophreniepatienten identifizieren. Hollander et al. (1993) fanden sowohl bei Zwangs- als auch bei Parkinsonpatienten Hinweise auf basalganglienbezogene Störungen im Bereich visuokonstruktiver Funktionen. Auch Cohen et al. (1996) identifizierten bei Zwangspatienten und Sozialphobikern vergleichbare neuropsychologische Auffälligkeiten. Allerdings fanden sie vorrangig visuokonstruktive Defizite bei Zwangspatienten und vorrangig exekutive Defizite bei Sozialphobikern. Keinerlei Auffälligkeiten konnten von Abbruzzese et al. (1995b) beim Vergleich mit schizophrenen Patienten im »Wisconsin Card Sorting Test« (WCST) nachweisen. Auch eine eigene, unter Verwendung verschiedenster Aufmerksamkeitsund Gedächtnismaße an jeweils Zwangs- und Angstpatienten sowie an Patienten mit Schmerzattacken durchgeführte Untersuchung (Leplow et al. 2002) ergab praktisch keine zwangsspezifischen Unterschiede in den klinisch-neuropsychologischen Standardmaßen. Dagegen lässt sich ein schärferes neuropsychologisches Profil der Zwangsstörungen erkennen, wenn definierte Konstrukte wie z. B. das der »Strategiebildungsfähigkeit« oder der »kognitiven Intrusion« untersucht und Hypothesen zur funktionellen Neuroanatomie über doppelte Dissoziationen geprüft werden. Die doppelte Dissoziation ist eine Methode, spezifische neuropsychologische Unterschiede zu begründen. Dabei werden zwei in Bezug auf relevante medizinische Variable vergleichbare klinische Gruppen in konzeptuell äquivalenten Testverfahren A und B untersucht (7 folgende Studienbox). Weist eine Gruppe im Verfahren A Defizite und im Test B
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Kompetenzen auf und stellt sich in der anderen Gruppe ein umgekehrtes Muster dar, so spricht vieles für das Vorhandensein eines gruppen- und materialspezifischen Effektes. Eine solche doppelte Dissoziation wurde bei Zwangspatienten und bei Patienten mit schizophrener Symptomatik gefunden (Abbruzzese et al. 1995a, 1997). Dabei zeigten Zwangspatienten Defizite in einem »Object Alternation Test«, der als sensitiv für orbitofrontal vermittelte kognitive Funktionen angesehen wird, wohingegen sich bei schizophrenen Patienten Defizite im WCST ergaben, einem Verfahren, das üblicherweise als sensitiv für dorsolateral-präfrontal lokalisierte kognitive Funktionen gilt. Im Vergleich mit einer Gruppe von Major Depression-Patienten konnten Cavedini et al. (1998) spezifische Defizite von Zwangspatienten im »Object Alternation Test« bestätigen. Strategische Defizite Strategische Defizite könnten
die Grundlage vieler neuropsychologischer Auffälligkeiten sein (Greisberg u. McKay 2003). In einer detaillierten Analyse des bei der Bewältigung der »Rey-Osterrieth Figure« und des »California Verbal Learning Tests« eingeschlagenen Vorgehens konnten Savage et al. (1999) nachweisen, dass die Defi f zite der Zwangspatienten auf Minderleistungen in der Generierung lösungsrelevanter Strategien liegen. In ihrer Unfähigkeit, komplexe und nicht ganz eindeutige Situationen selbstständig zu strukturieren, verloren sie sich im Detail und zeigten Schwierigkeiten, ein einmal eingeschlagenes mentales Schema zu wechseln. Auf diese Weise wurde der Aufbau einer adaptiven Lösungsstrategie verhindert. Vor diesem Hintergrund sind Defizite sowohl in verbalen als auch in nonverbalen Gedächtnismaßen zu erwarten, wenn die Aufgabe in besonderer Weise die internale Initiierung organisatorischer Lösungsstrategien verlangt (Deckersbach et al. 2000a). Ein solches Defizit wurde bereits auf der Ebene des semantischen Enkodierens gefunden (Cabrera et al. 2001). Ein derartig grundlegendes Defizit könnte auch die Minderleistungen in verbalen und nonverbalen Gedächtnisaufgaben erklären (Zitterl 2001). Keine Leistungsdefizite wurden dagegen von Martin et al. (1995) unter Verwendung von »subjectordered tasks« und einem Verfahren zur Prüfung des Arbeitsgedächtnisses gefunden – allerdings
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Kapitel 12 · Neuropsychologie der Zwangsstörung
Studienbox
Die doppelte Dissoziation: Mit neuropsychologischen Verfahren lassen sich diagnostische Spezifitäten aufdecken In Fortführung einer früheren Arbeit (Abbruzzese et al. 1995a) wiesen Abbruzzese et al. (1997) bei 60 Zwangs- und 60 Schizophrenie-Patienten eine doppelte Dissoziation nach. Beide Gruppen bearbeiteten u. a. den WCST sowie einen »Object Alternation Test«. Bei diesem auch bei nicht humanen Primaten häufig eingesetzten Verfahren sitzt der Untersucher dem Patienten an einem Tisch gegenüber. Zwischen ihnen befindet sich ein Rahmen, an dem ein Vorhang die Sicht auf den Untersucher und die beiden umgekehrt vor ihm liegenden, identischen Schalen unterbinden kann. Zu Beginn des Versuches befindet sich unter beiden Näpfen jeweils ein Objekt (z. B. ein Cent). Der Patient wird gefragt, unter welchem der beiden Näpfe sich der Cent befinde. Bei den folgenden Versuchsdurchgängen wird stets nur unter einen Napf ein Cent gelegt. Dabei wird mit dem Napf begonnen, der bei der ersten Wahl nicht gewählt wurde. In den folgenden Durch-
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zeigte sich eine signifikante Verlangsamung in der Bearbeitung der Testverfahren. Störungen der kognitiven Inhibition Diese Stö-
rungen, insbesondere der Unfähigkeit, Intrusionen zu unterdrücken, scheinen ebenfalls für viele neuropsychologische Defizite verantwortlich zu sein (Chamberlain et al. 2005; Li et al. 2000; Wiggs et al. 1996). So verglichen Enright und Beech (1990, 1993) 36 Zwangspatienten mit 6 Gruppen anderer Angstdiagnosen in Bezug auf das Konstrukt der kognitiven Inhibition. Zwangspatienten zeigten kürzere Reaktionszeiten auf vorher ignorierte Stimuli einer semantischen Primingaufgabe, während die Patienten der anderen Angstdiagnosen längere Zeiten benötigten (entspricht dem »negativen« Primingeffekt). Ein vergleichbarer Effekt wurde von Antony et al. (1998) ebenfalls nur bei Zwangs-, nicht jedoch bei anderen Angstpatienten beobachtet. f Auch Nelson et al. (1993) fanden in der Posner-Aufgabe nur bei Zwangs-, nicht jedoch bei Kontroll-
gängen wird der Cent solange unter diesem positioniert, bis er korrekt gewählt wurde. Anschließend wird der Cent unter den anderen Napf gelegt und verbleibt dort bis zur korrekten Reaktion. Dieser systematische Wechsel wiederholt sich bis zum Erreichen des Lernkriteriums von 15 aufeinanderfolgenden korrekten Wahlhandlungen. Erfasst wird die Zahl perseverativer Fehler. Solche liegen vor, wenn mindestens 2 aufeinanderfolgende falsche Wahlreaktionen gezeigt wurden. Die Untersuchung ergab signifikante Defizite nur bei Zwangspatienten, während die schizophrenen Patienten nur im WCST eine höhere Rate perseverativer Fehler produzierten. Interpretiert wurden diese Befunde im Sinne einer stärkeren Beteiligung des orbitofrontalen Kortex bei Zwangspatienten, über dessen lateralen Teil die unmittelbare Umstellung zweier Handlungsabfolgen vermittelt wird (»reversal learning«, 7 Abschn. 12.3.1). Dagegen wurden die schlechteren Leistungen der schizophrenen Patienten über die bei dieser Erkrankung bedeutsamere Beteiligung des dorsolateralen Rindenabschnitts interpretiert.
patienten mit anderen psychischen Störungen eine rechtshemisphärisch mediierte Disinhibition. Eine entsprechende Rückführung der kognitiven Disinhibition auf basale Störungen des sensorimotorischen »gatings« wird auch durch das Experiment von Swerdlow et al. (1993) nahegelegt. Wie die Autoren zeigen konnten, reagierten Zwangspatienten (allerdings nur im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen) mit einer verminderten »prepulse inhibition«. Diese Grundstörung könnte die Ursache für die besonders bei negativem (autobiografischem) Material wirksame Unfähigkeit der Unterdrückung intrusiver Gedanken sein (Wilhelm et al. 1996), die sich trotz gelegentlich guter Rekognitionsleistungen in einer signifikant größeren Unsicherheit bzgl. der gezeigten Leistung äußern kann (MacDonald et al. 1997). Emotionshaltiges Material Die systematische
Variation emotionshaltigen Materials stellt einen weiteren neuropsycholgischen Zugang dar. So ver-
225 12.2 · Verhaltensneuropsychologie der Zwangsstörung
glichen Radomsky und Rachman (1999) 10 Zwangsmit 10 Angstpatienten und 20 gesunden Kontrollpersonen und fanden nur bei den Zwangspatienten überlegene Gedächtnisleistungen für bedrohungsassoziierte Stimuli. Demgegenüber weisen äquivalente Gedächtnisleistungen aller Gruppen bzgl. »sauberer« Objekte auf vergleichbare Gedächtniskapazitäten hin. Eine damit möglicherweise im Zusammenhang stehende Unfähigkeit, konkurrierende externale oder internale Stimuli auszublenden, wurde von Clayton et al. (1999) bei Zwangs-, nicht jedoch bei Panikpatienten gefunden. Ein auf den ersten Blick kontraintuitiver emotionsspezifischer Effekt wurde in einer Untersuchung zum konditional-assoziativen Lernen gefunden (Leplow et al. 2002). Durchgeführt wurde das konditional-assoziative Lernen (7 folgende Studienbox), bei dem 2 Sets von Stimuli nach Versuch und Irrtum miteinander in Beziehung gesetzt werden müssen (Petrides 1997). Getestet wurden Zwangs-, Angst- und Schmerzpatienten in Bezug auf die Lernfähigkeit emotional neutralen vs. bedrohlichen Materials. Trotz praktisch gleicher Leistungen beim Lernen bedrohungsassoziierter Substantive zeigten nur die Zwangspatienten schlechtere Leistungen in der Zuordnung neutraler Begriffe. Da sich dieses Muster ebenfalls bei anorektischen Patientinnen fand (Murphy et al. 2002), wurden die Ergebnisse im Zusammenhang mit dem die klinischen Diagnosegruppen übergreifendem Konzept der »Zwangsspektrumsstörungen« (7 Abschn. 12.3.2) interpretiert. Zukünftig wird sich die Prädiktion von Symptomverläufen und Interventionseffekten zu einem weiteren wichtigen Einsatzgebiet neuropsychologischer Verfahren entwickeln. So zeigten Cavedini et al. (2002) mit einem für den ventromedialen Teil des präfrontalen Kortex sensitiven Verfahren, dass in einer pharmakologischen Behandlung schlecht abschneidende Patienten auch einen schlechten Therapieerfolg aufwiesen. Dieser Effekt war bei den zur Kontrolle untersuchten Panikpatienten nicht zu finden. Darüber hinaus war er ebenso wie die Testleistungen unabhängig von den klinischen Charakteristika der Zwangsstörung. Auch in einer eigenen Untersuchung stellte sich heraus, dass sich die weniger stark auf die 9-wöchige stationäre Verhaltenstherapie ansprechenden Zwangspatienten bereits prätherapeutisch durch signifikant schlechtere
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Werte in neuropsychologischen Tests auszeichneten. Sensitiv waren das visuelle Paarassoziationslernen sowie die formale und semantische Wortflüssigkeit (Sieg et al. 1999). Diese Defizite blieben auch nach Abschluss der Verhaltenstherapie erhalten, sodass neuropsychologischen Testergebnissen unter Umständen die Bedeutung von Vulnerabilitätsmarkern zukommen könnte. Das Endophänotypkonzept unterstreicht die Bedeutung neuropsychologischer Auffälligkeiten. Ausgehend von Befunden, denen zufolge bei gesunden Angehörigen 1. Grades die bei Zwangspatenten typischen neuropsychologischen Veränderungen in abgeschwächtem Ausmaß feststellbar waren (Menzies et al. 2007; Chamberlain et al. 2008; Viswanath et al. 2009), gelten spezifische Defizite im Bereich der Exekutivfunktionen wie u. a. der inhibitorischen Kontrolle heute als Indikatoren für die zugrunde liegende, orbiotofrontal-striatale Fehlfunktion. Diese Endophänotypen werden als zustandsunabhängige »trait«-marker gesehen (Rao et al. 2008). Zusammengefasst zeigen die Studien zur Neuropsychologie der Zwangsstörung, dass spezifische Minderungen aus dem Bereich exekutiver und visuokonstruktiver Funktionen v. a. dann auftreten, wenn die Lösungswege bei komplexen, zeitgebundenen Aufgaben internal generiert werden müssen. Durch neuropsychologische Untersuchungen lassen sich sowohl diagnosegruppenspezifische Besonderheiten (7 obige Studienbox) als auch diagnosegruppenübergreifende Gemeinsamkeiten und Reaktionsspezifitäten (7 nachfolgende Studienbox) aufdecken. Des Weiteren könnten neuropsychologische Ergebnisse eine besondere Bedeutung als Vulnerabilitätsmarker für therapeutisch wichtige Untergruppen erlangen, die sich nicht aus der klinischen Symptomatik der Zwangsstörung erkennen lassen. Darüber hinaus werden Schwierigkeiten einer internalen Generierung der für zielgerichtete und erfolgreiche Handlungen erforderlichen Hinweisreize und der selektiven Ausblendung handlungsirrelevanter Stimuli mit funktionellen Veränderungen der Basalganglien und ihrer kortikosubkortikalen Schleifen in Verbindung gebracht. Damit stehen die neuropsychologischen Befunde in weitgehender Übereinstimmung mit den Ergebnissen bildgebender Verfahren.
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Kapitel 12 · Neuropsychologie der Zwangsstörung
Studienbox
Die Metakategorie: Mit neuropsychologischen Verfahren lassen sich Gemeinsamkeiten bei klinisch distinkten Diagnosegruppen aufdecken
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In der eigenen Arbeitsgruppe konnte mit dem konditional-assoziativen Lernen (Petrides 1997) neben einer Diagnosegruppenspezifität auch eine selektive Unspezifität aufgedeckt werden (Leplow et al. 2002; Murphy et al. 2002, 2004). Bei diesem Verfahren müssen Patienten die vom Versuchsleiter zwischen 2 Sets von Stimuli unterschiedlicher Modalitäten nach Zufall gesetzten Assoziationen erlernen. Verwendet wurden 6 praktisch sinnfreie Schattenrisse von Vanderplas und Garvin (1959) und 6 Substantive aus der Wortliste von Baschek et al. (1977), die in Bezug auf ihre Emotionalität, Bedeutungshaltigkeit und Konkretheit überprüft worden sind. Der Untersucher ordnet jedem Begriff nach Zufall genau einen Schattenriss zu. Bei den Lerndurchgängen muss der Patient diese Verbindung nach Versuch und Irrtum erraten. Dazu wird der 1. Begriff zusammen mit einer die 6 Schattenrisse zeigenden Tafel präsentiert. Tippt der Patient auf den korrekten Schattenriss, antwortet der Untersucher mit »ja«. Andernfalls zeigt der Patient solange auf die anderen Schattenrisse, bis die korrekte Zuordnung gefunden wurde. Dann präsentiert der Untersucher ein neues Tableau, auf dem die gleichen Schattenrisse in anderer räumlicher Anordnung zu sehen sind. Daraufhin wird der
12.2.3
Ergebnisse der Bildgebung
Die Ergebnisse bildgebender Verfahren haben mehrheitlich einen Hypermetabolismus in den neuronalen Regelkreisen ergeben, die vom präfrontalen, insbesondere dem orbitofrontalen Kortex zum Neostriatum ziehen (u. a. Breiter et al. 1996; Saxena et al. 1998; vgl. 7 Kap. 6 »Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen« von Braus et al., in diesem Band). Exemplarisch hierfür steht die Untersuchung von Rauch et al. (1994), in der 8 Patienten mit Handlungszwängen aufgefordert wurden, sich während einer PET-(Positronenemissionstomo-
2. Begriff dargeboten und wie bei der ersten Präsentation vorgegangen. Wurden alle 6 Begriffe jeweils 1-mal vorgegeben, ist der 1. Durchgang beendet und der 2. beginnt mit der erneuten Präsentation des 1. Begriffes. Der Versuch wird bis zum Erreichen des Lernkriteriums von 18 aufeinanderfolgenden fehlerfreien Durchgängen oder 120 Präsentationen mit diskontinuierlichen Treffern durchgeführt. Erfasst wird die Anzahl der benötigten Durchgänge. In diesen Untersuchungen wurden sowohl emotional neutrales Material (z. B. »Begriff«) als auch diagnosegruppenspezifisch, aber individuell bedrohliche Substantive verwendet (z. B. Zwang: »Herd«, Angst: »Bus«, Schmerz: »Spannung«, Anorexie: »Waage«, Bulimie: »Kuchen«, Kontrolle: »Stress«). Wie sich zeigte, lernten die Angehörigen aller Diagnosegruppen die emotional bedrohlichen Begriffe mit vergleichbaren, im Normbereich liegenden Raten. Dieses spricht für die prinzipielle Unversehrtheit dorsolateral-präfrontaler Funktionen aller untersuchter Patienten. Zusätzlich aber fanden sich nur bei den Zwangs- und den Anorexiepatientinnen signifikante und auch inhaltlich relevante Verschlechterungen beim Lernen neutralen Materials. Dieses wurde im Sinne des bei Zwangsspektrumsstörungen typischen Übergewichtes des direkten orbitofrontal-striatalen Regelkreises und der damit einhergehenden übermäßigen »error detection« interpretiert, die sich insbesondere bei Material unklarer Emotionalität auswirken sollte.
graphie-)Untersuchung den jeweiligen Stimulus vorzustellen, der die Ritualhandlung auslöst. Im Ergebnis zeigten sich bei diesen Patienten deutliche Hyperaktivitäten in orbitofrontalen Kortexbereichen sowie im rechten Nucleus caudatus, linken Thalamus und linksanterioren Gyrus cinguli. Zentrale Aussagen dieses PET-Befundes von Rauch et al. wurden bei unmedizierten Patienten vielfach belegt (u. a. Baxter et al. 1996; Lucey et al. 1997; McGuire et al. 1994). In einigen Studien fanden sich in diesen Hirnregionen verminderte Aktivitäten (Crespo-Facorro et al. 1999). Eine eher bilaterale Aktivierung der medioorbitofrontalen, lateral-
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frontalen, anterior temporalen und anterior cingulären Regionen zusammen mit einer selektiven Aktivierung des rechten Nucleus caudatus wurde von Breiter et al. (1996) dokumentiert. In einem Fall wurde darüber hinaus ein Hypermetabolismus auch im linksseitigen Hippokampus und ein in Bezug auf die neuropsychologischen Ergebnisse bedeutsamer Hypometabolismus im inferioren Teil des rechten Parietallappens nachgewiesen (McGuire et al. 1994). Bei medizierten Patienten fanden sich dagegen zumeist Unteraktivitäten. Seit diesen frühen Arbeiten hat sich das Bild nicht wesentlich verändert: Bei keiner anderen psychischen Störung fand sich derart konsistent eine die Basalganglien, die orbitofrontalen Cortizes und den Thalamus umfassende Fehlregulation. Dabei wird in Bezug auf den orbitofrontalen Cortex übereinstimmend von einer deutlichen Hyperaktivität k ausgegangen. Bezüglich der Basalganglien ist die Befundlage weniger eindeutig und stark von den Besonderheiten der Patientenauswahl (z. B. einer komorbiden Depression) und der verwendeten Imagingmethode abhängig. Entsprechendes gilt für den Thalamus, das anteriore Cingulum und den Hippokampus sowie bei Provokationsstudien für die Insula (u. a. Aoizerate et al. 2004; Deckersbach et al. 2006). Der Hypermetabolismus bildet sich sowohl nach pharmakologischer Intervention (Rubin et al. 1995) als auch durch verhaltenstherapeutische Psychotherapie wieder zurück (Schwartz et al. 1996; Nakatani et al. 2003). Ferner zeigte sich mithilfe der während des Ablaufs einer impliziten Lernaufgabe durchgeführten PET nur bei den Kontrollpersonen eine bilaterale Aktivierung des unteren Striatums. Bei Zwangspatienten fand sich statt dessen eine bilaterale Aktivierung der medialen Temporalkortizes – ein Umstand, der auf die kompensatorische Übernahme der für implizite (motorische) Prozesse zuständigen subkortikalen Verbindungen durch die auf explizite Abläufe spezialisierten kortikalen Strukturen hinweist (Rauch et al. 1997). Auf diese Weise ließe sich der Verlust der »natürlichen Automatismen« verstehen, die bei der Zwangsstörung nur noch mithilfe hochritualisierter, explizit verbaler Abläufe vollzogen werden können. Zusammenfassend lässt sich aus den Befunden der Bildgebung schließen, dass der orbitofrontale Kortex zwar die kritische Schnittstelle vieler Angst-
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störungen zu sein scheint, die Daten bei Zwangspatienten jedoch offensichtlich sehr viel konsistenter auf eine Überaktivität der vom orbitofrontalen Kortex zum Nucleus caudatus laufenden Schleife weisen. Damit sind auch von dieser Datenquelle her kognitive und behaviorale Veränderungen zu erwarten, die mit dem Aufbau und der Regulation von Verhaltenssequenzen in komplexen sozialen und/oder emotional bedeutsamen Situationen stattfinden. In diesem Zusammenhang kommt den Befunden zu den verhaltenssteuernden Funktionen des Neurotransmitters Serotonin eine besondere Bedeutung zu.
12.2.4
Psychopharmakologie: Die Rolle des serotonergen Systems
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Lange Zeit galt die Zwangsstörung wegen des Fehlens effizienter Psychotherapien mit ihren zentralen Elementen der Expositions- und Reaktionsverhinderung als auch wirksamer Psychopharmaka als ausgesprochen therapieresistent. Anxiolytika hatten sich als nicht hinreichend effizient erwiesen, sodass selektiv auf das serotonerge System wirkende Wiederaufnahmehemmer eingesetzt wurden. Das Prinzip dieser »selective serotonin reuptake inhibitors« (SSRI) besteht in der Blockade eines Inaktivierungsmechanismus, über den der Transmitter dem synaptischen Spalt normalerweise wieder entzogen wird. Im Falle niedermolekularer Neurotransmitter, wie dem aus der Aminosäure Tryptophan synthetisierten Serotonin, wird durch den SSRI die Wiederaufnahme durch die präsynaptische Membran unterbinden und der Transmitter auf diese Weise länger im synaptischen Spalt verfügbar gehalten. Durch diese Wiederaufnahmehemmung kommt es zu einer agonistischen Wirkung des Transmitters. Die heutigen Wiederaufnahmehemmer wirken selektiv, das heißt, sie beeinflussen nur das serotonerge und nicht das noradrenerge oder dopaminerge System. Die therapeutischen Erfolge resultieren daraus, dass sowohl der präfrontale Kortex als auch das Striatum der Basalganglien über eine besonders hohe serotonerge Rezeptordichte verfügen. Dass SSRI und nicht Anxiolytika wirksam sind, passt zu den beschriebenen Besonderheiten des klinischen
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Kapitel 12 · Neuropsychologie der Zwangsstörung
Erscheinungsbildes mit der letztlich unklaren bzw. oft nicht vorhandenen Angstproduktion des Zwangspatienten. Diese zeigen kaum Placeboreaktionen und reagieren im Gegensatz zu nicht zwangsstörungsbezogenen Angstpatienten auch auf eine pharmakologische Angstinduktion nicht mit einer deutlichen Angstreaktion. Serotonin und Verhalten Die Wirksamkeit der
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SSRI darf nicht im Sinne einer unspezifischen »Verschiebung« des Serotonin-»Spiegels« verstanden werden. Die Neurone, die den Neurotransmitter Serotonin verwenden, verfügen im Hirnstamm aller Wirbeltiere über besonders viele Kollaterale und haben von daher eher modulatorische Regulatorals spezifische Verhaltensfunktionen (Baumgarten u. Grozdanovic 1998). Diese Modulation wirkt zum einen phasisch auf die Steuerung repetitiver Handlungen und die Umstellung von Verhaltensplänen und zum anderen tonisch auf die Aufrechterhaltung der Körperposition. Im einzelnen bewirkt die phasisch feuernde Fraktion serotonerger Neurone die Steuerung rhythmischer Abläufe wie dem Lecken, Beißen, Kauen, Kratzen, Gehen und Atmen. Die Aktivität der mehrheitlich tonisch feuernden Neurone ist dagegen mit der Steuerung der Vigilanz im Tag-Nacht-Zyklus assoziiert und mediiert auf diese Weise die motorische Aktivitätslage. Darüber hinaus synchronisiert das Serotonin die Feuerungsraten olivozerebellärer Neurone und ist damit an der temporalen Steuerung motorischer Endhandlungen beteiligt. Die Aufzählung dieser Verhaltensfunktionen weist auf die Bedeutung hin, die eine dysregulierte Serotoninaktivität für die repetetiven Abläufe der Zwangssymptome in ihrer der Aufrechterhaltung der persönlichen Integrität dienenden Funktion haben müssen. Das Serotonin wurde zunächst im Rahmen der Serotonin-Noradrenalin-Hypothese affektiver Störungen, im Zusammenhang mit Suizidhandlungen und selbstverletzenden Verhaltensweisen sowie in Bezug auf so unterschiedliche Funktionen wie die Schmerzkontrolle, die Regulation der Krampfschwelle und den Abbau zu Melatonin in der Epiphyse bekannt. Ferner ist Serotonin mit Gefühlen der Unsicherheit und der Überschätzung potenzieller Gefahren assoziiert (Hollander et al. 1989). Neuere Untersuchungen ergaben darüber hinaus,
dass es die Aktivität der nigrostriatalen und mesolimbischen Dopaminsysteme sowie noradrenerg kontrollierter Verhaltensweisen begrenzt und die GABAerge Aktivität (GABA=Gammaaminobutters äure) erleichtert (Baumgarten u. Grozdanovic 1998). Damit ist es an den Verhaltensklassen der Impuls-, Aggressions- und Stresskontrolle sowie der Affektregulation und der Steuerung der Kooperativität beteiligt. Diese Wirkung des Serotonins erfolgt innerhalb relativ enger Konzentrationsfenster über die Verlängerung von Reaktionslatenzen und die Unterdrückung der Reaktion auf irrelevante Stimuli. So werden die genannten Bereiche der Verhaltenskontrolle letztlich über eine Hemmung inadäquater Handlungsimpulse vermittelt – was somit klinischen Befunden und den Ergebnissen neuropsychologischer Untersuchungen entspricht. Serotoninagonisten können zur Auslösung oder Verschlechterung zwangstypischer Verhaltensweisen führen. Entleerungen der Serotoninspeicher des Vorderhirnes bewirken hingegen Verhaltensmuster, die durch erhöhte Irritabilität, Risikobereitschaft, Affekt- und Stresslabilität sowie aggressive Impulsdurchbrüche gekennzeichnet sind. Diese gegensätzlichen Effekte erhöhter und erniedrigter Serotoninaktivität haben mit zum bipolaren Konzept der »Zwangsspektrumsstörungen« beigetragen (7 Abschn. 12.3.2). Die Pharmakologie der SSRI Die pharmakologi-
sche Wirkung der SSRI beruht beim Zwangspatienten trotz ihrer im Prinzip agonistischen Wirkung im Wesentlichen auf adaptiven Prozessen, durch die eine bessere Feinregulation der infrage kommenden Verhaltensmuster bewirkt wird. Das macht auch verständlich, warum sich die volle Wirkung dieser Pharmaka bei Zwangserkrankungen erst nach einer Latenz von mehreren Wochen entfaltet (Delgado u. Moreno 1998). Dabei wird angenommen, dass in der Frühphase der SSRI-Gabe die Wirkung vermehrt verfügbaren Serotonins an den postsynaptischen Zellen durch präsynaptische Autorezeptoren antagonisiert werde. Erst nach einiger Zeit adaptierten diese der Autoregulation dienenden Rezeptoren und die pharmakologische Wirkung kann etwa von der 3. Woche an einsetzen. Dabei entfalten sie ihre Wirkung vermutlich nicht direkt, sondern über die Auslösung bestimm-
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ter Hormone (ACTH, Renin, Prolaktin) und Neuropeptide (Oxytozin, Vasopressin, Endorphin). Auch wird aus der therapeutischen Wirksamkeit des Serotonins heute nicht mehr auf eine ursächliche Bedeutung dieses Transmitters für die Entstehung der Zwangsstörung geschlossen. Vielmehr wird deren Ursache in einer Fehlregulation von Subregionen des präfrontalen Kortex und der ihnen funktionell zugeordneten Abschnitte des Neostriatums gesehen. Auch wenn die Ursache dieser Dysregulation unbekannt ist, führt sie mit zu einer Fehlregulation des Serotoninsystems. Über eine Beeinflussung dieses Transmittersystems lassen sich die Aktivitätsmuster der frontostriatalen Regelkreise jedoch teilweise korrigieren. Einen indirekten Beleg für dieses Annahmen ergaben sich bei Hollander und Wong (1995), die eine Assoziation zwischen neuropsychologischen Auffälligkeiten (gemessen über den »Trail Making Test B/A«) und der Serotoninsensitivität fanden (gemessen über die Prolaktionreaktion nach Gabe eines Serotoninagonisten). Zusammenfassend passen die Ergebnisse der Serotoninstudien gut zu den Befunden der Verhaltensbeobachtung, der Neuropsychologie und der Bildgebung. So wirkt das Serotonin im Sinne der Feinabstimmung als eine Art Messfühler, der auf unterschiedlich bedrohliche Reize eine adäquat abgestufte Reaktion ermöglicht. Die Fehlregulation beruht darauf, dass bei den Zwangsstörungen die an Serotoninrezeptoren reichen Strukturen der orbitofrontal-striären Regelkreise gestört sind. Über die SSRI kann die Dysregulation des serotonergen Messfühlers zumindest teilweise kompensiert werden. Damit kommt dem Serotonin für die Zwangssymptome vermutlich keine ursächliche Bedeutung zu. Mithilfe dieses Transmitters lassen sich jedoch auch die deregulierten frontostriatalen Regelkreise zumindest teilweise readjustieren.
12.2.5
Neuroanatomie,Elektrophysiologie und Neurochirurgie
Die Untersuchungen hirnanatomischer Auffälligkeiten ergaben sehr uneinheitliche Ergebnisse. So fanden sich sowohl Volumenvergrößerungen als auch Verkleinerungen des orbitofrontalen Cortex, Nucleus caudatus, Putamens, der Amygdala, des
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Cerebellums und der Insel. Darüber hinaus wurden Vergrößerungen der Seitenventrikel, des präfrontalen Cortex, des anterioren Cingulums, des Putamens und des Thalamus gefunden. Zeigte eine Studie eine Verkleinerungen des Hippokampus, so liegt eine Vielzahl von Arbeiten vor, welche keine bedeutsamen Veränderungen in den genannten Strukturen nachweisen konnten (Übersicht bei Kordon et al. 2006). Die vorliegenden EEG-Untersuchungen lassen sich insgesamt im Sinne einer Tendenz zur Hyperreagibilität interpretieren (Miyata et al. 1998). Dieses wurde insbesondere aus verkürzten N200und P300-Latenzen sowie erniedrigten P300-Amplituden geschlossen. Zudem ergaben sich in zwei Arbeiten Hinweise darauf, dass Patienten mit reduzierter N2- und erhöhter P3-Amplitude (Morault et al. 1997) bzw. erniedrigter N2-Amplitude und verkürzten N2- und P3-Latenzen (Morault et al. 1998) bessere therapeutische Ergebnisse aufweisen. Andere Arbeiten weisen vermehrt auf gestörte inhibitorische Funktionen hin (Johannes et al. 2001; Leocani et al. 2001; Sanz et al. 2001). Dieses Ergebnis ließ sich auch mit der Methode der transkranialen Magnetstimulation im Bereich des primären motorischen Kortex verifizieren (Greenberg et al. 2000). Ferner ergaben die Befunde elektrophysiologischer Untersuchungen in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Neuropsychologie und der Bildgebung eine besondere Betroffenheit spezifischer Bereiche des frontotemporalen Kortex und des Hirnstamms (DiRusso et al. 2000). Neurochirurgische Eingriffe stellten einen bereits früh praktizierten Versuch der Einflussnahme auf irreversible Zwangssymptome dar (Jenike 1998). Bevorzugt wurden u. a. präfrontale, transorbitale und anteriore Cingulektomien durchgeführt. Diese Verfahren trennen Faserzüge der in den vorherigen Abschnitten schon mehrfach genannten Strukturen des präfrontalen Kortex zu subkortikalen Gebieten. Von daher muss aufgrund theoretischer Überlegungen eine gewisse Wirksamkeit dieser Operationsmethode erwartet werden. Da diese aber nur bei einer Erfolgsrate von ungefähr 25% zu liegen scheint (Jenike et al. 1991) und die Methode nur bei der etwa 20% starken Gruppe der auf sonstige Therapien nicht ansprechenden Patienten indiziert ist, werden läsionelle Eingriffe trotz verfeinerter Ope-
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Kapitel 12 · Neuropsychologie der Zwangsstörung
rationstechniken stets eine Ausnahme darstellen. Empfohlen werden sie derzeit nur bei absolut therapierefraktären Syndromen schwersten Ausmaßes (Jenike 1998). Vereinzelt belegen an ausgewählten Patienten durchgeführte und auf Thermokoagulationen beruhende selektive Läsionssetzungen (Rosenfeld u. Lloyd 1999) jedoch die Wirksamkeit neurochirurgischer Eingriffe in Bezug auf die Reduktion der Metabolismusraten in den kritischen medialorbitofrontalen Regionen (z. B. Sachdev et al. 2001). Allerdings ist an 16 nach etwa 20 Jahren postoperativ untersuchten Zwangspatienten gezeigt worden, dass die neuropsychologischen Auffälligkeiten trotz unbestreitbarer Verbesserungen der Leitsymptomatik bestehen blieben und sich teilweise verschiedene Formen der Substanzabhängigkeit entwickelten (Irle et al. 1998). Das Persistieren frontalhirnspezifischer Auffälligkeiten wurde auch von Cumming et al. (1995) bestätigt. Im Persönlichkeitsbereich fanden Mindus et al. (1999) allerdings keine relevanten Veränderungen und Nyman et al. (2001) deuten ihre mittels des WCST erhobenen kognitiven Befunde im Sinne der Möglichkeit, dass sich die zwangstypischen Beeinträchtigungen nach erfolgreicher Stereotaxie im Laufe der Jahre allmählich erholen können. Inzwischen wird die Methode der Tiefenhirnstimulation (THS) auch bei Zwangspatienten angewendet (Abelson et al. 2005; Bear et al. 2009; Denys u. Mantione 2009; Troster et al. 2009). Mit dieser Methode wird eine Elektrode in definierte Zielgebiete der für Zwangspatienten kritischen neuronalen Netzwerke eingebracht. Über einen Schrittmacher wird diese individuell stimuliert und so – je nach Lokalisation – die inhibitorische oder exitarische Projektion unterstützt. Im Gegensatz zur läsionellen Neurochirurgie handelt es sich bei der THS um eine reversible Maßnahme, die bei schwersterkrankten, pharmakologisch und psychotherapeutisch nicht therapierbaren Patienten indiziert sein kann. Unklarheit besteht jedoch noch bei der genauen Ziellokalisation. So wurden bereits der Nucleus subthalamicus, der Nucleus accumbens oder die anteriore Capsula interna stimuliert Zusammengefasst lässt sich somit feststellen, dass die Ergebnisse der neurochirurgischen Eingriffe den in den vorherigen Abschnitten referierten Überlegungen entsprechen. Entsprechendes gilt auch
für die neuroanatomischen Befunde – sofern welche identifiziert werden konnten. Auch die EEG-Befunde passen zur Vorstellung einer über Fehlfunktionen des orbitofrontalen Kortex initiierten Störung der inhibitorischen Verhaltenskontrolle.
12.3
Modellbildung
12.3.1
Biologische Grundlagen
Anatomie Aus den über unterschiedliche Daten-
quellen erfassten Ergebnissen lässt sich die zentrale Bedeutung der Basalganglien und des orbitofrontalen Kortex ableiten. Die Kerne der Basalganglien sind über zahlreiche Regelkreise mit dem Kortex verbunden (Alexander et al. 1986; Conradt 1996; Nieuwenhuys et al. 1998). Für die Zwangsstörung ist v. a. eine vom präfrontalen Kortex zu den Basalganglien laufende direkte und indirekte Verbindung von Bedeutung (Saxena et al. 1998). Die direkte Projektion verläuft vom lateral orbitofrontalen Kortex zum ventromedialen Kopfteil des Nucleus caudatus und von dort durch das interne Glied des Globus pallidus und der Substantia nigra pars reticulata über den Thalamus zurück zum präfrontalen Kortex (. Abb. 12.1). Demgegenüber hat die indirekte Projektion ihren Ursprung im dorsolateralen Abschnitt des präfrontalen Kortex. Die Bahnung verläuft zum dorsolateralen Kopfteil des Nucleus caudatus, geht dann über das externe Pallidusglied zunächst zum Nucleus subthalamicus und erst von dort über die Ausgangsstationen der Basalganglien und den Thalamus zurück zum präfrontalen Kortex (Baxter et al. 1996). Physiologie Die Projektionen der direkten und
indirekten Wege folgen einer seriellen Verschaltung von inhibitorischen und exitatorischen Impulsen. So wird die am Eingang des Striatums eintreffende exitatorische Energie zunächst in inhibitorische Aktivität umgesetzt und die inhibitorisch wirkende Ausgangsstation der Basalganglien (Globus pallidus internus und Substantia nigra pars reticulata) abgeschwächt. Dadurch wird die inhibitorische Projektion zum Thalamus gehemmt, sodass der Thalamus stärker aktiv ist und sein zum Kortex führender exitatorischer Weg weiter enthemmt wird. Auf diese
231 12.3 · Modellbildung
12
Verhaltenseffekte Beiden Projektionswegen wer-
. Abb. 12.1. Die Funktion der Basalganglien (sehr stark vereinfacht): der direkte und indirekte Weg. GPi Globus pallidus internus; GPe Globus pallidus externus; STN Nucleus subthalamicus; SNpr Substantia nigra pars reticulata; + exitatorischer Effekt; – inhibitorischer Effekt; (+), (–) abgeschwächter exitatorischer bzw. inhibitorischer Effekt; ++, –– gesteigerter exibitorischer bzw. inhibitorischer Effekt, ______ direkter Weg (exitatorisch), - - - - - - - indirekter Weg (inhibitorisch)
Weise bewirkt der »direkte Weg« eine Aktivierung des Kortex über die kurzzeitige Enthemmung des Thalamus. Den gegenteiligen Effekt hat der indirekte Weg. Dieser nämlich schwächt den aktivierenden Nettoeffekt des direkten Weges ab. So führt der indirekte Weg vom Striatum zunächst inhibitorisch zum Globus pallidus externus. Da dessen Projektion zum Nucleus subthalamicus ebenfalls inhibitorisch ist, wird dessen inhibitorische Projektion gehemmt. Im Ergebnis führt die Hemmung der Hemmung wiederum zu einer Enthemmung, diesmal zu der des Nucleus subthalamicus. Damit wird der vom Nucleus subthalamicus zu den Ausgangsstationen der Basalganglien führende exitatorische Weg nicht mehr genügend gehemmt und seine Grundaktivität steigt weiter an. Auf diese Weise wird der zum Thalamus führende inhibitorische Ausgang der Basalganglien weiter verstärkt und die exitatorische Projektion des direkten Weges abgeschwächt.
den unterscheidbare verhaltenssteuernde Funktionen zugeschrieben. So wird die Aktivität des direkten Weges für die Aufmerksamkeitsfokussierung bei der Durchführung komplexer Verhaltenssequenzen verantwortlich gemacht. Der Aktivität des indirekten Weges wird dagegen eine besondere Bedeutung bei der Modulation des direkten Weges zugeschrieben, sodass der Organismus in die Lage versetzt wird, auf alternative Handlungspläne umzuschalten (Saxena et al. 1998). Bei der Zwangsstörung kommt es zu einem relativen Übergewicht des direkten Weges (Saxena et al. 2001). Aufgrund der relativ verminderten Kapazität des indirekten Weges, kann von einmal gestarteten Verhaltensoder Gedankensequenzen nicht mehr auf adaptive Programme umgeschaltet werden – genau wie es bei der Symptomatik des Zwangspatienten der Fall ist. Verantwortlich könnte hierfür eine fehlerhafte Neurogenese sein (Saxena u. Rauch 2000). Eine effektive, pharmakologische oder verhaltenstherapeutische Therapie scheint daher über eine Stärkung des indirekten Weges erfolgreich zu sein (Saxena et al. 1998). Funktionelle Bedeutung des orbitofrontalen Cortex Zahlreiche Untersuchungen spezifizierten
dieses Bild. Seit langem ist aus elektrophysiologischen Ableitungen bekannt, dass der orbitofrontale Kortex eine wesentlich größere Stimulusspezifität als andere Kortexregionen aufweist (Zald u. Kim 1996). Bei Primaten ließen sich in diesem Kortexbereich darüber hinaus Neurone identifizieren, die spezifisch feuerten, wenn das Ausbleiben von Verstärkungen durch einen visuell dargebotenen Hinweisreiz signalisiert wurde. War derselbe externale Stimulus nicht mit Verstärkerverlust assoziiert, blieben die entsprechenden Neurone inaktiv (Rolls u. Williams 1987). Im Rahmen topischer Projektionen wird das Ergebnis dieser spezifischen, den Verstärkerverlust erkennenden, Signalverarbeitung u. a. an definierte Neurone des Striatums, einen Teil der Basalganglien, weitergeleitet. Dort wird das Verhalten im Rahmen des Go / No-Go-Modus von der Nichtverstärkungssituation auf ein stärker verstärkerorientiertes Verhalten umgeschaltet. Die Basalganglien wiederum dienen u. a. der Modulation und Automatisierung komplexer Verhaltenssequen-
232
12
Kapitel 12 · Neuropsychologie der Zwangsstörung
zen im raum-zeitlichen Zusammenhang. Allgemein ausgedrückt lässt sich die Funktion der Neurone des orbitofrontalen Kortex auch als »error detection« beschreiben. Das bedeutet, dass dessen Neurone im Rahmen einer »mismatch detection« in Anwesenheit solcher Stimuli feuern, wenn »things are ›different than they should be‹ « or »that something is ›wrong‹ « (Schwartz 1998, p. 40). Außerdem wird die Aktivität des orbitofrontalen Cortex mit der Wiedererkennung der für Verhaltensprogramme relevanten Stimuli und der Organisation zielgerichteter Antworten in Verbindung gebracht. Im Einzelnen wird beim orbitofrontalen Cortex noch ein lateraler und ein medialer Abschnitt unterschieden. Der laterale Teil ist v. a. beim »reversal learning«, der »two-choice-alternation« bei verzögerten Alternierungsaufgaben, visuell vermittelten Arbeitsgedächtnisleistungen und bei Go/ No-Go-Aufgaben beteiligt. Der mediale Teil ist dagegen an der Verarbeitung imaginierter, insbesondere aversiver Stimuluskomponenten, der Wiedererkennung gelernter Strafreize, der Löschung gelernter Verhaltensweisen, dem Online-Monitoring und der Fehleridentifikation beteiligt (Zald u. Kim 1996). Dabei kommt dem lateralen Teil des orbitofrontalen Cortex in Bezug auf die Unterdrückung kognitiver Intrusionen eine besondere Bedeutung zu (Chamberlain et al. 2005). Der bei der Zwangsstörung offensichtlich weniger betroffene dorsolateral-präfrontale Cortex dient dahingegen Handlungsregulations- und Entscheidungsprozessen bzgl. kognitiver Basisfunktionen (z. B. Arbeitsgedächtnis, Umstellfähigkeit) in vorrangig solchen Situationen, in denen unabhängig vom emotionalen Charakter der Situation die notwendigen Verhaltensstrategien internal zu generieren sind. Ein genetischer Faktor muss auch bei den unterschiedlichen Zwangsstörungen angenommen werden. So haben Familienangehörige 1. Grades ein bis zu 12-fach erhöhtes Risiko, selbst an einer derartigen Störung zu erkranken. Bei monozygten Zwillingen werden überwiegend Konkordanzraten von bis zu 80% gefunden. Darüber hinaus wird derzeit intensiv die Bedeutung einzelner Chromosomenabschnitte und Kandidatengene untersucht (Überblick: Kordon et al. 2006). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die neurophysiologische Basis der Zwangsstörun-
gen in einer mangelnden Abschwächung des direkten orbitofrontal-neostriatalen Weges durch den indirekten dorsolateral/präfrontal-neostriatalen Weg gesehen wird. Diese mangelhafte Modulation des exitatorischen Weges führt über die Beteiligung des orbitofrontalen Cortex zu Beeinträchtigungen der Handlungsregulation in emotional bedeutsamen Situationen. Durch die vorrangig orbitofrontale Involviertheit kommt es zu den über Hypervigilanz, Hyperreagibilität, Automatismenverlust, Perseveration und Disinhibition handlungsinkompatibler Impulse gesteuerten Symptomen v. a. in persönlich bedeutsamen Situationen, wohingegen sich die Patienten in den für sie als neutral deklarierten Zonen völlig unauffällig verhalten können. Da derartige Zwangssymptome jedoch auch bei einer Reihe anderer Erkrankungen auftreten können, wurde in jüngerer Vergangenheit die Metakategorie der Zwangsspektrumsstörungen entwickelt.
12.3.2
Das Konzept der Zwangsspektrumsstörungen
Schon im Jahre 1938 vermutete Schilder bei psychischen Symptomen, insbesondere den Zwangshandlungen und -gedanken, eine neurologische Grundlage: It is obvious that the organic disease of the central nervous system is an indispensible factor in the genesis of psychic symptoms (Schilder 1938, p. 1397).
Hierbei bezog er sich v. a. auf den Zusammenhang zwischen der in den frühen 1920er-Jahren aufgetretenen Economo-Enzephalitis und den postenzephalitischen Zwangsymptomen. Zu einem ähnlichem Schluss kam Grimshaw (1964), der bei 19,4% von 103 Zwangspatienten aber nur bei 7,6% »nichtzwangsbezogener Neurosen« in der Vorgeschichte eine neurologische Erkrankung fand. In der Folgezeit wurden klinisch ganz unterschiedlich erscheinende Erkrankungbilder aus den Bereichen der Körperschemastörungen (z. B. der Anorexia nervosa), der Impulskontrollstörungen (z. B. Trichotillomanie) und neurologischer Erkrankungen der Basalganglien (z. B. Gilles-de-la-Tourette-Syndrom-
233 12.3 · Modellbildung
Tourette) zur Metakategorie der Zwangsspektrumsstörungen zusammengefasst (Hollander 1998; McElroy et al. 1994; Stein 2000). Gemeinsam ist diesen Erkrankungen der repetitive Charakter einzelner Symptome und die Unfähigkeit, unangemessene Impulse und Verhaltenstendenzen zu unterdrücken. Für eine solche Zusammenfassung sprachen darüber hinaus v. a. die Befunde zur Komorbidität, Bildgebung, Medikamentenwirksamkeit und Neuropsychologie. Eine systematische Komorbidität wurde nicht nur bei den bereits genannten postenzephalitischen Fällen, sondern auch bei verschiedenen fokalen Hirnverletzungen (Berthier et al. 1996) nach milden bis moderaten Schädel-Hirn-Traumen (Coetzer 2004; Berthier et al. 2001) sowie vereinzelten Patienten mit Zustand nach Hirninfarkt (Swoboda u. Jenike 1995), Frontalhirndemenz (Stip 1995), frontal lokalisierten Gliomen (John et al. 1997) und in einigen wenigen Fällen bei der Epilepsie (Kettl u. Marks 1986; Koopowitz u. Berk 1997) beobachtet. Das komorbide Auftreten einer Zwangsstörung wird beim Gilles-de-la-Tourette-Syndrom interkulturell übereinstimmend mit Raten um die 64% angegeben (Kano et al. 1998; Micheli et al. 1995). Bei singulären Ticstörungen liegt die Komorbidität zwischen 16% und 33% (Hebebrand et al. 1997). Komorbiditäten wurden auch bei der Sydenham-Corea (Moore 1996), verschiedenen degenerativen Basalganglienerkrankungen (Rauch u. Savage 1997) wie z. B. der Huntington-Chorea (ca. 50%, Anderson et al. 2001) und bei genetisch belasteten Familienmitgliedern berichtet (DeMarchi u. Mennella 2000; DeMarchi et al. 1998). Bei psychischen Störungen wie den Essstörungen ist eine Lebenszeitprävalenz von 15–37% (Schwalberg et al. 1992; Thiel et al. 1995) und von 18,2% dokumentiert (Lennkh et al. 1998). Bei der Anorexia nervosa wurde eine Rate von 31% identifiziert, die nach einer 6-jährigen Folgeuntersuchung noch bei 20% lag (Rastam et al. 1995). Auch wird eine deutlich erhöhte Rate von Zwangsspektrumsstörungen unter den Angehörigen 1. Grades berichtet (Bellodi et al. 2001). Eine Komorbidität fand sich mit 29% auch bei der körperdysmorphen Störung (Hollander 1998; Phillips et al. 1998), der Hypochondrie (»probably elevated«, Barsky 1992) und der Depersonalisierungsstörung. Gelegentlich
12
wird auch die Pica mit zu den Zwangsspektrumsstörungen gerechnet (Rose et al. 2000; Stein et al. 1996). Generell deutet sich an, dass Angehörige 1. Grades eine erhöhte Belastung mit Symptomen aus dem Bereich der Zwangsspektrumstörungen aufweisen (Bienvenu et al. 2000; Cavallini et al. 2000). Ohne dass die meisten Stichprobengrößen eine Angabe genauer Komorbiditätsraten erlaubten, wurden bei einer Reihe von Impulskontrollstörungen systematische Assoziationen mit Zwangsstörungen vermutet, nämlich bei der Trichotillomanie (O’Sullivan et al. 2000; Stein et al. 1995) und Bingeeating-Störung mit 33–43% (Aragona u. Vella 1998; Matsunaga et al. 1999), beim Kaufrausch mit 66,7% (Christenson et al. 1994), der Kleptomanie (McElroy et al. 1995) und der Spielsucht (Blaszcynski 1999) sowie dem selbstverletzenden Verhalten (Arnold et al. 1998) und den sexuellen Kompulsionen (Hollander u. Wong 1995). Bei der Borderline-Störung (Zimmerman u. Mattia 1999) und der antisozialen Persönlichkeitsstörung (Hollander et al. 1996) scheint der psychopathologische Zusammenhang mit der Zwangsstörung zwar weniger eindeutig zu sein (für die Borderline-Störung: McKay et al. 2000), jedoch sind diese beiden Persönlichkeitsstörungen der Kategorie der Zwangsspektrumsstörungen aufgrund ihrer Impulsivitätskomponente zugeordnet. Die Ergebnisse der Bildgebung ergaben weitere Hinweise auf diagnosegruppenübergreifende Gemeinsamkeiten. Alle genannten Störungen sind durch pathologische Veränderungen der präfrontalen, insbesondere orbitofrontalen Rindenabschnitte und ihrer zugehörigen Regionen im Striatum gekennzeichnet. Da sich diese Veränderungen zum einen durch eine Hyper-, zum anderen durch eine Hypofrontalität auszeichnen und die Metabolismusraten wiederum mit systematischen Unterschieden in der Kompulsivität und Impulsivität einhergehen, wurden die Zwangsspektrumsstörungen auf einer Kompulsivitäts-Impulsivitäts-Dimension angeordnet (Hollander u. Wong 1995). Am Kompulsivitätspol dieser Dimension ist die durch maximale Hyperfrontalität und Risikovermeidung gekennzeichnete Zwangsstörung zu finden, während am Impulsivitätspol die durch ein Maximum an Hypofrontalität und Risikosuche gekennzeichnete antisoziale Persönlichkeitsstörung lokalisiert ist. Dazwischen sind von der Kompulsivität zur Im-
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12
Kapitel 12 · Neuropsychologie der Zwangsstörung
pulsivität gehend die körperdysmorphe Störung, Anorexie, Depersonalitätsstörung und Hypochondrie angeordnet. Im mittleren Bereich der Dimension finden sich die Tourette-Störung sowie die Impulskontrollstörungen und dicht am Impulsivitätspol liegt die Borderline-Störung. Auch die serotonerge Sensibilität unterscheidet die Pole der Kompulsivitäts-Impulsivitäts-Dimension. Wie aus Provokationsstudien und Wirksamkeitsanalysen der SSRI geschlossen wurde, korreliere der kompulsive Pol mit einer serotonergen Hypersensibilität, während der impulsive Pol durch eine verminderte serotonerge Sensibilität gekennzeichnet sei (Hollander u. Wong 1995). Die Assoziation von serotonerger Hypersensitivität mit der rigiden, tendenziell sozial überangepassten, »pseudopsychopathischen« Wesensart des Zwangspatienten wird von Baumgarten und Grozdanovic (1998) allerdings kritisch gesehen. Zwar ist die Wirksamkeit der SSRI bei der Zwangsstörung nachgewiesen, doch signifikante Effekte wurden auch bei der körperdysmorphen Störung, der Hypochondrie, der Depersonalisationsstörung, der Anorexie, Spielsucht, der sexuellen Kompulsivität, dem Kaufrausch und der Borderline-Störung dokumentiert (Black et al. 1997; DeMarchi et al. 2001; Hollander et al. 1994; Saxena et al. 2001). Allerdings scheinen die SSRI an beiden Polen der Zwangsspektrumsstörungen unterschiedlich zu wirken: Am kompulsiven Pol sprechen sie offensichtlich später an, wirken dafür aber dauerhafter, während sie am Impulsivitätspol eine schnellere, dafür aber weniger beständige Wirkung erzielen (Hollander 1998, 1999; Hollander u. Wong 1995). In Bezug auf die Neuropsychologie entsprechen die Befundmuster im Wesentlichen denen der Zwangsstörung, da vorrangig Ausfälle in exekutiven Funktionen und visuokonstruktiven Leistungen sowie verbalen und nonverbalen Gedächtnismaßen festzustellen sind. Dieses trifft insbesondere für die Anorexie zu (z. B. Kingston et al. 1996; Lauer et al. 1999; vgl. 7 Kap. 16 »Neuropsychologie der Essstörungen« von Lauer, in diesem Band). Darüber hinaus scheint es entsprechende Zusammenhänge auch mit der körperdysmorphen Störung (Deckersbach et al. 2000b; Hanes 1998) sowie in Bezug auf die Impulskontrollstörung für den Kaufrausch (Lejoyeux et al. 1996, 1997) und für die Trichotillo-
manie zu geben (Stanley et al. 1997). Für die Spielsucht wird das Konzept der Zwangsstörung kritisch von Blanco et al. (2001) diskutiert. Bezüglich Zwangsstörungen des Kindesalters weist Kurlan (1994) auf die bereits im Kindesalter vorliegende, enge Komorbidität von Tic- und Zwangssymptomen hin. Hier wird die Zwangsstörung des Erwachsenen als Endpunkt einer im Grundschulalter beginnenden neuronalen Pathogenese gesehen, die neben den verschiedenen Tic- auch die Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörungen einschließt. Auf die bei Zwangspatienten vorzufindende erhöhte Rate kindlicher Tic- und Aufmerksamkeitsstörungen weisen auch Hollander et al. (1996) hin. Gegen einen allzu breiten Einschluss zu vieler Erkrankungen gibt es allerdings auch kritische Auffassungen (Fallon et al. 2000). Das gilt insbesondere für den Umstand, dass im Grunde nicht genau angegeben ist, welche Erkrankungen aus welchen Gründen nicht zu diesem bipolaren Konzept passen. Trotzdem kommt dem Modell von »Spektrumsstörungen« ein heuristischer Wert zu, da durch einen diagnoseübergreifenden Blick sowohl die Identifikation basaler Reaktionstendenzen (z. B. spezifischer emotionaler Reagibilitäten, Besonderheiten des Belohnungs- oder Vermeidungslernens etc.) als auch die Entwicklung daran orientierter Interventisonmodule erleichtert wird (Treasure 2006).
12.3.3
Verhaltensneuropsychologische Synopsis
Klinik und Neuropsychologie Die Ergebnisse der
aus den verschiedenen Bereichen berichteten Befunde lassen sich zu einem verhaltensneuropsychologischen Modell der Zwangsstörung integrieren. So ergab die Verhaltensbeobachtung ein relativ angstunabhängiges Syndrom repetitiver Verhaltensund Gedankenabläufe, das durch den kaum kontrollierbaren Durchbruch von Impulsen weniger Reaktionsklassen k gekennzeichnet ist. Die neuropsychologischen Befunde ergaben recht konsistente Defizitmuster vor allem aus den Bereichen der Exekutivfunktionen. Des Weiteren weisen verschiedene Arbeiten auf Schwierigkeiten in der Unterdrückung handlungsirrelevanter Impulse hin. Bei weitgehend unbeeinträchtigten kognitiven Basisfunktionen
235 12.3 · Modellbildung
zeigen die Befunde der Bildgebung vor allem spezifische Veränderungen in den von den orbitofrontalen Kortizes zu den Basalganglien ziehenden Regelkreisen. Weitere kritische Strukturen sind der anteriore Cingulus, der Thalamus und die Amygdala. Mehrheitlich wird von einer Hyperaktivität des »direkten Weges« der kortiko-striatothalamischen Projektion ausgegangen. Diese Ergebnisse passen wiederum zu dem hohen Automatisierungsgrad der bevorzugt in emotional relevanten, persönlichen Lebensumfeldern auftretenden Zwangssymptome. Auch die Beteiligung medioorbitofrontaler und cingulärer Strukturen erklärt die vorrangige Verarbeitung schädigungsrelevanter Hinweisreize in emotionalen Konfliktsituationen mit hoher Fehleranfälligkeit. Dabei genügt beim medialen Teil des orbitofrontalen Kortex die bloße Vorstellung entsprechend konfliktbesetzter Stimuluskomplexe. Serotonin Pharmakopsychologische Untersuchun-
gen des Serotoninsystems haben wiederum gezeigt, dass diesem Transmitter offensichtlich eine Messfühlerfunktion zukommt, die im Falle der Fehlregulation zu einer übermäßigen Generierung von Diskrepanzsignalen zwischen erwarteten und wahrgenommenen, also potenziell schädigenden Stimuli, führt. Da das Serotonin gerade in den orbitofrontal-neostriatalen Regionen besonders stark wirksam ist, wird das durch Hypervigilanz, Hyperreagibilität, Automatismenverlust, Perseveration und Disinhibition handlungsinkompatibler Impulse gekennzeichnete Zwangssyndrom nachvollziehbar. Darüber hinaus führten die hier zusammengefassten Befunde sowie die zunehmenden Kenntnisse über die Verhaltenseffekte der an den Zwangsstörungen beteiligten neurophysiologischen Regelkreise zur Konzeptualisierung der diagnostischen Megakategorie der Zwangsspektrumsstörungen. Das Verhaltens-Hemm-System Im Rahmen eines
Arbeitsmodells lässt sich die referierte Datenlage gut in die »Behavioural Inhibition Theorie« (BIS) von Gray und McNaughton (2000) einordnen. Das gilt zumindest für die psychologische Ebene der Theorie. Danach werde das für Zwangs- und Angsterkrankungen relevante »Verhaltens-Hemm-System« durch konditionierte »Stimuli für Gefahr,
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Bestrafung und Nichtverstärkung«, »angeborene Angststimuli« und »novelty« aktiviert. Die Wahrnehmung derartig bedrohungsassoziierter Stimuli führte zur behavioralen Inhibition, die in einer Erhöhung der Aufmerksamkeit, der Unterbrechung der laufenden Verhaltensprogramme und einer genauen Evaluation der auslösenden Stimuli und des kritischen Situationskomplexes bestehte sowie über den funktionellen Einbezug der physiologischen Angstnetzwerke einen Anstieg des allgemeinen Erregungsniveaus zur Folge habe (. Abb. 12.2). Dabei werde die kritische Situation derart auf die Abwesenheit von Bedrohungssignalen überprüft, dass die Wahrscheinlichkeit einer Identifikation eben dieser, eine mögliche Schädigung signalisierender Hinweisreize steige. Dieses stehe im Einklang mit der postulierten Funktion des Hippokampus als »mismatch-detector«: Durch die Art der Evaluation werde gerade der Typ gefahrenrelevanter Hinweisreize generiert, der das Verhaltens-Hemm-Syndrom initial ausgelöst habe und nun erneut auslöse. Der auf diese Weise geschlossene positive Feedbackkreis stelle für die Betroffenen eine vollständige Verhaltensblockade dar, der nur noch mithilfe besonderer Techniken gelöst werden könne. Diese zeigten sich klinisch als zeitlich begrenzt wirksame behaviorale und/oder kognitive Ritualausübungen, die die Funktion von Sicherheitssignalen erhielt. Da die der Sicherheit dienenden Rituale wegen des überaktiven Verhaltens-Hemm-Systems jedoch vom gleichen Evaluationsprozess begleitet würden wie die das initiale Inhibitionssyndrom auslösenden Stimuli, komme es zur erneuten Generierung eben dieser bedrohungsrelevanten Stimuli. So werde auch das eigentlich der Sicherheitsförderung dienende Ritual genauestens im Hinblick auf das Vorhandensein seiner perfekten Ausübung und dem Nichtvorhandensein kleinster Abweichungen von diesen Perfektionsregeln evaluiert – und damit selbst zur Quelle neuer Rituale. Da Zwangspatienten nach Perfektion und 100%-iger Sicherheit strebten, müssten sich stets Hinweise für zumindest kleine Ungenauigkeiten in der Ritualausübung finden. Das wiederum ziehe die Ausweitung des Sicherheitsrituals nach sich – mit der Folge einer über die Zeit fast endlos wachsenden Zahl von Wiederholungen, ohne dass Angst als motivierende Emotion dabei zwingend notwendig sei.
236
Kapitel 12 · Neuropsychologie der Zwangsstörung
. Abb. 12.2. Das verhaltensneurobiologische Modell von Gray. * Bestrafung mit Eintreten einer negativen Konsequenz, R– Auftretenswahrscheinlichkeit des Verhaltens vermindert, RV Vermeidensverhalten, SΔ diskriminativer Stimulus, der Bestrafung signalisiert, SD diskriminativer Stimulus, der Verstärkung signalisiert
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Zusammenfassung Zwangsstörungen zeichnen sich durch eine Fülle verhaltensneurobiologischer Besonderheiten aus, die sie von anderen Angststörungen unterscheiden und sie statt dessen in die Nähe anderer, den »Zwangsspektrumsstörungen« zugerechneten Erkrankungen rücken. Im Verhalten fallen bei Zwangspatienten die ritualisierten Verhaltens- und Gedankensequenzen als kontrollierbare Intrusionen auf. Darüber hinaus findet sich 6
ein ausgeprägtes »checking«-Verhalten im Hinblick auf die Abwesenheit bedrohungsassoziierter Hinweisreize. Neuropsychologische Befunde ergaben überwiegend Defizite vor allem exekutiver Funktionen. Neben der Schwierigkeit, handlungsirrelevante Intrusionen zu unterdrücken, weisen neurophysiologische Untersuchungen zudem auf funktionelle Veränderungen in den von den orbitofrontalen Kortizes zu den Basalganglien ziehenden
237 12.4 · Literatur
Regelkreisen. Entsprechend ergaben die Ergebnisse der Bildgebung mehrheitlich eine orbitofrontal-neostriatale Hyperaktivität. Selektive Serotonin-reuptake-Hemmer wiederum führen in vielen Fällen durch die Rekalibrierung der serotonergen Messfühlerfunktion zu deutlichen symptomatischen Besserungen. Im Rahmen eines Arbeitsmodells lassen sich Zwangsstörungen im Sinne eines überaktiven VerhaltensHemm-Systems verstehen (Gray u. McNaughton 2000), über das vermehrt Mismatch-Signale registriert werden, die zu einem erheblichen Anteil aus einer übermäßigen Aktivität orbitofrontaler, Bedrohung signalisierender, Neurone resultieren. Die funktionell eingebundenen thalamischen,
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neostriatalen und medioorbitofrontalen Regionen bewirken zusammen mit dem anterioren Cingulus damit eine vermehrte Abfolge impulshaft ausgelöster, automatisiert ablaufender, stereotyper Verhaltenssequenzen – nämlich die zum klinischen Erscheinungsbild der Zwangsstörungen gehörenden Verhaltensmuster. Die Kognitive Verhaltenstherapie mit den Kernelementen der »Expositions- und Reaktionsverhinderung« ist hoch wirksam (Gava et al. 2007; Joensson u. Hougaard 2009). In einigen Fällen wird eine Kombination mit SSRIs erforderlich sein. Darüber hinaus wird bei den ganz schweren, auf diese Behandlungen nicht ansprechenden Syndromen die tiefe Hirnstimulation eine neue Therapieoption darstellen.
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13 13 Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) Kristina Hennig-Fast, Hans-Joachim Markowitsch
13.1 Trauma und PTBS – 242 13.2 Pathogenese der PTBS – 243 13.3 Risikofaktoren und Komorbidität der PTBS
– 244
13.4 Psychobiologie der PTBS – 252 13.4.1 Physiologische Korrelate der PTBS – 252 13.4.2 Ergebnisse aus der Bildgebung bei der PTBS: MRT, PET und SPECT
13.5 Modelle zur Entstehung der PTBS
– 258
13.6 Neurokognition der PTBS – 262 13.7 Ausgewählte kognitive Modelle der PTBS 13.8 Literatur
– 274
– 271
– 254
242
13
Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
Der vorliegende Beitrag behandelt die neuropsychologischen Grundlagen der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Die PTBS ist eine Erkrankung, die sowohl psychische als auch kognitive und emotionale sowie körperliche Veränderungen unterschiedlicher Natur umfasst, die durch ein oder mehrere traumatische Ereignisse ausgelöst werden. Der Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung wurde zwar erst 1980 als nosologische Kategorie in der 3. Ausgabe des Diagnosehandbuches der amerikanischen Psychiatriegesellschaft (DSM-III, Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen) eingeführt, jedoch finden sich bereits in der älteren Literatur eine Vielzahl von teils anekdotischen Berichten über Zustände, die durch traumatische Ereignisse hervorgerufen wurden und denen der PTBS ähneln bzw. mit dieser vergleichbar sind. So finden sich schon in der Antike beim römischen Geschichtsschreiber Plutarch Berichte über Soldaten, bei denen infolge von traumatischen Ereignissen plötzliche Taubstummheit auftrat. Im 19. Jahrhundert wurden wissenschaftliche Untersuchungen zur Hysterie durchgeführt. Bei der Erforschung dieses damals weitverbreiteten Krankheitsbildes kam der französische Neurologe Charcot (1880) zu dem Schluss, dass die hysterischen Symptome psychisch bedingt seien. Bei der weiteren Suche nach den Ursachen dieser Symptome gelangten Janet in Frankreich und Freud in Zusammenarbeit mit Breuer in Wien wenige Zeit später zu der Auffassung, dass Hysterie ein Zustand ist, der speziell durch psychische Traumata verursacht wird (Herman 1992). Während der zwei Weltkriege entwickelten viele Soldaten angesichts von Todesbedrohung und Extremerfahrungen ein Zustandsbild, das als Kriegsneurose bezeichnet wurde. Sog. »Kriegszitterer« zeigten eine Bandbreite physiologischer Reaktionen wie Zittern, Schreien, Weinen, stuporöse Zustände und Gedächtnisverlust (Herman 1992). Als Folge des Vietnamkriegs und unter dem Einfluss der Frauenbewegung in Amerika wurde die PTBS als diagnostische Kategorie in das DSM-III aufgenommen und international verbindlicher Standard für die Diagnosestellung. Innerhalb der diagnostischen Kriterien des DSM wird bislang die neuropsychologische Symptomatik der PTBS ausgespart. Sie soll in diesem Beitrag im Mittelpunkt stehen. Dieser Beitrag ist in folgender Weise gegliedert: Nach der 6
Begriffsklärung von PTBS und Trauma wird die Pathogenese der PTBS dargestellt. Verschiedene Erklärungsansätze zur Ätiologie der PTBS und mögliche Ursachen der PTBS werden diskutiert. Für die Erklärung der Ätiologie einer PTBS ist die Betrachtung verschiedener Risikofaktoren bedeutsam. Differentialdiagnostisch sind symptomatische Überlappungen und das komorbide Auftreten mit anderen psychischen Erkrankungen zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt und werden hier ausführlich behandelt. Die Psychobiologie der PTBS setzt sich aus einer physiologischen Betrachtungsweise und der Darstellung bildgebender Forschungsergebnisse zusammen. Sie ist die Grundlage für das Verständnis der Wechselwirkung von neurobiologischen Veränderungen und behavioraler bzw. kognitiver und emotionaler Symptomatik der PTBS. Physiologische Auswirkungen von Stress werden hinsichtlich ihrer Bedeutung für die emotionale und kognitive Informationsverarbeitung dargestellt. Bei der Betrachtung neurokognitiver Veränderungen fokussiert der Beitrag vor allem auf die Hauptsymptome: Gedächtnisstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen sowie Interaktion von Emotion und Kognition. Am Ende des Beitrags werden therapeutische Ansätze zur Behandlung der PTBS diskutiert.
13.1 Trauma und PTBS Der Begriff »Trauma« (altgr. trauma = Wunde, Schaden) kennzeichnet im klinischen Kontext den Zustand körperlicher und seelischer Veränderungen infolge eines traumatisierenden Ereignisses, einer körperlichen und/oder seelischen Erschütterung. Traumatisierende Ereignisse stellen einen Angriff auf grundlegende Einstellungen und Überzeugungen dar; sie führen zu einem Verlust sowohl des Selbstvertrauens als auch des Fremdvertrauens. Sowohl Gefühle des Verlustes von Eingebundenheit und Identität, des Verlustes von Sicherheit und Geborgenheit als auch Schuldgefühle können auff treten. Im ICD-10 (Dilling et al. 1995, S. 169) wird ein auslösendes »traumatisches Ereignis« als »ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Aus-
243 13.2 · Pathogenese der PTBS
maßes (kurz- oder langanhaltend), die bei fast jeder Person eine tiefe Verstörung hervorrufen würde« definiert. Freud, der den Terminus Trauma ursprünglich als klinische Bezeichnung einführte, definierte hingegen das Trauma selbst als »ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, dass die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normal gewohnter Weise missglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren müssen« (zit. nach Zepf 1986, S. 126). Wie bei Freud wird das Trauma von Laplanche und Pontalis (1972) als ein »Ereignis im Leben des Subjekts,« bezeichnet, »das definiert wird durch seine Intensität, die Unfähigkeit des Subjekts, adäquat darauf zu antworten, die Erschütterung und die dauerhaften pathogenen Wirkungen, die es in der psychischen Organisation hervorruft. Ökonomisch ausgedrückt: Das Trauma ist gekennzeichnet durch ein Anfluten von Reizen, die im Vergleich mit der Toleranz des Subjekts und seiner Fähigkeit, diese Reize psychisch zu bemeistern und zu bearbeiten, exzessiv sind« (Laplanche u. Pontalis 1989, S. 513) Nach Laplanche und Pontalis (1989) kann zwischen chronischer Traumatisierung und singulärer Traumatisierung unterschieden werden. Die Intensität der Reizanflutung ist demnach unabhängig davon, ob es sich nun um ein einziges, sehr stark erregendes Ereignis oder um eine Anhäufung von Reizen (Summation) handelt, von denen jeder einzelne Reiz isoliert erträglich wäre. Saß et al. (1996) definieren das Trauma als Reaktion oder als Folge hoch aversiv bewerteter bedrohlicher Ereignisse, die auf der einen Seite unmittelbar das Wohlergehen und die körperliche Unversehrtheit n der eigenen Person betreffen. Extreme Varianten derartiger Ereignisse sind z. B. die Androhung des Todes oder einer schweren Verletzung. Darüber hinaus können die Auslöser von Traumata in der unmittelbaren Beobachtung oder der Information über Ereignisse bestehen, die das Wohlergehen, die körperliche Unversehrtheit oder das Leben anderer Personen betreffen, und von der beobachtenden bzw. informierten Person als hoch aversiv erlebt werden. Das Miterleben eines unerwarteten oder gewaltsamen Todes oder die Verlet-
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zung einer nahestehenden Person sind Beispiele für diese Ereignisse. Im Weiteren wird der Begriff Trauma für einen bzw. mehrere Reize als Auslöser für eine bestimmte posttraumatische Folgereaktion eingesetzt. Die PTBS ist eine dieser möglichen Folgereaktionen eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse.
13.2 Pathogenese der PTBS Die Aufnahme der PTBS in die diagnostischen Klassifikationssysteme (DSM-III: 1980; ICD-10: 1991) ging mit der Annahme einher, dass ein belastendes Ereignis den primären und ausschlaggebenden Kausalfaktor für die Entwicklung einer PTBS darstellt und das Belastungssyndrom ohne seine Einwirkung nicht entstanden wäre (Ehlers 1999). Die Folgen traumatischer Erlebnisse lassen sich hinsichtlich verschiedener Merkmale klassifizieren: 4 zeitliche Dauer (Persistenz, kurzfristig vs. langfristig) der Folgen, 4 Auswirkungsebene (Emotion, Kognition, Physiologie, Verhalten) und 4 Klassifizierungsebene nach den diagnostischen Manualen DSM-IV (American Psychiatric Association 1994) und ICD-10 (Hiller et al. 1995). Die PTBS kann unabhängig vom Alter üblicherweise symptomatisch zum einen direkt nach einem traumatischen Ereignis auftreten, was den Kriterien der »akuten Belastungsstörung« entspricht. Zum anderen kann sie verzögert beginnen, was nach Ehlers (1999) in 11% aller Fälle eintritt. Es kann zwischen einer vorübergehenden und einer chronischen Form der PTBS unterschieden werden. In 50% aller Fälle bildet sich die PTBS in Spontanremission ohne Behandlung zurück. Bei ca. einem Drittel aller Patienten mit akuter PTBS entwickelt sich ein chronisches Störungsbild (Ehlers 1999). Die Symptomschwere zu Beginn der Störung sowie die Dauer und die Distanz der betroffenen Person zum auslösenden traumatisierenden Ereignis sind von hohem prognostischem Wert für die Chronifizierung der PTBS. Nach Meichenbaum (1994) lässt sich das Antwortverhalten erwachsener Personen auf ein trau-
244
Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
matisches Ereignis in fünf Klassen unterteilen. Die Responsekategorien umfassen demnach: 1. emotionale Reaktionen, wie z. B. Ärger und Schuld, 2. kognitive Veränderungen, wie z. B. antizipierte Hilflosigkeit und Konzentrationsmangel, 3. biologisch-physiologische Störungen, wie z. B. Störungen des Schlafrhythmus, 4. behaviorale Konsequenzen, wie z. B. Vermeidungsverhalten und 5. charakteristischeCoping-Stile, wie z. B. Schuldzuschreibungen.
13.3 Risikofaktoren und
Komorbidität der PTBS Prätraumatische Risikofaktoren, Persönlichkeitsmerkmale als Risikofaktoren Bei der Suche nach
13
Faktoren, die das Antwortverhalten bei traumatischen Ereignissen bestimmen, zeigte sich ein Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und posttraumatischem Stress (Bramsen et al. 2000; Gil 2005; Gil u. Caspi, 2006; Knezevic et al. 2005; Lecic-Tosevski et al. 2003; Schnurr u. Vielhauer 1999; Sutker et al. 1991, 1995). Vermehrte posttraumatische Stresssymptome wurden bei Patienten mit selektiv erhöhten Neurotizismusscores (Breslau et al. 1991; Hyer et al. 1994a) oder auch in Kombination mit erhöhten Introversionsscores (McFarlane 1988a; Fauerbach et al. 2000), sowie bei Patienten mit bedeutsam erhöhten Negativismusscores beschrieben (Bramsen et al. 2000; McFarlane 1988b). Eine reduzierte soziale Anpassungsfähigkeit, ein ängstlich-vermeidender Verarbeitungsstil (Blanchard et al. 1998; Gil 2005; Schnurr et al. 1993; Talbert et al. 1993) und erhöhte Psychotizismuswerten (Hyer et al. 1994b; Schnurr et al. 1993; Bramsen et al. 2000) stellen ebenfalls Risikofaktoren dar. Die Inkonsistenz in den Befunden (Bramsen et al. 2000; Card et al. 1983; Schnurr et al. 1993) lässt sich möglicherweise durch die Unterschiede in den Messinstrumenten oder methodischen Einschränkungen erklären (Knezevic et al. 2005). Einen weiteren Einfluss auf die Ergebnisse scheint ein geschlechterspezifisches Antwortverhalten zu haben, da Frauen offener ihre Ängste, psychischen und sozialen Prob-
leme sowie die ursächlichen Traumata zuzugeben scheinen als Männer (Brewin et al. 2000b). Neben diesen psychischen Faktoren werden zunehmend demografische bzw. familiäre, genetische, biologische und kognitive Risikofaktoren diskutiert. Demografische Risikofaktoren können Alter bei Traumatisierung (Bramsen et al. 2000; Breslau et al. 1998), Geschlecht (Breslau et al. 1998; Elhai et al. 2006; Holbrook et al. 2002), Ethnizität und sozioökonomischer Status (Breslau et al. 1998) sein. So existieren viele Hinweise dafür, dass Frauen einem höheren Risiko für PTBS unterliegen als Männer (Elhai et al. 2006; Holbrook et al. 2002; Kirschbaum et al. 1992, 1999; Wolfe u. Kimerling 1997), und dass jüngere Personen ein höheres Risiko als ältere Personen tragen, eine PTBS zu entwickeln (Bramsen et al. 2000; Breslau et al. 1998). Hinsichtlich des Geschlechtereffektes wird eine Konfundierung mit dem Alter bei Traumatisierung und mit der Art des Traumas diskutiert, da die erhöhte Häufigkeit frühkindlicher Traumata bei Frauen eine höhere Prävalenz der PTBS besser erklärt als der eigentliche Einfluss des Geschlechtes (Brewin et al. 2000b). Noch weniger deutlich sind sozioökonomische Effekte: Sozioökonomisch schwächere Personen unterliegen augenscheinlich einem höheren Traumarisiko als sozioökonomisch stärkere Personen, und Mitglieder ethnischer Minderheiten unterliegen einem höheren Vulnerabilität als ethnische Majoritäten (Frueh et al. 1998; Green et al. 1990; MacDonald et al. 1997; Breslau et al. 1998). Sobald jeodoch begleitende Variablen, wie z. B. Bildungsstatus, Intelligenz, Alter bei Traumatisierung, kontrolliert werden, zeigen sich kein signifikanter Einfluss des Geschlechtes und des sozioökonomischen Status. Eine höhere Vulnerabilität für die Entwicklung einer PTBS könnte mit Unterschieden in der Lerngeschichte und in der sozialen Einbindung erklärt werden, die schließlich in Differenzen der verfügbaren Copingressourcen resultieren (Breslau et al. 1998; Carver et al. 1989; Lazarus u. Folkman 1991; Koopman et al. 1994; Shalev et al. 1996). Ungünstige soziale und familiäre Entwicklungsbedingungen scheinen Einflussfaktoren bei einer PTBS-Entwicklung zu sein. So geht eine geringe familiäre Stabilität mit einer höheren Prävalenz der PTBS einher (Andrews et al. 1990; King et al. 1996), während eine
245 13.3 · Risikofaktoren und Komorbidität der PTBS
gefestigte soziale Unterstützung zu einer selteneren Symptomentwicklung führt (Solomon 1988). In diesem Kontext stellt der Zeitpunkt der Stressexposition nach Bremner et al. (1993; Bremner 2002a) ein wesentliches Kriterium für die Entwicklung einer PTBS dar. Stressoren, die in der Ontogenese früh auftreten, werden als besonders wirksame Einflussfaktoren beschrieben. Auch körperliche und physiologische Unterschiede zum Zeitpunkt der Traumatisierung (Alters- und Lerneffekte) sowie grundsätzliche intraindividuelle Unterschiede in der Stressantwort können Vulnerabilitätsunterschiede aufklären (Geschlechtseffekte, genetische und biologische Prädisposition). Genetische und biologische Risikofaktoren Als eine mögliche neurobiologische Erklärung für Unterschiede in der PTBS-Entwicklung wird eine prätraumatisch bestehende neuronale Fehlentwicklung angenommen, die als Indikator für zugrunde liegende nervöse Dysfunktionen angesehen werden kann (Gurvits et al. 2000). Die Bedeutung genetischer Risikofaktoren für neuronale Unterschiede ließ sich vor allem durch Untersuchungen von eineiigen gegenüber zweieiigen Zwillingen zeigen, die eine genetische Aufklärung von ca. 30% berichten (True et al. 1993). Noch überzeugender ist das Ergebnis einer Untersuchung von Gilbertson et al. (2002). Die Autoren konnten zeigen, dass bei 24 von 70 eineiigen Zwillingspaaren der kriegsexponierte Zwilling als Folge seines Vietnamkriegseinsatzes eine schwere PTBS entwickelte. Bei den 46 anderen Zwillingspaaren, bei denen ebenfalls jeweils eine Person im Vietnamkrieg war, zeigte sich keine PTBS-Entwicklung bei der exponierten Person. Bedeutsam war, dass bei den 24 Zwillingen mit PTBS beide, sowohl der exponierte als auch der nicht exponierte, im Mittel kleinere Hippocampi aufwiesen als die 46 Zwillingspärchen ohne PTBS. Darüber hinaus stellte sich der Schweregrad der PTBS als negativ korreliert mit der Größe des Hippocampus beider Zwillinge, also sowohl der betroffenen als auch der nicht betroffenen Person, dar. Die Ergebnisse veranlassen zu der Annahme, dass die genetisch determinierte Hippocampusgröße ein Risiko für die Ausbildung einer PTBS darstellt. Auch Befunde aus der Tierforschung und aus Angstkonditionierungsexperimenten beim Men-
13
schen weisen darauf hin, dass anlagebedingte volumenreduzierte Hippocampi mit einer stärkeren Furchtreaktion und erhöhten Cortisolspiegeln einhergehen (z. B. Cohen et al. 2000, 2006; Tiefenbacher et al. 2000). Ergebnisse, die zeigen, dass Holocaustüberlebende mit PTBS häufiger Eltern und weitere Angehörige ersten Grades mit affektiven Störungen, Angststörungen und Substanzmissbrauch aufweisen als Holocaustüberlebende ohne PTBS, lassen sich in gleicher Weise interpretieren (z. B. Davidson et al. 1985). Derartige Befunde hinterfragen bisherige Annahmen, dass die Stress- oder Traumaexposition an sich eine schädigende toxische Wirkung hat und in Folge zu strukturellen Veränderungen im Gehirn führt, sondern legen nahe, dass vorab genetisch determinierte strukturelle oder auch funktionelle neuronale Variationen zu einer gestörten Informationsverarbeitung und mangelhaften Adapation an Umweltbedingungen führen können. Demgegenüber stehen widersprüchliche Ergebnisse aus Studien, die zeigen, dass das Hippocampusvolumen nicht unabdingbar mit einer PTBS-Entwicklung zusammenhängt (Golier et al. 2005; Winter u. Irle 2004; im Überlick bei Smith 2005). In Einklang damit scheinen sich chronisch unkontrollierbarer Stress oder extrem instabilisierende traumatische Erfahrungen (ohne PTBS-Entwicklung) schädigend auf Hirnfunktionen auszuwirken (z. B. Elzinga et al. 2003; Seckl u. Meaney 2006; Yehuda 2005). Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA) Auch eine Dysfunktion der
Hypothalamus-Hypophysen-NebennierenrindenAchse (HHNA) wird als eine mögliche Ursache für die Entwicklung einer PTBS und der dazugehörigen Gedächtnisstörungen postuliert (Elzinga u. Bremner 2002; Gilbertson et al. 2001; Schelling 2002). Wie bei allen Risikofaktoren stellt sich jedoch auch hier die Frage nach der Ursächlichkeit, denn jede Abnormalität kann sowohl eine schon prätraumatisch existierende Vulnerabilität für die Entwicklung einer PTBS als auch eine akute traumatische Veränderung darstellen (Yehuda 1998, 2009). So stellen erhöhte Norepinephrinwerte (Pitman 1987) und verlängerte Katecholaminreaktionen (Shalev et al. 1998) beispielsweise neurochemische Korrelate der Gedächtnisfunktionen bei einer PTBS
246
Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
dar. Nach Yehuda et al. (1996) ist eine erhöhte Rezeptorsensitivität für Glukokortikoide begleitet mit niedrigen Kortisolwerten symptomatisch für die PTBS. Kinder von Holocaustüberlebenden mit einer PTBS weisen jedoch ebenfalls niedrigere Kortisolwerte als Kinder von Eltern ohne PTBS auf (Yehuda et al. 1998).
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Kognitive Risikofaktoren Auch kognitive Prädispositionen können angenommen werden. So zeigte sich, dass niedrige IQ-Werte ein Risikofaktor für die Entwicklung einer PTBS sein könnten (Macklin et al. 1998; Pitman et al. 1991). Umgekehrt wirkt sich ein traumatisches Geschehen im frühen Lebensalter jedoch ebenfalls auf die weitere Intelligenzentwicklung aus (z. B. Perez u. Widom 1994). Ein vergleichbarer Zusammenhang wird von Cahill (1997) für explizite Gedächtnisfunktionen und PTBS beschrieben. Als Folge einer Vielzahl von Untersuchungen geht man derzeit davon aus, dass ein traumatisches Erlebnis zwar implizit enkodiert und abgespeichert wird, jedoch nur mangelhaft explizit weiterverarbeitet wird. Die Symptome einer PTBS, wie intrusives Wiedererleben (Flashbacks) oder dissoziative Amnesien, scheinen vor allem auf diese Trennung in der Informationsverarbeitung, des impliziten und expliziten Traumagedächtnisses, zurückzugehen (s. a. van der Kolk u. Fisler 1995; van der Kolk et al. 1997; von Hinckeldey u. Fischer 2000; Wessa u. Flor 2002). Folglich könnte die Ausbildung einer PTBS vor allem auf die mangelnde Einbindung des traumatischen Erlebens in das explizite Gedächtnissystem zurückführbar sein. Da der Hippocampus für die Abspeicherung von expliziten und assoziativen Gedächtnisinhalten eine zentrale Rolle spielt (z. B. Nyberg 2005, Piefke u. Fink 2005), lassen sich diese Befunde sehr gut mit den Ergebnissen aus der Bildgebungsforschung zusammen führen: Veränderte Hippocampusvolumina und -funktionen führen zu einer mangelhaften Integration traumatischer Erlebnisse in das explizite Gedächtnis und zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einer PTBS-Ausbildung. Peritraumatische Risikofaktoren Grundsätzlich entscheidend wirkt sich sicherlich die Art (z. B. Intensität und Frequenz) des Stressors bzw. des traumatischen Ereignisses auf die Verarbeitung aus (McFarlane 2004; Gil u. Caspi 2006, . Tab. 13.2).
Nach Koopman et al. (1994) stellt die peritraumatische (griech. peri- =um das Trauma herum) Dissoziation einen wichtigen Risikofaktor des PTBS dar (7 Abschn. Dissoziative Störungen). Shalev et al. (1998) zeigten in einer prospektiven Studie, dass peritraumatische dissoziative Symptome 30% der Varianz innerhalb der posttraumatischen Entwicklung aufklären. In anderen Untersuchungen (Bremner et al. 1992) ergaben sich hohe Skalenwerte für dissoziative Symptome bei Patienten mit PTBS. Es wird diskutiert, dass die Dissoziation eine Möglichkeit darstellt, Informationsanteile einer traumatischen Erfahrung zu organisieren (Marmar et al. 1994; Putnam 1989, 1997; Spiegel u. Cardena 1991; Walter et al. 1996). Die Dissoziation kann in drei unterschiedlichen, dennoch interdependenten mentalen Ausprägungen vorliegen (van der Hart et al. 1998; van der Kolk et al. 1996): 1. primäre Dissoziation (Unfähigkeit, die Ganzheit dessen, was sich ereignet, in das Bewusstsein zu integrieren; sensorische und emotionale Elemente des Ereignisses können nicht in das persönliche Gedächtnis und die Identität integriert werden; die Erfahrung ist gesplittet in isolierte, somatosensorische Elemente ohne Integration in ein persönliches Narrativ), 2. sekundäre Dissoziation (Verlassen des Körpers im Moment der Traumatisierung, aus einer Distanz das Geschehen beobachten, »peritraumatische Dissoziation«) und 3. tertiäre Dissoziation (Entwicklung unterschiedlicher Ich-Zustände, die traumatische Erinnerungen beinhalten, dissoziative Identitätsstörung). Als kritische Faktoren für peritraumatische Dissoziation werden u. a. angesehen: 4 Alter, 4 Grad oder Ausmaß der Exposition während des traumatischen Ereignisses, 4 subjektiv wahrgenommene Bedrohung, 4 generelle psychische Regulationsmechanismen, 4 Grad der Identitätsformation, 4 individueller Ehrgeiz und Vorsicht, 4 external wahrgenommene Kontrolle, 4 Flucht- und Vermeidungsverhalten sowie 4 emotionale Selbstkontrollmechanismen (Marmar et al. 1994, 1995).
247 13.3 · Risikofaktoren und Komorbidität der PTBS
Posttraumatische Risikofaktoren Eine wesentliche Rolle spielt neben den prä- und peritraumatischen Risikofaktoren die posttraumatische Verarbeitungsweise (Henning-Fast et al. 2009). So zeigte sich, dass zum Beispiel Scham als Verarbeitungsstil nach einer frühen Missbrauchserfahrung mit einer späteren PTBS-Wahrscheinlichkeit kovariiert (Andrews et al. 2000a; 7 Abschn. Persönlichkeitsmerkmale als Risikofaktoren oder Demografische Risikofaktoren).
Komorbidität Obwohl Konsens darüber besteht, dass die Entwicklung einer PTBS in einem bedeutsamen Zusammenhang zum Erleben eines traumatischen Ereignisses steht (Breslau et al. 1998; Creamer et al. 2001; Kessler et al. 1995), ist die PTBS nicht die einzige psychiatrisch relevante Folgeerkrankung nach einer Traumaexposition. So zeigten z. B. Breslau et al. (1991), dass ca. 83% der PTBSPatienten eine weitere komorbide psychische Erkrankung aufwiesen (im Vergleich zu 44% Patienten ohne PTBS). Im National Cormobid Survey werden beispielsweise Komorbiditätsraten bei Männern und Frauen von ca. 80% und mehr angegeben (Kessler et al. 1995). Die majore Depression scheint dabei eines der am häufigsten komorbid auftretenden Syndrome zu sein (7 Kap. 11 Neuropsychologie affektiver Störungen von Beblo, in diesem Band; Breslau et al. 1991, 2000; Davidson et al. 1991; Green et al. 1992; Helzer et al. 1987; Keane u. Wolfe 1990; Kessler et al. 1995; McFarlane u. Papa 1992; Neria u. Bromet 2000). In Übereinstimmung mit früheren Studien bestätigte eine Studie von O’Donnell et al. (2004), dass eine vor dem Trauma bestehende majore Depression das Risiko eine PTBS zu entwickeln deutlich erhöht (Breslau et al. 1991; Bromet et al. 1998; Connor u. Davidson 1997). Eine bestehende Depression scheint zudem das Risiko, einem traumatischen Ereignis ausgesetzt oder stresserzeugenden Lebensereignissen exponiert zu sein, zu erhöhen (Breslau et al. 1997; Kendler et al. 1999). Umgekehrt erhöht eine bestehende PTBS das Risiko erstmalig eine majore Depression auszubilden (Breslau et al. 1997; Kessler et al. 1995). Diese Zusammenhänge unterstützen die Hypothese, dass beide Erkrankungen durch ein gemeinsames diathetisches Vulnerabiliätsmodell zu erklären sind (Breslau et al. 1997,
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2000). Übereinstimmend wird deshalb in vielen Forschergruppen davon ausgegangen, dass Persönlichkeitsvariablen und demografische Variablen eine kritische Rolle in der Entwicklung beider Erkrankungen spielen. Insgesamt entwickelt jedoch nur eine Minderheit von Personen infolge eines Traumas oder einer Stressexposition eine PTBS oder Depression (Breslau et al. 1998; Carlson u. Rosser-Hogan 1991; Kendler et al. 2002; Yehuda u. McFarlane 1995). O’Donnell et al. (2004) konnten in ihrer Arbeit zeigen, dass ein Teil der PTBS durch eine zusätzliche depressive Symptomatik charakterisierbar ist, die Depression jedoch auch unabhängig von der PTBS als Folge eines Traumas auftreten kann (Davidson et al. 1991). In ihrer Untersuchung zeigte sich eine Schnittmenge hinsichtlich aufklärender Faktoren zwischen PTBS ohne Depression und PTBS mit Depression (s. a. Grieger 2005; Grieger et al. 2006). Diese Befunde sprechen eher für ein gemeinsames Vulnerabilitätsmodell, in dem depressive Symptome nach einem Trauma eher integraler Bestandteil einer PTBS sind. Eine Depression kann in den ersten Monaten nach einem Trauma zunächst als eine seperate diagnostische Entität auftreten. Eine diagnostische Trennung beider Erkrankungen wird posttraumatisch bei Chronifizierung der Symptome zunehmend unmöglich. Borderline Persönlichkeitsstörung Die Aufnah-
me der PTBS und der Borderline Persönlichkeitsstörung (BPS) in das DSM als Achse-I und AchseII-Störungen legt nahe, dass beide Erkrankungen unabhängig voneinander sind. Konzeptuell wurde bei der BPS lange davon ausgegangen, dass es sich um eine stabile, lang andauernde Erkrankung handelt, deren Ursprung in der Adoleszenz oder frühen Kindheit liegt, und die durch ein Zusammenwirken multipler Faktoren erklärt werden muss. Im Gegensatz dazu wird die PTBS als eine Erkrankung angesehen, die sich nach einer Traumaexposition entwickelt und durch verschiedene spezifische Symptomcluster beschreiben lässt (z. B. intrusive/ hyperaktive und betäubend/vermeidende Symptome), die jedoch reversibel oder fluktuierend sind (7 Kap. 19 Neuropsychologie der Borderlinestörung von Beblo und Mensebach, in diesem Band).
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13
Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
Dennoch weisen eine Vielzahl von Studien auf eine erhöhte Komorbiditätsrate von PTBS und BPS hin, zwischen 30% in nicht-klinischen Stichproben, bis zu 68% in klinischen Stichproben (Hidalgo u. Davidson 2000; McGlashan et al. 2000; Shea et al. 1999; Swartz et al. 1990; Zanarini et al. 1998). Ätiologische Gemeinsamkeiten beider Störungsbilder, wie z. B. das Vorliegen von Kindheitstraumata oder sexueller Missbrauch in der Kindheit, vergleichbare Komorbiditätsraten mit Achse-I-Störungen und Symptomüberlappungen zwischen PTBS und BPS (z. B. emotionale Instabilität, kognitiv-perzeptuelle Beeinträchtigungen und interpersonelle Dysfunktionalität) stützen darüber hinaus die Annahme, dass es sich möglicherweise um eine gemeinsame diagnostische Entität handeln könnte (Rowan et al. 1994; Ogata et al. 1990; Zanarini u. Frankenburg 1997). Darüber hinaus stellt sich nicht nur die BPS, sondern auch die PTBS als eine Langzeitstörung dar (Kessler et al. 1995; Gunderson u. Zanarini 1987; Zlotnick et al. 1999). Hinweise für einen Abbau der BPS-Symptomatik im Therapieverlauf stellen die kategoriale Unterscheidung, wie sie bislang in den diagnostischen Manualen vorgenommen wurde, zunehmend infrage (Zanarini et al. 2005). Wenige Studien haben sich bislang mit der Unterscheidung beider Störungsbilder beschäftigt (Driessen et al. 2004; Heffernan u. Cloitre 2000; Zlotnick et al. 2002, 2003). Obwohl sie aufgrund ihrer Stichprobengrößen sicherlich nur vorsichtige Schlussfolgerungen zulassen, legen sie keine additiven oder anderweitig steigernden Effekte auf die Symptomausprägung durch eine Komorbidität von BPS und PTBS nahe. Erhöhte Werte fanden sich ausschließlich für Scores bezgl. Ärger/Angst, Dissoziation und interpersonelle Dysfunktion in der komorbiden Gruppe verglichen mit unitärer PTBS (Heffernan u. Cloitre 2000). Eine bildgebende Untersuchung weist auf eine mögliche Unterscheidung in der neuronalfunktionellen Verarbeitung autobiografischer traumatischer Erinnerungen bei BPS-Patienten mit und ohne PTBS hin (Driessen et al. 2004). Angststörungen Der Zusammenhang zwischen
PTBS und sozialer Phobie wurde vor allem bei Veteranen des Vietnamkrieges untersucht. Es zeigten sich erhöhte Angstwerte, die im Verlauf der PTBS zunahmen (Escobar et al. 1983; Hofmann et al.
2003; Kulka et al. 1990; Orsillo et al. 1996; Roszell et al. 1991). Darüber hinaus scheint eine zusätzliche depressive Symptomatik den Zusammenhang zwischen sozialen Ängsten und PTBS zu modulieren (Hofmann et al. 2003). Prätraumatisch bestehende Angststörungen oder ein ängstlicher Verarbeitungsstil erhöhen grundsätzlich die Wahrscheinlichkeit eine PTBS in Folge einer Traumatisierung zu entwickeln (z. B. Bernstein et al. 2005). Dissoziative Störungen Grundsätzlich stellt die »Dissoziation« (lat. dissociatio = Auflösung, Trennung, Zerfall, Gegenteil von Assoziation, Auflösung eines Bewusstseinszusammenhanges) zunächst einen gesunden strategischen Abwehrmechanismus im Leben der meisten Menschen dar. Wenn hingegen die Dissoziation eine Ausprägung oder Frequenz erfährt, die ein Individuum auf klinisch bedeutsame Weise in verschiedenen Lebensund Funktionsbereichen einschränkt, kann eine Dissoziation gemäß der Definition im DSM-IV als »Störung oder Veränderung in den normalerweise einheitlichen Funktionen von Identität, Gedächtnis und Bewusstsein verstanden werden«. Diese Störung »kann plötzlich oder allmählich auftreten, vorübergehend oder chronisch sein« (Saß et al. 1996, S. 543). Als dissoziativ können demnach sowohl normalpsychologische Prozesse, wie sie z. B. in Übermüdungs- und Stresssituationen auftreten können, als auch Trancezustände, die bewusst intendiert werden, sowie psychopathologische Phänomene bezeichnet werden. Jedoch auch in der Ausprägungsvarianz der Dissoziationsneigung bei Gesunden zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen Dissoziation und kognitiver Informationsverarbeitung (Amrhein et al. 2008). Aus psychopathologischer Perspektive bezeichnet die Dissoziation eine krankhafte Entwicklung, in deren Verlauf zusammengehörige Denk-, Handlungs- oder Verhaltensabläufe »zerfallen« und der Kontrolle der betroffenen Person entzogen werden. Unter Dissoziation lässt sich ein komplexer psychophysiologischer Prozess verstehen, der durch eine teilweise oder völlige Desintegration psychischer Funktionen gekennzeichnet ist. Die psychopathologische Dissoziation manifestiert sich in verschiedenen psychoformen und somatoformen Sympto-
249 13.3 · Risikofaktoren und Komorbidität der PTBS
men. Beide Kategorien beinhalten positive sowie negative Symptome. Negative Symptome manifestieren sich in der mangelhaften Integration von verschiedenen dissoziativen Systemen, die aber prinzipiell für das Individuum zugänglich sind. Negative psychoforme Symptome können durch Depersonalisation (Ich-Erlebensstörung, Veränderung der Selbstwahrnehmung), Derealisation (Umwelt-Erlebensstörung, Personen, Gegenstände und Umgebung erscheinen unwirklich, fremdartig oder auch räumlich verändert), dissoziative Fugue (Annahme einer neuen Identität und die Unfähigkeit, sich die vorhergehende Identität ins Gedächtnis zu rufen) und dissoziative Amnesie (plötzliche Unfähigkeit, wichtige, persönliche Informationen zu erinnern, die nicht durch organische Ursachen begründet ist) beschrieben werden. Positive psychoforme Symptome treten beim Abruf dieser Systeme in Form des Wiedererlebens traumatischer Inhalte blitzartig auf (in Form von Gedanken, Bildern, Gefühlen, Stimmenhören und im Traum). Diese Formen des Zugangs können nicht oder nur mangelhaft in das Bewusstsein integriert werden. Beispiele für negative somatoforme dissoziative Symptome sind der Ausfall einer oder mehrerer sensorischer Modalitäten und motorische Inhibition, wie Paralysen, visuelle Störungen, wie z. B. der Tunnelblick (Gesichtsfeldeinengung), visuelle Unschärfen, akustische Taubheit und sensorische Taubheit für verschiedene Körperteile. Positive somatoforme dissoziative Symptome sind Schmerz, sexuelle Sinneseindrücke, aber auch beobachtbares Verhalten, wie Erstarren, Flucht und Unterwerfung im Zusammenhang mit dem Wiedererleben eines traumatischen Ereignisses. Die Ursache dissoziativer Identitätsstörungen ist im Wesentlichen im Zusammenspiel zweier Faktoren zu sehen. Zum einen bedarf es einer psychobiologischen Fähigkeit zur Dissoziation; zum anderen muss eine schwere, wiederholte oder lang anhaltende Traumatisierung hinzukommen, die es erforderlich macht, diese Fähigkeit und den dazugehörigen veränderten Bewusstseinszustand gezielt zu nutzen (Eckhardt u. Hoffmann 1997). Die Dissoziation besitzt nach van der Kolk und Fisler (1995) die Funktion, traumatische Erfahrungen zu fragmentieren, zu derealisieren und zu depersonalisieren. Akute dissoziative Reaktionen
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während eines traumatischen Geschehens scheinen ein Indikator für die spätere Entwicklung einer PTBS zu sein (Koopman et al. 1994; Marmar et al. 1998; Shalev et al. 1996). Kritische Einflussfaktoren für das Erleben solcher peritraumatischer Dissoziationen sind z. B. das Ausmaß der Exposition während des traumatischen Ereignisses, die Dauer der Traumatisierung, die subjektiv wahrgenommene Bedrohung, generelle psychische Regulationsmechanismen, die external wahrgenommene Kontrolle, soziale Unterstützung, Flucht- und Vermeidungsverhalten sowie emotionale Selbstkontrollmechanismen (Marmar et al. 1999; Marshall et al. 2002). Von van der Kolks Annahmen ausgehend können negative Emotionen wegen fehlender Einbettung in einen Gesamtkontext und dem mangelhaften Zugriff auf elaborierte Informationen nicht durch neue Lernprozesse wiederlegt werden (Dunmore et al. 1999, 2001). So ist ein strategischer Schutzmechanismus bei Patienten mit PTBS das posttraumatische Vermeiden traumaspezifischer externaler und internaler Auslösereize (entspricht einem operanten Lernprozess). Oftmals stellt jedoch schon eine unspezifische Erregung einen internalen Auslöser für ein flaschbackartiges Wiedererleben dar. Um der Angst vor einem möglichen Wiedererleben zu entgehen, kann das semantisch-narrative Beschreiben des Traumas hilfreich sein, das die bildhaften Fragmente der Ereignisses exkludiert und gemäß des Modells der dualen Repräsentation von Brewin, Dalgleish und Joseph (1996) zu interpretieren ist (7 Abschn. 13.7). Unter den auch als Konversionsstörungen bezeichneten dissoziativen Störungen werden u. a. die dissoziative Fugue, die dissoziative Amnesie und die multiple Persönlichkeitsstörung bzw. dissoziative Identitätsstörung zusammengefasst (Fujiwara u. Markowitsch 2003). Das vorherrschende Bild der dissoziativen Fugue ist ein plötzliches und unerwartetes Verlassen des Wohnortes oder des gewohnten Arbeitsplatzes, verbunden mit der Unfähigkeit, sich an die eigene Vergangenheit oder den Grund für das Verlassen zu erinnern (Markowitsch 1999). Der Erinnerungsverlust geht oftmals mit einer Verunsicherung der eigenen Identität bzw. mit deren Verlust einher, seltener auch mit der bedingten Annahme
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Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
einer neuen Identität (Markowitsch 1999, 2002; Markowitsch et al. 1997). Das Störungsbild der dissoziativen Amnesie ist von der dissoziativen Fugue abgrenzbar und umfasst nach DSM-IV (American Psychiatric Association 1994) keinen vollständigen Identitätsverlust, sondern ist durch eine oder mehrere Episoden bestimmt, in denen die betroffene Person unfähig ist, sich an wichtige, zumeist traumatische oder belastende, persönliche Informationen zu erinnern. Die Erinnerungsdefizite sind dabei zu umfassend, um durch eine normale Vergesslichkeit erklärt zu werden. Die von ersteren Störungsbildern abgrenzbare dissoziative Identitätsstörung (»Dissociative Identity Disorder«, DID) ist durch die Existenz zweier oder multipler distinkter Identitäten bzw. Persönlichkeitszustände (American Psychiatric Association 1994) gekennzeichnet. Diese Identitäten sind zumeist füreinander amnestisch und besitzen distinkte Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen sowie Erinnerungen, wobei die betroffene Person wechselweise von einer der multiplen Identitäten kontrolliert wird. Der Beginn dieser Störung wird auch hier oftmals durch traumatische Ereignisse eingeleitet. Die Gedächtnisdefizite bei dissoziativen Störungen sind im Vergleich zu neurologisch bedingten Gedächtnisdefiziten relativ selektiv und liegen – bei Erhalt der Fähigkeit, neue Informationen zu speichern – zumeist im Bereich des autobiografischen Altgedächtnisses. Unterscheidung von dissoziativen Störungen und PTBS Im Unterschied zu den eher neurobiologi-
schen Erklärungsmodellen der PTBS finden sich im Bereich der dissoziativen Störungen vermehrt psychodynamische Erklärungsmodelle für die bestehenden Gedächtnisdefizite. So nimmt z. B. Oakley (1999) in seinem Modell zu den als autosuggestiv bezeichneten Erkrankungen an, dass eine Ähnlichkeit zwischen den Symptomen dissoziativer Erkrankungen und den durch hypnotische Vorgänge hervorgerufenen Symptomen bestehen (Fujiwara u. Markowitsch 2003). Spiegel (1991) schlägt vor, dass dissoziative Phänomene aus fehlangepassten Verarbeitungsstilen vor allem infolge von Kindheitstraumata oder von ontogentisch früh auftretendem chronischem Stress
resultieren. Als solche könnten sie den Zusammenhang zwischen früherer Traumatisierung und später ansteigender Vulnerabilität für PTBS erklären. Die Dissoziation kann sowohl basale kognitive Funktionen, wie unmittelbare Empfindungen, als auch hoch komplexe kognitive Leistungen, wie das Erinnern der Vergangenheit und das Bewusstsein der eigenen Identität, betreffen (Bremner u. Vermetten 2001; Kardiner 1941). Kognitionspsychologische Erklärungsansätze
Kognitionspsychologisch wird unter Dissoziation ein erlernter Mechanismus, der sich in der Entwicklung neuronaler Strukturen niederschlägt, verstanden. Es wird davon ausgegangen, dass es organisierende und koordinierende Schaltstellen im Gedächtnissystem gibt, die angeregt oder gehemmt werden (Fujiwara u. Markowitsch 2003; Markowitsch 2002; Markowitsch et al. 1999). Affekterinnerung und Erinnerung-Erinnerungs-Verbindungsstellen werden demnach in Form eines Turn-on/ turn-offf Mechanismus entkoppelt. Für die Veränderungen in der Inhibition oder Exitation scheinen der Hippocampus, der mesiale Frontallappen und der orbitofrontale Kortex von Bedeutung zu sein (s. a. 7 Abschn. 1.4.2). Van der Kolk (1997) beschreibt die aus der perzeptuellen Organisation der traumatischen Erlebnisse resultierenden Gedächtnisleistungen als mangelhaft eingebettete sensorische, implizite Gedächtnisfragmente in ein Narrativ (s. a. 7 Abschn. 13.6 und 13.8). Die expliziten, deklarativen Anteile der autobiografischen Erinnerung sind inhibiert. Für die Erinnerungsverarbeitung bedeutet dies, dass nichtdeklarative, implizite Inhalte in deklarative, explizite Inhalte übersetzt werden müssen. Dies erfordert u. a. die Rekonstruktion der Erinnerungen, was zu Verfälschungen und evozierten Narrativen führen kann (»false memory syndrome«). Klassische Konditionierungsprozesse werden als Grundlage dissoziativer Lernprozesse angesehen. Entgegen der Annahme, dass die Reduktion des konditionierten Antwortverhaltens eine Extinktion der Assoziation zwischen unkonditioniertem Stimulus (UCS) und konditioniertem Stimulus (CS) bewirkt, zeigt sich bei der PTBS, dass die Verbindung zwischen UCS und CS scheinbar nicht gelöscht werden kann, sondern ausschließlich inhibiert wird
251 13.3 · Risikofaktoren und Komorbidität der PTBS
(Bouton 1994, 2001). Operante Konditionierungsprozesse dienen der Aufrechterhaltung der Symptomatik (2-Faktoren-Modell, Mowrer 1951). Neurobiologische Erklärungsansätze Aus neuro-
biologischer Perspektive betrachtet, könnten bei dissoziativen Symptomen integrative Funktionen eines Individuums durch die Ausschüttung neurochemischer Substanzen, insbesondere im Hippocampus und präfrontalem Kortex, verändert werden (Ludwig et al. 1972; Siegel 1999). Das Ausmaß, in dem diese Substanzen wie Glutamat, Norepinephrine, Epinephrine, Glukokortikoide, endogene Opiate und andere (McGaugh 1990; McGaugh et al. 2000) hemmend oder verstärkend wirken, scheint von ihrer Konzentration abhängig zu sein. Die der Dissoziation zugrunde liegenden neurobiologischen und neuropharmakologischen Mechanismen ähneln denen der Angstentstehung. Wie von Southwick et al. (1993) beschrieben, können z. B. durch Gabe von Yohimibin (ein α-adrenerger Rezeptorantagonist) intrusives Wiedererleben (Flashbacks) bei Patienten mit PTBS ausgelöst werden. Sowohl die Veränderungen der Yohimibinkonzentration als auch die Gabe von Betablockern und von anderen nicht sedierenden Medikamenten könnte in der Akutbehandlung von Traumata möglicherweise der Modulierung des Erregungsniveaus dienen, damit zu einer Reduktion der subjektiv wahrgenommen Gefahr führen und folglich die Wahrscheinlichkeit einer Dissoziation reduzieren. PTBS in der Neuropsychotraumatologie. Während die Psychotraumatologie sich vorwiegend mit den psychischen und psychosomatischen Folgen eines traumatischen Ereignisses befasst, liegt der Schwerpunkt der Neuropsychotraumatologie in der Diagnose und Behandlung psychischer und psychosomatischer Folgen von Schädel-Hirn-Verletzungen und Schleudertraumen. Das Auftreten psychischer Traumatisierungen infolge von Unfallereignissen und operativer Eingriffe wurde bislang im deutschsprachigen Raum nur unzureichend beachtet (s. a. Butler et al. 1999; Maercker et al. 2006; Schelling et al. 2006). Im deutschsprachigen Raum wurden erste Zahlen von Frommberger (1998) und von Schnyder (2000) vorgelegt. Bei Opfern von schwerwiegenden Unfällen muss demnach von einer Prävalenz einer
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PTBS zwischen 5% und 30% ausgegangen werden. Besonders schwere Traumatisierungen, wie z. B. Verbrennungsunfälle, zeigen eine höhere Prävalenz bis ca. 40% der Unfallpatienten (Perry et al. 1992). Zum Verständnis der stark schwankenden Prävalenzangaben muss auf die unterschiedlichen Stichprobengrössen bzgl. Art des Unfalls und des Traumaschweregrades hingewiesen werden. Auch wurden in den verschiedenen Untersuchungen unterschiedliche Diagnosekriterien angewandt. Eine weitere Einflussgröße ist der Nachuntersuchungszeitraum nach dem Unfall, der von 1–5 Jahren reicht. In Studien zur PTBS infolge von Verkehrsunfällen konnten diverse Faktoren ermittelt werden, die sowohl im Zusammenhang mit der Entstehung von PTBS, als auch mit deren chronischem Verlauf stehen. Unbehandelt stellt die psychische Dimension des Hirntraumas häufig einen chronifizierenden Faktor dar, der das gleichzeitig vorhandene Schmerzsyndrom und die kognitiven Störungen deutlich verstärkt. Als chronisch wird eine PTBS definiert, wenn Patienten länger als ein Jahr nach dem Verkehrsunfall PTBS-Symptome zeigen. Mit dem »National Comorbidity Survey« (Kessler et al. 1995) konnte z. B. nachgewiesen werden, dass 40% der Patienten, die ursprünglich das DSM-Kriterium für eine PTBS erfüllt hatten, auch nach 6 Jahren noch unter PTBS litten. Mayou et al. (1997) konnten zeigen, dass 10% der Patienten, die über 5 Jahre nach dem Unfall an PTBS litten, unmittelbar nach dem Verkehrsunfall über emotionale Belastungen und ein Wiedererleben der traumatischen Situation klagten sowie anhaltende medizinische Beschwerden hatten. Personen mit chronischer PTBS unterscheiden sich von anderen Unfallpatienten hinsichtlich emotionaler Reaktionen nach dem Unfall, dem sozialen Funktionsniveau sowie der Lebenszufriedenheit in den ersten 3 Monaten nach dem Verkehrsunfall und der subjektiv eingeschätzten Wahrscheinlichkeit, ihr Funktionsniveau vor dem Trauma wieder zu erreichen (Ehlers et al. 1998). Diese Ergebnisse verweisen auf einen möglichen Zusammenhang von subjektiver Verarbeitung und der Chronifizierung der PTBS nach einem Autounfall.
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Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
13.4
Psychobiologie der PTBS
13.4.1
Physiologische Korrelate der PTBS
Stress entsteht in der Auseinandersetzung einer Person mit ihrer Umwelt als Reaktion auf ein Übermaß an seelischer und körperlicher Anforderungen, indem sich der Organismus in erhöhter Alarmbereitschaft befindet, um sich dabei auf eine erhöhte Leistungsbereitschaft einzustellen (Tausch 1996). Selye (1956, S. 54) definiert Stress als »alles, was auf den Körper einwirkt und eine Aktivierungsreaktion hervorruft bzw. eine unspezifische vegetative Reaktion des Organismus auf jede Anforderung«. Selyes Definition betrifft v. a. physiologischen Stress (z. B. Kälte, Hitze), der zu vorübergehenden Gedächtnisstörungen, wie transienter globaler Amnesie, führen kann (Markowitsch 1999). Biologische Stressachsen Die beiden wichtigsten
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biologischen Stressachsen sind demnach das sympathomedulläre System sowie die HypothalamusHypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA). Beim sympathomedullären System vermittelt der Sympathikus die Stimulation des Nebennierenmarks über die Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin. Innerhalb der HHNA stimulieren der Kortikotropin-Freisetzungsfaktor (»corticotropin-releasing factor«, CRF) und das adrenokortikotrope Hormon (»adrenocorticotropic hormone«, ACTH) die Freisetzung von Kortikoiden (v. a. das Kortikotropin freisetzende Hormon [corticotropinreleasing hormone, CRH] und Kortisol) aus der Nebennierenrinde, die rückwirkend die CRH- und ACTH-Ausschüttung wiederum inhibiert. Mögliche Messmethoden sind die Bestimmung von Katecholaminen und deren Metabolite im Blut und Urin oder der Kortisolkonzentration in Blut, Urin und Speichel. Durch eine radioimmunologische Hormonbestimmung kann die stressbedingte hormonelle Veränderung gemessen werden (von Faber u. Haid 1995). Die Rolle von Stress bei der PTBS Langfristige
neurophysiologische und biochemische Korrelate des PTBS sind z. B. eine unspezifische Erregung des sympathischen Nervensystems, eine Reduktion der
kortikalen evozierten Potenziale bei Präsentation neutraler Stimuli und eine abnorme Schlafphysiologie (Einschlaff und Durchschlafstörungen). Neuroendokrinologische Veränderungen spiegeln sich in einer erhöhten noradrenergen Aktivität, einer Unterfunktion der HHNA und einer Dysregulation des endogenen Opioidsystems wider. Übereinstimmend fanden sich in Untersuchungen von Yehuda et al. (z. B. Yehuda 2005; Yehuda et al. 2005) bei Menschen infolge von entwicklungsbezogen früher Traumatisierung Veränderungen der HHNA. Erstens zeigte sich, dass PTBS-Patienten geringere Kortisolkonzentrationen im Plasma und im Urin aufwiesen als Patienten mit anderen psychiatrischen Erkrankungen (die in der Regel erhöhte Kortisolkonzentrationen hatten). Zweitens erwies sich die Glukokortikoidrezeptorzahl auf den Lymphozyten als bedeutsam erhöht. Die Erhöhung hing offensichtlich mit der Symptomausprägung der PTBS zusammen. Drittens zeigte auch der sog. Dexamethasontest eindeutig niedrigere Kortisolplasmakonzentrationen im Vergleich zu Gesunden. Diese Befundlage scheint PTBS-spezifisch zu sein, so ergab sich kein Zusammenhang mit dem Vorliegen einer komorbiden Depression. Ergänzend zu diesem Ergebnis zeigte sich, dass Personen nach aktueller Traumatisierung ausschließlich dann erhöhte Kortisolwerte aufwiesen, wenn eine erstmalige Traumatisierung vorlag, nicht hingegen wenn die Betroffenen bereits zuvor traumaexponiert waren. Einige tierexperimentelle Befunde unterstützen die Annahme, dass chronischer Stess zu einem niedrigen Kortisolspiegel im Plasma führt (Charney et al. 1993). Gleichzeitig zeigen andere tierexperimentelle Untersuchungen, dass akuter Stress zu einer kurzzeitigen Expressionsreduktion von Glukokortikoidrezeptors (Gr)-RNA und Mineralokortikoidrezeptor (Mr)-RNA im Hippocampus führt. Die Mr-RNA blieb nur dann dauerhaft erniedrigt, wenn die Tiere nach ausgedehnter und vielfacher Stressexposition eine Hypersensitiviät der HHNA aufwiesen (Liberzon et al. 1999). Der biologische Sinn dieser Hypersensitivität könnte in der erhöhten Reagibilität des Individuums auf erneute Stressreize liegen, da diese zu einer effektiveren Vermeidung von Stressoren oder zum Einsatz von Coping-Mechanismen führen kann. So
253 13.4 · Psychobiologie der PTBS
vermuten Driessen et al. (2002), dass bestimmte neuroendokrine Muster mit spezifischen Copingstilen in Zusammenhang gebracht werden könnten (s. a. Hennig-Fast et al. 2009). Beispielhaft nennen sie einen möglichen Zusammenhang zwischen passiv-vermeidendem Copingstil und niedrigen Kortisolspiegeln und aktiv-vermeidendem Stil und erhöhten Kortisolspiegeln. Möglicherweise besteht auch ein Zusammenhang zwischen Kortisolkonzentration und Hippocampusfunktion. Erste Erklärungsmodelle gingen davon aus, dass kurz- und langfristige veränderte Kortisolkonzentrationen möglicherweise zu Hippocampusschädigungen führen (z. B. Bremner 1999, 2001) und dass Mehrfachtraumata (oder andere prätraumatische Marker) zu erhöhten hormonellen Stressreaktionen bei Retraumatisierung führen (im Vergleich zu nicht vorbelasteten Personen; Bremner et al. 1993; Heim et al. 2000). Alternative Annahmen gehen jedoch vielmehr von einer neuronalen und physiologischen Prädisposition aus (Yehuda 2009; 7 Abschn. 13.3). Wegweisend war die schon in 7 Abschn. 13.3 beschriebene Arbeit von Gilbertson et al. (2002). Die Untersuchung an 70 Zwillingen weist darauf hin, dass anlagedefinierte volumengeminderte Hippocampi ein genetisch bedingtes Risiko für die Ausbildung einer PTBS widerspiegeln. Konditionierungsexperimente mit Mäusen und Affen zeigten, dass verkleinerte Hippocampi zudem zu besonders hohen Furchtreaktionen mit parallel erhöhten Kortisolspiegeln führten (Teicher et al. 2006). Auf neurophysiologischer Ebene konnten Cahill und McGaugh (1998) in ihren Untersuchungen belegen, dass die Ausschüttung von Adrenalin und Kortikosteroiden, die Beteiligung des sympathischen Nervensystems und des Amygdaloidkomplexes für die stabile Verankerung hoch emotionaler Inhalte im Gedächtnis verantwortlich sind. Entgegengesetzte Effekte zeigten sich hingegen bei chronischem intensiven Stress, begleitet von hohen Kortisolwerten und einer Volumenreduktion des Hippocampus (Bremner et al. 1995, 1997; Rauch et al. 1996; Tsai et al. 1999) bzw. einer Funktionsreduktion des Hippocampus (Metcalfe u. Jacobs 1998, 2000). Bonne et al. (2001) kamen in ihrer prospektiven Studie allerdings zu dem Ergebnis, dass ein reduziertes hippocampales Volumen kein notwendiger
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Risikofaktor für die Entwicklung einer PTBS ist und ausschließlich bei Individuen mit chronischem und schwerem PTBS zu finden ist. Dem entgegen gehen Winter und Irle (2004) davon aus, dass auch schon einfache Traumata zu einer Hippocampusminderung führen können (ohne PTBS-Entwicklung). Die Ergebnisse lassen dennoch den Schluss zu, dass eine anlagebedingte Volumenminderung im Hippocampus ein genetisches Risiko für die Entwicklung einer PTBS darstellt. Angst, eine häufige Reaktion bei traumatischen Ereignissen oder in bedrohlichen Situationen, führt zu einer Aktivierung der HNNA. Die Stimulation des Hypothalamus über thalamische, limibische Schaltkreise oder über den Locus Ceruleus, aktiviert eine Stressreaktion (Nutt u. Malizia 2004). Diese zeigt sich in der Ausschüttung von Kortikotropinen und anderen neuroendokrinen Mediatoren. Die assoziative Verknüpfung von emotionalen und somatischen Informationen im Gedächtnis wird vor allem durch serotonerge und norepiphrenerge Transmitterveränderungen moduliert. Diese Veränderungen werden insbesondere durch die aminerge Transmission über verschiedene Kernstrukturen, wie z. B. dem Locus Ceruleus gesteuert (. Abb. 13.1). Der mesiale präfrontale Kortex moduliert bei der Angstreaktion offenbar die kognitive »TopDown«- Kontrolle und wird als wesentliche Steuerregion bei der Stresshabituation angenommen, indem er die limibische Aktivität moduliert. Dieser Kontrollmechanismus scheint jedoch bei der PTBS beeinträchtigt zu sein. Chronischer Stress oder ein zu großes akutes Ansteigen von Stress könnte zu einem Zusammenbruch dieses Regulationssystems führen, was in unmodifizierter gesteigerter limbischer Aktivität und übersteigerten behavioralen Reaktionen zum Ausdruck kommt. Gemäß dieser Annahme einer Dysregulation, entsteht Angst dann, wenn die Aktivierung der amygdalaassoziierten emotionalen neuronalen Schaltkreise (»Bottomup«-Verarbeitung) im Vergleich zu der präfrontalen Aktivierung überwiegt. Auf der Verhaltensebene zeigen PTBS-Patienten darüber hinaus eine verlangsamte Extinktion einer zuvor konditionierten Angstreaktion, was als ein Beleg für diese Dysfunktion interpretiert werden könnte (Orr et al. 2000).
254
Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
. Abb. 13.1. Neuronale Schaltkreise der Stressverarbeitung. (Nach Nutt u. Malizia 2004)
13 13.4.2
Ergebnisse aus der Bildgebung bei der PTBS: MRT, PET und SPECT
Strukturelle Bildgebungsstudien fokussieren vor allem auf den Zusammenhang von PTBS und dem Verlust grauer Hirnsubstanz. Belege für Volumenänderungen bei der PTBS könnten entweder für eine Folgeschädigung nach einem neurotoxischen Zustand sprechen, oder aber könnten auch auf einen prädisponierenden Faktor für die Entwicklung einer PTBS hinweisen. Die meisten quantitativen volumetrischen Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT)-Studien bei der PTBS weisen auf ein reduziertes Hippocampusvolumen hin. So zeigten Geuze et al. (2005) in einer Übersichtsarbeit zur MR-basierten Hippocampusvolumetrie, in die sie
14 Einzelstudien einschlossen, dass sowohl Volumenminderungen als auch unbedeutende Masseunterschiede zwischen PTBS-Patienten und Gesunden zu finden waren. Die Ergebnisse sind also nicht einheitlich. So zeigte sich in einer Untersuchung mit Kindern, die eine PTBS hatten, kein Hinweis für eine Hippocampusreduktion und in anderen Untersuchungen mit traumatisierten Personen, die entweder eine PTBS entwickelten oder auch nicht, in keiner der Subgruppen eine Volumenminderung des Hippocampus in dem Zeitraum von 6 Monaten (Bonne et al. 2001). In der Mehrzahl der Studien zur Hippocampusvolumetrie (z. B. Bremner et al. 2003, De Bellis et al. 2001; Gurvits et al. 1996) zeigten sich jedoch Hinweise für eine neuronale Degeneration. So beschreiben z. B. Freeman et al. (1998) in einer Untersu-
255 13.4 · Psychobiologie der PTBS
chung mit Magnet-Resonanz-Spektroskopie (MRS) einen rechtshemisphärischen hippocampalen Neuronenverlust (s. a. Villarreal et al. 2002). Neben dem Hippocampus wurde eine Anzahl weiterer Hirnstrukturen in Zusammenhang mit der PTBS untersucht, wie z. B. die parahippocampale Region, der Thalamus, die Amygdala, der präfrontale mesiale und anteriore cinguläre Kortex, der orbitofrontale Kortex, der subkallosale Gyrus, der inferiore frontale Kortex (in Übersicht bei Francati et al. 2006; Tanev 2003). In der Amygdala fanden sich bislang nur vereinzelt Hinweise für strukturelle Veränderungen (meta-analytische Veränderungen: Karl et al. 2006; keine Veränderungen: z. B. De Bellis et al. 2001, 2002; Fennema-Notestine et al. 2002; Gurvits et al. 1996). In funktionellen Bildgebungsstudien zeigte sich mit Hilfe von Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und funktioneller Magnet-Resonsanztomographie (fMRT) eine Vielzahl von Aktivierungsänderungen bei der PTBS in Abhängigkeit von Messmethode, Stimulusmaterialen und Stichprobe (Übersicht von Liberzon u. Sripada 2008; Francati et al. 2007; . Tab. 13.1). In der zusammenfassenden Analyse der Studien finden sich verschiedene Hinweise für veränderte kortikale Netzwerke bei der PTBS, die eine Grundlage für die Entwicklung neurobiologischer Modelle der PTBS darstellen könnten. Unabhängig von der Methode, ob PET, fMRT oder SPECT (Single Photon Emission Computed Tompographie) fand sich ein starker Hinweis zum einen für eine reduzierte präfrontale Aktivierung und zum anderen für eine erhöhte Amygdalaaktivitiät (z. B. Driessen et al. 2004; Hendler et al. 2003; Liberzon et al. 1999; Protopopescu et al. 2005; Rauch et al. 2000; Semple et al. 2000; Shin et al. 1997a,b, 1999, 2004, 2005). Vier Studien konnten eine unmittelbare Interaktion zwischen beiden Arealen bei der PTBS aufzeigen: Eine Reduktion des mesialen präfrontalen Metabolismus ist von einer gleichzeitigen Hyperaktivierung der Amygdala begleitet (Driessen et al. 2004; Semple et al. 2000; Shin et al. 2004, 2005). In SPECTUntersuchungen fanden sich widersprüchliche Befunde, die sowohl auf Reduktionen in der Rezeptorbindung von Benzodiazepinen (Bremner et al. 2000) als auch auf unveränderte Rezeptoraffinitäten im mesialen präfrontalen Kortex hinweisen (Fujita et al.
13
2004). Die Veränderungen in der Rezeptorbindung könnten an der PTBS-Entwicklung beteiligt sein und eine Grundlage für Angstentstehung und fehlende Löschung der Angst sein (Rauch et al. 2006). Der mesiale präfrontale Kortex (mPFC) stellt eine kritische Region in der reziproken »Feedback«Schleife zum limbischen System dar. Mit einer negativen Rückmeldung könnte er inhibierend bzw. regulierend auf die Amygdalaaktivierung vor allem während emotional erregenden, angstauslösenden Situationen wirken. Umgekehrt führt eine fehlende »Top-down«-Kontrolle durch den mPFC zu einer gesteigerten und ungefilterten Amygdalaaktivierung (z. B. Liberzon u. Sripada 2009; Quirk u. Beer 2006; Rauch et al. 2006; Tamminga 2006). Dennoch gibt es auch zu diesen Annahmen widersprüchliche Befunde, wie z. B. das Ergebnis von Gilboa et al. (2004), die von einem parallelen Anstieg der Aktivierungen in Amygdala und mPFC berichten. Andere Studien berichten gar von fehlender Amygdalaaktivierung bei der PTBS (z. B. Britton et al. 2005; Yang et al. 2004). Die Befunde könnten sich durch Unterschiede in Stimulusmaterialien und in den Reaktionen der PTBS-Patienten erklären lassen: Bei besonders starken emotionalen Triggern kann es beispielsweise zu einer dissoziativen Reaktion bei den Betroffenen kommen, die sich vor allem in einer stark gesteigerten mPFC Aktivierung widerspiegelt. Verbal hoch strukturierte Stimuli könnten hingegen eine distanzierte, verbale Verarbeitung unterstützen, bei der die Amygdala nicht involviert ist. Die von Gilboa et al. (2004) berichtete parallele Aktivierung der beiden Areale könnte einen Copingversuch zur Angstreduktion reflektieren. Inkonsistente Befunde ergaben sich darüber hinaus vor allem hinsichtlich der Aktivierung des Hippocampus und der angrenzenden parahippokampalen Regionen. Die parahippokampalen Areale stellen eine wesentliche Verbindungsregion zwischen neokortikalen Regionen und Hippocampus über afferente sowie efferente Verbindungen dar. Somit sind Aktivierungen im Hippocampus und seinen angrenzenden parahippocampalen Umgebungsregionen miteinander verknüpft. In den meisten der Untersuchungen fand sich eine Abnahme der Hippocampusaktivierung bei einer Zunahme der Aktivierungen der
256
Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
. Tab. 13.1. Ausgewählte regionale Aktivierungsänderungen in PET -und fMRTT Untersuchungen bei PTBS. (Nach Francati et al. 2007)
Study
Jahr
Parameter
Regionen
Hippokampus
Parahippokampus
Amygdala
mPFC/-ACC
=
↓
Britton et al.
2005
rCBF
Shin et al.
2004
rCBF
↑
Bremner et al.
2003
rCBF
↓L
Bremner et al.
2003
rCBF
↓L
Semple et al.
2000
rCBF
↑
Bremner et al.
1999a
rCBF
↑
↓
Bremner et al.
1999b
rCBF
↑
↓
↓
Shin et al.
1999
rCBF
↑
↓
↑
Shin et al.
1997b
rCBF
Bremner et al.
1997
GMB
=
↓
Semple et al.
1996
rCBF
Semple et al.
1993
rCBF
↓R
Thalamus
↑ ↓
↓ ↓
↑
↓
↓ ↓
=
=
=
= ↑ ↓
FMRI
13
mPFC/OFC/
Shin et al.
2005
BOLD
↑
↓
Protopopescu et al.
2005
BOLD
↑
Yang et al.
2004
BOLD
↑
=
Driessen et al.
2004
BOLD
↑
↑
Lanius et al.
2004
BOLD
Hendler et al.
2003
BOLD
Lanius et al.
2003
BOLD
↓
↓
↓
Lanius et al.
2002
BOLD
↓
↑
=
Shin et al.
2001
BOLD
↑
↓
↑
Lanius et al.
2001
BOLD
=
↓
Rauch et al.
2000
BOLD
↑
=
↓ ↓ ↓
↑
↑
↓
↓
Diese Tabelle illustriert die Aktivitätsunterschiede in ausgewählten Regionen bei PTBS. mPFC/ACC: mesialer präfrontaler Kortex/ anteriorer cingulärer Kortex; OFC: orbitofrontaler Kortex; rCBF: regionaler cerebraler Blutfluss; BOLD: BlutOxygen-Level-dependentes Signal; GMB: Glukosemetabolismus; ↑: Aktivierungsanstieg; ↓: Abnahme ; = keine Veränderungen ; R: rechts ; L: links
257 13.4 · Psychobiologie der PTBS
parahippocampalen Areale (im Überblick: Francati et al. 2006, s. a. Werner et al. 2009a). Die kritische Rolle des Hippocampus für die Konsolidierung neu erworbener Erinnerungen macht diese Struktur so interessant für die PTBSForschung, da sich hippocampusbasierte Gedächtnisfunktionen (s. z. B. Bremner et al. 1993, 1995b) bei der PTBS als defizitär erwiesen. In der funktionellen Bildgebung fanden sich widerstreitende Ergebnisse bezüglich der Hippocampusaktivierungen bei der PTBS. In drei PET-Studien zeigte sich übereinstimmend eine hippokampale Dysfunktion bei deklarativen (Bremner et al. 1999a, 2003) und nicht-deklarativen Gedächtnisaufgaben (Shin et al. 2004). In Untersuchungen zur Verarbeitung emotionaler Informationen fanden sich hingegen widersprüchliche Befunde hinsichtlich der hippokampalen Beteiligung (z. B. Paz et al. 2006; Shin et al. 2001). Der gleichzeitig festgestellte Anstieg der parahippocampalen Aktivierung bei der PTBS könnte jedoch gegen die Annahme einer Gedächtnisstörung bei der PTBS sprechen. Bei der Ergebnisinterpretation scheint ein wichtiger Faktor zu sein, auf welche Region genau sich die Aktivierung bezieht. Während z. B. der entorhinale, perirhinale und retrospleniale Kortex bei der PTBS eher funktionsgemindert erscheinen (Lanius et al. 2002, 2003), findet sich im posterioren lingualen Gyrus eine Aktivitätssteigerung (Bremner et al. 1999a, b; Shin et al. 2001; Yang et al. 2004). Erstgenannte Hirnregionen sind am ehesten bei Gedächtnisprozessen, wie assoziativem Lernen und emotionsbezogenem Gedächtnis beteiligt, der posteriore linguale Gyrus ist vor allem in visuospatialer Informationsverarbeitung und visuellem assoziativen Lernen involviert. Eine weitere kritische Relaisregion ist der Thalamus, der an der Weiterleitung externaler sensorischer Informationen zu verschiedenen kortikalen Arealen und zum limbischen System beteiligt ist. In mehreren Untersuchungen zum traumabezogenen Gedächtnis und traumaassoziierter Imagination fanden Lanius et al. (2001, 2003, 2004) eine thalamische Aktivitätsreduktion. Francati et al. (2006) nehmen an, dass die Minderaktivierung des Thalamus zu einer Fehlinterpretation externaler Stimuli bei der PTBS führen könnte.
13
In den von Francati et al. (2006) eingeschlossenen Studien findet sich insgesamt eine methodische Bandbreite: Neben der großen Variationsbreite an Stimulusmaterialien in den funktionellen Bildgebungsuntersuchungen (auditiv, visuell, Traumaskripte, persönliche Skripte), unterscheiden sich die Paradigmentypen (z. B. aktiver Abruf, passiver Abruf, Stroopaufgaben) sowie die eingesetzten Tracer in PET- und SPECT-Studien. In einigen Studien wurde zudem die Hirnaktivität ausschließlich während einer Ruhebedingung (ohne Stimulation) erfasst. Weitere Einflussfaktoren auf die Ergebnislage stellen studienspezifische Unterschiede in der Art der eingeschlossenen Traumata und Geschlechtsunterschiede der Stichproben dar. So lassen sich verschiedene Traumatypen (s. a. Frewen u. Lanius 2006) unterscheiden. Goldstein et al. (2001) weisen auf deutliche Unterschiede im Hirnstoffwechsel bei Männern und Frauen hin. Neben den Unterschieden in dem ursächlichen traumatischen Ereignis als Auslöser der PTBS finden sich auch Differenzenin der klinischen Symptomatik bei chronifizierten Patienten. Insgesamt lassen sich zwei große Symptomcluster der PTBS unterscheiden, denen scheinbar auch unterschiedliche neurofunktionelle Änderungsmuster zugrunde liegen: Während ein Teil der Betroffen Übererregung (Hyperarousal) gegenüber Angstauslösern zeigen, reagiert ein anderer Teil eher gefühlsmäßig unbeteiligt und wie betäubt auf diese Auslöser. Lanius et al. (2003) verglichen die Antwortmuster innerhalb eines Ehepaares nach einem Autounfall. Während die Frau »wie erstarrt«, emotional betäubt und dissoziativ reagierte, zeigte ihr Ehemann einen Zustand der Übererregung. Mit dem Muster des Hyperarousals geht vermehrt intrusives Wiedererleben (Flashbacks) und Hypervigilanz einher; mit dem Muster des Hypoarousals scheint ein häufigeres Auftreten dissoziativer Symptome zusammenzuhängen. Lanius et al. (2005) konnten zeigen, dass im Gruppenvergleich sich im fMRT unterschiedliche funktionelle Netzwerke abbildeten: Im Zusammenhang mit der Dissoziation zeigte sich eine erhöhte Konnektivität im linken inferioren frontalen Gyrus, der bekanntlich bei der subjektiven Gewahrwerdung der Bedeutsamkeit emotionaler Ereignisse für die eigenen Person involviert ist.
258
13
Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
Eine Konfundierung beider symptomalen Subgruppen der PTBS und der geschlechtlichen Zusammensetzung der Stichproben in einer Vielzahl der Untersuchungen könnte auch für die Unterschiede in den Bildgebungsuntersuchungen mitverantwortlich sein. Ein Vergleich der Ergebnisse aus struktureller und funktioneller Bildgebung zeigt eine Fokussierung der strukturellen Bildgebungsuntersuchungen auf die Hippocampusvolumetrie, während Regionen wie der mPFC, der ACC und die Amygdala im Wesentlichen in funktionellen Bildgebungsuntersuchungen von Interesse waren. Eine weiterführende Untersuchung dieser Regionen innerhalb der strukturellen Bildgebung erscheint deshalb sinnvoll. Hinweise für Veränderungen geben z. B. Untersuchungen von anderen psychischen Erkrankungen, wie der Depression (z. B. Frodl et al. 2004, 2006; Werner et al. 2009b) und der Borderline-Persönlichkeitsstörung (z. B. Winter u. Irle 2004; Tebartz van Elst et al. 2001; Zetzsche et al. 2006). Methodisch vergleichende funktionelle Bildgebungsuntersuchungen mit anderen affektiven Erkrankungen, wie z. B. der Zwangsstörung (Nakao et al. 2005), Panikstörung (van den Heuvel et al. 2005) oder der generalisierten Sozialphobie (Phan et al. 2006) scheinen ebenfalls sinnvoll, da sich bislang die eingesetzten Untersuchungsparadigmen bei der Erfassung neurofunktioneller Verarbeitungsmechanismen der einzelnen Störungsbilder unterscheiden. Für valide vergleichende Aussagen wäre eine Systematisierung der Methoden nützlich.
13.5 Modelle zur Entstehung
der PTBS Stressmodell Der Zusammenhang von Stress und
Gedächtnis wird generell als ein kurvilinearer beschrieben, mit zunächst ansteigender Gedächtnisleistung unter Eustressbedingungen und Gedächtnisreduktion bei weiter ansteigender Stressintensität und langfristiger Stressexposition (Disstress). Das Stress-Gedächtnis-Modell von Yerkes-Dodson
Dieses Modell von Yerkes-Dodson (1908) geht dementsprechend davon aus, dass niedrige und hohe Level von Arousal den Abruf von Gedächtnisinhal-
ten reduzieren, während mittlere Level zu optimalen Gedächtnisleistungen führen. Loftus (1980) nahm weiterhin an, dass ein hohes emotionales Arousal das Erinnern behindert, weil emotional sehr erregte Personen nicht hinreichend viel Aufmerksamkeit auf die wichtigen Hinweisreize in ihrer Umgebung richten und deshalb wesentliche Informationen für das Erinnern des emotionalen Ereignisses unberücksichtigt bleiben. Bei stressbedingten Amnesien handelt es sich um Gedächtnisstörungen ohne nachweislich zugrunde liegende Hirnschädigung mit primär psychischer Ursache. Sie können durch external oder internal bedingte traumatisierende Stresszustände verursacht werden. Ontogenetisches Modell Die Entwicklungsgeschichte vor dem eigentlichen Trauma scheint eben-
falls ein kritischer Einflussfaktor zu sein (Aldenhoff 1997; King et al. 1996; Markowitsch 1999, 2000; Shalev et al. 1998). So führen frühere Traumata, Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit, aber auch körperliche Erkrankungen zu einer höheren Anfälligkeit gegenüber traumatischen Ereignissen. Wie genetische, biologische und soziale Komponenten zusammenwirken, ist bislang dennoch weitestgehend ungeklärt. Wie Aldenhoff (1997) in seinem Depressionsmodell geht auch Markowitsch (2000, 2001) hinsichtlich der PTBS davon aus, dass multiple psychische und physische Auslöser im Laufe des Lebens als Vulnerabilitätsmarker in Abhängigkeit von Schweregrad, Häufigkeit, Art und Struktur der Erlebnisse wirksam werden (vgl. 7 Kap. 11 »Neuropsychologie affektiver Störungen« von Beblo, in diesem Band). Diese Marker haben auf die behaviorale, kognitiv-emotionale, körperliche und soziale Entwicklung einen determinierenden Einfluss und bestimmen den organisatorischen und funktionalen Zustand eines reifenden Gehirns (Welzer u. Markowitsch 2001). Aus ontogenetischer Perspektive betrachtet, muss davon ausgegangen werden, dass der Zeitpunkt der Traumatisierung einen kritischen Faktor für die Entwicklung einer PTBS darstellt, da verschiedene neuronale Systeme zu unterschiedlichen Zeitpunkten reifen und dadurch differente kritische Perioden für unterschiedliche kognitive Funktio-
259 13.5 · Modelle zur Entstehung der PTBS
nen existieren. In Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Traumatisierung werden sehr wahrscheinlich distinkte Entwicklungsprozesse der kognitiven und emotionalen Verarbeitung durch ein Trauma verändert bzw. gestört. Relevanz unterschiedlicher kritischer Entwicklungsfenster für Hirnentwicklung Eine Störung
oder ein Verlust der kritischen Entwicklungsbedingungen führt zu abnormaler neuronaler Teilung, Migration, Differenzierung und Synaptogenese. Aufgrund der zeitlich distinkten, sequenziellen Entwicklung und Reifung unterschiedlicher neuronaler Systeme, gibt es unterschiedliche kritische Entwicklungsperioden für unterschiedliche kognitive und behaviorale Funktionen, wie z. B. der Angstregulation, des autobiografischen Gedächtnisses und der Perspektivenübernahme. Die optimale Entwicklung komplexerer Systeme setzt die gesunde Entwicklung weniger komplexer Systeme voraus. Deshalb hat z. B. eine Fehlentwicklung der zustandsregulierenden Anteile des Gehirnes, wie Hirnstamm und Mittelhirn, eine große Bedeutung für die neuronale Entwicklung aller weiteren Hirnregionen. Traumata während der Kindheit haben demnach einen potenzierenden schädigenden Effekt auf die dauerhafte Organisation aller zukünftigen Fähigkeiten eines Kindes. Traumatisierung stellt im Gegensatz zur Deprivation eine Überaktivierung wichtiger neuronaler Systeme während der sensiblen Phasen der Entwicklung dar. Einschneidende emotionale Erlebnisse werden bereits von frühester Kindheit an über die Amygdala gespeichert, längst bevor eine verbale Kodierung möglich ist. Auf diese Weise ist erklärbar, warum frühe Lebenserfahrungen eine prägende Bedeutung haben können, ohne dass diese in Worte gefasst werden könnten. In der Literatur gibt es eine Vielzahl von Hinweisen, dass eine ontogenetisch frühe Stressexposition für die Hirnreifung strukturelle und neurofunktionelle Folgen hat. Neben einer reduzierten Größe des Corpus callosums findet sich eine unvollständige neuronale Entwicklung des linken Neokortex, des Hippocampus und der Amygdala in Folge von Stress (im Überblick Teicher et al. 2003). Kritische Hirnregionen, die sich im Besonderen als stresssensitiv erweisen, lassen sich durch bestimmte Eigenschaften charakterisieren:
13
a) lang andauernden postnatale Weiterentwicklung, b) hohe Glukokortikoid-Rezeptordichte, c) parzielle postnatale Neurogenese. Auf den Hippocampus treffen diese Eigenschaften zu. Neben den genannten Eigenschaften gilt für den Hippocampus, dass seine synaptische Dichte mit dem Alter fluktuiert (z. B. Eckenhoff u. Rakic 1991; Gould u. Tanapat 1999; Sanchez et al. 2000). Er ist demnach eine Region, die eine hohe Stressvulnerabilität aufweist. Die Amygdala stellt eine Struktur dar, die vor allem auf wiederholte intermittierende neuronale Stimulation reagiert. Diese Form der Stimulation scheint in einer strukturellen Veränderung und erhöhten exitatorischen Ansprechbarkeit der Neurone zu münden (z. B. Post et al. 1984). Die exitatorische Erregbarkeit bleibt möglicherweise irreversibel bestehen. Dies kann als Ursache einer reduzierten behavioralen Kontrolle emotionaler Impulse angesehen werden (Post et al. 1984). Früher Stress führt darüber hinaus zu anhaltenden Veränderungen im GABA-A supramolekularen Komplex der Amygdala (Caldij et al. 2000) sowie in Folge zu einer Dichteminderung der Benzodiazepinrezeptoren und einer erhöhten Affinität der GABA-A-Rezeptoren (Caldij et al. 2000, 1998). Schließlich führt Stress zu einer Abnahme der Dopaminkonzentration und einem reduzierten Serotoninspiegel in der Amygdala und im Nucleus Accumbens (Jones et al. 1992; Matthews et al. 2001; Teicher u. Andersen 1995). Diese Veränderungen spiegeln sich innerhalb der Ontogenese in einer »limbischen Irritierbarkeit« wieder, die sich biologisch in anfallsartigen elektrischen Aktivitätsänderungen in der Amygdala abbilden lässt (z. B. Fine et al. 1990; Poulter et al. 1999). Eine Hyperreagibiltät der Amygdala scheint deshalb ein Risikofaktor für die Entwicklung einer PTBS zu sein (Teicher et al. 1993; Villarreal u. King 2001). Schlussfolgernd kann angenommen werden, dass eine kleinere Amygdala und ein größerer Hippocampus ggf. protektive Faktoren in der Entwicklung einer PTBS darstellen könnten. Eine geringere Ansprechbarkeit der Amygdala könnte auch eine schnellere und effektivere Erholung nach einem traumatischen Ereignis (ausbleibende Chronifizierung der PTBS) erklären. Zur weiteren Verifzierung dieser hypothetischen Annahmen sind jedoch weitere Untersuchungen unerlässlich.
260
13
Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
Eine wesentliche Rolle in der Reaktion auf Stressexposition scheint die hemisphärische Integration und somit das Corpus callosum zu spielen. Hohe Spiegel von Stresshormonen scheinen die Gliazellteilung zu unterbinden und somit die Myelinisierung zu beeinflussen (Lauder 1983). Der Einfluss auf diese Prozesse ist zudem offenbar geschlechtsabhängig, wie Tierexperimente aber auch Untersuchungen am Menschen, zeigten (Berrebi et al. 1988; De Bellis et al. 1999; Teicher et al. 1997, 2000). Sie resultieren in Strukturänderungen und Volumenminderungen des Corpus callosum. Ein reduziertes Volumen des Corpus callosums ist offensichtlich mit einem defizitären interhemisphärischen Austausch assoziiert (Yazgan et al. 1995). Früher Stress wirkt sich auch auf die neokortikale Entwicklung, wie cerebrale Lateralisierung und präfrontale Reifung, aus. Der Neokortex entwickelt sich in zyklischen Reorganisationsprozessen (Thatcher 1992). Die zeitlich verzögerte Myelinisierung des Corpus callosums ermöglicht eine unabhängige Entwicklung beider Hirnhälften. Der präfrontale Kortex, PFC, nimmt in der Hirnreifung eine Sonderstellung ein, da seine Myelinisierung im Wesentlichen zwischen Adoleszenz und der 3. Lebensdekade stattfindet (Alexander u. Goldman 1978; Fuster 1980; Weinberger 1987). Die Reifung des PFC führt zu einer zunehmend gerichteten Anwort auf Stressexposition (Lyss et al. 1999), ein Prozess, der wahrscheinlich auf den steigenden inhibitorischen Einfluss des PFC auf andere Hirnareale zurückgeht (Brake et al. 2000). Dementsprechend weist der PFC auch eine hohe Dichte glukokortikoider Rezeptoren auf (Diorio et al, 1993) und verfügt über dopaminerge Projektionen, die bei Stressexposition aktiviert werden (Deutch et al. 1985; Knorr et al. 1989; Reinhard et al. 1982). Über diese Ressourcen werden bei Stress inhibitorische Funktionen aktiviert, die auf alle wesentlichen monoaminen Projektionen zu subkortikal verbundenen Hirnarealen hemmend wirken. Als Folge wird die subkortikale Reaktion auf die Stressexposition reduziert. Gleichzeitig kommt es zu einer inhibitorischen Rückkopplung, die die HNNA-Aktivierung kontrolliert (Brake et al. 2000). Zusammengefasst kann davon ausgegangen werden, dass ontogenetisch früher Stress zu vielen Veränderungen in der Neurotransmission und der
neurohumoralen Mechanismen führt. Diese primären Veränderungen haben wiederum einen sekundären Effekt auf die Entwicklung der Hirnstrukturen und -funktionen. So besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass exzessiver Stress als toxische Kraft in die normale Hirnentwicklung eingreift (s. a. Weber u. Reynolds 2004). Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass das Auftreten neuropsychiatrischer Symptome eng mit früher Stressexposition verknüpft ist, und häufig auf eine Form einer Entwicklungsstörung zurückgeht (Teicher et al. 2002). Eine erst kürzlich formulierte Ansicht ist, dass die »psychopathologischen« Variationen in der neurobiologischen Entwicklung nicht nur eine maladaptive, gestörte Entwicklung abbilden, sondern vielmehr adaptive, alternative Entwicklungsmöglichkeiten unter Extrembedingungen repräsentieren (De Bellis et al. 1999; Glaser 2000). Stressinduzierte neurobiologische Modifikationen, vor allem im Glukokortikoidhaushalt (Bremner u. Narayan 1998; McEwen 2003; Shea et al. 2005), ausgelöst durch bestimmte Erfahrungen während kritischer Entwicklungsphasen, könnten demnach auch als eine adaptive Antwort auf eine chronische massive Stressexposition oder auch auf Deprivation angesehen werden, deren Notwendigkeit durch die frühe Erfahrung dieser Extrembedingungen gegeben ist. Sinn der Adaptation könnte die Entwicklung besonders sensitiver Warnsysteme (frühe Detektion von bedrohlichen Reizen) und die Ausbildung effektiven Schutzverhaltens (Flucht-, Kampff , Totstellverhalten) sein. Diese können sich jedoch als suboptimal in einer harmlosen, weitestgehend stressfreien Umgebung ohne »echte« Bedrohungen erweisen (Teicher et al. 2003). Neurobiologisches Gedächtnismodell Bei der
PTBS können zwei Arten von Gedächtnisdefziten unterschieden werden: Intrusives Wiedererinnern (Hypermnesien) emotionaler, traumabezogener Gedächtnisfragmente gegenüber einer geminderten Enkodier- und Abruffähigkeit (Amnesie). Intrusive Erinnerungen werden vor allem durch Stimuli getriggert, die Aspekte des traumatischen Erlebens darstellen. Sie sind in der Regel von einem hohen physiologischen Erregungsniveau begleitet und haben eine hohe sensorische Qualität. Die amnestischen Defizite im deklarativen Erinnern beziehen
261 13.5 · Modelle zur Entstehung der PTBS
sich vor allem auf Ereignisse, amnestische Episoden, und die fehlende Einbettung autobiografischer und traumbezogener Gedächtnisinhalte in ein Narrativ. Bekanntlich kann zwischen deklarativen (expliziten) und nicht-deklarativen (impliziten) Gedächtnisformen unterschieden werden (z. B. Squire u. Zola-Morgan 1991). Diese Unterscheidung ist für das Verständnis der PTBS nützlich, da beide Systeme in unterschiedlicher Weise betroffen sein können (z. B. Brewin et al. 1996; McNally 1998). Diese beiden Systeme lassen sich in der individuellen Ontogenese sowie in der phylogenetischen Entwicklung unterscheiden. Sie basieren auf unterschiedlichen neurobiologischen Grundlagen (LeDoux 1998). Das deklarative bzw. explizite Gedächtnis, das an den Hippocampus gebunden ist, wird vom Bewusstsein gesteuert, während das emotionale bzw. implizite Gedächtnis, dessen Schlüsselinstanz die Amygdala darstellt, von Signalen aus der Umwelt gesteuert wird. Nach den Erkenntnissen von LeDoux (1998) können emotionale Reaktionen und emotionale Erinnerungen ohne bewusste kognitive Beteiligung entstehen. Erlebnisse mit starker Amygdalaaktivierung stellen besonders unauslöschliche Erinnerungen dar. Dies gilt sowohl für emotional positive Erlebnisse (z. B. intensive Liebesgefühle, große Erfolgserlebnisse) als auch für emotional sehr belastende Erfahrungen (z. B. traumatische Ereignisse wie Unfall, Misshandlung oder Vergewaltigung). Viele Angstreaktionen werden durch klassische Konditionierung unterhalb der Wahrnehmungsschwelle erworben. Wenn ein Umweltsignal unbewusst als Angstreiz identifiziert wird, kommt es zu einer Angstreaktion und zur Adrenalinausschüttung. Subkortikal entstandene Furchtkonditionierungen sind der Grund dafür, dass bestimmte Reize Furcht bewirken, ohne dass ein auslösendes Ereignis benannt werden kann. Präkognitive Emotionen, d. h. den bewussten Denkprozessen vorauseilende Emotionen, beruhen auf bruchstückhaften sensorischen Informationen, die noch nicht vollständig analysiert und als bestimmte Objekte erkannt worden sind. Die Amygdala reagiert unmittelbar über das sympathische Nervensystem mit einer Aktivierung des Körpers. Diese Reaktionsbereitschaft ist ein biologisch vorgegebenes Programm und deshalb nur bedingt therapeutisch zu verändern.
13
Die Überreaktion der Amygdala kann durch kortikale Mechanismen kontrolliert werden, indem der präfrontale Kortex das eingeleitete emotionsaktivierende Programm der Amygdala unterbricht, wenn die Reizsituation als ungefährlich bewertet wird. Abgesehen von emotionalen Bedrohungen wie sie Traumata darstellen, bei denen durch die Kurzschaltung zwischen Thalamus und Amygdala eine sofortige und massive Körperreaktion ausgelöst wird, bleibt im Normalfall noch ausreichend Zeit, dass der präfrontale Kortex eine Bewertung der eingehenden sensorischen Informationen vornehmen und damit auch die emotionalen Reaktionen steuern kann (7 Abschn. 13.4.1 u. 2). Der orbitofrontale Kortex reguliert die emotionalen Reaktionen über ein dichtes Netz von Nervenbahnen zum limbischen System. Die Emotionskontrolle erfolgt vermutlich durch den linken präfrontalen Kortex, während der rechte präfrontale Kortex als der »Sitz« negativer Gefühle (z. B. Furcht und Aggression) anzusehen ist. Die Annahme bestätigend, dass der linke PFC den rechten PFC hemmt, kommt es bei Ausfall des linken PFC zu emotionalen Auffälligkeiten und zu unkontrollierten Angstattacken. In Tierversuchen führt die elektrische Reizung der Amygdala zu verstärkten Angstreaktionen in Form von erhöhter Puls- und Atemfrequenz, Blutdruckerhöhung, Erhöhung des Kortikosteronspiegels und erhöhter Schreckhaftigkeit und der Unterbrechung bestimmter Verhaltensmuster. Eine Zerstörung der Amygdalakerne hingegen bewirkt angst- und furchtlose Tiere. Die angstreduzierende Wirkung einer beeinträchtigten Amygdalafunktion konnte beim Menschen durch gehirnchirurgische Eingriffe oder Läsionen der Amygdala nachgewiesen werden. Die bis in die 1950er-Jahre durchgeführten frontalen Lobotomien zur Behandlung von Angstzuständen oder Epilepsien, führten zwar zu einer Beseitigung der Ängste, aber auch zur Reduktion jedes differenzierten Gefühlserlebens (Affektverflachung). Bei der Speicherung von Erfahrungen arbeiten Amygdala und Hippocampus eng zusammen. Eine angstvolle Erfahrung wird derart gespeichert, dass über den Hippocampus die Fakten festgehalten werden, während die Verarbeitung der emotionalen Begleitreaktionen eher an das amygdaloide System gekoppelt ist (. Abb. 13.2).
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Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
. Abb. 13.2. Papez-Schaltkreis (hippokampales System) und basolateral limbischer Schaltkreis (amygdaloides System)
Die enge Verknüpfung des Hippocampus mit den übrigen Strukturen des limbischen Systems weist auf die emotionale Färbung aller Lern- und Gedächtnisprozesse hin. Wichtige emotionale Erfahrungen werden meist besser erinnert als neutrale Ereignisse. Übermäßige Angst kann hingegen aufgrund der ausgelösten psychovegetativen Reaktionen Lernprozesse hemmen. Extremer Stress, wie er z. B. bei PTBS vorkommt, der eine massive Ausschüttung von Nebennierensteroiden bewirkt, kann durch seine schädigende Wirkung innerhalb des Hippocampus sogar zu Störungen der Langzeitspeicherung und zu Gedächtnisausfällen führen.
13 13.6 Neurokognition der PTBS Die PTBS lässt sich durch ein Zusammenspiel von potenziell das Verhalten und das emotionale Erleben betreffende Symptome charakterisieren, die in Abhängigkeit von der Schwere des auslösenden psychischen Traumas auftreten. Obwohl die Diagnose sich entsprechend der diagnostischen Richtlinien (DSM-IV, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, DSM-IV, American Psychiatric Association 1994) vornehmlich durch drei Cluster bezüglich Wiedererleben, Vermeidung und Erregungssymptomen spezifizieren lässt, werden innerhalb dieser Cluster auch neurokognitive Defizite berücksichtigt. Darüber hinaus existiert mittlerweile eine Vielzahl von Studien, die neurokognitive Defizite bei der PTBS beschreiben (z. B. Gilbertson et al.
2006; Golier u. Yehuda 2002; Horner u. Hamner 2002). Diese wurden vor allem in den Funktionsk bereichen deklaratives Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und allgemeiner Intelligenz belegt (Barret et al. 1996; Beers u. DeBellis 2002; Bremner et al. 1993, 1995a,b, 2004; Bustamante et al. 2001; Everly u. Horton 1989; Gil et al. 1990; Gilbertson et al. 1997, 2001; Goldstein et al. 1987; Golier et al. 2002; Golier u. Yehuda 2002; Jenkins et al. 1998, 2000; Johnsen u. Asbjørnsen 2008; McNally u. Shin 1995; Moradi et al. 1999a, b; Neylan et al. 2004; Nixon et al. 2004; Sachinvala et al. 2000; Sutker et al. 1995; Twamley et al. 2009; Uddo et al. 1993; Vasterling et al. 1998, 2002; Yehuda et al. 1995, 2006; Werner et al. 2009a; Zalewski et al. 1994). Dabei ist erst durch eine Dissoziation zwischen den neuropsychologischen Funktionen die Störung einzelner kognitiver Funktionen nachweisbar, d. h. wenn z. B. die Gedächtnisdefizite nicht auf gestörte Aufmerksamkeitsfunktionen k zurückgehen. Diese Dissoziation konnte schon vereinzelt gezeigt werden (z. B. Johnsen et al. 2008; Werner et al. 2009a; Ye Y huda et al. 2005; Johnsen et al. 2008). Es gibt darüber hinaus erste Hinweise, dass die kognitiven Beeinträchtigungen sowohl mit der Art, Qualität und Intensität des Traumas als auch mit Copingressourcen zusammenhängen (Johnsen u. Asbjørnsen 2008; Twamley et al. 2009). Es ist jedoch kritisch einzuräumen, dass nicht in allen Studien neurokognitive Defizite gefunden wurden (z. B. Koenen et al. 2001; Pederson et al. 2004; Stein et al. 1999, 2002).
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. Tab. 13.2. Zusammenfassung neurokognitiver Einbußen bei der PTBS und zugrundeliegende Hirnstrukturen (adaptiert und ergänzt nach Elzinga u. Bremner, 2002)
Hirnregion
Kognitive Funktion
Kognitive Funktion in der PTBS
Hippocampus
Deklaratives Gedächtnis Integration von Zeit und Raum Spatiales Gedächtnis Assoziatives Lernen
Deklaratives Gedächtnis↓ Erinnerungsfragment/ traumabezogene Amnesie Spatiales Gedächtnis↓ Assoziatves Gedächtnis↓
Amygdala
Angstkonditionierung Emotionale Perzeption Emotionales Gedächtnis
Konditionierungsgeschwindigkeit↑, Sensibilisierung↑, emotionales (traumabezogenes) Gedächtnis↑
Präfrontaler Kortex und anteriorer cingulärer Kortex
Inhibition irrelevanter Stimuli und Reaktionen Modulation der Emotionswahrnehmung (Amygdala) Modulation der Gedächtnisprozesse Arbeitsgedächtnis Aufmerksamkeitsaufrechterhaltung, -ausrichtung, -steuerung, -modulation Reaktionswahl
Top-down-Inhibition irrelevanter Kognitionen, Emotionen, physiologischer Reaktionen↓ Gedächtnisabruf↓ Arbeitsgedächtnis↓ Defzite in Aufmerksamkeit und Konzentration Aufmerksamkeitsloslösung↓, Flexibilität in der Aufmerksamkeit↓, Bevorzugung bestimmter Reize, Fixierung auf bestimmte Anwortmuster
Thalamus
Weiterleitung sensorischer Reize
Thalamische Funktion↓, Fehlinterpretation externaler Reize
Insula
Perzeption interozeptiver Reize Körperbewusstheit, Herzschlagwahrnehmung
Wahrnehmung interozeptiver Reize↑, Schmerzwahrnehmung↑
Bislang war es eine weit verbreitete Ansicht, dass es sich bei diesen kognitiven Defiziten vor allem um erworbende, durch die Traumatisierung hervorgerufene Veränderungen handelt. Als präferierter Erklärungsansatz galt, dass die Traumaexposition und die daraufhin entwickelte PTBS sich neurotoxisch auf die Gehirnfunktionen und mittelbar auf die kognitiven Funktionen auswirken (z. B. Bremner et al. 1999a,b; Buckley et al. 2000). Unterstützende Befunde dieser Annahme kamen vor allem aus der Tierforschung, da gezeigt werden konnte, dass starker und chronischer Stress sich neuronal schädigend vor allem auf die hippokampale Formation auswirkt (z. B. Guterman u. Richter-Levin 2006; McEwen u. Magarinos 1997; Sapolsky 1990; Teicher et al. 2006;). Der Hippocampus und perihippocampale Regionen können als mnestisch-neuronale Schlüsselregionen, vor allem für das deklarative Gedächtnis angesehen werden (Piefke u. Fink 2005; Nyberg 2005; Squire 1992; Tulving u. Markowitsch
1998; Zola-Morgan u. Squire 1993). Hypothesenkonform fanden sich in einer Anzahl von Untersuchungen Volumenminderungen des Hippocampus bei chronischer PTBS (7 Abschn. 13.4.2; Bremner et al. 1995a, 1997; Gilbertson et al. 2002; Gurvits et al. 1996; Stein et al. 1997; Villarreal et al. 2002). In jüngster Zeit fanden sich jedoch Hinweise für möglicherweise prämorbid bestehende Unterschiede im Hippocampusvolumen (Gilbertson et al. 2002) und in neurokognitiven Funktionen (Gilbertson et al. 2001; 2006; Macklin et al. 1998; McNally u. Shin 1995; Pitman et al. 1991) im Sinne eines familiären Vulnerabilitätsfaktors für die Entwicklung einer PTBS. Diese Ergebnisse führten zu der Formulierung eines alternativen Erklärungsansatzes, der davon ausgeht, dass die neurokognitiven Defizite bei der PTBS vor allem durch prämorbide Funktionsunterschiede, die schon vor dem traumatischen Ereignis und der Entwicklung der PTBS bestanden, zurückführbar sind. Beispielhaft ist die Untersu-
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Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
chung von Gilbertson et al. (2006) zu nennen, in der die Autoren in einer Zwillingsuntersuchung prädisponierende Faktoren identifizierten. Gedächtnis und emotionale Verarbeitung bei PTBS Die psychopathologische Manifestation der
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PTBS zeigt sich in verschiedensten Beeinträchtigungen des Gedächtnisses. Bei autobiografischen Erinnerungen handelt es sich eigentlich um autonoetische (bewusste, an das Selbst gebundene) Erinnerungen, die einen hohen Bezug zur eigenen Biografie haben sollten. Die für PTBS typischen autobiografischen Erinnerungen sind zwar bildhaft-perzeptiver und sensorischer Natur, gleichzeitig aber auch wenig strukturiert und aus einzelnen Bildfragmenten bruchstückhaft zusammengesetzt (Foa et al. 1995; Harvey u. Bryant 1999). Dieses Störungsbild wurde schon von McNally et al. (1995) genauer beschrieben. Demnach haben Personen mit Depressionen oder nach einem Suizidversuch Schwierigkeiten auf der Basis eines verbalen Hinweizreizes (z. B. »Glück«) eine spezifische autobiografishe Erinnerung (z. B. »Ich war glücklich, als ich im Sommer 1975 über die Alpen flog«) zu generieren (Williams u. Broadbent 1986; Williams u. Scott 1988). Stattdessen nennen sie übergeneralisierte Erinnerungen (»Ich war glücklich, als ich mein Referendariat in London machte«), die sich nicht auf ein spezifisches Ereignis einengen lassen, oder sie nennen eine Ereigniskategorie (»Ich war immer glücklich, wenn ich in den Bergen kletterte«). Auch in Folge von Traumata, insbesondere bei Menschen, die im Anschluss eine PTBS entwickelten, findet sich ein übergeneralisiertes autobiografisches Gedächtnis (bei Vietnamveteranen: z. B. McNally et al. 1994). Der übergeneralisierte Verarbeitungsmodus stellt möglicherweise einen Schutzmechanismus innerhalb der Emotionsregulation der Betroffenen dar. Er scheint einer Vermeidung des erinnerungsgetriggerten Wiedererlebens von belastenden Erinnerungen zu dienen (Hermans et al. 2005). Heterogene Ergebnisse dazu fanden sich in Studien zum autobiografischen Gedächtnis nach frühkindlichen Traumata, die z. T. ein übergeneralisiertes Erinnern fanden (Dalgleish et al. 2003), zum Teil jedoch auch intaktes episodisches Erinnern zeigten (Arntz et al. 2002). Spezifische PTBS-assoziierte Gedächtnisveränderungen fanden sich vor allem im expliziten
Gedächtnis (Jenkins et al. 1998) und in der Unterscheidung gegenwärtiger und vergangener biografischer Episoden beim Erinnern (Yehuda et al. 1995). Darüber hinaus ist bei der PTBS der Fokus der Erinnerung an das traumatische Erleben gebunden und führt über autobiografische Altgedächtnisstörungen hinaus auch zu Schwierigkeiten in der zukunftsgerichteten Orientierung (prospektives Gedächtnis, McNally 1997a). Das traumabezogene Erinnern variiert bei den Betroffenen mit PTBS zwischen vollständiger Amnesie bis hin zur Hypermnesie mit einer starken Beteiligung des autonomen Nervensystems (s. McNally 1997b). Dennoch zeigen sich bei der PTBS nicht nur traumabezogene Gedächtnisveränderungen, sondern auch ebenso viele Gedächtnisdefizite für Informationen, die von dem traumatischen Erleben als unabhängig gelten können (McNally 2003). So fanden sich vor allem auch in den gängigen Verfahren zu Erfassung des anterograden episodischen Gedächtnisses, wie der Wechsler Memory Skala (WMS), Defizite im unmittelbaren und verzögerten Gedächtnis, unabhängig ob es sich um verbale oder piktorale Stimuli handelt (z. B. Bremner et al. 1993). Insgesamt finden sich Hinweise für eine veränderte Gedächtnisorganisation bei Patienten mit PTBS, die sich z. B. auch in einer Inhibitions- und Filterschwäche für unwichtige oder unpräzise Informationen und einer höheren Ablenkbarkeit durch Distraktoren äußert (Brewin et al. 1996; Vasterling et al. 1998). In dem dualen Repräsentationsmodell von Brewin et al. (1996; 7 Abschn. 13.7) wird zwischen einem verbalen und einem situativen Abrufmodus unterschieden. Der verbale Abrufmodus erlaubt PTBS-Patienten einen Gedächtnisabruf unabhängig von den gespeicherten autobiopgrafisch-episodischen Erinnerungen (s. a. Conway 1997). Der situative Abrufmodus hingegen führt zu einem automatisierten Abruf von Gedächtnisrepräsentationen, die situativ durch Außenreize, aber auch intrusive Fragmente des traumatischen Erlebens und interozeptive Reize ausgelöst werden können. In einer Untersuchung von McNally et al. (1998, 2001) wurde das Paradigma zum Aufzeigen eines vermeidenden Enkodierstils und beeinträchtigtem Gedächtnis für traumabezogene Informationen eingesetzt. Da sich jedoch zeigte, dass Modelle zu
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Direktives Vergessen Brewin und Andrews (1998) begannen deshalb den Zusammenhang zwischen dem traumabezogenen Erinnerungsvermögen und regulierenden Inhibitionsprozessen zu untersuchen. Dafür adaptieren sie u. a. das Paradigma des direktiven Vergessens (»directed forgetting paradigm«, Bjork 1989) für emotionales Stimulusmaterial (Myers et al. 1998). Das geleitete Vergessen wird dabei durch eine widersprüchliche Instruktion provoziert. Die Probanden sollen zunächst Listen von Wörtern lernen, mit der expliziten Kenntnis, dass diese später wieder erinnert werden sollen. Danach erfolgt eine widersprüchliche Instruktion,
vermeidend-dissoziativem Verarbeitungsstil weniger gut Prozesse des Enkodierens traumabezogener Informationen beschreiben als Modelle zur Intrusion (Zoellner et al. 2003), führten Cottencin et al. (2006) eine Studie zum direktiven Vergessen bei PTBS mit ausschließlich neutralen Stimuli durch. Es zeigte sich ein allgemeines Defizit im episodischen Gedächtnis bei den Patienten, aber auch eine erhöhte Produktion der zu vergessenden Wörter, wenn sie unspezifisch aufgefordert wurden, sich zu erinnern. Wenn sie explizit aufgefordert wurden, alle Wörter aus beiden Listen zu nennen, reduzierte sich dieser Effekt. In einer Untersuchung von Amrhein et al. (2006) zeigte sich hingegen kein Unterschied im direktiven Vergessen bei voller Aufmerksamkeitsausrichtung auf die zu enkodierenden Stimuli zwischen Gesunden und PTBS-Patienten: Beide Gruppen zeigten eine vergleichbare Vergessensrate für traumabezogene und für neutrale Wörter, und es wurden vermehrt zu merkende Wörter erinnert als zu vergessende Wörter. Unter der Bedingung geteilter Aufmerksamkeit, d. h. wenn die Probanden durch eine Doppelaufgabe von der Aufgabe des Merkens bzw. Vergessens abgelenkt wurden, war dieser »directed-forgetting«-Effekt bei Gesunden wiederum für beide Wortkategorien vorhanden, bei PTBS-Patienten zeigte sich dieser Effekt ausschließlich für die neutralen Wörter. Dies könnte darauf hinweisen, dass die Patienten, wenn sie ihre Auf-
dass diese Listen ausschließlich der Übung dienten und entsprechend vergessen werden könnten. Die Probanden werden danach instruiert, dass im Anschluss das eigentliche Gedächtnisexperiement folgt, bei dem wiederum Listen gelernt und diese schließlich jedoch später tatsächlich abgerufen werden sollen. Final erfolgt jedoch entgegen der widersprüchlichen Instruktion die Aufforderung, sich an alle gelernten Listen, auch die, die man angeblich vergessen sollte, zu erinnern. Brewin und Andrews (1998) beobachteten bei PTBS, dass eine höhere Vergessensrate für negativ konnotierte Wörter zu verzeichnen war im Vergleich zu positiv konnotierten Wörtern.
merksamkeit nicht fokussieren können, der Vergessensinstruktion für Trauma-Wörter schlechter folgen können und die selbstregulativen Fähigkeiten reduziert sind. Wichtige Fragen sind dabei, inwiefern der »directed-fogetting«-Effekt als ein Enkodiereffekt oder als ein Abrufeffekt zu interpretieren ist. Während Basden und Basden (1996) von einem Inhibitionsmechanismus beim Enkodieren ausgehen, schlagen Zacks et al. (1996) eine Inhibition sowohl während des Enkodierens als auch während des Abrufes vor. Untersuchungen bei Gesunden (z. B. Anderson u. Green, 2001) weisen auf letzteres hin und geben auch erste Hinweise, welche Hirnareale einer erfolgreichen Suppression zugrunde liegen. Somit ist jeder erneute Abruf als wiederholter Enkodierprozess zu interpretieren, bei denen die Erinnerungen einer Veränderung unterliegen können (s. a. Meister et al. 2006a). Zusammenfassend legen die Ergebnisse aus den Studien mit dem »directed-forgetting«-Paradigma nahe, dass die Resultate sowohl von der Valenz des Stimulusmaterials abhängig als auch von der Stimmung des Individuums beeinflusst sind (s. a. Power et al. 2000). Grundsätzlich zeigt sich, dass auf verschiedenen Ebenen der Informationsverarbeitung sowohl selbst-regulative Prozesse, wie z. B. Inhibition, als auch Prozesse der aktiven Aufmerksamkeitsausrichtung wirksam werden (z. B. Beraldi et al. 2006).
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Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
Diese scheinen sich sowohl auf das Erinnern traumabezogener Stimuli als auch neutraler Stimuli auszuwirken. Aufmerksamkeit und emotionale Verarbeitung bei PTBS Einerseits finden sich deutliche Hinweise,
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dass Menschen mit PTBS neben Gedächtnisdefiziten vor allem auch Veränderungen in den grundlegenden Aufmerksamkeitsfunktionen zeigen (Roca et al. 2006). Andererseits finden sich Hinweise, dass bei Menschen mit hoher »Trait«-Angst im Vergleich zu niedriger »Trait«- Angst eine stärkere Aufmerksamkeitsausrichtung und -fokussierung auf bedrohliche Reize besteht (z. B. Koster et al. 2006). Auch Patienten mit PTBS zeigen diesen Aufmerksamkeitsbias. Dabei ist nach wie vor jedoch relativ unklar, wie er sich auswirkt. Zum einen kann es sich um eine Präferenz in der Informationsverarbeitung von traumabezogenen Reizen handeln, was zu einer erleichterten und somit schnelleren Detektion, also einer Aufmerksamkeitsbahnung für traumarelevante Reize führen könnte. Zum anderen kann es sich um eine Verzögerung im Loslösen der Aufmerksamkeit von traumarelevanten Reizen handeln oder auch um eine höhere Ablenkbarkeit (Interferenz) durch traumalrelevante Reize, sodass der Informationsverarbeitung traumaunabhängiger Reize weniger Ressourcen zur Verfügung stehen (Pineles et al. 2007). Bisherige Befunde mit einer emotionalen Variante der klassischen Stroopaufgabe (Gotlib u. McCann 1984) zeigten, dass bei der PTBS ein Aufmerksamkeitsbias für bedrohliche bzw. traumabezogene Stimuli besteht (z. B. Beck et al. 2001; Buckley et al. 2000). Dennoch stellt der Stroop-Interferenzparameter, wie auch schon von Mogg und Bradley (1998) angeführt, kein reines Maß für die Erfassung eines Aufmerksamkeitsbias dar. Die Interferenz entsteht eher auf der Ebene der Antwortauswahl als auf der Ebene der Perzeption bzw. vorausgehender Informationsverarbeitungsschritte. Weitere Kritik an der emotionalen Stroopaufgabe und auch dem gut untersuchten visuellen »dot-probe« Paradigma (MacLeod et al. 1986) bezieht sich auf die Unklarheit in der Interpretation des Aufmerksamkeitsbias: So kann der Bias einerseits auf die erleichterte Detektion der traumabezogenen Stimuli zurückgehen, anderseits auf die Schwierigkeit, die Aufmerksamkeit von diesen Sti-
muli loszulösen, was zu einer Interferenz mit anderen Anforderungen der eigentlichen Aufgabe führt (Derryberry u. Reed 1994; Fox et al. 2001, 2002; Pollack u. Tolley-Schell 2003). In sog. visuellen Suchaufgaben wurden verschiedene Formen der Aufmerksamkeitsausrichtung untersucht (z. B. Byrne u. Eysenck 1995; Öhman et al. 2001a, 2001b). In der von Neisser et al. (1963) entwickelten visuellen Suchaufgabe ist es das Ziel, diskrepante Zielreize in einer Anordnung von identischen Stimuli zu identifizieren. Eine oftmals eingesetzte Variante besteht z. B. aus schematischen Gesichtern mit unterschiedlichen emotionalen Gesichtsausdrücken. Es zeigte sich, dass grundsätzlich diskrepante negativ-bedrohliche Gesichter in einer Umgebung von neutralen Distraktoren schneller identifiziert wurden als freundliche oder traurige Gesichter. Dieses wird als ein allgemeiner Bias in der Aufmerksamkeitsausrichtung auf bedrohliche Gesichter interpretiert. Umgekehrt zeigte sich auch eine Verlangsamung in der Detektion neutraler Zielreize in einer Anordnung von bedrohlichen Distraktoren im Vergleich zu einer Umgebung von freundlichen Distraktoren (Öhman et al. 2001a,b). Darüber hinaus ließ sich auch eine Aufmerksamkeitsausrichtung in Abhängigkeit des emotionalen Zustandes der informationsverarbeitenden Person zeigen (emotions-kongruenter Aufmerksamkeitsbias). Übereinstimmend reagierten Personen mit hoher »Trait«- Angst langsamer auf neutrale Zielreize in einer bedrohlichen Stimulusumgebung, als auf neutrale Zielreize in einer neutralen Stimulusumgebung verglichen mit Personen mit niedriger »Trait«- Angst. Dieser emotionskongruente Bias zeigte sich unabhänging von den Reizmaterialen (Gesichter, Bilder, störungsbezogene Wörter), in den untersuchten Populationen (hohe »Trait«Angst, generalisierte Angststörung, soziale Phobie), also aufgabenübergreifend in Aufgaben zur Differenzierung von attentionaler Interferenz und attentionaler Bevorzugung (Byrne u. Eysenck 1995; Fox et al. 2001, 2002; Gilboa-Schechtman et al. 1999; Rinck et al. 2003). Die bisherigen Befunde zum emotionskongruenten Aufmerksamkeitsbias bei bedrohlichen Stimuli sind jedoch insgesamt unterschiedlich: Während einige Studien eine Bahnung der Aufmerksamkeit für bedrohliche Reize zeigten (Byrne u. Eysenck
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1995; Gilboa-Schechtman et al. 1999; Öhman et al., 2001 a,b,), fanden andere keine Belege für eine erleichterte bzw. bevorzugte Verarbeitung (Fox et al. 2000; Rinck u. Becker 2005; Rinck et al. 2003). Erklärungsmöglichkeiten für die Widersprüche könnten methodische Unterschiede in den Untersuchungen sein. So ließ sich der Bahnungseffekt vor allem in Paradigmen zeigen, bei denen ein nicht definiertes abweichendes Zieltarget aus eine Reihe identischer Stimuli identifiziert werden musste (Rinck et al. 2005; Fox et al. 2000). In Untersuchungen zur Targetsuche nach einem explizit definierten Zielitem fanden sich hingegen widersprüchliche Ergebnisse (direkter Methodenvergleich bei Rinck et al. 2005). Pollack und Tolley-Schell (2003) untersuchten beide Formen des Aufmerksamkeitsbias bei Kindern mit und ohne Missbrauchsgeschichte. Erstere zeigte eine Aufmerksamkeitsbahnung für ärgerliche Gesichter. Unterschiede in der Loslösung der Aufmerksamkeit ließen sich nicht eindeutig abbilden, sie fanden sich zwar auf physiologischer Ebene (ereigniskorrelierte Potenziale), nicht hingegen in den Reaktionszeiten. Interaktion von Emotion und Kognition Emotio-
nale Reaktionen auf ein traumatisches Ereignis sind unterteilbar in primäre Emotionen, die unmittelbar während des Ereignisses auftreten, und in sekundäre Emotionen, die unmittelbar danach oder mittelbar nach der Bewertung des Ereignisses und der Anti-
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zipation der Konsequenzen auftreten (Brewin et al. 1996). Als primäre Emotionen werden z. B. Angst und Hilflosigkeit beschrieben (Brewin et al. 2000a). Nach Ehlers und Harvey (2000) ist z. B. Hilflosigkeit eng mit einem subjektiven Gefühl der Aufgabe und der passiven Schicksalsergebenheit verbunden. Die unmittelbaren Folgen eines Traumas sind insbesondere ein Ansteigen der Empfindlichkeit gegenüber Bedrohung und Stress, was eine Erhöhung der Aufmerksamkeit selektiv für traumbezogene Reize und einen Anstieg der Erwartungen physischer Gefahr, Verlust, Verrat etc. mit sich bringt. Die Emotionen können von einer Vielfalt kurzfristiger Kognitionen begleitet sein, wie z. B. Bewertungen der Angst vor einer Verletzung bis hin zu der unerschütterlichen Überzeugung, dass der Tod unvermeidbar sei. Je nach Art und Dauer des traumatisierenden Ereignisses bestehen Unterschiede im bewussten Erleben von Emotionen. Bei Autounfällen können sich Unfallopfer oftmals nicht an ihre Gefühle erinnern (Brewin et al. 2000b), während bei Überfällen eine Vielfalt von unterschiedlichen Emotionen erinnert werden (Resick 2001). Extreme Erregung begrenzt jedoch grundsätzlich den Fokus der Aufmerksamkeit und führt zur kognitiven Unflexibilität. Veränderungen der Bewusstseinsebene in Form von Derealisation und Depersonalisation können in traumatischen Situationen auftreten. Diese unmittelbaren Veränderungen beeinflussen die Informa-
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Attentionale Interferenz Die Bedeutsamkeit attentionaler Interferenz und Bahnung in der Informationsverarbeitung chronisch kranker PTBS-Patienten wurde in einer Arbeit von Pineles et al. (2007) untersucht, in der ein Paradigma von Yovel et al. (2003) adaptiert wurde. Es handelt sich um ein visuelles Suchparadigma nach der »odd-one-out« Methode. Es wurden Wörter als Stimuli eingesetzt, um zwischen Bahnungs- und Interferenzeffekten unterscheiden zu können (s. a. Rinck et al. 2005), da verbale Stimuli eine größere Varianz an traumaspezifischen Erlebnissen – in der speziellen Untersuchung handelte es sich um vietnamkriegspezifische Wörter – abdecken können als piktorale
Stimuli. Um die semantische Verarbeitung zu kontrollieren, wurde zusätzlich eine lexikalische Entscheidungsaufgabe zur visuellen Suchaufgabe eingeführt (s. a. Yovel et al. 2003). Die Aufgabe bestand darin, eine abweichende Abfolge von Buchstaben in verschiedenen Buchstabenketten zu identifizieren. Anschließend mussten die Teilnehmer entscheiden, ob es sich bei dem Zieltarget um ein echtes Wort oder ein Nonsens-Wort handelte. Es zeigte sich zwar eine höhere Interferenz für traumarelevante Wörtern bei Patienten mit schwerer chronischer PTBS im Vergleich zu Patienten mit geringen Symptomen, es fand sich jedoch kein Bahnungseffekt für diese Stimuli.
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Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
tionsverarbeitung und somit auch den späteren Gedächtnisabruf. Es ist anzunehmen, dass Informationen nicht wie in stressfreien Situationen durch das hippokampale Gedächtnissystem, sondern vornehmlich durch das alternative amygdaloide Gedächtnissystem verarbeitet werden (Brewin 2001; Le Doux 1998; Markowitsch 1999). Nach der Traumaexposition treten sekundäre Emotionen auf, die durch kognitive Reflexions- und Bewertungsprozesse entstehen. Kurzzeitige kognitive Veränderungen treten bei den meisten traumatisierten Individuen in den ersten Tagen und Wochen auf. Ausschließlich Personen, die eine chronische PTBS entwickeln, zeigen dauerhafte kognitive Veränderungen. Veränderungen des emotionalen Erlebens und der Informationsverarbeitung affekthaltiger Stimuli während und nach der Traumexposition ließen sich in einer Vielzahl von Studien nachweisen (Andrews et al. 2000b; Bremner et al. 2003; Buckley et al. 2000; Chemtob et al. 1999; Elzinga u. Bremner 2002; Foa et al. 1991; Gilbertson et al. 2001; McNally et al. 1990, 1993, 1994, 1998; Moradi et al. 2000; Pitman 1989; Roca u. Freeman 2001; Vasterling et al. 1998; Wolfe u. Schlesinger 1997). Die generellen Defizite vor allem im Erinnern sowohl traumabezogener als auch allgemein emotional negativer Stimuli bei der PTBS scheinen auf Veränderungen innerhalb neuronaler Schaltkreise zu beruhen (7 Absch. 13.4.2). Diese Veränderungen beziehen sich vor allem auf Regionen, die als stressanfällig gelten, wie der Hippocampus, mesialer und dorsolateraler präfrontaler Kortex und die Amygdala (Bremner 2002b; Mc Ewen et al. 1992; Pitman et al. 2001; Sapolsky 1996). Insbesondere die Regulation der Amygdalafunktion wird bei Minderfunktion des präfrontalen Kortex als beeinträchtigt angenommen (z. B. Morgan u. LeDoux 1995; Ochsner u. Gross 2005). Die fehlende Regulation resultiert in einer mangelhaften Extinktion der Angstreaktion, die von der Amygdala moduliert wird. Weitere Regionen, wie das posteriore Cingulum, die parietalen Areale, Motorkortex und Cerebellum sind mit diesen kritischen Regionen verschaltet und können deshalb ebenfalls eine Rolle bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung einer PTBS spielen. Eine wesentliche Schlussfolgerung, die sowohl aufgrund der klinischen Symptomatik als auch in-
folge der verschiedenen Forschungsergebnisse, gezogen wurde, ist, dass die vom Patienten empfundene Angst und Bedrohung als nicht kontrollierbar oder beeinflussbar erlebt wird (Frewen u. Lanius 2006). Die PTBS scheint demnach durch die Unfähigkeit, sowohl subjektiv erlebte als auch objektiv ableitbare psychophysiologische aversive Erregung und Distress zu bewältigen bzw. zu regulieren, charakterisiert werden zu können. Dem entgegengesetzt lässt sich die PTBS auch durch die Unfähigkeit, eine Mindererregung (Hypoarousal) zu steigern, beschreiben, wenn Zustände der Anhedonie oder der emotionalen Taubheit vorliegen. Für diese veränderte Selbstregulationsfähigkeit könnten verschiedene Mechanismen relevant sein. So nehmen z. B. Phillips et al. (2003) an, dass mindestens 3 verschiedene Prozesse bei der Verarbeitung emotionaler Stimuli und Situationen bedeutsam sind: a) Emotions-Perzeptions-Bewertung (»emotion perception appraisal«), d. h. die Detektion emotional relevanter Stimuli, b) Affektgenerierung, was das Entstehen eines körperlichen Zustandes infolge des ersten Prozesses bezeichnet. Dieser Zustand ist bewusst wahrnehmbar. Schließlich folgt c) die Regulation eines affektiven Zustandes. Emotionsregulationsprozesse beziehen sich vor allem auf das willentlich steuerbare Erleben und den Ausdruck von Emotionen. Während die ersten beiden Verarbeitungsstufen stimulusgesteuert und automatisch sind, also eine »Bottom-up«-Verarbeitung darstellen (Gross 1998), gilt die Emotionsregulation als »Top-down«-Prozess, die von höheren kognitiven Funktionen, wie Aufmerksamkeit und anderen exekutiven Funktionen, moduliert wird, (Phillips et al. 2003; Gross 1998). Ein Störung der Emotionsregulation scheint vor allem bei langzeitlich traumatisierten Personen, die durch in der Ontogenese frühe interpersonelle und bindungsbezogene Traumata (häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch in der Kindheit) eine PTBS entwickelten, vorzuliegen (z. B. Nemeroff 2004). Im Gegensatz dazu scheinen Personen mit einfacher Traumexposition (z. B. Autounfall, Arbeitsunfall, Naturkatastrophe, Raubüberfall) im Erwachsenenalter weniger gestört zu sein. Eine einfache Erklärung dafür ist,
269 13.6 · Neurokognition der PTBS
dass die neuronale Entwicklung des präfrontalen Kortex bis in das Erwachsenenalter hineinreicht und in der Ontognese spät ihren Höhepunkt erreicht. So fehlen im Kindesalter die neurofunktionellen Kapazitäten um das Stress-Erregungs-Niveau zu regulieren. Die drei von Philips et al. (2003) angenommenen Verarbeitungsschritte sind wahrschenlich nicht als linear-sukzessive Abfolge von Prozessen zu vestehen, von der Perzeption bis hin zur Regulation, sondern vielmehr als ein nicht-lineares, dynamischverschachteltes Prozesssystem (Neufeld 1999). So kann z. B. ein bestehender affektiver Zustand die perzeptive Verarbeitung insofern beeinflussen, als dass die affektive Bewertung in Übereinstimmung mit dem emotionalen Ausgangszustand vorgenommen wird. Oder emotionale Regulationsprozesse können die Bewertung auch vor der Affektgenerierung bestimmen. Darüber hinaus dient die Emotionsregulation nicht nur der Abmilderung der affektiven Erregung, sondern kann auch in der Steigerung der Intensität eines generierten Affektes resultieren (Ochsner et al. 2004). Die neuronalen Substrate der emotionalen Perzeption und der Affekt k generation wurden mittlerweile vielfach beschrieben (Wager et al. 2003; Murphy et al. 2003). Grundsätzlich kommt der Amygdala als präattentivem Detektor und Marker affektiv salienter Stimuli beim Lernen als auch beim Modulieren deklarativer und hippocampusassoziierter Gedächtnisinhalte eine Schlüsselfunktion zu. So wurde z. B. eine Hyperreagibilität der Amygdala bei der Präsentation bedrohungsspezifischer Stimuli bei der PTBS gezeigt (Rauch et al. 2000). Die neuronale Basis der Emotionsregulation wurde hingegen erst in den letzten Jahren erforscht (Ochsner u. Gross 2005; Phan et al. 2002, 2004; im Überblick). Beispielhaft ist eine erste Metaanalyse bildgebender Studien von Phan et al. (2002) zu den Grundlagen der emotionalen Verarbeitung. Die Autoren zeigten, dass dem mesialen präfrontalen Kortex bei der emotionalen Verarbeitung unabhängig von der Emotionsqualität eine wesentliche Rolle bei der Emotionsregulation zukommt. Gross und Ochsner (2005) und auch Kalisch et al. (2006) konnten darüber hinaus zeigen, dass die kognitive Regulation von Emotionen auf einer Interaktion zwischen präfrontalen und cingulären Regulationssys-
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temen mit sowohl kortikalen als auch subkortikalen emotionsgenerierenden neuronalen Systemen beruht (Ochsner u. Gross 2005; Kalisch et al. 2006). Auf der Regulationsseite finden wir sowohl in Human- als auch in Tierstudien übereinstimmende Belege für eine Aktivierung von ventralem lateralen und mesialem präfrontalen Kortex (mPFC), orbitofrontalem Kortex (OFC) und/oder dem anterioren Cingulum, die jeweils reziproke Verbindungen zu den »Bewertungsinstanzen«, wie zur Amygdala aber auch zum Nucleus Accumbens (Nacc) aufweisen. Dorsale PFC (dPFC) Regionen haben hingegen nur wenige oder gar keine direkten Verbindungen zu diesen Bewertungssystemen und dementsprechend nur indirekten Einfluss auf emotionale Assoziationen und Stimmungen über ventrale Regulationssysteme oder über perzeptive und assoziative Gedächtnissysteme (Ochsner u. Gross 2005). Vor allem der mesiale orbitofrontale Kortex (mOFC) stellte sich für die Repräsentation angenehmer und unangenehmer Eigenschaften eines Stimulus als wichtig heraus. In ihrer Interaktion scheinen direkte und indirekte Verarbeitungssysteme an der Enkodierung und mentalen Repräsentation affektiver Eigenschaften von Stimuli beteiligt zu sein (s. Damasio 1996). Die Rolle dieser Systeme bei unterschiedlichen Emotionen wird jedoch weiterhin kontrovers diskutiert. Vor allem hinsichtlich der neuronalen Lateralisierung (rechts- vs. linkshemisphärische Verarbeitung) der affektiven Verarbeitung scheinen mehrere Einflussfaktoren wirksam zu werden, z. B. Art des Stimulusmaterials (Wort, Bild) oder Art der Regulationsstrategie (Ablenkung, willentliche Unterdrückung, kognitive Distanzierung). Die Lateralisierung der Amygdalaaktivierung und der präfrontalen Aktivitätssteigerungen ist somit determiniert durch die Interaktion von »Top-down«-Regulationsprozessen (z. B. Verhaltensinhibition und Intereferenzauflösung) und »Bottom-up-Modulation« der Emotionen (Bunge et al., 2001). Das Verständnis emotionaler Regulation ist vor allem in der Behandlung von affektiven Erkrankungen, bei denen emotionale Reaktionen oder Stimmungen dysreguliert sind, von Interesse. Eine wachsenede Anzahl von Bildgebungsstudien kommt zu dem übereinstimmenden Ergebnis, dass willentliche Versuche der Umbewertung von negativ geladenen
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Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
Bildmaterial zu einer Minderung der affekterregungsbezogenen Aktivierungen in der Amygdala bei gleichzeitiger Steigerung der Aktivierung im dorsolateralen ventromesialen PFC, anteriorem cingulären Kortex (ACC) und dem OFC führen (Beraldi et al. 2006; Meister et al. 2006a; Ochsner et al. 2002; Phan et al. 2005). Vergleichbar führt auch der Versuch der Unterdrückung (Suppression, Loslösen der Aufmerksamkeit) von Traurigkeit oder Angst, die beispielsweise durch filmisches Material und niedrigschwellige elektrische Schocks induziert wurde, zu Aktivierungsänderungen in eben diesen Hirnarealen. Ein ähnliches Ergebnis zeigte sich in Untersuchungen von Critchley et al. (2001, 2002) und Nagai et al. (2004) bei Studien zu biofeedbackbasierter Entspannunng. Dementsprechend scheinen PFC, OFC und ACC für die volitionale »Topdown«-Kontrolle autonomer Körperreaktionen, Impulse und negativem Affekt relevant zu sein. Offensichtlich scheint jedoch auch noch eine weitere Hirnstruktur für einen bislang wenig untersuchten Aspekt der affektive Vearbeitung eine kritische Rolle zu spielen: Die rechtshemisphärische anteriore Insula und möglicherweise auch die linkshemishärische, ist an der bewussten Wahrnehmung interoceptiver Signale negativer Affekte beteiligt (Craig 2002, 2005; Meister et al. 2006b).
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Dieser Befund könnte im Sinne einer massiven Suppression oder auch robusten Inhibition des affektiven Arousals während eines dissoziativen Zustandes beim traumatischen Erinnern interpretiert werden. Das neuronale Aktivierungsmuster in diesem Zustand ähnelt dem suppressionsassoziierten Metabolismus von Gesunden bei der Unterdrückung experimentell hervorgerufener Traurigkeit und Angst in den Arbeiten von Lévesque und Beauregard (Beauregard et al. 2004; Lévesque et al. 2003) oder Kalisch et al. (2005). Die Rolle des Arousals bei der Informationsverarbeitung Kardiner (1941) beschrieb bei Patienten
mit einer traumatischen Neurose (heute: PTBS) als Kern der Erkrankung die sog. »Physioneurosis« in Form einer beobachtbaren Erhöhung des Muskeltonus, einer Tachykardie, Schreckreaktionen und Hyperreaktivität auf externe Stimuli. In Vergleichen zwischen Kriegsveteranen mit kriegsbedingten Belastungsstörungen und anderen Veteranen ohne diese Störungen von Wenger (1948) und Dobbs und Wilson (1960) konnte anhand von psychologischen und physiologischen Messwerten differenziert werden. Groß angelegte Studien zur Erhebung psychophysiologischer Korrelate des PTBS, wie sie von Keane et al. (1998) durchgeführt wurden, bauten auf
Studienbox
Emotionsinduktion In Untersuchungen, die die »traumaskript«-gesteuerte Emotionsinduktion einsetzen, wird das traumatische Ereignis als Narrativ vorgegeben. Aufgabe ist es, sich das Ereignis so vorzustellen als passiere es nochmal in der Gegenwart. In den Untersuchungen mit PTBS-Patienten und Gesunden dazu ließen sich zwei Cluster von psychischen Antwortmustern unterscheiden: 4 Personen, die ein traumatisches Ereignis in Form von »Flashbacks« wiedererlebten und dabei auf psychophysiologischer Ebene eine Übererregung (Hyperarousal) verspürten (Lanius et al. 2001). 4 Personen, die dissoziatvie Reaktionen, wie Derealisation, Depersonlisation, emotionale Loslösung erlebten (Lanius et al. 2002).
Mit erstem Responsecluster ging bei der PTBS eine erhöhte Herzschlagfrequenz und ein reduzierter Hirnmetabolismus im mesialen PFC, ACC und Thalamus einher (Lanius et al. 2001). Neben der subjektiven Wahrnehmung einer Überflutung von negativen Gefühlen (Angst etc.), war nicht nur die ACC-Aktivierung reduziert, sondern es zeigte sich auch ein anderes rechtshemipshärisches dominantes Aktivierungsmuster im Vergleich zu gesunden Menschen. Mit dem zweiten Responsecluster ging bei der PTBS insgesamt einer Reduzierung der Herzrate einher (Lanius et al. 2002). Auf Hirnebene zeigte sich eine Zunahme im Metabolismus des inferioren frontalen Gyrus, des mesialen PFC und des ACC relativ zu den Kontrollpersonen.
271 13.7 · Ausgewählte kognitive Modelle der PTBS
Konzepten von älteren Untersuchungen in den 1980er-Jahren auf (Blanchard et al. 1982; Malloy et al. 1983; Pitman et al. 1987). Auf der Basis von visuellem und auditivem Stimulusmaterial wurde die physiologische Reagibilität auf neutrale Reize im Vergleich zu emotional besetzten traumaspezifischen Reizen geprüft. Es zeigte sich, dass ehemalige Soldaten mit PTBS ein deutlich höheres Arousal und ausgeprägtere subjektive Belastungsgefühle aufwiesen als Soldaten ohne PTBS. Psychophysiologische Maße wie Herzrate, Hautwiderstand, Elektromyogramme, systolischer und diastolischer Blutdruck wurden parallel in einer Ruhebedingung (Basisratenerhebung) und während der Verarbeitung neutraler und stressbezogener Reize erhoben. Auch in der Ruhebedingung oder während der Konfrontation mit neutralen Reizen erwiesen sich die ehemaligen Soldaten mit PTBS erregter als Soldaten ohne. In der Laboruntersuchung von Keane et al. (1998) zeigten ehemalige Soldaten mit PTBS ein unspezifisches Arousal innerhalb der Ruhebedingungen bei antizipierter Angst. Allerdings konnten diese Befunde von Orr et al. (1998) innerhalb der häuslichen Umgebung nicht repliziert werden. Die nutzungsabhängige Internalisierung einer durch Arousal ausgelösten Angstreaktion kann als Zustandsgedächtnis bezeichnet werden. Dieses Gedächtnis baut sich dadurch auf, dass alle sensorischen Signale nach der Filterung durch die sensorischen Organe eine Kaskade zellulärer und molekularer Prozesse im Gehirn initiieren. Neurochemie, Zytoarchitektur und damit auch Hirnstrukturen und Funktionen verändern sich je nach Frequenz, Dauer und Intensität der Signale. Je häufiger ein bestimmtes neuronales Aktivitätsmuster auftritt, desto dauerhafter ist die internale Repräsentation. Die Aktivierungshäufigkeit bestimmt die nutzungsabhängige Internalisierung neuer Informationen, was zu einer Sensibilisierung führt. Eine einmal sensitivierte Aktivierung kann im Folgenden durch weniger intensive externale Stimuli hervorgerufen werden (Kalivas u. Duffy 1989; Kleven et al. 1990). Das Gehirn bleibt sensitiv oder plastisch gegenüber Erfahrungen über die gesamte Lebensspanne hinweg, wobei allerdings einzelne Hirnareale eine unterschiedliche Plastizität zu haben scheinen. Dieselben Mechanismen, die die Sensibilisierung im reifen Gehirn bedingen, bestimmen während der
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Entwicklung die funktionelle Kapazität des menschlichen Gehirns. Dieselben spezifischen molekularen Charakteristika nervöser Vorgänge, die dem Erwerb neuer Information dienen, sind verantwortlich für die Organisation des Gehirns während der Entwicklung (Goelet u. Kandel 1986; Kandel u. Schwartz 1982).
13.7 Ausgewählte kognitive
Modelle der PTBS Das Gedächtnismodell von McClelland et al. Zur
Erklärung der traumatischen Verarbeitung kann das Gedächtnismodell von McClelland et al. (1995) herangezogen werden. Sie nehmen an, dass das hippocampale Gedächtnissystem für schnelles Lernen relevant ist und unmittelbar auf Veränderungen der Umwelt reagieren kann, während ein distinktes weitreichendes neokortikales System für eine Langzeitspeicherung und das langsame Lernen verantwortlich ist. Computersimulationen zeigten, dass das neokortikale System nicht in der Lage ist, auf neue, überraschende Informationen zu reagieren und in das bereits Gelernte zu integrieren. Es werden sog. katastrophale Interferenzen ausgelöst (McCloskey u. Cohen 1989), die mit dem Ignorieren von neuen Informationen oder von relevanten alten Erinnerungen einhergehen. Resick und Schnicke (1993) unterscheiden diesbzgl. zwischen: 4 Überassimilation (Überanpassung des Traumas an die Umwelt), durch die die Realität des traumatischen Ereignisses minimiert oder abgelehnt wird und 4 Überakkommodation (Überanpassung der Umwelt an das Trauma), in der die Realität außerhalb des traumatischen Ereignisses als völlig verändert wahrgenommen wird, wenn z. B. jedes laute Geräusch eine Bedrohung darstellt. Als verschachteltes Lernen (»interleaved learning«) bezeichnen McClelland et al. die Möglichkeit, neue Informationen graduell in alte Erinnerungen zu integrieren. Diese Form des Neulernens stellt eine langsamere Form des Neuerwerbs und Rekonstruierens alter Informationen dar, die auf Wiedererinnern und Neubewertung beruht. Dieser Ansatz ist im Rahmen therapeutischer Behandlungen des
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Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
PTBS, insbesondere der dissoziativen Amnesie, von Bedeutung. Hinsichtlich der Aufrechterhaltung des PTBS können verschiedene kognitive Variablen als bedeutsam angesehen werden. So konnte gezeigt werden, dass der Schweregrad des PTBS sowohl mit maladaptiven Überzeugungen über die eigene Person und die Welt als auch mit der Art der traumatischen Erinnerung zusammenhängt (Brewin et al. 1996; Foa u. Rothbaum 1998; Foa et al., 1995; Janofff Bulman 1985, 1995; Joseph et al. 1997; McCann u. Pearlman 1990; Roth u. Newman 1991). Synthese möglicher kognitiver Faktoren der Aufrechterhaltung nach Ehlers und Clark Ehlers und
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Clark (2000) gehen von einer Synthese möglicher kognitiver Faktoren bei der Aufrechterhaltung der PTBS aus. Die Autoren vertreten die Ansicht, dass Personen, die unter einer PTBS leiden, das Trauma in einer Art und Weise verarbeiten, dass es eine schwere andauernde Bedrohung darstellt. Bewertungen hinsichtlich externaler und internaler Bedrohungen können sowohl ausgeprägte Emotionen, wie Angst, Ärger, Scham und Schuld als auch allgemeine unspezifische Erregungssymptome generieren; sie führen zu maladaptiven Kontrollstrategien, die wiederum posttraumatische Symptome verstärken können. Stresssituationen ist man demnach nicht a priori passiv ausgesetzt. Stress ist ein Prozess der aktiven Auseinandersetzung (transaktionaler Prozess), wobei die Interpretation der Situation eine entscheidende Rolle spielt (Lazarus u. Folkman 1984). Die Einschätzung der Bedrohung (»primary appraisal«) wird ergänzt durch die Bewertung der eigenen Handlungsmöglichkeiten (»secondary appraisal«). Diese hängt von den verfügbaren situativen Ressourcen ab, wie z. B. dem Handlungsspielraum, oder von personalen Ressourcen, wie z. B. der sozialen Unterstützung. Das Coping stellt dabei den Versuch dar, Stresssituationen zu vermeiden, zu mildern oder zu bewältigen. Formen der Erinnerung Es ist davon auszugehen,
dass es unterschiedliche Formen der Erinnerung gibt; verkürzt werden zwei Formen unterschieden: 4 explizite Erinnerung, die sich auf das Bewusstsein von Fakten und Ereignissen bezieht und 4 implizite Erinnerung, die sich auf Gewohnheiten, emotionale Antworten, reflexive Hand-
lungen und klassisch konditionierte Reaktionen bezieht. Bei traumatischen Ereignissen scheint ein extremes emotionales Arousal mit den expliziten Erinnerungsfunktionen des Hippocampus zu interferieren. In extrem stresserzeugenden Situationen kann die explizite Erinnerungsfunktion versagen, sodass die Betroffenen keine Sprachbilder (Narrative) des Ereignisses entwickeln können. Aufgrund der erhaltenen impliziten Erinnerungsfunktionen können sie jedoch körperliche Sensationen, Angstzustände, ängstigende diffuse Wahrnehmungen haben, die durch bestimmte, mit dem traumatischen Ereignis verbundene, Auslösesituationen evoziert werden können. Easterbrook-Hypothese und ihre Weiterführung
Die Effekte von Erregung und extremen Gefühlszuständen auf das Gedächtnis wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Zum einen besteht Einigkeit darüber, dass großer Stress sich auch auf die Genauigkeit der Erinnerungen bei Augenzeugenberichten auswirkt (Kassin et al. 1989; Tromp et al. 1995). Das sog. »Tunnelgedächtnis« oder der »Tunnelblick« beschreibt das Phänomen der begrenzten fokussierten Aufmerksamkeitsausrichtung auf bestimmte Aspekte einer Situation (Mackworth 1965; Williams 1988). Easterbrook (1959) nimmt an, dass physiologisches Arousal die Aufmerksamkeitsbreite bei der Stimulusverarbeitung reduziert, sodass die Aufmerksamkeit stärker an zentrale Aspekte gebunden und weniger auf periphere Aspekte einer Situation gerichtet werden kann. Die sog. Easterbrook-Hypothese wurde zur Erklärung von Effekten emotionaler Erregung auf das Gedächtnis erweitert. So ging Christianson (1992) davon aus, dass zentrale Informationen eines traumatischen Ereignisses folglich besser erinnert werden als periphere Informationen, während das Gegenteil für neutrale Ereignisse gilt. Nach Safer et al. (1998) ist das Tunnelgedächtnis ein Resultat von sowohl peritraumatisch eingeengter Aufmerksamkeit als auch von einer erhöhten posttraumatischen elaborierten Informationsverarbeitung und spezifischen emotionalen Verarbeitung kritischer Details. Die Informationsverarbeitung nach der Reizdarbietung begrenzt demnach ebenfalls den Erwerb von Informationen aus der mentalen Peripherie. Obschon es sich bei den Untersuchun-
273 13.7 · Ausgewählte kognitive Modelle der PTBS
gen in den meisten Fällen um die experimentelle artifizielle, die eigene Person nicht betreffende, Präsentation von traumatisierenden Bildern handelt, konnten Christianson und Loftus (1991) zeigen, dass ein Bild, das negative Emotionen erzeugt, zu einer elaborierten Verarbeitung der für das Arousal relevanten Aspekte und zu einer sehr restriktiven Verarbeitung von peripheren Elementen führt. Das duale Repräsentationsmodell von Brewin Die
Diskrepanz zwischen detaillierter emotional unbeteiligter Traumabeschreibung und dem affektivphysiologischem Wiedererleben desselben Traumas führte zu der Unterscheidung von zwei Gedächtnissystemen der Traumarepräsentation (Brewin et al. 1996). Demnach ist die Narration des Traumas eine Leistung des verbal abrufbaren Gedächtnisses (»verbal accessible memory«, VAM). Diese Bezeichnung soll beschreibt narrative Fakten der Autobiografie, die bewusst, kontrolliert und situationsangepasst abgerufen werden können. Im Gegensatz dazu stellt das Wiedererleben eine Operation des situativ abrufbaren Gedächtnisses dar (»situationally accessible memory«, SAM). Unter dieser Bezeichnung subsummieren Brewin et al. (1996) alle von situativen Auslösern initiierte Flashbacks, die sich vollständig der Kontrolle des Patienten entziehen. Beide Repräsentationsformen beinhalten nach Brewin unterschiedliche Aspekte eines einzelnen Traumas. In einer neueren Untersuchung stellten Hellawell und Brewin (2002) fest, dass FlashbackPerioden mit schlechteren Leistungen sowohl in kognitiven Aufgaben zur visuellen Verarbeitung als auch in Aufgaben zur sprachlichen Verarbeitung einhergingen. Die Unterscheidung in zwei Gedächtnissysteme korrespondiert mit physiologischen Annahmen zur Unterscheidung von zwei gedächtnisrelevanten Systemen für die neuronale Informationsverarbeitung. Ähnliche Annahmen wurden schon von Brown und Kulik (1977) und Pillemer (1984) formuliert, die zwischen einem bildhaften gegenüber einem verbalen Gedächtnis hinsichtlich emotional erregender Ereignisse unterscheiden. Das bildhafte Erinnern ist generell durch eine erlebte Aktualität der Erinnerung gekennzeichnet. Ob VAM- oder SAM-Erinnerungen aktiviert werden, hängt sowohl von den traumabezogenen Stimuli als
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auch von jeweils unterschiedlich abgespeicherten Inhalten der Erinnerung ab. Wenn die traumabezogenen Trigger gleich gut zur VAM- wie zur SAMErinnerung passen, dann wird eine Aktivierung der SAM und somit der affektiven Anteile des Gedächtnisses verhindert. VAM-Erinnerungen sind günstig für die Kontrolle unangemessener Angstreaktionen. Je ähnlicher SAM und VAM sind, desto besser ist die Kontrolle. Innerhalb der Traumatherapie kann der Abgleich zwischen SAM und VAM ein wesentliches Therapieziel darstellen, was durch Aufmerksamkeitsausrichtung auf die Flashbackinhalte erreicht werden kann (Foa u. Rothbaum 1998). Das duale Repräsentationsmodell von Brewin impliziert zudem die Möglichkeit, mit negativen Gedanken hinsichtlich der eigenen Person und des Verhaltens in und nach der Traumasituation zu arbeiten. Das VAM kann mit fehlangepassten internalen Überzeugungen, Erwartungen und CopingStilen der einzelnen traumatisierten Person in Verbindung gebracht werden. Diese narrativen Erinnerungen und damit verbundenen fehlangepassten Erwartungen werden im Bewusstsein gehalten und führen zu einem dauerhaften hohen Erregungsniveau mit den Gefühlen von Schuld, Scham oder Ärger (Ehlers u. Clark 2000). Das Integrieren fehlender Detailerinnerungen sowie das Neubewerten einzelner Traumaaspekte als auch das Durchleben der negativen Gefühle können in der Traumatherapie i. A. von Bedeutung sein.
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Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
Fazit PTBS wird mit psychischen, behavioralen, neuronalen und körperlichen Veränderungen in Zusammenhang gebracht, über eine Kausalität lässt sich allerdings streiten. Die physiologische Wirksamkeit von Stress auf Gedächtnis, Aufmerksamkeit und emotionale Verarbeitung in verschiedenen Stadien der Informationsverarbeitung (Aufnahme, Speicherung und Abruf von Informationen) ist für die Pathogenese des PTBS von großer Bedeutung. Insgesamt zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen Trauma und Volumen- bzw. Funktionsänderungen der Amygdala, des Hippocampus und medialer präfrontaler Regionen. Im Vordergrund der klinischen und neuropsychologischen Symptomatik des PTBS stehen das intrusive Flashbackerleben traumatischer Erinnerungsfragmente, emotionale Dysregulation und Gedächtniseinbußen (dissoziative Amnesie, mnestisches Blockadesyndrom).
13.8 Literatur
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Sowohl inkonsistente Untersuchungsmethoden als auch inkonsistente Ergebnisse entfachen weiterhin die Debatte über die Bedeutsamkeit beobachteter Veränderungen. Metaanalysen und vergleichende Übersichtsarbeiten führen zu allgemeingültigeren Aussagen und zu fokussierter methodischer Kritik. Wegen ethischer Einschränkungen innerhalb der klinischen Forschung und begrenzter Übertragbarkeit der Ergebnisse aus der Tierforschung besteht die dringende Forderung nach höherem Konsensus hinsichtlich der Untersuchungsmethoden, insbesondere im Einsatz neuropsychologischer Testverfahren und experimenteller Paradigmen, um eine höhere Vergleichbarkeit der klinischen und experimentellen Ergebnisse zu erzielen, und um zu einer systematischen Modellbildung und Entwicklung von Präventionsmethoden und Behandlungsstrategien zu kommen.
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284
13
Kapitel 13 · Neuropsychologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
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14 14 Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit Fred Rist
14.1 Kognitive Beeinträchtigungen als Folge des Konsums psychotroper Substanzen – 286 14.2 Persistierende substanzinduzierte amnestische Störung: Das Korsakoff-Syndrom – 288 14.2.1 Klinisches Bild – 288 14.2.2 Neuropsychologische Befunde – 289 14.2.3 Neuropathologische Befunde – 292
14.3 Das Ausmaß kognitiver Beeinträchtigungen alkoholabhängiger Patienten – 293 14.3.1 Testpsychologische Befunde – 293 14.3.2 Vergleiche zwischen alkoholabhängigen und hirnorganisch geschädigten Patienten – 294
14.4 Dimensionen der kognitiven Beeinträchtigung alkoholabhängiger Patienten – 295 14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.4.4
Beeinträchtigungen spezifischer Funktionsbereiche – 296 Lokalisierbarkeit von Defiziten – 297 Risikofaktoren für kognitive Beeinträchtigungen – 298 Restitution der kognitiven Beeinträchtigungen – 300
14.5 Strukturelle Veränderungen des Gehirnes bei alkoholabhängigen Patienten – 302 14.6 Konsequenzen der kognitiven Beeinträchtigungen für die Therapie – 304 14.6.1 Der Einfluss kognitiver Beeinträchtigungen auf den Therapieerfolg – 304 14.6.2 Rehabilitationansätze bei kognitiven Beeinträchtigungen alkoholabhängiger Patienten – 306
14.7 Literatur
– 307
286
Kapitel 14 · Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit
Vielfältige psychotrope Substanzen werden von Menschen freiwillig eingenommen, um bestimmte Reaktionen des Zentralnervensystems (ZNS) zu erzielen. Dabei wird versucht, unterschiedliche Aspekte von Stimmung, Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Denken gezielt zu verändern. Das ZNS reagiert allerdings nicht nur in der vom Konsumenten gewünschten Weise auf psychotrope Substanzen: Je nach Substanz, Dosis, Dauer und Kontinuität des Konsums einerseits und individueller Vulnerabilität andererseits ist immer auch mit unerwünschten Wirkungen zu rechnen. Akute und chronische Auswirkungen von Substanzkonsum umfassen deshalb oft weitreichende Veränderungen im Erleben und Verhalten der Betroffenen. Diese Änderungen sind jedoch der Introspektion nur teilweise zugänglich und vom Individuum kaum differenziert zu beschreiben. Beeinträchtigungen kognitiver Funktionen sind dabei von zentraler Bedeutung, da sie für die Selbststeuerung und die Bewältigung von Lebensaufgaben entscheidend sind. Die neuropsychologische Forschung hat die anspruchsvolle Aufgabe, Art und Ausmaß solcher Beeinträchtigungen, die Risikofaktoren für das Auftreten von kognitiven Beeinträchtigungen und schließlich deren Auswirkungen auf den Lebensvollzug aufzuklären.
14.1 Kognitive Beeinträchtigungen
als Folge des Konsums psychotroper Substanzen
14
Das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen DSM-IV, (Saß et al. 1996; Übersetzung der 4. Aufl. des »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« der American Psychiatric Association) unterscheidet unter der Rubrik Störungen durch Substanzkonsum den Missbrauch einer Substanz und die Abhängigkeit von einer Substanz. Die Symptome beider Störungen beschreiben Veränderungen im Konsumverhalten, im Erleben der Konsumwirkungen und in den psychischen und sozialen Folgen des Konsums für das Individuum. Im Fall der Abhängigkeit wird der Konsum einer Substanz und die Bewältigung der Folgen des Konsums für das Individuum vorrangig und schränkt andere Interessen und Aktivitäten so ein, dass langfristig die gesamte Lebensweise auf
Erwerb und Konsum der Substanz ausgerichtet ist. Zeichen einer körperlichen Abhängigkeit sind für die Diagnose einer Abhängigkeit nicht notwendig. Mit den kritischen Änderungen im Erleben und Verhalten im Verlauf einer Abhängigkeitsentwicklung gehen quantitative und qualitative Veränderungen zentralnervöser Reaktionen auf die Substanz und auf konsumassoziierte Reize einher, die auch durch bildgebende Verfahren (vgl. 7 Kap. 6 »Bildgebende VerfahrenbeipsychischenStörungen« von Braus, Demirakça und Tost, in diesem Band) eindrucksvoll dargestellt werden können. Beispielsweise reagieren Kokainabhängige mit einer metabolischen Aktivierung des anterioren Cingulums auf Videoszenen von Kokainkonsum und bereits dessen Vorbereitung (Wexler et al. 2001). Diese metabolischen Aktivierungen zeigen die Veränderungen der affektiven Reaktion auf eine Vielfalt von Reizen, die in der Vergangenheit mit dem Substanzkonsum assoziiert wurden. Unabhängig von solchen Lern- und Anpassungsvorgängen im ZNS können je nach Substanz, Dosis, Dauer und Kontinuität des Konsums ausgeprägte Störungen in den verschiedensten kognitiven und affektiven Bereichen auftreten. Im DSM-IV umfasst die Gruppe der substanzinduzierten Störungen Symptome bei akuter Substanzeinwirkung, nach Absetzen einer kontinuierlich genommenen Substanz sowie nach Langzeitkonsum. Für alle hierunter aufgeführten Störungen sind gravierende vorübergehende oder andauernde Beeinträchtigungen kognitiver Funktionen zentral. . Tab. 14.1 enthält einen Überblick über substanzinduzierte Störungen, die bei verschiedenen Substanzen bekannt sind. Es handelt sich hierbei nur um eine Teilmenge der süchtig oder missbräuchlich genommenen Substanzen; auch werden keine Angaben über Störungen gemacht, die durch den kombinierten Konsum von Substanzen induziert werden. Intoxikationssymptome mit Beeinträchtigung kognitiver Funktionen treten bei allen aufgeführten Substanzen außer Nikotin auf. Entzugssymptome mit einer Verminderung kognitiver Leistungen sind zu erwarten bei: 4 Alkohol, 4 Amphetamin, 4 Kokain, 4 Nikotin, 4 Opiaten und 4 Anxiolytika.
14
287 14.1 · Kognitive Beeinträchtigungen als Folge des Konsums psychotroper Substanzen
. Tab. 14.1. Störungen im Zusammenhang mit dem Konsum psychotroper Substanzen, bei denen kognitive Funktionen vorübergehend oder andauernd gestört sind. (Nach DSM-IV; Saß et al. 1996)
Intoxikation
Entzug
Delir
Demenz
Amnestische Störung
Psychotische Störung
Alkohol
×
×
I/E
×
×
I/E
Amphetamine
×
×
I
–
–
I
Cannabis
×
–
I
–
–
I
Halluzinogene
×
–
I
–
–
I
Inhalantien
×
–
I
×
–
I
Koffein
×
–
–
–
–
–
Kokain
×
×
I
–
–
I
Nikotin
–
×
–
–
–
Opiate
×
×
I
–
–
I
Phenzyklidine
×
–
I
–
–
I
Sedativa, Hypnotika oder Anxiolytika
×
×
I/E
×
×
I/E
E während des Entzugs, I während einer Intoxikation, × tritt auf
Delire und psychotische Störungen können bei allen Substanzen unter Intoxikation auftreten, mit Ausnahme von Nikotin und Koffein. Bei Alkohol und der Gruppe der hypnotisch, sedierend und anxiolytisch wirkenden Substanzen können Delire und psychotische Störungen auch im Entzug auftreten. Bei diesen beiden Substanzgruppen sind auch persistierende amnestische Störungen und Demenzen als mögliche substanzinduzierte Störungen angegeben. Diese gravierenden Störungen treten jedoch erst nach langjährigem exzessivem Konsum und – im Fall von Alkohol – einer damit einhergehenden Mangelernährung auf. . Tab. 14.1 enthält als substanzinduzierte Störungen nur solche, die klinisch eindeutig feststellbar sind und die zu einer offensichtlichen Beeinträchtigung des Lebensvollzugs führen. Demenz und amnestische Störung sind chronische Störungen, die in der Terminologie der »International Classification of Functioning« (WHO 2001) als Organfunktionsstörung mit der Konsequenz der Aktivitäts- und Partizipationseinschränkung zu klassifizieren sind. Eine
Aufgabe der neuropsychologischen Forschung und Klinik ist es, solche Störungen kognitiver Funktionen und daraus resultierende Aktivitätseinschränkungen zu objektivieren und zu systematisieren. Jedem Eintrag der Tabelle lässt sich jedoch auch ein Bereich subklinischer Störungen zuordnen, in dem mit objektivierenden neuropsychologischen Verfahren diskrete Veränderungen kognitiver Leistungen feststellbar sind, ohne dass die diagnostischen Kriterien einer der Störungen in . Tab. 14.1 erfüllt wären. Dies gilt z. B. für die Wirkung von Blutalkoholkonzentrationen weit unterhalb der gegenwärtigen Obergrenzen für das Führen eines Kraftfahrzeugs (vgl. Eckhardt et al. 1998) und für kurzzeitige Entzugssymptome von Rauchern auch während ihres normalen Nikotinkonsums (Parrot 1999). Dies gilt aber insbesondere für kognitive Leistungseinbußen während des Langzeitgebrauches psychotroper Substanzen, die aber nicht das klinische Ausmaß einer persistierenden amnestischen oder demenziellen Störung erreichen. Angesichts der Fülle neuropsychologischer Fragestellungen und Befunde zu Auswirkungen
288
Kapitel 14 · Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit
psychotroper Substanzen musste für dieses Kapitel eine Auswahl getroffen werden. 1. Die Darstellung konzentriert sich auf die Folgen von Alkoholkonsum. Keine psychotrope Substanz wird von annähernd so vielen Menschen konsumiert wie gerade Alkohol. Diagnosen psychischer Störungen in Zusammenhang mit dem Konsum von Alkohol gehören zu den am häufigsten vergebenen Erst- und Zweitdiagnosen in der Psychiatrie. Eine Reihe neurologischer Erkrankungen sind direkt oder indirekt auf Alkoholkonsum zurückzuführen, wie z. B. die Wernicke-Enzephalopathie und das MachiafavaBignami-Syndrom (Kohler et al. 2000). 2. Kognitive Beeinträchtigungen werden ausschließlich in Zusammenhang mit langjährigem Substanzkonsum dargestellt. Veränderungen bei Intoxikation und Entzug oder Langzeitschäden bei Substanzgebrauch während der Schwangerschaft werden nicht behandelt.
14
Entwöhnungsbehandlungen konzentrieren sich meist ausschließlich auf die Behandlung der Abhängigkeit. Subklinische kognitive Probleme der Patienten werden dabei kaum beachtet. Dies ist verständlich, denn alkoholbedingte Störungen der Hirnfunktion entwickeln sich unmerklich über lange Zeit und treten in der Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung gegenüber akuten körperlichen und psychosozialen Problemen in den Hintergrund. Der Schwerpunkt dieses Kapitels lenkt die Aufmerksamkeit auf diesen Problembereich alkoholabhängiger Patienten.
14.2
Persistierende substanzinduzierte amnestische Störung: Das Korsakoff-Syndrom
14.2.1
Klinisches Bild
Als typische kognitive Störung nach langjähriger Alkoholabhängigkeit gilt das Korsakofff Syndrom. Es wurde erstmalig in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Korsakoff und Lawson unabhängig voneinander als ein Syndrom beschrieben, bei dem das Gedächtnis stark beeinträchtigt war,
während andere kognitive Funktionen intakt blieben. Die Betroffenen haben häufig eine jahrelange Vorgeschichte von exzessivem Alkoholkonsum, erfüllen die Kriterien der Alkoholabhängigkeit und sind meist über 40 Jahre alt. Die Störung ist normalerweise persistierend, obwohl es leichte Verbesserungen geben kann und in einigen wenigen Fällen Remissionen beschrieben wurden. Die Beeinträchtigung ist gewöhnlich schwer und kann eine lebenslange Betreuung notwendig machen. Kennzeichen sind eine Störung des Erlernens neuer Informationen in Verbindung mit einer retrograden Gedächtnisstörung, während Aufmerksamkeit und andere kognitive Leistungen vergleichsweise unbeeinträchtigt sind. Die moderne Definition des Syndroms, wie sie seit den 1970er-Jahren verwendet wird, beinhaltet eine im Verhältnis zu anderen kognitiven Funktionen unverhältnismäßig starke Beeinträchtigung von Gedächtnis und Lernen. Deren Ursache sind Hirnläsionen in Folge eines Thiaminmangels (Vitamin B1) in der Ernährung. Aus der Kombination von verlorenen und erhaltenen kognitiven Funktionen resultieren charakteristische Verhaltensweisen der Patienten, die bereits in den klinischen Darstellungen von Korsakoff und Lawson im 19. Jahrhundert beschrieben wurden (vgl. Kopelmann 1995). Patienten mit dieser Diagnose können sich mit ihrem Gegenüber flüssig unterhalten, ohne dass diesem kognitive Defizite auffallen. Dieselben werden erst deutlich, wenn Erfahrungen, Erlebnisse oder Aktivitäten des Patienten aus der unmittelbaren Vergangenheit systematisch abgefragt werden. Dann werden die Auskünfte sparsam, allgemein und unverbindlich oder die Patienten geben an, über lange Zeit gar nichts gemacht oder erfahren zu haben. Dieser Verlust von Gedächtnisinhalten wird durch einen Verlust an Spontaneität und Initiative und einem Mangel an Krankheitseinsicht begleitet. Konfabulationen kommen vor als Versuch, fehlende Gedächtnisinhalte zu konstruieren. Zwar ist die Orientierung nach Zeit und Ort durch die anterograde Gedächtnisstörung erschwert, die erhaltenen Intelligenzfunktionen ermöglichen es aber, dass ein Patient z. B. noch gut Schach oder Karten spielt. Das Korsakofff Syndrom entspricht der persistierenden substanzinduzierten amnestischen Störung, wie sie im DSM-IV definiert ist: Die Fähigkeit
289 14.2 · Persistierende substanzinduzierte amnestische Störung: Das Korsakofff Syndrom
zum Erlernen neuer Informationen ist beeinträchtigt oder Vergangenes kann nicht abgerufen werden (Kriterium A). Die Gedächtnisstörung ist so ausgeprägt, dass die soziale oder berufliche Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt ist (Kriterium B). Wesentlich für die Diagnose ist der Ausschluss eines Delirs und einer demenziellen Störung. Eindeutige Befunde dazu, dass der Gedächtnisstörung ein anhaltender exzessiver Konsum einer Substanz vorausging, auch wenn dieser bereits lange zurückliegt, müssen vorhanden sein. Hier ist zu beachten, dass eine persistierende substanzinduzierte amnestische Störung nicht nur durch Alkoholkonsum ausgelöst werden kann (. Tab. 14.1): Andere Substanzklassen mit diesem Langzeitrisiko sind Sedativa, Hypnotika und Anxiolytika. Meist bilden sich diese amnestischen Störungen jedoch zurück, Thiaminmangel spielt dabei keine Rolle und es sind andere Gehirnregionen als beim Korsakofff Syndrom betroffen.
14.2.2
Neuropsychologische Befunde
Das neuropsychologisch herausragende Merkmal des Syndroms ist die ausgeprägte antero- und retrograde Gedächtnisstörung. Dieser Aspekt wurde und wird in zahlreichen experimentellen neuropsychologischen Untersuchungen mit unterschiedlichen Fragestellungen und Testverfahren geprüft (vgl. Knight u. Longmore 1994; Kopelman 1995). Übereinstimmung besteht mittlerweile bzgl. des Musters der Gedächtnisstörung. Das Lernen ist massiv beeinträchtigt, ebenso die Erinnerung an zurückliegende Ereignisse. Die retrograde Amnesie geht dabei über den Beginn der Erkrankung hinaus, betrifft also nicht nur jene Zeiten, in denen aufgrund der anterograden Störung keine Einprägungen mehr stattfanden. Allerdings ist sowohl die Ausprägung der amnestischen Störung als auch die Beeinträchtigung anderer kognitiver Funktionen variabel. Dies macht es oft schwierig, die Befunde verschiedener experimenteller Arbeiten aufeinander zu beziehen, da sie sich sowohl im Ausmaß der amnestischen Störungen der Probanden unterscheiden, als auch in deren Leistung in anderen, zur Intelligenzschätzung herangezogenen Tests. Zwar wird das Korsakofff Syndrom über die Ausprägung der amnesti-
14
schen Beeinträchtigung bei relativ intakter Intelligenzleistung operationalisiert, meist schneiden jedoch Korsakofff Patienten beim Vergleich mit gesunden Kontrollen oder nicht amnestisch gestörten alkoholabhängigen Patienten im Intelligenzvergleich schlechter ab als die Vergleichsgruppen. Ein solcher allgemeiner Leistungsunterschied erschwert die Interpretation von Gruppenunterschieden in speziellen kognitiven Aufgaben. Dies ist auch in dem Beispiel der neuropsychologischen experimentellen Untersuchung in der nachfolgend beschriebenen Studienbox der Fall. Weitere Defizite In systematischen neuropsycholo-
gischen Untersuchungen wurden neben der Störung des Lernens und des Gedächtnisses noch eine Reihe anderer Defizite nachgewiesen. Dies war der Fall bei visuell-perzeptiven und visuell-räumlichen Aufgaben wie dem Zahlensymboltest, versteckten Figuren und verschiedenen Konzeptbildungsaufgaben f in denen komplexe visuelle Stimuli sortiert und diskriminiert werden mussten. Insbesondere in Tests, die Beeinträchtigungen exekutiver Funktionen prüfen sollen, wie der »Wisconsin Card Sorting Test« (WCST), wurden konsistent Minderleistungen von Patienten mit Korsakofff Syndrom berichtet. Das Muster erhaltener und beeinträchtigter Gedächtnisfunktionen war Gegenstand vieler Untersuchungen. Diesen lagen meist Konzeptionen des Gedächtnisses zugrunde, bei denen zwischen drei Gedächtniskomponenten unterschieden wird: 1. sensorisches, modalitätsspezifisches Gedächtnis, 2. primäres Arbeitsgedächtnis und 3. sekundäres Langzeitgedächtnis. Im sekundären Gedächtnis lassen sich weiter unterscheiden 4 explizites Gedächtnis (Konzepte, Sprache) und 4 implizites Gedächtnis (Fertigkeiten, Assoziationseffekte). Das explizite Gedächtnis wird darüber hinaus unterteilt in 4 semantischen Speicher (Faktenwissen) und 4 episodischen Speicher (Erinnerungen). Neuropsychologische Untersuchungen von Patienten mit Korsakofff Syndrom haben zusammen mit
290
Kapitel 14 · Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit
Studienbox
»Memory of object locations in Korsakoff‘s amnesia« von Kessels et al. (2000) 4 Hintergrund: Defizite der Gedächtnisleistung für Kontext (z. B. die zeitliche und räumliche Anordnung von Reizen) gelten als charakteristisch für das Korsakoff-Syndrom. Räumliches Kontextgedächtnis prüft man durch Darbietung von Zeichnungen, Abbildungen oder Wörtern in verschiedenen Kästchen eines vorgegebenen Gitters (z. B. 4×4). Patienten mit Korsakoff-Syndrom machen unverhältnismäßig viele Fehler, wenn sie angeben sollen, in welchem Kästchen der Reiz dargeboten war. 4 Fragestellung: Gedächtnis für räumliche Kontextinformation benötigt 3 separate Prozesse: 1. Verbindung zwischen Objektinformation und Ort, 2. exakte Abspeicherung räumlicher Koordinaten und 3. Integrationsmechanismus.
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Welcher dieser Prozesse ist bei Patienten mit Korsakoff-Syndrom besonders beeinträchtigt? Versuchspersonen: Korsakoff-Patienten (n=20) und gesunde Vergleichsprobanden (n=20). Die Patienten mit Korsakoff-Syndrom hatten durchwegs extrem schlechte Behaltensleistungen im »Auditory Verbal Learning Test« (AVLT) (im Mittel 1,07 Wörter bei verzögerter Wiedergabe). Ihr mittlerer Intelligenzquotient (IQ) betrug 94,87 [Standardabweichung (SD)=15,16]. 4 Versuchsdurchführung: Farbige Abbildungen alltäglicher Objekte wurden in den Feldern einer 2×5-Matrix dargeboten. Drei Kontextbedingungen wurden realisiert. 4 Assoziation von Objekten und räumlicher Position: 10 verschiedene Items wurden in den 10 verschiedenen Feldern gezeigt. Zur Abfrage wurde die Position durch eine Markierung
4
4
4
4
4
vorgegeben, das richtige Objekt musste dieser Position zugeordnet werden. Enkodierung der Position: Ein identisches Objekt wurde in allen 10 Feldern gezeigt. Bei der Abfrage musste jedes Mal die Position angegeben werden. Integration: Verschiedene Objekte wurden in verschiedenen Feldern gezeigt. Die Abfrage erfolgte ohne Markierung der Position. Die Abfragen erfolgten unmittelbar nach der Darbietung oder um 3 Minuten verzögert. Ein Objekterkennungstest wurde zur Abschätzung der globalen Gedächtnisstörung durchgeführt. Auch ein visuell-räumliches Defizit wurde durch einen entsprechenden Test erfasst. Ergebnisse: In allen drei Kontextbedingungen hatten die Patienten mit Korsakoff-Syndrom erheblich mehr Fehler als die Kontrollprobanden; die Art der Kontextbedingung hatte darauf keinen Einfluss. Müssen nur Positionen erinnert werden, so gehen die Leistungen der Korsakoff-Patienten nicht über das Zufallsniveau hinaus. Erwartungsgemäß hatten die Patienten mit Korsakoff-Syndrom schlechtere Leistungen im visuell-räumlichen Test und bei der Objektbenennung. Die Minderleistungen der Patienten im Vergleich zu den Kontrollgruppen blieben aber auch dann bestehen, wenn das visuell-räumliche Defizit oder die Leistung im Objektbenennen statistisch kontrolliert wurde. Schlussfolgerungen: Erwartungskonform zeigen Patienten mit Korsakoff-Syndrom massive Defizite in der Erinnerung des räumlichen Kontextes. Entgegen der Erwartung betrifft dieses Defizit jedoch alle drei hier experimentell differenzierten Aspekte des Kontextgedächtnisses. Neuropathologisch lassen sie sich durch Läsionen im Dienzephalon und den Mammillarkörpern, möglicherweise auch mit Funktionsbeeinträchtigungen im Parietalkortex erklären.
291 14.2 · Persistierende substanzinduzierte amnestische Störung: Das Korsakofff Syndrom
den Untersuchungen der strukturellen Hirnveränderungen die Vorstellungen vom Gedächtnis in den letzten 20 Jahren sehr beeinflusst.
Beeinträchtigungen verschiedener Gedächtniskomponenten Eine Reihe von experimentellen neuropsychologischen Untersuchungen wurden zur Intaktheit des Arbeitsgedächtnisses unternommen. Dahinter stand die Frage, ob die Gedächtnisbeeinträchtigung auf eine Störung der initialen Enkodierung von Information im Kurzzeitgedächtnis vor dem Transfer in das Langzeitgedächtnis zurückgeht, oder ob der Abruf von Gedächtnisinhalten beeinträchtigt ist. Ein unbeeinträchtigtes Arbeitsgedächtnis spräche eher für Abrufprobleme, eine Störung des Arbeitsgedächtnisses eher für Enkodierungsprobleme. Typische Maße dafür sind die Leistung in den sog. Span-Tests (z. B. der Untertest »Zahlennachsprechen« aus dem Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (HAWIE-R)), beim unmittelbaren Wiedergeben von Wortlisten oder auch das Ausmaß des kurzfristigen Vergessens. Verbalen wie nonverbalen Span-Tests zufolge ist das Arbeitsgedächtnis tatsächlich wenig beeinträchtigt. Die Befunde mit kurzzeitigen Vergessensaufgaben sind weniger einheitlich, möglicherweise weil die Leistung hierbei stärker durch exekutive Dysfunktionen oder andere kognitive Störungen mitbestimmt wird (vgl. Kopelman 1995). Prozesse der Enkodierung bzw. physiologische Mechanismen der Konsolidierung sind nötig, um Information im Sekundärgedächtnis abzuspeichern. Die »explizite« Komponente des Sekundärgedächtnisses umfasst jene Gedächtnisinhalte, die bewusst sind bzw. bewusst gemacht werden können. Per definitionem ist diese Komponente bei Patienten mit Korsakofff Syndrom massiv beeinträchtigt. Es erscheint plausibel, dass dieses Defizit von einer Dysfunktion der Konsolidierungsmechanismen herrührt. Verschiedene psychologische Defizite wurden postuliert, um diese Störung des expliziten Gedächtnisses zu erklären. Insbesondere wird eine Störung der Enkodierung semantischer Information oder kontextueller Information vermutet. Aufgaben mit spezifischen Anforderungen an die Enkodierung semantischen Materials zeigen häufig Minderleistungen von Patienten mit Korsakofff
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Syndrom, jedoch nicht so ausgeprägt, dass damit das schlechte explizite Gedächtnis erklärbar wäre (vgl. Kopelman 1995). Wiederholt wurde auch ein Defizit in der Enkodierung von Kontextinformation wie zeitliche und räumliche Anordnung, Modalität der Darbietung und Quelle der Information gefunden (z. B. Kessels et al. 2000; s. auch 1. Studienbox). Gewöhnlich werden auch Korrelationen zwischen expliziter und kontextueller Gedächtnisleistung gefunden, aber die gemeinsame Varianz erscheint zu gering, um einen deutlichen funktionalen Zusammenhang zu begründen. Kontextuelle Information scheint besonders schwierig erlernbar zu sein, stellt aber wohl keine Kernkomponente der amnestischen Störung dar (vgl. Kopelman 1995). Das implizite Gedächtnis umfasst Lernprozesse, die nicht bewusst sind bzw. bewusst gesteuert werden. Dazu gehören einfache Konditionierungsaufgaben, perzeptuell-motorische Fertigkeiten (prozedurales Gedächtnis) und Primingeffekte, bei denen eine Reaktion auf einen Reiz durch einen vorangegangenen Hinweisreiz erleichtert wird. In solchen Aufgaben sind Patienten mit Korsakofff Syndrom meist nicht beeinträchtigt. Diese Befunde weisen auf ein implizites Gedächtnissystem hin, das auch bei amnestischen Störungen erhalten bleibt. Auch affektive Reaktionen und Bewertungen bleiben bei Korsakofff Patienten erhalten. Der Konglomeratbegriff des semantischen Gedächtnisses bezieht sich auf Kenntnisse der Sprache und von Konzepten sowie gut eingeübte Fakten, die sämtlich ohne die Erinnerung an bestimmte Episoden oder Kontexte abrufbar sind. Episodische Gedächtnisinhalte können durch zunehmende Übung des Abrufs allmählich in das wissensbasierte semantische Gedächtnissystem übergehen. Im Allgemeinen ist das semantische Gedächtnis bei Patienten mit Korsakofff Syndrom besser erhalten als z. B. bei Patienten mit einer Demenz. Korsakofff Patienten sind jedoch immer dann beeinträchtigt, wenn der Abruf aus dem semantischen Gedächtnis unter Zeitdruck erfolgt, wie z. B. in Wortflüssigkeitsaufgaben. Zwar hat jede Gedächtniskomponente einen retro- und einen anterograden Leistungsaspekt, aber deren relative Beeinträchtigung und der Zusammenhang zwischen beiden ist nur für das episodische Gedächtnis gut untersucht. Der retrograde Gedächt-
292
Kapitel 14 · Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit
nisverlust betrifft Erinnerungen an öffentliche Ereignisse wie Fakten aus dem Leben der Patienten und autobiografische Gedächtnisinhalte. Der Verlust kann 20–30 Jahre in die Vergangenheit zurückreichen und ist zeitlich abgestuft, wobei frühere Inhalte besser erhalten sind. Dieser zeitliche Gradient ist bei Patienten mit Korsakofff Syndrom steiler als bei Patienten mit einer Demenz. Der relativ bessere Abruf früherer Ereignisse könnte damit zusammenhängen, dass diese Ereignisse wichtig waren und oft abgerufen wurden, sodass sie in das robustere semantische Gedächtnis überführt wurden.
14.2.3
14
Neuropathologische Befunde
Das Korsakofff Syndrom folgt oft auf eine akute Episode einer Wernicke-Enzephalopathie. Symptome dieser neurologischen Erkrankung sind u. a. Störungen der Augenbewegungen (Blicklähmungen, Nystagmus), Ataxie und Verwirrtheit. Diese Symptome bilden sich stufenweise zurück, aber eine deutliche Beeinträchtigung des Gedächtnisses bleibt bestehen. Wird die Wernicke-Enzephalopathie frühzeitig mit hohen Dosen Thiamin behandelt, kann die Entwicklung einer persistierenden amnestischen Störung unterbunden werden. Die Verbindung zwischen der Wernicke-Enzephalopathie und dem Korsakofff Syndrom wurde schon früh erkannt, daher ist auch die Bezeichnung Wernicke-Korsakofff Syndrom üblich. Der Zusammenhang zwischen den beiden Störungen ist jedoch nicht so eng, wie lange Zeit angenommen wurde. Zum einen treten die Symptome der Enzephalopathie nicht immer in derselben charakteristischen Weise auf: Die Erkrankung kann auf unterschiedliche Art, z. B. schleichend oder auch mit einem Koma, beginnen (vgl. Kopelman 1995). Zum anderen werden die für die Wernicke-Enzephalopathie charakteristischen neuropathologischen Veränderungen auch bei der Autopsie von alkoholabhängigen Patienten gefunden, die zu Lebzeiten keinerlei Anzeichen einer amnestischen Störung hatten. Die charakteristischen pathologischen Kennzeichen des Korsakofff Syndroms sind im paraventrikulären und im periaquäduktalen Grau lokalisierbar. Läsionen im Thalamus und den Mamillarkörpern verursachen die Gedächtnisstörung. Es
ist jedoch nicht völlig geklärt, welche Bedeutung dabei dem Thalamus und den Mamillarkörpern zukommt, ob der anteriore oder der dorsomediale Thalamus entscheidend ist, und auf welche Weise die Interaktion zwischen dem Dienzephalon, dem Hippokampus und dem basalen Vorderhirn bei den berichteten Gedächtnisstörungen verändert ist. In neueren Untersuchungen wird die Bedeutung der Verbindungen zwischen Mamillarköpern, dem mamillothalamischen Trakt und dem anterioren Thalamus betont. Ein weiterer häufiger Autopsiebefund bei Patienten mit Korsakofff Syndrom, eine ausgeprägte frontale Atrophie, wurde in bildgebenden Verfahren bestätigt. In Tierversuchen wurde belegt, dass durch Thiaminmangel in der Nahrung die für eine WernickeEnzepahlopathie typischen Läsionen erzeugt werden, und dass diese Läsionen nicht bei selektiver Deprivation anderer Vitamine entstehen (Thomson 2000). Es ist nicht entscheidend, dass dieser Thiaminmangel in Zusammenhang mit exzessivem Trinken steht. Untersuchungen von Menschen mit bestimmten Stoffwechselstörungen oder in Zuständen extremer Mangelernährung belegen, dass allein der Thiaminmangel zu amnestischen Störungen und spezifischen Läsionen führt. Der neurotoxische Effekt von Alkohol, der unabhängig von den Thiaminmangeleffekten zu kognitiven Störungen führt, kann sich jedoch mit dem Bild der Gedächtnisstörung überlagern. In einer sorgfältigen vergleichenden Untersuchung von 38 alkoholabhängigen Patienten mit und 100 Patienten ohne Korsakofff Syndrom hatte die erste Gruppe atrophische kortikale und subkortikale Veränderungen, die ähnlich oder stärker ausfielen als bei den alkoholabhängigen Patienten ohne klinisch manifeste Gedächtnisstörung (Jacobson u. Lishman 1987). Unklar ist jedoch immer noch, warum manche Menschen besonders empfindlich auf Thiaminmangel reagieren, und auf welche Weise Thiamink eng lokamangel die genannten charakteristischen, lisierten, Läsionen erzeugt. Schwere Schädigungen des ZNS bei chronischer Alkoholabhängigkeit und entsprechend auffällige Funktionsbeeinträchtigungen wie das Korsakofff Syndrom und die Alkoholdemenz sind klinisch offensichtlich. Meist fallen diese Patienten durch vielfältige Schwierigkeiten im Alltag auf. Typische
293 14.3 · Das Ausmaß kognitiver Beeinträchtigungen alkoholabhängiger Patienten
Zielsetzungen neuropsychologischer Testungen sind dann, 4 das Ausmaß der Störung festzustellen, 4 intakte Funktionsbereiche zu identifizieren, 4 Ansätze für rehabilitative oder kompensatorische Maßnahmen zu finden und 4 den Verlauf zu dokumentieren. Der größte Teil alkoholabhängiger Patienten wird jedoch im Stationsalltag z. B. einer Klinik, in der die Patienten an einer Entwöhnungsbehandlung teilnehmen, weitgehend unauffällig sein. Dennoch gibt es zahlreiche Belege dafür, dass auch eine ganze Reihe solcher prima vista unauffälligen Patienten z. T. erhebliche und langfristige kognitive Störungen aufweisen. Der nächste Abschnitt gibt einen Überblick über diesen Problembereich.
14.3
Das Ausmaß kognitiver Beeinträchtigungen alkoholabhängiger Patienten
14.3.1
Testpsychologische Befunde
Vergleichende Untersuchungen zum kognitiven Funktionsniveau von alkoholabhängigen Patienten und gesunden Probanden wurden in größerer Zahl schon seit ca. 1970 unternommen. Anfänglich galt das Interesse der Frage, ob allgemeine intellektuelle Einbußen bei Gruppen von alkoholabhängigen Patienten nachgewiesen werden können. Seit den 1980er-Jahren sind die Fragen differenzierter geworden, insbesondere wurden vermehrt 4 Studien zum Restitutionsverlauf durchgeführt, 4 spezifische Profile der Leistungsausfälle ermittelt und 4 Zusammenhänge zu den Befunden aus bildgebenden Verfahren hergestellt. Entsprechend änderten sich auch die Testverfahren zum Nachweis kognitiver Veränderungen. Anfänglich wurden überwiegend Intelligenztests und andere globale Verfahren verwendet (Knight u. Longmore 1994), wie sie auch sonst zur Leistungsdiagnostik bei psychischen Störungen verwendet werden (vgl. Rist u. Dirksmeier 2001). In den letzten Jahren sind Prüfungen exekutiver Funktionen und
14
experimentelle Verfahren zur Differenzierung einzelner Prozesse hinzugekommen (z. B. Sullivan et al. 2000). Eine tabellarische Zusammenfassung von über 19 Studien aus dem Zeitraum 1977–1984 geben Knight und Longmore (1994). Aufgenommen wurden alle Studien, die Intelligenzquotienten für Alkoholabhängige und eine Vergleichsgruppe von Gesunden berichteten. In 14 Studien wurde die »Wechsler Adult Intelligence Scale« (WAIS) verwendet, in den restlichen die »Shipley Institute of Living Scale« (SILS) und einmal die »Progressive Matrices«. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse für Subtests wurden in den 19 Studien insgesamt 45 Vergleiche zwischen Alkoholabhängigen und Gesunden durchgeführt. Für jeden Vergleich wurde die Effektstärke bestimmt und diese wiederum zusammengefasst (. Tab. 14.2). Im Mittel waren die alkoholabhängigen Patienten in diesen Studien 41 Jahre alt, tranken seit über 10 Jahren vermehrt Alkohol und waren vor der Testung fast 4 Wochen lang abstinent. Ähnliche Angaben zu Alter, Trinkdauer und Abstinenzzeiten finden sich auch in späteren Arbeiten und unterscheiden sich nicht wesentlich von den Angaben über Patienten in deutschen Entwöhnungseinrichtungen (vgl. Feuerlein u. Küfner 1989). Die Effektstärken in . Tab. 14.2 streuen beträchtlich. Mit Ausnahme der nonverbalen Tests und der studienbezogenen Vergleiche fallen die Vergleiche zwischen Alkoholabhängigen und Gesunden in einzelnen Studien auch zugunsten der Alkoholabhängigen aus. Diese heterogene Befundlage hängt mit der geringen methodischen Qualität einzelner Studien zusammen, die nach heutigen Kriterien nicht in eine solche Metaanalyse aufgenommen worden wären. Entsprechend sind die mittleren Effektstärken in . Tab. 14.2 eher konservative Schätzungen. Der Wert von 0,63 für die 19 Studienvergleiche bedeutet, dass die mittlere Leistung der alkoholabhängigen Patienten in den verwendeten Intelligenztests um 0,63 SD unterhalb des Mittels der Gesunden liegt. Oder anschaulicher dargestellt: Das Mittel der Kontrollgruppe entspricht dem 74. Perzentil der Gruppe alkoholabhängiger Patienten. Der mittlere Gesunde schneidet somit besser ab als 74% der alkoholabhängigen Patienten. Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen sind besonders markant für den Hand-
294
Kapitel 14 · Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit
. Tab. 14.2. Mittlere Effektstärken der Vergleiche von Alkoholabhängigen und Gesunden anhand von Leistungen in Intelligenztests (19 Untersuchungen mit insgesamt 833 Alkoholabhängigen und Gesunden). (Nach Knight u. Longmore 1994)
14
Art des Vergleichs
Anzahl der Vergleiche
Mittelwert der Effektstärken
Streuung der Effektstärken
Alle Vergleiche
45
0,65
0,73
Alle Studien
19
0,63
0,53
Verbale Tests
22
0,57
0,84
Nichtverbale Tests
23
0,74
0,63
Wechsler Verbalteil
18
0,65
0,88
Wechsler Handlungsteil
14
0,90
0,71
lungsteil der WAIS (0,90; 81% der Gesunden sind hier besser als die Patienten), weniger ausgeprägt für den Verbalteil (0,65). Eine bedeutsame A Abnahme der in Intelligenztests geprüften Leistungen ist damit außer Zweifel und auch, dass die Minderleistungen im Handlungsteil ausgeprägter sind als im Verbalteil. Ergibt sich ein spezifisches Defizitmuster, wenn der Gruppenvergleich nicht nach Handlungs- und Verbalteil, sondern nach einzelnen Untertests durchgeführt wird? In der Metaanalyse von Knight und Longmore (1994) wurde bei einem Teil der Studien eine solche Subanalyse für die 11 WAIS-Subtests durchgeführt. Wieder wurden Effektstärken (ES) für den Vergleich zwischen alkoholabhängigen Patienten und Gesunden bestimmt und diese in eine Rangreihe gebracht. Wenig beeinträchtigt erschienen alkoholabhängige Patienten in den Untertests Wortschatz, allgemeines Wissen und Gemeinsamkeiten finden (ES 0,64). Allerdings wichen die Leistungen der Probanden in den diversen Kontrollgruppen in den gut differenzierenden Tests des Handlungsteils ebenfalls stärker von der Norm ab als in den schlechter differenzierenden Tests aus dem Verbalteil. Die Erklärung ist wohl, dass das Parallelisieren nach Alter, Bildung und Geschlecht zu Gruppen von Gesunden führt, die in der Zusammensetzung von den Normstichproben abweichen. Dies bewirkte einen ähnlichen
Verlauf der Leistungsprofile der Alkoholabhängigen und der Kontrollen über die elf Untertests, sodass die beiden Profile mit r=0.89 hoch korreliert waren. Die differenziellen Beeinträchtigungen der alkoholabhängigen Patienten in den 11 Untertests der WAIS sind also nicht als spezifisches Profil zu interpretieren, sondern spiegeln lediglich die unterschiedliche Sensitivität der Untertests wider. Dafür spricht auch, dass diverse hirnorganisch beeinträchtigte Gruppen im Vergleich zu Gesunden bei den hier sensitiven nonverbalen Tests auch besonders schlecht abschneiden (Zakzanis et al. 1999).
14.3.2
Vergleiche zwischen alkoholabhängigen und hirnorganisch geschädigten Patienten
Neben verschiedenen Intelligenztests wurde die Halstead-Reitan-Batterie mit ihren 18 Untertests häufig bei Vergleichen Alkoholabhängiger sowohl mit Gesunden als auch mit hirngeschädigten Patienten eingesetzt (Knight u. Longmore 1994). In den Verfahren zur Prüfung von Problemlösen, Konzeptbildung, taktiler Wahrnehmung und komplexer visueller Aufmerksamkeit zeigen Alkoholabhängige konsistent signifikant schlechtere Leistungen als gesunde Personen. Eine große Zahl von Studien wurde auch mit Vergleichsgruppen von hirngeschädigten Patienten durchgeführt, wobei ein solcher Vergleich prob-
295 14.4 · Dimensionen der kognitiven Beeinträchtigung alkoholabhängiger Patienten
lematisch ist: Unter anderem hängen die Befunde von der Ätiologie der Erkrankung und der damit verbundenen Schwere und Heterogenität der Störungen der hirngeschädigten Vergleichsgruppe ab. Parsons (1998) hebt allerdings vier Studien aus der großen Zahl der Vergleichsstudien heraus, da diese hinreichend große Gruppen (n>30) und klare Ein- und Ausschlusskriterien verwenden. Durchweg fiel in diesen Studien die Leistung alkoholabhängiger Patienten ähnlich aus wie die der hirngeschädigten Patienten. Demnach ist bei alkoholabhängigen Patienten 2–4 Wochen nach Ende des Entzugs mit kognitiven Defiziten zu rechnen, die denen entsprechen, die normalerweise bei wenig bis mittelschwer beeinträchtigten hirngeschädigten Patienten gefunden werden.
14.4 Dimensionen der kognitiven
Beeinträchtigung alkoholabhängiger Patienten Sorgfältig durchgeführte Vergleiche zwischen Alkoholabhängigen und Gesunden stammen aus der Arbeitsgruppe von Parsons. Die verwendeten Testbatterien enthalten Untertests des WAIS, zusätzlich jedoch auch Untertests der »Wechsler Memory Scale« (WMS), des »Trail Making Tests« (TMT, Form A und B) sowie eine Steckbrettaufgabe zur Erfassung motorischer Leistungen. In der umfangreichsten Untersuchung aus dieser Arbeitsgruppe (vgl. Parsons 1998) wurden männliche und weibliche Alkoholabhängige mit Kontrollpersonen aus der Bevölkerung verglichen. Die Alkoholabhängigen hatten seit mindestens 3 Wochen entzogen und wiesen kein Korsakofff Syndrom oder eine sonstige manifeste Störung des ZNS auf. Der erste Analyseschritt war die Ermittlung der Dimensionen der Einzeltests. Dazu wurde über alle Probanden eine Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation der Einzeltests durchgeführt. Vier Faktoren wurden extrahiert: 1. Faktor »verbale Leistungen« mit Ladungen auf einem Wortschatztest und den Untertests allgemeines Wissen und Verständnis aus der WAIS, aber auch Konzeptbildung und Abstraktion. 2. Faktor »visuell-räumliche Leistungen« mit Ladungen auf dem Mosaiktest aus der WAIS und
14
der unmittelbaren wie verzögerten Wiedergabe figürlicher Vorlagen aus der WMS. 3. Faktor »perzeptuell-motorische Leistungen« mit Ladungen auf dem Steckbrett, aber auch dem Zahlensymboltest aus der WAIS und den beiden Varianten des TMT. 4. Faktor »semantisch-mnestische Leistungen« mit Ladungen auf dem Untertest für logisch-semantisches Gedächtnis aus der WMS, sowohl bei verzögerter als auch bei unmittelbarer Wiedergabe. Alle Ladungen betrugen mindestens 0,40 mit einem Median von 0,72 über alle vier Faktoren. Im nächsten Schritt wurden für die Einzeltests T-Werte unter Zugrundelegung von alters- und bildungsspezifischen Normen errechnet. Diese T-Werte wurden für alle einem Faktor zugeordneten Tests zusammengefasst, sodass für jeden Leistungsbereich nur noch ein Messwert vorhanden war. Alkoholabhängige Patienten waren in allen vier Leistungsbereichen hoch signifikant schlechter als die Vergleichsprobanden. Trotz der Berücksichtigung von Bildung galt dies auch für die Tests, die dem verbalen Faktor zugeordnet waren. Dieser Befund steht im Gegensatz zu früheren Studien, in denen der Bereich verbaler Leistungen generell als wenig beeinträchtigt behandelt worden war. Anscheinend gilt dies nur, solange Prüfungen des verbalen Leistungsbereichs sich auf wenig sensitive Tests wie Prüfungen des Wortschatzes oder des -verständnisses beschränken. Werden abstraktere verbale Leistungen verlangt, wird auch in diesem Bereich ein Defizit deutlich. Parsons (1998) interpretiert die Befunde als Hinweis auf diffuse, nicht lokalisierbare Effekte chronisch überhöhten Alkoholkonsums. Die Zusammenfassung der Einzeltests nach der Zugehörigkeit zu einer der vier Dimensionen erlaubt eine differenziertere Darstellung der Defizite alkoholabhängiger Patienten als die Einteilung in Verbal- und Handlungstests aus den Intelligenztests. Ein Überblick über das Ausmaß der Defizite in verschiedenen Leistungsbereichen wird dadurch erheblich erleichtert und ist auch neuropsychologisch aussagefähiger als das Profil der Intelligenztestleistungen, da die Faktoren sich auch nach der Lokalisierung der zugeordneten Einzelfunktionen
296
Kapitel 14 · Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit
unterscheiden. So entsprechen dem Faktor »verbale Leistungen« Funktionen, die eher linkshemisphärisch lokalisiert werden. Dem Faktor »visuell-räumliche Leistungen« sind eher rechtshemisphärisch lokalisierbare Funktionen zugeordnet. Aus diesen Gründen sind die vier von Parsons et al. ermittelten Dimensionen auch für nachfolgende Arbeiten richtungsweisend geworden. Sie wurden in einer aktuellen Studie mit Strukturgleichungsmethoden und einer auf 15 Tests erweiterten Testbatterie überprüft (Bates et al. 2002b). Probanden waren Patienten, die entweder ausschließlich alkoholabhängig waren oder zusätzlich noch andere substanzassoziierte Störungen (Kokain, Opiate oder Cannabis) aufwiesen. Zwar ergaben sich wieder vier Dimensionen, jedoch etwas andere inhaltliche Konstrukte: Beibehalten wurden der Gedächtnisfaktor und der verbale Faktor, neu definiert wurde ein Faktor exekutiver Funktionen und ein Faktor für Schnelligkeit der Informationsverarbeitung. Die Überprüfungen des Messmodells zeigten eindeutig, dass die Leistung in den visuell-räumlichen Tests (z. B. TMT) besser durch das Zusammenwirken des Faktors für exekutive Funktionen und eines Verbalfaktors als durch eine eigenständige latente Variable erklärt wurde. Auch andere Tests wurden durch jeweils zwei latente Variablen beeinflusst. So scheint die Leistung im WCST und im Turm von Hanoi durch den exekutiven Faktor und durch den Gedächtnisfaktor bestimmt zu sein.
14
14.4.1
Beeinträchtigungen spezifischer Funktionsbereiche
Die aus herkömmlichen Leistungstestbatterien gewonnenen Befunde machen zwar das Ausmaß der kognitiven Beeinträchtigung deutlich, sie geben jedoch keine Hinweise auf spezifische Störungen Alkoholabhängiger. Die Ermittlung spezifischer Beeinträchtigungen setzt zum einen die Verwendung entsprechender Testverfahren voraus, zum anderen aber Ein- und Ausschlusskriterien, die Selektionseffekte vermeiden und so differenziert sind, dass im Sinne der externen Validität auf eine bestimmte Population von Alkoholabhängigen generalisiert werden kann. In der berichteten Metaanalyse (Knight u. Longmore 1994) wurden Studien mit sehr unter-
schiedlichen und des öfteren nicht näher spezifizierten Ein- und Ausschlusskriterien zusammengefasst. Die Untersuchungen der Arbeitsgruppe von Parsons (vgl. Parsons 1998) haben zwar das Spektrum der Prüfungen erheblich erweitert, enthalten aber neben Untertests aus konventionellen Intelligenztests nur eine beschränkte, zum damaligen Zeitpunkt aktuelle Auswahl an spezifischeren neuropsychologischen Testverfahren. Im Folgenden werden Befunde dargestellt, die den Eindruck diffuser Leistungsveränderungen bei Alkoholabhängigen differenzieren. Eine hinsichtlich Stichprobenrekrutierung wie Instrumentenauswahl sorgfältig angelegte Studie wurde von Mann et al. (1999) veröffentlicht. Es wurden 49 alkoholabhängige Patienten zu Beginn und gegen Ende einer 6-wöchigen stationären Entwöhnungsbehandlung untersucht. Ausschlusskriterien waren: Verdacht auf Korsakofff Syndrom, Mehrfachabhängigkeit, Hirntrauma oder Anfallsleiden in der Anamnese. Das durchschnittliche Alter der Patienten betrug 42 Jahre, die Dauer der Abhängigkeit im Mittel 11,5 Jahre. Die Patientengruppe wurde sorgfältig nach Alter, Zivilstand und Bildung mit einer Kontrollgruppe parallelisiert. Ausschlusskriterium für die Kontrollgruppe war ein durchschnittlicher täglicher Alkoholkonsum von mehr als 20 g. Zur Testbatterie gehörten mehrere Untertests des Leistungsprüfsystems (LPS; Horn 1983) und der Mehrfachwahlwortschatztest (Lehrl et al. 1991). Diese Untertests prüfen Leistungen, die auch in anderen Intelligenztests erfasst werden. Zusätzlich wurden jedoch eingesetzt: 4 TMT-B zur Erfassung der kognitiven Flexibilität, 4 Untertest »logisches Gedächtnis« der WMS zur Erfassung des logischen verbalen Gedächtnisses, 4 Benton-Test zur Erfassung visuell-räumlicher Gedächtnisleistungen, 4 Revisionstest zur Erfassung von Daueraufmerksamkeit und Konzentration und 4 Auditory Verbal Learning Test. Die Testleistungen der beiden Gruppen wurden mit Varianzanalysen zwischen ihnen und über die beiden Testzeitpunkte verglichen. Zwar sind gesonderte Gruppenvergleiche für den 1. und 2. Testzeitpunkt nicht mitgeteilt, aber aufgrund der Hauptef-
297 14.4 · Dimensionen der kognitiven Beeinträchtigung alkoholabhängiger Patienten
fekte und der fehlenden Interaktionen Gruppe×Zeit ist offensichtlich, dass die Patienten zum 1. Testzeitpunkt in 5 der 12 Tests schlechter als die Kontrollgruppe waren. Dies war der Fall im TMT-B und im AVLT sowie in den LPS-Untertests Denken, räumliche Vorstellung und verbales Wissen. Der Subtest aus der WMS wurde dagegen von Patienten und Kontrollpersonen gleich gut absolviert. In dieser Untersuchung wurden Beeinträchtigungen im verbalen wie im nichtverbalen Bereich festgestellt. Bemerkenswert ist, dass der BentonTest nicht unterschiedlich in beiden Gruppen ausfiel, obwohl dieser Test von Praktikern häufig eingesetzt wird, um hirnorganische Beeinträchtigungen nachzuweisen. Während die in der Metaanalyse zusammengefassten Arbeiten den Gedächtnisbereich eher sporadisch prüfen, wurde in dieser Studie die Gedächtnisleistung mit zwei verschiedenen Verfahren, einem Subtest der WMS und dem AVLT geprüft. Durch den direkten Vergleich dieser beiden Verfahren kann erstmalig aufgeklärt werden, warum in älteren Arbeiten keine oder nur geringe Gedächtnisprobleme auffindbar waren. Dort wurde durchwegs mit Subtests der WMS, selten aber mit einem Wortlistenverfahren wie dem AVLT gearbeitet. Im Subtest für logisch-semantisches Gedächtnis der WMS muss eine kurze Geschichte mit logischem Handlungsablauf behalten und wiedergegeben werden. Im AVLT soll dagegen eine Wortliste ohne ersichtliche assoziative Verbindungen gelernt werden. Gerade durch das Fehlen einer logischen Verbindung zwischen den zu erinnernden Elementen fällt alkoholabhängigen Personen das Enkodieren bzw. der Abruf schwer. Da der AVLT inzwischen in einer deutschen Normierung vorliegt (Lux et al. 1999), sollte das Verfahren beim Screening für kognitive Beeinträchtigungen alkoholabhängiger Patienten miteingesetzt werden.
14.4.2
Lokalisierbarkeit von Defiziten
Die in früheren Untersuchungen auffällige Beeinträchtigung räumlich-perzeptueller Leistungen bei gleichzeitig intakten bzw. weniger beeinträchtigten verbalen Leistungen gab Anlass zu der Vermutung, dass chronischer, überhöhter Alkoholkonsum ins-
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besondere rechtshemisphärisch lokalisierte Funktionen beeinträchtigt. Wie bereits dargestellt, fand Parsons (1998) jedoch ähnlich starke Beeinträchtigungen auch bei verbalen Leistungen, sofern diese anspruchsvoll waren und Konzeptbildung oder Abstraktion prüften. Nach Parsons (1998) sind die Befunde am besten mit der Hypothese einer globalen und diffusen Schädigung des Gehirnes vereinbar. Eine Übersicht über neuropsychologische, hirnmorphologische und hirnfunktionelle Veränderungen bei Alkoholabhängigen legt jedoch nahe, dass die Unterschiede zwischen Alkoholabhängigen und Gesunden besonders deutlich in solchen neuropsychologischen Testverfahren ausfallen, die auch auf Schädigungen des Frontalhirns ansprechen (Moselhy et al. 2001). In neueren Studien wird hierfür häufig der WCST verwendet. Bei einer Gruppe von männlichen Alkoholabhängigen fanden sich schlechtere Leistungen im WCST und dem »Halstead Reitan Category Test«, die mit entsprechenden Veränderungen des Stoffwechsels in der medialen frontalen Region einhergingen. Diese Unterschiede zwischen den Gruppen waren nicht auf Unterschiede in anderen Leistungsbereichen zurückzuführen. Ein anderes, für Frontalhirnschädigungen sensitives Verfahren ist der bereits erwähnte TMT. Dieses Verfahren wurde häufig als Erweiterung konventioneller Intelligenzleistungstests eingesetzt, sodass viele Einzelbefunde damit erhoben wurden. Tatsächlich gehört auch dieses Verfahren durchwegs zu den besonders sensitiven Verfahren, um Unterschiede zwischen Alkoholabhängigen und Gesunden aufzuweisen (vgl. Mann et al. 1999; Parsons 1998). Eine Reihe anderer Tests, wie z. B. der AVLT zur Gedächtnisprüfung, verlangen die Integrität exekutiver Funktionen, um adäquate Leistungen zu erreichen. In der Zusammenschau mit den später zu berichtenden Befunden zu Änderungen der Hirnmorphologie und -funktion scheint es gegenwärtig deshalb plausibel, zumindest einen Teil der Varianz der Testleistungen Alkoholabhängiger auf Beeinträchtigung exekutiver Funktionen und somit frontal lokalisierbarer Funktionen zurückzuführen.
298
14.4.3
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Kapitel 14 · Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit
Risikofaktoren für kognitive Beeinträchtigungen
Alkohol und sein Metabolit Azetaldehyd wirken neurotoxisch, sodass Zusammenhänge zwischen Art oder Schwere der kognitiven Beeinträchtigung und der Dauer und Menge des Konsums zu erwarten sind. Das Ausmaß der Schädigung des ZNS und der feststellbaren Beeinträchtigungen hängt jedoch außerdem von zahlreichen weiteren Faktoren ab. Ihr Wirkmechanismus ist nur z. T. bekannt und ihr Zusammenwirken noch nicht hinreichend geklärt, um das Risiko im Einzelfall abschätzen zu können. Die Aufklärung solcher Zusammenhänge ermöglicht jedoch Hypothesen zur Ätiologie der kognitiven Beeinträchtigungen und ihre Prüfung. Für die Praxis ergibt sich die Möglichkeit, Screening-Verfahren für kognitive Beeinträchtigungen gezielt auf Untergruppen von Patienten mit bestimmten Konstellationen von Risikofaktoren anzuwenden (vgl. Bates et al. 2002b). Ein wichtiger Einflussfaktor auf die Testleistung ist die Dauer der Abstinenz vor der Testung, da während des Entzugs aufgrund vielfältiger vegetativer Symptome in allen Bereichen mit besonders schlechten Leistungen zu rechnen ist. In den meisten Untersuchungen werden Patienten erst mindestens 3 Wochen nach dem Entzug untersucht, um einen direkten Einfluss der Entzugssymptomatik auf die Testbefunde auszuschließen. Die dann noch verbleibenden Unterschiede in der Dauer der Abstinenz wirken sich kaum noch auf die geprüften Leistungen aus (vgl. Mann et al. 1999). Ein weiterer Einflussfaktor ist das Ausmaß der Depressivität zum Zeitpunkt der Testung. Zum Zeitpunkt des Entzugs bzw. zu Beginn einer stationären Entwöhnung sind in den meisten Untersuchungen die Selbstangaben in Depressionsfragebogen klinisch bedeutsam, normalisieren sich allerdings bei den allermeisten Patienten bis zum Testzeitpunkt, sodass nur selten bedeutsame Zusammenhänge mit der Testleistung berichtet wurden. Kognitive Beeinträchtigungen und vorausgegangener Alkoholkonsum Wie stark sind kognitive
Beeinträchtigungen durch den vorangegangenen Alkoholkonsum determiniert? Diese Frage kann in den üblichen Untersuchungen nur im Querschnitt
durch Korrelationen zwischen Maßen des Konsums (Trinkmenge, Dauer der Abhängigkeit, Lebenszeittrinkmengen) und den Testergebnissen beantwortet werden. Bei Mann et al. (2001) ergab sich z. B. ein Zusammenhang von r=–0.32 zwischen der Dauer der Abhängigkeit und der Leistung bei der Prüfung der räumlichen Vorstellung. Demnach gehören visuell-räumliche Leistungen nicht nur durchgängig zu den stärker beeinträchtigten kognitiven Funktionen, sondern sind auch proportional zu Ausmaß bzw. Dauer des Alkoholkonsums reduziert. Aber i. A. erreichen solche Korrelationen nur selten signifikante Werte, insbesondere, wenn das Lebensalter auspartialisiert wird oder Patienten in eingegrenzten Altersbereichen untersucht werden. Problematisch ist die Konfundierung von Alter und Trinkdauer, da mit dem Altern unabhängig vom Einfluss des Trinkens Verminderungen kognitiver Leistungen zu erwarten sind. Bei den männlichen alkoholabhängigen Patienten von Sullivan et al. (2000) war der Zusammenhang geringer, da die Stichprobe viele jüngere Probanden mit großen Trinkmengen enthielt (s. nachfolgende Studienbox). Hier hatte die Trinkmenge keinen Einfluss auf die kognitiven Leistungen, wohl aber auf den Gang und das Gleichgewicht. Das Fehlen eines Zusammenhangs zwischen Trinkmaßen und kognitiver Beeinträchtigung sollte nicht überraschen, da Gruppen alkoholabhängiger Patienten in Entwöhnungsbehandlungen – insbesondere männliche Patienten – vergleichsweise homogen bzgl. Trinkmenge und Abhängigkeitsdauer sind. Bei Frauen werden eher Zusammenhänge zwischen Konsummaßen und kognitiven Defiziten gefunden (z. B. Sullivan et al. 2002). Werden Lebenszeitkonsummengen errechnet, so erreichen Männer meist erheblich höhere Werte als Frauen. Es scheint, dass die Lebenszeitkonsummengen alkoholabhängiger Männer einen Schwellenwert überschreiten, ab dem das Risiko für kognitive Defizite nicht mehr systematisch mit den Mengen zusammenhängt, sondern mit anderen, komorbiden Risikofaktoren. So unterscheiden sich alkoholabhängige Patienten mit einer Abhängigkeitsdauer von 4–9 Jahren im Ausmaß der Beeinträchtigung nicht von Alkoholabhängigen mit einer Abhängigkeitsdauer von 10–33 Jahren (Beatty et al. 2000). In derselben Untersuchung hatte die im letzten halben Jahr vor dem Ent-
299 14.4 · Dimensionen der kognitiven Beeinträchtigung alkoholabhängiger Patienten
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Studienbox
»Pattern of motor and cognitive deficits in detoxified alcoholic men« von Sullivan et al. (2000). 4 Hintergrund und Fragestellung: Neurokognitive Beeinträchtigungen bei entzogenen alkoholabhängigen Patienten betreffen nicht alle Funktionsbereiche gleichermaßen. Gibt es Hinweise auf stärkere Beeinträchtigung rechtsseitig lokalisierter Funktionen? Welchen Einfluss hat das Alter der Patienten auf die Leistung in neuropsychologischen Tests? 4 Versuchspersonen: Alkoholabhängige Patienten (n=71) nach dem Entzug; gesunde Kontrollprobanden (n=67). Alle Probanden waren männlich, im Mittel 44 Jahre alt. Der mittlere IQ lag in beiden Gruppen über 105. 4 Neuropsychologische Testung: Tests wurden zu 6 hirnanatomisch lokalisierbaren Funktionsbereichen durchgeführt: 1. exekutive Funktionen (z. B. WCST; dorsolateraler präfrontaler Kortex), 2. Kurzzeitgedächtnis/Produktion (z. B. Brown-Peterson-Distractor-Test, Wortflüssigkeit; orbitofrontaler Kortex), 3. deklaratives Gedächtnis (z. B. verzögerte Wiedergabe; medialer Temporallappen, Dienzephalon) 4. visuell-räumliche Leistungen (z. B. ReyOsterrieth-Figur; parietale und okzipitale Hirnregionen), 5. Gang/Gleichgewicht (z. B. Ataxietest; Kleinhirnoberwurmwindung) und 6. Funktion der oberen Extremitäten (z. B. Griffstärke; Basalganglien oder präzentraler Gyrus). Die Bereiche exekutive Funktionen, Kurzzeitgedächtnis/Produktion und deklaratives Gedächtnis wurden verbal und nonverbal getestet, um eine Prüfung der Lateralisierung zu ermöglichen. 4 Parameterisierung: Alterskorrigierte Standard-z-Werte zu jedem einzelnen Testwert, anschließend Zusammenfassung über alle Tests für jeden der 6 Funktionsbereiche.
Separate Mittelung der z-Werte für verbale (linksseitige) und analoge nichtverbale (rechtsseitige) Tests. 4 Ergebnisse: a) Vergleich der Gruppen pro Funktionsbereich: ANOVA (2 Gruppen, 6 Bereiche) erbrachte hochsignifikante Gruppenund Bereichsunterschiede. Nur bei der Funktion der oberen Extremitäten waren alkoholabhängige nicht signifikant schlechter als Gesunde. Galt auch noch bei statistischer Kontrolle der prämorbiden Intelligenz. b) Vergleich lateralisierter Funktionsbereiche: Die ANOVA (2 Gruppen, 4 lateralisierbare Bereiche, 2 Hemisphären) erbrachte neben einem Gruppeneffekt und einer Interaktion Bereich × Hemisphäre eine signifikante 3-fachinteraktion: Alkoholabhängige Probanden hatten niedrigere nonverbale als verbale Werte im deklarativen Gedächtnis, aber niedrigere verbale als nonverbale Werte im Bereich Kurzzeitgedächtnis/Produktion. c) Einfluss des Alkoholkonsums: Starke Zusammenhänge zwischen Lebenszeitalkoholkonsum, Krankheitsdauer und Alter mit Defizit im Bereich Gang/ Gleichgewicht. Kein Zusammenhang mit kognitiven Leistungsbereichen. 4 Schlussfolgerungen: Vier Wochen nach der Entgiftung haben alkoholabhängige Patienten immer noch ausgeprägte Defizite in mehreren Funktionsbereichen: Ca. 90% der Patienten hatten niedrigere Werte im Bereich exekutive Funktionen als der Mittelwert der Gesunden. Die Gang-/ Gleichgewichtsstörung übertrifft in der Effektstärke noch die kognitiven Störungen – die Defizite sind nicht systematisch lateralisiert. Das Defizitmuster legt nahe, dass mindestens ein zerebellär-pontin-präfrontales System und ein präfrontal-parietalkortikales System gestört sind.
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Kapitel 14 · Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit
zug konsumierte Menge jedoch erheblichen Einfluss auf alle testpsychologischen Leistungen. Beschränkt man sich auf alkoholabhängige Patienten a mit niedrigeren Trinkmengen, finden sich auch Zusammenhänge mit dem Trinkmuster. Kokavec und Crowe (1999) verglichen Alkoholabhängige mit täglichem, gleichmäßigem Konsum mit Alkoholabhängigen, die 2-mal oder seltener pro Woche tranken. Alle tranken aber mehr als 100 g pro Trinkgelegenheit. Die Gruppen unterschieden sich nicht im Figurennachzeichnen oder in TMT-A und TMT-B, dafür aber in der WMS und im AVLT. Hier schnitten die regelmäßig Trinkenden schlechter ab als die unregelmäßig Trinkenden. Kognitive Beeinträchtigungen bei riskantem Alkoholkonsum Wichtig für gesundheitspolitische
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Überlegungen ist, dass auch bei Probanden mit insgesamt erheblich niedrigeren Lebenszeitkonsummengen das Risiko für kognitive Defizite mit den konsumierten Alkoholmengen steigt. Ein Literaturüberblick über 19 Untersuchungen bei Alkoholkonsumenten, die sozial akzeptierte Mengen von Alkohol tranken, kommt zum Schluss, dass ein täglicher Konsum von ca. 60 g über einige Jahre bereits eine Minderung der kognitiven Leistungsfähigkeit nach sich zieht. Ab 120 g/Tag können nach Art und Ausmaß ähnliche kognitive Defizite wie bei alkoholabhängigen Patienten entstehen (vgl. Parsons u. Nixon 1998). Alkoholabhängige Collegestudenten, die im Mittel 18 Jahre alt waren, hatten Minderleistungen in visuell-räumlichen Aufgaben und waren motorisch verlangsamt (Sher et al. 1997). Selbst wenn nur wenig Anzeichen von Alkoholproblemen vorlagen, waren Einbußen im visuell-räumlichen Bereich feststellbar. Alkoholabhängige Jugendliche im Alter von 15 und 16 Jahren hatten noch 3 Wochen nach dem Entzug Minderleistungen in verbalen und nichtverbalen Gedächtnisleistungen (Brown et al. 2000). Anscheinend sind relative kurze Phasen mit hohem Alkoholkonsum ausreichend, um Minderleistungen in denselben Funktionsbereichen zu bewirken, die auch bei erheblich älteren und über lange Zeit exzessiv konsumierenden Menschen defizitär sind.
14.4.4
Restitution der kognitiven Beeinträchtigungen
Bilden sich die dargestellten kognitiven Defizite bei alkoholabhängigen Patienten in der Abstinenz zurück und wie lange benötigt diese Rückbildung? In der Untersuchung von Mann et al. (1999) waren die untersuchten alkoholabhängigen Patienten ca. 18 Tage nach Abstinenzbeginn in 5 von 12 Einzeltests deutlich beeinträchtigt. Bei der Wiederholungsmessung nach ca. 5 Wochen hatten sich beide Gruppen in 10 der 12 Tests verbessert, lediglich die Leistungen im Benton-Test und im AVLT waren unverändert. Erwartet wurde, dass sich die Patienten von der 1. zur 2. Testung stärker verbessern als die Gesunden, sodass sich die Leistungen der beiden Gruppen in jenen Tests, die bei der 1. Messung für beide Gruppen unterschiedlich ausfielen, annähern. Eine signifikante Interaktion zwischen Messzeitpunkt und Gruppenfaktor wurde jedoch nur für 3 der 5 initial differenzierenden Tests gefunden: Im TMT-B, im verbalen Allgemeinwissen und der räumlichen Vorstellung aus dem LPS verbesserten sich die Patienten mehr als die Gesunden. Zum Zeitpunkt der 2. Messung waren die alkoholabhängigen Patienten zwar tendenziell immer noch schlechter, aber es bestanden keine signifikanten Unterschiede mehr zwischen den Gruppen. Unverändert bestehen blieben jedoch die Unterschiede im AVLT. Offensichtlich bilden sich allgemeine kognitive Defizite, die in den ersten 3 Wochen nach dem Entzug noch evident sind, im Zeitraum von weiteren 5 Wochen generell weitgehend zurück. Deshalb ist es umso bedeutsamer, dass die Prüfung der Gedächtnisleistung durch den AVLT bei alkohlabhängigen Patienten unverändert schlecht ausfiel. Bestimmte kognitive Defizite können demnach auch bei einer für unser Behandlungssystem typischen Patientengruppe über den Zeitraum der stationären Behandlung persistieren. Die Rückbildung kognitiver Defizite gleich welcher Genese ist bei älteren Patienten langwieriger und häufiger unvollständig. Dies scheint auch für die Restitution der kognitiven Defizite alkoholabhängiger Patienten zu gelten. Munro et al. (2000) untersuchten im Querschnitt den Restitutionsverlauf bei 36 alkoholabhängigen Patienten, die im Mittel 64 Jahre alt waren. Diese wurden aufgeteilt in
301 14.4 · Dimensionen der kognitiven Beeinträchtigung alkoholabhängiger Patienten
eine Gruppe, die länger als 6 Monate abstinent war und eine Gruppe, die länger als 4 Wochen, aber weniger als 6 Monate abstinent war. Eine Gruppe von 17 Gesunden wurde nach demografischen Variablen mit diesen beiden Gruppen parallelisiert. Die neuropsychologische Testbatterie für diese Untersuchung enthielt mehrere Aufgaben zur Prüfung visuell-räumlicher Leistungen, aber auch den TMT und eine dem AVLT vergleichbare Wortlistenaufgabe. Probanden mit weniger als 6 Monaten Abstinenz schnitten die meisten Tests schlechter ab als die Kontrollgruppe. Nicht sensitiv waren u. a. das Verfahren der »Mini Mental State Examination« (MMSE), aber auch Bearbeitungszeit und Fehlermaße des TMT. Patienten mit mehr als 6 Monaten Abstinenz unterschieden sich immer noch in einigen der Tests von Gesunden. Dies war der Fall in der Wortlistenaufgabe, sowohl in der Lernleistung wie in der verzögerten Wiedergabe, in der Wiedergabe von Figuren und in den Leistungen im TMT-B sowie in einer Wortproduktionsaufgabe. Die auch nach 6-monatiger Abstinenz nicht rückgebildeten kognitiven Beeinträchtigungen sind also überwiegend dem Bereich Gedächtnis und exekutive Funktionen zuzurechnen. Probleme bei der Bestimmung des Alterseinflusses Diese Befunde stehen im Einklang mit der
Erwartung einer langwierigeren oder unvollständigen Rückbildung kognitiver Defizite speziell bei älteren Patienten. Die methodischen Beschränkungen der Studie sind jedoch offensichtlich: Ein Vergleich mit der Rückbildung bei jüngeren Patienten fand nicht statt und der Einfluss der Abstinenz auf die Leistungen wird durch den Vergleich von zwei Gruppen im Querschnitt geprüft. Nur wenige Untersuchungen zur Frage der Rückbildung kognitiver Defizite bei langer Abstinenz wurden als Langzeitstudien durchgeführt. Eine sorgfältige Längsschnittuntersuchung mit einem Abstand von zwei Jahren zwischen 1. und 2. Messung und mehreren Vergleichsgruppen stammt von Rourke und Grant (1999). Hier wurde nicht nur ein hinreichend großer Abstand für die Wiederholungsmessung realisiert, die Gruppen waren auch so groß, dass der Einfluss des Alters auf die Leistungsrestitution geprüft werden konnte. Alkoholabhängige Patienten (n=97) wurden nach ca. 3-wöchiger Abstinenz zum 1. Mal
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untersucht. Bei der Messwiederholung nach 2 Jahren waren noch 35 Patienten abstinent, die restlichen hatten wieder zu trinken begonnen. Um Übungseffekte zu kontrollieren, wurden zu beiden Zeitpunkten zwei weitere Gruppen untersucht: Eine Gruppe bestand aus den 29 bereits bei der 1. Messung langzeitabstinenten (>18 Monate) Probanden, eine weitere Vergleichsgruppe waren 49 minimal Alkohol konsumierende Probanden. Ausgeschlossen waren in allen Gruppen Probanden, bei denen andere als alkoholbezogene Risiken für Schäden des ZNS bestanden. Die neuropsychologische Testbatterie deckte die folgenden Bereiche ab: 4 Aufmerksamkeit und Konzentration, 4 Abstraktion und kognitive Flexibilität, 4 komplexe Wahrnehmungsleistungen und Problemlösen, 4 Lernen, 4 Gedächtnis und 4 einfache motorische Fertigkeiten. Die Auswertung wurde dadurch vereinfacht, dass für jeden Probanden und für jeden dieser Bereiche ein mittlerer T-Wert aus den zugeordneten Einzeltests berechnet wurde. Um den Einfluss des Alters auf die Veränderung der Testleistung von der 1. zur 2. Messung zu erfassen, wurden alle Gruppen in »Jüngere« und »Ältere« aufgeteilt. Über die T-Werte der 6 Bereiche wurde eine multivariate Varianzanalyse mit den Faktoren Gruppe, Alter und Zeit gerechnet. Zum 1. Messzeitpunkt waren die vor kurzem entzogenen Patienten in den Bereichen Abstraktion und komplexe Wahrnehmung schlechter als beide Vergleichsgruppen. Die älteren Patienten dieser Gruppe waren jedoch zusätzlich in den Bereichen Aufmerksamkeit, Lernen, Gedächtnis und einfache motorische Fertigkeiten beeinträchtigt. Die Gruppe der langzeitabstinenten Patienten unterschied sich in keinem Bereich von den Gesunden, mit Ausnahme einfacher motorischer Fertigkeiten. Diese Leistungen fielen in der Gruppe der älteren Langzeitabstinenten schlechter aus als in der älteren Kontrollgruppe, aber immer noch besser als bei den älteren kürzlich entzogenen Alkoholabhängigen. Zum 2. Messzeitpunkt war die Gruppe der rückfälligen Patienten weiterhin beeinträchtigt in den Bereichen Aufmerksamkeit, Abstraktion, komplexe
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Kapitel 14 · Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit
Wahrnehmung, Lernen und einfache motorische Fertigkeiten. Diese Verschlechterung war ausgeprägter bei Patienten mit höherem Alter. Dagegen verbesserten sich die durchgehend abstinenten Patienten und erreichten mit Ausnahme der Bereiche komplexe Wahrnehmung und einfache motorische Fertigkeiten in fast allen Bereichen die Leistungen der gesunden Kontrollgruppe und der Langzeitabstinenten. Da entsprechende Interaktionen fehlten, hing in dieser Untersuchung das Ausmaß der Verbesserung nicht vom Alter ab. Da jedoch die Beeinträchtigung in der Baseline bei höherem Alter ausgeprägter war, impliziert das Fehlen von Interaktionen, dass die Restitution kognitiver Defizite bei älteren alkoholabhängigen Patienten nach dem Entzug doch länger als bei jüngeren dauert. Trotz des langen Intervalls verbesserte sich die Leistung in allen Gruppen, auch in der gesunden Kontrollgruppe und der langzeitabstinenten Vergleichsgruppe, was sich in starken Haupteffekten des Faktors Zeit niederschlug. Dieser allgemeine Übungseffekt galt insbesondere für Bereiche mit komplexeren Anforderungen (Abstraktion und kognitive Flexibilität, Problemlösen, Lernen und Gedächtnis), nicht aber für die einfachen Fertigkeiten der Bereiche Aufmerksamkeit bzw. Konzentration und Sensomotorik. Die Befunde legen nahe, dass bestimmte kognitive Leistungsbereiche durch die toxischen Effekte des Alkohols mit zunehmendem Alter stärker beeinträchtigt werden. Entsprechend länger braucht die Restitution der beeinträchtigten Fertigkeiten. Auch bei traumatischer Hirnschädigung sind kognitive Leistungseinbußen bei älteren Patienten (>50 Jahre) schwerer, ebenso stagniert die Restitution bei diesen Patienten eher als bei jüngeren Patienten (Goldstein et al. 1994; Mazzucchi et al. 1992).
14.5 Strukturelle Veränderungen
des Gehirnes bei alkoholabhängigen Patienten Post mortem durchgeführte Untersuchungen von Gehirngewebe belegen, dass chronischer exzessiver Alkoholkonsum das Gehirn strukturell verändert. Ein geringeres Gehirnvolumen bei langzeitig alkoholabhängigen Patienten im Vergleich zu Gesunden
ist mit unterschiedlichen neuropathologischen und bildgebenden Verfahren eindeutig festgestellt worden (Harper 1998). Den größten Anteil daran hat die Schrumpfung der weißen Substanz der zerebralen Hemisphären. Die Volumenminderung ist am ausgeprägtesten im präfrontalen Bereich, korreliert mit Maßen der Menge und Dauer des Alkoholkonsums und ist unter Abstinenz weitgehend reversibel (Kril u. Halliday 1999). Diese Schrumpfung wurde anfänglich auf die Dehydrierung zurückgeführt und die Normalisierung unter Abstinenz demzufolge allein durch Rehydrierung erklärt. Beides trifft nach neueren radiologischen wie auch neuropathologischen Befunden nicht zu. Die Magnetresonanztomographie (MRT) erlaubt anhand der Relaxationszeiten auch eine Abschätzung des Hydrierungsgrades des Gehirnes, sodass mit diesen Parametern der durch Veränderungen im Wassergehalt des Gehirnes bedingte Anteil morphologischer Veränderungen bestimmt werden kann. Die Patienten der bereits dargestellten neuropsychologischen Untersuchung von Mann et al. (1999) wurden zu den beiden Testzeitpunkten auch mit MRT untersucht. Die erwartete Volumenverminderung zum 1. Testzeitpunkt und die Normalisierung zum 2. Testzeitpunkt nach 5 Wochen wurde bestätigt, aber die Relaxationszeitparameter gaben keinen Hinweis auf eine Rehydrierung. Offensichtlich liegen der Volumenminderung potenziell reversible strukturelle Veränderungen zugrunde, vermutet werden subtile strukturelle Veränderungen der Myelinisierung. Neuropathologische Studien belegen einen Verlust insbesondere frontaler kortikaler Neuronen und Dendriten. Interessanterweise fällt dieser Verlust bei alkoholabhängigen Patienten ohne amnestische Störung ähnlich stark aus wie bei Patienten mit chronischer Wernicke-Enzephalopathie und Korsakofff Syndrom. Dagegen fand sich bei den alkoholabhängigen Patienten ohne amnestische Störung kein Hinweis auf Neuronenverlust im Zwischenhirn oder dem basalen Vorderhirn (Mann et al. 2001), also jenen Regionen, die bei Patienten mit Korsakofff Syndrom strukturell verändert sind. Diese Befunde sprechen gegen ein allmähliches Fortschreiten der chronischen Alkoholabhängigkeit zum Korsakofff Syndrom, wie es in der Kontinuitätshypothese postuliert wird. Strukturelle Veränderungen
303 14.5 · Strukturelle Veränderungen des Gehirnes bei alkoholabhängigen Patienten
im Zwischenhirn setzen einen spezifischen, durch Thiaminmangel bedingten Krankheitsprozess voraus. Die eher unspezifischen Veränderungen des Hirnvolumens und der Neuronen- und Dendritendichte, die allen drei Gruppen gemeinsam sind, scheinen dagegen direkt auf die Neurotoxizität von Alkohol zurückzugehen. Die axonale Degeneration in der Folge solcher Neuronenverluste in kortikalen oder subkortikalen Regionen zieht bleibende Volumenreduktionen der weißen Substanz nach sich (Harper 1998). Trinkmengen, Alter und Geschlecht werden wie bei den Befunden zu kognitiven Defiziten auch im Zusammenhang mit strukturellen und funktionellen Anomalien von alkoholabhängigen Patienten geprüft. Für Untersuchungen post mortem können die Patienten allerdings nie so zusammengestellt werden, dass Parallelisierungen nach z. B. Alter und Bildung zu gesunden Kontrollgruppen erreicht werden, oder bestimmte Abstinenzzeiten der Untersuchung vorausgehen, wie dies in den neuropsychologischen Untersuchungen der Fall ist. Meist sind die Patienten in neuropathologischen Untersuchungen auch erheblich älter als der Durchschnitt der alkoholabhängigen Patienten in Entwöhnungsbehandlungen, sie haben längere Suchtkarrieren und häufig zusätzliche Erkrankungen. Deshalb werden systematische Untersuchungen zum Einfluss von Konsummenge, Alter und Geschlecht häufig mittels MRT durchgeführt. Geschlechtsspezifische Beeinträchtigungen Beim
Vergleich der Hirnvolumina von 43 männlichen und 36 weiblichen alkoholabhängigen Patienten mit MRT wurden stärkere Reduktionen der grauen als der weißen Substanz, wie auch Erweiterungen der Sulci und der Ventrikel bei Frauen im Vergleich zu Männern gefunden (Hommer et al. 2001). Die Untersuchungen wurden erst nach mindestens 3-wöchiger Abstinenz durchgeführt. Obwohl die Frauen weniger bzw. seit weniger Jahren tranken als die Männer, waren sie stärker geschädigt. Außer dem Geschlecht hatten weder Trinkmenge, Komorbidität noch der Konsum anderer Substanzen einen Einfluss auf die Volumenreduktion. k Interessant ist, dass in dieser Untersuchung beide Gruppen alkoholabhängiger Patienten in neuropsychologischen Vergleichen mit Gesunden weitgehend unauffällig
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waren – die hirnstrukturellen Veränderungen scheinen also den kognitiven Veränderungen vorauszugehen. Demnach wäre das weibliche Gehirn sensitiver gegenüber den neurotoxischen Effekten von Alkohol. Auch nach mindestens 2-monatiger Abstinenz ist das Volumen der grauen wie der weißen Substanz bei alkoholabhängigen Frauen geringer als bei alkoholabhängigen Männern (Pfefferbaum et al. 2001). Im direkten Vergleich mit weiblichen und männlichen gesunden Kontrollgruppen waren in dieser Untersuchung jedoch nur die Defizite für männliche Patienten, nicht für weibliche Patienten bedeutsam. Auch wenn statistisch berücksichtigt wurde, dass der Lebenszeitkonsum der Männer mehr als doppelt so hoch war, änderte sich an dieser Aussage wenig. Die Diskrepanzen der Befunde der beiden Untersuchungen von Hommer et al. (2001) und Pfefferbaum et al. (2001) können mit einer Reihe von Unterschieden in der Auswahl der Patienten, dem Untersuchungszeitpunkt, der Parameterisierung des MRT und der statistischen Analyse zusammenhängen. Informativ ist die Berücksichtigung des Alterseinflusses bei Pfefferbaum et al. (2001). In beiden Patientengruppen war die Abnahme in den regionalen Volumenmaßen mit zunehmendem Alter stärker als bei den Gesunden. Bei alkoholabhängigen Männern galt dies für die Volumina der kortikalen grauen Substanz, der Sulci und der 3. Ventrikel. Bei alkoholabhängigen Frauen nahm das Volumen der lateralen Ventrikel mit dem Alter stärker zu als bei gesunden Frauen. Eine einfache Aussage dergestalt, dass weibliche Gehirne empfindlicher auf Alkohol reagieren als männliche, wird durch die Befunde von Pfefferbaum et al. (2001) nicht gestützt. Aussagen über unterschiedliche Volumina der Hirnregionen männlicher a hängen und weiblicher alkoholabhängiger Patienten anscheinend stark davon ab, ob nur alkoholabhängige Patienten untereinander verglichen werden, oder ob diese Maße zuvor auf gesunde Kontrollgruppen bezogen werden. Aber unabhängig von diesen Niveauunterschieden ist offensichtlich, dass in beiden Patientengruppen die Strukturveränderungen mit dem Alter zunehmen. Da von diesem Alterseffekt aber unterschiedliche Regionen bei Männern und Frauen betroffen sind, hängt das Ergebnis der Vergleiche hirnstruktureller Anomalien bei männlichen und weiblichen alkoholabhängigen Patienten
304
Kapitel 14 · Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit
entscheidend vom Alter und dessen Streubreite in der untersuchten Stichprobe ab.
14
14.6
Konsequenzen der kognitiven Beeinträchtigungen für die Therapie
14.6.1
Der Einfluss kognitiver Beeinträchtigungen auf den Therapieerfolg
Die gegenwärtig üblichen Behandlungsprogramme für alkoholabhängige Patienten sind in Deutschland überwiegend stationär, dauern bis zu 8 Wochen und sind als Breitbandangebote konzipiert. Die Patienten sollen in dieser Zeit Änderungen der Einstellung zum Trinken und zum Leben ohne Alkohol erreichen und Kompetenz im Lösen von Problemen erlangen, aus denen sich Rückfallrisiken ergeben. Das Absolvieren der Therapieschritte und das Üben eines Lebens ohne Alkohol in der Entwöhnungseinrichtung soll den Patienten zu einer Stärkung ihres Selbstwertgefühls verhelfen. Oft muss in dieser Zeit auch an der Partnerbeziehung gearbeitet werden. Nicht zu vergessen sind praktische Probleme wie Verschuldung, unbeantwortete Schreiben von Behörden, Schritte zur Beschaffung oder Sicherung eines Arbeitsplatzes oder einer Wohnmöglichkeit. Die vielfachen kognitiven Defizite, die bei der Prüfung von Gedächtnisfunktionen, der Problemlösung und der Konzeptbildung bei alkoholabhängigen Patienten offenkundig geworden sind, müssen sich zumindest bei einem Teil der Patienten hinderlich auf die während der Therapie zu leistenden Umstellungen auswirken. Zwar bilden sich die unmittelbar nach Entzug festzustellenden Defizite teilweise innerhalb von wenigen Wochen zurück (Mann et al. 1999), aber über lange Strecken der stationären Behandlung ist dennoch mit kognitiven Einschränkungen zu rechnen. Meist berücksichtigen Therapieprogramme die vielfältigen subklinischen kognitiven Defizite alkoholabhängiger Patienten nicht. Weder sind Screening-Verfahren für kognitive Defizite als Routine in Entwöhnungskliniken etabliert, noch bieten Behandlungsprogramme gezielt Hilfen für Patienten mit solchen Defiziten oder
gehören Module zur kognitiven Remediation zum Standard der gegenwärtigen multimodalen Therapieprogramme (Allen et al. 1997). Übliche Versuchspläne zur Erfassung des Einflusses kognitiver Defizite auf den Erfolg von Therapieangeboten für alkoholabhängige Patienten konzentrieren sich auf den Nachweis eines direkten Zusammenhanges mit dem Ausmaß des kognitiven Defizits zu Beginn der Therapie und dem katamnestischen Ergebnis. Bei Rourke und Grant (1999) lernte die Gruppe der durchgehend Abstinenten bei der 1. Messung bereits besser als die später Rückfälligen. Bei den Halbjahreskatamnesen zu drei verschiedenen ambulanten Therapieangeboten hatten die abstinenten Patienten bei der Eingangserhebung bessere Leistungen im verbalen Lernen, einer Arbeitsgedächtnisprüfung und im TMT (Wölwer et al. 2001). In einer stufenweisen Regression mit allen kognitiven Leistungen als Prädiktoren verblieb der TMT-A als einziger signifikanter Prädiktor des Therapieerfolgs. In der Literatur finden sich weitere Belege für einen Zusammenhang zwischen kognitiven Defiziten und dem Status nach absolvierter Therapie (vgl. Knight u. Longmore 1994). Der Zusammenhang zwischen Art und Ausprägung kognitiver Defizite und unterschiedlichen Outcome-Variablen ist jedoch durchwegs schwach und die berichteten Zusammenhänge sind nur selten konsistent (vgl. Bates et al. 2002a). Die Erwartung, dass sich der Einfluss kognitiver Defizite direkt und unterschiedslos in Abstinenzdauer, Konsummenge, beruflicher Wiedereingliederung oder Qualität der Beziehung niederschlägt, lässt sich aus der Literatur nicht bestätigen. Solche einfachen Beziehungen sind jedoch im Gebiet der Rehabilitation von kognitiven Beeinträchtigung nicht die Regel. Die Literatur zum Genesungsverlauf bei traumatischen Hirnschäden zeigt, dass kognitive Beeinträchtigung mit dem psychosozialen Funktionsniveau zu einem späteren Zeitpunkt oft indirekt und in der Interaktion mit intrapersonalen und situativen Faktoren zusammenhängt (vgl. Prigatano et al. 1996). So können Hirnschäden die motivationalen und emotionalen Reaktionsmuster eines Menschen beeinträchtigen. Diese Veränderungen wirken sich jedoch je nach Persönlichkeit, weiteren psychopathologischen Symptomen, sozialer Unterstützung und Art der Anforderung unterschiedlich
305 14.6 · Konsequenzen der kognitiven Beeinträchtigungen für die Therapie
auf die psychosoziale Anpassung aus (Prigatano et al. 1996). Diese Überlegungen müssen auch für die kognitiven Konsequenzen langfristigen exzessiven Alkoholkonsums gelten (vgl. Bates et al. 2002a). Neuropsychologische Befunde sind demnach insbesondere dann informativ, wenn sie nicht bzgl. ihres direkten Beitrags zum Outcome, sondern im Zusammenwirken mit weiteren intrapersonalen und Umgebungsfaktoren gewertet werden. Formal sind drei Grundformen des Zusammenwirkens kognitiver Beeinträchtigungen mit anderen Faktoren zu unterscheiden. Je nach Fragestellung, inhärenter Kausalbeziehung und zeitlicher Abfolge kann der Faktor der kognitiven Beeinträchtigung als Mediator, als Risikofaktor oder als Moderator wirksam werden. Bates et al. (2002a) diskutieren hierzu insgesamt 5 verschiedene Modelle nach dem formalen Ansatz von Baron und Kenny (1986). Modelle für den Einfluss kognitiver Beeinträchtigungen auf Behandlungsergebnisse Die Beurtei-
lung einer Variablen als Mediator basiert dabei auf folgenden Voraussetzungen: Ein Risikofaktor muss mit dem Kriterium korrelieren, aber auch mit der Mediatorvariablen, die selbst ebenfalls mit dem Kriterium korreliert. Die formale Prüfung basiert darauf, regressionsanalytisch zu zeigen, dass die Beziehung zwischen Risikofaktor und Kriterium bedeutungslos wird, wenn die kognitive Beeinträchtigung kontrolliert wird. Mit diesem Ansatz lässt sich prüfen, ob kognitive Beeinträchtigungen dadurch wirksam werden, dass sie den Einfluss von Risikofaktoren z. B. auf das Funktionsniveau nach der Behandlung vermitteln, oder ob ihr Einfluss auf das Funktionsniveau über andere Risikofaktoren vermittelt wird. Die Beschränkung der Untersuchungen zum direkten Einfluss kognitiver Beeinträchtigungen auf Kriteriumsvariablen werden durch den Mediatorund Moderatoransatz aufgehoben. Allerdings sind Hypothesenprüfungen, die nach diesen Konzeptualisierungen erfolgen, gegenwärtig noch selten. Die Modelle zur Rolle kognitiver Beeinträchtigungen als Mediator, als Risikofaktor oder als Moderator eignen sich jedoch auch gut dazu, vorhandene Befunde zu ordnen. Bates et al. (2002a) führen ein Beispiel an, bei dem die genannten formalen Voraussetzungen für den Status kognitiver Beeinträch-
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tigungen als Mediator erfüllt sein könnten. So korrelieren Angst und Depressivität (Risikofaktor) bei mehrfachabhängigen männlichen Patienten negativ mit Maßen der Beziehungsqualität (Kriterium), aber auch negativ mit verbalen und exekutiven Fähigkeiten (Mediator). Wurde der kognitive Status (als Mediatorvariable) kontrolliert, so waren Angst und Depression als Prädiktoren der Beziehungsqualität bedeutungslos (Schafer et al. 1994). Die Partnerinnen dieser Patienten erfuhren also umso mehr negatives Interaktionsverhalten, je kognitiv beeinträchtigter ihr Partner war. Häufiger sind allerdings Befunde, bei denen kognitive Beeinträchtigungen als ein Risikofaktor wirken und dessen Einfluss auf Indikatoren des Therapieerfolgs oder der psychosozialen Anpassung durch andere Faktoren vermittelt wird. Angst, Depressivität und fehlende soziale Unterstützung sind mit ungünstigen Verläufen nach Entwöhnungsbehandlungen assoziiert (Zywiak et al. 2002). Solche affektiven Veränderungen, Schwierigkeiten im Interaktionsverhalten und dadurch reduzierte soziale Unterstützung können durch kognitive Beeinträchtigungen bedingt sein. Patienten mit schlechten Testleistungen in verschiedenen Leistungsbereichen haben anscheinend größere Schwierigkeiten, Fertigkeiten zu erwerben, die für Abstinenz und psychosoziale Anpassung nach der Behandlung wichtig sind. Dies gilt für die Erinnerung an therapierelevante Informationen, das Erlernen von sozialer Kompetenz beim Ablehnen von Einladungen und das Engagement in der Gruppentherapie (Bates et al. 2002a). Es bestehen auch negative Zusammenhänge zwischen Testleistungen und der Beurteilung von Therapiemotivation und Prognose durch die Therapeuten und der Teilnahme an weiteren Behandlungsangeboten (vgl. Bates et al. 2002a). Auch das von Klinikern häufig als besonderes Problem der Behandlung von Abhängigen herausgestellte Leugnen alkoholbedingter Probleme könnte durch kognitive Defizite mitbestimmt sein (Rinn et al. 2002). Solche Befunde sprechen dafür, dass kognitive Beeinträchtigungen den Erfolg einer Behandlung mitbestimmen. Eine Reihe von Befunden zum Zusammenhang zwischen kognitiven Beeinträchtigungen und therapiebezogenen Variablen legen jedoch nahe, dass durch kognitive Beeinträchtigungen der Zusam-
306
14
Kapitel 14 · Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit
menhang zwischen verschiedenen Risikovariablen und Kriteriumsvariablen moderiert wird. Regressionsanalytisch geschieht der Nachweis über die Bedeutung der Interaktion zwischen einem Risikofaktor und dem Indikator kognitiver Beeinträchtigung bei der Vorhersage einer Kriteriumsvariablen. Ist die Interaktion signifikant, so variiert die Vorhersageleistung des Risikofaktors in Abhängigkeit vom Ausmaß der Beeinträchtigung. Die Beeinträchtigung exekutiver Funktionen hatte eine solche Moderatorfunktion bei der Vorhersage des Alkoholkonsums nach einer Behandlung (Blanchard 1999; Morgenstern u. Bates 1999). Generell unterschieden sich Patienten mit und ohne Beeinträchtigung nicht in der Katamnese. Aber hohe Selbstwirksamkeit, starke Abstinenzabsicht und Engagement bei den Anonymen Alkoholikern sagten ein gutes Ergebnis nach 6 Monaten voraus. Dies galt jedoch nur für Patienten ohne kognitive Beeinträchtigungen. Bei Patienten mit Beeinträchtigung exekutiver Funktionen war dagegen die Veränderungsmotivation ein besserer Prädiktor als für Patienten ohne Beeinträchtigung. Anscheinend erreichen Patienten mit und ohne Beeinträchtigung zwar dasselbe Behandlungsziel, aber auf unterschiedliche Weise. Es ist deshalb fraglich, ob Patienten mit diesen kognitiven Beeinträchtigungen von üblichen Therapiekomponenten profitieren, die z. B. auf Verbesserung der Selbstwirksamkeit ausgerichtet sind. Allerdings liegen nur wenige Befunde zur differenziellen Effektivität verschiedener Therapiemodalitäten in Abhängigkeit vom kognitiven Status der Patienten vor. Demnach profitieren beeinträchtigte Patienten mehr von stationärer als von ambulanter Therapie und mehr von einer stützenden Gruppentherapie als von einem »Coping Skills Training« (vgl. Bates et al. 2002a).
14.6.2
Rehabilitationansätze bei kognitiven Beeinträchtigungen alkoholabhängiger Patienten
Wie bei traumatischen Hirnschäden finden sich auch bei den kognitiven Beeinträchtigungen alkoholabhängiger Patienten zwei Ansätze, die als restitutiv und als kontextbezogen bezeichnet werden
können (vgl. Bates et al. 2002a; vgl. 7 Kap. 24 »Neuropsychologische Therapie psychischer Störungen« von Diener und Olbrich, in diesem Band). Systematische Untersuchungen mit alkoholabhängigen Patienten wurden jedoch fast ausschließlich mit dem restitutiven Ansatz gemacht, in dem beeinträchtigte Funktionsbereiche durch das Training spezifischer Funktionen verbessert werden sollen. Dies geschieht anhand von Aufgaben und Übungen, für deren Erledigung exekutive Funktionen, Aufmerksamkeit oder Gedächtnisfunktionen benötigt werden. Man nimmt dabei an, dass Verbesserungen in den trainierten Funktionen von der neuronalen Plastizität abhängen und in dem Maße fortschreiten, wie der Umbau neuronaler Verbindungen und die Übernahme bestimmter Funktionen durch unversehrte Hirnteile möglich ist (Robertson u. Murre 1999). Zwar bilden sich bei traumatischen Hirnschäden wie auch bei alkoholabhängigen Patienten nach dem Entzug in den ersten Monaten Beeinträchtigungen spontan zurück, die spezielle Übung beeinträchtigter Funktionen soll diesen Prozess jedoch beschleunigen und das Stagnieren der Verbesserung in besonders beeinträchtigten Bereichen verhindern. Goldman et al. führten in den 1980er-Jahren eine Reihe von Untersuchungen zum Nachweis von Übungseffekten durch. Dabei wurden die Übungen entweder kurzzeitig nach dem Entzug oder später begonnen. Der Vergleich der beiden Lernkurven erlaubt anhand der 1. Messung eine Aussage zur zeitabhängigen Verbesserung und anhand des Anstiegs der Lernkurve eine Aussage über die übungsabhängige Verbesserung. Wiederholte Übungen in verschiedenen Bereichen kognitiver und psychomotorischer Defizite verbessern demnach diese Funktionsbereiche bei alkoholabhängigen Patienten über die spontane Verbesserungsrate hinaus (vgl. Übersicht in Knight u. Longmore 1994). Ein Übungsfortschritt scheint jedoch speziell für Gedächtnis und exekutive Funktionen schwieriger als für andere Funktionsbereiche zu sein (vgl. Bates et al. 2002a). Welchen Einfluss hat nun ein solches kognitives Remediationsprogramm auf den Erfolg einer Entwöhnungstherapie? Bei allerdings vergleichsweise jungen, im Mittel ca. 30-jährigen Patienten bewirkte ein computergestütztes kognitives Training eine Verbesserung kognitiver Funktionen in den ersten
307 14.7 · Literatur
beiden Behandlungsmonaten auf ein Niveau, das von den Kontrollprobanden ohne Training nach einem halben Jahr erreicht wurde (Fals-Stewart u. Lucente 1994). Die Patienten der trainierten Gruppe wurden von den Therapeuten in therapierelevanten psychosozialen Aspekten als besser eingeschätzt (u. a. im Interaktionsverhalten gegenüber Mitpatienten und Team, der Teilnahme an den therapeutischen Angeboten und der allgemeinen Therapieorientierung). Denkbar ist, dass die trainierten Patienten durch die schnellere kognitive Restitution therapierelevante Informationen besser aufnehmen und umsetzen konnten als die Kontrollprobanden.
14
Ob sich dies auch auf das psychosoziale Funktionsniveau und den Substanzkonsum nach der Behandlung auswirkte, ist der Untersuchung nicht zu entnehmen. Seit den 1980er-Jahren sind wiederholt Programme zur kognitiven Remediation alkoholabhängiger Patienten mit dem Anspruch der Generalisierung auf Abstinenz bzw. Substanzkonsum und psychosoziale Anpassung vorgestellt worden (vgl. Bates et al. 2002a). So naheliegend die Notwendigkeit solcher Programme auch ist: Leider fehlen bislang systematische Evaluationen ihrer Effektivität und Effizienz.
Zusammenfassung Im deutschen Sprachraum wurden subklinische Veränderungen kognitiver Funktionen durch Alkoholkonsum kaum intensiv untersucht und systematisch beschrieben. Dafür sind mehrere Gründe verantwortlich: Traditionell lag der Schwerpunkt neuropsychologischer Darstellungen der Folgen exzessiven Alkoholkonsums auf den eindrucksvollen klinischen Bildern des KorsakoffSyndroms. Alkoholabhängige Patienten in einer Entwöhnungsbehandlung haben körperliche, psychische und soziale Probleme, die vordringlich behandelt werden. Die Beeinträchtigungen erschienen zudem unspezifisch, passager und an extreme Trinkmengen und -dauer gekoppelt. Der Überblick über die empirische Literatur zeigt jedoch, dass kognitive Beeinträchtigungen häufig auf Alkoholkonsum basieren, insbesondere Gedächtnisprozesse betreffen und bei geringerer Trinkmenge und -dauer auftreten als gemeinhin
14.7 Literatur Allen DN, Goldstein G, Seaton BE (1997) Cognitive rehabilitation of chronic alcohol abusers. Neuropsychol Rev 7: 21–39 Bates ME, Bowden SC, Barry D (2002a) Neurocognitive impairment associated with alcohol use disorders: Implications for treatment. Exp Clin Psychopharmacol 10: 193–221. Guter Überblick über eine Fülle potenziell therapierelevanter neuropsychologischer Befunde, auch aus entlegenen Gebieten. Hilfreich ist ein überzeugendes Ordnungssystem für die Bewertung des Einflusses kognitiver Störungen auf den Behandlungserfolg alkoholabhängiger Patienten. Bates ME, Labouvie EW, Voelbel GT (2002a) Individual differences in latent neuropsychological abilities at addictions treatment entry. Psychol Addict Behav 16: 35–46
angenommen. Weiter wurde deutlich, dass sie Auswirkungen auf den Therapieerfolg und die Bewältigung von Lebensanforderungen haben, und dass sie auch bei Abstinenz lange Zeit zur Rückbildung benötigen. Eine Konsequenz besteht darin, neuropsychologische Maßnahmen zum Screening auf kognitive Beeinträchtigungen in die Routinediagnostik von Einrichtungen zur Behandlung von Alkoholabhängigen aufzunehmen. Eine weitere Konsequenz sollten vermehrte Anstrengungen zur Berücksichtigung kognitiver Defizite in der Behandlung und zur Entwicklung und Evaluation geeigneter Trainingsmaßnahmen sein. Die Effizienz beider Maßnahmen ist jedoch an weitere Fortschritte in der neuropsychologischen Erforschung des Zusammenhanges zwischen Alkoholkonsum, spezifischen Risikofaktoren und funktionellen und strukturellen Veränderungen des Gehirnes gekoppelt.
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308
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Kapitel 14 · Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit
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15 15 Neuropsychologie des Ecstasy-Abusus Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Joerg Daumann
15.1 Neurotoxizität von Ecstasy – Tierexperimentelle Untersuchungen – 311 15.2 Neurotoxizität von Ecstasy – Relevanz für den Menschen – 312 15.3 Kognition bei Ecstasykonsumenten – 313 15.4 Literatur
– 319
310
Kapitel 15 · Neuropsychologie des Ecstasy-Abusus
Der Begriff Ecstasy wird meistens synonym für 3,4Methylendioxymethamphetamin (MDMA) verwandt. MDMA ist die verbreiteteste Jugenddroge nach Cannabis und in der Regel auch der einzige Inhaltsstoff der Ecstasypillen. Nur gelegentlich werden chemische Analoga wie 3,4-Methylendioxyamphetamin und 3,4-Methylendioxyethylamphetamin, die hinsichtlich ihrer Wirkungen kaum vom MDMA zu unterscheiden sind, als Ecstasy verkauft. Deutlich seltener beinhalten die Ecstasypillen andere Substanzen wie Amphetaminstimulanzien, Koffein u. a. Vereinfachend werden im Folgenden die Begriffe Ecstasy und MDMA synonym verwandt. Ecstasy ist chemisch eng verwandt sowohl mit Amphetaminstimulanzien als auch mit Halluzinogenen (. Abb. 15.1). So überrascht es nicht, dass die drei Substanzgruppen ähnliche pharmakologische Mechanismen und physiologische Effekte haben. Stimulanzien und Ecstasy verstärken akut die Freisetzung und blockieren die Wiederaufnahme der Transmitter Dopamin (DA), Noradrenalin (NA) und Serotonin (5-HT), wobei der Schwerpunkt der Wirkungen
bei Stimulanzien auf DA und NA, und bei Ecstasy auf 5-HT liegt. Im Vergleich hierzu wirken Halluzinogene hauptsächlich als direkte Agonisten an 5-HT2 Rezeptoren. Die charakteristischen, subjektiv angenehmen psychischen Effekte von Ecstasy sind emotionaler Natur (Gefühl der Nähe zu anderen Menschen, Angstfreiheit, Glücksgefühle, Selbstakzeptanz, kommunikative Offenheit). Amphetaminähnliche und halluzinogene Effekte gehören jedoch auch zum Spektrum der psychotropen Wirkungen von Ecstasy. In Deutschland geben nach aktuellen Berichten ca. 5% der jungen Erwachsenen Erfahrungen mit Ecstasy an, und bei ca. 15-20% dieser Personen ergeben sich Hinweise auf einen regelmäßigen Konsum bzw. Missbrauch. Das durchschnittliche Einstiegsalter liegt bei 17,4 Jahren (BzgA 2001). Besonders eng ist der Konsum von Ecstasy mit der Partyszene verbunden; so geben 50% bis sogar 80% Besucher von Großveranstaltungen an, dass sie Ecstasy konsumieren. Ecstasy kann – wie auch die Amphetaminstimulanzien – zu schwerwiegenden akuten oder subakuten Komplikationen wie Herzinfarkte, Hirnblutungen,
15
. Abb. 15.1. Strukturformeln von MDMA und anderen Substanzen der Ecstasygruppe und chemische Verwandtschaft mit Stimulanzien und Halluzinogenen
6
311 15.1 · Neurotoxizität von Ecstasy – Tierexperimentelle Untersuchungen
epileptische Anfälle, Hyperthermie, Rhabdomyolyse, Gerinnungsstörungen mit Multiorganversagen und schweren Hepatitiden führen. Diese Akutkomplikationen sind dramatisch, aber glücklicherweise angesichts der großen Verbreitung von Ecstasy eher selten. Darüber hinaus ist es aber möglich, dass der wiederholte, und vor allem der regelmäßige, hochdosierte Konsum von Ecstasy langfristig zu toxischen Schädigungen im Zentralnervensystem führt. Diese Annahme basiert auf tierexperimentellen Nachweisen langanhaltender neurotoxischer Hirnschädigungen nach Verabreichung von MDMA. Aktuelle Bildgebungsstudien ergaben Hinweise auf zumindest mittelfristige hirnstrukturelle Veränderungen bei Ecstasykonsumenten, die mit der Neurotoxizität von MDMA zusammenhängen könnten. Schließlich wurden bei Ecstasykonsumenten in einer Reihe von Studien funktionelle Auffälligkeiten, insbesondere im Bereich der Kognition beschrieben, die möglicherweise Folge der toxischen ZNS-Veränderungen sein könnten. Nachfolgend wird der Stand des Wissens zum neurotoxischen Potenzial von MDMA und zu kognitiven Leistungen von Ecstasykonsumenten zusammengefasst. Anschließend wird die aktuelle Literatur zum Zusammenhang zwischen Ecstasykonsum und kognitiven Leistungen kritisch diskutiert.
15.1 Neurotoxizität von
Ecstasy – Tierexperimentelle Untersuchungen Tierexperimentelle Untersuchungen bei verschiedenen Spezies zeigten seit über 20 Jahren, dass MDMA in hohen Dosen und nach wiederholten Gaben anhaltende Veränderungen serotonerger Systeme im ZNS hervorruft: Es kommt zu einer Verarmung des Hirngewebes an 5-HT, seinem Hauptmetaboliten 5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIAA) und der präsynaptischen Serotonintransporter (SERT), zu einer Konzentrationsabnahme von 5-HIAA im Liquor und zur Aktivitätsminderung des Schrittmacherenzyms der Serotoninsynthese Tryptophanhydroxylase im Hirngewebe (Green et al. 2003). Nach anatomisch/histochemischen Untersuchungen resultieren diese lang anhaltenden Veränderungen nach MDMA-Gabe aus einer toxischen Schädigung serotonerger Axonterminale im gesamten Gehirn.
15
Lediglich bei Mäusen betreffen die toxischen Veränderungen das serotonerge und das dopaminerge System. Ansonsten zeigt MDMA bei allen bisher untersuchten Spezies einschl. Primaten das Muster der selektiven Neurotoxizität am serotonergen System. Die Zellkörper der serotonergen Neurone liegen in den Raphekernen des Mittelhirns und projizieren mit ihren teils sehr langen Axonen in praktisch jedes Hirnareal. Der Grad der serotonergen Innervation ist jedoch unterschiedlich für die verschiedenen Regionen, wobei der Hippokampus, die Basalganglien, der Thalamus, die Substantia nigra, die Amygdala und die primär sensorischen Rindenareale vergleichsweise dichte Projektionen aus den Raphekernen erhalten (Jacobs u. Azmitia 1992). Bei Ratten, der am umfangreichsten untersuchten Spezies, findet sich ein Jahr nach der MDMA-Exposition eine vollständige Restitution der serotonergen Innervation in den meisten Regionen. Allerdings fanden manche Studien eine inkomplette Regeneration serotonerger Axone im Hippokampus und einigen Rindengebieten und eine überschießende Regeneration im Hypothalamus. Manche Spezies und Stämme zeigen stärkere neurotoxische Effekte durch MDMA als andere, wobei Primaten besonders vulnerabel sowohl hinsichtlich des Ausmaßes als auch hinsichtlich der Persistenz der neurotoxischen Veränderungen zu sein scheinen: Geringere MDMA-Dosen führen zu ausgeprägterer 5-HT-Depletion im Vergleich zu den Befunden bei Ratten, und die Regeneration der geschädigten Axonterminale scheint nur partiell zu sein (Green et al. 2003). Bei einer Primatenstudie ließen sich sogar noch 7 Jahre nach der MDMA-Exposition deutliche Veränderungen nachweisen: In den meisten kortikalen Hirnarealen und im Hippokampus waren die regenerativen Vorgänge schwach ausgeprägt, während in subkortikalen Strukturen überschießende und aberrierende Reinnervationsmuster nachgewiesen wurden (Hatzidimitriou et al. 1999). Zusammenfassend gelten die langfristigen neurotoxischen Effekte von MDMA im Tierexperiment als gesichert. Das toxische Agens ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht MDMA selbst, sondern ein Metabolit. Oxidative Vorgänge mit Bildung freier Radikaler scheinen hinsichtlich des toxischen Mechanismus eine Schlüsselrolle zu spielen. Wichtig ist, dass hohe Umgebungstemperaturen die neu-
312
15
Kapitel 15 · Neuropsychologie des Ecstasy-Abusus
rotoxischen Effekte von Ecstasy auf das serotonerge System verstärken (Green et al. 2003). Bei der Betrachtung der möglichen funktionellen Auswirkungen neurotoxischer MDMA-Eff fekte sollte die komplexe Rolle von 5-HT im Gehirn berücksichtigt werden: 5-HT erscheint als Neuromodulator für die »Feinabstimmung« und Stabilisierung der Transmission in den neuronalen Netzwerken vieler funktioneller k Systeme wichtig, ohne jedoch für die Erhaltung der basalen Funktion in einzelnen Bereichen erforderlich zu sein. Darüber hinaus hat 5-HT trophische Effekte, indem es generell die Neuroplastizität und auch die Neurogenese im Hippokampus stimuliert (Azmitia 2007). Schließlich spielt 5-HT als potenter Vasokonstriktor eine wichtige Rolle bei der Blutflussregulation im Gehirn. Interessanterweise lassen sich nach experimentell induzierten ausgedehnten Schädigungen des serotonergen Systems keine groben, leicht beobachtbaren Veränderungen im Verhalten von Versuchstieren nachweisen. Nur durch den Einsatz spezieller behavioraler Testverfahren und/oder pharmakologischer Belastungstests können subtilere funktionelle Störungen wie verstärkte Angstreaktionen k und Gedächtnisdefizite nach serotonergen Läsionen aufgedeckt werden. Demnach müßten die funktionellen Auswirkungen potenziell neurotoxischer Effekte von MDMA bei Ecstasykonsumenten nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennbar sein. Dennoch könnten selbst subtile Einschränkungen in kognitiven und/oder psychisch/emotionalen Bereichen die Entwicklung junger Menschen sowohl in sozialer als auch in beruflicher Hinsicht durchaus beeinträchtigen.
15.2 Neurotoxizität von Ecstasy –
Relevanz für den Menschen Angesichts der starken Verbreitung von Ecstasy stellt sich die Frage, ob die tierexperimentellen Daten zur Neurotoxizität von MDMA Relevanz für den Menschen haben könnten. Über Monate und Jahre persistierende, eindeutig neurotoxische Schäden wurden bisher nur nach wiederholter Verab a reichung von MDMA innerhalb weniger Tage beschrieben. Die niedrigste MDMA-Dosis, bei der im Primaten-
hirn solche langfristigen neurotoxischen Schäden nachgewiesen wurden, liegt bei 5 mg/kg s. c. 2 x täglich über 4 Tage, d. h. insgesamt 40 mg/kg parenteral (Ricaurte et al. 1992; Fischer et al. 1995; Hatzidimitriou et al. 1999). Im Vergleich hierzu nehmen die meisten Ecstasykonsumenten 1– 4 x im Monat jeweils am Wochenende 1–2 Tabletten Ecstasy á 75–125 mg MDMA peroral ein (Gouzoulis-Mayfrank u. Daumann 2006a). Somit liegen die tierexperimentellen Dosen deutlich höher als diejenigen eines durchschnittlichen Konsumenten. Allerdings kann die typische Konsumentendosis durchaus in die Nähe der tierexperimentellen Dosen rücken, wenn man nach Formeln rechnet, die zur Ermittlung von Äquivalenzdosen unter verschiedenen Spezies Körpermasse und -oberfläche berücksichtigen (Green et al. 2003). Darüber hinaus wäre es vorstellbar, dass die kumulativ eingenommenen Dosen bei chronischem Konsum ähnliche neurotoxische Veränderungen beim Menschen hervorrufen wie die höheren, innerhalb eines kurzen Zeitraumes verabreichten tierexperimentellen Dosen, und dass zusätzlich neurotrophische und zerebrovaskulär bedingte Veränderungen hinzukommen. Ohnehin sind die Dosen bei einer Untergruppe von starken Konsumenten durchaus mit den tierexperimentellen Dosen vergleichbar: Etwa 10–20% der Ecstasykonsumenten scheinen eine süchtige Entwicklung zu durchlaufen, wobei sie mehrmals in der Woche bis fast täglich und bis zu 10 oder gar mehr Tabletten pro Abend konsumieren. Schließlich könnten der in der Regel bestehende Mischkonsum sowie die weiteren typischen Begleitumstände des Ecstasykonsums eine Potenzierung der neurotoxischen Effekte von Ecstasy mit sich bringen: Ecstasy wird überwiegend während Großpartyveranstaltungen in überfüllten, überhitzten Räumen bei exzessiver körperlicher Belastung durch stundenlanges Tanzen und teilweise unzureichender Flüssigkeitszufuhr konsumiert. Somit geschieht der Konsum typischerweise bei hohen Umgebungstemperaturen, die im Tierexperiment zu einer Verstärkung der Neurotoxizität durch MDMA führen (Green et al. 2003). Zusammenfassend erscheint es plausibel, dass die tierexperimentellen Daten relevant für den Humanbereich sein können, und dass Ecstasykonsumenten in Abhängigkeit vom Ausmaß ihres Konsums sich der Gefahr einer toxischen Hirnschädigung aussetzen.
313 15.3 · Kognition bei Ecstasykonsumenten
Zu dieser Annahme passen die Ergebnisse einer Reihe von Querschnittuntersuchungen, die eine niedrigere Konzentration von 5-HIAA im Liquor von Ecstasykonsumenten im Vergleich zu Kontrollgruppen nachwiesen. Ebenfalls wurde mittels PET und SPECT mit SERT-Liganden eine geringere SERT-Dichte bzw. -Besetzung in kortikalen und/ oder subkortikalen Hirnregionen im Vergleich zu Kontrollgruppen demonstriert (Gouzoulis-Mayfrank u. Daumann 2006a). Allerdings könnte es sich hierbei um transiente Effekte handeln, da die SERTVerfügbarkeit bei längerfristig abstinenten, ehemaligen Konsumenten in der Größenordnung der Kontrollgruppen lag. Zudem zeigte sich bei einer Längsschnittstudie mit molekularem Imaging eine Normalisierung der SERT-Verfügbarkeit nach Reduktion des Konsums (Buchert et al. 2006). Mit Routine-Bildgebungsmethoden ließen sich bisher keine Veränderungen im Sinne einer globalen Hirnvolumenminderung, regionaler Atrophien oder ischämischer Läsionen demonstrieren. Allerdings fanden einzelne Studien mit feineren Methoden der MR-Spektroskopie und -Volumetrie niedrigere Konzentrationen von neuralen und höhere Konzentrationen von Gliamarkern im Hirngewebe (Chang et al. 1999; Reneman et al. 2002; Daumann et al. 2004), sowie eine niedrigere Dichte der grauen Substanz in kortikalen Regionen (Cowan et al. 2003). Zwei neuere, multimodale Hirnbildgebungsstudien mit größeren Stichproben, davon eine mit Prospektivdesign, demonstrierten ebenfalls Auffälligkeiten, die als anhaltende Effekte des MDMAKonsums auf die Mikrozirkulation und die axonale Integrität in bestimmten Hirnregionen (Globus pallidus, Putamen, Thalamus) interpretiert werden könnten (De Win et al. 2008a, 2008b). Zusammenfassend liegen bislang keine Beweise, aber immerhin Hinweise auf mögliche toxische Veränderungen im Gehirn von Ecstasykonsumenten vor (Cowan et al. 2007; Gouzoulis-Mayfrank u. Daumann 2009).
15.3 Kognition bei Ecstasy-
konsumenten Wie bereits erörtert, ist 5-HT als Neuromodulator an vielen funktionellen Systemen im ZNS wie Psychopathologie, neuroendokrine und Schlafregula-
15
tion, Regulation vegetativer Funktionen, Reizverarbeitung und Kognition beteiligt. Hinsichtlich der kognitiven Prozesse gibt es Hinweise auf eine serotonerge Beteiligung vor allem bei der Ausformung des individuellen kognitiven Stils (kognitive Impulsivität vs. systematisches Vorgehen) sowie bei Gedächtnis- und Lernleistungen. Somit wären bei Ecstasykonsumenten als Konsequenzen einer neurotoxischen Schädigung serotonerger Fasern vielfältige Störungen denkbar. Tatsächlich gibt es seit ca. 15 Jahren eine Vielzahl von Untersuchungen, die Auffälligkeiten bzw. Gruppenunterschiede zwischen Ecstasykonsumenten und Kontrollprobanden in praktisch allen Bereichen zeigen, wofür eine modulatorische Rolle von 5-HT bekannt ist (Gouzoulis-Mayfrank u. Daumann 2006a, 2009). Allerdings ist die Datenlage insgesamt inkonsistent. Die konsistentesten Befunde betreffen die kognitiven Funktionen und hier vor allem die mnestischen Leistungen. Bislang liegen über 50 Publikationen aus Querschnittsuntersuchungen zu kognitiven Leistungen von Ecstasykonsumenten und Kontrollgruppen vor. Hier wird auf aktuelle Übersichtsarbeiten verwiesen, da eine eingehende Analyse der einzelnen Studien den Rahmen des vorliegenden Kapitels sprengen würde (Lundqvist 2005; Gouzoulis-Mayfrank u. Daumann 2006a, 2009; Kalechstein et al. 2007). Die frühen Studien hatten überwiegend einen explorativen Charakter und setzten umfassende standardisierte Testbatterien ein. Dabei zeigten sich im Allgemeinen unauffällige Leistungen bei der psychomotorischen Geschwindigkeit und bei einfachen Aufmerksamkeitsaufgaben. Auch hinsichtlich komplexerer Aufmerksamkeitsleistungen, Interferenz und Wortflüssigkeit wurden nur vereinzelt Auffälligkeiten beschrieben. Hingegen wurden wiederholt relative Defizite der mittelfristigen Merkfähigkeit und Lernleistung für verbales und figurales Material und teilweise auch relative Defizite des Arbeitsgedächtnisses in Abhängigkeit vom Ausmaß des Konsums gefunden. Zusätzlich wiesen die Ecstasykonsumenten in manchen Studien schlechtere Leistungen als die Kontrollgruppen in komplexen Aufmerksamkeits- und Problemlöseaufgaben bzw. in Tests zentraler exekutiver Funktionen auf. In den späteren gezielt auf das Gedächtnis fokussierenden Querschnittsuntersuchungen wurden
314
15
Kapitel 15 · Neuropsychologie des Ecstasy-Abusus
die relativ schlechten Leistungen hinsichtlich Merkfähigkeit und Lernen zumindest bei starken Ecstasykonsumenten fast immer bestätigt. Wichtig ist, dass die Gruppenunterschiede in der Mehrzahl der Studien sich nicht nur im Vergleich zu nicht konsumierenden Kontrollprobanden, sondern auch im Vergleich zu polyvalenten Konsumenten anderer Drogen zeigen. In den meisten Studien wurden nur bei stärkeren Ecstasykonsumenten auffällige Befunde erhoben, während moderate Konsumenten mit geschätzten Kumulativdosen von ca. 10–80 Ecstasypillen ein ähnliches Leistungsniveau wie die Kontrollgruppen aufweisen. Die häufigsten Befunde betreffen die Merkfähigkeit für Wortlisten, allerdings haben manche Studien auch andere Tests wie Kurzgeschichten, sowie abstraktes und/oder figurales bildliches Material eingesetzt. Die relativ schlechten Leistungen der Konsumenten zeigen sich im Allgemeinen beim sofortigen und beim verzögerten Abrufen (»immediate/delayed recall«). Einige Studien beschreiben die deutlichsten Unterschiede nach der initialen Präsentation des Lernmaterials und finden ein gutes Lernergebnis bei ausreichender Anzahl von Präsentationen. Diese Befunde wurden unlängst als Hinweis auf eine stärkere Beeinträchtigung der Enkodierung im Vergleich zum Abrufen der gespeicherten Information interpretiert (Ward et al. 2006). Unlängst wurden auch eine hohe Inkonsistenz bei der Reproduktion (»recall«) und eine starke retroaktive Interferenz beschrieben und als Hinweis auf eine frontale Dysfunktion als (Teil)ursache der Gedächtnisprobleme bei Ecstasykonsumenten interpretiert (Quednow et al. 2006a). Interessant sind die Ergebnisse einer kleinen Pilotstudie mit MR-Spektroskopie, die eine Assoziation schlechter Merkfähigkeitsleistungen mit niedrigem N-Acetylaspartat/Kreatin Quotienten im präfrontalen Kortex bei 8 Ecstasykonsumenten fanden. Dieser Befund könnte als Hinweis auf einen dem kognitiven Leistungsabfall zugrunde liegenden neurotoxischen Prozess gewertet werden (Reneman et al. 2001). In die gleiche Richtung gehen auch die Ergebnisse von Bolla et al. (1998), die eine Assoziation zwischen schlechter Gedächtnisleistung und niedriger Konzentration von H-IAA im Liquor fanden. Über die Gedächtnisstörungen hinaus wurden in einigen, jedoch nicht allen Studien relative Defi-
zite frontal-exekutiver Leistungen (z. B. beim Wisconsin Card Sorting Test, WCST) und des Arbeitsgedächtnisses berichtet. Bei (noch) regelrechter Performanz zeigten zwei f-MRT-Studien Verschiebungen des Aktivierungsmusters im Arbeitsgedächtnisnetzwerk im Sinne einer stärkeren parietalen Aktivierung, einer geringeren Deaktivierung im Hippokampus und einer geringeren frontalen Aktivierung (Daumann et al. 2003; Jacobsen et al. 2004). Ebenfalls fanden manche Gruppen mittels behavioraler Tests wie der Matching Familiar Figures Test, der Go/No-Go und der Gambling Task in Kombination mit den Scores psychometrischer Instrumente Hinweise auf eine erhöhte kognitive Impulsivität (Morgan 1998; Morgan et al. 2006; Quednow et al. 2006b). In diesem Bereich sind jedoch die Ergebnisse deutlich weniger konsistent. Das weitgehend konsistente Muster von schlechten mnestischen Leistungen in Abhängigkeit vom Ausmaß des Ecstasykonsums ist vereinbar mit der Vorstellung, dass die Gedächtnisprobleme eine Folge des MDMA-Konsums sind und mit den neurotoxischen Effekten der Droge zusammenhängen. Dass andere kognitive Leistungen weniger stark oder weniger konsistent beeinträchtigt sind, könnte dadurch erklärt werden, dass die für das Gedächtnis relevanten hippokampalen Strukturen besonders vulnerabel für die neurotoxischen Wirkungen von MDMA sind (Fox et al. 2002; Gouzoulis-Mayfrank et al. 2003). Dies wiederum ist ohne Weiteres vorstellbar, zumal der Hippokampus generell auf verschiedene Noxen empfindlicher als andere Hirnregionen reagiert. Darüber hinaus zeigen die tierexperimentellen Studien, dass die neurotoxischen Effekte von MDMA auf das serotonerge System gerade im Hippokampus besonders ausgedehnt und langanhaltend sind (Hatzidimitriou et al. 1999), und es ist bekannt, dass 5-HT eine stimulierende Wirkung auf die Neurogenese im Hippokampus aufweist (Azmitia 2007). Vereinbar mit der Vorstellung der hippokampalen Strukturen als Prädilektionsstelle für die MDMA-Toxizität ist der Befund eines tendenziell niedrigen N-Acetylaspartat/Kreatin Quotienten (NAA/Cr) im Hippokampus, aber nicht im Neokortex, von Ecstasykonsumenten (Daumann et al. 2004). Schließlich zeigte eine neuere fMRT-Studie mit einem Assoziationslernparadigma eine verminderte hippokampale, aber
315 15.3 · Kognition bei Ecstasykonsumenten
regelrechte neokortikale Aktivierung (Daumann et al. 2005). Dieser Befund und die Annahme einer besonderen Vulnerabilität des Hippokampus schließen jedoch nicht aus, dass eine zusätzliche Dysfunktion frontaler Hirnregionen zu dem Gedächtnisdefizit bei Ecstasykonsumenten beiträgt (Quednow et al. 2006a). In der Zusammenschau ergibt die Mehrzahl der Querschnittstudien einen dringenden Verdacht auf neurotoxische Schäden durch MDMA mit resultierenden Gedächtnisdefiziten. Allerdings sollte hier nicht suggeriert werden, dass der durchschnittliche Ecstasykonsument kognitive Einschränkungen in klinisch relevantem Ausmaß aufweist. Solche ausgeprägten Fälle sind die Ausnahme und werden dementsprechend als Fallberichte mitgeteilt. Üblicherweise erscheinen selbst starke Konsumenten auf den ersten Blick unauffällig, und sie nehmen auch selbst überwiegend keine Alltagsdefizite wahr. Erst eine differenzierte neuropsychologische Testung vermag die relativen Leistungsdefizite im Vergleich zu den Kontrollgruppen aufzudecken. Folglich könnte die praktische Relevanz der Studiendaten bezweifelt werden. Andererseits liegt aber möglicherweise darin die größte Gefahr: Dass die Defizite subtil sind und bei langsamer Entwicklung den Konsumenten über einen langen Zeitraum nicht auffallen. Somit würden sie weiter konsumieren und sich dem wachsenden Risiko einer Progredienz aussetzen. Möglicherweise entwickeln sich stärkere, klinisch relevante Defizite erst nach mehreren Konsumjahren. Darüberhinaus ist denkbar, dass die überwiegend subtilen kognitiven Defizite von Ecstasykonsumenten in Verbindung mit den normalen Hirnalterungsprozessen zu einer späteren Akzentuierung und/oder Vorverlagerung altersassoziierter kognitiver Einschränkungen beitragen könnten. Zweifelsohne haben vor allem die relativ frühen Studien methodische Mängel, die die Interpretierbarkeit der Ergebnisse einschränken (Lyvers 2006; Gouzoulis-Mayfrank u. Daumann 2006a): So weisen die Ecstasykonsumenten z. T. auch einen stärkeren Konsum anderer Drogen im Vergleich zu den Kontrollgruppen auf. Ferner wurde in manchen Untersuchungen die Abstinenzdauer am Untersuchungstag nicht erfasst oder sie betrug nur wenige Tage, sodass die Ergebnisse nicht unbedingt Aus-
15
druck eines langanhaltenden neurotoxischen Schadens sein müssen. Allerdings ähneln die Ergebnisse auch bei sorgfältiger Methodik (relativ reine Ecstasykonsumenten und/oder geeignete, gut parallelisierte Kontrollgruppen, ein- bis mehrwöchige Abstinenzdauer, toxikologische Drogenscreenings) überwiegend den Ergebnissen der methodisch weniger anspruchsvollen Studien. Hinsichtlich der Bedeutung des Konsums anderer Substanzen sprechen einzelne Studien dafür, dass Cannabis eine wichtigere Rolle als MDMA für die Entwicklung der kognitiven Defizite spielen könnte. Die Mehrheit der Untersuchungen spricht aber entweder für einen additiven Effekt beider Substanzen oder für eine deutlich wichtigere Rolle des MDMA-Konsums insbesondere hinsichtlich der mnestischen Defizite (Fisk et al. 2006; Gouzoulis u. Daumann 2006b). Schließlich müssen aber auch methodenimmanente Probleme berücksichtigt werden, die selbst bei maximaler Sorgfalt in der Studiendurchführung nicht überwunden werden können: So kann man nie wissen, wie die genaue chemische Zusammensetzung der Ecstasypillen ist. Ferner müssen Auffälligkeiten bzw. Gruppenunterschiede zu ungunsten der Ecstasykonsumenten nicht zwangsläufig Konsumfolge sein; vielmehr können sie eine vorbestehende Eigenschaft bzw. Trait widerspiegeln, die möglicherweise zum Konsum bzw. zum starken Konsum von Ecstasy prädisponiert. Aus diesem Grund ist es erforderlich die auf Querschnittstudien basierenden Verdachtsmomente mittels ergänzender Untersuchungen mit anspruchsvollerem Design zu erhärten. Befunde in Richtung eines weiteren Nachlassens von kognitiven Leistungen nach fortgesetztem Konsum und/ oder einer Besserung nach langfristiger Abstinenz wären überzeugende Argumente für die Annahme, dass die kognitiven Einschränkungen von Ecstasykonsumenten Folge der neurotoxischen Effekte von MDMA sind. Als erster Schritt in Richtung einer höheren Aussagekraft wurden Studien mit aktuellen und langfristig abstinenten ehemaligen Konsumenten publiziert, die in . Tab. 15.1 zusammengefasst sind. In keiner Untersuchung wurden bessere Leistungen bei den ehemaligen im Vergleich zu den aktuellen Ecstasykonsumenten beschrieben. Vielmehr schnitten sogar in den meisten Studien die ehemaligen
316
Kapitel 15 · Neuropsychologie des Ecstasy-Abusus
. Tab. 15.1. Kognitive Leistungen bei ehemaligen und aktuellen Ecstasykonsumenten
Domänen
Kollektive
Wareing et al. 2000
Zentrale exekutive Funktion (random letter generating task)
n=10 Ex (Abstinenz > 6 Monate) n=10 Akt n=10 Kontr
Ex = Akt 6 Monate) n=42 Akt n=31 Kontr
Ex = Akt 6 Monate) n=36 Akt n=31 Kontr
Ex = Akt65
Eher zur Verlaufsuntersuchung bei bereits abgeklärten demenziellen Erkrankungen; auch international in Gebrauch
TFDD
Test zur Früherkennung von Demenzen mit Depressionsabgrenzung
2/nein
37/>60
Ein Kennwert bildet globale selbstund fremdbeurteilte Depressivität ab; validiert an 88 AD-Patienten und 52 Depressiven; vorläufige Cutoff-Werte
ADAS
»Alzheimer’s Disease Assessment Scale«
9/5
217/k. A
Deutsche Bearbeitung des international verbreiteten Verfahrens; 9 Aufgaben im aktiven Testteil (einschließlich Tremor), darüber hinaus klinisches Interview und Verhaltensbeobachtung; Parallelversionen nur für Freie Wortreproduktion und für Wortwiedererkennen
6
355 18.3 · Neuropsychologische Untersuchung
18
. Tab. 18.3 (Fortsetzung)
Testkürzel
Testnamen
Kennwerte/ Parallelformen
Normierung N/ Altersbereich
Anmerkungen
CERAD-NPplus
Neuropsychologische Testbatterie des »Consortium to Establish a Registry for Alzheimer’s Disease« (CERAD)
15/nein
1.100/50–89
Internationaler Standard für die Dokumentation von Status und Verlauf neuropsychologischer Defizite bei Patienten mit AlzheimerDemenz (u. a. Demenzen). Autorisierte deutschsprachige Fassung mit Normen von derzeit n=1100 Gesunden im Altersbereich 50–80+ auf der Homepage der Memory-Clinic Basel
DT
Demenztest
8/nein
505/k. A.
Zu den 8 Untertests gehören MMST, Ischämie-Score und ein Fremdrating des Alltagsverhaltens; wird trotz fehlender Parallelformen von den Autoren auch zur Verlaufsmessung empfohlen
NAI
Nürnberger-AltersInventar
11/5
2688/55–96
4 tempo- und 7 gedächtniszentrierte Leistungsprüfungen; daneben 2 Fremd- und 5 Selbstbeurteilungsfragebögen u. a. zu Alltagsaktivitäten und Lebensqualität; einige Subtests haben weniger als 5 Parallelformen; spezielle Vergleichswerte für verschiedene Demenzformen; zahlreiche Übersetzungen
k. A. keine Angaben
leistet –, stehen gravierende Mängel gegenüber (Dunn et al. 2000): 4 so ist dieses Instrument wenig sensitiv für geringgradig ausgeprägte kognitive Defizite, 4 es generiert allzu leicht falschnegative Diagnosen bei Probanden mit hohem Bildungsstand bzw. falschpositive Diagnosen bei Probanden mit niedrigem Bildungsstand, 4 es ist nicht hinreichend kulturfair und – aus neuropsychologischer Sicht wichtigster Einwand – 4 es ermöglicht mit seinen 10 funktional heterogenen Items, die zu einem Summenwert zusammengefasst werden, keine differenzierte Beurteilung des kognitiven Status einer Person. Demgegenüber liefert eine ausführliche neuropsychologische Untersuchung valide und reliable Kennwerte über ein ganzes Spektrum kognitiver
Funktionsbereiche und erlaubt damit eine differenzierte Erfassung selbst geringgradig ausgeprägter kognitiver Defizite mit erheblich höherem Nutzen für Früherkennung und differenzialdiagnostische Entscheidungen. Prinzipiell lassen sich dabei zwei Herangehensweisen unterscheiden: 1. die Verwendung standardisierter, mehr oder weniger umfangreicher Testbatterien, die speziell für Aufgaben der Demenzdiagnostik entwickelt wurden, und 2. die fallweise Zusammenstellung eigenständiger psychometrischer Tests zu ad hoc-Batterien. Dabei ermöglicht die 2. Methode ein im Hinblick auf den einzelnen Patienten flexibleres und der jeweiligen Fragestellung besser angepasstes Vorgehen. Die einzelnen Verfahren haben unter Umständen auch bessere psychometrische Eigenschaften als die analogen Subtests vordefinierter Testbatterien.
356
Kapitel 18 · Neuropsychologie der Demenz
. Tab. 18.4. Neuropsychologische Untersuchungsinstrumente zur Demenzdiagnostik: Standardisierte Testbatterien
Testkürzel
Testnamen
Kennwerte/ Parallelformen
Normierung N/ Altersbereich
Anmerkungen
ADAS
»Alzheimer’s Disease Assessment Scale«
9/5
217/k. A
Deutsche Bearbeitung des international verbreiteten Verfahrens; 9 Aufgaben im aktiven Testteil (einschließlich Tremor), darüber hinaus klinisches Interview und Verhaltensbeobachtung; Parallelversionen nur für Freie Wortreproduktion und für Wortwiedererkennen
CERAD-NPplus
Neuropsychologische Testbatterie des »Consortium to Establish a Registry for Alzheimer’s Disease« (CERAD)
15/nein
1.100/50–89
Internationaler Standard für die Dokumentation von Status und Verlauf neuropsychologischer Defizite bei Patienten mit AlzheimerDemenz (u. a. Demenzen). Autorisierte deutschsprachige Fassung mit Normen von derzeit n=1100 Gesunden im Altersbereich 50–80+ auf der Homepage der MemoryClinic Basel
DT
Demenztest
8/nein
505/k. A.
Zu den 8 Untertests gehören MMST, Ischämie-Score und ein Fremdrating des Alltagsverhaltens; wird trotz fehlender Parallelformen von den Autoren auch zur Verlaufsmessung empfohlen
NAI
Nürnberger-AltersInventar
11/5
2688/55–96
4 tempo- und 7 gedächtniszentrierte Leistungsprüfungen; daneben 2 Fremd- und 5 Selbstbeurteilungsfragebögen u. a. zu Alltagsaktivitäten und Lebensqualität; einige Subtests haben weniger als 5 Parallelformen; spezielle Vergleichswerte für verschiedene Demenzformen; zahlreiche Übersetzungen
k. A. keine Angaben
18
Die resultierenden Testzusammenstellungen sind jedoch meist weniger konsistent hinsichtlich zugrunde liegender Konstruktionsprinzipien und verfügbarer Normen, und ihre psychometrische Güte als Ganzes ist weniger sicher zu beurteilen als diejenige standardisierter Testbatterien. Auf die daraus resultierenden speziellen methodischen Probleme einer Profilanalyse kognitiver Leistungen kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.
Standardisierte Testbatterien . Tab. 18.4 listet
standardisierte Testbatterien zur neuropsychologischen Demenzdiagnostik auf. Besonders hervorzuheben ist die neuropsychologische Testbatterie des »Consortium for the Establishment of a Registry for Alzheimer’s Disease« (CERAD), meist als CERAD-NP bezeichnet. Die CERAD-NP gewinnt in den letzten Jahren zunehmende Bedeutung durch den Versuch, mit ihr ein international akzeptiertes
357 18.3 · Neuropsychologische Untersuchung
Untersuchungsinstrument zu etablieren, das einerseits die methodischen Mängel globaler ScreeningInstrumente vermeidet (s. o.), andererseits aber hinreichend einfach und zeitökonomisch anzuwenden ist, um auch in transnationalen Studien unter dem Gesichtspunkt einer besseren Vergleichbarkeit der Falldefinition eingesetzt zu werden. Die autorisierte deutschsprachige, um weitere Subtests ergänzte, Fassung der CERAD-NP (als CERAD-NPplus bezeichnet) kann von der »Basler Memory Clinic« unter der Homepage www.memoryclinic.ch/tests bezogen werden. Über Anwendungserfahrungen berichten methodenkritisch Satzger et al. (2001). . Tab. 18.5 versammelt einige psychometrische Einzeltests, die sich grundsätzlich zur Kombination
18
im Rahmen des »flexible battery approach« eignen. Angesichts des besonderen Stellenwertes, den Gedächtnisstörungen für die Diagnostik der meisten Demenzformen einnehmen, überrascht es nicht, dass die Auswahl der hierzu verfügbaren Testverfahren relativ am größten ist. Einige der in . Tab. 18.5 genannten Testverfahren sind Subtests aus umfangreicheren Instrumenten (z. B. MT aus WIE), die sich problemlos auch separat verwenden lassen. Eine Zusammenstellung neuropsychologischer Testverfahren, die für die psychometrische Diagnostik demenzrelevanter kognitiver Funktionsbereiche geeignet sind, findet sich auch in Fleischmann (2000).
. Tab. 18.5. Neuropsychologische Untersuchungsinstrumente zur Demenzdiagnostik: Funktionsspezifische Einzeltests
Testkürzel
Testnamen
Kennwerte/ Parallelformen
Normierung N/ Altersbereich
Anmerkungen
Lernen und Gedächtnis BT
Benton-Test
2/3
>1300/15–69
Angaben bezogen auf Standardinstruktion A. Spezielle Altersnormen für z. B. Wahlform verfügbar
CGT-(M)
Computerisierter Gedächtnis- und Aufmerksamkeitstest (München)
18/2
102/18–85
Die Kennwerte resultieren aus 4 Subskalen; Parallelformen nur für die Subskalen visuelle Aufmerksamkeit und visuelles Gedächtnis
DCS
Diagnostikum für Zerebralschädigung
2/2
172/40–94
Erfasst mnestische Hirnfunktionsstörungen bei figuralem Lernmaterial; erfordert Gestaltreproduktion mit Übertragung auf feinmotorische Ebene
NVLT
Nonverbaler Lerntest
4/nein
911/20–66
Computertest der Rekognitionsleistung für nonverbales Gedächtnismaterial wahlweise als Lang- oder Kurzform; neben Gesamtnormen auch spezifische Normen
VLT
Verbaler Lerntest
4/2
410/18–76
Computertest der Rekognitionsleistung für verbales Gedächtnismaterial; sonst wie NVLT
RBMT
»Rivermead Behavioral Memory Test«
11/4
157/15–90
Hohe ökologische Validität durch alltagsrelevante Aufgaben; deutsche Normierungsstichprobe umfasst auch 67 neurologische Patienten; leider nur geringe Stichprobengrößen pro Altersgruppe
WMS-R
Wechsler Gedächtnistest – Revidierte Fassung
5/nein
210/15–74
In 13 Untertests werden neben verbalen und visuellen Gedächtnisleistungen auch Aufmerksamkeit/Konzentration erfasst
6
358
Kapitel 18 · Neuropsychologie der Demenz
. Tab. 18.5 (Fortsetzung)
Testkürzel
Testnamen
Kennwerte/ Parallelformen
Normierung N/ Altersbereich
Anmerkungen
AAT
Aachener Aphasie-Test
5/nein
476/21–70
Normstichprobe aus 376 aphasischen und 100 nichtaphasischen Patienten; zusätzlich qualitative Auswertung der Spontansprache
RWT
Regensburger Wortflüssigkeitstest
14/nein
634/18–>65
Formallexikalische und semantische Wortflüssigkeit mit und ohne Kategorienwechsel über 1 oder 2 Minuten; Subtests auch einzeln durchführbar bzw. kombinierbar für Verlaufsuntersuchungen
TT
»Token Test«
1/nein
200/15–75
Normierung an aphasischen und nichtaphasischen neurologischen Patienten
Sprache
Aufmerksamkeit AKT
Alterskonzentrationstest
4/2
1008/55–95
Weitgehend sprachunabhängig; getrennte Normen für Aphasiker, Pflegeheimpatienten und Rüstige
FAIR
Frankfurter Aufmerksamkeitsintentar
4/2
1553/14–72
Getrennte Eichstichproben für Formen A und B; Kennwerte sind teilweise intelligenzabhängig (mit IST-70 bis r=0,44)
ZS-G
Zahlen-SymbolTest/Version G (Subtest aus NAI; s. . Tab. 18.6)
1/5
2688/55–96
Vielschichtiges Anforderungsprofil, auch an komplexe Aufmerksamkeitsfunktionen
Raumverarbeitung
18
VOSP
Testbatterie für visuelle Objektund Raumwahrnehmung
8/nein
98/18–90
Je 4 Subtests für Objekt- bzw. Raumwahrnehmung plus vorgeschaltetem visuell-sensorischem Screening; Subtests einzeln durchführbar; Alterseinteilung nur nach unter/über 50-Jährige
MT
Mosaiktest (Subtests aus WIE; s. unten)
1/nein
1897/16–89
Besonders sensitiver Test zur Erfassung visuokonstruktiver Leistungen
CFT
»Complex Figure Test«
1/nein
211/30–85
In der Literatur relativ neue Altersnormen für diesen klassischen Test und seine erweiterte Version
5/nein
480/16–84 850/16–84b
Ausgesprochener Speed-Test; neben 3 primären Subtestkennwerten 2 regressionsanalytisch bereinigte Kennwerte für Nomination und Selektivität (nur füra)
Exekutive Funktionen FWIT
6
Farbe-Wort-Interferenztest nach Stroop
359 18.3 · Neuropsychologische Untersuchung
18
. Tab. 18.5 (Fortsetzung)
Testkürzel
Testnamen
Kennwerte/ Parallelformen
Normierung N/ Altersbereich
Anmerkungen
PERSEV
Perseverationstest
2/nein
104/18–77
Computerversion des Zeigeversuches nach Mittenecker; quantifiziert Flexibilität motorischen Verhaltens anhand informationstheoretischer Redundanzmaße 1. Und 2. Ordnung
WCST
»Wisconsin Card Sorting Test«
13/nein
899/6–89
Bekannteste Kartensortieraufgabe zur Erfassung des abstrakten Denkens; sprachunabhängiges Stimulusmaterial; nur U.S.-Normen verfügbar; geringe Stichprobengrößen in höheren Altersstufen
WIE
Wechsler Intelligenztest für Erwachsene
11/nein
1897/16–89
Kognitives Leistungsprofil anhand von 11 Subtests und ihrer Zusammenfassung zu Verbal-IQ, Handlungs-IQ und Gesamt-IQ
LPS 50+
Leistungsprüfsystem für 50bis 90-Jährige
14/2
272/50–90
Differentierte Erfassung des kognitiven Leistungsprofiles
MWT-B
MehrfachwahlWortschatz-Intelligenztest
1/1
1952/20–64
Schätzung prämorbiden Intelligenzniveaus anhand kristalliner Leistung
Intelligenz
a
Allgemeine (»absolute«) Leistungsnorm, b Altersnorm für Erwachsene
Zusammenfassung Generell ist festzuhalten, dass neben bewährten, zeitökonomischen Screeninginstrumenten zur globalen Einschätzung des kognitiven Status eine Reihe psychometrisch überprüfter Untersuchungsbatterien und funktionsspezifischer Einzeltests verfügbar sind, die für die neuropsychologische Demenzdiagnostik prinzipiell geeignet sind und eine differenzierte altersnormorientierte Leistungsdiagnostik ermöglichen. Dennoch besteht nach wie vor ein erheblicher Entwicklungsbedarf an gerontoneuropsycholo-
gischen Instrumenten. Einige theoretisch gut begründete und auch differenzierte Testverfahren kommen für die Demenzdiagnostik leider (noch) nicht infrage, da sie im höheren Altersbereich nur unzureichend normiert sind. Tatsächlich ist meist weniger die theoretische Fundierung oder psychometrische Qualität als die fehlende oder unzureichende Altersnormierung der Hauptgrund dafür, dass viele der bereits existierenden Testverfahren kaum für die Demenzdiagnostik geeignet erscheinen.
360
18.4
Kapitel 18 · Neuropsychologie der Demenz
Neuropsychologische Befunde
Im Folgenden werden zentrale Befunde für die beiden mit Abstand häufigsten Demenzformen (Alzheimer-Demenz und vaskuläre Demenzen) sowie für die in den letzten Jahren zunehmend stärker beachtete frontotemporale Demenz referiert. Aktuelle Darstellungen dieser und anderer Demenzformen geben Beyreuther et al. (2002), Förstl (2001) und Kurz (2000); über ausgesprochen seltene demenzielle Erkrankungen unterrichtet Schulz (2002).
18.4.1
18
Alzheimer-Demenz
Die Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT; kurz: Alzheimer-Demenz, AD) ist die bekannteste und mit einem Anteil von 60–70% auch die häufigste aller Demenzformen. Ihr liegen charakteristische neurodegenerative Veränderungen zugrunde, die histopathologisch als Ablagerung von β-Amyloid und anderen Eiweißen zwischen den Nervenzellen (Plaques), Umwandlung zytoskeletaler Elemente (Neurofibrillenveränderungen) und reaktive Gliazellvermehrung sowie makroskopisch als Nervenzelluntergang (Atrophie) insbesondere im Temporal- und Parietallappen sichtbar werden. Zwar sind Bestandteile und Entstehung der schon von Alzheimer (1906) beschriebenen extrazellulären Plaques und intraneuronalen Fibrillenbündel inzwischen weitgehend aufgeklärt (Überwiegen der β- und c-Sekretasen bei der Spaltung des auf Chromosom 21 kodierten Amyloidvorläuferproteins APP bzw. übermäßige Phosphorylierung des normalerweise die intraneuronalen Mikrotubuli stabilisierenden s-Proteins). Auch werden sekundäre Effekte dieser neuropathologischen Veränderungen immer besser verstanden (lokale entzündliche Prozesse, Azetylcholinmangel), und es gibt erste Hinweise auf diagnostisch verwertbare Biomarker (erhöhtes/erniedrigtes A β 42 im Liquor bei manifester AD und ihren unmittelbaren klinischen Vorstadien). Dennoch liegen die eigentlichen Ursachen der Erkrankung noch immer im Dunkeln, und eine kausale Therapie ist derzeit nicht möglich (zum aktuellen Stand der molekularbiologischen Grundlagenfor-
schung vgl. Beyreuther et al. 2002, S. 72–128; allgemeiner zu den verschiedenen biomedizinischen Facetten der Alzheimer-Krankheit: Dal-Bianco 2001; Förstl et al. 1999, 2001). Um die bei der AD auftretenden zahlreichen neuropsychologischen Beeinträchtigungen zu verstehen, ist die mehr oder minder typische Verlaufscharakteristik der Alzheimer-Krankheit zu beachten. Die progredienten neuropathologischen Veränderungen des M. Alzheimer beginnen im mediobasalen Temporallappen Jahrzehnte bevor die ersten klinischen Krankheitszeichen auftreten (klinisch stumme Phase). Erst wenn der neurodegenerative Prozess den Hippokampus erreicht, treten neuropsychologische Störungen des Lernens und des Gedächtnisses auf. Auch depressive Verstimmungen und sozialer Rückzug können vorkommen, doch sind die kognitiven und emotionalen Veränderungen noch wenig offensichtlich (Prädemenzphase). Die diagnostische Schwelle wird überschritten, wenn sich der Krankheitsprozess weiter auf den Temporal-, Parietal- und (meist zuletzt) Frontallappen ausbreitet und so einerseits die Störungen des Gedächtnisses immer schwerwiegender werden, andererseits zusätzliche kognitive Defizite auftreten (Sprache, Raumverarbeitung, exekutive Funktionen), sodass deutliche Beeinträchtigungen der Alltagskompetenz resultieren. Diese letzte, eigentliche Demenzphase der Erkrankung wird üblicherweise wiederum in drei Stadien unterteilt: 4 leichtgradige Demenz, 4 mittelgradige Demenz und 4 fortgeschrittene (schwere) Demenz. Diese klinischen Stadien sind durch progrediente kognitive Beeinträchtigungen, den allmählichen Verlust von Krankheitseinsicht und Selbstständigkeit, hinzutretende psychopathologische Symptome (Unruhe, Aggressivität, Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen) und schließlich durch Pflegebedürftigkeit sowie neurologische Komplikationen und Ausfallerscheinungen geprägt (Förstl 2000). Nach Braak und Braak (2002) weisen v. a. die neurofibrillären Veränderungen ein charakteristisches zeitlich-räumliches Verteilungsmuster auf, das die Unterscheidung von 6 neuropathologischen Entwicklungsstadien ermöglicht:
361 18.4 · Neuropsychologische Befunde
4 Transentorhinale Stadien I und II: Erste neurofibrilläre Veränderungen im transentorhinalen Randbereich der entorhinalen Rinde (Eintrittspforte für den isokortikalen Datenstrom). Veränderungen insgesamt noch gering ausgeprägt, klinisch keine Symptome. 4 Limbische Stadien III und IV: Schwere Zerstörungen der entorhinalen Rinde zunächst in der oberen Zellschicht (Informationsfluss vom Isokortex zur Hippokampusformation), dann in tieferen Schichten (Rückprojektion aus der Hippokampusformation zum Isokortex). Isolation des Hippokampus. Veränderungen im vorderen und medialen Bereich des Temporallappens (limbische Zentren einschließlich Amygdala) mit teilweise schon isokortikaler Beteiligung. Markiert in vielen Fällen die klinische Initialphase der AD mit bereits deutlicher Beeinträchtigung des episodischen Gedächtnisses. 4 Isokortikale Stadien V und IV: Massive neurofibrilläre Veränderungen in nahezu allen Teilen der Hirnrinde, v. a. in den ausgedehnten Assoziationsarealen des Isokortex. Starker Verlust an kortikalen Projektionsneuronen, Atrophie insbesondere temporaler und frontaler Areale. Ausgeprägte Demenz mit multiplen kognitiven Defiziten einschließlich »höherer Werkzeugstörungen«: Aphasien, Apraxien, Agnosien.
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tenden neuropsychologischen Funktionsbeeinträchtigungen eingeordnet werden können (. Tab. 18.6). Zu beachten ist, dass 4 die Angaben für die Prädemenzphase relativ unsicher sind, da hierfür noch zu wenige gesicherte Erkenntnisse vorliegen (s. 7 Kap. 18.5.1 »Früherkennung«), 4 sich Störungen, die in einer bestimmten Phase erstmals auftreten, in den nachfolgenden Phasen weiter verstärken und 4 die schematische Darstellung insofern stark vereinfachend ist, als Krankheitsverläufe realiter eine erhebliche interindividuelle Variabilität der kognitiven Beeinträchtigungen und ihrer zeitlichen Sukzession aufweisen. Zahlreiche empirische Untersuchungen belegen und differenzieren die in . Tab. 18.6 aufgeführten kognitiven Defizite von Patienten mit AD (Übersichten bei Calabrese 2000; Collie u. Maruff 2000; Duke u. Kaszniak 2000; Dunn et al. 2000; Kaschel 2001; Pasquier 1999; Perry u. Hodges 1999). Dabei werden k onen erzunehmend auch solche kognitive Funkti forscht, die bisher wenig Beachtung fanden, wie etwa feinmotorische Koordinationsstörungen (Kluger et al. 1997; Slavin et al. 1995) oder Zahlenverarbeitungsund Rechenstörungen (Kalbe u. Kessler 2002). Mnestische Beeinträchtigungen Als Beispiel da-
Bemerkenswert ist, dass die primären motorischen und sensorischen Areale des Neokortex sowie der Okzipitallappen von den neuropathologischen Veränderungen fast immer verschont bleiben. Häufig trifft dies sogar (zumindest teilweise) für frontale Rindenareale zu, weshalb bei der AD exekutive Funktionsstörungen zunächst meist nicht so im Vordergrund stehen wie Störungen des Gedächtnisses und der Sprache. Auch Veränderungen der Persönlichkeit und der sozialen Verhaltensweisen sind im Vergleich zu den kognitiven Veränderungen viel weniger deutlich. Zeitliches Schema neuropsychologischer Funktionsbeeinträchtigungen Bezieht man die klini-
sche Verlaufscharakteristik und die neuropathologische Stadieneinteilung von Braak und Braak (2002) aufeinander, so ergibt sich ein zeitliches Schema, in das die im Laufe der Alzheimer-Krankheit auftre-
für, wie im Rahmen der neuropsychologischen Untersuchung von Patienten mit dem Verdacht einer AD einzelne Funktionsbereiche differenziert betrachtet werden können und auch müssen, sei an dieser Stelle ausführlicher auf die besonders intensiv untersuchten mnestischen Beeinträchtigungen eingegangen (Allgemeines zu Gedächtnis und Gedächtnisstörungen bei Markowitsch 1999; Schuri 2000). Die frühesten kognitiven Anzeichen einer möglichen Alzheimer-Krankheit sind fast immer eine leichte Merkschwäche für neue Informationen und Wortfindungsstörungen (Collie u. Maruff 2000). Diese werden im Prädemenzstadium von Betroffenen, Angehörigen und oft auch von Hausärzten zunächst als normale altersassoziierte Leistungseinbußen gedeutet. Eine neuropsychologische Untersuchung erfolgt meist erst, wenn das Demenzstadium 1 erreicht ist. Hier imponieren bereits deutliche Minderleistungen bei der unmittelbaren, v. a.
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Ungestört
Ungestört
Ungestört
Ungestört
Ungestört
Aufmerksamkeit ⇒
Raumverarbeitung ⇒
Exekutivfunktionen ⇒
Gnosie ⇒
Praxie ⇒
Ungestört
Ungestört
⇒
Klinisch stumme Phase
Transenthorinale Stadien I und II
Sprache ⇒
Lernen/Gedächtnis
Klinik ⇒
Neuropathologie ⇒
Ungestört
Ungestört
Ungestört, evtl. sind Flexibilität und Antrieb vermindert
Ungestört
Diskrete Störungen komplexer Leistungen (z. B. »dual task«)
Leichte Wortfindungs- und Benennstörungen
Diskrete Speicherstörung
Prädemenzphase
Ideomotorische Apraxie
Gesichterwiedererkennen und Erkennen von Gegenständen erschwert
Planen und Handeln bei komplexeren Aufgaben beeinträchtigt, Arbeitsleistung nimmt deutlich ab
Visuokonstruktion diskret bis deutlich beeinträchtigt
Tonische und phasische Alertness vermindert, relativ rasche Ermüdbarkeit, Ablenkbarkeit
Unpräziser Ausdruck, (semantische) Wortflüssigkeit reduziert, verändertes Gesprächsverhalten
Speicherung und Abruf von neuen Informationen eindeutig erschwert, insbesondere verzögerter Abruf und Rekognition, kein Vorteil von Hinweisreizen, Intrusionen
Demenzstadium 1 (leicht)
Limbische Stadien III und IV
Ideatorische Apraxie
Prosopagnosie, BalintSyndrom
Induktives und deduktives Denken sowie Erkennen von Zusammenhängen und Planen erheblich eingeschränkt
Störungen der räumlichen Orientierung und visuell geleiteter Handlungen
Deutliche Beeinträchtigung fast aller Aufmerksamkeitskomponenten
Paraphrasien, Perseverationen, floskelhafte, inhaltsarme Sprache, Lesen und Schreiben oft nicht mehr möglich
Hochgradige Vergesslichkeit, Arbeitsgedächtnis deutlich reduziert, Erinnerungen an eigene Biografie verblassen, prozedurales Gedächtnis aber noch weitgehend intakt
Demenzstadium 2 (mittel)
Isokortikale Stadien V und VI
. Tab. 18.6. Neuropathologische und klinische Phasen und Stadien der Alzheimer-Krankheit und häufige neuropsychologische Befunde
Wichtig: Für nichtverbale Kommunikation bleiben die Patienten weiter empfänglich (affektive Befindlichkeit, emotionale Reaktivität)!
Schwere und multiple kognitive Defizite, alle höheren psychischen Funktionen erlöschen allmählich, Sprache auf wenige Worte reduziert oder Verstummen, Echolalie und Logoklonie
Demenzstadium 3 (schwer)
362 Kapitel 18 · Neuropsychologie der Demenz
363 18.4 · Neuropsychologische Befunde
aber der verzögerten freien Reproduktion von Lernmaterial, meist Wortlisten. Bei wiederholter Vorgabe einer solchen Liste ist die Lernmenge geringer und die Lernkurve flacher als bei Gesunden der gleichen Altersgruppe. Patienten mit AD zeigen, im Unterschied z. B. zu älteren depressiven Patienten mit Demenz-Syndrom (vgl. 7 Kap. 18.5.3), kaum Primacy-, dafür viel deutlichere Recency-Effekte. Auch profitieren sie kaum, wenn die Wiedergabe durch Hinweisreize (»cueing« durch Vorgabe von Kategoriennamen) erleichtert werden soll. Stattdessen nennen sie oft Wörter, die zwar zu einer bestimmten Kategorie gehören, in der ursprünglich zu lernenden Liste aber gar nicht enthalten waren. Die Zahl dieser Intrusionen kann exzessiv sein. Ebenso ist das korrekte Wiedererkennen gelernter Wörter (Rekognition) in einer Liste mit Distraktoren deutlich erschwert (aufgrund einer Ja-Sage-Tendenz zwar oft viele Hits, jedoch schlechte Diskrimination richtiger und falscher Wörter). Eine genaue Analyse der Fehler kann hier ebenfalls differenzialdiagnostisch aufschlussreich sein: Patienten mit AD produzieren auffallend viele falschpositive Antworten bei Rekognitionsaufgaben, während ältere depressive Patienten viel defensiver antworten. Zusammenfassung Dieses Befundprofil lässt da-
rauf schließen, dass die mnestischen Beeinträchtigungen von Patienten mit einer beginnenden AD am ehesten Ausdruck eines Defizits in der Enkodierung neuen Lernmaterials (Speicherstörung), möglicherweise aber auch Folge einer besonders schnellen Vergessensrate sind (Perry u. Hodges 1996). Die beschriebenen Defizite lassen sich gewöhnlich auch für nonverbales Lernmaterial nachweisen. In dieser Phase können Leistungen des Kurzzeitbzw. Arbeitsgedächtnisses sowie das semantische und biografische Altgedächtnis noch unbeeinträchtigt sein. Teilweise ist aber auch schon eine reduzierte Merkspanne (z. B. beim Zahlennachsprechen vorwärts und rückwärts oder nonverbal beim Blocktapping) festzustellen, es bestehen Schwierigkeiten bei der Benennung von Gegenständen, und auch das prospektive Gedächtnis (Erinnerung für eigene Absichten) kann deutlich beeinträchtigt sein, was anamnestisch erfragt und ggf. auch psychometrisch untersucht werden sollte (z. B. »Rivermead Behavioral Memory Test«).
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Indem die Erkrankung voranschreitet, werden die mnestischen Störungen immer gravierender, häufig werden bei wiederholter Vorgabe einer Wortliste nur noch wenige Wörter behalten, und es findet kein Lernzuwachs mehr statt. Beim verzögerten freien Reproduzieren und der Rekognition versagen die Patienten völlig. Die Progredienz der mnestischen Störung zeigt sich weiter darin, dass nun auch der Zugang zum Altgedächtnis erschwert wird; semantische Gedächtnisinhalte (Weltwissen) und auch episodisch-biografische Erinnerungen werden lückenhaft, verblassen, fallen schließlich ganz aus. Während die initialen mnestischen Störungen im Sinne einer anterograden Anmnesie auf die Isolation des Hippokampus und die zunehmende Atrophie des medialen Temporallappens zurückzuführen sind (Petersen et al. 2000), können die im fortgeschrittenen Krankheitsstadium auftretenden Beeinträchtigungen auch des Altgedächtnisses im Sinne einer retrograden Amnesie Ausdruck einer Störung des Informationsabrufes (»retrieval«) oder auch eines echten Informationsverlustes infolge der Zerstörung weiter Teile der neokortikalen Assoziationsfelder (oder beidem) sein. Evidenz für eine substanzielle Schädigung semantischer Gedächtnisspeicher ergeben sich aus Untersuchungen zur Konsistenz und Item-Spezifität von Minderleistungen über verschiedene Aufgaben hinweg sowie aus multidimensionalen Skalierungstechniken. Demgegenüber spricht ein intaktes semantisches Priming eher für die Hypothese eines gestörten Informationsabrufes (vgl. zusammenfassend Perry u. Hodges 1996). Überhaupt ist ein Charakteristikum der AD, dass selbst in späten Krankheitsstadien das implizite (insbesondere prozedurale) Gedächtnis meist noch weitgehend erhalten ist, was sich u. U. bei der Betreuung und Pflege der Patienten nutzen lässt. Sporadische Alzheimer-Krankheit Eine seltene
Form autosomal dominant vererblicher (präseniler) AD weist Punktmutationen auf Chromosom 1 (Präsenilin 2), Chromosom 14 (Präsenilin 1) und Chromosom 21 (Gen für das Amyloid-Vorstufenprotein) auf. Der bedeutendste Risikofaktor für das Auftreten der sehr viel häufigeren sporadischen Alzheimer-Krankheit ist neben dem Lebensalter und familiärer Belastung das e4-Allel des Gens für Apolipoprotein E (ApoE) auf Chromosom 19. Während
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Kapitel 18 · Neuropsychologie der Demenz
diese (normale) Genvariante bei Gesunden relativ selten vorkommt (in europäischen Populationen ca. 12–15%), ist sie bei Alzheimer-Patienten rund 3-mal häufiger. Zwar tragen etwa die Hälfte der Alzheimer-Patienten dieses Gen nicht, und die Erkrankungswahrscheinlichkeit liegt sogar bei e4-Homozygoten weit unter 100%. Möglicherweise ist aber der ApoE-Polymorphismus deshalb ein Risikofaktor für die Entstehung der AD, weil das e4-Allel die Ablagerung von Amyloid und die Bildung von Neurofibrillen begünstigt (Kurz 2000). Dies hat in jüngster Zeit Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen dem ApoE-Polymorphismus einerseits und kognitiven Symptomen der AD bzw. intellektueller Leistungsfähigkeit älterer Menschen andererseits angeregt – mit z. T. inkonsistenten Ergebnissen. In einer methodisch gut kontrollierten, longitudinalen Kohortenstudie an mehreren hundert katholischen Geistlichen (Alter bei Beginn der Studie: 65 Jahre) über einen Zeitraum von 6 Jahren mit regelmäßiger Untersuchung verschiedener kognitiver Leistungen konnten Wilson et al. (2002) jedoch in überzeugender Weise einen selektiven Zusammenhang des ApoE-e4Allels mit episodischen Gedächtnisleistungen nachweisen. Personen mit mindestens einem ApoE-e4Allel zeigten im Vergleich zu Personen ohne ein solches Allel einen stärkeren Abbau in allen untersuchten kognitiven Bereichen (episodischen Gedächtnis, semantisches Gedächtnis, Arbeitsgedächtnis, perzeptive Geschwindigkeit und visuell-räumliche Fähigkeiten), doch war der Effekt für das episodische Gedächtnis mit Abstand am deutlichsten. Darüber hinaus waren episodische Gedächtnisleistungen bei Personen mit ApoE-e4-Allel schon zur Baseline relativ schlechter, was die Autoren als Hinweis darauf werten, dass e4 episodische Gedächtnisleistungen früher als andere kognitive Leistungen negativ beeinträchtigt.
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18.4.2
Vaskuläre Demenzen
Unter dem Begriff der vaskulären Demenzen (VD) werden alle demenziellen Syndrome zusammengefasst, die auf Erkrankungen der Hirngefäße basieren. Das neuropathologische, neuropsychologische und klinische Erscheinungsbild dieser Störungen ist
daher außerordentlich heterogen (aktuelle Übersichten bei Diehl u. Kurz 2002; Haberl u. Schreiber 2001; Nyenhuis u. Gorelick 1998). Eine Gemeinsamkeit besteht lediglich darin, dass abnorme Durchblutungsverhältnisse zu einer ausgeprägten Minderung der motorischen und/oder kognitiven Leistungsfähigkeit führen. Der wichtigste ätiologische Faktor sind arteriosklerotische Gefäßveränderungen aufgrund von Risikofaktoren wie 4 Hypertonus, 4 Hyperhomozysteinämie, 4 Hyperlipidämie, 4 Diabetes mellitus, 4 Rauchen, 4 übermäßiger Alkoholkonsum sowie 4 Übergewicht und 4 Bewegungsmangel. Auch kardiale Erkrankungen sind häufige Ursachen. Daneben gibt es aber auch seltene, genetisch bedingte Vaskuläre Demenzen wie die erstmals 1993 beschriebene zerebrale autosomal-dominante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten und Leukenzephalopathie (CADASIL). Entsprechend der NINDS-AIREN-Kriterien (»National Institute of Neurological Disorders and Stroke, Association Internationale pour la Recherche et l‘Enseignement en Neurosciences«, NINDSAIREN; Román et al. 1993) stützt sich die Diagnose einer VD auf drei Hauptpunkte: 1. das Vorhandensein eines demenziellen Syndroms nach ICD-10, 2. den anamnestischen, klinischen oder radiologischen Nachweis einer zerebrovaskulären Erkrankung sowie 3. einen wahrscheinlichen zeitlichen Zusammenhang zwischen beiden. Wie Diehl und Kurz (2002) feststellen, sind die derzeitigen operationalen Diagnosekriterien in vielen Fällen keine Hilfe, weil sie zu wenig Anhaltspunkte dafür geben, unter welchen Umständen vaskulären Befunden eine ursächliche Bedeutung für kognitive Defizite zugeschrieben werden soll. Die in idealtypischen Beschreibungen hervorgehobenen Merkmale eines plötzlichen Beginns und inselförmigen Musters kognitiver Defizite mit im Unterschied zur AD stufenweisen Verschlechterung oder fluktu-
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rierendem Verlauf ist in vielen Fällen so nicht zu finden. Vielmehr sind auch nichtprogrediente Zustandsbilder mit relativ geringfügiger intellektueller Leistungsminderung sowie langsam fortschreitende Demenzzustände frontaler und subkortikaler Prägung häufig. Aufgrund der Heterogenität des Krankeitsbildes sowie uneinheitlicher Diagnosekriterien variieren epidemiologische Angaben zu den VD z. T. beträchtlich (Gertz et al. 2002). Unstrittig ist, dass zerebrale Durchblutungsstörungen nach dem M. Alzheimer die zweithäufigste Ursache demenzieller Erkrankungen sind. Allerdings finden sich bei der Mehrzahl aller Demenzkranken über 70 Jahre kombinierte neurodegenerative und vaskuläre Pathologien, was auf eine beträchtliche Komorbidität hinweist. Nosologischen Unterteilung vaskulärer Demenzen Versuche zur nosologischen Unterteilung vas-
kulärer Demenzen orientieren sich derzeit weniger an der Pathogenese als an den betroffenen Gefäßkalibern und den Läsionsorten. Die zerebrovaskuläre Pathologie kann große Arterien betreffen (Makroangiopathie mit multiplen oder strategischen territorialen Infarkten; »large vessel disease«), und/ oder kleine Arterien (Mikroangiopathie mit multiplen oder strategischen lakunären Infarkten; »small vessel disease«). Die histopathologischen Veränderungen führen durch die Zerstörung von funktionstragendem Gewebe, die Unterbrechung von Leitungsbahnen und die Beeinträchtigung von Neurotransmittersystemen zu kognitiven und affektiven Beeinträchtigungen sowie unter Umständen auch zu psychopathologischen Symptomen. Nach Diehl und Kurz (2002) entstehen kognitive Störungen insbesondere 4 dann, wenn sich kortikale und subkortikale Infarkte häufen, 4 bei singulären Infarkten in strategischen Lokalisationen und 4 bei subkortikalen lakunären Infarkten in Kombination mit ausgedehnten Marklagerschäden. Aus diesem Grund unterscheidet man gegenwärtig drei Subtypen der VD: 1. Multi-Infarkt-Demenz, 2. Demenz bei strategischen Einzelinfarkten und 3. subkortikale VD.
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Bei der Multi-Infarkt-Demenz führen Verschlüsse großer Gefäße zu multiplen, kortikalen und subkortikalen Hirninfarkten. Der Beginn der Demenz ist plötzlich (nach Schlaganfall, meist mit Neglekt sowie motorischen und/oder sensorischen Ausfällen, die sich teilweise auch wieder zurückbilden können), der Verlauf gleichbleibend oder schrittweise progredient. Die kognitiven Störungen sind lokalisationsabhängig und können Amnesie, Apraxie, Aphasie, Agnosie und Agraphie beeinhalten. Ein ähnliches Bild ergibt sich für die Demenz bei strategischen Einzelinfarkten, wenn diese kortikal begrenzt bleiben, der Verlauf ist dann meist gleichbleibend. Nach subkortikalen strategischen Einzelinfarkten äußern sich kognitive Störungen eher im Sinne eines dysexekutiven Syndroms. Dies ist auch der Fall bei der subkortikalen VD, allerdings ist deren Beginn charakteristischerweise meist schleichend mit langsam progedienten Verlauf. Angesichts der Vielgestaltigkeit vaskulärer Demenzen erscheint es aus neuropsychologischer Sicht problematisch, dass sich die derzeit gebräuchlichen Diagnosekriterien am allgemeinen Demenzbegriff des ICD-10 orientieren, betont doch dieser mnestische Störungen in einer Weise, die für VD (im Gegensatz zur AD) nicht angebracht erscheint. Die oben schon erwähnte beträchtliche Komorbidität neurodegenerativer und vaskulärer Faktoren erschwert zudem die neuropsychologische Differenzialdiagnose. Looi und Sachdev (1999) identifizierten 45 Studien aus über 30 Jahren, die den direkten Vergleich von Patienten mit AD und VD (einschließlich Multi-Infarkt-Demenz) hinsichtlich neuropsychologischer Testleistungen zum Gegenstand hatten. Dabei blieben 18 Studien wegen methodischer Mängel unberücksichtigt; insbesondere wurden nur solche Untersuchungen eingeschlossen, in denen die beiden Vergleichsgruppen hinsichtlich Alter, Geschlecht, Bildungsstand und Schwere der Demenz sorgfältig parallelisiert worden waren. Orientiert an einem α-Fehlerniveau von 5% zählten die Autoren für insgesamt 14 verschiedene kognitive Funktionsbereiche aus, wie häufig jeweils Testergebnisse zugunsten von Patienten mit AD bzw. mit VD ausfielen (die Autoren machen keine Angaben dazu, warum sie keine Metaanalyse durchführten). Trotz erheblicher Heterogenität der in den Studien be-
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Kapitel 18 · Neuropsychologie der Demenz
schriebenen vaskulären Pathologien und der zur Fallidentifikation benutzten diagnostischen Kriterien ergab sich als relativ konsistentes Ergebnis, dass bei vergleichbarer globaler Demenzschwere VD-Patienten signifikant weniger häufig Störungen des verbalen Langzeitgedächtnis und signifikant häufiger Störungen exekutiver Funktionen aufwiesen als AD-Patienten. In psychometrischen Tests, die sprachliche Funktionen, Aufmerksamkeit, Visuokonstruktion und kurzfristige Behaltensleistungen (Arbeitsgedächtnis) erfassen, dominierte keine der beiden Gruppen. Aufgrund zu schmaler empirischer Basis machen die Autoren keine Aussage zum allgemeinen Intelligenzniveau und zum nonverbalen Langzeitgedächtnis, zu Orientierung, visueller oder taktiler Perzeption und zur Motorik. Die relative Dominanz exekutiver Funktionsstörungen bei Patienten mit VD führen Looi und Sachdev (1999) auf die, auch durch bildgebende Befunde immer wieder gestützte, Häufung von Läsionen in solchen Hirnstrukturen zurück. Diese sind in frontosubkortikale Regelkreise eingebunden, während die relativ besseren verbalen Gedächtnisleistungen derselben Patientengruppe vermutlich damit zu erklären seien, dass mediotemporale Stukturen oft ausgespart blieben und die neuropathologischen Veränderungen im Übrigen zu heterogen seien, um einen dem M. Alzheimer vergleichbaren massiven Effekt auf die kortikal weitverzweigten Gedächtnissysteme zu bewirken. Die Autoren heben selbst verschiedene methodische Probleme einer solchen Literaturübersicht hervor. Beispielsweise könnten in vielen Untersuchungen mit Rücksicht auf die Testfähigkeit vaskuläre Patienten mit Dysphasien unterrepräsentiert gewesen sein, was einen Stichprobenbias in Richtung geringerer sprachlicher Defizite bedeuten würde. Dessen ungeachtet legen die Ergebnisse von Looi und Sachdev (1999) nahe, bei der Differenzialdiagnose zwischen AD und VD aus neuropsychologischer Sicht besonders auf die relative Ausprägung mnestischer und exekutiver Funktionen zu achten. Dies wird auch in neueren Studien bestätigt. Beispielsweise fanden Traykov et al. (2002), dass Patienten mit subkortikalen VD im Vergleich zu Patienten mit AD signifikant bessere Leistungen hinsichtlich der (verzögerten) Wiedergabe verbalen Lernmaterials (»free« und »cued«) und der Rekog-
nitionsleistung erzielten, wobei letztere sogar im Leistungsbereich gesunder Vergleichprobanden lag. Die VD-Patienten machten aber deutlich mehr perseverative Fehler im modifizierten »Wisconsin Card Sorting Test« (WCST), während die AD-Patienten bei einer Aufgabe zur semantischen Wortflüssigkeit häufiger perseverierten. Dieses Beispiel erinnert auch daran, dass globale klinische Urteile wie erhöhte Perseverationsneigung differenzialdiagnostisch irreführend sein können.
18.4.3
Frontotemporale Demenz
Noch vor wenigen Jahren hielt man nahezu alle primär neurodegenerativ verursachten Demenzen für Demenzen vom Alzheimer-Typ. Heute setzt sich die Erkenntnis durch, dass fokale Degenerationen frontaler und temporaler Hirnstrukturen die vierthäufigste Demenzursache nach der Alzheimer-Krankheit, vaskulären Faktoren und der Lewy-KörperKrankheit sind. Die typische neuropathologische Veränderung besteht in einer Atrophie des vorderen und unteren Temporallappens bei meist erhaltenen hinteren Temporallappenabschnitten und ausgespartem Gyrus temporalis superior. Die Atrophie erfasst den Neokortex ebenso wie subkortikale Strukturen (Basalganglien, Mandelkern, weiße Substanz) und in vielen Fällen auch die Hippokampusformation. Im Frontallappen atrophieren insbesondere orbitobasale, ventromediale, aber auch dorsolaterale Anteile. Die fokale Atrophie findet sich häufig linksseitig oder bilateral. Die mikroskopischen Befunde (u. a. Neuronenverlust, spongiforme Degeneration, Pick-Körper, Gliose) sind uneinheitlich, die Beziehung zwischen klinischen Symptomen und histopathologischen Subtypen scheint eher gering (Benke u. Donnemiller 2002). Im Gegensatz zur AD findet sich kein cholinerges Defizit, und das e4-Allel des Gens für ApoE auf Chromosom 19 scheint kein Risikofaktor zu sein. Nach den Lund-und-Manchester-Diagnosekriterien (Neary et al. 1998) kann eine Degeneration des Frontal- und/oder Temporallappens (»frontotemporal lobar degeneration«, FTLD) zu drei spezifischen klinischen Syndromen führen, zur: 1. frontotemporalen Demenz (FTD) im engeren Sinne,
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2. semantischen Demenz (SD) und 3. primär progressiven Aphasie (PPA). Bei der SD und der PPA bestehen ganz überwiegend unilaterale fokal-kortikale Atrophiezonen im frontalen und temporalen Bereich, die zentrale Sprachregionen einschließen, sodass Sprachstörungen im Vordergrund stehen, während andere kognitive Leistungen und die Persönlichkeit vergleichsweise erhalten bleiben. Diese beiden speziellen, vergleichsweise seltenen Demenzformen sind aufgrund ihrer linguistischen Besonderheiten relativ gut voneinander und auch von der FTD abgrenzbar und werden hier nicht weiter behandelt (vgl. dazu ausführlicher Benke u. Donnemiller 2002). Klinisches Hauptmerkmal der FTD sind weniger die zumindest anfänglich nicht so deutlichen kognitiven Beeinträchtigungen, als vielmehr die komplexen und meist sehr störenden Veränderungen von Persönlichkeit und sozialen Verhaltensweisen. Dabei können zwei Varianten unterschieden werden: 4 in einer dominieren Enthemmung, gestörte Impulskontrolle, asoziales, aggressives, stereotypes oder ritualistisches Verhalten; 4 in der anderen Apathie, Antriebsverminderung, Passivität, Indifferenz und sozialer Rückzug, die aber von episodischer Umtriebigkeit und Rastlosigkeit unterbrochen werden können. Häufige psychopathologische Phänomene der FTD sind weiter 4 mentale Rigidität und Inflexibilität, 4 fehlende oder unangebrachte emotionale Reaktionen, 4 mangelnde Empathie, 4 sexuelle Enthemmung, 4 hypomanische Züge, 4 mangelnde soziale Distanz, 4 Witzelsucht, 4 Vernachlässigung, 4 Hyperoralität und 4 generell geringe bis fehlende Krankheitseinsicht sowie 4 insgesamt deutlich reduziertes Urteilsvermögen (ein instruktives Fallbeispiel einschließlich zugehöriger neuropsychologischer Befunde geben Benke u. Donnemiller 2002, S. 245 f.).
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In einer Untersuchung von Miller et al. (1997) konnten alleine anhand derartiger Verhaltensauffälligkeiten (einschließlich reduzierter Spontansprache und erhaltener räumlicher Orientierung) von 60 Patienten mit FTD bzw. AD 100% diskriminanzanalytisch korrekt klassifiziert werden. Demgegenüber ist der differenzialdiagnostische Nutzen kognitiver Beeinträchtigungen fraglich. Eine umfassende Übersicht über neuropsychologische Untersuchungen an Patienten mit FTD geben Jenner und Benke (2002). Sie identifizierten 24 bis Juni 2001 publizierte Studien, in denen die Verdachtsdiagnose einer FTD mit explizitem Bezug auf die Lund-Manchester-Kriterien (meist einschließlich zerebraler Bildgebung mittels CT, MRT oder SPECT) gestellt worden war und in denen pro Teilstichprobe mindestens 9 Personen teilnahmen. In etlichen Studien wurden auch Patienten mit AD und/oder gesunde Vergleichsprobanden untersucht. Im Hinblick auf die neuropsychologischen Charakteristika der FTD lassen sich die Ergebnisse dieser Literaturschau wie folgt zusammenfassen: 4 Exekutive Leistungen: deutliche Beeinträchtigungen im Vergleich zu Gesunden v. a. in der semantischen oder phonematischen Wortflüssigkeit, weniger in klassischen frontalhirnsensitiven Tests (Stroop, »Tower of London«, WCST) oder in (komplexen) Aufmerksamkeitstests. Im Vergleich zur DAT häufig keine signifikanten Gruppenunterschiede. 4 Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis: eingeschränkt oder auch erhalten. 4 Episodisches Gedächtnis: nur bei einem Teil der Patienten reduziert; im Vergleich zur DAT weniger umfassende Defizite in anterograden Gedächtnisleistungen. 4 Semantisches Gedächtnis: überwiegend keine signifikanten Unterschiede zur DAT. 4 Visuell-räumliche Leistungen: elementare Leistungen intakt, häufig jedoch kein Unterschied zur DAT. Komplexe Leistungen und Visuokonstruktion besser als bei DAT. 4 Sprache: Benennensleistung manchmal schlechter, manchmal besser als bei DAT. Sprachverständnis beider Gruppen vergleichbar. 4 Praxie: Ideomotorische Apraxie weniger häufig als bei DAT.
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Kapitel 18 · Neuropsychologie der Demenz
Wie Jenner und Benke (2002) resümieren, ist damit das psychometrische Profil von FTD-Patienten im Vergleich zu Gesunden nur schwer zu spezifizieren. Relativ konstante Merkmale sind die Beeinträchtigung in Aufgaben zur Erfassung verbaler Produkti k vität und Flexibilität sowie intakte elementare visuellräumliche Leistungen. Defizite beim episodischen Gedächtnis und bei sprachlichen Leistungen scheinen demgegenüber variabel. Die derzeit vorliegenden Vergleichsstudien zeigen darüber hinaus kaum zuverlässig replizierbare Unterschiede zwischen Patienten mit FTD und DAT bei exekutiven, mnestischen, visuell-räumlichen oder sprachlichen Leistungen. Am ehesten haben noch relative Unterschiede beider Gruppen in mnestischen und exekutiven Funktionen differenzialdiagnostische Relevanz, zumindest in frühen Stadien dieser beiden Demenzformen. Leistungsunterschiede bei FTD-Patienten Inner-
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halb der Patientengruppe mit FTD zeigen sich in gewissem Umfang die zu erwartenden modalitätsspezifischen kognitiven Leistungsunterschiede je nachdem, welche Hemisphäre stärker von der Atrophie betroffen ist. Bei linksseitiger Akzentuierung sind Benennen und Lesegeschwindigkeit stärker beeinträchtigt, deutlichere Defizite im WCST finden sich bei rechtsseitiger Akzentuierung (Bonne et al. 1999). Keine lateralitätsspezifischen Effekte waren jedoch in der psychomotorischen Geschwindigkeit, in visuoperzeptiven, visuokonstruktiven oder mnestischen Leistungen nachweisbar. Die inkonsistenten Befunde in der Literatur und der eingeschränkte Nutzen gängiger psychometrischer Leistungstests bei der Diagnose und Differenzialdiagnose der FTD sind einerseits vermutlich Folge krankheitstypischer Gegebenheiten (Heterogenität des neuropathologischen und klinischen Bildes, fließende symptomatische Übergänge zu anderen neurodegenerativen Demenzformen), andererseits gibt es dafür aber auch methodische Gründe (Jenner u. Benke 2002): 4 Die FTD-typischen Verhaltensstörungen wirken sich störend auch in der neuropsychologischen Untersuchungssituation aus, vermindern die Reliabilität und Validität der Ergebnisse und führen zu unvollständigen Daten. 4 In den meisten Studien fehlt eine histopathologische Bestätigung der Diagnose.
4 Die statistische Power vieler Studien ist mit Stichprobengrößen von nur 8–15 Probanden unzureichend. 4 Die gängigen psychometrischen Testverfahren für exekutive Funktionen sind im Hinblick auf die gerade bei FTD-Patienten häufig vorkommenden Verhaltensauffälligkeiten (Impulsivität, Stereotypien, Ablenkbarkeit) möglicherweise nicht sensitiv genug bzw. diese Merkmale gehen lediglich als unsystematische Störeffekte in die Messungen mit ein. Einschätzungen des globalen Demenzschweregrades differieren häufig innerhalb einer Stichprobe stark; der MMST ist für diesen Zweck ungeeignet, weil auch bereits institutionalisierte Patienten in diesem Instrument normale (!) Punktwerte erreichen können (Gregory u. Hodges 1996). Gegenwärtig muss im Hinblick auf die klinische Praxis und im Unterschied zu den Verhältnissen bei der AD die relativ größere Bedeutung bildgebender Verfahren und einer besonders sorgfältigen psychopathologischen (Fremd-)Anamnese für die Diagnose betont werden. Die neuropsychologische Untersuchung bleibt aber unverzichtbar, um die Diagnose zu erhärten, ggf. Anhaltspunkte für eine Abgrenzung zwischen den drei Subtypen frontotemporal lobärer Degenerationen (FTD, SD und PPA) zu gewinnen und den Verlauf kognitiver Veränderungen quantitativ zu dokumentieren. Pasquier et al. (1999) fanden bei FTD-Patienten über 24 Monate eine deutliche Progression exekutiver, sprachlicher und mnestischer Funktionen, letztere betrafen v. a. das verbale episodische Gedächtnis und das Arbeitsgedächtnis. Ein MMST-Wert von 18 erwies sich als zuverlässiger Indikator dafür, dass nach maximal 6 weiteren Monaten eine standardisierte neuropsychologische Testung nicht mehr möglich sein würde.
18.5
Differenzialdiagnostische Probleme
18.5.1
Früherkennung
Wie oben dargestellt, durchlaufen der M. Alzheimer und andere neurodegenerative Erkrankungen sehr wahrscheinlich eine oft viele Jahre dauernde, stum-
369 18.5 · Differenzialdiagnostische Probleme
me präklinische Phase, während der sich im Gehirn komplexe pathophysiologische Veränderungen vollziehen, ohne dass bereits Symptome einer kognitiven Leistungsbeeinträchtigung zutage treten. Zwischen dem Zeitpunkt, zu dem erste Anzeichen eines kognitiven Defizits den Betroffenen selbst oder ihrer Umwelt bewusst werden, und dem objektiven Nachweis von Beeinträchtigungen, die sich negativ auf Alltag und Lebensführung auswirken und damit definitionsgemäß die klinische Verdachtsdiagnose einer Demenz rechtfertigen, können oft wiederum Monate oder gar Jahre vergehen. Nach übereinstimmender Expertenmeinung sollte aber die Behandlung einer demenziellen Erkrankung möglichst frühzeitig beginnen, um das Potenzial pharmakologischer Behandlungsansätze nutzen zu können, den Eintritt in das eigentliche Demenzstadium hinauszuschieben bzw. die Progredienz der Symptome abzumildern. Damit gewinnen das Beschwerdebild der leichten kognitiven Störung (LKS) sowie das Phänomen der subjektiven Gedächtnisstörung als potenzielle Prädemenzsyndrome zunehmend an klinischer Bedeutung. Fallkontrollstudien und Querschnittserhebungen bei ausgewählten Stichproben zeigen mehrheitlich, dass subjektive Gedächtnisstörungen keinen Zusammenhang mit objektiv gemessener kognitiver Leistung haben, was im Widerspruch zu den Ergebnissen der meisten Feldstudien an großen repräsentativen Bevölkerungsstichproben steht (RiedelHeller et al. 2000). Auch die längsschnittlich untersuchte Vorhersagevalidität subjektiver Gedächtnisstörungen für künftige kognitive Beeinträchtigungen wird für ausgewählte Stichproben überwiegend verneint, für repräsentative Bevölkerungsstichproben fast durchgängig bejaht. Die Ergebnisse erscheinen weniger kontrovers, wenn man die erklärten Varianzanteile betrachtet: Sie sind meist so gering, dass subjektive Gedächtnisstörungen weder gute Prädiktoren für tatsächliche kognitive Leistungsbeeinträchtigungen noch deutliche klinische Zeichen für beginnende demenzielle Erkrankungen sind. Vielmehr sind sie oft Teil depressiver oder anderer psychischer Störungen oder neurologischer Erkrankungen. Im Einzelfall ist es dennoch nicht angebracht, über derartige, von den Betroffenen zuweilen nachhaltig vorgetragenen Beschwerden hinwegzugehen, selbst wenn sich bei eingehender Untersuchung
18
keine unterhalb der Altersnorm liegenden Gedächtnisleistungen und auch keine anderen kognitiven Beeinträchtigungen finden lassen. Bei Menschen mit sehr hoher intellektueller Leistungsfähigkeit und entsprechend anspruchsvollen beruflichen Tätigkeiten oder Lebensgewohnheiten kann trotz eines testpsychologisch unauffälligen, ja sogar überdurchschnittlichen Befundes sehr wohl eine relative Leistungsminderung eingetreten sein, die subjektiv zutreffend bemerkt wird und einen beginnenden Abbauprozesses markiert (oder aber andere Gründe hat). Bei anhaltenden Klagen ist daher durchaus eine neuropsychologische Verlaufsuntersuchung angebracht. Die prognostische Bedeutung der LKS ist unklar, da die Forschung hierzu von zahlreichen Definitionsversuchen (»mild cognitive impairment«, »age-associated memory impairment«, »late-life forgetfulness«, »dysmentia« etc.) geprägt ist und dementsprechend uneinheitliche Ergebnisse vorliegen (mit den 2001 veröffentlichten Konsensuskriterien der American Academy of Neurology für »Mild Cognitive Impairment«, MCI, zeichnen sich erstmals international akzeptierte Diagnosekriterien ab; vgl. Lautenschlager 2002). Schätzungen der Konvertierungsrate von einer LKS zu einer AD liegen zwischen »annähernd 50%« (Collie u. Maruff 2000) und »1–30% pro Jahr, mit einem Mittelwert von 15%« (Lautenschlager 2002). Neben unterschiedlichen Definitionskriterien tragen zu dieser Spannweite sicherlich auch verschiedene Rekrutierungsstrategien und Untersuchungsinstrumente bei. Darüber hinaus bilden Patienten mit LKS sehr wahrscheinlich eine heterogene Gruppe, die auch Personen mit statischen kognitiven Defiziten (z. B. infolge minimaler Infarkte) sowie solche umfasst, bei denen sich die Beeinträchtigungen mit zunehmendem Alter sogar wieder zurückbilden. Wie Collie und Maruff (2000) in einer Übersichtsarbeit zur Neuropsychologie der LKS und präklinischer Stadien des M. Alzheimer betonen, zeigen fast alle Untersuchungen, in denen Probanden bis in das Stadium einer wahrscheinlichen AD begleitet wurden, dass Defizite in verbalen Lern- und Gedächtnisaufgaben fast immer vor Störungen des visuellen Gedächtnisses auftreten, und dass beide Arten von Gedächtnisstörungen erst später von globaleren kognitiven Beeinträchtigungen gefolgt
370
Kapitel 18 · Neuropsychologie der Demenz
werden, wie sie sich etwa in einem reduzierten MMST-Wert ausdrücken. Viele Studien berichten während früher Krankheitsphasen auch von Störungen des semantischen Gedächtnisses, einschließlich verbaler Flüssigkeit und Nominationsleistungen. Interessanterweise scheint der negative Vorhersagewert neuropsychologischer Tests zur Früherkennung der AD konsistent höher (ca. 90%) als der positive Vorhersagewert (ca. 45–60%). Dies würde bedeuten, dass Gedächtnisleistungen bessere Indikatoren dafür sind, wer nicht dement werden wird.
18.5.2
18
Verschiedene Demenzformen
Aus den Abschn. 18.4.1.–3 (AD bis FTD) ergeben sich bereits zahlreiche Anhaltspunkte für die neuropsychologische Differenzialdiagnose verschiedener Demenzformen. Es sei hier nochmals darauf hingewiesen, dass ein differenzialdiagnostischer Beitrag der Neuropsychologie nur für gering- bis mittelgradige Demenzstadien erwartet werden kann. Neurodegenerative Veränderungen erfassen mit der Zeit immer größere Teile des Gehirnes und verursachen dadurch ein immer uniformeres klinisches Zustandsbild bis hin zu schwersten Beeinträchtigungen praktisch aller geistiger Funktionen. In diesen Stadien ist dann die neuropsychologische Leistungsdiagnostik (im Gegensatz zu Fremdeinschätzungen des Erlebens und Verhaltens) obsolet und meist auch gar nicht mehr durchführbar. Zu Beginn einer demenziellen Entwicklung kann jedoch eine eingehende neuropsychologische Untersuchung die Differenzialdiagnose wesentlich unterstützen, wobei allerdings berücksichtigt werden muss, dass in der Praxis untypische Demenzformen, Mischformen und Komorbiditäten eher die Regel als die Ausnahme sind und erhebliche interindividuelle Merkmalsvariationen selbst bei identischen Erkrankungen vorkommen. Checklisten zu typischen neuropsychologischen Befundprofilen verschiedener Demenzformen (. Tab. 18.7) haben daher v. a. heuristischen Nutzen.
18.5.3
Demenz vs. Depression
Unter den Differenzialdiagnosen einer Demenz führt das ICD-10 an erster Stelle die Möglichkeit einer depressiven Störung an, die »Merkmale einer frühen Demenz zeigen [kann], besonders Gedächtnisstörung, Verlangsamung des Denkens und Mangel an Spontaneität« (Dilling et al. 1993, S. 61). Neuropsychologische Defizite sind in der Tat v. a. bei älteren Patienten mit einer manifesten depressiven Störung häufig, allerdings schwanken Prävalenzangaben zwischen 20–70% (Beblo 2002; vgl. 7 Kap. 11 »Neuropsychologie affektiver Störungen« von Beblo, in diesem Band). Die Beeinträchtigungen sind teilweise so schwerwiegend, das sie zusammenfassend als Demenzsyndrom der Depression (früher: depressive Pseudodemenz) bezeichnet werden. Betroffen sind insbesondere Lernen und Gedächtnis, exekutive Funktionen und Aufmerksamkeit (Beblo u. Herrmann 2000; Veiel 1997). Wesentliche Unterschiede zwischen diagnostischen Subgruppen (z. B. depressive Episode, bipolare affektive Störung, Dysthymie) scheinen nicht zu bestehen. Ebenso wenig besteht eine einfache Beziehung zwischen dem Schweregrad einer depressiven Erkrankung bzw. dem Grad der Remission affektiver Symptome und dem Ausmaß neuropsychologischer Beeinträchtigungen. In ihrer Übersicht weisen Beblo und Herrmann (2000) darauf hin, dass affektive und kognitive Symptome depressiver Patienten im zeitlichen Verlauf dissoziieren können. Als mögliche Ursachen für residuale neuropsychologische Defizite nach Abklingen der affektiven Symptomatik werden neben einer persistierenden subklinischen Depression auch irreversible neuronale Veränderungen diskutiert (z. B. depressionsbedingte hippokampale Schädigung aufgrund einer Überflutung durch Glukokortikoide; Jorm 2000). Die differenzialdiagnostischen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung demenzieller von depressiven Störungen werden besonders deutlich, wenn man sich die folgenden, theoretisch möglichen Zusammenhänge zwischen affektiven Symptomen und kognitiven Defiziten vergegenwärtigt: 4 Kognitive Beeinträchtigungen infolge einer Schädigung des ZNS und/oder psychosozialer Belastungen führen zu einer depressiven Reaktion.
Neulernen erheblich erschwert; beeinträchtigtes episodisches Gedächtnis
Beeinträchtigt
Wenig beeinträchtigt
Wenig beeinträchtigt
AlzheimerDemenz
Vaskulär: »large vessel disease«
Vaskulär: »small vessel disease«
Frontotemporale Demenz
Gedächtnis
Zu Beginn wenig beeinträchtigt; manchmal Echolalie oder Mutismus
Wenig beeinträchtigt, Wortfindungsstörungen
Lokalisationsabhängig
Wortfindungsstörungen semantischlexikalische Beeinträchtigungen; auch Aphasien
Sprache
Lokalisationsabhängig
Beeinträchtigt
Ausgeprägt beeinträchtigt
Beeinträchtigt
Beeinträchtigt
Beeinträchtigt
Exekutive Funktionen
Beeinträchtigt
Basale Leistungen ungestört, geteilte Aufmerksamkeit beeinträchtigt
Aufmerksamkeit
Selten
Wenig beeinträchtigt
Lokalisationsabhängig
Räumlich-örtlich
Orientierungsstörungen
Häufig, ebenso Verhaltensstörungen
Eher häufig
Selten
Gelegentlich
Affektive Symptome
Langsam, progressive Verschlechterung
Rascher Beginn, oft fluktuierender Verlauf
Rascher Beginn, oft fluktuierender Verlauf
Langsam, progressive Verschlechterung
Beginn und Verlauf
. Tab. 18.7. Neuropsychologische Charakteristika verschiedener demenzieller Erkrankungen, an denen sich differenzialdiagnostische Überlegungen orientieren können. (Mod. nach Kessler u. Kalbe 2000)
18.5 · Differenzialdiagnostische Probleme
371
18
372
Kapitel 18 · Neuropsychologie der Demenz
4 Die an einer depressiven Störung beteiligten pathophysiologischen Veränderungen und/oder die Art der Depressionsbehandlung (anticholinerg wirksame Psychopharmaka, EKT) verursachen kognitive Beeinträchtigungen, die voll oder nur partiell reversibel sind oder in ein Residualsyndrom münden. 4 Eine depressive Störung und kognitive Beeinträchtigungen liegen aufgrund eines 3. Faktors gemeinsam vor (z. B. Schlaganfall, M. Parkinson, Hypothyreose). 4 Es besteht eine zufällige Koinzidenz von depressiver Störung und kognitiver Beeinträchtigung mit voneinander unabhängigen Ursachen (Komorbidität). Die affektiven und kognitiven Symptome treten aber in Wechselwirkung und verstärken einander. Differenzialdiagnostische Probleme In der Praxis
stellt sich insbesondere das Problem der Unterscheidung zwischen Depression und AD mit substanziellen Konsequenzen für den einzuschlagenden therapeutischen Weg. Erste Anhaltspunkte für diese Unterscheidung lassen sich bereits klinisch gewinnen: 4 Familienanamnese (familiäre Belastung), 4 Krankenvorgeschichte (kritische Lebensereignisse), 4 zeitlicher Verlauf der kognitiven Symptome (relativ plötzlicher Beginn mit schneller Verschlechterung vs. schleichend mit langsamer Progredienz), 4 Tagesschwankungen von Leistung und Befindlichkeit (geringe Schwankungen, Leistungstief am Abend vs. ausgeprägte Schwankungen, Stimmungstief am Morgen) und 4 Alltagskompetenz (eingeschränkt vs. erhalten).
18
Nicht zuletzt kann die Selbstbeurteilung der Patienten Hinweise geben (eher Unterschätzung oder Leugnen kognitiver Defizite vs. Überschätzung mit Beklagen). Im Hinblick auf die differenzialdiagnostische Aussagekraft neuropsychologischer Befunde ist eine umfangreiche Metaanalyse von Christensen et al. (1997) aufschlussreich. Die Autorinnen identifi f zierten insgesamt 154 bis zum Jahre 1993 in englischer Sprache publizierte Untersuchungen, die depressive
Patienten mit Gesunden und/oder mit AD-Patienten a verglichen. Dabei verwendeten sie adäquate psychometrische Tests oder experimentelle Aufgaben sowie möglichst explizite formale Diagnosekriterien zur Gruppeneinteilung, dokumentierten den Schweregrad der Depression mittels Rating-Skalen und enthielten ausreichende Informationen für die Berechnung von Effektstärken (Cohens d). Da ältere, vor 1950 publizierte, Studien generell höhere Effektstärken ergaben, wurden diese nachträglich ausgeschlossen und so die Zahl der berechneten Effekte von insgesamt 1099 auf 1046 reduziert. In den verbliebenen Studien untersuchten dementen Patienten befanden sich 80% in einem frühen, die restlichen Patienten in einem leichten bis mittelgradigen Demenzstadium. Die Ergebnisse dieser Metaanalyse und neuerer Einzelstudien zusammenfassend ist festzuhalten, dass mindestens 3 kognitive Funktionsbereiche von differenzialdiagnostischer Relevanz sind (vgl. dazu ausführlicher Theml et al. 2001): 1. das deklarative, insbesondere episodische Gedächtnis, 2. die Visuokonstruktion und 3. die Sprachsemantik. Die Identifikation gerade dieser 3 Bereiche folgt dabei der Logik, besonders solche Testverfahren anzuwenden, in denen Depressive im Vergleich zu Gesunden im Mittel allenfalls leicht bis mittelgradig, Alzheimer-Patienten hingegen im Vergleich zu Depressiven starkk beeinträchtigt sind. Dieses doppelte Abgrenzungskriterium erfüllen derzeit am ehesten Maße der o. g. Funktionsbereiche, nicht aber z. B. exekutive und motorische Funktionen. Leistung als Parameter Wichtig ist dabei auch eine
möglichst detaillierte Betrachtung verschiedener Leistungsaspekte. Beispielsweise zeigen Patienten mit beginnender AD im unmittelbaren Abruf einer zuvor präsentierten Wortliste einen gegenüber dem Primacy-Effekt deutlich stärker ausgeprägten Recency-Effekt (d. h. die Betroffenen erinnern die zuletzt genannten Worte sehr viel besser als die zuerst genannten), während dies bei Depressiven eher umgekehrt ist. Gainotti und Marra (1994) zufolge produzieren AD-Patienten im Vergleich zu Depressiven weiterhin im verzögerten Abruf sehr viel mehr
373 18.6 · Neuropsychologische Intervention
Intrusionen, und beim Wiedererkennen neigen sie zu vielen falschpositiven Antworten. Die differenzialdiagnostische Eignung derartiger Kennwerte ließ sich sogar ex-post-facto in nicht alters- und geschlechtsgematchten, konsekutiven klinischen Inanspruchnahmepopulationen bestätigen, woraus sich für die Praxis konkrete Empfehlungen hinsichtlich bestimmter Tests und psychometrischer Kennwerte ableiten lassen (Theml et al. 2001). Ein Beispiel dafür, wie sich mit wenig Aufwand der differenzialdiagnostische Nutzen eines Tests durch geschickte Variation beträchtlich steigern lässt, liefern Dudley et al. (2002; s. folgende Studienbox).
18.6
Neuropsychologische Intervention
Neben der Gabe von Antidementiva wie Azetylcholinesterasehemmer, Glutamatantagonisten oder das Phytopharmakon Ginkgo biloba sowie von Neuroleptika und anderen Psychopharmaka zur Behandlung psychopathologischer Symptome (Ibach 2002) sind psychologische und soziotherapeutische Maßnahmen unverzichtbarer Bestandteil der Betreuung demenzkranker Patienten. Bereits seit längerem gebräuchliche nichtpharmakologische Behandlungsmaßnahmen sind u. a. klassische verhaltenstherapeutische Techniken (operantes Lernen), Validation, Realitätsorientierungstraining (ROT) und Milieutherapie (Übersichten bei Baier u. Romero 2001; Gutzmann 1996). Daneben wurden in den letzten Jahren umfassendere, multimodale Interventionsprogramme entwickelt, die z. B. verhaltenstherapeutische Kompetenztrainings oder paartherapeutische, psychoedukative Gruppenarbeit beinhalten (Ehrhardt et al. 1998; Haupt et al. 2000). Von diesen neueren Ansätzen wird im Folgenden beispielhaft die originär neuropsychologisch fundierte Selbst-Erhaltungs-Therapie (SET) skizziert. Zuvor wird aber der Stellenwert des für die Demenzbehandlung vielleicht naheliegendsten neuropsychologischen Interventionsversuches erörtert, des systematischen Trainings kognitiver, insbesondere mnestischer Funktionen.
18.6.1
18
Kognitive Trainingsprogramme
Trainingsprogramme zur Optimierung des Gedächtnisses älterer Menschen sind seit Jahrzehnten Gegenstand der entwicklungspsychologischen und psychogerontologischen Forschung (aktuelle Übersicht bei Knopf 2001). Hierfür gibt es theoretische und praktische Gründe: Einerseits haben sich viele Funktionskomponenten des Gedächtnisses als alterssensibel erwiesen, was für Gedächtnistheorien von Interesse ist, andererseits bemerken ältere Menschen ihre abnehmende Leistungsfähigkeit und erhoffen sich Hilfe. Befunde der Grundlagenforschung belegen 5 wichtige Veränderungen des Gedächtnisses im Alter: 1. Alterseinbußen sind bei expliziten Gedächtnisleistungen sehr viel häufiger und gravierender als bei impliziten Gedächtnisleistungen. 2. Die Einbußen sind wesentlich (wenn auch nicht vollständig) determiniert durch die generelle Verlangsamung der zentralnervösen Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit (wird diese statistisch kontrolliert, verringern sich Altersdifferenzen in unterschiedlichen Gedächtnisaufgaben um teilweise bis zu 80%). 3. Alternseffekte sind deutlicher in Gedächtnisaufgaben, bei denen während des Enkodierens oder Abrufens viele eigeninitiierte kognitive Operationen notwendig sind. Entsprechend sind ältere Personen Jüngeren in freien Erinnerungsaufgaben deutlicher als in Wiedererkennensaufgaben unterlegen. 4. Alterskorrelierte Gedächtnisdifferenzen fallen umso deutlicher aus, je wissensferner das neu zu erlernende Material ist. 5. Viele ältere Menschen schätzen Ausmaß und Umfang der von ihnen subjektiv erlebten Veränderungen des Gedächtnisses im Vergleich zu den objektiv messbaren Veränderungen zu pessimistisch ein. Werden spezifische Gedächtnisfunktionen intensiv über längere Zeit trainiert, so können ältere Menschen nicht nur lern- und gedächtnisdienliche Strategien neu erwerben, sondern damit Leistungen erbringen, die weit oberhalb des Niveaus untrainierter junger Erwachsener liegen (Testing-the-
374
Kapitel 18 · Neuropsychologie der Demenz
Studienbox
»Distinguishing depression from dementia in later life: a pilot study employing the Emotional Stroop Task« von Dudley et al. (2002) Dudley et al. (2002) sehen die Schwierigkeit, anhand neuropsychologischer Leistungstests eindeutig zwischen älteren depressiven und dementen Patienten zu unterscheiden, v. a. darin begründet, dass zu sehr darauf geachtet werde, »what both groups do badly rather than what the groups do differently«. S. 49). Sie schlagen vor, den kognitiven Bias depressiver Patienten zur intensiveren Beschäftigung mit negativen Gedankeninhalten für die Leistungsdiagnostik nutzbar zu machen. Dazu bedienen sie sich des »Emotional Stroop Task« als einer speziellen Variante des Farbe-Wort-Interferenztests. In dieser speziellen Variante hatten die Probanden möglichst schnell die Schriftfarbe (Rot, Blau, Gelb, Grün oder Braun) von Worten zu benennen, die drei verschiedene emotionale Valenzen hatten: 4 neutral (z. B. Routine, Tendenz), 4 positiv (z. B. Freude, Jubilar) oder 4 negativ (z. B. Qual, Verlust; auf eine zusätzliche Kontrollbedingung mit bedeutungslosen ‚X‘-Zeichenketten in der gleichen Länge wie die verwendeten Wörter wird hier nicht weiter eingegangen.
18
Jede dieser drei experimentellen Bedingungen wurde mit je zwei Stimuluskarten realisiert, auf denen je 50 Wörter in 10 Spalten à 5 Wörter angeordnet waren. In jeder Spalte erschien jede Farbe einmal in zufälliger Reihenfolge. Abhängiges Leistungsmaß war die mit einer Stoppuhr genommene Zeit, die ein Proband für das möglichst schnelle Benennen der Schriftfarben unter den drei Bedingungen benötigte. . Abb. 18.2 verdeutlicht die Ergebnisse bei je 12 hinsichtlich Alter, Geschlecht und prämorbide Leseflüssigkeit parallelisierten Patienten mit unipolarer Depression (DSM-IV), Patienten mit wahrscheinlicher AD (NINCDS-ADRDA Kriterien) und gesunden Kontrollprobanden. Konform mit ihren Ausgangshypothesen fanden die Autoren zunächst die erwartete generelle Reaktionszeitverlangsamung beider klinischer Gruppen
im Vergleich zur Kontrollgruppe (. Abb. 18.2a). Wurden aber von den Reaktionszeiten auf negative bzw. positive Worte jeweils diejenigen auf neutrale Wörter abgezogen (wodurch jeder Untersuchungsteilnehmer als seine eigene Kontrolle fungierte und generelle Reaktionszeitunterschiede unberücksichtigt blieben), dann zeigten nur die Depressiven eine ausgeprägte relative Retardierung speziell auf die negativ getönten Wörter (. Abb. 18.2b). Dieses Ergebnis ist umso bemerkenswerter, als auch die Patienten mit AD signifikant mehr depressive Symptome aufwiesen als die Gesunden.
. Abb. 18.2. Gruppenmittelwerte und Standardabweichungen der Bearbeitungszeiten für den emotionalen Stroop-Test bei Gesunden und Patienten mit Depression bzw. Alzheimer-Demenz. a Bearbeitungszeiten für Wörter mit neutraler, positiver und negativer Valenz. b Bearbeitungszeitdifferenzen positiv minus neutral bzw. negativ minus neutral. Nur die depressiven Patienten zeigen eine signifikante Retardierung speziell bei Wörtern mit negativer, depressionsbezogener Valenz (eigene Abbildung). ANOVA »Analysis of Variance« (Daten aus Dudley et al. 2002, S. 51 f.)
375 18.6 · Neuropsychologische Intervention
limits-Ansatz; vgl. Kliegl u. Baltes 1991). Die neuronale Plastizität des alternden Gehirnes und damit die kognitive Reservekapazität alter Menschen ist also wesentlich größer als bisher angenommen.
4
Optimierung expliziter Gedächtnisleistungen
Die meisten Untersuchungen zur Förderung des Gedächtnisses im Alter verfolgen jedoch nicht das Ziel, die Reservekapazität älterer Menschen auszuloten, sondern streben eine Optimierung expliziter Gedächtnisleistungen an. Hierbei werden meist bestimmte Lerntechniken und Gedächtnisstrategien vermittelt und trainiert (z. B. visuelles Vorstellen, verbale Elaboration, Kategorisierung, »Chunking« und »Linking«, Methode der Orte, Assoziationsund Stichworttechniken). Eine Metaanalyse von 31 Veröffentlichungen (33 Studien) an insgesamt 1.539 gesunden Probanden über 60 Jahre belegt, dass auch diese weniger intensiven Trainingsprogramme deutliche Prä-Post-Effekte zeigen (mittlere Effektstärke: Cohens d=0,73), verglichen mit Kontrollbedingungen (d=0,38) und Placebo (d=0,37; Verhaeghen et al. 1992). Trainingsansätze, die für die Verbesserung des Gedächtnisses älterer, nichtdementer Menschen erfolgreich verwendet werden, sind jedoch nicht einfach auf demente Patienten übertragbar, da die damit verbundenen Techniken auf basalen kognitiven Operationen aufbauen, die bei diesen Patienten meist schon beeinträchtigt sind (Gutzmann 1996). Um für demente Patienten kognitive Trainingsprogramme gewinnbringend einsetzen zu können, müssen folgende Aspekte berücksichtigt werden (vgl. auch Unkenstein 2000): 4 Sowohl Prozesse der Informationseinspeicherung (»encoding«) als auch solche des Informationsabrufes (»retrieval«) müssen gezielt und stärker als bei gesunden Alten unterstützt werden (z. B. durch begleitende motorische Akte). 4 Tempo und Intensität des Trainings, auch einzelner Aufgaben, müssen sich an den individuellen Möglichkeiten und Restkapazitäten der Patienten orientieren. 4 Das Training muss auf jeden Fall stressfrei gestaltet werden, aber regelmäßig, konsequent und über längere Zeiträume stattfinden. 4 Die verwendeten Strategien und Aufgaben müssen zu jedem Zeitpunkt v. a. auf Fähigkeiten auff
4
4
4
18
bauen, die noch relativ intakt sind (implizites, prozedurales Gedächtis, biografische Bereiche des Altgedächtnisses, motorische Fertigkeiten). Eigeninitiierte kognitive Operationen dürfen nicht zu sehr betont werden, u. U. sind Aufgaben so umzustrukturieren, dass sie eher durch Wiedererkennen als durch Wiedererinnern gelöst werden können. Mit fortschreitendem Krankheitsprozess muss eine allmähliche Verlagerung von internen Strategien zu extern angebotenen Hilfen stattfinden. Die Patienten müssen als Person involviert werden, indem Aufgaben situativ bedeutsam sind oder geschickt mit Aspekten der eigenen Biografie verknüpft werden. Material und »Setting« der Interventionen sollten so gestaltet sein, dass Motivation und Aktivierung gefördert werden, wozu insbesondere Gelegenheiten zu sozialer Interaktion und Erfolgserleben gehören. Pflegende und Angehörige sind während geeigneter Phasen nach Möglichkeit so einzubeziehen, dass Aufgaben kooperativ gelöst werden und damit der Sinn und die Akzeptanz der Patienten für soziale Unterstützung gestärkt wird.
Über eine weitere Studie zum positiven Einfluss eines alltagsbezogenen kognitiven Trainings auf die Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistung von Personen mit demenzieller Symptomatik berichteten kürzlich Bernhardt et al. (2002). Trainingsprogramme, die also einige oder mehrere der o. g. Prinzipien realisieren, sind erfolgreicher als das mehr oder weniger mechanische Üben einzelner Gedächtnisfunktionen (Übersichten bei KaslGodley u. Gatz 2000; Warheid u. Thöne-Otto 2006). Zusammenfassung Es ist festzuhalten, dass neu-
ropsychologische Programme zum Training der kognitiven, insbesondere mnestischen Leistungsfähigkeit dementer Patienten heute stärker als früher die Erkenntnisse der kognitiven Grundlagenforschung berücksichtigen und als multimodale Ansätze nicht mehr nur ein mechanisches Üben einzelner kognitiver Leistungskomponenten an wenig motivierenden Materialien beeinhalten. Richtig gestaltet und angewandt, haben kognitive Trainingsprogramme in ihrer Mehrzahl ähnlich wie psycho-
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Kapitel 18 · Neuropsychologie der Demenz
Studienbox
Studie Beispielsweise verglichen Farina et al. (2002) in einer Pilotstudie an 2×11 Patienten mit geringbis mittelgradiger AD ein Training des prozeduralen Gedächtnisses anhand verschiedener Aktivitäten des täglichen Lebens mit einem jeweils materialspezifischen Training teilweise erhaltener kognitiver Leistungen (Aufmerksamkeit, Kurzzeitgedächtnis, Sprachverständnis, Visuokonstruktion). Beide Gruppen zeigten unmittelbar im Anschluss an das 5-wöchige, individuelle Training eine substanzielle Verbesserung in einem Leis-
pharmakologische Interventionen messbare und statistisch signifikante positive Effekte. Ihr Nutzen bleibt aber ebenso begrenzt. Er besteht selbst im günstigsten Falle mehr in einer Stabilisierung als in einer Verbesserung von kognitiver Leistungsfähigkeit und Alltagstüchtigkeit. Abgesehen von diesem retardierenden Moment besteht ein nicht zu unterschätzender Effekt neuropsychologischer Trainingsprogramme in den positiven Auswirkungen auf Stimmung, Selbstwertgefühl und Lebenszufriedenheit nicht nur der Patienten, sondern oft auch der pflegenden Angehörigen.
18.6.2
18
Selbst-Erhaltungs-Therapie
Die von der Neuropsychologin Romero entwickelte Selbst-Erhaltungs-Therapie (SET) gründet auf der Überlegung, dass die zentralen Ziele der Demenzbehandlung (die Eigenständigkeit der Patienten so lange wie möglich zu erhalten, das Leid der Betroffenen zu vermindern, Pflege zu erleichtern) am besten über psychologisch fundierte Hilfsmaßnahmen zum Erhalt des personalen Selbst zu erreichen sind. Das Selbst wird dabei – entsprechend gegenwärtiger Konzepte der sozialkognitiven Psychologie – als zentrales kognitives Schema verstanden, das auf aktive Weise das Wissen über die eigene Person aufnimmt und verarbeitet, dadurch Erfahrungen strukturiert sowie Orientierung, Planung und lebensgeschichtliche Kontinuität ermöglicht. Die SET wurde ursprünglich speziell für die Alzhei-
tungstest für Aktivitäten des täglichen Lebens. Signifikante Verbesserungen in neuropsychologischen Tests zur selektiven Aufmerksamkeit und Wortflüssigkeit waren überraschenderweise nur in der Gruppe zu finden, in der diese Leistungen gar nicht direkt trainiert worden waren – was die oben angesprochene Bedeutung impliziter (prozeduraler) Gedächtnisleistungen für das kognitive Training dementer Patienten unterstreicht. Eine Nachuntersuchung der Patienten nach 3 Monaten zeigte freilich in beiden Gruppen eine deutliche Tendenz zurück zum Ausgangsniveau.
mer-Krankheit entwickelt, ist aber grundsätzlich auf alle progredienten demenziellen Erkrankungen anwendbar, die Störungen des Selbst auf folgende Weise verursachen: 4 Die Krankheit führt zu entscheidenden Veränderungen im Leben und im Selbstverständnis und verletzt damit die personale Kontinuität. 4 Als sekundäre Folge können Lebensbedingungen so sehr verarmen, dass das Identitätsgefühl bedroht wird. 4 Kognitive, v. a. mnestische Störungen beeinträchtigen neben dem Weltwissen auch das Selbstwissen. 4 Durch die Erkrankung verändern sich auch außerkognitive Aspekte des Selbst, wie das emotionale Erleben, soziale Gefühle und Haltungen. 4 Die Einbußen beeinträchtigen die Fähigkeit, mit belastenden Ereignissen und den Folgen der Erkrankung umzugehen. Als Vorgehensweisen, die zur Stabilisierung des Selbst beizutragen vermögen, werden genannt: 4 Bestätigende Kommunikationsformen: Selbstund Weltsicht der Kranken, so wie sie zu jedem Zeitpunkt erlebt werden, werden anerkannt und nicht unnötig in Frage gestellt, selbst wenn sie nicht mit der Realität übereinstimmen. 4 Geeignete Beschäftigungen und Hilfestellungen: Es werden individuell gestaltete Beschäfti-
gungsprogramme entwickelt, die die jeweils aktuellen Interessen und Möglichkeiten des Kranken berücksichtigen.
377 18.7 · Neuropsychologische Prävention
4 Erinnerungsarbeit: Diese besteht im Üben von biografischem und anderem selbstbezogenen Wissen. Dafür müssen Therapeuten zunächst erkennen, welche Elemente des selbstnahen Wissens für den jeweiligen Patienten zugänglich und erinnerungswert sind. Im Zuge dieser Selbst-Diagnose wird systematisch ein externes Gedächtnis für dieses Wissen aufgebaut (Tonbandmitschnitte, Videoaufnahmen, Fotoalben, denkbar sind sogar Multimedia-Computersysteme zum Bewahren, Organisieren, Abrufen), das sich dann für den Erhalt des selbstnahen Wissens nutzen lässt, indem es dessen kontinuierliche Vergegenwärtigung unterstützt. Eine ausführliche Darstellung der theoretischen Grundlagen und des praktischen Vorgehens der SET im Unterschied zu anderen Ansätzen zur Demenzbehandlung geben Romero u. Eder (1992) sowie Romero (1997b), instruktive Fallbeispiele finden sich in Romero (1997a,b). SET in der Praxis Die SET wird seit 1999 stationär im Rahmen eines multimodalen, 4-wöchigen Behandlungsprogramms für Demenzkranke und deren Angehörige am Alzheimer Therapiezentrum der Neurologischen Klinik Bad Aibling von einem interdisziplinären Team unter neuropsychologischer Leitung verwirklicht. Dieses Behandlungsprogramm umfasst 4 Maßnahmen der medizinischen Diagnostik und Therapie, 4 ein umfassendes Behandlungsprogramm für Patienten im Sinne der SET und 4 ein Psychoedukationsprogramm für Angehörige der Patienten.
Zu den Inhalten des Patientenprogramms gehören: 4 Erinnerungsarbeit (s. o.) 4 stützende psychotherapeutische Interventionen, 4 lebenspraktische Tätigkeiten, 4 erlebnisorientierte soziale Aktivitäten, 4 Körper- und Körperwahrnehmungsübungen, 4 Entspannungsübungen und 4 Kunsttherapie. Angehörige nehmen an Entspannungsübungen und Kunsttherapie wie auch an stützenden psychothera-
18
peutischen Gesprächen, sozialpädagogischen, pflegerischen und medizinischen Beratungen und psychoedukatien Angehörigengruppen teil. Über erste Ergebnisse zur empirischen Evaluation dieses inzwischen vielbeachteten Modellversuches an insgesamt 84 Patienten mit AD, gemischter Demenz (AD mit vaskulärer Beteiligung) oder FTD und ihren Angehörigen berichten Romero und Wenz (2001, 2002).
18.7 Neuropsychologische
Prävention Nach heutigem Wissensstand sind bestimmte Faktoren mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer senilen Demenz assoziiert. Dazu gehören (in Klammern Streubreiten des relativen Risikos für die AD aus Kohortenstudien nach Bickel 2002b): 4 der Genotyp für das ApoE-e4 (1,8–6,2), 4 geringe Schulbildung (1,2–2,6), 4 Schädel-Hirn-Traumen (0,8–5,4), 4 Rauchen (0,7–2,3), 4 systolische Hypertonie im mittleren Alter (1,1–4,8), 4 erhöhte Serumcholesterinspiegel (2,2–3,1), 4 Diabetes mellitus (1,3–2,2) sowie 4 familiäre Belastung (0,9–1,6). Schon ein kurzer Blick auf diese Liste verdeutlicht, dass künftige Präventionsversuche ganz unterschiedliche Maßnahmen beinhalten müssen. Psychologische Ansätze zur Prävention betreffen zum einen allgemeine, gleichwohl zentrale Aspekte der Lebensführung (u. a. körperliche und geistige Aktivitäten, Ernährungsgewohnheiten, Umgang mit Stress und Suchtmitteln, Gesundheitsverhalten, Motivation und Lebenszufriedenheit), zum anderen in speziell neuropsychologischer Perspektive die Frage, ob eine vorbeugende Stärkung kognitiver Fähigkeiten möglich ist. Einschränkend muss gesagt werden, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der SIMA-Studie – wie die Autoren selbst betonen – eine positive Auswahl selbstständiger, relativ gesunder und gut gebildeter Senioren darstellt, was erklären könnte, dass Altersanstieg und Prävalenzrate demenzieller Erkrankungen im Vergleich zu den bekannten epi-
378
Kapitel 18 · Neuropsychologie der Demenz
Studienbox
SIMA-Studie
18
Im deutschen Sprachraum haben hierzu Oswald et al. erste Anhaltspunkte gewonnen. An der 1991 begonnenen Längsschnittuntersuchung »Bedingungen der Erhaltung und Förderung von Selbstständigkeit im höheren Lebensalter« (SIMA-Studie) nahmen 375 selbstständig lebende Frauen und Männer teil, deren Alter bei Studienbeginn zwischen 75 und 93 Jahren lag. Die Teilnehmer wurden auf 5 Treatment-Gruppen und eine Kontrollbedingung (ohne Training) verteilt: Gedächtnis-, Psychomotorik- und Kompetenztraining sowie kombiniertes Psychomotorik-/ Gedächtnis- bzw. Psychomotorik-/Kompetenztraining. Jede Trainingsgruppe übte nach einem strukturierten Programm regelmäßig 1 Jahr lang, zusätzlich wurden häusliche Übungen empfohlen. Es wurde eine große Zahl kognitiver, verhaltensbezogener und psychopathologischer Merkmale sowohl unmittelbar vor und nach dem 1-jährigen Training, als auch in jährlichen Abständen nach Ende der Trainings bis 1996 erhoben (die psychometrischen Leistungstests für den kognitiven Bereich entstammten überwiegend dem Nürnberger Altersinventar, daneben auch dem Alterskonzentrationstest, dem Leistungsprüfsystem und dem HAWIE-R). Im Hinblick auf die hier interessierende Fragestellung lassen sich folgende Hauptergebnisse der SIMA-Studie festhalten (vgl. zusammenfassend Oswald et al. 2001a,b): 4 Der aus insgesamt 20 psychometrischen Leistungskennwerten aggregierte globale kognitive Status der Studienteilnehmer verbesserte sich gegenüber dem Ausgangsniveau hochsignifikant und im Vergleich zur Kontrollgruppe relativ anhaltend nur in den Gruppen mit Gedächtnistraining und kombiniertem Psychomotorik/Gedächtnistraining. 4 Gegenüber dem einfachen Gedächtnistraining zeigten sich im kombinierten Psychomotorik-/Gedächtnistraining über den gesamten Beobachtungszeitraum durchschnitt-
4
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lich um z=0,15 höhere kognitive Globalwerte; diese Trainingsbedingung war also von allen Treatment-Bedingungen die erfolgreichste. Transfereffekte auf nichtkognitive Bereiche wie allgemeiner Gesundheitszustand, Psychopathologie, Selbstständigkeit und Befindlichkeit traten überhaupt nur in der Gruppe mit dem kombinierten Gedächtnis-/Psychomotoriktraining auf. Die langfristig günstigen Effekte gerade dieses kombinierten Trainingsprogrammes zeigten sich insbesondere in den Funktionsbereichen Kreislauf/Gefäße und Bewegungsapparat sowie als reduzierte demenzielle und depressive Symptomatik. Bis 1998 erkrankten 46 SIMA-Teilnehmer an einer Demenz (davon 54,3% an einer DAT), das relative Demenzrisiko war in der untrainierten Kontrollgruppe im Vergleich zum kombinierten Gedächtnis-/Psychomotoriktraining um mehr als das 2,5-fache erhöht. Ein Strukturgleichungsmodell möglicher Risikofaktoren zeigte, dass die kognitive Leistung zu Beginn der Studie den größten direkten Einfluss auf die Demenzentwicklung hat, gefolgt von den Bereichen Befindlichkeit, Aktivität und Gesundheit sowie von fremdeingeschätzten Frühsymptomen.
Zusammenfassung Oswald et al. (2001b) werten diese Resultate als Beleg dafür, dass ein kombiniertes Training des Gedächtnisses und der Psychomotorik nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig am besten geeignet erscheint, den kognitiven und psychopathologischen Zustand älterer Menschen sowie mögliche Risikofaktoren der Demenzentwicklung nachhaltig positiv zu beeinflussen. Damit sind Wege zu einem wirksamen, nichtmedikamentösen Interventionsansatz aufgezeigt worden, der dazu beitragen könnte, die Entwicklung einer demenziellen Erkrankung hinauszuzögern.
379 18.8 · Literatur
demiologischen Daten eher niedrig ausfielen. Auch die relativ hohe Drop-out-Rate während der Studie schränkt die Generalisierbarkeit der Ergebnisse möglicherweise im Sinne eines »survival of the fittest« ein. Zweifellos besteht dringender Bedarf an
18
weiteren, insbesondere bevölkerungsrepräsentativ rekrutierten longitudinalen Interventionsstudien, die angesichts des dafür notwendigen enormen Aufwandes allerdings eine besondere Herausforderung für die Forschung darstellen.
Zusammenfassung Die differenzierte neuropsychologische Erfassung und Beschreibung mnestischer und anderer kognitiver Störungen leistet einen wertvollen Beitrag zur Früherkennung, Diagnose und Differenzialdiagnose demenzieller Erkrankungen. Auch die Behandlung der betroffenen Patienten sowie die Unterstützung ihrer Angehörigen können von den so gewonnenen Erkenntnissen profitieren; sei es 4 bei der Entwicklung spezieller kognitiver Trainingsprogramme oder umfassender neuropsychologisch-psychosozialer Interventionsmodelle (De Vreese et al. 2001; Romero 1997b), 4 beim psychologisch einfühlsamen Umgang mit den Erkrankten (Unkenstein 2000) oder 4 bei der Wahl möglichst sensitiver Tests für die phasenabhängige Evaluation pharmakologischer Behandlungsversuche (Simard u. van Reekum 1999). Zu beachten ist, dass die diagnostische und differenzialdiagnostische Wertigkeit neurospychologischer Befunde im Hinblick auf verschiedene Krankheitsentitäten und Verlaufstypen derzeit durchaus unterschiedlich bewertet werden muss.
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Die Entwicklung psychometrisch hochwertiger, auf die speziellen Probleme und Erfordernisse der Demenzdiagnostik zugeschnittener Testverfahren ist wünschenswert und sollte forciert werden. Auf jeden Fall sind neuropsychologische Befunde nur eine, wenn auch wichtige Facette des notwendigen diagnostischen Prozederes, das neben labormedizinischen, genetischen und neurodiagnostischen (bildgebenden) Methoden auch die traditionelle klinische Anamnese und psychopathologische Beschreibung nicht vernachlässigen darf. Die klinische Neuropsychologie versteht sich in diesem Sinne als Partner in einem interdisziplinären Austausch. Im Hinblick auf die derzeitige Entwicklung des Gesundheitswesens ist ihr und ihren Patienten allerdings auch zu wünschen, dass methodisch anspruchsvolle, wenn auch zugegebenermaßen zeitintensive Untersuchungsansätze nicht nach und nach von den immer zahlreicheren »Kurztests zur Diagnose von …« verdrängt werden. Diese können regelmäßig den durch sie erst erzeugten Erwartungen nicht genügen und dürften in der Hand neuropsychologisch und psychometrisch Unkundiger vermutlich mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften.
Beyreuther K, Einhäupl KM, Förstl H, Kurz A (Hrsg) (2002) Demenzen. Grundlagen und Klinik. Thieme, Stuttgart. Derzeit aktuellstes Lehrbuch zum Thema. Integriert epidemiologische, genetische, klinische und pathophysiologische Befunde zu einer gelungenen Gesamtschau. Berücksichtigt auch seltene Demenzformen. Bickel H (2001) Demenzen im höheren Lebensalter: Schätzungen des Vorkommens und der Versorgungskosten. Z Gerontol Geriatr 34: 108–115 Bickel H (2002a) Epidemiologie der Demenz. In: Beyreuther K, Einhäupl KM, Förstl H, Kurz A (Hrsg) Demenzen. Grundlagen und Klinik. Thieme, Stuttgart, S 15–41 Bickel H (2002b) Epidemiologie psychischer Störungen im Alter. In: Förstl H (Hrsg) Gerontopsychiatrie. 2. Aufl., Enke, Stuttgart, S 11–26 Bonne KB, Miller BL, Lee A, Berman N, Sherman D, Stuss DT (1999) Neuropsychological patterns in right versus left frontotemporal dementia. J Int Neuropsychol Soc 5: 616–622 Braak H, Braak E (2002) Neuroanatomie. In: Beyreuther K, Einhäupl KM, Förstl H, Kurz A (Hrsg) Demenzen. Grundlagen und Klinik. Thieme, Stuttgart, S 118–129
380
18
Kapitel 18 · Neuropsychologie der Demenz
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19 19 Neuropsychologie der BorderlinePersönlichkeitsstörung Thomas Beblo, Christoph Mensebach
19.1 Einführung in die Borderline-Persönlichkeitsstörung
– 384
19.2 Profil neuropsychologischer Defizite bei BPS – 385 19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.2.4 19.2.5 19.2.6 19.2.7
Gedächtnis – 385 Aufmerksamkeit – 385 Exekutivfunktionen – 385 Visuoräumliche Funktionen – 389 Emotionale Faktoren – 389 Leistungskonsistenz – 389 Zusammenfassende Gewichtung der Befunde
19.3 Neurobiologische Befunde 19.3.1 19.3.2 19.3.3 19.3.4 19.3.5
– 390
– 391
Strukturelle und spektroskopische Bildgebungsbefunde – 391 Funktionelle Bildgebungsbefunde – 392 Befunde zur Stresshormonachse – 394 Zusammenfassung der neurobiologischen Befunde – 395 Die Bedeutung komorbider Erkrankungen für das Verständnis neuropsychologischer Auffälligkeiten bei BPS – 395
19.4 Literatur
– 397
384
Kapitel 19 · Neuropsychologie der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Patientin DK wurde zum ersten Mal mit 9 Jahren von ihrem Vater vergewaltigt. Der sexuelle Missbrauch setzte sich über viele Jahre fort. Mit 11 Jahren wurde sie zusätzlich von ihrem Cousin sexuell missbraucht. Nach diesen Erfahrungen hatte sie nach eigenen Angaben das Vertrauen in fast alle Menschen verloren. Im Jugendalter fand sie zwar einige Bekannte, allerdings keine echten Freunde. Nach Abschluss des Abiturs studierte sie Geschichte und Philosophie. Im Alter von 20 Jahren begab sie sich zum ersten Mal aufgrund von Depression, Angstzuständen, Aggressivität und sozialen Problemen in psychotherapeutische Behandlung. Seitdem ist sie mehrfach in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken behandelt worden. Trotz dieser Belastungen schloss sie ihr Studium erfolgreich ab und arbeitet seitdem als Redakteurin. In der neuropsychologischen Untersuchung der inzwischen 31-jährigen Patientin fielen insbesondere extreme Leistungsunterschiede zwischen den einzelnen Testergebnissen auf mit z. T. unterdurchschnittlichen, aber auch überdurchschnittlichen Ergebnissen. Z. B. erreichte sie 39 von 41 Punkten in der verzögerten Wiedergabe des Subtests »Visuelle Reproduktion« der Wechsler Memory ScaleRevised (WMS-R), aber nur 2,5 von 36 Punkten in der verzögerten Reproduktion der komplexen Figur nach Rey. Interessanterweise konnte diese beeinträchtigte Leistung nicht auf ein initiales Aufmerksamkeitsdefizit zurückgeführt werden, da sie bei der Kopie der Figur eine überdurchschnittlich gute Leistung zeigte.
19.1 Einführung in die Borderline-
Persönlichkeitsstörung
19
Borderline-Persönlichkeitsstörungen (BPS) nach DSM-IV (APA 1994) bzw. emotional instabile Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ nach ICD-10 (WHO 1991) werden bei 1–4% der Allgemeinbevölkerung gefunden (Maier et al. 1992; Reich et al. 1989; Samuels et al. 1994). Patienten mit diesen Störungen zeigen häufig instabile Muster der Affektregulation, der Impulskontrolle, der Selbstwertregulation, der Selbstwahrnehmung sowie der Wahrnehmung und Realisierung interpersoneller Beziehungen. Zusätzlich fallen diese Patienten durch Selbstbeschädigungstendenzen, Suizidalität und zahlreiche weitere psychopathologische Symp-
tome auf und/oder erfüllen die Kriterien für zusätzliche psychiatrische Diagnosen (Komorbidität). Häufig zeigen die Betroffenen bereits in einem jungen Alter maladaptive Verhaltensweisen in verschiedenen Lebensbereichen, kommen früh in psychiatrische Behandlung und stellen für das Sozialund Gesundheitssystem einen erheblichen Kostenfaktor dar (Stone 1993). Verschiedene ätiologische Faktoren tragen zur Entwicklung einer BPS bei (Judd 2005). Möglicherweise kommt es bereits sehr früh zu zerebralen Schädigungen auf der Basis genetischer Vulnerabilitäten oder früher Hirnverletzungen. Zusammen mit Defiziten der Eltern-Kind-Beziehung entwickelt sich häufig eine desorganisierte Bindung und dissoziative Verarbeitung. Nach Judd (2005) kommt dabei den neuropsychologischen Veränderungen, die mit den zerebralen Schädigungen in Verbindung stehen, eine wichtige moderierende Funktion zu. Ausgehend von einer desorganisierten Bindung und dissoziativer Verarbeitung kommt es in der weiteren Entwicklung zu einer Veränderung der sozialen Kognition, wie auch des Sozialverhaltens und schließlich zur Herausbildung einer BPS. Möglicherweise ist das Erleben einer problematischen Beziehung zu den Eltern als pathogener Faktor nicht ausreichend, um die Entwicklung einer BPS anzustoßen. Eine Reihe von Arbeiten stellen hohe Korrelationen zwischen dem Auftreten einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und psychischer Traumatisierung fest (s. Driessen et al. 2002). In der Regel scheint es sich dabei um chronisch-rezidivierende Traumatisierungen in Form von emotionaler Vernachlässigung, körperlicher Misshandlung und/ oder sexuellem Missbrauch im Kindes- und/oder Jugendalter zu handeln, die bei bis zu 90% der Patienten gefunden werden. Diese Traumatisierungen werden auch als Typ II-Traumata bezeichnet, wohingegen kurz andauernde, schwere Traumata, die häufig mit dem Störungsbild der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) einhergehen, als Typ ITraumata bekannt sind (Terr 1991). Einige Autoren stellen insbesondere die Prävalenz sexuellen Missbrauchs in den Vordergrund, wonach BorderlinePatientinnen 2- bis 3-mal so häufig sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind als vergleichbare Frauen der Allgemeinbevölkerung (Reddemann u. Sachsse 2000).
385 19.2 · Profil neuropsychologischer Defizite bei BPS
19.2 Profil neuropsychologischer
Defizite bei BPS Lange Zeit wurde unter dem Schlagwort »Gestörter Rorschach, intakter HAWIE« die Ansicht vertreten, dass sich die klinischen Auffälligkeiten von BPSPatientinnen zwar in unstrukturierten psychologischen Tests wie dem Rorschach-Test zeigen, nicht aber in strukturierten neuropsychologischen Verfahren (Berg 1983; Carr et al. 1979). Entgegen dieser Auffassung belegen inzwischen eine Reihe empirischer Studien (Überblick s. . Tab. 19.1) neuropsychologische Beeinträchtigungen von BPS-Patienten.
19.2.1
Gedächtnis
Defizite des deklarativen Gedächtnisses sind in vielen, wenn auch nicht allen Studien beschrieben (z. B. Judd u. Ruff 1993; O’Leary et al. 1991; Monarch et al. 2004). In einigen Studien wurden dabei Beeinträchtigungen vorrangig bei sprachfreien Material gefunden (Irle et al. 2005; Swirsky-Sacchetti et al. 1993) und der freie Abruf scheint stärker betroffen zu sein als reine Rekognitionsleistungen. Auch in Bezug auf das Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis gibt es Evidenz für eine deutlichere Beeinträchtigung der visuellen gegenüber den verbalen Systemen. Gut vergleichbar sind dabei die Merkspannen, die in der verbalen (Zahlenmerkspanne) und visuellen Modalität (Blockmerkspanne) vorliegen. In vielen Untersuchungen findet sich kein Hinweis auf eine reduzierte Zahlenmerkspanne (z. B. Dinn et al. 2004; Irle et al. 2005; Judd u. Ruff 1993; O’Leary et al. 1991) während in der seltener untersuchten Blockmerkspanne durchaus Defizite vermerkt sind (Irle et al. 2005; O’Leary et al. 1991). Innerhalb der verbalen Modalität ist möglicherweise die Merkspanne rückwärts vorrangig betroffen (O’Leary et al. 1991); für die nonverbale Modalität hat diese Unterscheidung wenig Sinn (Beblo et al. 2004).
19.2.2
Aufmerksamkeit
Eine sehr differenzierte Untersuchung von Aufmerksamkeitsfunktionen nahmen Posner et al. (2002) auf
19
Basis des »Attentional Network Test« vor (vgl. folgende Studienbox). Sie fanden neben weitgehend normalen Aufmerksamkeitsleistungen ein spezifi f sches Defizit der Konflikt- bzw. Interferenzkontrolle bei BPS. Korrespondierend zu den Befunden von Posner et al. (2002) sind Störungen der Interferenzkontrolle auch im Rahmen anderer Paradigmen bei Patienten mit BPS nachgewiesen, z. B. mit dem Stroop-Paradigma (Swirsky-Sacchetti et al. 1993), wenn auch nicht konsistent (Judd u. Ruff 1993). Es ist unklar, ob bei BPS weitere Aufmerksamkeitsfunktionen beeinträchtigt sind. In einer Studie unserer Arbeitsgruppe (Beblo et al. 2006a) mit 22 BPS-Patientinnen und 22 gematchten gesunden Kontrollprobandinnen waren die Effektstärken (Kontrollpersonen vs. BPS-Patienten) in Bezug auf Aufmerksamkeitsfunktionen – verglichen mit Gedächtnis, Exekutivfunktionen und visuoräumlichen Funktionen – am geringsten, und es lagen keine statistisch nachweisbaren Defizite vor. Untersucht wurden die einfache Reaktionszeit, Go/Nogo und Aufmerksamkeitsteilung. Im Gegensatz dazu werden häufig Schwierigkeiten im Zahlen-Symbol-Test des HAWIE-R (Wechsler 1987) berichtet (Judd u. Ruff 1993; O’Leary et al. 1991), was als Hinweis auf eine gestörte Aufmerksamkeitsteilung interpretiert werden kann. Zur kognitiven Flexibilität (»set shifting«) liegen nur wenige Studien vor. Burgess (1990) berichtete von einer erhöhten Anzahl von Perseverationsfehlern in einer Stichprobe von BPS-Patienten. Auch die Studie von Dinn et al. (2004) weist auf Flexibilitätsprobleme hin.
19.2.3
Exekutivfunktionen
Inhibitionsfunktionen und Flexibilität wurden bereits den Aufmerksamkeitsfunktionen zugerechnet. An dieser Stelle werden die Befunde komplexerer Exekutivfunktionen wie »Fluency,« Problemlösen und Konzeptbildung dargestellt. Zu Fluency-Leistungen, die neben kognitiver Flexibilität auch Kreativität bzw. Produktivität voraussetzen, fanden wir in der bereits erwähnten Studie (Beblo et al. 2006a) am ehesten Beeinträchtigungen der figuralen Fluency. Hinweise für eine entsprechende funktionelle Asymmetrie zuungunsten visuellen Mate-
19
24 BPS
18 BPS; 14 KG
16 BPS; 16 KG
25 BPS; 25 KG
10 BPS; 10 KG
16 BPS; 12 PD-C; 15 KG
21 BPS; 21 KG
23 BPS; 22 BPS-H; 20 KG
18 BPS; 17 MD; 16 KG
18 BPS; 18 MD; 18 KG
Burgess (1990)
O‹Leary et al. (1991)
Judd u. Ruff (1993)
Swirsky-Sacchetti et al. (1993)
Arntz et al. (2000)
Driessen et al. (2000) 2
Korfine u. Hooley (2000)
Sprock et al. (2000)3
3
Cornelius et al. (1989)1
42 BPS; 42 KG
15 BPS; 15 KG
39 BPS; 22 TCG; 30 KG
23 BPS; 23 KG
9 BPS; 9 KG
19 BPS; 19 ADHS; 19 KG
Bazanis et al. (2002)
Harris et al. (2002)
Posner et al. (2002)
Kunert et al. (2003)
Dinn et al. (2004)
Dowson et al. (2004)
Sprock et al. (2000)
Stichprobe
Studie und Erscheinungsjahr
▼
▼ ▼ ▼ ▼ ▼
▼ ▼ ▼
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▼
▼
Visuelles Neugedächtnis
Verbales Neugedächtnis
Visuelles Arbeitsgedächtnis
Verbales Arbeitsgedächtnis
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▼
▼
▼
Visuoräumliche Fähigkeiten
▼
▼
▼
▼
▼
▼
▼
▼
exekutive Funktionen
▼
▼
Aufmerksamkeit
. Tab. 19.1. Eine Auswahl von Studien, die Vergleiche neuropsychologischer Leistungen von BPS-Patienten mit gesunden Kontrollprobanden berichten
386 Kapitel 19 · Neuropsychologie der Borderline-Persönlichkeitsstörung
24 BPS; 68 KG
12 BPS
22 BPS; 25 KG
30 BPS; 25 KG
22 BPS; 22 KG
30 BPS; 28 KG
Lenzenweger et al. (2004)
Monarch et al. (2004)1
Stevens et al. (2004)
Irle et al. (2005)
Beblo et al. (2006a)
Domes et al. (2006)
▼
▼
5
▼ ▼
▼
5
▼
▼
▼
▼
▼
▼
exekutive Funktionen
▼
▼
▼
▼4
▼
▼4
Aufmerksamkeit
▼
Visuoräumliche Fähigkeiten
Visuelles Neugedächtnis
Verbales Neugedächtnis
Visuelles Arbeitsgedächtnis
Verbales Arbeitsgedächtnis
Anmerkungen: Wurde nicht erfasst; ▼ verringerte Leistung von BPS-Patienten verglichen mit gesunder Kontrollgruppe keine Gruppenunterschiede zwischen BPS-Patienten verglichen mit gesunder Kontrollgruppe. 1 Vergleiche mit Normdaten; 2 die Analyse beinhaltete die statistische Kontrolle von selbst eingeschätzter Depressivität; 3 diese Studie bestand aus zwei separaten Stichproben; 4 es wird nur ein genereller Score für visuelle Arbeits- und Neugedächtnisleistungen berichtet; 5 es wird nur ein genereller Score für Neugedächtnisleistung berichtet. Abkürzungen Stichprobenbeschreibung: ADHS: Patienten mit Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung; BPS: Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung; BPS-H: Hospitalisierte Patienten mit BPS; KG: gesunde Kontrollgruppe; MD: Patienten mit Major Depression; PD-C: Patienten mit Persönlichkeitsstörungen Cluster C; TKG: Kontrollgruppe, die in Bezug auf das Temperament der BPS-Patienten gematcht wurde.
Stichprobe
19.1 (Fortsetzung)
Studie und Erscheinungsjahr
.
19.2 · Profil neuropsychologischer Defizite bei BPS
387
19
388
Kapitel 19 · Neuropsychologie der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Studienbox
Attentional Network Test (Posner et al 2002) Zur Untersuchung von verschiedenen Aufmerksamkeitsfunktionen setzten Posner et al. (2002) den »Attentional Network Test« ein. In die Untersuchung aufgenommen wurden 18 medikamentenfreie und 21 medizierte Patienten mit BPS, 22 gesunde Kontrollpersonen, die den Patienten vergleichbare Persönlichkeitstraits in Bezug auf negative Stimmung und mangelnde Impulskontrolle aufwiesen (»Temperament-gematchte Kontrollpersonen«) sowie 30 gesunde Kontrollpersonen ohne diese borderline-ähnlichen Merkmale (»normale Kontrollpersonen«). Beim »Attentional Network Test« muss mit dem Drücken einer rechten Taste reagiert werden, wenn ein Pfeil (Zielreiz) nach rechts weist, und mit dem Drücken einer linken Taste, wenn dieser Pfeil nach links zeigt. Dieser mittig platzierte Zielreiz ist dabei von weiteren Pfeilen umgeben, die entweder in die gleiche (kongruent) oder entgegengesetzte (inkongruent) Richtung weisen. Weiterhin wird vor der Präsentation des Zielreizes ein Hinweisreiz präsentiert, der a) die genaue Position des Zielreizes ankündigt (räumlicher Cue), b) eine neutrale Position im Zentrum des Bildschirms einnimmt (zentraler Cue), oder c) beide potentiellen Zielpositionen besetzt (doppelter Cue). In einer weiteren Bedingung, d) wird kein Hinweisreiz präsentiert (ohne Cue). Auf Basis der Reaktionszeiten in beiden Bedingungen mit den verschiedenen Hinweisreizen berechnen die Autoren 3 zentrale Aufmerksamkeitsmaße: 1. Alerting: Resultiert aus der Differenz zwischen Reaktionen »ohne Cue« minus »doppelter
19
rials finden sich interessanterweise auch in einer anderen Studie (Judd u. Ruff 1993). In unserer Studie (Beblo et al. 2006a) waren die deutlichsten Defizite in der »Turm von Hanoi«Aufgabe zu beobachten: Zwar benötigten die Patienten zur Lösung dieser Problemlöseaufgabe nur un-
Cue«. Die Differenz gibt also an, inwieweit von der räumlich nicht näher spezifizierten Ankündigung des Zielreizes profitiert wird. 2. Orienting: Resultiert aus der Differenz zwischen Reaktionen des »zentralen Cues« minus »räumlicher Cue«. Die Differenz zeigt hier, inwieweit von der genauen Zielankündigung des Zielreizes gegenüber einer neutralen Ankündigung profitiert wird. 3. Conflict: Resultiert aus der Differenz zwischen Reaktionen auf inkongruente und kongruente Distraktoren. Die Differenz zeigt hier an, inwieweit von kongruenten Umgebungsreizen profitiert wird bzw. inwieweit interferierende Umgebungsreize die Reaktion erschweren. Patienten und gesunde Kontrollpersonen hatten insgesamt vergleichbare Reaktionszeiten und Fehlerraten, auch waren die Werte hinsichtlich »Alerting« und »Orienting« vergleichbar. Allerdings fiel auf, dass die Patienten gegenüber den »normalen Kontrollpersonen« eine verzögerte Reaktion bei inkongruenten verglichen mit kongruenten Umgebungsreizen zeigten (»Conflict«). Gegenüber den »temperament-gematchten« Probanden ergab sich indes keine signifikante Differenz. Allerdings unterschieden sich auch »temperament-gematchte« und »normale« Kontrollpersonen nicht signifikant. Weiterhin war der »Conflict-Score« mit den Angaben zur Impulskontrolle negativ korreliert, was insgesamt den Schluss einer verminderten Konflikt- oder Interferenzkontrolle bei BPS nahelegt. Andere Aufmerksamkeitsfunktionen sind nach Ansicht der Autoren nicht betroffen. Die Medikation erwies sich für die Aufmerksamkeitsleistungen insgesamt als irrelevant.
wesentlich mehr Züge als die gesunden Kontrollpersonen, allerdings erreichten sie diese Leistung nur mit doppeltem Zeitaufwand. Auch in anderen Studien sind beeinträchtigte Problemlöseleistungen dokumentiert (Bazanis et al. 2002; Dinn et al. 2004; Swirsky-Sacchetti et al. 1993).
389 19.2 · Profil neuropsychologischer Defizite bei BPS
Nicht eindeutig sind die Studienergebnisse auf Basis des »Wisconsin Card Sorting Tests«. Dieses Verfahren setzt neben Konzeptbildungsleistungen insbesondere kognitive Flexibilität voraus. Beeinträchtigungen werden in einer neueren Studie berichtet (Lenzenweger et al. 2004), wohingegen Ergebnisse einer älteren Studie nicht auf verminderte Konzeptbildungsleistungen bei BPS-Patienten hinweisen (O’Leary et al. 1991).
19.2.4
Visuoräumliche Funktionen
Wie eben dargestellt, gibt es bei Patientinnen mit BPS in einigen kognitiven Funktionsbereichen Hinweise auf eine funktionelle Asymmetrie zugunsten verbalen Materials. Dies legt die Vermutung nahe, dass die visuoräumliche Verarbeitung bei BPS erschwert ist. Tatsächlich gibt es sowohl für visuoperzeptive als auch visuokonstruktive Funktionen Evidenz für Beeinträchtigungen. Für visuoperzeptive Prozesse hat sich das Erkennen eingebetteter Figuren wiederholt als gestört erwiesen (Beblo et al. 2006a; O’Leary et al. 1991). Hinsichtlich konstruktiver Fertigkeiten fanden Judd und Ruff (1993) zwar Beeinträchtigungen beim Abzeichnen einer komplexen Figur, wie andere Autoren auch, allerdings unauffällige Resultate im Mosaiktest des HAWIE-R, in dem Muster nachgelegt werden müssen. Irle et al. (2005) fanden auch im Mosaiktest eine gegenüber gesunden Probanden verminderte Leistung.
19.2.5
Emotionale Faktoren
Die bisher dargestellten neuropsychologischen Befunde beziehen sich primär auf emotional neutrales Material. Inzwischen gibt es Hinweise dafür, dass BPS-Patienten auf emotional negative Stimuli mit einer erhöhten Aufmerksamkeitszuwendung und auf positive Stimuli mit einer verringerten Aufmerksamkeitszuwendung reagieren. Domes et al. (2006) untersuchten den Effekt von Emotionen auf Kontrollfunktionen bei Patientinnen mit BPS mittels verschiedener neuropsychologischer Paradigmen. In einem emotionalen »directed forgetting paradigma« mit neutralen, positiven und negativen Wörtern wurden Patientinnen und gesunde Kontrollpro-
19
banden instruiert, sich eine Liste von Wörtern einzuprägen, wobei sie nach der Lernphase eine revidierte Instruktion erhielten, diese Wörter wieder zu vergessen. Dann erfolgte die Präsentation a einer 2. Wortliste, diese wieder mit der Instruktion, sich diese einzuprägen. Nach dem Lernen der 2. Wortliste erfolgte die Aufforderung die Wörter beider Listen zu erinnern. BPS-Patientinnen erinnerten anschließend mehr negative Wörter, die sie eigentlich vergessen sollten, als die gesunden Probanden. Außerdem erinnerten die Patientinnen weniger zu erinnernde positive Wörter. Keine signifikanten Gruppeneffekte hinsichtlich der Wortvalenz zeigten sich im emotionalen »Stroop Test«, in dem die Druckfarbe emotionaler Wörter möglichst schnell benannt werden sollte, und in einem Priming-Paradigma. In einer weiteren eigenen Studie (Mensebach et al. 2009a) haben BPS-Patienten und gesunde Kontrollpersonen Wortlisten sowohl unter Standardbedingungen als auch unter Interferenzbedingungen gelernt. In letzteren wurden alternierend zu den zu lernenden Begriffen irrelevante Begriffe vorgelesen. Die interferierenden Begriffe waren entweder emotional neutral oder negativ. Es zeigte sich, dass die Patienten unter Standardbedingungen und unter emotional neutraler Interferenz keine Beeinträchtigungen zeigten. Im Gegensatz dazu wurden sie von den negativen Störreizen gegenüber gesunden Kontrollprobanden verstärkt abgelenkt. Auch andere BPS-Studien weisen auf eine vermehrte Aufmerksamkeitszuwendung zu negativen Stimuli hin (Arntz et al. 2000; Korfine u. Hooley 2000), allerdings liegen auch Untersuchungen mit anderen Ergebnissen vor (Swirsky-Sacchetti et al. 1993). Jones et al. (1999) untersuchten die Spezifität des Abrufs autobiografischer Erinnerungen und fanden eine Tendenz zur Verallgemeinerung insbesondere bei negativen Erinnerungen. Das heißt, dass es bei persönlichen negativen Erlebnisinhalten – möglicherweise aus Selbstschutz – nicht zu einer verbesserten Leistung im Sinne eines präziseren Abrufs kommt.
19.2.6
Leistungskonsistenz
Zu Beginn dieses Kapitels haben wir einen Fall vorgestellt (DK), der durch extreme Leistungsschwan-
390
19
Kapitel 19 · Neuropsychologie der Borderline-Persönlichkeitsstörung
kungen in der neuropsychologischen Untersuchung auffiel. DK zeigte nicht nur eine insgesamt erhöhte Leistungsbreite mit Werten von z=+3.3 bis zu z=-2.1 in Bezug auf die Normwerte der entsprechenden Testverfahren, sondern erhebliche Leistungsdifferenzen waren auch innerhalb neuropsychologischer Domänen und zwischen sehr ähnlichen Testverfahren sichtbar. Diese Eindrücke sowie die Beobachtung anderer Einzelfälle bestätigen eine klinische Beobachtung von Berg (1983), wonach Patienten mit BPS zeitweise Einbrüche ihrer – sonst eher unauffälligen – kognitiven Leistungsfähigkeit erleiden. Inzwischen liegt auch eine erste Gruppenstudie vor, in der die Leistungskonsistenz von BPS-Patientinnen untersucht wurde (Beblo et al. 2006a). Die neuropsychologische Testbatterie deckte die Bereiche Gedächtnis, Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit, Exekutivfunktionen sowie visuoräumliche Funktionen ab. Für die Berechnung der Leistungskonsistenz wurden die Rohwerte in Standardwerte (z-Werte) transformiert und die Spannweite (»range«) dieser Standardwerte innerhalb der neuropsychologischen Domänen für jeden einzelnen Probanden bestimmt. Aus diesen Spannenmaßen wurden dann für die Untersuchungsgruppen die Mittelwerte bestimmt. In den Bereichen Gedächtnis, Exekutivfunktionen und visuoräumlichen Funktionen zeigten BPS-Patienten eine signifikant erhöhte Spannweite von Testresultaten, nicht jedoch in Aufmerksamkeitsfunktionen. Diese Ergebnisse bestätigten also die zunächst an Einzelfällen beobachtete verminderte Leistungskonsistenz und zeigt, dass Instabilität als ein Kernsymptom der BPS möglicherweise nicht nur für die Affektregulation, Impulskontrolle, Selbstwertregulation, der Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung und Realisierung interpersoneller Beziehungen gilt, sondern auch hinsichtlich kognitiver Leistungen. Welche Mechanismen zu diesem Befund führen, ist unklar. Es ist möglich, dass Stresserleben mit erhöhtem emotionalem Arousal und aufgabenirrelevanten Kognitionen im Zusammenhang mit der Aufgabe – oder durch andere Faktoren getriggert – zu einem temporären Leistungseinbruch führen. Unklar ist auch, wie spezifisch dieser Befund für Patienten mit BPS ist, und inwiefern auch Patienten mit anderen psychischen Störungen vermehrt Leistungsinkonsistenzen zeigen.
19.2.7
Zusammenfassende Gewichtung der Befunde
Insgesamt müssen die neuropsychologischen Befunde bei Patientinnen mit BPS als heterogen eingeschätzt werden. Dies ist jedoch bei der Untersuchung anderer psychischer Störungen nicht anders: Ein scharf umgrenztes Defizitprofil, wie wir es von einigen neurologischen Patientengruppen kennen, findet sich nicht. Warum kommt es zu diesen inkonsistenten Ergebnissen? Die Gründe sind sicher vielseitig. Es müssen v. a. sehr unterschiedliche Einschlusskriterien der vorliegenden Studien konstatiert werden, sodass Patienten mit unterschiedlicher Erkrankungsschwere, Medikation und Komorbidität – um ein paar wesentliche Einflussfaktoren zu nennen – berücksichtigt wurden. So wurden in die Studie von Kunert et al. (2003) nur Patientinnen ohne weitere akute psychische Störungen und ohne psychotropische Medikation aufgenommen. Entsprechend dieser strengen Kriterien wurden in dieser Studie so gut wie keine neuropsychologischen Defizite gefunden. Im Gegensatz dazu berücksichtigten Monarch et al. (2004) u. a. medizierte Patienten mit komorbider Depression und PTBS. In dieser Studie fanden sich in den meisten eingesetzten Verfahren Defizite. Weiterhin sind auch die Kontrollgruppen nicht einheitlich und die verwendeten Verfahren unterschieden sich. Trotz dieser Inkonsistenzen lassen sich einige Tendenzen aus den Befunden ableiten: 1. Bei einer insgesamt eher heterogenen Datenlage ist eine relativ geringgradige und unspezifische Einschränkung von Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Exekutivfunktionen und visuoräumlicher Funktionen zu konstatieren. 2. Dabei gibt es in den Bereichen Gedächtnis, Arbeitsgedächtnis und »Fluency« Hinweise für eine funktionelle Asymmetrie zugunsten verbalen Materials. Auch in anderen aktuellen Übersichtsarbeiten wird eine vorrangige Beeinträchtigung nonverbaler Funktionen bei BPS konstatiert: LeGris und van Reekum (2006) berichteten von einem deutlicher beeinträchtigten Handlungs-IQ gegenüber dem Verbal-IQ, Ruocco (2005) schloss auf eine deutlich stärkere Beeinträchtigung des figuralen gegenüber des verbalen Gedächtnisses.
391 19.3 · Neurobiologische Befunde
3. Es gibt ebenfalls Hinweise auf veränderte Aufmerksamkeitsprozesse bei der Präsentation emotionaler Stimuli im Sinne einer erhöhten Aufmerksamkeitszuwendung (und erhöhten Interferenzanfälligkeit) auf negative Reize und einer verringerten Aufmerksamkeitszuwendung auf positive Reize. Dieses Ergebnis findet sich auch bei anderen psychischen Erkrankungen, z. B. Depression. 4. In einer Untersuchung (Beblo et al. 2006a) fanden sich innerhalb der neuropsychologischen Domänen verstärkt Leistungsinkonsistenzen. Dieser Befund muss zunächst von anderen Arbeitsgruppen repliziert werden, bevor hier von einer ausreichenden Evidenz ausgegangen werden kann. Es ist derzeit auch unklar, inwieweit diese Auffälligkeiten auch bei anderen psychischen Störungen vorliegen.
19.3
Neurobiologische Befunde
Multikausale Diathese-Stress-Modelle betrachten neurobiologische Veränderungen als eine ätiologische Einflussgröße in der Pathogenese von BPS (Clarkin u. Posner 2005; Driessen et al. 2002; Judd 2005). Bezogen auf die BPS-Symptomatik wurde diskutiert, dass insbesondere neurobiologische Systeme beeinträchtigt sein könnten, die in Affektregulation, Impulskontrolle und in soziale Kognition involviert sind (Schmahl u. Bremner 2005). Im Vergleich zu Kontrollprobanden zeigen BPS-Patienten verstärkt »neurologische Soft-signs« (Gardner et al. 1987; van Reekum et al. 1993). In der Kindheit und Jugend sind BPS-Patienten vermehrt von Lernstörungen und der Aufmerksamkeitsdefizit bzw. Hyperaktivitätsstörung (vgl. 7 Kap. 22 »Neuropsychologie der Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung«
von Konrad und Herpertz-Dahlmann, in diesem Band) betroffen (Travers u. King 2006; van Reekum et al. 1993). Auch finden sich Hinweise, dass BPSPatienten gehäuft von Schädel-Hirn-Traumata in der Lebensgeschichte betroffen sind (van Reekum et al. 1993). Diese Veränderungen werden auch als Grundlage der geschilderten neuropsychologischen Auffälligkeiten diskutiert (Judd 2005).
19.3.1
19
Strukturelle und spektroskopische Bildgebungsbefunde
Bereits in den 1980er-Jahren wurden Anstrengungen unternommen, strukturelle neuroanatomische Veränderungen bei BPS zu charakterisieren. Erste bildgebende Studien zur Neuroanatomie der BPS mittels Computertomographie (CT) entstammten noch einer Tradition, die eine Nähe der BPS zur Schizophrenie nahelegte. Im Gegensatz zur Schizophrenie fanden sich für BPS jedoch keine Veränderungen bezüglich der Ventrikelgröße und des Ventrikel-Hirnvolumen-Verhältnisses (Snyder et al. 1983; Schulz et al. 1983). Nachdem modernere theoretische Ansätze die BPS maßgeblich als eine Störung der Affekt- und Emotionsregulation sowie der Impulskontrolle konzipieren, wandte sich die weitere bildgebende Forschung insbesondere präfrontalen und limbischen Hirnarealen zu. Inzwischen liegen erste strukturelle bzw. spektroskopische Bildgebungsstudien vor, die Veränderungen präfrontaler Hirnareale bei BPS untersuchten. Befunde einer ersten Studie deuten eine Volumenminderung des frontalen Cortex an (Lyoo et al. 1998), jedoch wurde dieses Ergebnis aufgrund zahlreicher methodischer Schwächen vielfach kritisiert. Neuere Studien ergaben Hinweise auf Volumenminderungen des anterioren cingulären Cortex (Hazlett et al. 2005) sowie zusätzlich des orbitofrontalen Cortex (Tebartz van Elst et al. 2003). Eine Replikation dieser Studienergebnisse von Tebartz van Elst et al. auf Basis einer größeren Stichprobe und mithilfe von Voxel-based Morphometrie gelang jedoch nicht (Rüsch et al. 2003). Ergebnisse einer ersten magnetresonanzspektroskopischen Untersuchung aus derselben Arbeitsgruppe deuten jedoch ebenfalls auf Veränderungen im präfrontalen Cortex hin: Hierbei fand sich eine Reduzierung von N-Acetylaspartat im dorsolateralen präfrontalen Cortex (Tebartz van Elst et al. 2001). Im Gegensatz zur relativ heterogenen Befundlage zum präfrontalen Cortex sind Volumenminderungen des Hippocampus und der Amygdala für BPS wiederholt dokumentiert worden (u. a. Driessen et al. 2000, Schmahl et al. 2003a; Tebartz van Elst et al. 2003). Dabei finden sich Hippocampusvolumina bei BPS-Patienten über die verschiedenen Studien durchgängig vermindert, hingegen konnten
392
Kapitel 19 · Neuropsychologie der Borderline-Persönlichkeitsstörung
nicht alle Studien Volumenminderungen der Amygdala nachweisen (Brambilla et al. 2004; Zetzsche et al. 2006). Das verminderte Hippocampusvolumen von BPS-Patienten zeigte sich auch assoziiert mit verminderten neuropsychologischen Leistungen (Irle et al. 2005; s. a. Studienbox). Im Gegensatz zu präfrontalen und limbischen Hirnarealen finden sich nur vereinzelte Studien, die auf den posterioren Cortex fokussieren. Unreplizierte Befunde deuten dabei Volumenminderungen des rechten Parietallappens (Irle et al. 2005; s. a. Studienbox), wie auch des posterioren cingulären Cortex (Hazlett et al. 2005) an.
19.3.2
Funktionelle Bildgebungsbefunde
Für BPS liegt inzwischen eine Reihe an funktionellen Bildgebungsstudien vor. Vorrangig finden sich sog. »Resting State«-Studien, also Studien, die den Ruhezustand des Gehirns untersuchen, sowie Stu-
dien, die die neuronale Reaktivität in Bezug auf biologische Reize (hierbei werden vor der Untersuchung bestimmte Substanzen verabreicht, z. B. Serotonin-Agonisten) und emotionale Reize untersuchen. Mehrere Studien mit der Positronen-EmissionsTomographie (PET) zeigten einen veränderten cerebralen Glucose-Metabolismus bei BPS-Patienten. Dabei divergieren die Studienergebnisse jedoch. Ergebnisse einiger Studien wiesen auf einen Hypometabolismus insbesondere präfrontaler (De la Fuente et al. 1997; Soloff et al. 2003) bzw. temporoparietaler Areale hin (C. Lange et al. 2005). In einer anderen Studie wurde jedoch neben einem regionalem Hypometabolismus im Hippocampus und dem Cuneus zusätzlich ein Hypermetabolismus im dorsolateralen präfrontalen sowie dem anterioren cingulären Cortex berichtet (Jüngling et al. 2003). Der Zusammenhang zwischen dem Metabolismus in bestimmten Hirnarealen und neuropsychologischen Testleistungen wurde bisher nur selten bei BPS-Patienten untersucht. Eine erste Studie zeigt einen Zu-
Studienbox
Irle et al. 2005
19
Irle et al. verfolgten in ihrer Studie zwei Ziele: Zum einen wurden untersucht, inwieweit eine Reduktion des Hippocampusvolumens bei BPS mit neuropsychologischen Leistungen assoziiert ist, zum anderen, ob potenzielle Volumenminderungen des Parietallappens sowie eine vermutete veränderte Asymmetrie des Parietallappens, wie sie bei schizophrenen Patienten dokumentiert ist, bei BPS mit dem Auftreten psychotischer Symptome wie auch schizotyper Persönlichkeitstraits assoziiert ist. Sie untersuchten mittels struktureller Kernspintomographie das Volumen des Hippocampus und des parietalen Cortex bei 30 sexuell bzw. physisch traumatisierten BPS-Patientinnen und 25 gematchten gesunden Kontrollprobandinnen. Weiterhin erhoben sie neuropsychologische Leistungen, psychotische Symptome und schizotype Persönlichkeitsstraits. Wie in vorausgehenden Studien fand sich für BPS im Vergleich mit den Kontrollprobandinnen
ein reduziertes Volumen der Hippocampi (–17%). In der Patientinnengruppe war das Volumen des rechten Hippocampus ein substanzieller Prädiktor neuropsychologischer Leistungen, insbesondere für Neugedächtnisleistungen. Die Morphometrie des Parietallappens ergab ein um 11% reduziertes Volumen des rechten Parietallappens für die BPSPatientinnen. Neben dieser Volumenminderung fand sich auch eine veränderte Asymmetrie des parietalen Cortex. Während das Volumen des rechten Parietallappens bei BPS-Patientinnen im Vergleich zu den Kontrollprobanden signifikant reduziert war, zeigten beide Gruppen ein vergleichbares Volumen des linken Parietallappens. In Korrelationsanalysen zeigte sich für BPS ein negativer Zusammenhang zwischen der Asymmetrie des Parietallappens mit psychotischen Symptomen (r=-.37) wie auch schizotypen Persönlichkeitstraits (r=-.57). Die Autoren interpretieren das reduzierte Volumen des rechten Parietallappens als einen Hinweis auf ein mögliches Hirnentwicklungsdefizit der rechten Hemisphäre bei BPS.
393 19.3 · Neurobiologische Befunde
sammenhang zwischen temporalem Glucose-Hypometabolismus und Gedächtnis- sowie Aufmerksamkeitsleistungen (C. Lange et al. 2005). Bildgebende biologische Studien fokussieren bisher auf das serotonerge System. Den Hintergrund des Interesses am serotonergen System bei BPS bilden dabei Befunde, die einen Zusammenhang zwischen Impulsivität und Aggression auf der einen Seite und einer verringerten Aktivität des serotonergen Systems auf der anderen Seite postulieren (Coccaro et al. 1989). In einer Studie, in der PET im Zusammenspiel mit der Gabe von Fenfluramin, einem Serotonin-Agonisten, einsetzt wurde, fand sich nach der Gabe von Fenfluramin ein reduzierter cerebraler Metabolismus bei BPS unter anderem in orbitalen und medialen präfrontalen Arealen (Soloff et al. 2000). Ergebnisse einer weiteren Studie aus der gleichen Arbeitsgruppe geben Hinweise auf Geschlechtereffekte (Soloff et al. 2005). Dabei zeigte sich ein reduzierter cerebraler Metabolismus im linken Temporallappen nach Gabe von Fenfluramin nur für männliche BPS-Patienten, nicht jedoch für weibliche. Weiterhin gibt es Hinweise auf eine reduzierte Serotonin-Synthesekapazität bei BPS unter anderem in medial frontalen und temporalen Hirnarealen (Leyton et al. 2001). Einige Studien fokussieren auf die neuronale Reaktion von BPS-Patienten auf emotional relevante Reize. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass BPS-Patientinnen eine stärkere Reaktivität der Amygdala bezüglich negativ valenter Fotografien aufweisen (Herpertz et al. 2001). In einer anderen BPS-Studie fand sich jedoch keine generelle Hyperresponsivität der Amygdala für negative Emotionsausdrücke, sondern nur für Gesichtsausdrücke im Allgemeinen (Donegan et al. 2003). Weitere bildgebende Studien zielten auf die Charakterisierung neuronaler Aktivierungsmuster bei der Konfrontation von BPS-Patientinnen mit Erinnerungen an wichtige negative Lebensereignisse. Mittels PET untersuchten zwei Studien Veränderungen des cerebralen Blutflusses beim Triggern von Erinnerungen durch personalisierte Skripts von Kindheitstraumata bzw. Situationen des VerlassenWerdens (Schmahl et al. 2003b; Schmahl et al. 2004). Untersuchungsgruppen waren dabei jeweils Frauen mit BPS und ebenfalls psychiatrisch erkrankte Frauen ohne BPS. Bei Patientinnen ohne
19
BPS waren Erinnerungen an sexuellem Missbrauch im Kindesalter mit einem Anstieg des cerebralen Blutflusses im rechten und einem Abfall des cerebralen Blutflusses im linken dorsolateralen präfrontalen Cortex assoziiert sowie mit einem Anstieg des Blutflusses im orbitofrontalen Cortex bilateral und im rechten anterioren cingulären Cortex (Schmahl et al. 2004). Hingegen zeigten Patientinnen mit BPS keine Aktivierung des orbitofrontalen wie auch des anterioren cingulären Cortex. Eine zweite Studie dieser Arbeitsgruppe zeigte, dass Frauen mit BPS verglichen mit psychiatrisch erkrankten Frauen ohne BPS Veränderungen des cerebralen Blutflusses nach dem Vorlesen von Erinnerungen an Situationen des Verlassenwerdens aufweisen (Schmahl et al. 2003b). Ängste und Befürchtungen Verlassen zu werden, stellen bei BPS-Patienten ein häufiges Symptom dar. Getriggerte Erinnerungen an Situationen des Verlassenwerdens zeigten sich bei BPSPatientinnen im Vergleich zu Patientinnen ohne BPS unter anderem assoziiert mit einem stärkeren Anstieg des Blutflusses im dorsolateralen präfrontalen Cortex, sowie mit einem stärker reduzierten Blutfluss im rechten anterioren cingulären Cortex. Zwei Studien unserer Arbeitsgruppe zielten auf die Analyse von Erinnerungen an traumatische Lebensereignisse bei BPS. In der einen Studie konnten wir zeigen, dass BPS-Patientinnen beim durch personalisierte Schlüsselworte ausgelösten Erinnern an traumatische Lebenserinnerungen veränderte Aktivierungsmuster im Vergleich zu nichtpsychiatrischen Kontrollprobandinnen aufwiesen (Beblo et al. 2006b). Bei BPS-Patientinnen fanden sich verstärkte Aktivierungen des frontalen Cortex inklusive der Insula und des orbitofrontalen Cortex, wie auch temporaler Strukturen inklusive der Amygdala. In einer zweiten Studie untersuchten wir Erinnerungen an traumatische Ereignisse bei Patientinnen mit BPS mit und ohne komorbide PTBS (Driessen et al. 2004). In der Subgruppe ohne PTBS zeigten sich vorwiegend Aktivierungen des orbitofrontalen Cortex und der Broca-Region, während in der Subgruppe mit PTBS limbische Aktivierungen inklusive der Amygdala dominierten. Die vorliegenden Bildgebungsstudien zu autobiografischen Erinnerungen an wichtige negative Lebensereignisse deuten auf funktionelle Veränderungen bezüglich des autobiografischen Gedächt-
394
Kapitel 19 · Neuropsychologie der Borderline-Persönlichkeitsstörung
nisses bei BPS-Patientinnen hin. Vor dem Hintergrund der bekannten erhöhten neuronalen Reaktivität von BPS-Patienten in Bezug auf negativ valente Stimuli bleibt die Frage offen, inwieweit sich veränderte Aktivierungsmuster auch bezüglich des Abrufs neutraler Informationen zeigt. In einer weiteren Studie unserer Arbeitsgruppe konnten wir mittels funktioneller Kernspintomographie zeigen, dass BPS-Patientinnen bei einem 24-Stunden Spätabruf einer Wortliste wie auch beim Abruf semantischer Informationen im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden zusätzliche Hirnareale rekrutieren (Mensebach et al., 2009b). Insbesondere zeigte sich beim Abruf episodischer und semantischer Gedächtnisinhalte eine verstärkte Aktivierung des posterioren cingulären Cortex inklusive des retrosplenialen Cortex. Diese Phänomenetraten auf, obwohl am Tag vor der funktionellen Kernspintomographie keine Leistungsunterschiede zwischen Patientinnen und Kontrollprobanden evident waren. Dies könnte darauf hindeuten, dass BPS-Patienten zusätzlich neuronale Ressourcen nützen müssen, um mit Kontrollprobanden vergleichbare Leistungen erbringen zu können.
19.3.3
19
Befunde zur Stresshormonachse
Veränderungen der Hypothalamus-HypophyseNebennierenrinden-Achse (HHNA) finden sich bei verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen, wie etwa bei Depression (Antonijevic 2006) und PTBS (Yehuda 2006), wobei diese Veränderungen teilweise gegenläufig sind. Während die Depression z. B. durch eine erhöhte basale Cortisolausschüttung und eine reduzierte Feedbacksensitivität gekennzeichnet ist, wurde bei PTBS Patienten eine verringerte basale Cortisolausschüttung und eine gesteigerte Feedbacksensitivität gefunden. Des Weiteren ist bekannt, dass früher Stress, wie Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit, mit einer veränderten Stresshormonachse einhergeht (Heim et al. 2000). Im Gegensatz zur Depression und PTBS finden sich für BPS weit weniger Studien, die die Regulation der Stresshormonachse untersuchen. In einer Studie wird ein erhöhter basaler Cortisolspiegel für BPS-Patienten berichtet (Lieb et al. 2004).
Interessanterweise konnte aber auch gezeigt werden, dass PTBS-Patientinnen mit komorbider BPS ebenfalls einen erhöhten basalen Cortisolspiegel im Vergleich zu PTBS-Patientinnen ohne BPS aufweisen (Southwick et al. 2003). Die Ergebnisse einer neueren Studie weisen zudem darauf hin, dass komorbide depressive Symptome sowie posttraumatischer Stress mit der Cortisolausschüttung bei BPS-Patientinnen assoziiert sind (Wingenfeld et al. 2007). Dabei zeigte sich depressive Symptomatik mit einer erhöhten Cortisolsausschüttung assoziiert, während das Ausmaß posttraumatischer Stresssymptome mit dem Cortisolspiegel in einem negativen Zusammenhang stand. In einer Reihe von Studien wurde die Feedbacksensitivität der Stresshormonachse bei BPS mittels des Dexamethason-Hemmtests untersucht. Nach Gabe von 1 mg Dexamethason ergaben sich widersprüchliche Befunde: Während einige Studien eine hohe Rate von »Non-Suppressoren« berichten, fanden andere Autoren nur geringe Raten (Lahmeyer et al. 1989). In diesen älteren Studien wurden komorbide psychische Störungen und Effekte von Traumatisierungserfahrungen nur selten oder gar nicht erfasst. Rinne et al. (2002) fanden jedoch Hinweise auf differenzielle Veränderungen im Dexamethason-Hemmtest in Abhängigkeit des Vorliegens einer komorbiden Depression oder PTBS. In neueren Studien wurde die Feedbacksensitivität der HHNA auch nach Gabe einer geringen Dosis von 0.5 mg Dexamethason untersucht. Auch hier zeigen sich uneinheitliche Befunde: In einer ersten Studie deutete sich eine verstärkte Feedbacksensitivität der HHNA bei BPS an (Grossmann et al. 1997), Ergebnisse einer anderen Studie verweisen auf eine eher reduzierte Feedbacksensitivität (Lieb et al. 2004). Weitere Befunde unterstreichen vor allem den Einfluss komorbider psychiatrischer Erkrankungen, insbesondere der PTBS, auf die Sensitivität der HHNA (Grossmann et al. 2003). In einer Studie unserer Arbeitsgruppe fanden sich keine Unterschiede in der Feedback-Sensitivität der HHNA bei BPS im Vergleich mit nichtpsychiatrischen Kontrollprobanden (W. Lange et al. 2005). Weitere Analysen ergaben jedoch, dass BPS-Patientinnen ohne komorbide PTBS verglichen mit BPS-Patientinnen mit komorbider PTBS eine verringerte Suppression von Cortisol nach Gabe von Dexamethason aufwie-
395 19.3 · Neurobiologische Befunde
sen. Neben dem potenziellen Einfluss komorbider Störungen auf Veränderungen der HHNA-Regulation bei BPS gibt es ebenfalls Hinweise darauf, dass Missbrauchserfahrungen in der Kindheit eine wichtige Rolle spielen könnten (Rinne et al. 2002). Die bisherigen Studien geben keine eindeutigen Hinweise auf BPS-spezifische Veränderungen der HHNA. Vielmehr scheinen komorbide psychiatrische Erkrankungen, insbesondere Depression und PTBS, wie auch frühe Stresserfahrungen, einen erheblichen Einfluss auf die Regulation der Stresshormonachse bei BPS zu haben. Da die HHNA-Regulation für den Zusammenhang mit neuropsychologischen Leistungen, beispielsweise Arbeits- und Neugedächtnisleistungen bekannt ist, wären experimentelle Studien wünschenswert, die den Einfluss spezifischer biologischer oder psychologischer Stressoren auf neuropsychologischen Leistungen bei BPS untersuchen. Leider liegen solche Untersuchungen bisher nicht vor.
19.3.4
Zusammenfassung der neurobiologischen Befunde
Die hier berichteten neurobiologischen Studien sind – wie auch die neuropsychologischen Studien – durch eine erhebliche Variabilität der Befunde gekennzeichnet. In Bezug auf strukturelle Veränderungen ist ein verringertes Hippocampusvolumen der konsistenteste Befund. Darüber hinaus gibt es Hinweise auf Volumenminderungen der Amygdala, präfrontaler Areale, aber z. T. auch parietaler Areale. Funktionelle Auffälligkeiten finden sich insbesondere im präfrontalen und anterioren cinculären Cortex, wobei sowohl für die Resting State-Studien als auch beim Einsatz von Aktivierungsparadigmen, Hypo- und Hypermetabolismus dokumentiert sind. Einige – aber nicht alle Studien – zeigen bei Konfrontation mit emotional negativen Reizen eine verstärkte Aktivierung der Amygdala. Es konnte z. T. zudem gezeigt werden, dass die strukturellen und funktionellen neurobiologischen Veränderungen mit neuropsychologischen Leistungen assoziiert sind. Des Weiteren geben psychoneuroendokrinologische Studien zur BPS Hinweise auf Veränderungen in der Regulation der Stresshormonachse. Dabei scheinen diese Veränderungen von weiteren
19
Faktoren, wie komorbiden psychiatrischen Erkrankungen und frühem Kindheitsstress maßgeblich mitbestimmt zu sein.
19.3.5
Die Bedeutung komorbider Erkrankungen für das Verständnis neuropsychologischer Auffälligkeiten bei BPS
Die BPS stellt ein komplexes Störungsbild dar, wobei komorbide psychische Störungen – seien es nun weitere Persönlichkeitsstörungen oder akute psychische Störungen – eher die Regel als die Ausnahme darstellen (Skodol et al. 2002). Dabei ist weitgehend unklar, ob diese Störungen als »echte unabhängige komorbide Störungen« gelten müssen, oder bestimmte Symptomkonstellationen der BPS reflektieren, wie etwa depressive Symptome (Paris 2005; Skodol et al. 2002). Epidemiologische Studien berichten für BPSPatienten eine hohe Anzahl psychischer Störungen (Widiger u. Weissmann 1991; Zanarini et al. 1998, 1989; Zimmermann u. Mattia 1999). In einer BPSStudie zu komorbiden psychischen Störungen in der Lebensgeschichte werden Komorbiditätsraten von 83% für Major Depression, 53% für Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit, 56% für PTBS, 48% für Panikstörung, 26% für Bulimie und 21% für Anorexie berichtet (Zanarini et al. 1998). Neben der BPS-Diagnose erfüllen BPS-Patienten oft auch Kriterien für weitere Persönlichkeitsstörungen. Dabei finden sich vor allem ängstlich-vermeidende, histrionische und schizotype Persönlichkeitsstörungen (Widiger u. Weissmann 1991). Obwohl bekannt ist, dass häufige komorbide psychische Störungen, wie etwa affektive Störungen oder PTBS, ihrerseits mit neuropsychologischen Defiziten einhergehen, liegen bisher nur wenige neuropsychologische Studien vor, in denen komorbide psychische Erkrankungen systematisch untersucht wurden. In der bereits zitierten Studie (Beblo et al. 2006a) fanden wir akzentuiertere Beeinträchtigungen bei BPS-Patientinnen mit komorbider PTBS. Allerdings zeigten auch BPS-Patientinnen ohne PTBS Leistungseinbußen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass
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Kapitel 19 · Neuropsychologie der Borderline-Persönlichkeitsstörung
die große Mehrzahl der Studien das Auftreten der Aufmerksamkeitsdefizits-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes- und Jugendalter nicht kontrolliert, obwohl ADHS für spezifische neuropsychologische Defizite bekannt ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt, dem in bisherigen neuropsychologischen Studien kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde, sind schnell wechselnde psychische Befindlichkeiten bei BPS (»states«), wie etwa Dissoziation, akute Spannungszustände und Ängste. Gerade weil BPS-Patienten für schnell wechselnde »states« bekannt sind, sollte die weitere Forschung ihren Einfluss auf neuropsychologische Leistungen bei BPS untersuchen. Neben komorbide auftretenden psychischen Störungen wird schon seit längerem diskutiert, dass eine Subgruppe von BPS-Patienten neurologische Auffälligkeiten aufweist (s. z. B. Andrulonis et al.
1981; van Reekum et al. 1993). Die Relevanz neurologischer Schädigungen in der Vorgeschichte wird dabei von Ergebnissen einer neueren Studie unterstrichen (Travers u. King 2006). Diese Autoren konnten zeigen, dass BPS-Patienten mit neurologischen Schädigungen in der Vorgeschichte wesentlich ausgeprägtere neuropsychologische Defizite aufweisen. Möglicherweise tragen diese komorbiden Erkrankungen zu der heterogenen Befundlage bei BPS bei. Dementsprechend finden sich – wie oben dargestellt – in Studien mit Patienten ohne komorbide akute psychische Störungen kaum neuropsychologische Defizite (Kunert et al. 2003), während Studien, in denen auch Patienten mit komorbider Depression oder PTBS aufgenommen wurden, eine Vielzahl von Defiziten dokumentieren (Monarch et al. 2004).
Fazit
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Patientinnen mit BPS zeigen häufig geringgradige und relativ unspezifische Beeinträchtigungen von Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Exekutivfunktionen und visuoräumlichen Funktionen. Für Gedächtnis, Aufmerksamkeit und »Fluency« findet sich zudem eine funktionelle Asymmetrie zugunsten geringerer Leistungen in Bezug auf nonverbales Reizmaterial. Als gesichert kann auch gelten, dass BPS-Patienten eine verstärkte Aufmerksamkeitszuwendung und erhöhte Interferenzanfälligkeit für negativ valentes Reizmaterial sowie eine verringerte Aufmerksamkeit zugunsten positiv valenter Reize zeigen. Möglicherweise sind neuropsychologische Leistungen bei BPS dabei von einer stärkeren Inkonsistenz gekennzeichnet, als dies bei nichtpsychiatrischen Probanden der Fall ist. Als neurobiologische Korrelate dieser Auffälligkeiten werden insbesondere strukturelle und funktionelle Veränderungen limbischer und präfrontaler Strukturen diskutiert. Psychoneuroendokrinologische Studien zur BPS liefern kaum konsistente Hinweise auf eine veränderte Regulation der Hypothalamus-Hypo-
physe-Nebennierenrinde-Achse (HHNA). Allerdings scheint dabei komorbiden psychischen Störungen wie insbesondere Depression und PTBS eine herausragende Rolle zuzukommen. Insgesamt tragen komorbide Erkrankungen zum heterogenen Erscheinungsbild der BPS bei, wobei ihr Einfluss auf neuropsychologische Leistungen bei BPS bisher kaum untersucht wurde. In der weiteren Forschung sollte deshalb zum einen das Krankheitsbild BPS differenzierter untersucht werden: Dabei muss der Frage nach bestimmten Patienten-Subgruppen nachgegangen werden, die auch – aber nicht nur – durch das Auftreten komorbider Erkrankungen gekennzeichnet sind. Zum anderen sind die neuropsychologischen Leistungen der Patienten mit experimentellen Testverfahren genauer zu untersuchen, in welchen nicht nur kognitive Funktionen differenziert abgebildet werden, sondern auch emotionale Faktoren berücksichtigt werden. Schließlich muss der Befund der hier berichteten Leistungsinkonsistenz repliziert und weiter aufgeklärt werden.
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20 20 Neuropsychologie von tiefgreifenden Entwicklungsstörungen Helmut Remschmidt, Gerd Schulte-Körne, Inge Kamp-Becker
20.1 Was sind Entwicklungsstörungen? – 400 20.1.1 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen – 400 20.1.2 Umschriebene Entwicklungsstörungen – 401 20.1.3 Bedeutung der Entwicklungsdimension bei anderen Störungen
20.2 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen – 402 20.2.1 20.2.2 20.2.3 20.2.4
Frühkindlicher Autismus – 402 Neuropsychologische Auffälligkeiten – 403 Diagnostik und Differenzialdiagnostik – 408 Asperger-Syndrom und High Functioning Autism (HFA)
20.3 Literatur
– 425
– 411
– 402
400
Kapitel 20 · Neuropsychologie von tiefgreifenden Entwicklungsstörungen
Entwicklung lässt sich definieren »als Reihe von miteinander zusammenhängenden Veränderungen, die bestimmten Orten des zeitlichen Kontinuums eines individuellen Lebenslaufes zuzuordnen sind« (Thomae 1959, S. 10). Diese Definition enthält allerdings noch nicht die den Entwicklungsprozessen innewohnende Zielorientierung, wobei die Wirkung und Wechselwirkung biologischer, historisch-gesellschaftlicher und kultureller Einflusssysteme auf die menschliche Entwicklung von Bedeutung sind (Baltes 1990; Staudinger u. Baltes 2000). In diesem Sinne lässt sich Entwicklung insgesamt als ein »facettenreiches dynamisches System« (Staudinger u. Baltes 2000) auffassen, das primär biologisch verankert ist, jedoch durch historisch-gesellschaftliche und kulturelle Systeme nachhaltig beeinflusst wird. Dieser breiten Auffassung von Entwicklung und Entwicklungsprozessen lässt sich eine stärker biologisch orientierte Auffassung von Entwicklung gegenüberstellen, die Prozesse wie Wachstum, Reifung und Lernen sowie deren Wechselwirkungen umfasst. Die diesen Prozessen zugrunde liegenden zentralnervösen Strukturen und Funktionen können über verschiedene methodische Ansätze objektiviert werden. Zu ihnen gehören neben den Methoden der Neuroanatomie und Neurophysiologie, der klinischen Neurologie und der Neurochemie auch diejenigen der bildgebenden Verfahren und der Neuropsychologie.
20.1
20
Was sind Entwicklungsstörungen?
Entwicklungsprozesse und Entwicklungsstörungen sind grundsätzlich altersgebunden und resultieren aus strukturellen und funktionellen Umgestaltungen im Zentralnervensystem, die mehr oder weniger präzise mit den genannten Methoden erfasst werden können. Eine Schwierigkeit in der Definition von Entwicklungsstörungen liegt darin, dass sie als Abweichungen von einer irgendwie gearteten Norm definiert werden müssen. Im Hinblick auf viele Funktionen liegen derartige Normen jedoch nicht vor. Dies ist im Fall schwerwiegender Ausfälle (z. B. Aphasien, Apraxien) weniger bedeutsam, weil die Störung als solche aufgrund ihres Schweregrades schon ins Auge springt, was aber bei leichteren Funktionsabweichungen ein schwerwiegender Man-
gel ist. In Bereichen, für die Normen existieren, wird eine Entwicklungsstörung meist als Abweichung jenseits der 1,5- bis 2-Sigma-Grenze definiert. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der klinischen Psychologie des Kindesalters werden zwei Gruppen von Entwicklungsstörungen unterschieden: 1. Tiefgreifende Entwicklungsstörungen und 2. umschriebene Entwicklungsstörungen. Darüber hinaus ist natürlich die Entwicklungsdimension auch bei verschiedenen anderen Störungen von Bedeutung.
20.1.1
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
Definition Unter der Bezeichnung »tiefgreifende Entwicklungsstörungen« wird nach den beiden gängigen Klassifikationssystemen (ICD-10 und DSM-IV) eine Gruppe von Störungen zusammengefasst, die durch zwei Merkmale gekennzeichnet sind: 4 durch qualitative Beeinträchtigungen in gegenseitigen Interaktionen und Kommunikationsmustern und 4 durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten.
Nach der ICD-10 sind die qualitativen Abweichungen ein grundlegendes Funktionsmerkmal der betroffenen Person und zeigen sich in allen Situationen; sie variieren jedoch im Ausprägungsgrad. Charakteristisch ist weiterhin, dass die Störungen von frühester Kindheit an bestehen und sich mit wenigen Ausnahmen in den ersten fünf Lebensjahren manifestieren. Eine kognitive Beeinträchtigung ist bei den meisten dieser Störungen vorhanden, sie sind jedoch über Verhaltensmerkmale und nicht über kognitive Merkmale definiert. Einige tiefgreifende Entwicklungsstörungen sind überzufällig häufig mit anderen, das Zentralnervensystem affizierenden, Erkrankungen assoziiert. Dies ist für die neuropsychologische Befunderhebung von großer
401 20.1 · Was sind Entwicklungsstörungen?
Bedeutung, weil die komorbide Erkrankung als solche Funktionsausfälle oder -störungen implizieren kann, die unabhängig von der jeweiligen tiefgreifenden Entwicklungsstörung zu sehen sind, aber die neuropsychologische Befunderhebung komplizieren. Dies ist z. B. beim frühkindlichen Autismus der Fall, der in etwa 25% der Fälle mit einer Epilepsie einhergeht (Volkmar u. Nelson 1990), und in 5–48% der Fälle mit Chromosomenstörungen assoziiert ist (Lauritsen u. Ewald 2001). Die wichtigsten tiefgreifenden Entwicklungsstörungen nach ICD-10 sind: 4 der frühkindliche Autismus (F84.0), 4 der atypische Autismus (F84.1), 4 das Rett-Syndrom (F84.2), 4 andere desintegrative Störungen des Kindesalters (F84.3) und 4 das Asperger-Syndrom (F84.5). In diesem Beitrag gehen die Autoren jedoch nur auf den frühkindlichen Autismus und das AspergerSyndrom ein. Unter Autismus-Spektrum-Störungen werden insbesondere der frühkindliche Autismus, das Asperger-Syndrom und der atypische Autismus zusammengefasst. In einer weiteren Definition werden auch noch das Rett-Syndrom und die desintegrative Störung des Kindesalters unter dem Begriff subsumiert. Bei diesem Konzept wird davon ausgegangen, dass verschiedene autistische Störungen sich nicht kategorial voneinander unterscheiden lassen, sondern auf einer Dimension anzuordnen sind. D. h. sie unterscheiden sich lediglich quantitativ, nicht jedoch qualitativ voneinander. Der Begriff Autismus-Spektrum-Störung bezeichnet demnach eine bestimmte Auffassung zur Ätiologie autistischer Störungen, wonach sich diese auf einem kontinuierlichen Spektrum mit fließenden Übergängen bewegen und häufig nicht als eigene Entitäten von einander abgegrenzt werden können. Ein wesentliches Charakteristikum der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen besteht auch darin, dass sie sich nicht zurückbilden, sondern sich ins Erwachsenenalter fortsetzen und durch therapeutische Interventionen zwar bedeutsam verbessert, nicht aber geheilt werden können.
20.1.2
20
Umschriebene Entwicklungsstörungen
Definition Umschriebene Entwicklungsstörungen sind nach ICD-10 durch 3 übergeordnete Merkmale gekennzeichnet: 1. Sie beginnen ausnahmslos im Kleinkindalter oder in der Kindheit. 2. Sie äußern sich in einer Einschränkung oder Verzögerung bzgl. der Entwicklung von Funktionen, die eng mit der biologischen Reifung des Zentralnervensystems assoziiert sind. 3. Sie zeigen einen stetigen Verlauf ohne Remissionen oder Rezidive, wie sie für viele andere psychische Störungen charakteristisch sind. Sie werden eingeteilt nach den betroffenen Funktionsbereichen: Sprechen und Sprache, Motorik, Lesen und Schreiben und Rechnen. Dementsprechend unterscheidet man 4 umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (F80), wozu die expressive Sprachstörung, die rezeptive Sprachstörung und das LandauKleffner-Syndrom gehören; 4 umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F81), wozu die Lese-Rechtschreib-Störung, die isolierte Rechtschreibstörung und die Rechenstörung gehören; 4 umschriebene Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen (F82) und kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen (F83).
Beispielhaft für die umschriebenen Entwicklungsstörungen werden die Lese-Rechtschreib-Störung und die Rechenstörung in einem eigenen Kapitel abgehandelt (vgl. 7 Kap. 21 »Neuropsychologie von umschriebenen Entwicklungsstörungen« von SchulteKörne und Remschmidt, in diesem Band).
402
20.1.3
Kapitel 20 · Neuropsychologie von tiefgreifenden Entwicklungsstörungen
Bedeutung der Entwicklungsdimension bei anderen Störungen
Die hier beschriebene Einteilung in tiefgreifende und umschriebene Entwicklungsstörungen bedeutet natürlich nicht, dass die Entwicklungsdimension nicht auch bei anderen psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters eine bedeutsame Rolle spielt. Vielmehr lassen sich im Rahmen einer entwicklungs- und verlaufsorientierten Klassifikation (Remschmidt u. Schmidt 2000) 6 Störungsgruppen unterscheiden, wobei bei allen Entwicklungsvorgänge von Bedeutung sind, auch wenn sie nicht den Kernbestandteil der jeweiligen Störungsgruppe ausmachen. Diese 6 Gruppen sind: 1. Verhaltensvarianten und Belastungsreaktionen (z. B. posttraumatische Belastungsstörung oder Anpassungsreaktion), 2. früh beginnende Störungen mit überdauernder Beeinträchtigung (hierzu gehören auch die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen), 3. entwicklungsabhängige Störungen (z. B. Enuresis, Enkopresis, Pavor nocturnus, Somnambulismus), 4. altersspezifisch beginnende Störungen (z. B. Ticstörungen und Tourette-Syndrom, Mutismus, Essstörungen), 5. entwicklungsabhängige Interaktionsstörungen (z. B. Schlafstörungen, Fütterstörungen, Trennungsangst, Geschwisterrivalität) und 6. früh beginnende erwachsenentypische Störungen (z. B. Zwangsstörungen, affektive Störungen, Persönlichkeitsstörungen).
20
Im Folgenden beschränken die Autoren sich auf jene zwei Gruppen von Störungsmustern, in denen Entwicklungsabweichungen den Kern des Syndroms konstituieren und die betroffenen Kinder entweder umfassend und nachhaltig (tiefgreifende Entwicklungsstörungen) oder punktuell, aber ebenfalls mit hoher Persistenz (umschriebene Entwicklungsstörungen, vgl. 7 Kap. 21 »Neuropsychologie von umschriebenen Entwicklungsstörungen« von Schulte-Körne und Remschmidt, in diesem Band) beeinträchtigen.
20.2
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
20.2.1
Frühkindlicher Autismus
Zuverlässige neuropsychologische Untersuchungen zum frühkindlichen Autismus, der in einer Häufigkeit von ca. 10–18 Fällen auf 10.000 Kinder und Jugendliche vorkommt, wobei ein Verhältnis von Jungen zu Mädchen von 3,7:1 besteht (Fombonne 2003, 2005, Volkmar et al. 2004), waren erst Ende der 1980er-Jahre möglich, als sich eine einheitliche Diagnostik nach ICD und DSM durchgesetzt hatte. Eine der ersten Untersuchungen dieser Art an 10 autistischen jungen Männern mit Intelligenz im Normalbereich arbeitete das charakteristische neuropsychologische Profil des frühkindlichen Autismus heraus. Es ist gekennzeichnet durch folgende Auffälligkeiten (Rumsey u. Hamburger 1988): 4 Defizite in der Fähigkeit zur Abstraktion und des konzeptuellen Denkens, 4 reduzierte Sprach- und Gedächtnisfunktionen und 4 intakte räumlich-visuelle Wahrnehmung sowie intakte motorische Funktionen. Dieses Profil wurde in den Folgejahren durch zahlreiche Untersucher einerseits bestätigt und andererseits erweitert und ergänzt. Minshew et al. (1997) konnten an einer Studie an 33 autistischen Patienten ein generalisiertes Defizit in der Verarbeitung komplexer Informationen feststellen. Im Einzelnen zeigten sich in dieser Stichprobe folgende Auffälligkeiten: Während die Informationsverarbeitung bei einfachen Aufgaben sowohl in der visuellen als auch in der auditorischen Modalität normal verlief, ergaben sich erhebliche Defizite bei komplexen Aufgaben, die einen Wechsel von der einen in die andere Modalität verlangten. Diese Defizite lassen sich nach diesen Autoren interpretieren als Schwierigkeiten im Hinblick auf die kognitive Flexibilität sowie auf die Entwicklung von Konzepten. Gleiches zeigte sich bzgl. komplexerer Sprachanforderungen, Gedächtnisleistungen und komplexer motorischer Fähigkeiten. Dies war insbesondere dann festzustellen, wenn entweder Aufgaben in mehreren Bereichen simultan oder sukzessive zu lösen waren, während jede Funktion einzeln für sich getestet intakt
403 20.2 · Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
erschien. In einer neueren Untersuchung (Williams et al. 2006) kam man zu ähnlichen Ergebnissen. Danach handelt es sich beim frühkindlichen Autismus nicht um ein allgemeines Defizitsyndrom, wie es für geistige Behinderungen typisch ist, sondern um generalisierte Defizite in komplexen Funktionen, die als gestörte Informationsverarbeitung aufgefasst werden können. Dieses Ergebnis stimmt auch mit den Resultaten neurophysiologischer Untersuchungen, z. B. mithilfe der ereigniskorrelierten Potenziale, überein, die im ersten Teil unauffällig erscheinen, während die späten Potenziale, die ebenfalls komplexe Informationsverarbeitungsprozesse abbilden, verzögert sind. Diese generalisierte Störung komplexer Informationsverarbeitungsprozesse hat zu umfangreichen Theorienbildungen geführt, auf die später eingegangen wird. Zunächst werden einige wichtige neuropsychologische Ergebnisse zu einzelnen Funktionsbereichen abgehandelt, die an den erwähnten Prozessen beteiligt sind.
20
sie normale oder sogar gesunden Kindern überlegene Fähigkeiten in der Bearbeitung einfacher visueller und anderer Aufgaben, die den konkreten Umgang mit Materialien beinhalten. Ihre besonderen Fähigkeiten in der visuell-räumlichen Informationsverarbeitung, der Auge-Hand-Koordination und der Erkennung von Details wurden in mehreren Studien nachgewiesen (Minshew et al. 1997b). Dieses kognitive Profil drückt sich in Testverfahren, die sowohl sprachliche als auch nichtsprachliche Fähigkeiten prüfen (z. B. in den Wechsler-Skalen) in einem charakteristischen Profil aus, das dadurch gekennzeichnet ist, dass die Patienten bessere Leistungen im Handlungsteil und deutlich schlechtere Leistungen im Verbalteil aufweisen. Dies ist auch ein Gegensatz zum Asperger-Syndrom, bei dem ein umgekehrtes Profil gefunden wird: deutlich höhere Leistungen im sprachlichen Bereich und niedrigere Leistungen im Handlungsbereich (Klin et al. 1995). Aufmerksamkeit Auch hinsichtlich der Aufmerk-
20.2.2
Neuropsychologische Auffälligkeiten
Intelligenz Die große Mehrzahl von Kindern mit
frühkindlichem Autismus bewegt sich hinsichtlich ihrer intellektuellen Funktionen im Bereich der Intelligenzminderung (Intelligenzquotient, IQ, HIQ HFA: VIQ50 Lebensjahre) und Diagnosegruppe (nach ICD-10; Internationale Klassifikation psychischer Störungen; Dilling et al. 2000) ebenfalls 5-fach gestuft (in: F0, F1, F2, F3 und als Sammelkategorie F4–F9), wurden die Effekte des Alters und der Diagnosegruppe berechneten auf a) den Deckeneffektanteil bei der ersten Aufgabenbearbeitung und b) die Leistungsverbesserungen in der 2. Bearbeitung in den einzelnen Funktionsbereichen des Trainings.
24
Allgemein sollte hinsichtlich des Alters vermutet werden, dass ältere stärker als jüngere Trainingsteilnehmer Eingangsdefizite in vielen kognitiven Funktionsbereichen aufweisen. Zu Beginn des PC-gestützten kognitiven Trainings sollte entsprechend der Anteil von Deckeneffekten bei den Einzelaufgaben in den verschiedenen Funktionsbereichen bei älteren gegenüber jüngeren Trainingsteilnehmern insgesamt schwächer ausgeprägt sein. Für alle Funktionsbereiche (Konzentration, Reaktion, Verarbeitung komplexen Materials, Gedächtnis, Rechnen, Logik und sprachliche Aufgaben) zusammengenommen, zeigt sich in der Tat ein Alterseffekt [F(4,2689)= 27,34; p=0,001] in der erwarteten Richtung. Jedoch nicht jeder Funktionsbereich ist durch einen vergleichsweise geringen Deckeneffektanteil der älteren Teilnehmer gekennzeichnet: Im Bereich Rechnen zeigen ältere Teilnehmer im Trend [F(4,1546)=2,35; p=0,052] sogar einen höheren Anteil an Deckeneffekten als die jüngeren. Keinen Alterseffekt weist der Bereich Sprache auf. Bezüglich des Trainingsfortschritts zeigt sich ebenfalls ein globaler Alterseffekt [F(4,2293)= 7,26; p=0,001]. Die generell geringeren Leistungsverbesserungen bei älteren Teilnehmern lassen sich jedoch nicht in den Bereichen Rechnen und Sprache finden. Im Gegensatz zum allgemeinen Profil der Deckeneffektanteile, das sich bis auf die beschriebenen Ausnahmen, durch einen kontinuierlichen Abfall über die Altersklassen auszeichnet, wird das Muster der reduzierten Zuwachsraten bei älteren Menschen maßgeblich durch die Altersklasse der über 50-Jährigen bestimmt. Offensichtlich profitiert diese Altersgruppe am geringsten vom derzeitigen Aufgabenangebot. Die bisherigen Optimierungsbemühungen fortsetzend, ist für Patienten, die das 50. Lebensjahr überschritten haben, an eine weitere Modifikation des Aufgabenbestandes in Richtung einer Vereinfachung der Trainingsvorgaben zur Erhöhung der Übungszuwächse zu denken. Einfluss der Diagnose auf die Trainingsleistung.
Ein ähnliches Muster zeichnet sich für den Einfluss der Diagnosegruppe ab. Allgemein unterscheiden sich die Patienten der unterschiedlichen Diagnosegruppen (nach ICD-10: F0, F1, F2 und F3) im Ausmaß des Deckeneffektanteils in der ersten Aufgabenbearbeitung [F(4,2689)= 11,07; p=0,001]. Über
508
24
Kapitel 24 · Neuropsychologische Therapie psychischer Störungen
alle Funktionsbereiche hinweg zeigen meist schizophren Erkrankte (F2) das geringste Ausmaß an Deckeneffekten, d. h. die relativ größten Defizite zu Beginn des Trainings. Nur in den Bereichen Logik und Sprache finden sich keine Leistungsunterschiede hinsichtlich des Deckeneffektanteils zwischen den Diagnosegruppen. Interessanterweise bleibt das diagnosespezifische Leistungsmuster nicht bei den Übungsfortschritten bestehen. Nur für die eher elementaren Bereiche Konzentration [F(4,2253)=2,39; p=0,048], Verarbeitung [F(4,1728)=2,81; p=0,024] und im Trend für den Bereich Gedächtnis [F(4,1540)=2,24; p=0,063] lassen sich Unterschiede im Trainingsfortschritt zwischen den Diagnosegruppen finden. Für die Mehrzahl der Funktionsbereiche einschließlich jener mit komplexeren Verarbeitungsprozessen (Rechnen, Logik, Sprache) zeigt sich, dass die unterschiedlichen Diagnosegruppen, somit auch schizophrene Patienten, gleichermaßen von den Trainingsvorgaben profitieren. Dieser Befund untermauert die sinnvolle Ausrichtung des PC-gestützten Trainings an neurokognitiven Funktionsdefiziten statt an spezifischen Diagnosen der psychisch gestörten Patienten. Wirksamkeitsnachweis. Lassen sich die dargestell-
ten Entwicklungsschritte und Evaluierungsmaßnahmen im Wesentlichen unter dem Aspekt der internen Validierung eines neurokognitiven Leistungstrainings einordnen, muss der Wirksamkeitsnachweis neurokognitiver Interventionen über die Trainingsmaßnahme hinaus geführt werden. Deren Wirksamkeit sollte sich in Generalisierungseffekten niederschlagen – sowohl in horizontaler Richtung, d. h. hinsichtlich des Nachweises von Trainingseffekten in externen Leistungsmaßen als auch in vertikaler Richtung, d. h. hinsichtlich der Verbesserung des Funktionsniveaus der Patienten v. a. im Alltagsbereich. Mit dieser Thematik beschäftigt sich das letzte Kapitel dieses Beitrags.
24.3
Wirksamkeit neurokognitiver Trainingsmaßnahmen
Trotz der steigenden Anzahl von Anwendern gerade PC-gestützter Trainingsmaßnahmen ist die Anzahl kontrollierter Studien zur Wirksamkeit
spezifischer Trainingsmaßen ausgesprochen gering. Die Mehrzahl der publizierten Arbeiten in diesem Bereich geht der Frage zur prinzipiellen Trainierbarkeit (»feasibility«) defizitärer kognitiver Funktionen bei meist schizophren Erkrankten nach (horizontale Generalisierung). Drastisch unterrepräsentiert sind Untersuchungen zu den Wirkeffekten auf neuronale Mechanismen, die Psychopathologie und die Alltagsfunktionalität der Patienten (vertikale Generalisierung).
24.3.1
Horizontale Generalisierungseffekte
In . Tab. 24.2 sind Untersuchungen zur Modifizierbarkeit bzw. Trainierbarkeit defizitärer kognitiver Funktionen bei schizophren Erkrankten in den Bereichen Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Konzentration, Gedächtnis sowie der exekutiven Funktionen zusammengefasst dargestellt. Wahrnehmungstraining bei schizophren Erkrankten. Für den Nutzen kognitiver Trainingsmaßnah-
men ist die Möglichkeit der Veränderung neurokognitiver Dysfunktionen, die gleichzeitig Vulnerabilitätsindikatoren einer psychischen Erkrankung darstellen, von herausragender Bedeutung. Für den Bereich früher Wahrnehmungsprozesse untersuchten Kern et al. (1995) die Auswirkung von Instruktion und Belohnung auf die Leistung im »Span of Apprehension Test« (SAT) bei chronisch Schizophrenen. In einem experimentellen Design sollten differenzielle Lernbedingungen zu Leistungsunterschieden in diesem elementaren Wahrnehmungsmaß führen. Dazu verglichen die Autoren an 40 chronisch schizophren Erkrankten 4 Untersuchungsbedingungen: 4 Bedingung A: Neben der wiederholten Standardvorgabe des Verfahrens in 4 Sitzungen, die als Kontrollbedingung galt, wurde 4 Bedingung B: eine Sitzung rein monetärer Verstärkung und 4 Bedingung C: eine Sitzung mit spezifischen Instruktionen sowie 4 Bedingung D: eine Sitzung eingeführt, worin die Patienten sowohl genaue Instruktionen als auch Belohnungen für richtiges Reagieren erhielten.
Suslow u. Arolt 1998
Medalia et al. 1998
Wexler et al. 1997
KG: Standardbehandlung (14 Scz) 3 Wochen mit insges. 12 Sitzungen
EG: Aufmerksamkeitstraining mit COGNITION-1 (14 Scz)
KG: Dokumentarfilme (27 Scz) 6 Wochen/3 Sitzungen pro Woche à 20 min
EG: ORM-Trainingsprogramm (27 Scz)
»Span of Apprehension Test«
Ja
»Continuous Performance Test«
»Continuous Performance Test« (% korrekte Detektionen)
EG(post)=KG(post)
EG(post)=KG(post)
EG>KG
FMA
KG: Trainingsaufgaben wie EG1+2, 1 Sitzung (5 NK) 10 Wochen Ja
Normalisierung bei 14 von 22 Scz
EG1: Visueller Wort Test (VWT); Feinmotor. Aufgabe (FMA) (11 Scz)
PLA
EG=KG
EG=KG EG=KG
EG=KG
EG2: Punktlokalisationsaufgabe (PLA); Feinmotor. Aufgabe (FMA) (11 Scz)
Stroop-Test »Search a Word Test« Durchstreichtest (Buchstaben)
»Trail Making Test«
EG>KG
EG>KG
D>(A, B, C)
Hauptergebnisse
Normalisierung bei 6 von 11 Scz
Ja
Ja
»Cue Recognition Test«
»Social Cue Recognition Test«
»Span of Apprehension Test« (% Richtige)
Abhängige Variablen
VWT
KG: Computerspiele (10 Scz)
EG: Aufmerksamkeitstraining (10 Scz)
Nein
Nein
PC-Training -
509
6
KG: Vigilanztraining (20 Scz)
Corrigan et al. 1995
Field et al. 1997
Bedingung A: Wiederholte Testung (10 Scz) Bedingung B: Monetäre Verstärkung (10 Scz) Bedingung C: Genaue Instruktion (10 Scz) Bedingung D: Bedingung B + Bedingung C (10 Scz)
Kern et al. 1995
Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Konzentration
EG: Vigilanz- + Gedächtnistraining (20 Scz) 40 Sitzungen á 1 h
Prozedere (Anzahl der Patienten) Dauer
Studie
Funktionsbereich
. Tab. 24.2. Studien (ab 1995, selektiv) zur Trainierbarkeit (»feasibility«) kognitiver Funktionsdefizite bei schizophren Erkrankten
24.3 · Wirksamkeit neurokognitiver Trainingsmaßnahmen
24
Exekutive Funktionen
O’Carroll et al. 1999
Lernen, Gedächtnis
Wiedl et al. 1999
Rossell u. David 1997
Nisbet et al. 1996
Young u. Freyslinger 1995
Medalia et al. 2000
Studie
24.2 (Fortsetzung)
EG1 – EG3: jeweils Trial-by-trial-Instruktion
EG3: Nichtlerner (13 Scz)
EG2: Lerner (22 Scz)
EG1: Durchgehend Leistungsstarke (21 Scz)
KG: WCST Modifikationen [Mod. 1–8] (24 NK)
EG: WCST Modifikationen [Mod. 1–8] (24 Scz)
KG: Standardvorgabe (9 Scz)
EG: Instruktionstraining und Rückmeldung (10 Scz)
KG: »Didactic Instruction« (14 Scz) 3 Sitzungen à 15 min
EG: »Scaffolded-Instruction« (14 Scz)
KG: Standardbehandlung (18 Scz) 5 Wochen/2 Sitzungen pro Woche à 25 min
EG2: Problemlösetraining mit Strategiespiel (18 Scz)
EG1: Gedächtnistraining mit »Memory Package« (18 Scz)
KG: »Trail and Error Learning« (41 Scz; 20 NK)
EG: »Errorless Learning« (41 Scz; 20 NK)
Prozedere (Anzahl der Patienten) Dauer
Nein
Nein
Nein
Nein
Ja
Nein
PC-Training -
EG1/EG2>EG3 EG1/EG2>EG3
Auditiv-Verbaler-Lerntest
Verbesserung Mod. 1, 2, 3 (u. 5 bei Scz)
Verbesserung in Mod. 2 (bei Scz)
EG>KG
WCST-Richtige Antworten
WCST-Kategorien
WCST-Pers. Fehler
WCST-Kategorien
EGKG EG>KG
WCST-Kategorien »Short Category Test« WCST-Pers. Fehler
EG=KG
EG1=EG2=KG
EG1=EG2=KG
EG>KG
Hauptergebnisse
WCST-perseverative Fehler
CVLT (IFR List A)
WCST-(LM-I)
WordvervollständigungsAufgabe
Abhängige Variablen
24
Funktionsbereich
.
510 Kapitel 24 · Neuropsychologische Therapie psychischer Störungen
Kurtz et al. 2007
Fiszdon et al. 2006
Sartory et al. 2005
Vauth et al. 2001
KG: PC-Training (19 Scz/Scza) 12 Monate (100 h)
EG: Kognitives Training (23 Scz/Scza)
KG: Arbeitstherapie (80 Scz/Scza) 6 Monate/5 Stunden pro Woche
EG: Kognitives Training (NET) u. Arbeitstherapie(72 Scz/Scza)
KG: Standardbehandlung (21 Scz) 3 Wochen/15 Sitzungen (45 min)
EG: Kognitives Training (COGPACK; 21 Scz)
KG: Arbeitstraining (23 Scz) 8 Wochen/16 Doppelstunden
EG: Kognitives Strategietraining (26 Scz)
Ja
Ja
Ja
Ja
Arbeitsgedächtnis Verbales episodisches Gedächtnis Räumliches episodisches Gedächtnis Verarbeitsgeschwindigkeit Exekutive Funktionen
EG/KG: post > prä; EG>KG EG/KG: post > prä EG/KG: post > prä EG/KG: post > prä EG/KG: post > prä
Global: EG>KG Subgruppe IQ = 79: tendenzielle Verbesserungen in (c), (d) Subgruppe IQ = 87: Verbesserungen in (a), (b), tendenziell in (d) Subgruppe IQ = 102: Verbesserungen in (b), (d)
EG=KG
»Zahlen-Symbol-Test« Wortflüssigkeit »Trail Making Test (B)« (a) Exekutive Funktionen (WCST) (b) Arbeitsgedächtnis (WAIS III »digit forward/bachward« etc.) (c) Desorganisation (WMS LM-I etc.) (d) Visuelles u. Verbales Gedächtnis (WMS (FM) etc.)
EG>KG EG>KG EG>KG
EG>KG EG>KG
EG>KG
WMS (LM)
Test d2 »Trail Making Test«
RAVLT
CVLT (IFR List A) »California Verbal Learning Test (Immediate Free Recall Liste A)«, EG Experimentalgruppe, KG Kontrollgruppe, NK Normale (gesunde) Kontrollprobanden, NET Neurocognitive Enhancement Therapy, ORM »Orientation Remedial Modul« (Ben-Yishay et al. 1987), post/prä Post/Prätestung, RAVLT »Rey Auditory Verbal Learning Test«, Scz Schizophrene Patienten, Scza Schizoaffektive Patienten, WAIS III »Wechsler Adult Intelligence Scale III«, WCST »Wisconsin Card Sorting Test«, WMS (FM) »Wechsler Memory Scale (Figural Memory) «, WMS (LM-I) »Wechsler Memory Scale (Logical Memory – Immediate Recall)«.
Multiple Funktionen
24.3 · Wirksamkeit neurokognitiver Trainingsmaßnahmen
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Kapitel 24 · Neuropsychologische Therapie psychischer Störungen
Im Ergebnis zeigt sich, dass kontingente monetäre Belohnung plus spezifische Instruktionen (Bedingung D) allen anderen Interventionen überlegen ist. Noch in einer Follow-up-Untersuchung nach einer Woche konnte dieser Effekt stabil nachgewiesen werden. Als Begründung vermuten die Autoren eine summative Wirkung kognitiver und motivationaler Mechanismen auf frühe Informationsverarbeitungsprozesse. Die Instruktionsvermittlung soll sich dabei in einer Erhöhung der Bereitschaft (»readiness«) und folglich in einer Verbesserung der sensorischen Enkodierungsprozesse niederschlagen. Die durch die Belohnung gehobene Motivationslage führe daneben zu einer verbesserten Zielidentifikation aufgrund der verstärkten Hinwendung der Informationsverarbeitung auf aufgabenrelevante statt -irrelevante Reize. Aufmerksamkeitstraining bei schizophren Erkrankten. Mit einem PC-gestützten Aufmerksam-
keitstraining konnten auch Suslow und Arolt zunächst eine Erhöhung der Trefferraten im SAT bei schizophren Erkrankten bewirken. Dazu stellten die Autoren aus dem Programmpaket COGNITION-1 (von Marker 1992; s. dazu Suslow u. Arolt 1998) ein Trainingsprogramm aus 6 Aufgabenserien mit den Schwerpunkten Aufmerksamkeit und sprachliche Fähigkeiten zusammen. Der Einsatz von Aufgaben aus zwei unterschiedlichen Bereichen sollte zu Abwechslung und somit zur Aufrechterhaltung von Motivation und Interesse führen. Die Trainingsaufgaben wurden wiederholt dann vorgegeben, wenn ein Minimalpunktwert bei der 1. Aufgabenbearbeitung nicht erreicht worden war. Mit zunehmender Trainingsdauer wurde im Sinne eines graduierten Vorgehens die Aufgabenschwierigkeit erhöht. Insgesamt 14 Patienten durchliefen das 3-wöchige Trainingsprogramm mit 4 Sitzungen pro Woche à 45 min. Als Ergebnis konnte eine signifikante Leistungserhöhung innerhalb des Trainings bei 3 von 17 Trainingsaufgaben durch die wiederholte Aufgabenbearbeitung gefunden werden. Verglichen mit der Leistung vor dem Training zeigten die Teilnehmer nach dem Training eine Zunahme der Trefferraten im SAT. Jedoch unterschied sich die Leistung der Trainingsgruppe nicht von einer parallelisierten Vergleichsgruppe schizophrener Patienten, die kein
Aufmerksamkeitstraining erhielten, was den Trainingseffekt zusätzlich relativiert. Trainingseffekte auf die Vigilanzleistung. Als
zweites externes abhängiges Maß wurde von Suslow und Arolt (1998) die Leistung im »Continuous Performance Test« (CPT) erhoben. Durch das Aufmerksamkeitstraining konnten in der Posttestung jedoch keine Leistungsverbesserungen im Sensitivitätsindex des CPT erzielt werden. Dieser Befund steht im Einklang mit älteren Untersuchungen zur Verbesserung von Aufmerksamkeitsmaßen bei schizophren Erkrankten, die wiederholt zwar trainingsinterne Steigerungen aber keine Generalisierung der Effekte auf externe Leistungsmaße finden konnten. Auch Field et al. (1997) fanden nach der Anwendung eines kurzfristigen PC-gestützten Aufmerksamkeitstrainings keine differenziellen Verbesserungen in mehreren abhängigen Maßen (s. . Tab. 21.2) bei ambulant behandelten schizophren Erkrankten (n=10) im Vergleich zu einer Gruppe von Patienten (n=10), die sich für den gleichen Zeitraum mit Computerspielen beschäftigte. Innerhalb der abhängigen Leistungsmaße (s. . Tab. 21.2) zeigten beide Gruppen nur eine Verbesserung in der Konzentrationsleistung (Durchstreichtest). Dagegen fanden Sartory et al. (2005) bei 21 stationären chronisch schizophrenen Patienten im Vergleich zu einer gleich großen Warteliste-Gruppe bedeutsame Verbesserungen (s. . Tab. 21.2) in der Verarbeitungsgeschwindigkeit, dem verbalen Gedächtnis und exekutiven Funktionen nach einem 3-wöchigen PC-gestützten Trainingsprogramm (COGPACK Version 5,9j von Marker und Olbrich 1998). »Orientation Remedial Modul«. Medalia et al. (1998) berichten als Generalisierungseffekt eine Zunahme richtiger Entscheidungen im CPT nach einem 6-wöchigen PC-gestützten Training mit dem »Orientation Remedial Modul« (ORM; von BenYishay et al. 1987, s. dazu Medalia et al. 1998), einem modularen Verfahren, das aus der Rehabilitation hirngeschädigter Patienten stammt. Das ORM trainiert die Aufnahme auditorischer sowie visueller Stimuli und verlangt visuomotorische Reaktionen ab. Im Vergleich zu einer gleich großen Gruppe von 27 Patienten, die für denselben Zeitraum Doku-
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mentarfilme anschauten, zeigte der Prä-post-Vergleich der Leistungsdaten des CPT sowohl eine Zunahme richtiger als auch eine Abnahme falscher Detektionen. Leider bleibt aufgrund der Einschränkung auf den CPT als einziges abhängiges Maß offen, ob Generalisierungseffekte auch in anderen neurokognitiven Aufmerksamkeitsmaßen hätten bewirkt werden können. Jedoch konnten bei der Experimentalgruppe mit einer bedeutsamen Verringung des Globalscores der »Brief Psychiatric Rating Scale« (BPRS; von Overall u. Gorham 1962; s. dazu Medalia et al. 1998) eine allgemeine Verbesserung in der Psychopathologie aufgezeigt werden. Graduiertes Trainingsprocedere bei chronisch Schizophrenen. Das graduierte Trainingsproce-
dere von Wexler et al. (1997) zeigte ebenfalls positive Auswirkungen auf kognitive Maße im Bereich der Perzeption, des Gedächtnisses und der Psychomotorik bei chronisch Schizophrenen. Über eine Gesamtdauer von 10 Wochen wurde hier als Kernelement des Programms zunehmend die Schwierigkeit der Aufgabenbewältigung erhöht. Durch das graduierte Vorgehen sollten implizite Lernprozesse gefördert und diese nicht durch den Einsatz komplizierter Instruktionen in ihrer Wirkung – aufgrund möglicher Interferenzen mit potenziell gestörten sprachbasierten, exekutiven Prozessen – beeinflusst werden. Gleichzeitig dienten leistungsbezogene monetäre Anreize zur Aufrechterhaltung der Motivation. Neben jeweils einer feinmotorischen Aufgabe absolvierten die beiden Übungsgruppen (zu je 11 Patienten) im Training entweder eine visuelle Worterkennungsaufgabe oder eine räumliche Punktlokalisationsaufgabe. Zum Vergleich wurden die 1-maligen Testleistungen von 5 gesunden Kontrollprobanden herangezogen. Sowohl in der visuellen Wortperzeptionsaufgabe als auch in der räumlichen Punktlokalisationsaufgabe gelang jeweils bei 6 von 11 Patienten die Angleichung der Leistung an das Niveau der Gesunden. Gleiches konnte bei 14 von 22 Patienten hinsichtlich der feinmotorischen Leistung beobachtet werden. In einer Follow-upUntersuchung nach 6 Monaten zeigte noch die Hälfte der wieder einbestellten Patienten (n=6; 3 pro Gruppe) eine Aufrechterhaltung des spezifischen Trainingseffekts in der Form, dass die trainierte Aufgabe weiterhin auf dem Niveau Gesunder
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und die bislang nicht trainierte Aufgabe stark unterdurchschnittlich bearbeitet wurde. Training der Wahrnehmung und Einspeicherung sozialer Reize bei schizophren Erkrankten. Die
Verbesserung der Wahrnehmung und Einspeicherung sozialer Reize bei schizophren Erkrankten untersuchten Corrigan et al. (1995). Ein Training sowohl der Vigilanz- als auch der Gedächtnisleistung sollte gegenüber einem reinen Vigilanztraining eine Verbesserung des (Wieder-)Erkennens sozialer Reize bewirken. Als Trainingsmaterial dienten über 40 Sitzungen hinweg die Videovignetten des »Social Recognition Test« (SCRT; von Corrigan u. Green 1993, s. dazu Corrigan et al. 1995), worin unterschiedlich emotionalisierende soziale Situationen von 2 oder 3 Akteuren dargestellt werden. Das Vigilanztraining bestand vor allem in der Vermittlung von Selbstinstruktionsstrategien, um die Aufmerksamkeitsleistung zu steigern. Neben der Verbesserung der Aufmerksamkeitszuwendung sollte im Vigilanz-plus-Gedächtnis-Training über die Anforderung, das Gesehene in eigene Worte zu fassen, die semantische Elaboration des Videomaterials gefördert werden. Die Ergebnisse zeigen einen deutlichen Vorteil des Vigilanz-plus-Gedächtnis-Trainings auf das Wiedererkennen sozialer Cues. Darüber hinaus berichten Wölwer et al. (2005) über die Wirksamkeit eines spezifischen Trainingsprogramms zur Verbesserung der Affektwahrnehmung (»Training of Affect Recognition«, TAR) bei schizophrenen Patienten. Im Vergleich zu einem kognitiven Remediationsprogramm (n=24) sowie zur psychiatrischen Standardbehandlung (n=25) zeigten die Patienten, die am TAR (n=28) teilnahmen, nach einer 6-wöchigen Trainingsphase (12 Sitzungen á 45 min.) spezifische Verbesserungen in der Wiedererkennung affektiver Gesichtsausdrücke. Dementsprechend scheinen zur Besserung sozial-affektiver Informationsverarbeitungsprozesse spezifische Angebote induziert zu sein, da standardisierte Trainingsmaßnahmen traditionell stärker auf »kalte Kognitionen« ausgerichtet sind. Beeinflussbarkeit von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Fasst man die Ergebnisse der darge-
stellten Studien zur Beeinflussbarkeit der Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsleistung bei schizo-
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Kapitel 24 · Neuropsychologische Therapie psychischer Störungen
phren Erkrankten zusammen, zeigt sich aufgrund der verschiedenen Untersuchungsansätze ebenso heterogene Ergebnisse. Mit rein kognitiv ausgerichteten Trainingsprogrammen scheint eine Beeinflussung elementarer Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsmaße (SAT, CPT) nur bedingt möglich zu sein (Suslow u. Arolt 1998; Field et al. 1997). Dies unterstreicht die wiederholt gefundenen Ergebnisse von Olbrich et al. (Olbrich u. Mussgay 1990), die im Gegensatz zur Verbesserung komplexer kognitiver Maße bei schizophren Erkrankten keine Trainingseffekte in elementaren kognitiven Funktionsmaßen finden können. Jedoch findet die Untersuchung von Sartory et al. (2005) nach einem PC-gestützten Training auch Verbesserungen in der Wahrnehmungsgeschwindigkeit. Medalia et al. (1998) fanden darüber hinaus Generalisierungseffekte eines PC-gestützten Trainings auf die Vigilanzleistung der schizophrenen Teilnehmer. Mit einem graduierten Trainingsansatz gelingt auch Wexler et al. (1997) eine Verbesserung der visuellen und räumlichen Wahrnehmungsleistung. Daneben führt eine Mischung von Instruktions- und Verstärkungsstrategien in der Untersuchung von Kern et al. (1995) zu einer Verbesserung der unmittelbaren Wahrnehmungsspanne. Ebenfalls über einen Instruktionsansatz demonstrieren Corrigan et al. (1995) die Verbesserung der Wahrnehmung sozialer Reize über die Kombination eines Vigilanz- und Gedächtnistrainings. Mittels eines neu entwickelten Affektwahrnehmungstraining gelangen auch Wölwer et al. (2005) die Verbesserung der Affekterkennung bei schizophren Erkrankten. Verbesserung der Gedächtnisleistung bei schizophren Erkrankten. Nur zwei Arbeitsgruppen
machten in jüngster Zeit explizit die Verbesserung der Gedächtnisleistung bei Schizophrenen zum Gegenstand ihrer Untersuchungen. O‘Carroll et al. (1999) nutzten dabei den aktuell einflussreichen Ansatz des »errorless learning« zur Remediation von Gedächtnisdefiziten. »Errorless learning«. Die Lernstrategie des »errorless learning« versucht initiale Fehler in der Akquisition des Lernmaterials, wie sie beim »trail and error learning« immanent sind, zu minimieren. Im Lernprozess wird dazu mit extrem leichtem Übungs-
material begonnen, um sicherzustellen, dass keinerlei Fehler gemacht werden. Graduell wird dann die Aufgabenschwierigkeit erhöht. Theoretisch basiert dieses Vorgehen auf der Annahme, dass im traditionellen Lernen über Versuch und Irrtum Fehler implizit enkodiert werden und so einen adäquaten Gedächtnisabruf stören. > Fallbeispiel Die Autoren untersuchten 2 Gruppen von 41 schizophren Erkrankten und 20 gesunden Kontrollprobanden mit einer Wortvervollständigungsaufgabe, die einmal mit der Methode von Versuch und Irrtum und ein anderes Mal mit den Prinzipien des »errorless learning« trainiert wurde. Zu vervollständigen waren Worte, von denen jeweils nur die ersten zwei Buchstaben vorgegeben wurden. In der Bedingung des Lernens über Versuch und Irrtum waren die Probanden gehalten, die Wortstämme zunächst selbst zu vervollständigen. Wurde das entsprechende Zielwort nicht genannt, korrigierte der Versuchsleiter die Antwort und bat um die Niederschrift des Wortes. In der Bedingung des »errorless learning« nannte der Versuchsleiter gleich das richtige Wort und bat ebenfalls um die Niederschrift des Wortes.
Die Ergebnisse zeigen, dass es sogar für schizophrene Patienten, die unter starken Gedächtnisschwierigkeiten leiden (operationalisiert über den »Rivermead Behavioral Memory Test« von Wilson et al. 1985, s. dazu Lezak 1995), mit der Methode des »errorless learning« möglich ist, zu den Leistungen Gesunder aufzuschließen. Die Gedächtnisleistung von schizophren Erkrankten scheint sich daher deutlich verbessern zu lassen, indem die Abspeicherung möglicher Fehler verhindert wird. Mit Skepsis begegnen die Autoren daher traditionellen kognitiven Lernstrategien, die das »tiefe« Prozessieren von Informationsmaterialien (»effortful processing«) anstreben, da auf diese Weise implizit immer auch Fehler und irrelevante Reize verarbeitet und abgespeichert werden. Vermittlung von Gedächtnis- und Problemlöseprozessen. Gerade die Vermittlung von Gedächt-
nis- und Problemlöseprozessen steht im Mittelpunkt des Trainingsansatzes von Medalia et al. (2000). In dieser Untersuchung arbeitete eine Gruppe schizo-
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phren Erkrankter (n=18) mit dem »Memory Package« (Sunburst Software) zum spezifischen Training von Gedächtnisfunktionen.
(Standardvorgabe ohne Instruktion) beobachten mussten, galten die Minderleistungen im WCST bei Schizophrenen als nicht reduzierbar.
> Fallbeispiel
Verbesserung der WCSTT Leistung. In den 1990er-
Das »Memory Package« bietet mehrere Unterprogramme an, aus denen die Autoren 5 Aufgaben auswählten, die meist den »Recall« von Wörtern oder Objekten zum Gegenstand hatten. Über eine Trainingsdauer von 5 Wochen mit jeweils 2 Sitzungen à 25 min/Tag wurden dabei auch traditionelle Gedächtnistechniken (z. B. Bildung von Akronymen) vermittelt. Eine andere Gruppe Schizophrener (n=18) nahm an einem Problemlösetraining teil. Vom Versuchsleiter unterstützt wurde hierzu ein Softwareprogramm namens »Where in the USA is Carmen Sandiego?« (Broderbund Software) – ein Detektivspiel – eingesetzt. Als Kontrollpersonen wurden 18 schizophren Erkrankte herangezogen, die ausschließlich die klinische Standardbehandlung durchliefen. Obwohl zumindest die Gruppe der Schizophrenen, die das Gedächtnistraining erhielten, sich signifikant von der 1.–5. Woche im Untertest »Logical Memory« (»Immediate Recall«, »Wechsler Memory Scale«, WMS) verbesserten, konnten keine Gruppenunterschiede hinsichtlich differenzieller Zuwachsraten nach Abschluss des Trainings im »California Verbal Learning Test« oder in der WMS gefunden werden.
In dieser Untersuchung zeigt sich möglicherweise auch der kritische Aspekt des Einsatzes handelsüblicher Computerspiele zum Training kognitiver Fähigkeiten, wie hier der Problemlösefähigkeit. Trainierbarkeit exekutiver Funktionsdefizite. Na-
hezu ausschließlich über Instruktions- und Modifikationsansätze in der Anwendung des WCST wird die Trainierbarkeit exekutiver Funktionsdefizite untersucht. Ob schizophrene Patienten das »Card Sorting« lernen können wird seit den 1980er-Jahren kontrovers diskutiert. Ausgehend von Befunden von Weinberger et al. (Goldberg et al. 1987), die über die Vermittlung genauer Instruktionen beim Anlegen jeder einzelnen Karten zwar einen Rückgang der Perseverationsfehler in der Trainingsphase finden konnten, jedoch auch deren Wiederanstieg in einer unmittelbar nachfolgenden Testphase
Jahren konnten dann Bellack et al. (1990) und Green et al. (1992) mit der Aufnahme monetärer Anreize in den Instruktionsansatz von Weinberger eine stabile Verbesserung der WCST-Leistung über die Trainingsphase hinaus bewirken. Jüngere Untersuchungen ergänzen die damaligen Befunde. Nisbet et al. (1996) verdeutlichten dazu in einem Instruktionstraining schizophren Erkrankten (n=10) explizit die Anlegeregeln des Verfahrens und unterstützten diese über Rückmeldungen bei der Verbalisation des Regelgebrauches. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe schizophren Erkrankter (n=9), die das Verfahren in der Standardvorgabe bearbeiteten, konnte bereits nach einer Sitzung unmittelbar ein Rückgang der perseverativen Fehler und eine Zunahme erkannter Kategorienwechsel verzeichnet werden. Dieses Muster blieb in einer Folgemessung unter Standardbedingungen erhalten. Differenzielle Performanzmuster Schizophrener im WCST. Auch Wiedl et al. (1999) verwendeten
intensive Instruktionen in Form einer »Trial-byTrial-Feedback Intervention«. Die Autoren gingen der Frage nach, ob die berichteten Befunde zur Heterogenität der Performanzmuster im WCST bei schizophren Erkrankten sich in einer Klassifikation nach Lernern, Nichtlernern und durchgehend Leistungsstarken replizieren lassen. Vor dem Hintergrund des Konzeptes des dynamischen Testens (von Guthke u. Wiedl 1996, s. dazu Wiedl et al. 1999) sollten maßgeblich interindividuelle Unterschiede in der Trainings-Responsivität die Wirksamkeit von Förderungsmaßnahmen bedingen. Das stärkste Lern- bzw. Rehabilitationspotenzial sollten Personen aufweisen, die als sog. Lerner eingestuft werden können. Der WCST wurde dazu in 3 Blöcken mit je einem Satz von 64 Karten vorgegeben. Zwischen einer Vor- und Nachtestung unter Standardbedingungen erhielten die Teilnehmer (n=56) das spezifische Trainingsprogramm, worin Durchgang für Durchgang die vorher erklärten Sortierregeln angewandt und durchgesprochen wurden. Über die
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Kapitel 24 · Neuropsychologische Therapie psychischer Störungen
Analyse der Testwertveränderungen konnten die Probanden den 3 Lerngruppen zugeordnet werden. Für die Gruppe der durchgehend Leistungsstarken (n=21) war charakteristisch, dass sie in den beiden Standardbedingungen eine konstant hohe Anzahl richtiger Antworten (Deckeneffekte) zeigten und zusätzliche Leistungssteigerungen daher nicht möglich waren. Die Gruppe der Lerner (n=22) verbesserte sich dagegen um mindestens 15 richtige Antworten zwischen Prä- und Posttestung, wohingegen Probanden, die diesen Verbesserungswert nicht erzielen konnten, als Nichtlerner (n=13) eingestuft wurden. In der Nachtestung zeigte sich, dass im Gegensatz zu den Patienten, die als Nichtlerner eingestuft wurden, nur die Gruppe der Lerner zum hohen Niveau der Leistungsstarken aufschließen konnte. Auch zeigte nur diese Gruppe einen Generalisierungseffekt hinsichtlich des Anstiegs der Reproduktionsleistung in einem externen Lernmaß (modifizierte Version des AVLT; Auditiv-verbaler Lerntest von Heubrock 1992, s. dazu Wiedl et al. 1999). »Scaffolded instruction«. Über zahlreiche Modi-
fikationen des WCST konnten auch Rossell und David (1997) differenzielle Leistungsmuster bei schizophren Erkrankten beobachten. Das Verbalisieren des eigenen Verhaltens während der Testung stellte sich dabei als wesentlichste Komponente einer guten WCST-Leistung sowohl für die Gruppe der gesunden (n=24) als auch für die Gruppe der schizophrenen (n=24) Probanden heraus. Von der Bedingung der »scaffolded instruction« profitierten dabei besonders die schizophrenen Patienten mit einer drastischen Erhöhung der erkannten Kategorienwechsel und einer leichten Abnahme der perseverativen Fehler. Als möglichen Wirkmechanismus vermuten die Autoren eine Entlastung des Arbeitsgedächtnisses durch das Verbalisieren des eigenen Verhaltens in der Problemlösesituation. Young u. Freyslinger (1995) untersuchten genauer die Wirkung der »scaffolded instruction« im Vergleich zu einem herkömmlichen Instruktionsansatz, der auf der didaktischen Vermittlung der Anlegeprinzipien des WCST beruht. Ähnlich wie im »errorless learning« zielt auch das »scaffolded instruction« auf die Vermeidung von Fehlern wäh-
rend des Lernens ab. Hierzu wird eine gegebene Problemstellung in möglichst einfache Einzelkomponenten heruntergebrochen. Innerhalb des Lernprozesses unterstützt der Versuchsleiter den Probanden immer an den Stellen, an denen eigenständig noch keine adäquaten Handlungsstrategien generiert und eingesetzt werden können. Wurden schrittweise Teilkompetenzen erworben und können diese angewandt werden, erfolgen keine weiteren Hilfsangebote mehr. In 3 Sitzungen à 15 min wurde auf diese Weise mit einer Gruppe von schizophren Erkrankten (n=14) die Bearbeitung des WCST trainiert. Eine Vergleichsgruppe ebenfalls schizophren Erkrankter (n=14) erhielt ein übliches Instruktionstraining, indem die Prinzipien und das Procedere des WCST vermittelt wurden. Die Ergebnisse zeigen in der Posttestung eine bedeutsame Zunahme der erkannten Kategorienwechsel nur in der Gruppe, die mittels der »scaffolded instruction« trainiert wurde, sowie eine Abnahme der perseverativen Fehler in beiden Gruppen. Dieses Ergebnismuster konnte noch nach 4 Wochen in einer Posttestung repliziert werden. Zusätzlich konnten Generalisierungseffekte der »scaffolded instruction« auf die Leistung im Short Category Test (SCT von Wetzell u. Boll 1987; s. dazu Young u. Freyslinger 1995) einem Verfahren, das ebenfalls Kategorisierungsleistungen abverlangt, gefunden werden. Training kognitiver Strategien. Übereinstimmend
belegen diese jüngeren Arbeiten die prinzipielle Modifizierbarkeit der Leistung im WCST bei schizophren Erkrankten mittels unterschiedlich elaborierter Instruktions-, Lern- oder Modifikationsansätze. Die durchgängige Fokussierung der Trainingsmaßnahmen auf die Vermittlung der Testprinzipien eines, wenn auch zentralen, neuropsychologischen Messinstruments (WCST) bedürfen jedoch der Ergänzung durch die Ergebnisse bei anderen exekutiven Funktionen. Vauth et al. (2001) evaluierten dazu ein kognitives Strategietraining in der ambulanten beruflichen Rehabilitation Schizophrener, das in Form eines Gruppenprogramms à 6–8 Patienten über 8 Wochen in 16 Doppelstunden angeboten wurde. Als Grundpfeiler des Programms stellen die Autoren 3 Aspekte heraus:
517 24.3 · Wirksamkeit neurokognitiver Trainingsmaßnahmen
1. Das Trainingsprogramm bezieht sich auf mehrere ausgewählte kognitive Zielbereiche: Aufmerksamkeit, verbale Merk- und Lernfähigkeit sowie exekutive Funktionen. 2. Einen kompensatorischen Ansatz verfolgend wird nicht primär die Reautomatisierung von kognitiven Teilfunktionen angestrebt, sondern es sollen kognitive Bewältigungsstrategien optimiert werden. 3. Die Maßnahmen zum Strategieaufbau basieren dabei auf dem ACT-(»Atomic Components of Thought-«)Modell von Anderson, worin eine deklarative Phase der Vermittlung von Teilschritten einer Strategie von einer prozeduralen Phase, die sich durch die automatisierte Anwendung einer Strategie auszeichnet, unterschieden wird. Die Automatisierungsprozesse sollten über die repetitive Bearbeitung strategiesensitiver Teilaufgaben f des Programmpakets COGPACK (Marker 1995) gefördert werden. Daneben sollte sich über die Anwendung der gelernten Strategien im Alltagskontext die Generalisierung und Differenzierung der Strategien ausbilden. In dieser »tuning phase« dient der Therapeut zunächst als Modell für die optimale Anwendung einer Strategie nach der Methode des »errorless learning«, bis er schließlich nur noch Hilfestellungen beim Strategieeinsatz gibt (»scaffolding«). Gegenüber einer Kontrollgruppe von Patienten (n=23), die nur am Arbeitstraining teilnahmen, wurden die Effekte des kognitiven Strategietrainings (n=26 Patienten) auf Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- und exekutive Funktionsmaße geprüft. In der erwarteten Richtung zeigten sich differenzielle Leistungssteigerungen der Teilnehmer des kognitiven Strategietrainings in allen 3 Bereichen, wobei gemessen am hohen konzeptuellen Anspruch der Studie die Einschränkung auf nur wenige Erfolgsmaße überrascht. Als Maß der verbalen Merkfähigkeit zeigte sich in der verzögerten Wiedergabe des »Rey Auditory Verbal Learning-Tests« (RAVLT) mit einer Effektstärke von d=1,1 ein deutlicher Leistungszuwachs. Mit d=0,94 konnte ein gleich hoher Effekt auf die Aufmerksamkeitsleistung im Test d2 verzeichnet werden. Eine mittlere Effektstärke von d=0,50 zeigte sich im »Trail Making Test (B–A)« für den Bereich exekutiver Funktionen. Auch ließen sich unspezifische Effekte hinsichtlich der Vermin-
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derung der Psychopathologie (PANSS, »Global Score und Positivsymptom-Score«) finden. Obwohl umfangreiche Trainingsstudien, mit Ausnahme der Untersuchung von Vauth et al. (2001), zur Bewertung der Wirksamkeit kognitiver Remediationsmaßnahmen bislang nicht herangezogen werden können, lässt sich aus den dargestellten Arbeiten mindestens die potenzielle Reduzierbarkeit zentraler kognitiver Funktionseinschränkungen bei schizophren Erkrankten, für die vielfältige kognitive Dysfunktionen charakteristisch sind, ableiten. In diesem Zusammenhang gingen für PC-gestützte Trainingsmaßnahmen Kurtz et al. (2007) der Frage nach, ob nicht die unspezifische Arbeit an einem PC (sowie die Interaktion mit dem Trainingsleiter) bereits bedeutsame Leistungsverbesserungen hervorbringen kann. Dazu wurden 42 Patienten mit einer schizophrenen oder schizoaffektiven Störung für 12 Monate randomisiert entweder einem standardisierten PC-gestützten kognitiven Training oder einer Computertrainingsgruppe zugewiesen. Interessanterweise zeigten beide Gruppen nach Abschluss des jeweiligen Trainings bedeutsame Verbesserungen in den Bereichen Arbeitsgedächtnis, verbales und räumliches episodisches Gedächtnis, Verarbeitungsgeschwindigkeit und exekutive Funktionen. Die kognitive Trainingsgruppe zeigte ausschließlich in den Arbeitsgedächtnismaßen einen inkrementellen Leistungsanstieg (s. . Tab. 21.2). Entsprechend schlussfolgern Kurtz et al., dass bestimmte Trainingsmaßnahmen spezifische neurokognitive Defizite reduzieren, jedoch unspezifische Effekte während der Arbeit an einem PC bereits zu unspezifischen kognitiven Leistungsverbesserungen führen können.
24.3.2
Vertikale Generalisierungseffekte
Die Relevanz neurokognitiver Funktionsdefizite für die Alltagsbewältigung schizophren Erkrankter ist in zahlreichen Studien nachgewiesen. Jedoch untersuchen nur wenige Arbeitsgruppen die Auswirkung von Remediationsmaßnahmen auf das alltägliche soziale Funktionsniveau der Patienten. In einer Übersichtsarbeit findet Green (1996) für die Gruppe schizophren Erkrankter deutliche
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Kapitel 24 · Neuropsychologische Therapie psychischer Störungen
Zusammenhänge zwischen sozialen Outcome-Maßen und neurokognitiven Einschränkungen speziell in den Bereichen Vigilanz, Gedächtnis und exekutiver Funktionen. Das soziale und berufliche Funktionsniveau (»community outcome«) der Erkrankten wird danach maßgeblich durch Minderleistungen im verbalen Langzeitgedächtnis (und weniger des Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnisses) sowie durch dysfunktionale exekutive Prozesse bestimmt. Als stabilste Prädiktoren der sozialen Problemlösekompetenz (»social problem solving«) erweisen sich ebenfalls Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsmaße (Vigilanz). Der Erwerb bzw. die (Wieder-) Aneignung sozialer Fähigkeiten (»social skill acquisition«) steht dabei in konsistentem Zusammenhang mit Maßen sowohl des Langzeit- und des Arbeitsgedächtnisses als auch der Vigilanzleistung. »The δ-Question«. Auf der Grundlage der empiri-
schen Zusammenhänge zwischen neurokognitivem Leistungsvermögen und funktionellen OutcomeMaßen bezeichnen Green und Nuechterlein (1999) die Schlüsselfrage nach dem Zusammenhang zwischen den Veränderungen neurokognitiver Maße und den Veränderungen in funktionellen OutcomeMaßen als »The δ -Question« (S. 316). Vorläufige Evidenz für einen Zusammenhang zwischen der Verbesserung neurokognitiver Funktionen und den Verbesserungen im sozialen Funktionsniveau schizophrener Patienten kann aus jüngeren Arbeiten von Spaulding et al. und Wykes et al. abgeleitet werden. COGLAB. Spaulding etablierte für den amerika-
nischen Sprachraum mit COGLAB ein umfangreiches Softwareprogramm v. a. zum Assessment neurokognitiver Funktionen (Aufmerksamkeit, Gedächtnis, exekutive Funktionen). In einer Langzeitstudie fanden Spaulding et al. (1993, 1999) bei einer umfangreichen Stichprobe von 110 stabilisierten, aber deutlich eingeschränkten, chronisch schizophren Erkrankten nur geringe bis keine Änderungen im kognitiven Funktionsniveau der Patienten unter der klinischen Standardbehandlung über einen Zeitraum von 6 Monaten hinweg. In einer Nachfolgeuntersuchung (Spaulding et al. 1999) mit einer vergleichbaren Patientengruppe konnten über die Aufnahme psychosozialer Behandlungsmaßnah-
men in 9 von 12 kognitiven Maßen Leistungsverbesserungen bewirkt werden. In erster Linie fanden sich die Verbesserungen in den Bereichen Gedächtnis und exekutive Funktionen. Elementare Funktionsmaße, wie Reaktionsgeschwindigkeit und Vigilanzparameter blieben dagegen unverändert. Zusätzlich wurde die Wirkung kognitiver Therapiekomponenten im Rahmen der Standardbehandlung geprüft. Dazu wurde in einer Behandlungsgruppe, angelehnt an den ersten Unterprogrammen des IPT, ein kognitives Training eingeführt. Im Vergleich zu einer Behandlungsgruppe ohne Training zeigten sich hier differenzielle Verbesserungen im SAT für die Trainingsgruppe und in beiden Gruppen eine Verbesserung der exekutiven Leistung. Hinsichtlich der Generalisierung der Behandlungseffekte auf das soziale Funktionsniveau der Patienten zeigte die kognitive Trainingsgruppe eine Verbesserung der sozialen Kompetenz. Über Pfadanalysen konnte allerdings nicht geklärt werden, auf welche Weise die Trainingseffekte im kognitiven Bereich auf das soziale Funktionsniveau einwirken. Ein Grund für die Schwierigkeit, die spezifische Wirkung kognitiver Faktoren zu erfassen, liegt möglicherweise in der Vermengung sozialer und kognitiver Trainingskomponenten in den Bausteinen des IPT. Zwar können über den Einsatz von Modulen oder des gesamten IPT zum einen kognitive Verbesserungen erzielt und zum anderen soziale Fähigkeiten verbessert werden, allerdings bleibt die Wirkweise der Trainingseffekte auf das allgemeine Funktionsniveau, wenn vorhanden, völlig unbestimmt. Generalisierungseffekte bei Erreichen von Schwellenwerten. Ein vergleichsweise rein neuro-
kognitives Trainingsprogramm evaluierten dagegen Wykes et al. (1999). Die Autoren erprobten dazu ein von Delahunty und Morice (1993; s. dazu Wykes et al. 1999) entwickeltes Trainingsprogramm, das über 3 Module (kognitive Flexibilität, Arbeitsgedächtnis und Planungsfähigkeiten) die Verbesserung der exekutiven Funktionen bei schizophren Erkrankten anstrebt. In diesem Trainingsprogramm besteht jedes Modul aus mehreren Papier-und-Bleistift-Auff gaben, die graduiert vor dem Hintergrund des »errorless learning« gemeinsam mit den Versuchsleitern bearbeitet werden. Das Trainingsprogramm wurde 5 Tage pro Woche für jeweils 60 min über
519 24.3 · Wirksamkeit neurokognitiver Trainingsmaßnahmen
eine Gesamtdauer von 40 Tagen durchgeführt. Gegenüber einer parallelisierten Gruppe von schizophrenen Patienten (n=16), die für den gleichen Zeitraum an einer intensiven Beschäftigungstherapie teilnahmen, konnten bei den schizophren Erkrankten, die am neurokognitiven Training teilnahmen (n=17) bedeutsame Behandlungseffekte im kognitiven Bereich für die Planungsfähigkeit (»Six Elements Test« von Shallice u. Burgess 1991, s. dazu Wykes et al. 1999) und für das verbale Arbeitsgedächtnis (Zahlenspanne) ermittelt werden. Abgesehen von einer Erhöhung des Selbstwertgefühls wurden jedoch keine direkten differenziellen Effekte auf die Psychopathologie oder das soziale Verhalten der Trainingsgruppe festgestellt. Analysierten die Autoren jedoch speziell die Veränderungswerte der kognitiven Leistungsmaße, fand sich ein Zusammenhang mit Veränderungen im sozialen Funktionsniveau der Patienten. Allerdings konnte dieser Zusammenhang nur bei den Patienten gefunden werden, die einen gewissen Schwellenwert des Leistungszuwachses (Verbesserung in mindestens der Hälfte der applizierten kognitiven Testverfahren) überschritten hatten. Dies betraf 65% der Patienten in der Trainingsgruppe und 25% der Patienten, die nur an der Beschäftigungstherapie teilnahmen. Effektdauer. In einer Follow-up-Untersuchung be-
richten Wykes et al. (2003) stabile Therapieeffekte noch nach 6 Monaten für Gedächtnis- und exekutive Funktionsmaße. Insbesondere bei Erreichen des Schwellenwertes war eine Aufrechterhaltung der Therapieerfolge auch hinsichtlich sozialer Verhaltensmaße und der Symptomreduktion zu beobachten. An einer Patientengruppe von insgesamt 121 schizophren Erkrankten überprüften Hogarty et al. (2006) Mediatoren und Wirkdauer eines umfangreichen Remediationsprogramms (»cognitive enhancement therapy«, CET; n=67) gegenüber einem supportiven Therapieangebot (»enriched supportive therapy«, EST; n=54). Über einen Zeitraum von 2 Jahren durchlief die CET-Gruppe zunächst 75 1-stündige Sitzungen eines PC-gestützten neurokognitiven Trainings mit den Schwerpunkten Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Problemlösen, bevor sie in eine sozial-kognitive Gruppentherapie (vgl. IPT, Roder et al. 1997) mit 56 Sitzungen zu je 1,5 h
24
überwechselten. Die EST bestand dagegen in der Vermittlung von Maßnahmen zur Krankheitsbewältigung über psychoedukative Komponenten und Streßbewältigung. Im Ein-Jahres-follow-up fand sich eine Aufrechterhaltung der durch die CET induzierten Verbesserungen in den Bereichen Wahrnehmungsgeschwindigkeit, soziale Wahrnehmung, kognitiver Stil (z. B. rigides Denken) und sozialem Funktionsniveau (z. B. beruflicher Status). Als wesentlicher Mediator der deutlichen Therapieerfolge in der sozialen Wahrnehmung (d=0,86) und dem sozialen Funktionsniveau (d=0,73) stellten sich die im 1. Jahr erzielten Verbesserungen in der Wahrnehmungsgeschwindigkeit heraus. Ähnlich substanzielle Erfolge berichten Wexler und Bell (2005) insbesondere für die Kombination eines PC-gestützten kognitiven Remediationsprogramms mit arbeitstherapeutischen Maßnahmen über 6 Monate bei 145 vorwiegend schizophrenen Patienten. Im Vergleich zu den Patienten, die ausschließlich eine Arbeitstherapie erhielten, zeigten die Patienten unter der Kombinationsbehandlung signifikant stärkere Leistungsverbesserungen der exekutiven Funktionen und des Arbeitsgedächtnisses in einer Folgeuntersuchung nach 6 Monaten. Es fand sich 12 Monate nach Trainingsabschluss, dass 57,5% der Patienten mit der Kombinationsbehandlung in einem beruflichen Anstellungsverhältnis waren, gegenüber 21% der Patienten, die nur die Arbeitstherapie erhielten. Für die Anwendung eines rein kognitiven Remediationsprogramms zeigten Penadés et al. (2006) im Vergleich zu einer kognitiv-verhaltenstherapeutischen Intervention Verbesserungen in sozialen Funktionsmaßen (kommunikative Fähigkeiten und persönliche Autonomie) bei chronisch schizophrenen Patienten. Zur Klärung derartiger Zeit- und Generalisierungseffekte sind zwingend weitere Evaluationsanstrengungen bei umfassenden Remediationsprogrammen notwendig. Interessanterweise zeigten Fiszdon et al. (2006), dass insbesondere im intellektuellen Status eingeschränkte schizophrene Patienten (IQ=79) von einem Remediationsprogramm (vgl. Wexler u. Bell 2005) in Form einer Normalisierung ihrer Leistung während des Trainings profitierten. Im Vergleich zu Patientengruppen mit einem IQ von 87 bzw. 102 Punkten gerade jedoch die eingeschränkte Gruppe die geringsten Genera-
520
Kapitel 24 · Neuropsychologische Therapie psychischer Störungen
lisierungseffekte auf externe neuropsychologische Leistungsparameter aufwies (. Tab. 24.2). Metaanalytische Befunde. Pilling et al. (2002),
24
Krabbendam und Aleman (2003) sowie Twamley et al. (2003) legten Metaanalysen zur Wirksamkeit kognitiver Remediationsmaßnahmen bei schizophrenen bzw. schizoaffektiven Patienten vor. Aus der integrativen Analyse von 5 Trainingsstudien mit insgesamt 170 Teilnehmern fanden Pilling et al. keine Hinweise für die Wirksamkeit kognitiver Trainingsmaßnahmen hinsichtlich der Verbesserung der Aufmerksamkeit, des verbalen/visuellen Gedächtnisses, des allgemeinen mentalen Status und der exekutiven Funktionen. Dagegen berechneten Krabbendam und Aleman bei 12 Studien mit insgesamt 543 Teilnehmern die allgemeine Effektgröße kognitiver Trainingsprogramme auf eine mittlere Effektstärke von d=0,45. Weder die Trainingsdauer (weniger vs. mehr als 15 Sitzungen) noch die Trainingsart (massiertes Üben vs. Strategietraining) stellten sich als statistisch signifikante Moderatoren der Effektivität heraus. Twamley et al. analysierten 17 Studien (695 Teilnehmer) mit dem Ergebnis kleiner bis mittlerer Effektstärken für die Verbesserung der neuropsychologischen Leistungsfähigkeit (d=0,32), der Symptomreduktion (d=0,26) sowie der Alltagsfunktionalität (d=0,51). Neurofunktionelle Veränderungen. Wird bei
zahlreichen neuropsychologischen Grundlagenfragen das Methodenrepertoire zunehmend durch den Einsatz bildgebender Verfahren erweitert, muss innerhalb der neuropsychologischen Trainingsforschung bei psychiatrischen Patienten ein Forschungsdefizit beklagt werden. Dies ist umso erstaunlicher, da die neuronalen Grundlagen und Mechanismen restitutiver Prozesse zunehmend genauer verstanden und Rehabilitationsbemühungen bei neurologischen Patienten bereits ansatzweise an den Prinzipien der »Guided Recovery« (s. Theoriebox; Robertson u. Murre 1999) ausgerichtet werden können. Bedeutsame Prädiktoren der funktionellen Regenerierung. Gerade Dysfunktionen des präfronta-
len Kortex und damit verbunden des Aufmerksamkeitsnetzwerkes scheinen sich allgemein als bedeut-
same Prädiktoren der funktionellen Regenerierung auch stärker posterior lokalisierter kognitiver, sensorischer und motorischer Funktionen nach Hirnverletzungen zu erweisen. Dysfunktionen des präfrontalen Kortex werden im Rahmen der exekutiven Funktionsdefizite auch bei schizophren Erkrankten diskutiert. Neben einer Pilotstudie von Wykes (1998) bei 2 schizophrenen Patienten mit der »Single Photon Emissions Computertomography« (SPECT) untersuchten Wexler et al. (2000) in einer Studie mit dem Kernspintomographen (NMR) die Auswirkungen eines Trainings des verbalen Arbeitsgedächtnisses auf potenzielle Veränderungen des regionalen Blutflusses im frontalen Kortex. Eine Gruppe von 8 schizophren Erkrankten erhielt dazu über 10 Wochen ein graduiertes verbales Gedächtnistraining mit 4–5 Sitzungen à 30–40 min/Woche. Im Prä-postVergleich der externen Gedächtnismaße zeigte sich zunächst ein heterogenes Muster der Verbesserungsraten der verbalen Arbeitsgedächtnisleistung bei den Patienten. Die Patienten allerdings, die in einem moderaten bis hohen Ausmaß Fortschritte im Trainingsprogramm aufwiesen, zeigten nach dem Training unter der Belastung des Arbeitsgedächtnisses mit verbalem Material einen Anstieg des regionalen Blutflusses im linken inferioren frontalen Kortex im NMR. Mit einem Korrelationskoeffizienten von r=0,66 (p0,8 Promille nachgewiesen. Verschiedene Benzodiazepin-Hypnotika haben Residualeffekte, die zu Auffälligkeiten im Fahrverhalten vergleichbar von Alkoholfahrten >0,5 Promille führen und dies auch noch 16–17 h nach Einnahme des Medikaments (Verster et al. 2004). Auch nach 1-jähriger Einnahme war das Unfallrisiko unter Benzodiazepinen mit langer Halbwertszeit noch signifikant erhöht (Hemmelgarn et al. 1997).
25.4
Antidepressiva
25.4.1
Einteilung und Pharmakologie
Die Einteilung der Antidepressiva kann nach ihrer chemischen Struktur, nach ihren pharmakologisch-
531 25.4 · Antidepressiva
25
biochemischen Wirkeigenschaften oder nach klinisch-therapeutischen Wirkprofilen erfolgen. Auff grund ihrer chemischen Struktur lassen sich folgende Substanzklassen unterscheiden: 1. »klassische« trizyklische Antidepressiva (TZA), 2. modifizierte trizyklische und tetrazyklische Antidepressiva, 3. chemisch andersartige Antidepressiva, 4. Phytopharmaka. Nach pharmakologisch-neurobiochemischen Gesichtspunkten bzw. dem Wirkmechanismus können Antidepressiva prinzipiell eingeteilt werden aufgrund ihrer Selektivität: 1. nicht-selektive Monoamin-(Noradrenalin-/ Serotonin-) Rück- (oder Wieder)aufnahme-Inhibitoren (NSMRI), auch als trizyklische Antidepressiva (TZA) bezeichnet, 2. selektive Serotonin-Rück-/WiederaufnahmeInhibitoren/Hemmer (SSRI), 3. selektive Noradrenalin-Rück-/Wiederaufnahme-Inhibitoren/Hemmer (SNRI), 4. selektive Noradrenalin-Serotonin-Rück-/Wiederaufnahme-Inhibitoren/Hemmer bzw. selektiv-noradrenerge/serotonerge Substanzen (SSNRI, NaSSA) (. Abb. 25.3), 5. selektive Noradreanlin-Dopamin-Wiederauff nahme-Inhibitoren/Hemmer (SNDRI) 6. selektiver Melatonin-Agonist und 5-HT2c-Antagnist 7. MAO-Hemmer a) unselektiv, irreversibel, b) selektiv, reversibel: reversible Inhibitoren der MAO-A (RIMA), 8. Aminpräkursoren. Nach dem klinisch-therapeutischen Wirkprofil lassen sich Antidepressiva nach dem Ausmaß ihrer antriebssteigernden-aktivierenden oder eher sedierenden-dämpfenden-angstlösenden Wirkung einteilen. . Tabelle 25.2 gibt eine Übersicht der derzeit verfügbaren Antidepressiva. Der Wirkmechanismus der Antidepressiva ist bislang noch nicht ausreichend geklärt. Relativ gut sind die Kenntnisse über die neurobiochemischen Wirkungen antidepressiver Substanzen, bei denen Neurotransmitter- und Rezeptor-Veränderungen im Mittelpunkt stehen.
. Abb. 25.3. Selektivität von Antidepressiva bezüglich Wiederaufnahmehemmung von Noradrenalin (NA) und Serotonin (5-HT) (Laux u. Dietmaier 2006, S. 338)
Die wesentlichen primären molekularen Wirkmechanismen der Antidepressiva sind: 4 die Blockade des Rücktransporters von Noradrenalin bzw. Serotonin, 4 die Blockade präsynaptischer Autorezeptoren, 4 die Hemmung des Abbaus biogener Amine (MAO–Hemmung), 4 5-HT2-Antagonismus, 4 5-HAT1A-Antagonismus. Alle diese Effekte sind akut, können also nicht die zeitversetzt auftretende antidepressive Wirkung erklären. Für diesen Effekt werden heute adaptive Veränderungen auf der Ebene der Neurorezeptoren verantwortlich gemacht (. Abb. 25.4) Die klassischen Amin-Hypothesen postulieren, dass Depressionen durch einen absoluten oder relativen Mangel an Noradrenalin bzw. Serotonin an funktionell wichtigen Rezeptoren des Hirnstamms bedingt sind (Katecholamin- bzw. Serotonin-Hypothese der Depression). Heute wird davon ausgegan-
532
Kapitel 25 · Klinisch-Neuropsychologische Aspekte der Therapie mit Psychopharmaka
. Tab. 25.2. Klinisch-praktische Einteilung der Antidepressiva
Nicht-sedierend (aktivierend)
Sedierend (dämpfend)
MAO-Hemmer Tranylcypromin (Jatrosom® N) Moclobemid (Aurorix® u. a.)
tri-/tetrazyklische Antidepressiva Maprotilin (Ludiomil® u. a.) Mianserin (Tolvin® u. a.) Amitriptylin (Saroten® u. a.) Amitriptylinoxid (Equilibrin® u. a.) Doxepin (Aponal® u. a.) Trimipramin (Stangyl® u. a.)
25
Trazodon (Thombran® u. a.) trizyklische Antidepressiva Desipramin (Petylyl®) Nortriptylin (Nortrilen®) Clomipramin (Anafranil® u. a.) Imipramin (Tofranil® u. a.) selektive Antidepressiva Viloxazin (Vivalan®) Sulpirid (Dogmatil® u. a.)
selektive Antidepressiva NaSSA Mirtazapin (Remergil® u. a.)
SSRIs Agomelatin (Valdoxon®) Citalopram (Cipramil® u. a.) Escitalopram (Cipralex®) Fluoxetin (Fluctin® u. a.) Fluvoxamin (Fevarin® u. a.) Paroxetin (Seroxat® u. a.) Sertralin (Zoloft® u. a.) SNRI Reboxetin (Edronax®, Solvex®) SSNRIs Duloxetin (Cymbalta®) Venlafaxin (Trevilor® u. a.)
gen, dass bei der Depression eine Multitransmitterstörung einhergehend mit Störungen neuronaler Regelkreise vorliegt. Trizyklische Antidepressiva beeinflussen verschiedene Neurotransmitter bzw. Rezeptoren. Primärer Effekt für ihre therapeutische Wirkung ist die Hemmung der Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin. Serotonin-selektive Antidepressiva bzw. Noradrenalin-selektive Substanzen bewirken durch Blockade des präsynaptischen Serotonin- bzw. Noradrenalintransporters eine selektive Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin bzw. Noradrenalin. Infolgedessen kommt es zu erhöhten synaptischen 5-HT- und Noradrenalinkonzentrationen.
Sogenannte duale Substanzen (Venlafaxin, Duloxetin) interagieren mit beiden Transporterproteinen. Aufwändige neurobiochemische Untersuchungen der letzten Jahre haben zu neuen Diskussionen über den Wirkmechanismus der Antidepressiva und zu Revisionen der einfachen Aminmangel-Hypothesen (sog. Rezeptorsensitivitäts-Hypothese) geführt. Auf die Bedeutung von Rezeptorveränderungen wies zum einen die klinische Wirklatenz der Antidepressiva hin, zum anderen die Entwicklung wirksamer Antidepressiva ohne direkte Neurotransmittereffekte (Mianserin, Mirtazapin). Jüngst wird auch eine Aktivierung der Neurogenese (Neusynthese von Nervenzellen) als gemein-
533 25.4 · Antidepressiva
25
. Abb. 25.4. Schema zum Wirkmechanismus von Antidepressiva (Modif. nach Riederer et al. 2002)
samer Wirkungsmechanismus aller Antidepressiva diskutiert. Unter chronischem Stress und dem damit verbundenen Cortisolanstieg, genetischen und anderen Risikofaktoren kann es zu einer Reduktion von Synapsen- bzw. Dendritenwachstum sowie zur Atrophie zentraler Neuronen bis hin zu deren Absterben kommen. Antidepressiva sollen über eine Aktivierung der cAMP-Kaskade zu einer Hochregulation des Wachstumfaktors BDNF (»brain derived neurotrophic factor«) führen. Dieser steuert den neuronalen Abbaumechanismen entgegen und soll – besonders auch im Hippocampus – eine Neuro- bzw. Synaptogenese bewirken. Neueste Forschungsergebnisse sprechen darüber hinaus auch für die Bedeutung adaptiver Veränderungen des NMDA-Rezeptorkomplexes, zentraler Glukokortikoid-Rezeptoren und von Immunreaktionen. Die klinische Forschung konnte zeigen, dass bei Depressiven der REM-Schlaf verändert ist (verkürzte REM-Latenz, Verlängerung der ersten REM-Periode, erhöhte REM-Dichte) und bei depressiven Patienten eine erhöhte Reagibilität des REM-Schlafsystems gegenüber cholinerger Stimu-
lation besteht. Die meisten Antidepressiva bewirken eine REM-Schlaff Unterdrückung; selektiver REMSchlafentzug wirkt antidepressiv. Auch der günstige Effekt des Schlafentzugs auf depressive Verstimmung weist auf Zusammenhänge zwischen Schlaf und Depression hin (cholinerg-adrenerge Gleichgewichts-Hypothese affektiver Psychosen).
25.4.2
Effekte auf neuropsychologische Funktionen
Affektive Erkrankungen gehen mit einer Vielzahl neuropsychologischer Auffälligkeiten einher, die vor allem bei chronischen affektiven Erkrankungen, auch nach weitgehender Remission der psychopathologischen Symptomatik, überdauernde Merkmale der Erkrankung sein können (7 Kap. 11 »Neuropsychologie affektiver Störungen« von Beblo, in diesem Band). Die meisten der derzeit erhältlichen Antidepressiva sind weitgehend vergleichbar in Bezug auf ihre therapeutische Effektivität, sodass bei der Auswahl in erster Linie das Nebenwirkungspro-
534
25
Kapitel 25 · Klinisch-Neuropsychologische Aspekte der Therapie mit Psychopharmaka
fil ausschlaggebend ist (Möller 2000). Primäre Indikationen für Antidepressiva sind depressive Syndrome unterschiedlicher Genese. Wichtig ist, die direkten Effekte antidepressiver Behandlung auf neuropsychologische Funktionen von den sekundären Wirkungen, die durch eine Verbesserung der psychopathologischen Symptomatik bedingt sind, zu unterscheiden. Antidepressive Substanzen, die zu kognitiven Beeinträchtigungen führen können, sind meist charakterisiert durch eine stark anticholinerge Komponente mit Auswirkungen auf Gedächtnisfunktionen und/oder antihistaminerge Effekte, die mit sedierenden Eigenschaften in Zusammenhang gebracht werden. Eine differenzierte Analyse dieser Effekte nahmen Curran et al. (1988) vor und konnten anhand des systematischen Vergleichs von Amitriptylin, Protriptylin, Trazodon und Viloxazin belegen, dass etwa für das Auftreten von Defiziten im Bereich des episodischen Gedächtnis primär die anticholinerge und weniger die sedierende Eigenschaft einer Substanz verantwortlich zu machen ist. Tri-,Tetrazyklika und selektive Antidepressiva Es
besteht Konsens, dass die akute Verabreichung von Antidepressiva mit anticholinergen und sedierenden Eigenschaften eine Beeinträchtigung neuropsychologischer Funktionen zurfolge hat. Diese wirken sich vor allem auf die Bereiche Psychomotorik und Gedächtnis aus. Insbesondere tri- und tetrazyklische Antidepressiva (TZA) weisen im Gegensatz zu vielen neueren, selektiven Antidepressiva ein ungünstigeres kognitives Nebenwirkungsprofil auf. Die längerfristige Verabreichung von Antidepressiva führt oftmals parallel zur Symptomreduktion zu einer Verbesserung der kognitiven Funktionen, wobei antidepressive und kognitionsfördernde Effekte von Psychopharmaka möglicherweise nicht identisch sind (Übersichten in Stein u. Strickland 1998; Edwards 1995; Amado-Boccara et al. 1995; Knegtering et al. 1994). Selektive Antidepressiva Innerhalb der Gruppe
der selektiven Antidepressiva zeichnet sich anhand der bisher vorliegenden Studien kein einheitliches Bild ab. Eine Vielzahl der Untersuchungen zu Effekten von neueren Antidepressiva auf kognitive Funktionen wurde an gesunden Probanden unter Ein-
malgaben durchgeführt. Plazebokontrollierte Untersuchungen in klinischen Populationen, in denen die Effekte auf neuropsychologische Funktionen untersucht wurden, sind nur vereinzelt vorhanden. Es ist jedoch zu erwarten, dass aufgrund der deutlichen Unterschiede im Wirkprofil innerhalb der neueren Antidepressiva auch Unterschiede in den Effekten auf psychomotorische, attentionale und kognitive Funktionen auftreten, wenngleich sich diese in der Ausprägung möglicherweise subtiler als beim Vergleich von neueren Antidepressiva mit Trizyklika darstellen (Kerr u. Hindmarch 1996; Hindmarch 1995). So hat etwa Fluoxetin innerhalb der Gruppe der selektiven Serotonin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSRI) eine höhere Affinität zum 5HT2c-Rezeptor, Paroxetin wiederum verursacht eine Blockade des Acetylcholin-Rezeptors und Citalopram (SSRI) hat die höchste Affinität zum H1-Rezeptor, mit anzunehmenden unterschiedlichen Wirkungen auf kognitive Funktionen. Eine gewisse Sonderstellung innerhalb der SSRI scheinen Substanzen einzunehmen mit höherer dopaminerger Aktivität und damit einhergehenden modulierenden Effekten auf exekutive Funktionen (Übersicht in Lane u. O´Hanlon 1999). In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Remission, Verlauf sowie das Ansprechen auf eine antidepressive Behandlung vor allem als mit exekutiven Funktionen assoziiert diskutiert werden. Dysfunktionen in diesem Bereich erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls und erneuten Auftretens depressiver Symptome (Potter et al. 2004; Alexopoulos et al. 2002; Simpson et al. 2001). Ältere Patienten Wie bereits in der Übersicht zu kognitiven Effekten von Benzodiazepien erwähnt, kommt der Behandlung älterer Patienten mit Antidepressiva, gerade wegen der von sedierenden Substanzen ausgehenden Effekte auf Psychomotorik und Kognition, eine besondere Bedeutung zu. Sedierende Antidepressiva können bei älteren Personen spezifische kognitive Beeinträchtigungen auslösen. Diese Effekte treten bei neueren und weniger sedierenden Substanzen meist nicht auf. Beim Vergleich von Sertralin (SSRI) mit Fluoxetin (SSRI) und dem mehr aktivierenden Nortriptylin (TZA) zeigten sich bei einem Vergleich von 444 älteren depressiven Patienten in der akuten Behandlungs-
535 25.5 · Antipsychotika
phase Verbesserungen bezüglich verbaler Gedächtnisleistungen und psychomotorischer Fähigkeiten vor allem unter Sertralin, gefolgt von Nortriptylin und Fluoxetin (Doraiswamy et al. 2003). Die längerfristige Behandlung mit Citalopram (SSRI) oder Sertralin über einen Zeitraum von 1 Jahr führte bei älteren Patienten mit depressiver Symptomatik zu einer signifikanten Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit und psychosozialer OutcomeParameter (Rocca et al. 2005; Cassano et al. 2002). Bei älteren Patienten mit MCI (»mild cognitive impairment«), das oftmals im Prodromalstadium einer demenziellen Erkrankung zu beobachten ist, konnte eine Verbesserung der Gedächtnisfunktionen und Leistungen im MMSE unter Fluoxetin gezeigt werden. Die Autoren diskutieren diesen Befund vor dem Hintergrund einer Aktivierung der Neurogenese im Hippocampus durch die antidepressive Behandlung (Mowia et al. 2007). Outcome Zur Frage der Auswirkung antidepres-
siver Behandlung auf alltagsrelevante Verhaltensparameter stellt sich die Studienlage folgendermaßen dar. Currie et al. (1995) konnten belegen, dass bei Unfallverursachern 4-mal häufiger sedierende Substanzen (Trizyklika, Benzodiazepine) im Blutplasma nachgewiesen werden konnten, als in einer Vergleichsgruppe von Personen, die Opfer eines Unfalls vergleichbaren Ausmaßes waren. Für ältere Fahrer unter Behandlung mit Trizyklika konnte ein 2,2-fach erhöhtes Unfallrisiko nachgewiesen werden. Die Einnahme von Amitriptylin mit einer Tagesdosis ≥125 mg steigerte das Risiko sogar um das 6-fache (Ray et al. 1992). Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Leveille et al. (1994), die unter Trizyklika ein 2,3-fach erhöhtes Unfallrisiko belegen konnten. Sowohl in Laboruntersuchungen (Brunnauer et al. 2006), als auch in realen Fahrproben (Ramaekers 2003) weisen neuere, selektive Antidepressiva auf einen Vorteil bezüglich der Verkehrssicherheit im Vergleich zu Trizyklika hin. Hirschfeld et al. (2000) zeigen in ihrer Übersicht, dass die antidepressive Behandlung bei erfolgreicher Symptomreduktion auch zu einer Verbesserung im Bereich der Alltagskompetenzen führt, wobei das prämorbide Leistungsniveau meist nicht mehr erreicht wird. Keine Unterschiede bezüglich des psychosozialen Funktionsniveaus chronisch depressiv Er-
25
krankter ergab die Studie von Kocsis et al. (1997) beim Vergleich von Imipramin (TZA) mit dem SSRI Sertralin. Die Berichte zu differenziellen Effekten zwischen den neueren Antidepressiva, mit möglicherweise günstigeren Effekten einer noradrenergen Therapie auf Selbstwahrnehmung und Motivation (Dubini et al. 1997), bedürfen einer Bestätigung in weiteren Untersuchungen.
25.5
Antipsychotika
25.5.1
Einteilung und Pharmakologie
Unter dem Begriff Neuroleptika werden Psychopharmaka zusammengefasst, die sich durch ein charakteristisches Wirkspektrum auf die Symptome psychotischer Erkrankungen auszeichnen. Ihr therapeutischer Effekt besteht in der Dämpfung psychomotorischer Erregungszustände und affektiver Spannungen, der Beeinflussung psychotischer Denk- und Verhaltensstörungen, Trugwahrnehmungen und Ich-Störungen, ohne dass die intellektuellen Fähigkeiten und das Bewusstsein wesentlich beeinflusst werden. Zur Abgrenzung von den konventionellen/ »klassischen« Neuroleptika werden die neueren Substanzen als »atypische« Neuroleptika bezeichnet – ein wenig glücklicher Begriff, z. T. wird deshalb von »second generation antipsychotics«, d. h. Antipsychotika der 2. Generation gesprochen. Zur Charakterisierung der gesamten Gruppe wird zunehmend dem Begriff »Antipsychotika« statt »Neuroleptika« der Vorzug gegeben. Die Einteilung der Neuroleptika/Antipsychotika erfolgt unter verschiedenen Gesichtspunkten. Traditionell wird die Einteilung nach der chemischen Struktur und nach der sog. »neuroleptischen Potenz« vorgenommen. Gegenwärtig werden daneben Unterteilungen nach der Rezeptoraffinität bevorzugt oder nach der Differenzierung in typische und atypische Antipsychotika. Einteilung nach der chemischen Struktur
1. Trizyklische Neuroleptika (Phenothiazine, Thioxanthene und chemisch ähnliche), 2. Butyrophenone und Diphenylbutylpiperidine,
536
Kapitel 25 · Klinisch-Neuropsychologische Aspekte der Therapie mit Psychopharmaka
3. Dibenzoepine, 4. Benzamide, 5. chemisch neuartige Antipsychotika (Aripiprazol, Olanzapin, Quetiapin, Risperidon, Sertindol, Ziprasidon). Für die praktische Anwendung ist diese Einteilung von begrenztem Wert, da die chemische Zugehörigkeit einer Substanz nur wenig über ihre klinische Wirkung aussagt.
25
Einteilung nach der neuroleptischen Potenz Das
Modell der neuroleptischen Potenz beruht auf den Beobachtungen, dass traditionelle Neuroleptika extrapyramidale Bewegungseinschränkungen hervorrufen, die sich u. a. sehr frühzeitig in der Feinmotorik erkennen lassen und über Veränderungen der Handschrift gemessen werden können. Die neuroleptische Schwelle ist derjenige Dosisbereich, bei dem die feinmotorischen Veränderungen beginnen. Unterschieden werden sog. hochpotente (Prototyp Haloperidol) und niedrigpotente Neuroleptika (z. B. Melperon, Chlorprothixen), wobei erstere primär antipsychotisch, letztere hauptsächlich sedierend wirken. Einteilung nach dem Rezeptorprofil Neuroleptika
entfalten ihre klinische Wirkung über verschiedene Einflüsse auf Neurotransmittersysteme des zentralen Nervensystems. Gegenwärtig am besten untersucht ist die Beeinflussung des Dopamin- und des Serotoninsystems. Hier scheinen sich – nach aktuellem Kenntnisstand – die wichtigsten Prozesse abzuspielen. . Tab. 25.3 gibt eine Übersicht zu Rezeptorbindungsprofilen von Antipsychotika/Neuroleptika. Einteilung in typische und atypische Antipsychotika Im klinischen Bereich setzt sich zunehmend
die Einteilung in: 4 typische (traditionelle, klassische) und 4 atypische (»neuere«) Neuroleptika bzw. Antipsychotika durch. Als typische Neuroleptika gelten die älteren Substanzen, die neben der antipsychotischen Wirkung auch typische extrapyramidal-motorische Symptome zeigen. Dabei ist ihre Wirksamkeit vorrangig auf die Plussymptome begrenzt; eine Beeinflussung von
Negativsymptomen wird ihnen in der Regel nicht zugesprochen. Als atypische Neuroleptika bzw. Antipsychotika gelten Substanzen, die eine antipsychotische Aktivität besitzen, geringe bzw. fehlende extrapyramidal-motorische Beeinflussungen zeigen und eine Wirksamkeit gegen Minussymptome nachweisen können. Wichtig ist der Hinweis, dass es sich um keine homogene Gruppe von Substanzen handelt – sowohl neuropharmakologisch (Wirkmechanismus) als auch hinsichtlich klinischem Wirkprofil und dem Nebenwirkungsspektrum bestehen z. T. erhebliche Unterschiede. Die entscheidenden Beiträge zur Erforschung des Wirkmechanismus der Neuroleptika wurden durch neurobiochemische Untersuchungen geleistet. Rezeptorbindungsstudien konnten zeigen, dass der vorwiegende Angriffspunkt der Neuroleptika das dopaminerge System ist. Neuroleptika blockieren die postsynaptischen Dopaminrezeptoren und antagonisieren dadurch die Wirksamkeit von Dopamin. Klassische Neuroleptika führen zu einer Rezeptorblockade in allen drei dopaminergen Neuronensystemen, wobei das mesolimbische System als das für die antipsychotische Wirkung entscheidende angesehen wird und die Blockade in den anderen Systemen für das Auftreten von Nebenwirkungen verantwortlich zu sein scheint (extrapyramidale Störungen, Prolaktinanstieg). Neben dem Dopaminrezeptor-Antagonismus bewirken Neuroleptika in unterschiedlichem Maß auch eine Blockade der Rezeptoren anderer Neurotransmitter wie Noradrenalin (NA), Serotonin (5-HT), Histamin (H) und Acetylcholin (ACh), deren therapeutische Bedeutung z. T. noch unklar ist. Das antidepressive Potenzial der Atypika wird mit ihren 5-HT2-antagonistischen Wirkungen, speziellen dopaminergen Effekten oder mit NA- und/ oder 5-HT-Wiederaufnahme-hemmenden Effekten in Verbindung gebracht. Neuere atypische Neuroleptika unterscheiden sich vor allem im Nebenwirkungsprofil (extrapyramidale Motorik und Kognition) von den klassischen oder konventionellen Substanzen, obwohl auch sie alle D2-Antagonisten sind (Übersicht in Laux 2010).
25
537 25.5 · Antipsychotika
. Tab. 25.3. Übersicht Neuroleptika/Antipsychotika nach Rezeptorbindungsprofil. (Aus Laux u. Dietmaier 2006, S. 415 f.)
D1
D2
5-HT2
α1
M/ACh
H
Chlorpromazin
+
+++
++
+++
++
++
Chlorprothixen
+
+++
+++
+++
++
–
Flupentixol
+(+)
+++
+
+
–
–
Fluphenazin
++
+++
+
+
–
–
Haloperidol
+
+++
+
+
–
–
Levomepromazin
-
+++
++
+++
++
++
Melperon
–
+++
++
+++
–
–
Perphenazin
+
+++
++
++
–
++
Pimozid
–
+++
+
–
–
–
Thioridazin
+(+)
+++
++
+++
++
+
Zuclopenthixol
+++
+++
+
++
–
–
Sulpirid
–
+++
–
–
–
–
Amisulprid
–
+++1
–
–
–
–
Risperidon
–
+++
+++
++
–
–
Ziprasidon
+
+++
+++
++
–
–
Sertindol
–
+
+++
++
–
–
Clozapin
++
++
+++
+++
+++
++
Olanzapin
++
+++
+++
++
+++
++
Quetiapin
(+)
+
+
+++
–
++
(+)
+++2
+++3
+
-
+
Konventionelle Substanzen
Atypika D2 Antagonisten
D2-5HT2-α1-Antagonisten
Multirezeptor-Antagonisten
Partialantagonisten Aripiprazol
[D = Dopaminrezeptoren, 5-HT = Serotoninrezeptoren, α = α-Adrenozeptoren, M/ACh = muskarinische Acetylcholinrezeptoren, H = Histaminrezeptoren +++ stark, ++ mittel, + gering, – nicht vorhanden
538
25.5.2
25
Kapitel 25 · Klinisch-Neuropsychologische Aspekte der Therapie mit Psychopharmaka
Effekte auf neuropsychologische Funktionen
Neuropsychologische Beeinträchtigungen stellen eine Kernsymptomatik schizophrener Erkrankungen dar, die bereits früh im Verlauf der Erkrankung auftreten, auch in Remissionsphasen ein relativ stabiles Merkmal darstellen und kritisch für den Erfolg beruflich-psychosozialer Wiedereingliederungsbemühungen sind (s. hierzu ausführlich 7 Kap. 17 »Neuropsychologie der Schizophrenie« von Lautenbacher und Möser, in diesem Band). Prinzipiell lässt sich der Einwand, kognitive Störungen schizophrener Patienten seien wesentlich durch Medikamenteneinflüsse bedingt, schon aus rein historischen Gründen entkräften, da bereits vor Einführung der Therapie mit Psychopharmaka neuropsychologische Funktionseinbußen bei diesen Patienten beschrieben wurden (Goldberg u. Gold 1995). Auch belegen Untersuchungen an ersterkrankten, bisher unmedizierten schizophrenen Patienten, ein ähnliches kognitives Defizitprofil, wie bei langjährig antipsychotisch behandelten Erkrankten (Bilder et al. 2000). Obwohl den meisten der derzeit erhältlichen Antipsychotika ein D2-Rezeptor-Antagonismus gemein ist, unterscheiden sie sich doch wesentlich hinsichtlich des neuropharmakologischen Wirkmechanismus und somit wahrscheinlich auch im Wirkspektrum auf kognitive Funktionen. Mögliche molekulare Ziele um kognitive Störungen bei Schizophrenen zu behandeln sind die Dopaminrezeptoren, speziell im präfrontalen Cortex, die Serotoninrezeptoren im präfrontalen Cortex und im anterioren Cingulum, excitatorische Glutamatsynapsen, Acetylcholinrezeptoren im Hippocampus sowie das GABAerge System (Tamminga 2006). Typika versus Atypika In einer Vielzahl von Unter-
suchungen wurde gezeigt, dass konventionelle Antipsychotika (Typika), trotz erwiesener Effektivität bei der Behandlung der Positivsymptomatik, nur geringe Auswirkungen auf die Modulation kognitiver Funktionen haben (Übersichten u. a. in Bowie u. Harvey 2006; Peuskens et al. 2005; Kasper u. Resinger 2003; Green 2002; Naber et al. 2002; Keefe et al. 1999). Demgegenüber weisen Mishara u. Goldberg (2004) in ihrer Metaanalyse darauf hin, dass Typika
zumindest in einigen kognitiven Bereichen zu moderaten Verbesserungen führen. Für Aufmerksamkeitsleistungen, Sprachfunktionen, intellektuelle Kapazitäten und Gedächtnisfunktionen konnten sie leichte bis moderate Effekte nachweisen. Nur geringe Verbesserungen zeigten sich im Bereich oculomotorischer und exekutiver Leistungen, die vor allem mit Funktionen des präfrontalen Cortex in Zusammenhang gebracht werden. Negative Auswirkungen zeigten sich im Bereich motorischer Funktionen, die mit striatalen Komponenten in Zusammenhang stehen und sehr sensitiv auf eine D2-Blockade reagieren. Als mögliche Gründe der beschriebenen geringeren Effektivität von Typika gegenüber Atypika werden von den Autoren die oftmals hohen Dosierungen von konventionellen Neuroleptika in den Studien sowie die meist zusätzlich verabreichte anticholinerge Medikation zur Behandlung der extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen (EPM) angeführt. Es konnte jedoch auch in Untersuchungen an ersterkrankten Schizophrenen unter einer geringen Dosierung des konventionellen Neuroleptikums Haloperidol (im Mittel 4,87 mg/Tag) im Vergleich zu dem Atypikum Olanzapin (im Mittel 11,3 mg/Tag), trotz Steigerung der kognitiven Leistungen in beiden Gruppen, ein signifikanter Vorteil unter der Behandlung mit Atypika nach 12 und 24 Wochen beobachtet werden (Keefe et al. 2006). Insgesamt weisen die vorliegenden Untersuchungen darauf hin, dass Atypika die kognitiven Funktionen günstiger beeinflussen als Typika. Negative Effekte auf die Kognition sind vor allem Folge der durch ältere Substanzen verursachten EPM-Symptomatik, die sich in erster Linie bei zeitabhängigen Tests auswirkt (Fagerlund et al. 2004). Zudem kann die zusätzliche Gabe von Antiparkinsonmitteln und deren anticholinergen Effekte zu Beeinträchtigungen von Lern- und Gedächtnisleistungen führen. Kritisch bei der Bewertung der vorliegenden Untersuchungsergebnisse zu Effekten von Atypika auf kognitive Funktionen ist anzumerken, dass viele Studien methodische Probleme aufweisen, wie etwa fehlende Kontrolle von Übungseffekten, die gerade bei einer Vielzahl vor allem psychomotorischer Tests erheblich sind (s. hierzu ausführlich Keefe et al. 1999). Dies erklärt auch die teilweise widersprüchlichen Ergebnisse zu den verschiedenen
539 25.5 · Antipsychotika
Substanzgruppen. Es liegen eine Reihe von offenen aber auch Plazebo-kontrollierten Studien hinsichtlich der Effekte neuerer Antipsychotika auf neuropsychologische Funktionen vor. Trotz der oben beschriebenen Vorteile von Atypika auf kognitive Funktionen darf nicht übersehen werden, dass das Leistungsniveau Gesunder auch bei guter Compliance meist nicht erreicht wird. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Atypika scheinen eher marginal zu sein und weisen eine hohe interindividuelle Variabilität auf. Atypika Clozapin wird häufig mit Verbesserungen vor allem in geschwindigkeitsabhängigen Leistungen wie Reaktionszeiten und Wortflüssigkeit in Zusammenhang gebracht (Buchanan et al 1994). Moderate Evidenz ergibt sich für eine Verbesserung exekutiver Funktionen (Meltzer u. McGurk 1999). Inkonsistent ist die Datenlage bezüglich verbaler Gedächtnisleistungen. Hier scheinen die anticholinergen Effekte der Substanz zu einer Beeinträchtigung vor allem visueller Gedächtnisleistungen zu führen (Goldberg et al. 1993). Einen Vorteil bietet Clozapin vor allem bei bisher therapieresistenten Patienten. Es konnte bei diesen Patienten unter stabiler Medikation eine Besserung zahlreicher kognitiver Funktionen erreicht werden (Hagger et al 1993). Risperidon. Die Datenlage bezüglich neuropsychologischer Effekte von Risperidon weist vor allem auf eine positive Modulation der Exekutivfunktionen, des Arbeitsgedächtnisses sowie von Aufmerksamkeitsfunktionen hin (Kern et al. 1998; Rossi et al. 1997). Auch mit dieser Substanz konnte bei therapieresistenten schizophrenen Patienten eine Steigerung der Arbeitsgedächtnisleistungen erzielt werden (Green et al. 1997). Inkonsistent ist die Datenlage bezüglich verbaler Lern- und Merkfähigkeit. Die verbale Flüssigkeit scheint durch Risperidon nicht positiv beeinflusst zu werden (Meltzer u. McGurk 1999). Olanzapin. Purdon et al. (2000) konnten für Olanzapin über verschiedene psychomotorische und kognitive Funktionen hinweg einen Vorteil gegenüber Risperidon und Haloperidol nachweisen. Olanzapin scheint, unabhängig von Verbesserungen in der psychopathologischen Symptomatik, vor allem positive Effekte auf verbale Gedächtnisleistungen und exekutive Funktionen zu haben (Stratta
25
et al. 2005; Cuesta et al. 2001; Bilder et al. 2002). Die Bereiche Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis und visuelles Gedächtnis weisen demgegenüber auf eine nur geringe Beeinflussung durch Olanzapin hin (Meltzer u. McGurk 1999). Demgegenüber konnten McGurk et al. (2004) vor allem in der selektiven Aufmerksamkeit, den verbalen Lern- und Gedächtnisleistungen und der Wortflüssigkeit signifikante Verbesserungen unter Olanzapin nachweisen. In keinem der eingesetzten kognitiven Tests war eine Verschlechterung der Leistungen zu beobachten. Quetiapin. Sax et al. (1998) berichteten deutliche Verbesserungen in Aufmerksamkeitsfunktionen unter der Behandlung mit Quetiapin. Längerfristige Effekte konnten Purdon et al. (2001) in einer randomisierten, doppelblinden Untersuchung zeigen. Mit Quetiapin behandelte schizophrene Patienten erzielten vor allem in den Bereichen verbale Flüssigkeit, verbales und non-verbales Kurzzeitgedächtnis sowie exekutive Funktionen signifikante Leistungssteigerungen. Vergleichbare Ergebnisse zeigten Good et al. (2002) bei ersterkrankten schizophrenen Patienten. Nach 6 bzw. 12 Monaten Behandlungsdauer mit Quetiapin konnten signifikante Verbesserungen der Aufmerksamkeit, der verbalen Flüssigkeit sowie exekutiver Funktionen beobachtet werden. Das Fehlen einer Kontrollgruppe lässt offen, in welchem Ausmaß hierbei Übungseffekte mit zum Tragen gekommen sind. In einer weiteren Studie wurden die Effekte von Quetiapin oder Haloperidol untersucht nach 24 Wochen Behandlungsdauer auf Aufmerksamkeit, Gedächtnis und exekutive Funktionen (Velligan et al. 2002). Unter Behandlung mit 600 mg Quetiapin/Tag konnten günstigere Auswirkungen auf kognitive Leistungen beobachtet werden als unter Haloperidol oder unter geringeren Dosen Quetiapin (300 mg/Tag). Ziprasidon. In einer von Harvey et al. (2004a) durchgeführten Studie wurden schizophrene Patienten randomisiert entweder mit Olanzapin oder Ziprasidon über 6 Wochen hinweg behandelt. Es kam in beiden Gruppen zu signifikanten Steigerungen in den Bereichen Psychomotorik, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, exekutive Funktionen/Arbeitsgedächtnis und Wortflüssigkeit. Unterschiede zwischen den beiden Behandlungsgruppen ergaben sich nicht. Bei ambulanten Patienten, die wegen einer Medikamentenunverträglichkeit von konven-
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Kapitel 25 · Klinisch-Neuropsychologische Aspekte der Therapie mit Psychopharmaka
tionellen Neuroleptika, Risperidon oder Olanzapin auf Ziprasidon umgestellt wurden, war eine generelle Leistungssteigerung in den kognitiven Parametern zu beobachten (Harvey et al. 2004b). Aripiprazol und Amisulprid. Zu beiden Substanzen existieren nur wenige Untersuchungen, in denen der Frage der Beeinflussung kognitiver Funktionen in klinischen Stichproben nachgegangen wurde. Kern et al. (2006) konnten beim Vergleich von Aripiprazol mit Olanzapin über einen Behandlungszeitraum von 26 Wochen deutliche Verbesserungen in einem kognitiven Globalscore nachweisen, jedoch nicht im Bereich exekutiver Funktionen. Für verbale Gedächtnisleistungen zeigte sich im Gruppenvergleich ein signifikanter Vorteil unter Aripiprazol. Zu bemerken ist, dass die Drop-outRate unter Aripiprazol deutlich erhöht war. In einer randomisierten Studie wurden schizophrene Patienten entweder mit Olanzapin oder Amisulprid behandelt. Eine umfassende neuropsychologische Untersuchung wurde zu Beginn sowie nach 4 und 8 Wochen durchgeführt. Moderate kognitive Verbesserungen wurden in beiden Gruppen beobachtet; signifikante Unterschiede zwischen den beiden Medikamenten ergaben sich nicht (Wagner et al. 2005). . Abb. 25.5 gibt eine Zusammenfassung gut belegter neurokognitive Effekte klassischer und atypischer Neuroleptika/Antipsychotika. Outcome Kognitive Defizite stellen einen wich-
tigen Prädiktor für den funktionalen Outcome dar, weit mehr als etwa soziodemografische Faktoren oder die psychopathologische Symptomatik (Green 1996; Green et al. 2004). Anhand einer Metaanalyse . Abb. 25.5. Neurokognitive Effekte von Antipsychotika/Neuroleptika. Typ=Typika, Cloz=Clozapin, Risp=Risperidon, Olanz=Olanzapin, Quet=Quetiapin
von 37 Studien konnten die Autoren Zusammenhänge zwischen spezifischen kognitiven Leistungen mit psychosozialen Verhaltensparametern bei schizophrenen Patienten belegen. Insbesondere verbale Gedächtnisleistungen wiesen die mit am häufigsten replizierten Zusammenhänge mit molaren Verhaltensparametern auf. Zusammenhänge mit Vigilanzleistungen zeigten sich speziell bei Aufgaben mit Anforderungen an die soziale Problemlösefähigkeit und den Erwerb sozialer Fertigkeiten. Signifikante Korrelationen bildeten sich vor allem zwischen exekutiven Funktionen und Beurteilungskriterien komplexer Arbeitsabläufe ab. Im Bereich der Alltagssicherheit/Fahrtauglichkeit weisen die Studiendaten auf einen Vorteil von Atypika im Vergleich zu konventionellen Neuroleptika hin, dies sowohl in Laboruntersuchungen als auch in der Risikosimulation am Fahrsimulator (Übersicht in Brunnauer u. Laux 2006). Die Datenlage zum Fragenkomplex der Teilhabechancen unter verschiedenen psychopharmakologischen Behandlungsstrategien ist spärlich.. Hamilton et al. (2000) konnten beim Vergleich von Olanzapin gegenüber Haloperidol über einen Untersuchungszeitraum von 1 Jahr bei Patienten unter dem Atypikum deutliche Vorteile bezüglich des sozialen und beruflichen Funktionsniveaus feststellen. Beim Vergleich von Quetiapin mit konventionellen Antipsychotika ergab sich zwar auf Ebene der kognitiven Leistungsfähigkeit ein Vorteil für das Atypikum, Gruppenunterschiede in der Verbesserung des funktionalen Outcome konnten nach einem Behandlungsintervall von 6 Monaten nicht gezeigt werden (Velligan et al. 2003).
541 25.5 · Antipsychotika
25
Studienbox
Patientenrelevanter Endpunkt – Verkehrssicherheit unter Psychopharmakotherapie Bei der Bewertung der Effektivität pharmakologischer Therapien finden vermehrt sog. patientenrelevante Endpunkte als wichtige Zielparameter Berücksichtigung, zu denen neben Befindensparametern auch Lebensqualitätsaspekte zählen, wie etwa Alltagssicherheit, Fähigkeit der Teilnahme an sozialen Aktivitäten, Erwerbsfähigkeit und berufliche Qualifizierbarkeit. Auch besteht in diesem Zusammenhang die berechtigte Forderung, dass die Wirksamkeit der pharmakologischen Behandlung ebenfalls unter Bedingungen der Routineversorgung zu überprüfen ist, da Ergebnisse von gut kontrollierten Studien auff grund der hohen Selektivität der Stichproben, oftmals nur begrenzt auf die Versorgungspraxis übertragbar sind. Die Beziehung von Hauptund Nebenwirkungen der pharmakologischen Behandlung zu Fähigkeits- und Partizipationsstörungen wird bisher meist nur in Ansätzen diskutiert. Die Verkehrssicherheit stellt hierbei ein exponiertes Beispiel dar, ist der Erhalt der Mobilität doch oft ein Garant für Patienten, am beruflichen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. In verschiedenen Untersuchungen der eigenen Arbeitsgruppe wurde der Frage der Fahrtüchtigkeit depressiver Patienten unter der Therapie mit Antidepressiva nachgegangen. Untersucht wurden teilremittierte depressive Patienten unter . Abb. 25.6. Fahrtüchtigkeit unter Antidepressiva. (Brunnauer et al. 2006, S. 1779)
6
pharmakologischen Steady-state-Bedingungen, die kurz vor Entlassung aus der stationären Behandlung standen. Die Überprüfung der Verkehrssicherheit erfolgte anhand verschiedener verkehrspsychologischer Leistungstests, mit denen entsprechend den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (Lewrenz 2000), eine Bewertung verkehrsrelevanter Funktionsbereiche vorgenommen wurde. Ein zentrales Ergebnis dieser Untersuchungen ist, dass kurz vor Entlassung aus der stationären Behandlung von einem hohen Prozentsatz der depressiven Patienten die gesetzlichen Leistungskriterien zum Führen eines Kraftfahrzeuges nicht erfüllt waren. Nach individueller Beurteilung, unter Berücksichtigung von Kompensationsfaktoren, wie etwa Fahrerfahrung oder Einsichtsfähigkeit in bestehende Defizite und entsprechender Verhaltensanpassung, war bei etwa 60% der Patienten von einer bedingten Eignung auszugehen. Dabei waren 16% der Patienten als fahruntüchtig einzustufen. Unter neueren, selektiven Antidepressiva schnitten die Patienten signifikant günstiger in den untersuchten Leistungsbereichen ab als unter Trizyklika, mit teilweise deutlichen Unterschieden innerhalb der neueren, selektiven Antidepressiva (. Abb. 25.6). Fragen zu diesem Themenbereich stoßen bei den Betroffenen meist auf großes Interesse und stellen oftmals einen wichtigen Anknüpfungspunkt zur Erarbeitung eines Störungsbewusstseins dar. In . Abb. 25.7 ist die Vorgehensweise bei der Beurteilung der Verkehrssicherheit dargestellt.
542
Kapitel 25 · Klinisch-Neuropsychologische Aspekte der Therapie mit Psychopharmaka
. Abb. 25.7. Schematische Übersicht zur Beurteilung der Verkehrssicherheit unter Psychopharmakotherapie
25
25.6
Antidementiva
25.6.1
Einteilung und Pharmakologie
Antidementiva werden bei unterschiedlichen kognitiven Einbußen eingesetzt, insbesondere bei Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Gedächtniseinbußen sowie Störungen des Denkvermögens, die im Rahmen eines zerebralen Abbauprozesses auftreten können. Wichtigste Zielgruppe ist der geriatrische Patient, bei dem im Rahmen eines zerebralen Abbauprozesses psychopathologische (vor allem kognitive) und neurologische Störungen im Sinne eines chronischen hirnorganischen Psychosyndroms vorliegen. Diesem Syndrom –
meist als Demenz bezeichnet – kann eine Vielfalt verschiedenartiger Krankheitsprozesse zugrunde liegen. Die verfügbaren Substanzen gegen Demenzen stellen keine kausalen Therapien dar, da die Ursachen für die Abbauprozesse im Gehirn noch immer nicht bekannt sind. Die Wirkung dieser Medikamente ist daher zwangsläufig begrenzt und vorübergehend. Bereits ein Stillstand der Symptome über einen gewissen Zeitraum bzw. eine Verzögerung der Progredienz sind angesichts der Schwere des Krankheitsbildes als Behandlungserfolg zu werten. Wichtig ist zu wissen, dass der Erfolg der medikamentösen Therapie umso größer ist, je früher damit begonnen wird und je geringer der Schweregrad der Erkrankung ist. Ein Beginn der Therapie mit Antidementiva in einem
543 25.6 · Antidementiva
weit fortgeschrittenen Stadium der Demenz ist weitestgehend ineffektiv. Die Behandlung sollte über einen ausreichend langen Zeitraum durchgeführt werden, in der Regel mindestens für 3 Monate. Die Zulassungs-/Prüfkriterien und Anforderungen im Sinne einer evidenzbasierten Medizin erfüllen nur wenige Substanzen: 4 die Acetylcholinesterasehemmer Donepezil, Galantamin und Rivastigmin sowie 4 der Glutamatmodulator/NMDA-Antagonist Memantin, 4 mit Einschränkungen das Phytopharmakon Ginkgo biloba und 4 Nootropika wie Piracetam und Nicergolin. Wichtige neurobiochemische Basis der AlzheimerTherapie ist die sog. cholinerge Hypothese. Danach stehen die kognitiven Defizite beim Morbus Alzheimer in Zusammenhang mit der Abnahme der zerebralen cholinergen Transmission und Synthese. Die Acetylcholinmangel-Hypothese der Demenz vom Alzheimer-Typ war Ausgangspunkt für die Entwicklung von Antidementiva mit cholinergem Wirkprinzip. Hemmstoffe des abbauenden Enzyms Cholinesterase sollen die Konzentration des verfügbaren Acetylcholins im synaptischen Spalt erhöhen und auf diese Weise das cholinerge Defizit beheben. Cholinesterasehemmer stimulieren dadurch auch indirekt die muskarinergen und nikotinischen Rezeptoren. Gleichzeitig sollen sie auch zu einer Induktion von Wachstumsfaktoren führen, die neuroprotektive Wirkungen für die geschädigten Zellen entfalten könnten. Der Glutamat-gesteuerte NMDA-Rezeptor soll von besonderer Bedeutung für die Pathophysiologie primärer Demenzen sein. So führt chronisch freigesetztes Glutamat zu einem lang andauernden neuronalen Calciumionen-Einstrom und letztendlich zum Untergang kortikaler und subkortikaler Neuronen. Ginkgo biloba hat in Tierversuchen und in vitro verschiedene pharmakologische Wirkungen gezeigt. Dabei stehen Radikalfängereigenschaften, PAF(»platelet activating factor«)-Antagonismus und eine Normalisierung des zerebralen Energiemetabolismus nach hypoxischen Schäden im Vordergrund. Gleichzeitig wurden auch hämodynamische, vaskuläre und hämorheologische Eigenschaften nachgewiesen.
25
Die älteren Nootropika zeigen ein sehr heterogenes pharmakologisches Wirkprofil, u. a. werden Calcium-antagonistische Effekte, Erhöhung des ATP-Umsatzes, Stimulation des oxidativen Glukosemetabolismus und rheologische Effekte postuliert (Übersichten: Arzneimittelkommission dÄ 2005, Kessler et al. 2003; Förstl 2003; Herrschaft 2001).
25.6.2
Effekte auf neuropsychologische Funktionen
Zielgruppe der Behandlung mit Antidementiva sind vor allem Demenzpatienten sowie Patienten mit MCI (s. 7 Kap. 18 »Neuropsychologie der Demenz«, von Jahn in diesem Band). Von der europäischen Zulassungsbehörde (EMEA) wird für den Wirksamkeitsnachweis einer antidementiven Substanz neben den positiven Wirkungen auf kognitive Funktionen und den klinischen Gesamteindruck auch eine Verbesserung im Bereich der Aktivitäten des alltäglichen Lebens gefordert. Nachweise dieser Art liegen v. a. für die Acethylcholinesterase-Hemmer (AchEH) Donepezil, Galantamin und Rivastigmin vor sowie für den NMDA-Hemmer Memantin. Für ältere Antidementiva (Nootropika) existieren Wirksamkeitsnachweise nach diesen strengeren Kriterien nicht. Acetylcholinesterase-Hemmer (AchEH) Bei der
Behandlung leichter kognitiver Störungen konnte ein Fortschreiten des kognitiven Abbaus durch die Behandlung mit Donepezil leicht verzögert werden, jedoch nicht über einen Zeitraum von 3 Jahren (Petersen et al. 2005). Auch unter Rivastigmin und Galantamin zeigten sich bei Demenzpatienten Verbesserungen der kognitiven Leistungsfähigkeit im Vergleich zur Plazebobehandlung (Corey-Bloom et al. 1998; Tariot et al. 2000). In einer Cochrane-Metaanalyse analysierte Birks (2006) Daten aus 13 doppelblinden plazebokontrollierten Studien zu Donepezil, Galantamin und Rivastigmin, die über einen Beobachtungszeitraum von mehr als 6 Monate konzipiert waren. Dem Analysesample lagen insgesamt mehr als 7.000 Personen mit leichtem bis schwerem demenziellen Syndrom zugrunde. Birks konnte signifikante Verbesserungen in den kognitiven Leistungen, gemessen mit der ADAS-cog-Skala (Alzhei-
544
Kapitel 25 · Klinisch-Neuropsychologische Aspekte der Therapie mit Psychopharmaka
. Abb. 25.8. Vergleich Acetylcholinesterase-Hemmer vs.Plazebo anhand des Gesamtscores der ADAS-cog. Gewichtete mittlere Differenzen der Baselineerhebung und nach > 6 Monaten Behandlung. (Mod. nach Birks 2006)
25
mer’s Disease Assessment Scale-cognitive subscale) nachweisen. Deutliche Unterschiede zwischen den Substanzen ergaben sich nicht (. Abb. 25.8). In der ADAS-cog lagen die Behandlungseffeke zwischen -1,4 und -3,9 Punkte auf der Gesamtskala, die von 0–70 Punkte reicht, wobei ein höherer Wert eine größere Beeinträchtigung bedeutet. NMDA-Hemmer Eine Verbesserung der Lern- und
Gedächtnisleistungen bei Patienten mit schwerer Demenz mit dem NMDA Rezeptorantagonisten Memantin konnten in der Untersuchung von Winblad und Poritis (1999) belegt werden. Eine aktuell durchgeführte Cochrane-Analyse zu Memantin (McShane et al. 2006) bestätigt für mittelschwere bis schwere Demenzen im Beobachtungszeitraum von 6 Monaten eine Verbesserung der kognitiven Leistungen um durchschnittlich 2,97 Punkte auf der 100-Punkte-SIB-Skala (»Severe Impairment Battery«). Diese Leistungssteigerungen spiegelten sich auch im Bereich der Alltagsaktivitäten sowie im klinischen Gesamteindruck wieder. Bei leichten bis mittelschweren Demenzen zeigten sich diskrete kognitive Verbesserungen, die sich jedoch nicht in den Ergebnissen der klinischen Ratings niederschlugen. Antioxidantien Die Datenlage für das Phytophar-
makon Ginkgo biloba ist sehr inkonsistent. Ein Hauptproblem ist die oftmals mangelnde Studienqualität. Le Bars et al. (1997) konnten nach einem Behandlungszeitraum von 52 Wochen lediglich eine Abnahme um 1,4 Punkte im ADAS-cog-Score im
Vergleich zur Plazebobehandlung zeigen. Im Bereich der klinischen Gesamtbeurteilung ergaben sich keine Unterschiede zur Vergleichsgruppe. Birks et al. 2002 weisen in ihrer Cochrane-Analyse auf die mangelhaften Methoden vieler älterer Studien zu Gingko biloba hin und einen möglicherweise vorhandenen Publikationsbias. Für den Bereich der kognitiven Leistungsfähigkeit und auch den Bereich der Alltagskompetenzen zeichnet sich vor allem bei den neueren Studien ein uneinheitliches Bild bezüglich positiver Effekte der Behandlung ab. Auch für den Einsatz von Vitamin E oder Selegilin (MAO-BHemmer) fehlen bisher eindeutige Wirksamkeitsnachweise auf kognitive Funktionen und funktionalen Outcome bei Patienten mit Alzheimer-Demenz (Birks u. Flicker 2003; Tabet et al. 2000). Outcome Die bisher durchgeführten Untersuchun-
gen und veröffentlichten Metaanalysen erbrachten lediglich für AchEH und NMDA-Hemmer eindeutige positive Wirksamkeitsnachweise für Alltagsfunktionen und das klinische Gesamturteil (Birks 2006; McShane et al. 2006; Birks et al. 2002).
25.7 Synopsis der Effekte
psychopharmakologischer Behandlung auf neuropsychologische Funktionen Eine Synopsis der bisherigen Befundlage zu neuropsychologischen Effekten ist in . Tab. 25.4 dargestellt. Angesichts der bereits genannten methodi-
25
545 25.7 · Synopsis der Effekte psychopharmakologischer Behandlung
. Tab. 25.4. Synopsis pharmakologischer Effekte auf neuropsychologische Funktionen und Outcome
Psychomotorik
Aufmerksamkeit
Gedächtnis
Exekutive Funktionen
Outcome
Tri-/Tetrazyklika*
/?
Selektive Antidepressiva
Ø/?
Ø/?
+/?
Ø/?
+/?
Typika
+
Ø/**
Ø
/?
Atypik
+
+
+/?
+
+/?
Antidementiva
--
+
+
+
+/?
Benzodiazepine Antidepressiva
Antipsychotika
+ positive Effekte, Ø keine negativen Effekte berichtet; Hinweise auf negative Effekte; Hinweis auf deutliche Beeinträchtigungen, ? geringe bzw. inkonsistente klinische Datenbasis. * v. a. sedierende Tri- und Tetrazyklika, **abhängig von anticholinerger Begleitmedikation
schen Einschränkungen vorliegender Untersuchungen und der damit verbundenen Heterogenität der Befundlage, kann es sich dabei lediglich um eine Ordnungsstruktur der vorhandenen Datenbasis handeln. Dabei gibt es innerhalb der Substanzgruppen teilweise große Schwankungsbreiten bezüglich der Effekte auf neuropsychologische Funktionen, die bei der Bewertung eines Psychopharmakons auf kognitive Funktionen berücksichtigt werden müssen. Die hohe interindividuelle Variabilität der Reaktionen von Patienten auf ein Psychopharmakon muss berücksichtigt werden, die immer eine individuelle Einschätzung erforderlich machen. Darüber hinaus ist die Einteilung der der Behandlung zugrunde liegenden Krankheitsbilder anhand der gängigen Klassifikationssysteme infrage zu stellen. Eine Betrachtung und Bewertung dieser Ergebnisse ist insbesondere auch im Hinblick auf die differenzialtherapeutische Entscheidung unter Praxisbedingungen notwendig. Benzodiazepine führen dosisabhängig in den meisten Fällen zu Gedächtniseinbußen, v. a. Konsolidierungsprozesse im expliziten Gedächtnis sind hiervon besonders betroffen. Bei akuter Verabreichung treten zudem Beeinträchtigungen psychomotorischer und attentionaler Funktionen auf, die sich im Behandlungsverlauf aufgrund von Toleranz-
entwicklung teilweise abschwächen. Eine längerfristige Einnahme von Benzodiazepinen kann auch nach Absetzen der Substanzen zu überdauernden, allgemeinen kognitiven Einbußen führen. Untersuchungen mit Fokus auf alltagsrelevante Verhaltensparameter wie die Fahrtüchtigkeit weisen auf Beeinträchtigungen des Fahrverhaltens und ein deutlich erhöhtes Verkehrsunfallrisiko unter Benzodiazepinen hin. Ein besonderes Augenmerk sollte den älteren Patienten gelten. Auch wenn die Evidenzlage bezüglich längerfristiger Benzodiazepin-Einnahme und kognitivem Abbau nicht eindeutig ist, so weisen epidemiologische Daten doch darauf hin, dass Benzodiazepine einen potenziellen Risikofaktor aufgrund additiver Effekte in dieser Altersgruppe darstellen. Tri- und Tetrazyklika haben Akuteffekte auf psychomotorische Funktionen vor allem aufgrund ihrer antihistaminergen Eigenschaften. Die anticholinerge Wirkung dieser Substanzgruppe führt zudem zu Gedächtnisbeeinträchtigungen, die oftmals auch im Verlauf der Behandlung bestehen bleiben. Demgegenüber zeichnen sich SSRI vor allem in der akuten Behandlungsphase durch ein günstigeres Nebenwirkungsprofil auf neuropsychologische Funktionen im Vergleich zu Trizyklika aus. Die vorliegenden Vergleichsstudien unterstützen die An-
546
25
Kapitel 25 · Klinisch-Neuropsychologische Aspekte der Therapie mit Psychopharmaka
sicht, dass antidepressive und kognitionsfördernde Effekte von Psychopharmaka nicht gleichzusetzen sind. Gerade bei älteren Patienten sollten Antidepressiva mit stark sedierenden oder anticholinergen Eigenschaften vorsichtig eingesetzt werden. Spezifische Aussagen zu differenzialtherapeutischen Überlegungen innerhalb der Gruppe der neueren, selektiven Antidepressiva können anhand der derzeit vorliegenden Untersuchungen nicht gemacht werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die unterschiedlichen Wirkprofile innerhalb der neueren Antidepressiva auch differenzielle Einflüsse auf neuropsychologische Funktionen aufweisen. So haben etwa Substanzen mit einer Aktivierung des Dopamin-Wiederaufnahme-Transporters vor allem modulierende Auswirkungen auf Exekutivfunktionen, die wiederum in verschiedenen Untersuchungen mit der Prädiktion von Therapieresponse und Rezidivwahrscheinlichkeit bei depressiven Patienten diskutiert werden. Im Hinblick auf die Fahrtüchtigkeit belegen Fahrsimulatorstudien, Ergebnisse realer Fahrproben und epidemiologische Daten eine höhere Verhaltenstoxizität von Tri- und Tetrazyklika gegenüber neueren, selektiven Antidepressiva. Die Daten zu Arbeitsleistung und psycho-sozialem Funktionsniveau unter antidepressiver Medikation lassen keine eindeutigen Rückschlüsse auf einen Vorteil neuerer, selektiver Antidepressiva zu. Antipsychotika nehmen in der Behandlung schizophrener Patienten eine zentrale Rolle ein. Vor allem die Forschungsbemühungen Anfang der 1990er-Jahre, in denen systematisch Zusammenhänge zwischen kognitiven Funktionen und funktionalem Outcome untersucht wurden, führten in der pharmakologischen Forschung dazu, neuropsychologische Funktionsbereiche als wichtige klinische Zielgröße zur Beurteilung der Effektivität einer Substanz zu beachten. Neuroleptika der 1. Generation, sog. Typika weisen in den meisten Fällen eine geringere Effektivität bei der Behandlung neuropsychologischer Funktionsstörungen auf als Atypika. Vor allem in den Bereichen Motorik und exekutive Funktionen zeigen sich hier die deutlichsten Unterschiede. Hinzu kommt, dass es wegen der häufig auftretenden EPM-Symptomatik und der in Folge notwendigen Behandlung mit Antiparkinsonmitteln zu Beeinträchtigungen von Gedächtnisfunk-
tionen kommen kann. Innerhalb der neueren Substanzen sind die Unterschiede bezüglich motorischer, attentionaler und kognitiver Funktionen mehrdeutig und spiegeln neben den unterschiedlichen pharmakologischen Wirkmechanismen auch die große Heterogenität dieses Krankheitsbildes wieder. Eine mögliche Zielgröße für die Überprüfung zukünftiger Behandlungsstrategien könnte vor allem das Konzept des Arbeitsgedächtnisses und das der exekutiven Funktionen sein, die stark mit psychosozialen Outcome-Parametern korrelieren. Arbeitsgedächtnisleistungen scheinen zudem genetisch determiniert zu sein und einen potenziellen Endophänotyp schizophrener Erkrankungen darzustellen (Peuskens et al. 2005). Die Frage, inwiefern psychopharmakologische Interventionen auch zu eindeutigen Verbesserungen der beruflichen und psychosozialen Funktionsbereiche führen, kann derzeit nicht abschließend beantwortet werden. Diese Fragen werden in Zukunft bei der Bewertung der Effektivität eines Psychopharmakons eine zentrale Rolle spielen. Ein patientenrelevanter Endpunkt ist die Alltags- und Verkehrssicherheit. Hier weisen die derzeit vorliegenden Patientenstudien auf einen Vorteil von Atypika im Vergleich zu Typika hinsichtlich psychomotorischer Funktionen hin. Für Antidementiva, in erster Linie für die AchEH- und NMDA-Hemmer, wurden Wirksamkeitsnachweise sowohl auf der Ebene der kognitiven Leistungsfähigkeit, als auch im Bereich der Alltagsaktivitäten und dem klinischen Gesamtbild erbracht. Dabei muss betont werden, dass es sich bei der Behandlung zerebraler Abbauprozesse um eine Verlangsamung der Progredienz der kognitiven Symptome und der Verschlechterung im Bereich der Alltagsbewältigung handelt und nicht um eine Restitution kognitiver Funktionen. Viele der älteren Antidementiva (Nootropika) erfüllen nicht die von den Fachgesellschaften geforderten Wirksamkeitsnachweise auf den unterschiedlichen Beobachtungsebenen. Dies gilt z. T. auch für das Phytopharmakon Ginkgo biloba.
547 25.8 · Literatur
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Fazit Zunehmend ist in den vergangenen Jahren die Bedeutung kognitiver Funktionen als valides Behandlungsziel bei Patienten mit neuropsychiatrischen Erkrankungen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Mit dem gut evaluierten Methodeninventar der Neuropsychologie wird zur Beantwortung dieser Fragestellungen ein wesentlicher Beitrag geleistet. Zu Recht fordern Patienten, dass bei der psychopharmakologischen Behandlung ihre (gesunden) Lebensbereiche nicht zu sehr durch Nebenwirkungen eingeschränkt und beeinträchtigt werden. Für die Bewertung der Effektivität pharmakologischer Behandlungsstrategien werden aus diesem
25.8 Literatur Alexopoulos GS, Kiosses DN, Klimstra S et al. (2002) Clinical presentation of the »depression-executive-dysfunction-syndrome« of late life. Am J Geriatr Psychiatry 10: 98–106 Amado-Boccara I, Gougoulis N, Poirier Littre MF et al. (1995) Effects of antidepressants on cognitive functions: a review. Neurosci Biobehav Rev 19: 479–493 Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (2005) Empfehlungen zur Therapie der Demenz. Arzneiverordnung in der Praxis. 3.Aufl., Köln Barbee JG (1993) Memory, benzodiazepines, and anxiety: integration of theoretical and clinical perspectives. J Clin Psychiatry 54 (suppl 10): 86–97, discussion 98–101 Barbone F, McMahon A, Davey P et al. (1998) Association of road-traffic accidents with benzodiazepine use. Lancet 352: 1331–1336 Barker MJ, Greenwood KM, Jackson M et al. (2004a) Cognitive effects of long-term benzodiazepine use: a meta-analysis. CNS Drugs 18: 37–48 Barker MJ, Greenwood KM, Jackson M et al. (2004b) Persistence of cognitive effects after withdrawal from long-term benzodiazepine use: a meta-analysis. Arch Clin Neuropsychol 19: 437–454 Bilder RM, Goldman RS, Robinson D et al. (2000) Neuropsychology of first-episode schizophrenia: Initial characterization and clinical correlates. Am J Psychiatry 157: 549–559 Bilder RM, Goldman RS, Volavka J et al.(2002) Neurocognitive effects of clozapine, olanzapine, risperidone, and haloperidol in patients with chronic schizophrenia or schizoaffective disorder. Am J Psychiatry 159: 1018–1028 Birks J (2006) Cholinesterase inhibitors for Alzheimer´s disease. Cochrane Database of Systematic Reviews 1: CD005593 Birks J, Flicker L (2003) Selegiline for Alzheimer´s disease. Cochrane Database Syst Rev 1: CD000442 Birks J, Grimley EV, Van Dongen M (2002) Gingko biloba for cognitive impairment in dementia. Cochrane Database Syst Rev 4: CD003120 Bowie CR, Harvey PD (2006) Treatment of cognitive deficits in schizophrenia. Curr Opin Investig Drugs 7: 608–613 Brunnauer A, Laux G (2006) Fahrtüchtigkeit, schizophrene Psychosen und Neuroleptika. In: M Schmauß (Hrsg.) Schizophrenie – Pathogenese, Diagnostik und Therapie. UNI-MED Verlag AG Bremen (383–392)
Grund sog. patientenrelevante Endpunkte wie etwa Alltagssicherheit, Fähigkeit der Teilnahme an sozialen Aktivitäten oder berufliche Qualifizierbarkeit, in Zukunft vermehrt Beachtung finden. Eine Vielzahl der neueren Psychopharmaka zeichnen sich durch ein günstigeres Nebenwirkungsprofil und Vorteilen bezüglich psychosozialer und beruflicher Outcome-Parameter aus. Die deutlichen Unterschiede in den Wirkprofilen zwischen den Substanzen und die großen interindividuellen Unterschiede innerhalb der Krankheitsbilder machen jedoch eine individuelle differenzialtherapeutische Bewertung notwendig.
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25
Kapitel 25 · Klinisch-Neuropsychologische Aspekte der Therapie mit Psychopharmaka
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26 26 Ausblick: Die Neurowissenschaften als integrative Kraft für die klinische Psychologie und Psychiatrie Siegfried Gauggel, Stefan Lautenbacher
26.1 Relevanz der Neuropsychologie für die klinische Psychologie und Psychiatrie – 552 26.2 Zusammenspiel kognitive Psychologie und neurowissenschaftliche Methoden – 553 26.3 Bedeutung der Plastizität des Gehirnes für die Psychotherapie – 556 26.4 Grenzen eines neurobiologischen Forschungszuganges – 559 26.4.1 Kulturspezifische psychische Störungen – 560 26.4.2 Bedeutung der Psychologie bei der Verhaltensgenetik und der Bildgebung – 561
26.5 Literatur
– 563
552
26
Kapitel 26 · Ausblick: Die Neurowissenschaften als integrative Kraft für die klinische Psychologie und Psychiatrie
Die Neuropsychologie und auch die anderen neurowissenschaftlichen Disziplinen (z. B. Verhaltensgenetik, Neuroradiologie, Neuropsychopharmakologie, Neurophysiologie) eröffnen der klinischen Psychologie und der Psychiatrie einen neuen, bislang in dieser Form nicht gekannten Zugang zum Verständnis psychischer Störungen. Die in diesem Buch enthaltenen Beiträge geben einen eindrucksvollen Überblick über die diesbezüglichen technischen, empirischen und theoretischen Entwicklungen. In diesem abschließenden Kapitel greifen die Autoren verschiedene Punkte heraus, die aus ihrer Sicht von besonderer Bedeutung für die Zukunft der Psychopathologieforschung, aber auch für die Diagnostik und Therapie psychischer Störungen sein werden. Es handelt sich hierbei um 4 die Relevanz der Neuropsychologie für die klinische Psychologie und Psychiatrie, 4 den Erkenntnisgewinn durch das Zusammenspiel der kognitiven Psychologie und neurowissenschaftlicher Methoden sowie 4 die Bedeutung der Plastizität des Gehirnes für die Psychotherapie. Am Ende des Kapitels führen die Autoren verschiedene Argumente an, die deutlich machen, dass ein besseres Verständnis psychischer Störungen nicht alleine über eine neurobiologische Perspektive, sondern nur über eine ätiologische Mehrebenenbetrachtung (»multilevel integrative analyses of human behavior«; Cacioppo et al. 2000) zu gewinnen sein wird.
26.1 Relevanz der Neuropsycho-
logie für die klinische Psychologie und Psychiatrie Anhand der Untersuchung von Patienten mit klar definierten und lokalisierten Hirnschädigungen (z. B. Patienten nach einem Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Trauma) wurden durch Neuropsychologen seit Mitte des 19. Jahrhunderts detailliert Struktur-Funktions-Zusammenhänge beschrieben und die komplexe Interaktion zwischen psychischen und neuronalen Prozessen aufgezeigt. Es konnte in vielen Studien nachgewiesen werden, dass Läsionen in bestimmten neuronalen Systemen charakteristische kognitive Störungen hervorrufen (Rapp 2001). Solche Defizite zeigen sich nach einer Hirnschädi-
gung nicht nur in spezifischen kognitiven Funktionsausfällen wie dem Gedächtnis, der Sprache, der Aufmerksamkeit oder der Wahrnehmung, sondern auch in gestörten emotionalen und motivationalen Prozessen. Hirnläsionen können sogar Syndrome hervorrufen, die phänomenologisch ähnlich den klassischen psychischen Störungen (z. B. Manie) sind (Jeste et al. 1988). Ein entscheidender Gewinn des neuropsychologischen Forschungsansatzes besteht darin, dass neben standardisierten und normierten Testverfahren zur Prüfung und Erfassung kognitiver Funktionen auch Modelle zur Verfügung stehen, mit denen sowohl die Symptome einer psychischen Störung funktionell erklärt (z. B. als Störung der Handlungskontrolle) als auch konkrete Annahmen über die neuronale Implementierung der beteiligten Funktionen gemacht werden können (Halligan u. David 2001). Es war daher überfällig, dass der neuropsychologische Forschungsansatz in den letzten Jahren Einzug in die Erforschung psychischer Störungen gehalten hat (Flor-Henry 1990; Halligan u. David 2001). Die Hoffnungen und Erwartungen sind groß, dass zusätzlich zur Bildgebung und zur Molekularbiologie mithilfe neuropsychologischer Forschungsmethoden eine genauere funktionelle Analyse durchgeführt und ein kohärenteres Bild der Ursachen und Pathomechanismen psychischer Störungen gezeichnet werden kann als das bisher der Fall war (Halligan u. David 2001). Die folgende Übersicht fasst die wichtigsten Aufgaben der Neuropsychologie im Bereich der psychischen Störungen zusammen (Keefe 1995). Aufgaben und Ziele der Neuropsychologie psychischer Störungen 4 Entwicklung von Störungsmodellen, die funktionelle als auch neuroanatomische Aspekte berücksichtigen, 4 Beschreibung des Zusammenhanges zwischen kognitiven Störungen und psychischen Symptomen, 4 Identifikation kognitiver Prädiktoren für den Störungsverlauf sowie die Therapieund Rehabilitationspotenziale, 6
553 26.2 · Zusammenspiel kognitive Psychologie und neurowissenschaftliche Methoden
4 Entwicklung von Behandlungsstrategien, die auf die kognitive Basis psychischer Störungen und die spezifischen kognitiven Stärken und Schwächen eines Patienten abgestimmt sind, 4 Restitution kognitiver Funktionen durch neuropsychologisch fundierte Behandlungsverfahren.
26.2 Zusammenspiel kognitive
Psychologie und neurowissenschaftliche Methoden Die Neuropsychologie und die Neurowissenschaften sind für die Entwicklung eines besseren Verständnisses der Psychopathologie psychischer Störungen nicht nur deshalb wichtig, weil das Gehirn das zentrale Organ unseres Erlebens und Verhaltens darstellt. Die Neurowissenschaften haben auch Methoden entwickelt, mit denen der Zusammenhang zwischen Hirnstrukturen und deren genetischen sowie nichtgenetischen Determinanten einerseits und kognitiven, emotionalen und motivationalen Prozessen andererseits immer detaillierter untersucht werden können. Aus diesem Grunde fordert Andreasen (1997) eine neurowissenschaftliche Ausrichtung der Psychopathologieforschung. Kandel (1998, 1999) sieht die neurowissenschaftliche Fundierung und Ausrichtung gar als Chance an, innerhalb der Psychiatrie und auch der Psychotherapie eine neue wissenschaftliche Identität zu entwickeln. Gerade die Entwicklung bildgebender Verfahren und geeigneter experimentalpsychologischer Paradigmen, mit denen nicht nur der strukturelle Aufbau des Gehirnes, sondern auch die zeitliche und räumliche Dynamik physiologischer Prozesse sichtbar gemacht und in Zusammenhang mit kognitiven i Prozessen gebracht werden können, scheint diese Forderungen und Visionen zu unterstreichen (Honey et al. 2002). Es war aber nicht nur die Entwicklung bildgebender Verfahren, die solche Fortschritte ermöglicht hat, sondern auch die Konvergenz und Kooperation verschiedener Fachdisziplinen (klinische Psychologie, Psychiatrie, kognitive Psychologie, Neuropsychologie und andere neurowissenschaft-
26
liche Disziplinen), die letztlich in der Etablierung eines neuen Forschungsgebietes, der kognitiven Neurowissenschaft (Posner u. DiGirolamo 2000), gipfelte. Interdisziplinäre Modellentwicklung Durch die verstärkte Zusammenarbeit dieser Disziplinen konnten für eine ganze Reihe psychischer Störungen (z. B. Schizophrenie, Depression) detaillierte Störungsmodelle (»brain-based cognitive models of illnesses«; Andreasen 1997) entwickelt werden, die den Zusammenhang zwischen bestimmten neuronalen Systemen und kognitiven Prozessen präzisieren und genetische Mechanismen mitberücksichtigen (z. B. Swanson et al. 2000). Diese Modelle versuchen dabei nicht nur zu erklären, welche neuronalen Dysfunktionen bei Patienten mit psychischen Störungen vorliegen, sondern sie beschreiben auch, wie kognitive Funktionen grundsätzlich im Gehirn gesunder Personen implementiert und organisiert sind. Gerade der Bezug zum normalen Erleben und Verhalten ist dabei von entscheidender Bedeutung, da nur aufgrund der Kenntnis des normalen Funktionierens charakteristische pathologische Abweichungen auf neuronaler Ebene entdeckt werden können (Frith u. Dolan 1998; Honey et al. 2002). Entscheidend für den Erfolg einer neurowissenschaftlich begründeten Psychopathologieforschung wird sein, wie gut es gelingt, die Beziehung zwischen kognitiven Prozessen und neuronalen Systemen herzustellen. Dies setzt voraus, dass nicht nur die neurobiologischen Methoden weiter verfeinert und erweitert werden, sondern auch die entsprechenden psychologischen Theorien und Untersuchungsparadigmen. Nur durch eine immer feinere Analyse ist eine Abbildung der psychologischen Ebene auf der neurobiologischen Ebene möglich. Allerdings birgt dieses reduktionistische Vorgehen die Gefahr, sich in Einzelphänomenen zu verlieren, eine Problematik auf die bereits Newell (1973) in der kognitionspsychologischen Forschung hingewiesen hat. Ein Beispiel für ein aktuelles Hirnfunktionsmodell findet sich in . Abb. 26.1. Generell lassen sich in dem Modell vier Betrachtungsebenen unterscheiden (Castellanos u. Tannock 2002; Morton u. Frith 1995). Es handelt sich hierbei um die Ebene der Genetik, Umwelt, neuro-
554
Kapitel 26 · Ausblick: Die Neurowissenschaften als integrative Kraft für die klinische Psychologie und Psychiatrie
26
. Abb. 26.1. Schematische Darstellung eines Hirnfunktionsmodells. Eine Vielzahl an Genen liefert den Bauplan für das Gehirn, wobei die Expression von Genen durch Umweltfaktoren beeinflusst wird. Durch die Interaktion zwischen Genetik und Umwelt bilden sich im Verlauf der Entwicklung die verschiedenen neuronalen Systeme, durch deren Aktivität unterschiedliche psychische Prozesse/kognitive Funktionen (z. B. Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Sprache, Motivation) realisiert werden. Das Zusammenspiel dieser Prozesse
ermöglicht uns zielgerichtetes Verhalten und Erleben. Psychische Störungen können durch Defekte im Bauplan, die Einwirkung kritischer Umweltfaktoren oder durch eine Interaktion zwischen Genetik und Umwelt entstehen. In allen Fällen kommt es zu mehr oder weniger charakteristischen strukturellen und funktionellen Hirnveränderungen, die sich auf der Ebene des Erlebens und Verhaltens als psychische Störungen bemerkbar machen
nalen Systeme und psychischen Prozesse bzw. des Verhaltens und Erlebens. Psychische Störungen werden anhand festgelegter Verhaltens- und Erlebensmerkmale (gedrückte Stimmung, inhaltliche Denkstörung, Hyperaktivität) klassifiziert. Die Ebene der diagnostischen Subgruppen entspricht dabei der im klinischen Kontext routinemäßig verwendeten kategorialen Diagnostik des DSM-IV (Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen) oder der ICD-10 (Kapitel V; Internationalen Klassifikationsschema für psychische Störungen). Beide Systeme sind einem deskriptiven Ansatz verpflichtet und berücksichtigen primär die Symptomatologie sowie den Schweregrad und die Dauer der Symptome. Ätiologische Gesichtspunkte spielen in beiden Klassifikationssystemen momentan kaum eine Rolle. Eine Ausnahme stellen die organisch bedingten und die substanzinduzierten psychischen Störungen dar. Auf der Ebene der psychologischen Konstrukte sind die grundlegenden kognitiven Prozesse und
Funktionen aufgeführt. Diese Prozesse und Funktionen sind Forschungsgegenstand der Psychologie, insbesondere der kognitiven Psychologie, die versucht, den kognitiven Bauplan unseres Erlebens und Verhaltens zu skizzieren (Miller 2003). Die auf der psychologischen Ebene postulierten kognitiven Konstrukte sind Ausgangspunkte für die Analyse psychischer Störungen und für die Suche nach charakteristischen funktionellen Abweichungen. Die Ebene der neurobiologischen Konstrukte gibt Hinweise darauf, wo und wie im Gehirn die neuronale Implementierung der postulierten kognitiven Funktionen realisiert ist. Auf der neurobiologischen Ebene werden die neuroanatomischen Strukturen und Systeme (Netzwerke) beschrieben, die in Zusammenhang mit bestimmten psychischen Prozessen und deren Pathologie gebracht werden. Die Beschreibung des Zusammenhanges zwischen der Ebene der psychologischen und der neurobiologischen Konstrukte ist zentraler Gegenstand der Neuropsychologie, wobei die überlappende
555 26.2 · Zusammenspiel kognitive Psychologie und neurowissenschaftliche Methoden
Darstellung der verschiedenen neurobiologischen Konstrukte in . Abb. 26.1 deutlich macht, dass die Beschreibung und Definition der postulierten neuronalen Netzwerke trotz moderner Forschungsmethoden noch sehr vage ist (Castellanos u. Tannock 2002). Auf der ätiologischen Ebene sind jene Faktoren aufgeführt, die für die Entstehung und Aufrechterhaltung einer psychischen Störung letztlich verantwortlich gemacht werden. Es handelt sich hierbei um Faktoren, die in der Erbinformation (Genetik), der Umwelt oder in der Interaktion zwischen Erbinformation und Umwelt zu finden sind. Genetische Faktoren beinhalten im Wesentlichen Mutationen oder Variationen (z. B. häufigeres Auftreten eines 7-repeat-Allels des Dopaminrezeptors D4) in den Bereichen der DNA, die den Bauplan des Gehirnes enthalten. Bei ADHD werden z. B. bestimmte Kan-
didatengene diskutiert, die Störungen in dopaminergen und noradrenergen Neurotransmittersystemen verursachen sollen. Umweltfaktoren beinhalten alle sozialen Erfahrungen oder sonstige Interaktionen eines Individuums mit der Umwelt (van Praag et al. 2000). Kritische Umweltfaktoren scheinen bei ADHD darzustellen: 4 Schädel-Hirn-Trauma, 4 familiäre und psychosoziale Stressoren (elterliche Kriminalität, Familiengröße, Vorhandensein psychischer Störungen der Eltern etc.), 4 frühe Deprivationen und 4 mütterliches Rauchen während der Schwangerschaft. Für die Entwicklung von Störungsmodellen wird es in Zukunft von großer Bedeutung sein, Brücken
. Tab. 26.1. Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und Hirnstrukturen. (Mod. und gekürzte Version der Tab. 1 in Halligan u. David 2001, S. 210)
Psychische Störungen/ Symptome
Vermittelnde kognitive Prozesse
Hirnstrukturen
Affektwahrnehmung
Furchtkonditionierung
Amygdala-Hippokampus-Komplex
Affektive Störungen
Soziale Kognition
Orbitofrontaler Kortex, Striatum
Depersonalisation
Wahn
Anteriores Cingulum, Thalamus, Pallidum Semantik, Denken
Frontotemporales Netzwerk
Episodisches/autobiografisches Gedächtnis
Medialer Temporallappen
Denkstörung Amnesie Desorganisiertes Verhalten
Dorsolateraler präfrontaler Kortex
Jargon-Aphasie
Phonologische Schleife/inneres Sprechen
Parietalkortex
Verbale Halluzinationen
Verbales Self-Monitoring
Supplementär-motorischer Kortex Gyrus temporalis superior
Denkstörung
Sprachproduktion
Linker Gyrus temporalis
Nichtflüssige Aphasien
Propositionale Planung Lexikalische Verarbeitung
Linker Gyrus frontalis inferior
Prosopagnosie
Gesichtswahrnehmung/-wiedererkennung
Rechter temporooccipitaler Kortex
Motorische Passivität
Motorische Programme
Anteriores Cingulum
Konversionsstörung
Willenshandlung
Supplementär-motorischer Kortex
Apraxie
26
Motorischer Kortex
556
Kapitel 26 · Ausblick: Die Neurowissenschaften als integrative Kraft für die klinische Psychologie und Psychiatrie
zwischen den verschiedenen in . Abb. 26.1 dargestellten Ebenen zu schlagen. Weitere Beispiele für die verschiedenen Analyseebenen aus anderen psychischen Erkrankungen finden sich in . Tab. 26.1. Identifikation von Endophänotypen Symptom-
26
orientierte und meist kategoriale Ansätze haben sich in der Vergangenheit als nicht besonders fruchtbar erwiesen, um die Verbindung zwischen molekulargenetischen Veränderungen und Verhaltensstörungen aufzuzeigen (Merikangas et al. 2002). Als genauso schwierig hat sich bislang gezeigt, von der symptomorientierten Störungsebene eine direkte Verbindung zur neurobiologischen Ebene ziehen zu wollen. Aufgrund dieser Probleme besteht ein großes Interesse daran, quantitative Merkmale, sog. Endophänotypen (z. B. motorische Inhibition, Arbeitsgedächtnis, Belohnungssensitivität, Impulsivität), zu identifizieren, anhand derer das Risiko oder die Empfänglichkeit für eine bestimmte psychische Störung vorhergesagt werden kann (Almasy u. Blangero 2001; Gottesman u. Gould 2003; Lenox et al. 2002; vgl. 7 Kap. 8 »Genetische Aspekte der Neuropsychologie psychischer Störungen« von Wagner, in diesem Band). Die Hoffnung ist, dass anhand der Endophänotypen, bei denen es sich um psychologische (z. B. Inhibition) oder um neurophysiologische Merkmale (z. B. P300) handeln kann, das Erkrankungsrisiko in der gleichen Art und Weise vorhergesagt werden kann, wie das für den Cholesterinspiegel bei der Vorhersage einer kardio- bzw. zerebrovaskulären Erkrankung der Fall ist. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass Endophänotypen kontinuierlich quantifizierbar sind, eine probabilistische Vorhersage erlauben und sie näher zu den kausalen Faktoren (Genetik, Umwelt) stehen als der Phänotyp (d. h. die diagnostischen Kategorien bzw. Symptomatik). Castellanos und Tannock (2002) fordern zusätzlich eine theoretische Fundierung der Suche nach Endophänotypen in den kognitiven Neurowissenschaften.
26.3 Bedeutung der Plastizität des
Gehirnes für die Psychotherapie In den letzten Jahrzehnten wurden viele Belege für die erstaunliche Plastizität des Gehirnes zusam-
mengetragen (Buonomano u. Merzenich 1998; Jeffery u. Reid 1997; Liggan u. Kay 1999; Post u. Weiss 1997). Wir wissen heute, dass das Gehirn nicht fest »verdrahtet« ist, sondern, dass sich die synaptischen Verbindungen strukturell oder in ihrer Effizienz kontinuierlich aufgrund von Umwelterfahrungen (sensorischen Einflüssen) verändern (Kolb u. Whishaw 1998; van Praag et al. 2000). Umfangreiche neuronale Veränderungen sind dabei nicht nur in den Kindheitsjahren möglich, sondern auch im Erwachsenenalter (Grossman et al. 2003; Nelson 1999). Beispielsweise hängt die Repräsentation von Gliedmaßen im sensorischen oder motorischen Kortex stark vom Gebrauch im Alltag ab. So konnten Elbert et al. (1995) nachweisen, dass die kortikale Repräsentation der Finger der linken Hand bei professionellen Streichmusikern größer ist als bei Kontrollpersonen, die kein Streichinstrument spielen. Genauso scheinen sich die neuronalen Aktivierungsmuster von kongenital blinden Personen beim Lesen von Brailleschrift von Personen zu unterscheiden, die erst zu einem späteren Zeitpunkt erblindet sind (Burton et al. 2002). Bei kongenital blinden Personen fand sich allgemein eine stärkere metabolische Aktivierung im okzipitotemporalen Kortex sowie eine stärkere Aktivierung auf der kontralateralen Seite des okzipitalen Kortex, deren Hand für das Lesen der Brailleschrift verwendet wurde. Der posteriore Anteil des Hippokampus, der in Zusammenhang mit dem räumlichen Gedächtnis und der Raumrepräsentation gebracht wird, ist bei Londoner Taxifahrern signifikant größer als bei Kontrollpersonen, und das Hippokampusvolumen korreliert positiv mit der beruflichen Erfahrung der untersuchten Taxifahrer (Maguire et al. 2000). Durch die Verfügbarkeit von Techniken, mit denen umweltinduzierte neuronale Veränderungen entdeckt werden können, lassen sich auch charakteristische Veränderungen bei bestimmten psychischen Störungen nachweisen. Beispielsweise konnten Mühlnickel et al. (1998) in einer Bildgebungsstudie (Magnetenzephalographie) zeigen, dass die kortikale Repräsentation der störenden Tonhöhen von Patienten mit einem Tinnitus gegenüber gesunden Personen deutlich verschoben war und die subjektive Stärke des Tinnitus mit dem Umfang der kortikalen Repräsentation dieser Tonhöhen signifi-
557 26.3 · Bedeutung der Plastizität des Gehirnes für die Psychotherapie
kant korrelierte. Genauso konnte mittels funktioneller Kernspintomographie gezeigt werden, dass das Erleben von Phantomgliedschmerzen mit dem Umfang der kortikalen Reorganisation in ganz engem Zusammenhang steht (Flor et al. 1995). Aufgrund solcher Studien wird auch deutlich, dass neuronale Anomalien nicht einfach als Beleg für eine genetische Verursachung angesehen und als Hinweise auf den endogenen Charakter der Störung gewertet werden können. Neuronale Anomalien können auch durch (frühe) aversive Umwelterfahrungen (z. B. Deprivation, Traumatisierungen) verursacht worden sein (Grossman et al. 2003). Von daher ist es wichtig, sich der wechselseitigen Beeinflussbarkeit neuronaler Prozesse durch Umwelt und Genom bewusst zu werden (s. auch nachfolgende Theoriebox und . Abb. 26.2). In zahlreichen Studien konnte zwischenzeitlich gezeigt werden, dass epigenetische Mechanismen eine wichtige Rolle bei der Regulation der Genaktivität spielen (Tsankova et al. 2007) und sich die Suche nach Pathomechanismen nicht nur auf Veränderungen im Kerngenom beschränken kann. Die Erkenntnis, dass das Gehirn eine erhebliche Plastizität besitzt, hat auch unmittelbar Auswirkungen auf die Psychotherapie. Aufgrund der Verfügbarkeit von bildgebenden Verfahren, mit denen die metabolischen Veränderungen auch bei komplexen
26
psychischen Prozessen (z. B. Affektregulation, Gedächtnisabruf) sichtbar gemacht werden können, ist es heute erstmals möglich, die neuronalen Veränderungen aufzuzeigen, die mit einer erfolgreichen psychotherapeutischen Behandlung einhergehen (vgl. 7 Kap. 23 »Bildgebende Verfahren und deren Bedeutung für die Psychotherapie« von Gauggel, in diesem Band). Das Ende des kartesianischen Dualismus Auch wenn die Wirkmechanismen auf neuronaler Ebene noch spekulativ sind, kann aus den bislang vorhandenen Bildgebungsstudien der Schluss gezogen werden, dass es auch bei psychotherapeutischen Interventionen zu signifikanten Veränderungen auf neurobiologischer Ebene kommt. Sollten weitere Studien diese Befunde bestätigen, wäre der Nachweis erbracht, dass Psychotherapie eine direkte neurobiologische Wirkung hat. Damit erscheint die Trennung in somatische (meist medikamentöse) und psychologische (meist verbale) Therapieverfahren künstlich (Gabbard 2000). Die Aufspaltung in somatische und psychologische Verfahren spiegelt den heute nicht mehr gut begründbaren kartesianischen Dualismus wider und suggeriert, dass somatische Behandlungsverfahren Gehirnfunktionen messbar beeinflussen, während psychologische Verfahren ohne fassbare Wirkung auf das Gehirn
. Abb. 26.2. Verursachungsmodelle: ältere (unidirektionale) und moderne (bidirektionale) Sichtweise
558
Kapitel 26 · Ausblick: Die Neurowissenschaften als integrative Kraft für die klinische Psychologie und Psychiatrie
Theoriebox
Wie kann die Umwelt die Genexpression beeinflussen?
26
In Grundlagenstudien mit der Meeresschnecke Aplysia konnte nachgewiesen werden, dass die Genexpression durch Umweltfaktoren beeinflusst werden kann (Kandel 1998, 2001). Entsprechende molekulargenetische Studien haben gezeigt, dass ein Gen aus zwei Abschnitten besteht. Ein Kodierabschnitt (»coding region«) enthält die relevante genetische Information zur Bildung bestimmter Proteine. Ein Regulationsabschnitt (»regulatory region«) liegt vor dem Kodierabschnitt und besteht aus zwei Desoxyribonukleinsäureelementen (DNA-Elementen). Das Promotorelement ist eine Stelle, an der das Enzym Ribonukleinsäurepolymerase (RNA-Polymerase) die Geninformation zu lesen beginnt und den DNA-Kodierabschnitt in messenger-Ribonukleinsäure (mRNA) übersetzt. Das Verstärkerelement stellt das zweite DNA-Element dar und erkennt Proteinsignale, die bestimmen, wann und in welcher Zelle der Kodierabschnitt durch die Polymerase transkribiert (d. h. Bildung einer einsträngigen RNA am sinnvollen Strang der DNA) wird. Eine kleine Anzahl an Proteinen oder Transkriptionsregulatoren, die an verschiedenen Abschnitten des Verstärkerelements andocken, bestimmen, wie oft sich die RNA-Polymerase an die Promotorsequenz bindet und die nachfolgende genetische Information transkribiert. Interne oder externe Reize (soziale Interaktion, Stress, Lernvorgänge) können aber – wie die Studien von Kandel gezeigt haben – die Anbindung des Transkriptionsregulators an den Verstärkerabschnitt verändern und so die Transkription regulieren (Kandel 2001). Aufgrund solcher Befunde kann erklärt werden, wie es durch Umwelteinflüsse und -stimulationen zu neuronalen
bleiben. Dies trifft aber nicht zu. Alle Therapieformen wirken mehr oder weniger stark auf das biologische Substrat ein, das für psychische Prozesse verantwortlich ist. Jedes Lernen und jede Erfahrung gehen mit mehr oder weniger umfangreichen physiologischen und/oder strukturellen
Veränderungen (z. B. Veränderung der Stärke synaptischer Verbindungen, Zellwachstum, Synaptogenese) kommen kann. Somit könnte auch erklärt werden, warum junge, aber auch erwachsene Versuchstiere (Ratten, Vögel), die in angereicherten Umwelten gehalten werden, sich im Verhalten und in bestimmten neuronalen Parametern von Tieren unterscheiden, deren Umwelt verarmt oder überbevölkert ist (van Praag et al. 2000). Wie komplex aber die Interaktion zwischen Genetik und Umwelt sein kann, zeigt eine Studie über die neuronale Mechanismen der Schwanzbewegung (»tail-flip reflex«) des Flusskrebses (Yeh et al. 1996). Die Schwanzbewegung steht in Zusammenhang mit der Furcht-Kampf-Reaktion des Flusskrebses und wird im Wesentlichen über ein serotonerges Neuron ausgelöst. Allerdings wird die Wirkung des Neurotransmitters durch die soziale Stellung des Tieres beeinflusst. Eine Serotoninausschüttung führt bei dominanten Tieren zu einer Bewegungsinitiierung, bei nichtdominanten Tieren zur Unterdrückung der Bewegung. Ändert sich die soziale Stellung des Tieres verändert sich auch die Wirkung des Neurotransmitters. Dies kann als Hinweis auf eine flexible Kodierung der Neurotransmitterwirkung gewertet werden. Studien wie diese zeigen eindrücklich, dass soziale Faktoren neuronale Mechanismen in unserem Gehirn beeinflussen können. Mithilfe solcher Befunde kann aber auch der positive Einfluss psychotherapeutischer Interventionen erklärt werden. Da Patienten bei einer Therapie Erfahrungen machen, neue Einsichten entwickeln und auch Neues lernen, findet während der Therapie eine kontinuierliche Stimulation statt, was zu einer Veränderung der Genexpression in bestimmten Bereichen des Gehirnes führen kann, die z. B. für die Speicherung von Information und die emotionale Kontrolle verantwortlich sind.
Veränderungen auf molekularer und zellulärer Ebene im Gehirn einher. Da Patienten bei psychotherapeutischen Interventionen Erfahrungen machen, neue Einsichten entwickeln und auch »Neues« lernen, sind solche neuronalen Veränderungen auch nicht überraschend (Liggan u. Kay 1999; Post u.
559 26.4 · Grenzen eines neurobiologischen Forschungszuganges
Weiss 1997). Die Unterscheidung der Behandlungsverfahren wird sich daher zukünftig nicht nur daran orientieren, in welcher Form das Verfahren durchgeführt wird, sondern neben der psychologischen, auch an der neurobiologischen Wirkung des Verfahrens. Dies ist zugegebenermaßen momentan noch sehr schwierig, aber es sollte längerfristig mithilfe verbesserter oder weiterentwickelter Forschungsmethoden gelingen, eine genauere neurobiologische Wirkungsanalyse für die verschiedenen Psychotherapieverfahren der psychologischen an die Seite zu stellen. Hierbei darf nicht übersehen werden, dass Behandlungserfolge aufgrund des komplexen Struktur-Funktions-Zusammenhanges nur bedingt auf der neurobiologischen Ebene messbar sind. Neuronale Veränderungen können erst anhand der Kenntnis psychischer Zustände, beziehungsweise beobachteter psychischer Veränderungen sinnvoll interpretiert werden. Von daher werden auch in der Zukunft die subjektiven Angaben des Patienten bei Diagnostik einer Störung und bei der Messung des Therapieerfolges eine entscheidende Rolle spielen. Für die verschiedenen psychotherapeutischen Therapieschulen wird es sicherlich in der Zukunft sehr wichtig werden, die neuen Untersuchungsverfahren der Neurowissenschaften in ihren Methodenkanon zu integrieren, um z. B. damit zu untersuchen, inwiefern sich Therapie-Responder und Non-Responder auf molekularer und molarer neuronaler Ebene unterscheiden. Zwangsläufig wird sich dabei ergeben, dass die Wirkungsmechanismen der verschiedenen Therapien überdacht, ggf. ergänzt und präzisiert werden müssen. Auch wird ein engerer Bezug zur kognitiven Psychologie hergestellt werden müssen. Erste Ansatzpunkte für solche Modellvorstellungen lassen sich aber schon jetzt ableiten.
26
werden in der kognitiven Verhaltenstherapie Gesprächstechniken (z. B. sokratischer Dialog, systemimmanente Gesprächsführung), aber auch Rollenspiele, Selbstbeobachtungstechniken und Hausaufgaben eingesetzt. Der Patient soll durch die Therapie lernen, die dysfunktionalen Denkmuster und Einstellungen zu erkennen und zu reflektieren. Er wird dadurch in die Lage versetzt, diese zu beeinflussen und um- oder neu zu bewerten. Hierbei werden kognitive und emotionale Prozesse aktiviert, die man heute in präfrontalen, limbischen und hippokampalen Arealen des Gehirns lokalisiert. Die Psychoanalyse und psychodynamischen Therapien gehen davon aus, dass es in der Kindheit aufgrund externer Einflüsse (z. B. Erziehungs- und Bindungsverhalten der Eltern, moralischer Normen) zu Konflikten bei der psychosexuellen Entwicklung kommt, die für das Kind mit negativen Affekten besetzt sind. Werden diese Konflikte nicht befriedigend gelöst, kommt es zu Verdrängung der affektgeladenen Vorstellungen ins Unbewusste. Durch Aufstauung der verdrängten Vorstellungen kann es zu Persönlichkeitsstörungen und neurotischen Fehlentwicklungen kommen. Die Psychoanalyse betont insbesondere die prägenden Einflüsse früher Beziehungserfahrungen auf die Entwicklung psychischer Strukturen und die Genese psychischer Störungen. Das Ziel der Therapie besteht in der Gewinnung von Einsicht und Reintegration zuvor unbewusster Aspekte der Erfahrung. Dies geschieht durch die Auflösung der Verdrängung, das Erinnern (freie Assoziation, Traumdeutung) und die Rekonstruktion biografischer Ereignisse. In diesem Therapiemodell spielen Gedächtnis- und Lernprozesse sowie die Emotionsregulation, deren neuronale Verankerung heute schon sehr gut beschrieben ist, eine wichtige Rolle.
Psychotherapeutische Wirkmechanismen Inner-
halb der kognitiven Verhaltenstherapie wird versucht, mithilfe lerntheoretischer Prinzipien dysfunktionale Verhaltensweisen zu reduzieren und funktionale Verhaltensweisen aufzubauen (O’Donohue u. Krasner, 1995). Operante Lernprinzipien (assoziatives Lernen), deren neurobiologische Grundlagen im Hippokampus, dem limbischen System, der Amygdala und den Basalganglien zu suchen sind, könnten bei der Erklärung der Wirkmechanismen eine sehr wichtige Rolle spielen. Darüber hinaus
26.4 Grenzen eines neurobiolo-
gischen Forschungszuganges Die technischen Fortschritte der molekularen Genetik und der Neuroradiologie verleiten dazu, biologische Mechanismen und Prinzipien bei der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen, aber auch bei der Erklärung menschlichen Verhaltens sehr stark zu betonen und das komplexe
560
Kapitel 26 · Ausblick: Die Neurowissenschaften als integrative Kraft für die klinische Psychologie und Psychiatrie
Wechselspiel zwischen Umwelt und Genetik, aber auch die in . Abb. 26.1 aufgeführten Betrachtungsund Erklärungsebenen aus den Augen zu verlieren (s. hierzu auch Floersch et al. 1997). Bandura (2000) hat auf die Problematik einer vollständigen Reduktion psychologischer Phänomene auf die Biologie sehr pointiert hingewiesen:
26
Knowing how the biological machinery works tells one little about how to orchestrate that machinery for diverse purposes. To use an analogy, knowing how a television set produces images in no way explains the nature of the creative programs it transmits (Bandura 2000, S. 2; s. a. Bandura 2001).
Dieser Einwand muss sicherlich bei der Suche nach den Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens und deren neurobiologischen Grundlagen berücksichtigt werden. Menschliche Verhaltensweisen können nicht vollständig auf der Basis von neurobiologischen Theorien erklärt werden (Gold u. Stoljar 1999). Anhand der Kenntnis der am Lernen beteiligten neuronalen Systeme erhält man noch keine befriedigende Auskunft darüber, wie Lernbedingungen und -material in Hinblick auf Menge, Abstraktionsgrad etc. gestaltet werden müssen, um einen optimalen und dauerhaften Lerngewinn zu erzielen, und um die Motivation zum Lernen aufrecht zu halten. Genauso wenig können anhand dieser Erkenntnisse die therapeutische Beziehung zu Patienten gestaltet und das subjektive Leiden, die Wünsche und Bedürfnisse der Patienten erfasst und Lebensperspektiven entwickelt werden. Zu beachten ist auch, dass die neurobiologische Ausstattung nicht die kulturelle Vielfalt und den schnellen Wechsel sozialer, kultureller und individueller Praktiken in den letzten 3000 Jahren erklären kann. Die Evolution hat im Gegensatz zur kulturellen und sozialen Entwicklung eine wesentlich langsamere Dynamik. Die »Softwareprogramme« in unserem Kopf verändern sich wesentlich schneller als die »Hardware«. Es gibt aber noch einige andere Argumente, die für eine Mehrebenenbetrachtung (»multilevel integrative analyses of human behavior«; Cacioppo et al. 2000) des menschlichen Verhaltens sprechen. Nachfolgend werden zwei dieser Argumente detaillierter betrachtet.
26.4.1
Kulturspezifische psychische Störungen
Im »World Mental Health Report« (Desjarlais et al. 1996) wird mehrfach darauf hingewiesen, dass psychische Störungen und Verhaltensprobleme eng an die soziale Welt geknüpft sind. Beispielsweise identifizieren die Autoren des Berichtes zahlreiche soziale Faktoren (Hunger, Arbeit, Bildung, häusliche Gewalt etc.), die einen Einfluss auf die psychische Gesundheit von Frauen haben. Auch bei der Entwicklung von Abhängigkeitsstörungen bei Jugendlichen und jungen Männern spielen soziale Faktoren eine entscheidende Rolle. Kulturelle Brüche, soziale Verwerfungen, Mangel an sozialer Unterstützung und Arbeitslosigkeit stellen Risikofaktoren für die Entstehung einer Abhängigkeitsstörung dar. Die Psychopathologie ist daher nicht nur eine Psychopathologie des Geistes oder des Gehirnes, sondern auch eine Psychopathologie der sozialen Welt (López u. Guarnaccia 2000). Besonders deutlich sichtbar wird der Einfluss der Umwelt bei einer Reihe von psychischen Störungen, die nur innerhalb eines bestimmten Kulturkreises auftreten (Jilek u. Jilek-Aal 2000). »Ataque de nervios« (Nervenattacke) ist eine psychische Störung, die häufig bei Latinos aus der Karibik, aber auch bei anderen Latinogruppen auftritt. Symptome einer »Ataque de nervios« sind 4 Zittern, 4 Weinanfälle, 4 unkontrolliertes Schreien, 4 verbale oder körperliche Aggressivität sowie 4 ein Gefühl des Kontrollverlusts. Episoden einer »Ataque de nervios« treten häufig nach einem kritischen Lebensereignis (z. B. Scheidung, Tod des Partners) auf. Die betroffenen Personen können sich nach der Episode nicht mehr an die Attacke erinnern und erreichen schnell wieder ihr ursprüngliches Funktionsniveau. »Ataque de nervios« finden sich gehäuft bei Frauen und bei Personen, die älter als 45 Jahre sind, eine gescheiterte Ehe hinter sich haben oder einen geringeren sozioökonomischen Hintergrund aufweisen. Bei »Koro« handelt es sich um eine psychische Störung, bei der eine Furcht oder gar Panik vor einer Retraktion des Genitals besteht und die in Südost-
561 26.4 · Grenzen eines neurobiologischen Forschungszuganges
asien, Südchina, Indien oder Ägypten auftritt. In schweren Fällen sind die Männer der Überzeugung, dass sich der Penis unmittelbar in den Unterleib zurückziehen wird. Frauen ihrerseits glauben, ihre Brüste, die Vulva oder die Labien werden eingezogen. Die Reaktionen darauf sind unterschiedlich: Die meisten »Opfer« versuchen ihre äußeren Geschlechtsmerkmale regelrecht »festzuhalten«. Obwohl die genannten Störungen als lokale Variationen von Angst-, depressiven oder somatoformen Störungen oder Anpassungsstörungen aufgefasst werden können, lässt sich anhand dieser Störungen der kulturelle Einfluss auf die Entstehung und Ausprägung einer psychischen Störung erahnen.
26.4.2
Bedeutung der Psychologie bei der Verhaltensgenetik und der Bildgebung
Schon im 1. Abschnitt dieses Kapitels wiesen die Autoren darauf hin, dass ein Brückenschlag zwischen der neurobiologischen und der psychologischen Ebene nicht nur durch eine weitere Verfeinerung der Messmethoden möglich ist, sondern auch durch eine Weiterentwicklung psychologischer Theorien. Gerade die Entwicklung detaillierter Theorien über die verschiedenen psychischen Prozesse und Funktionen ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass verhaltensgenetische und bildgebende Studien zielgerichtet geplant, adäquat kontrolliert durch-
26
geführt und die Ergebnisse sinnvoll interpretiert werden können. Mithilfe moderner bildgebender Verfahren können heute ganz unterschiedliche bioelektrische Signale und/oder metabolische Aktivitäten (vgl. 7 Kap. 6 »Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen« von Braus, Tost und Demirakça, in diesem Band) registriert werden. Die Interpretation dieser Signale ist aber nur dann sinnvoll möglich, wenn der psychologische Zustand der Person bekannt ist, in dem sie sich zum Zeitpunkt der Registrierung befunden hat (Kossyln 1999). Mit anderen Worten: die Interpretation der abhängigen Variablen »Biosignal« ist nur dann möglich, wenn die unabhängige Variable »psychologische Aktivität« sorgfältig ausgewählt oder induziert und kontrolliert wurde. Die Konstruktion und Auswahl der unabhängigen Variablen baut dabei auf psychologischen Theorien und Befunden auf. Vergleichbares trifft auch auf verhaltensgenetische Untersuchungen zu. In diesen Untersuchungen geht es nicht nur darum, auf molekulargenetischer Ebene genetische Marker zu identifizieren oder – wie in der quantitativen Genetik – den Grad der genetischen Übereinstimmung zu kontrollieren, sondern auch darum, möglichst genau den Phänotyp bzw. den Endophänotyp zu messen. »Thus, the key to behavioral genomics is behavior« (Plomin u. Crabbe 2000, S. 822). Eine valide Messung psychologischer Konstrukte setzt dabei eine fundierte und empirisch abgesicherte psychologische Theoriebildung voraus.
. Tab. 26.2. Grundlegende Prinzipien, Belege und Probleme einer neurowissenschaftlich fundierten klinischen Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie. (In Anlehnung an Kandel 1998, 1999)
Prinzipien
Schlussfolgerung
Belege
Probleme
Alle mentalen Prozesse basieren auf Aktivitäten des Gehirnes
Allen psychischen Störungen liegt eine Störung neuronaler Prozesse zugrunde
Läsionen bestimmter Hirnareale führen zu spezifischen kognitiven Defiziten Psychopharmaka beeinflussen das Erleben/Verhalte
Keine 1:1-Abbildung von Struktur und Funktion Grundlegende philosophische Probleme bei der Beschreibung des Zusammenhanges (z. B. Erklärungslückenproblem) Die unterschiedliche Betrachtungsebenen sind nicht ineinander überführbar
6
Psychologische Zustände rufen metabolische oder neurophysiologische Veränderungen in bestimmten Hirnarealen hervor
562
Kapitel 26 · Ausblick: Die Neurowissenschaften als integrative Kraft für die klinische Psychologie und Psychiatrie
. Tab. 26.2 (Fortsetzung)
26
Prinzipien
Schlussfolgerung
Belege
Probleme
Gene und deren Proteinprodukte sind wichtige Determinanten für die Verbindung zwischen Neuronen und für deren Funktionieren
Genetische Faktoren spielen bei psychischen Störungen eine zentrale Rolle
Zwillings- oder Adoptionsstudien belegen den genetischen Einfluss (unterschiedliche Konkordanzraten) bei psychischen Störungen
Verhalten wird über multiple Gene reguliert, wobei der Varianzanteil einzelner Gene sehr klein ist. Psychische Störungen entstehen somit nicht durch Veränderungen in einem Gen, sondern durch Veränderungen verschiedener Gene.
Genveränderungen können aber nicht alleine und vollständig das Zustandekommen einer psychischen Störung erklären
Verhalten, Umwelt und soziale Faktoren können die Genexpression und somit die Funktion von Nervenzellen beeinflussen
Belege aus Grundlagenstudien mit einfachen Organismen (Aplysia) und Studien zur Plastizität des Gehirnes (z. B. nach Amputationen, Schädel-HirnTrauma, Erblindung, intensivem Training)
Durch Lernen verursachte Veränderungen in der Genexpression können das Muster der neuronalen Verbindungen verändern
Unterschiedliche Genexpression, verursacht durch die Umwelt, bildet nicht nur die biologische Grundlage für Individualität, sondern auch für das Entstehen und die Aufrechterhaltung einer psychischen Störung Trennung in endogene oder exogene psychische Störungen ist nicht haltbar
Belege aus Grundlagenstudien mit einfachen Organismen (Aplysia) und Studien zur Plastizität des Gehirns (z. B. nach Amputationen, Schädel-HirnTrauma, Erblindung, intensivem Training
Eine erfolgreiche Psychotherapie und Beratung, die zu längerfristigen Verhaltensänderungen führt, erreicht dies über Lernvorgänge. Das Lernen wird durch Veränderungen in der Genexpression möglich, was zu Veränderung synaptischer Verbindungen und anatomischer Strukturen im Gehirn führt
Die Methoden der Neurowissenschaften (insbes. bildgebende Verfahren) können die neurobiologischen Auswirkungen einer erfolgreichen Psychotherapie abbilden
Nachweis neurophysiologischer Veränderungen nach erfolgreicher Psychotherapie
Methoden zum Nachweis der neurophysiologischen Veränderungen sind noch sehr grob und wenig reliabel.
563 26.5 · Literatur
26
Zusammenfassung In diesem Kapitel, wie auch in anderen, wurde deutlich, welchen Beitrag die Neuropsychologie und die anderen neurowissenschaftlichen Disziplinen für das Verständnis psychischer Störungen leisten können. . Tab. 26.2 fasst die wichtigsten Erkenntnisse zusammen. Es sollte aber auch deutlich geworden sein, dass noch ein sehr weiter Weg vor uns liegt, bis das menschliche Denken und dessen neuronale Implementierung, aber auch seine Pathologie auch nur annähernd verstanden wird. Der Forschungsgegenstand ist zugegebenermaßen äußerst komplex und beinhaltet ganz unterschiedliche Betrachtungs- und Analyseebenen. Er umfasst auch grundsätzliche philosophische Fragen, wie bspw. die nach der Entstehung von Bewusstsein aus der Aktivität einfacher Neurone (Erklärungslückenproblem; Pauen 2001). Warnen möchten die Autoren nachdrücklich vor einer Sichtweise, bei der nur noch die biologische Betrachtungsebene gesehen wird. Kandel (1998, 1999) und andere Forscher leiten zwar mit Recht unter Berufung auf die Neurowissenschaften die Bildung eines neuen Fundamentes und einer neuen Identität für die Psychiatrie und klinische Psychologie ab, übersehen oder vergessen aber in ihrem Enthusiasmus die psychosozialen Seiten der Medaille. Auch wenn die Grenzen zwischen Neurowissenschaften, Psychiatrie, klinischer Psychologie und Neurologie durch
26.5 Literatur Almasy L, Blangero J (2001) Endophenotypes as quantitative risk factors for psychiatric disease: rationale and study design. Am J Med Genet 105: 42–44 Andreasen NC (1997) Linking mind and brain in the study of mental illnesses: A project for a scientific psychopathology. Science 275: 1586–1593 Bandura A (2000) Swimming against the mainstream. Accenting the positive in human nature. In: Beagle HMS (ed) The BioMedNet Magazine. http://news.bmn.com/hmsbeagle/70/viewpts/op_ed, posted January 21, 2000 Issue 70 Bandura A (2001) The changing face of psychology at the dawning of a globalization era. Can Psychol 42: 12–24. Bandura plädiert überzeugend für eine herausragende Rolle der Psychologie bei der Erforschung psychischer Prozesse. Er sieht die Psychologie als eine integrative Forschungsdisziplin, die in der Lage ist, biologische und psychosoziale Aspekte menschlichen Verhaltens zu analysieren.
die angestrebte neurobiologische Begründung zu verschwimmen scheinen, sollte dies nicht dazu führen, dass psychologische und soziale Aspekte nur noch am Rande auftreten und erwähnt werden, wie das z. B. in den Artikeln von Martin (2002) und Yudofsky und Hales (2002) der Fall ist. Menschliches Erleben und Verhalten und damit natürlich auch psychische Krankheiten spielen sich – wie die vorausgegangenen Abschnitte gezeigt haben – nicht nur in biologischen, sondern auch in sozialen und kulturgeschichtlichen Zusammenhängen ab. Es sind vor allen Dingen soziale und psychologische Faktoren, die die mannigfaltigen kulturellen Unterschiede, die Unterschiede in Werthaltungen und Einstellungen zwischen Menschen und Gruppen erklären (Cacioppo 2002). Von daher ist nicht nur ein »Bio-Engineering«, sondern auch ein »Psychosozial-Engineering« notwendig. Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaften tragen maßgeblich zur Lösung zentraler gesellschaftsund gesundheitspolitischer Herausforderungen (Umgang mit chronischen Erkrankungen, Lebensstile, Erziehung und Weiterbildung, Gewalt und Aggression sowie Gesundheitsvorsorge) bei und dürften in vielen Bereichen von mindestens genauso großer gesellschaftlicher Relevanz sein wie die Erkenntnisse der Neurobiologie. Ein Zusammenwirken beider Bereiche ist deshalb unablässig, genauso wie das Zusammenspiel der rechten und linken Hand bei einer Klaviersonate (Cohen 1991).
Buonomano DV, Merzenich MM (1998) Cortical plasticity: from synapses to maps. Annu Rev Neurosci 21: 149–186 Burton H, Snyder AZ, Conturo TE, Akbudak E, Ollinger JM, Raichle ME (2002) Adaptive changes in early and late blind: a fMRI study of Braille reading. J Neurophysiol 87: 589–607 Castellanos FX, Tannock R (2002) Neuroscience of attention-deficit/ hyperactivity disorder: the search for endophenotypes. Nat Rev Neurosci 3: 617–628 Cacioppo JT (2002) Social neuroscience: understanding the pieces fosters understanding the whole and vice versa. Am Psychol 57: 819–831 Cacioppo JT, Berntson GG, Sheridan JF, McClintock MK (2000) Multilevel integrative analyses of human behavior: social neuroscience and the complementing nature of social and biological approaches. Psychol Bull 126: 829–843. Cacioppo et al. plädieren für eine Vielebenenanalyse menschlichen Verhaltens. Sie belegen anhand zahlreicher Studien den Einfluss sozialer Faktoren auf unser Verhalten. Cohen R (1991) Wozu taugen psychologische Ansätze in der Psychiatrie. In: Schneider F, Bartels M, Foerster K, Gärtner HJ (Hrsg) Perspektiven der Psychiatrie. Fischer, Stuttgart, S 89–98
564
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Kapitel 26 · Ausblick: Die Neurowissenschaften als integrative Kraft für die klinische Psychologie und Psychiatrie
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Anhang: Glossar
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Anhang
Acetylcholin. Neurotransmitter des zentralen und
vegetativen Nervensystems. Eine Gruppe Acetylcholin freisetzender Neurone ist der Nucleus basalis Meynert mit diffusen Verbindungen in den gesamten Kortex. Adrenokortikotropes Hormon (ACTH). Hormon
der Nebennierenrindenachse. Polipeptid, das innerhalb weniger Minuten die Ausschüttung von Kortisol in der Nebennierenrinde anregt.
sierte Angststörung zählen zur Gruppe der Angststörungen. Anorexia nervosa. Essstörung, deren auffälligstes
Merkmal der gravierende Gewichtsverlust durch eine strenge Reduktion der Kalorienaufnahme darstellt. Typisch sind auch bizarre Verhaltensweisen im Umgang mit Nahrung. Antidepressiva. Psychopharmaka zur Therapie
von Depressionen. Affektive Störungen. Gruppe psychischer Störun-
gen, bei denen es zu einer Veränderung der Stimmung oder der Affektivität, meist zur Depression hin, gekommen ist. Neben einer depressiven Stimmung kann auch eine gehobene, euphorische Stimmungslage auftreten (bipolare Verlaufsform im Gegensatz zur unipolaren).
Anteriorer Gyrus cinguli. Der gürtelförmige, zwi-
schen dem Balken und dem Sulcus cinguli gelegene Gyrus. Anxiolytika. Psychopharmaka mit angstreduzieren-
der Wirkung. Hauptgruppen bilden Tranquillanzien (Beruhigungsmittel) vom Typ der Benzodiazepine.
Akalkulie. Unfähigkeit, mathematische Operatio-
nen durchzuführen.
Aphasie. Störung oder Verlust der Fähigkeit, sich
Allel. Eine von mehreren Ausprägungen eines Gens
sprachlich oder schriftlich auszudrücken sowie Verlust des Verständnisses der gesprochenen Sprache.
an einem Locus.
menz, die durch einen kontinuierlichen Abbau kognitiver Funktionen (insbesondere des Gedächtnisses) einhergeht.
Arbeitsgedächtnis. Spezielle Form des Gedächtnisses. Das Arbeitsgedächtnis entspricht einem System von temporären Speichern, in denen auch eine Manipulation der temporär gespeicherten Information möglich ist.
Amnesie. Gedächtnisstörung, Unfähigkeit, neue
Asperger-Syndrom. Von Asperger zuerst beschrie-
Informationen über einen längeren Zeitraum zu speichern.
bene autistische Störung. Kennzeichen sind eine Störung der Beziehungsfähigkeit, Auffälligkeiten des Blickkontaktes, Mangel an Expressivität, fehlendes Einfühlungsvermögen, isolierten Rückzug, ausgeprägten Egozentrismus, ungewöhnliche und eingeschränkte intellektuelle Interessen sowie Bindung an Objekte.
Alzheimer-Krankheit. Eine spezielle Form der De-
Amygdala. Mandelkern, unter dem Temporallappen liegende subkortikale Struktur. Angst- und Panikstörung. Es werden unterschie-
den die generalisierte Angststörung, bei der die Betroffenen ohne äußeren Anlass dauerhaft unter Ängsten leiden, die phobischen Ängste, die sich angesichts bestimmter Situationen und Objekte aufdrängen, obwohl der Patient die Unbegründetheit der Angst erkennt und die zu Vermeidungsverhalten führen und die Panikstörung, die durch ohne sichtbaren Anlass entstehende intensive Ängste gekennzeichnet sind, die meist attackenartig auftreten. Auch die Zwangsstörungen und die generali-
Aufmerksamkeit. Allgemeine Bezeichnung für einen
Zustand der gesteigerten Wachheit und Anspannung, bei dem die geistige Aktivität auf einen oder mehrere bestimmte Gegenstände, Vorgänge, Gedanken etc. gerichtet ist. Es werden 3 verschiedene Aspekte der Aufmerksamkeit werden unterschieden: 1. »Alerting« kann als Aufmerksamkeitsaktivierung verstanden werden, weil hier eine hohe Sensitivität für Stimuli aufgebaut oder gehalten wird.
567 Glossar
2. »Orienting« ist charakterisiert durch eine selektive Aufmerksamkeitslenkung auf bestimmte Stimuli (offen oder verdeckt) und eine damit einhergehende unterdrückte Aufmerksamkeit auf andere Stimuli. 3. Mittels der exekutiven Kontrolle werden Konflikte zwischen zwei oder mehreren Reaktionsalternativen gelöst. Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHD). Psychische Störung des Kindes- und Ju-
gendalters. Kennzeichen sind Aufmerksamkeitsstörungen und/oder Hyperaktivität.
Cingulärer Kortex. Areal des limbischen Systems,
das direkt über dem Corpus callosum an den medialen Wänden der Großhirnhemisphären liegt und dem zentrale Bedeutung bei der Integration emotionaler und kognitiver Prozesse zugewiesen wird. Demenz. Schwerwiegender Verlust intellektueller
Fähigkeiten (v. a. des Gedächtnisses) mit Veränderung der Persönlichkeit und gravierenden Aktivitätseinschränkungen im Alltag. Depression. Gedrückten, pessimistische Stimmungslage evtl. verbunden mit Angstzuständen und Selbsttötungstendenzen.
Autismus. Psychische Störung des Kindes- und Ju-
gendalters, die durch eine schwere und allgemeine Störung der sozialen Beziehung, eine Störung der Kommunikation sowie verschiedene sich wiederholende und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten gekennzeichnet ist.
Diskonnektion. Strukturelle und/oder funktionelle Durchtrennung von Fasern, die Gehirnareale verbinden, die als Folge nicht mehr miteinander kommunizieren können. Wird als pathophysiologische Grundlage der Schizophrenie diskutiert.
Basalganglien. Eine Gruppe paariger, dem extra-
Dopamin. Biogene Substanz:
pyramidal-motorischen System zugehöriger Endhirn- und Zwischenhirnkerne. Befindet sich im Wesentlichen unterhalb des vorderen Neokortex.
4 Unmittelbarer Präkursor bei der Biosynthese des Noradrenalins, 4 Neurohormon (des Hypothalamus) und 4 Neurotransmitter.
Benzodiazepine. Wirkstoffe mit sedativer und –
dosisabhängig – hypnotisch sowie angst- u. spannungslösender (anxiolytischer), aber auch muskelrelaxierender und antikonvulsiver Wirkung. »Blood Oxygenation Level Dependency« (BOLD).
Von Sauerstoffaufnahme des Blutes abhängiger Kontrastmechanismus. Der BOLD-Effekt beruht auf unterschiedlichen magnetischen Eigenschaften von oxygeniertem und desoxygeniertem Hämoglobin im Blut. Mit BOLD-fMRT werden Veränderungen der neuronalen Aktivität gemessen (s. a. funktionelle Kernspintomographie).
Dopamin wird in verschiedenen Teilsystemen synthetisiert aus Tyrosin über die Zwischensubstanz DOPA unter Beteiligung zweier Enzyme. Der Abbau vollzieht sich über mehrere Wege mit dem Endprodukt Homovanillinsäure. Doppelte Dissoziation. Bezeichnung einer Er-
kenntnislogik. Die Schädigung einer Hirnregion (A) führt zu einer Störung im Verhalten (X), ohne dass andere Verhaltensweisen (Y) beeinträchtigt werden. Die Schädigung einer Hirnregion (B) führt dagegen zu einer Verhaltensstörung (Y), lässt aber Verhalten (X) intakt.
Bulimie. Sog. Fresssucht; übermäßiges Essbedürf-
nis, bei dem das Hungergefühl fehlen kann. Bulimia nervosa (mit phasenhafter übermäßiger Nahrungsaufnahme und anschließendem – selbst herbeigeführtem – Erbrechen oder Laxanzienabusus bei häufig geringen Schwankungen des Körpergewichtes.
Dualismus. René Descartes prägnant formulierte These eines Dualismus von Körper und Geist bzw. von res extensa und res cognitans.
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Anhang
Erblichkeit. Anteil der phänotypischen Unter-
schiede zwischen Individuen, die in einer bestimmten Population auf genetische Unterschiede zurückgeführt werden kann.
Funktionelle Magnetresonsanztomographie (fMRT). Auf der Kernspintomographietechnik ba-
sierende Methodik zur Messung von Blutflussänderungen.
Exekutive Funktionen. Der Begriff »exekutive
GABA. Abkürzung für c-Aminobuttersäure, biogen
Funktionen« bezieht sich auf kognitive Funktionen, mit denen eine adaptive Steuerung kognitiver Verarbeitungsprozesse ermöglicht und das kognitive System auf die zielgerichtete Reizverarbeitung und Handlungssteuerung vorbereitet wird oder auf Prozesse, die zusätzlich zu den eigentlichen Informationsverarbeitungsprozessen ablaufen, und auf diese kontrollierend und steuernd einwirken. Solche Prozesse kommen ins Spiel, 4 wenn das informationsverarbeitende System kurzfristig von einer kognitiven Anforderung auf eine andere umgestellt werden muss, 4 wenn Prozesse der Wahrnehmung oder der Handlungskontrolle vorzubereiten sind, 4 wenn habituelle Verhaltensantworten auf Stimuli unterdrückt werden müssen oder 4 wenn bereits eingeleitete Verhaltensantworten modifiziert bzw. abgebrochen werden sollen.
aus Glutaminsäure gebildet, wichtigster hemmender Neurotransmitter.
Exekutive Funktionen werden auch dann relevant, wenn kognitive Operationen selegiert oder koordiniert werden müssen, wie etwa bei der Bewältigung zeitgleicher oder zeitlich überlappender kognitiver Anforderungen.
Genotyp. Genetische Ausstattung eines Indivi-
Frontalkortex. Stirnlappen des Gehirnes (Lobus
frontalis). Bezeichnung für alle kortikale Strukturen, die anterior des Sulcus centralis liegen. Frontostriäres Schleifensystem. Bezeichnung für
eine Gruppe von fünf Schleifensystemen, die ihren Ursprung im frontalen Kortex haben und über die Verbindung zu den Basalganglien und dem Thalamus wieder zu der kortikalen Ausgangsstelle zurückprojizieren. Dysfunktionen in den verschiedenen Schleifensystemen werden mit bestimmten psychischen Störungen (z. B. Zwangsstörungen, Schizophrenie) in Verbindung gebracht.
Gedächtnis. Gedächtnis beinhaltet das Speichern
und den Abruf von Informationen. Beim Gedächtnis werden das semantische und episodische Gedächtnis sowie das prozedurale Gedächtnis unterschieden. Im episodischen Gedächtnis werden u. a. autobiografische Ereignisse und nach Ort und Zeit bestimmte Fakten abgelegt. Im semantischen Gedächtnis sind u. a. Kenntnisse über die Welt, über generelle Zusammenhänge und Schulwissen abgespeichert. Im prozeduralen Gedächtnis sind mechanische und motorische Fertigkeiten sowie Handlungsabläufe gespeichert. Gen. DNS-Basensequenz, die ein bestimmtes Pro-
dukt kodiert oder die Transkription reguliert.
duums oder die Kombination von Allelen an einem bestimmten Locus. Generalisierte Angststörung. Dauerhafte und ex-
zessive Furcht oder Sorge von mindestens 6 Monaten Dauer. Die Befürchtungen drehen sich um mindestens 2 Lebensbereiche (z. B. Arbeit, Finanzen, Ehe), oder um einen Lebensbereich, wenn die Patienten generell grüblerisch sind und häufigen zu Sorgen neigen. Genotyp. Die Gesamtheit der Erbanlagen, Erbbild, genetische Ausstattung. Derselbe Genotyp kann durch Umwelteinflüsse zur Ausbildung verschiedener Phänotypen führen. Glutamat. Biogene Aminosäure, auch Vorstufe von
GABA, Salz der Glutaminsäure, gilt als wichtigster exzitatorischer Transmitter im Zentralnervensystem. Bei längerer Exposition neurotoxische Wirkung.
569 Glossar
Gyrus angularis. Ein Gyrus im posterioren Kortex
an der Grenze zwischen Temporal- und Parietallappen. Man nimmt an, dass der Gyrus angularis der linken Hemisphäre eine Rolle beim Lesen spielt.
magnetische Wechselfelder anregt und aufnimmt. Mittels Computer wird eine Karte der gemessenen Änderungen in der magnetischen Resonanz von (Gehirn-)Substanz gebildet.
Hippokampus. Sichelförmiggekrümmter(seepferd-
Kognition. Allgemeiner Ausdruck, der sich auf die
chenähnlicher) Längswulst am Boden des Unterhornes des Seitenventrikels des Gehirnes. Struktur des medialen Temporallappens.
Vorgänge, die beim Denken eine Rolle spielen, bezieht. Oberbegriff für alle Prozesse, die mit dem Denken zusammenhängen (z. B. Wahrnehmungen, Attribution, Erinnern, Erwartung).
Hypnotika. Synonym Schlafmittel; Psychophar-
maka, die Schlaf herbeiführen, erzwingen oder fördern. Hypnotika stammen v. a. aus den Gruppe der Benzodiazepine oder der Barbiturate. Hypophyse. Hirnanhangsdrüse, die etwa bohnen-
große endokrine Drüse an der Hirnbasis in der sog. Sattelgrube ist durch das Infundibulum direkt mit dem Hypothalamus verbunden und stellt mit diesem eine morphologische und funktionelle Einheit dar. Das hypothalamisch-hypophysäre System ist die entscheidende Nahtstelle (Schaltstelle) zwischen den neuronalen und hormonellen Regelprozessen.
Kortisol. Synonym: Hydrokortison. Wichtigstes in
der Nebennierenrinde produziertes Glukokortikosteroid. Die Sekretion von Kortisol folgt einer zirkadianen Periodik. Kortisol spielt eine bedeutende Rolle im Intermediärstoffwechsel und als Modulator des Immunsystems. Kortisol stimuliert die Glukoneogenese, hemmt die Glukoseaufnahme und -utilisierung im peripheren Gewebe, fördert die Lipolyse, hemmt die Proteinbiosynthese bei gleichzeitiger Stimulation der Proteolyse. Kortisol hat eine antiphlogistische und immunsuppressive Wirkung. Kortikotropes Hormon (CRH). Freisetzungshor-
Hypothalamus. Ventraler Teil des Zwischenhirnes,
umfasst das höchste Zentrum des autonomen (vegetativen) Nervensystems. Hier vollzieht sich die Koordination und Integration der vegetativen Körperfunktionen sowie des Hormonhaushaltes (Kohlenhydratstoffwechsel, Wasser- und Salzaushalt, Wärmegleichgewicht und Sexualfunktionen). Hier finden sich auch Zentren der motivationalen Bekräftigung (Hunger, Sexualität u. a.).
mon des Hypothalamus, das die Freisetzung von ACTH in der Hypophyse stimuliert. ACTH wird gebildet in den basophilen Zellen des Hypophysenvorderlappens unter Kontrolle eines entsprechenden Releasingfaktors des Hypothalamus unter Beteiligung des negativen Feedback-Mechanismus des Kortikosteroidspiegels. Lese-Rechtschreib-Störung (LRS). Legasthenie.
Kernspintomographie. Bildgebendes Verfahren,
Sammelbegriff für alle Defizite beim Lesen und Lesenlernen. Mangelndes Sinnverständnis für Gelesenes; meist als Schwäche im Erlernen des Lesens (bei hinreichender Intelligenz und normal-neurologischem Befund), d. h. Unfähigkeit, Buchstaben zu Silben bzw. Silben zu Wörtern zusammenzufügen; dadurch meist auch Rechtschreibschwierigkeiten mit Reihenfolgenumstellungen und gestaltlicher Buchstabenverwechslung (Inversion bzw. Reversion). Oft mit Gestalterfassungs- und Wortgestaltungsstörungen. Sammelbegriff für alle Defizite beim Lesen und Lesenlernen.
bei dem hochauflösende Darstellungen von Strukturen des lebenden Gehirnes gewonnen werden, indem man Strahlungen von Wasserstoffkernen durch
Limbisches System. (lat. limbus, Saum, Rand, Umgrenzung). Ansammlung von untereinander ver-
Inselkortex. Kortexareal, das durch den anterioren
Teil des Temporallappen überlagert wird. Intelligenz. Geistige Begabung und Beweglichkeit.
Befähigung, sich schnell in ungewohnten Situationen zurechtzufinden, Sinn- und Beziehungszusammenhänge zu erfassen und neuen Gegebenheiten und Anforderungen durch Denkleistungen sinnvoll zu entsprechen.
570
Anhang
bundenen Kernen und Strängen, die kreisförmig um den Thalamus angelegt ist und bei der Entstehung von Emotionen eine Rolle spielt. Magnetresonsanztomographie (MRT). Ein nichtinvasives, bildgebendes, als topografische MRSpektroskopie aufzufassendes Diagnoseverfahren unter Nutzung eines Magnetfeldes hoher Feldstärke sowie von in gepulster Form eingestrahlten Radiowellen im Megahertz-(MHz-)Band von geringer Intensität. Hierdurch werden Protonen der Wasserund Fettbestandteile im Organismus zur Kernspinnresonanz angeregt. Nach Abschalten der MHz-Anregungsfrequenz werden die MR-Signale durch die Empfängerspulen, die den Patienten umgeben, aufgenommen. Das Signal ist von der Wasserstoffdichte und den Abklingzeiten abhängig. Durch Rechenoperationen eines Computers werden viele Messungen in verschiedenen Richtungen zu einem Schichtbild zusammengesetzt, das in Grau- oder Farbtonabstufungen Aufschluss über die räumliche Wasserstoffverteilung und ihre Wechselwirkungen mit der Umgebung gibt. Die MRT kommt zur Anwendung als Ganzkörperuntersuchung und zur Diagnostik krankhafter Veränderungen, in der Neurologie und Neurochirurgie v. a. des Zentralnervensystems und des Rückenmarkskanals.
Neuroleptika. Psychopharmaka, die in der Phar-
makotherapie psychotischer Zustände sowie bei starken nichtpsychotischen Angst- und Erregungszuständen verwendet werden. Psychotrope Substanzen mit antipsychotischer, sedierender und psychometrischer Wirkung. Mittlerweile werden klassische und atypische Neuroleptika unterschieden, wobei letztere zur Behandlung kognitiver Störungen bei schizophrenen Patienten besonders geeignet sind. Neurologische Störungen. Sammelbegriff für eine
Vielzahl von Störungen des zentralen, peripheren und vegetativen Nervensystem und der Muskulatur. Neuronale Netzwerke. Ein Netzwerk, das aus ver-
schiedenen kortikalen und subkortikalen Arealen und Kerngebieten besteht und für die Realisierung bestimmter Funktionen verantwortlich ist. Neuropeptide. Familie von über 50 Peptiden, die im Nervensystem, meist im Gehirn, bei der Erregungsübertragung als Neurotransmitter, -modulatoren oder -hormone eine Rolle spielen. Sie kommen in bestimmten Hirnstrukturen mit Transmittern gemeinsam vor und werden mit diesen gemeinsam freigesetzt.
Manie. Manie ist gekennzeichnet durch unange-
messen gehobene Stimmung, Antriebssteigerung, beschleunigtes Denken und Selbstüberschätzung (bis hin zum Größenwahn).
Neuropsychiatrie. Teilgebiet der Psychiatrie, das
Mesolimbische dopaminerge Bahn. Eine dopa-
Neuropsychologie. Teilgebiet der Psychologie, in
minerge Verbidnung, die im ventralen Tegmentum (VTA) beginnt und im Nucleus accumbens endet.
dem die Beziehung zwischen dem Gehirn und dem Verhalten/Erleben untersucht wird. Die Neuropsychologie befasst sich mit der Erforschung der zentralnervösen Grundlagen des Bewusstseins und des Verhaltens. Untersucht werden insbesondere die Einflüsse von Hirnschäden auf menschliches Verhalten.
Motivation. Beweggründe des Handelns. Die Ge-
samtheit der psychischen Faktoren und Prozesse, die die Richtung, Intensität und Persistenz des Verhaltens bestimmen. Nebennierenrinde. Adrenaler Kortex, äußere
Schicht der Nebenniere (Adrenaldrüse), die Keimdrüsenhormone sowie Hormone, die den SalzZucker-Haushalt im Blut regulieren, produziert. Kortex der Nebenniere, der als Reaktion auf Stress Glukokortikoide ausschüttet.
sich vorrangig mit der neuronalen Dysfunktion psychischer Störungen beschäftigt.
Neuropsychologische Diagnostik. Gebiet der psychologischen Diagnostik, in dem die Auswirkungen einer Hirnschädigung oder -erkrankung auf das Erleben und Verhalten diagnostiziert wird. Neuropsychologische Störungen. Sammelbegriff
für Störungen psychischer Funktionen und Pro-
571 Glossar
zesse (z. B. Gedächtnis, Sprache, Aufmerksamkeit), die infolge einer Erkrankung oder Verletzung des Gehirnes auftreten.
Phobie. Psychische Störung, gekennzeichnet durch
Neuropsychologische Therapie. Hierbei handelt es sich um psychologische Interventionen zur Verbesserung oder Beseitigung neuropsychologischer Defizite. Zur neuropsychologischen Therapie gehören Maßnahmen zur Funktionsrestitution, aber zur Kompensation von Defiziten. Kompensation beinhaltet auch die Unterstützung des Patienten oder seiner Angehörigen bei der Krankheitsverarbeitung und -bewältigung.
Plastizität. Bezeichnet die Fähigkeit des Nerven-
extreme Angst vor bestimmten Objekten oder Situationen.
systems zur Veränderung (z. B. in Abhängigkeit von Umwelterfahrungen). Polygenie. Zusammenspiel zahlreicher Gene in
der Vererbung einzelner Merkmale. Positronenresonanztomographie (PET). Eine
pitalis) im Großhirn.
Technik zur Visualisierung der Stoffwechselaktivität des Gehirnes durch Messung der Akkumulation von radioaktiv markierten Stoffwechselprodukten (z. B. 2-Desoxyglukose). Bildgebendes computertomographisches Verfahren unter Nutzung der bei Positronenzerfall entstehenden Photonen. Der Versuchsperson wird eine radioaktiv markierte Substanz verabreicht, die im Gehirn metabolisiert wird. Durch besondere Detektoren wird die Radioaktivität aufgezeichnet.
Panikstörung. Psychische Störung; Hauptmerk-
PosttraumatischeBelastungsstörung(PTSD). Psy-
male sind häufige Angst- bzw. Panikanfälle oder die dauerhafte Sorge vor solchen Anfällen bzw. ihren Konsequenzen. Angstanfälle sind plötzlich auftretende Zustände intensiver Furcht oder Unbehagens mit einer Vielzahl körperlicher und psychischer Symptome und dem Gefühl drohender Gefahr. Dauer im Schnitt 30 min, kann aber auch erheblich kürzer sein.
chische Störung, die nach einem schwerwiegenden traumatischen Ereignis oder Katastrophen auftreten kann. Zu den charakteristischen Symptomen gehören: sich aufdrängende schmerzliche Erinnerungen an das traumatische Ereignis, belastende Träume oder Alpträume, Ängste und Vermeidungsverhalten, ein emotionaler Erstarrungs- oder Taubheitszustand, die Unfähigkeit sich zu entspannen, Schlafstörungen, Konzentrations- und Gedächtnisschwierigkeiten, Schreckhaftigkeit und Erregbarkeit. Oft geht die Symptomatik einher mit erheblichem Interessenverlust an zuvor gern ausgeübten Tätigkeiten. Die Betroffenen fühlen sich anderen und der Welt um sich herum entfremdet.
Noradrenalin. Synonym: angloamerikanisch Nor-
epinephrin, zu den Katecholaminen gehörend, Hormon des Nebennierenrindenmarkes sowie Neurotransmitter im vegetativen und Zentralnervensystem. Okzipitalkortex. Hinterhauptlappen (Lobus occi-
Parietalkortex. Scheitellappen (Lobus parietalis). Pallidum. Globus pallidus, gehört zu den Basal-
ganglien, eine Ansammlung von Vorderhirnnuklei, die sich im Wesentlichen unterhalb des vorderen Neokortex befinden.
Psychiatrische Störungen. S. psychische StörunPhänotyp. Erscheinungsbild; äußere Merkmale
eines Individuums. Die genetisch kontrollierte Eigenschaft oder das gesamte Erscheinungsbild eines Individuums zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Entwicklung als Ergebnis der kombinierten Wirkung von Genotyp und Umwelt.
gen. Psychische Störungen. Normabweichung im Ver-
halten und Erleben einer Person, das mit funktionalen/psychosozialen Beeinträchtigungen und teilw. Leiden einhergeht.
572
Anhang
Psychoanalyse. Psychoanalyse ist der Name für die von Sigmund Freud begründete Disziplin und bezeichnet: 1. Eine Reihe von psychologischen Einsichten, Konzepten, Theorien, Modellvorstellungen über Entstehung und Funktionsweisen der menschlichen Psyche. 2. Ein Verfahren zur Untersuchung seelischer Vorgänge, die sonst kaum zugänglich sind, insbesondere werden unbewusste Bedeutungen von Reden, Handlungen, Gefühlen und imaginären Bildungen (Träumen, Phantasien, Wunschvorstellungen) untersucht. 3. Eine psychotherapeutische Methode, die sich auf diese Untersuchung gründet und durch die Deutung von Wunsch und Abwehr, von Übertragung und Gegenübertragung gekennzeichnet ist. (In dieser Bedeutung wird Psychoanalyse synonym für die psychoanalytische Behandlung verwendet). Rechenstörung. Von einer Dyskalkulie wird ge-
sprochen, wenn über einen längeren Zeitraum allgemeine und hartnäckige Schwierigkeiten beim Erlernen mathematischer Zusammenhänge auftreten und dies ohne Minderung der allgemeinen Intelligenz und trotz normaler Förderung passiert. Regionaler zerebraler Blutfluss (rCBF). Metabo-
lische zerebrale Aktivierung; mit dem PET kann man den rCBF als Index für die synaptische Aktivität in bestimmten Hirnarealen im Ruhezustand, aber auch im Rahmen von Aktivierungsstudien unter verschiedenen Bedingungen bestimmen. Schizophrenie. Eine Gruppe von psychischen Stö-
rungen, die durch ausgeprägte Störungen des Denkens, der Emotion und des Verhaltens gekennzeichnet sind. Es finden sich Denkstörungen (zwischen den Gedanken gibt es keinen Zusammenhang), fehlerhafte Wahrnehmungen, Aufmerksamkeitsdefizite, Störungen der motorischen Aktivität sowie Beeinträchtigung der Verbindung zwischen Wahrnehmung und Emotion, was zu flachen, unangemessenen, ambivalenten oder labilen Emotionen führt.
Serotonin. Biogene Substanz aus der Klasse der
Indolamine. Wirkt im Zentralnervensystem als Neurotransmitter. Stimulanzien. Psychostimulanzien (z. B. Methyl-
phenidat) sind Substanzen, die eine stimulierende Wirkung auf das Zentralnervensystem haben. Kennzeichnend sind Erhöhung der subjektiven Aktiviertheit, Beseitigung von Müdigkeit, Leistungsverbesserung, v. a. hinsichtlich der Geschwindigkeit, nicht unbedingt der Genauigkeit, Verbesserung der Stimmung. Striatum. Streifenkörper; eine gemeinsame Bezeichnung zweier subkortikaler Kerne der Basalganglien: Nucleus caudatus und Putamen (zusammen bilden sie das Striatum). Substantia nigra. Schwarze Substanz im Mesenze-
phalon. Kernregion des Mittelhirnes im mesolimbischen Dopaminsystem, die viele dopaminerge Verbindungen zum Striatum enthält. Substanzmittelmissbrauch und-abhängigkeit.
Substanzmissbrauch: Ein Konsummuster psychotroper Substanzen, das zu einer psychischen oder physischen Gesundheitsschädigung des Konsumenten führt. Abhängigkeitssyndrom: Gruppe körperlicher, Verhaltens- und kognitiver Phänomene, bei denen der Konsum einer Substanz oder einer Substanzklasse für die betroffene Person Vorrang hat gegenüber anderen Verhaltensweisen, die von ihr früher höher bewertet wurden. Ein entscheidendes Charakteristikum der Abhängigkeit ist der oft starke, gelegentlich übermächtige Wunsch, psychotrope Substanzen oder Medikamente, Alkohol oder Tabak zu konsumieren. Im Gegensatz zu Substanzabhängigkeit umfassen die Kriterien für Substanzmissbrauch keine Toleranzentwicklung, keine Entzugssymptome und kein Muster zwanghaften Substanzgebrauchs. Im Vordergrund stehen somit die schädlichen Konsequenzen wiederholten Substanzgebrauchs. Tegmentum. Kernregion des Mittelhirnes, die viele dopaminerge Verbindungen zu den limbischen und kortikalen Strukturen aufweist.
573 Glossar
Temporalkortex. Schläfenlappen des Gehirnes
(Lobus temporalis). Liegt in der mittleren Schädelgrube. Nach oben wird er von der seitlichen Hirnfurche begrenzt, nach hinten oben und hinten schließen sich Parietal- und Okzipitallappen an. Der Temporalkortex hat obere, mittlere und untere Temporalwindungen und enthält u. a. die Hör- und Riechsphäre und das Wernicke-Zentrum. »Theory of Mind«. bezeichnet die Fähigkeit, anderen und sich selbst mentale Zustände wie Intentionen, Wissen, Überzeugungen, Denken und Wollen zuschreiben zu können. Tranquilizer. Medikament, das mäßig bis geringe
Angstniveaus reduziert; häufig bei Angststörungen verwendet; vor allem aus der Stoffklasse der Benzodiazepine, hohes Suchtpotenzial. Transkranielle Magnetstimulation. Die transkra-
nielle Magnetstimulation (TMS) ist ein Verfahren, mit dem in umschriebenen Kortexarealen temporäre Reizeffekte ausgelöst werden können. Die TMS wird nicht nur in der Neurologie zur Bestimmung der Intaktheit der Pyramidenbahnen eingesetzt, sondern auch bei funktionell-anatomische Fragestellungen (z. B. zur Lokalisation von Gedächtnisfunktionen). Es werden auch mögliche therapeutische Effekte, insbesondere bei repetitiver TMS (rTMS), bei der Behandlung von Bewegungsstörungen und Depressionen diskutiert. Thalamus. Kerngruppe im Dienzephalon. Der Tha-
lamus enthält viele verschiedene Kernpaare, von denen die meisten in den Kortex projizieren. Einige thalamische Kerne dienen als sensorische Schaltstationen für bestimmte sensorische Systeme. Sie erhalten afferente Signale, die sie vorverarbeiten und an die entsprechenden Areale des sensorischen Kortex übermitteln. Verhaltensgenetik. Analyse genetischer Neigun-
gen. Hierzu gehören Merkmale wie Intelligenz, Aggression, asoziales Verhalten etc. Die Verhaltensgenetik legt nahe, dass der direkte elterliche Einfluss auf die Persönlichkeit des Kindes die Pubertät kaum überdauert. Die maßgeblichen langfristigen Einflüsse sind vielmehr im Genom und in nichtgeteil-
ten (individualspezifischen) Umwelten und nicht im familienspezifischen zu suchen. Verhaltenstherapie. Verfahren zur Behandlung
psychischer Störungen. In der Verhaltenstherapie ist eine große Zahl einzelner Therapietechniken auf lern- oder kognitionstheoretischer Grundlage entwickelt worden, wie z. B. die Reizkonfrontation oder die kognitive Umstrukturierung. Zwangsstörung. Gruppe von Angststörungen, bei
denen wiederkehrende Zwangsgedanken und-handlungen im Mittelpunkt stehen. Zwangsgedanken sind Ideen, Vorstellung oder Impulse, die den Patienten immer wieder stereotyp beschäftigen. Sie sind fast immer quälend, weil sie gewalttätigen Inhaltes oder obszön sind, oder weil sie einfach als sinnlos erlebt werden. Zwangshandlungen oder -rituale sind ständig wiederholte Stereotypien, die weder als angenehm empfunden werden, noch nützliche Zwecke verfolgen. Die Patienten erleben sie als Vorbeugung gegen ein objektiv unwahrscheinliches Ereignis, das ihnen Schaden bringt oder bei dem sie selbst Unheil anrichten können. Zerebellum. Kleinhirn, liegt in der unteren Hälfte
des Hinterhauptes. Das Zerebellum besitzt Faserverbindungen zum Großhirn und zum motorischen System. Ein akuter Ausfall des Zerebellums führt zu schweren Gleichgewichts-, Bewegungs- und Koordinationsstörungen.
Anhang: Testglossar1
1 Die Auswahl der Tests für dieses Glossar orientiert sich an den Tests, die in den einzelnen Kapiteln dieses Buches Erwähnung gefunden haben, und versucht keine umfassende Bestandsausnahme neuropsychologischer Untersuchungsinstrumente.
576
Anhang
Test
Abkürzung
Beschreibung
Aachener Aphasietest
AAT
Der AAT ist ein speziell für die deutsche Sprache entwickeltes Verfahren zur Diagnose von Aphasien. Geprüft werden sprachliche Störungen beim Nachsprechen, beim Lesen und Schreiben, beim Benennen und im Sprachverständnis hinsichtlich verschiedener sprachlicher Einheiten. Ein weiterer Bestandteil des AAT ist der »Token Test«, der zusätzliche Informationen zur Abgrenzung gegenüber nichtaphasischen Störungen und zur Bewertung des Schweregrads der Aphasie gibt.
Aachener Förderdiagnostische Rechtschreibfehler Analyse
AFRA
Die AFRA ist ein sprachwissenschaftlich fundiertes Verfahren zur Analyse von Rechtschreibfehlern. Ziel des Verfahrens ist die objektive Ermittlung derjenigen Problembereiche, in denen Schülerinnen und Schüler mit Schwierigkeiten beim Erlernen der Rechtschreibung noch Übungsbedarf haben.
Apathie-Evaluationsskala
AES
Bei der AES handelt es sich um einen 18 Items umfassenden Fragebogen (Selbst- und Fremdbeurteilung), mit dem auf einer jeweils 4-stufigen Likert-Skala eine Beurteilung von Apathiemerkmalen erfolgt.
Alters-Konzentrations-Test -
AKT
Der AKT ist ein speziell für ältere Menschen entwickeltes Verfahren zur Messung der Konzentrationsfähigkeit und Vigilanz. Aufgabe ist es, die jeweils auf dem Testblatt oben gezeigte Figur aus einer Reihe ähnlicher Figuren herauszusuchen und durchzustreichen.
»Alzheimers Disease Assessment Scale«
ADAS
Die ADAS ist eine Skala zur Verlaufsbeurteilung demenzieller Symptome. Dabei werden kognitive Leistungen (ADAScog: Orientierung, Gedächtnis, Benennen von Gegenständen, Befolgen von Anweisungen), aber auch das Verhalten während des Interviews und psychopathologische Symptome erfasst.
»Alzheimer‘s Disease Assessment Scale – Cognitive Subscale«
ADAScog
Siehe »Alzheimer’s Disease Assessment Scale«
»Attention Network Task«
ANT
Die ANT stellt ein computergestütztes Testverfahren zur Erfassung von drei Komponenten der Aufmerksamkeit dar. Neben der Fähigkeit zur Aufmerksamkeitsorientierung und Alertness werden exekutive Funktionen (Reaktionskompetition) geprüft.
Auditiv-verbaler Lerntest
AVLT
Test zur Erfassung der verbalen Merkfähigkeit unter Lern- und Interferenzbedingungen (Wortlisten). Dem Probanden wird eine Wortliste mit 15 Wörtern vorgelesen, die er unmittelbar danach reproduzieren soll. Insgesamt erfolgt eine 5-malige Darbietung der Liste. Anschließend wird eine 2. Liste dargeboten, bei der wieder so viele Wörter wie möglich reproduziert werden sollen. Anschließend wird der Proband ohne erneute Vorgabe nach den Wörtern der 1. Liste gefragt. Das Wiedererkennen der Wörter der ersten Liste erfolgt nach 30 min.
Aufmerksamkeits- BelastungsTest (d2)
d2
Durchstreichtest zur Messung der selektiven Aufmerksamkeit und der Konzentrationsfähigkeit mit Angabe von Geschwindigkeits- und Genauigkeitsparametern (zu bearbeitendes Formblatt mit 15 Zeilen zur Vorgabe der Zeichen).
»Babcock Story Recall Test«
BSRT
Test zur Erfassung des Kurzzeitgedächtnisses für bedeutungsvolle Geschichten mit Möglichkeiten zur sofortigen und verzögerten Prüfung.
577 Testglossar
Test
Abkürzung
Beschreibung
»Benton Line Orientation Test«
BLOT
Der BLOT ist ein Instrument zur Erfassung der Wahrnehmung der Linienorientierung als basaler Aspekt der visuell-räumlichen Wahrnehmung, Orientierung und des räumlichen Denkens (Mappe zur Vorgabe der Linienpaare).
»Benton Test«
BT
Test zur Erfassung der visuellen Merkfähigkeit, bei dem geometrische Figuren entweder nachgezeichnet oder auf Wahlformen wiedererkannt werden sollen (Serien von je 10 Stimuluskarten zur Vorlage).
»Benton Visual Retention Test«
BVRT
S. »Benton-Test« -
»Biber Figure Learning Test«
BFLT
Der BFLT ist ein Test zur Erfassung des visuellen Gedächtnisses unter Lernbedingungen mit Abfrage des unmittelbaren und verzögerten Behaltens durch Wiedererkennen des Zielreizes unter Distraktoren oder durch freies Wiedererinnern (Listen mit geometrischen Figuren).
Bimodaler Vigilanztest
BVT
Test zur Erfassung der parallelen Verarbeitung visuellen (Zeigerausschläge auf einem Voltmeter) und auditiven (vorgesprochene Buchstabenfolgen) Reizmaterials (Dual-task-Paradigma, experimentelle Anordnung).
»Birmingham Object Recognition Battery«
BORB
Die BORB ist ein Screeningverfahren zur Feststellung von Störungen in den Bereichen visuelle Wahrnehmung, perzeptive Diskrimination, Objekterkennung und Zeichnen.
Block-Design
Block-Design
Test für visuokonstruktive Fähigkeiten (Subtest von WAIS, WAIS-R, HAWIE-R), bei dem der Proband mittels Blöcken mit verschiedenen Seitendesigns figurale Vorgaben replizieren soll.
Blockmerkspanne
BMS
Visuelle Merkspanne vorwärts und rückwärts; siehe »Block Tapping Test«
»Block Tapping Test«
BTT
Test zur Erfassung visuell-räumlicher Gedächtnisfunktionen. Je nach Anwendungsart kann die unmittelbare Blockspanne, die Fähigkeit des impliziten Gedächtnisses, Blocksequenzen oberhalb der Blockspanne zu kodieren (Supra-Blockspanne), und die Interferenzneigung bei räumlich-visuellem Material erfasst werden (Blockboard, Corsi-Blöcke).
Bruininks-Oseretsky-Test -
Test zur Messung motorischer Fertigkeiten. Er wird in Grundschulen und Mittelstufen verwendet, um grob-, feinmotorische, visuellmotorische, motorische Planungs- und zweihändige Koordination sowie die physische Ausdauer zu beurteilen.
»California Verbal Learning Test«
CVLT
Der CVLT ist ein Test zur Erfassung des verbalen Gedächtnisses unter Lern- und Interferenzbedingungen (Wortlisten mit semantisch gruppierten Items; deutsche Übersetzungen im MVG und in Vorbereitung).
»Cambridge Neuropsychological Test Automated Battery«
CANTAB
Computergestützte Testbatterie zur Erfassung von Aufmerksamkeit, visuell-räumlichem Gedächtnis, Arbeitsgedächtnis, Planen.
»Card-Arranging Reward Responsivity Objective Test«
CARRO-Test -
Bei dem CARRO-Test müssen Probanden eine Kartensortieraufgabe durchführen. Der Test ermöglicht den Vergleich der Sortiergeschwindigkeit unter einer belohnten (Geldbetrag) und einer unbelohnten Bedingung, was Rückschlüsse auf die Motivation der Probanden zulassen soll.
578
Anhang
Test
Abkürzung
Beschreibung
»Child Behavior Checklist«
CBCL
Die CBCL erfasst die Einschätzung der Eltern hinsichtlich der Kompetenzen und Probleme ihrer Kinder. Es existieren zwei Versionen der CBCL, jeweils eine für 1,5 bis 5-jährige und eine für 4 bis18-jä - hrige Kinder bzw. Jugendliche. Aus den 99 Items der Fragebögen werden 7 Problemskalen (Emotionale Reaktivität; Ängstlich/Depressiv; Körperliche Beschwerden; Sozialer Rückzug; Schlafprobleme; Aufmerksamkeitsprobleme und Aggressives Verhalten) sowie 3 übergeordnete Skalen (Externalisierende Auffälligkeiten, Internalisierende Auffälligkeiten und Gesamtauffälligkeit) gebildet.
»Clinical Dementia Rating«
CDR
Im CDR wird der Schweregrad der demenzbedingten Beeinträchtigung in 6 verschiedenen Kategorien (Gedächtnis, Orientierungsvermögen, Urteilsvermögen und Problemlösen, Leben in der Gemeinschaft, Haushalt und Hobbys, Körperpflege) beurteilt. Dazu werden Patient und Angehörige mittels eines halbstrukturierten Interviews befragt.
»Clock Drawing Test«
CDT
Uhrentest. Sprachfreier Test der visuokonstruktiven Leistungsfähigkeit.
»Color Word Test«
CWT
S. Farbe-Wort-Interferenztest
»Complex Figure Test«
CFT
S. Rey-Osterrieth Complex Figure Test
Computerisierter Gedächtnis- und Aufmerksamkeitstest (München)
CGTT (M)
Beim CGTT (M) handelt es sich um einen computergestützten Gedächtnis- und Aufmerksamkeitstest, der für die wiederholte Messung von geringfügigen Änderungen der episodischen Gedächtnisleistung entwickelt wurde. Es können folgende 4 Aufgaben gewählt werden: kontinuierlicher Wortwiedererkennentest, kontinuierlicher Bilderwiedererkennentest, visueller Aufmerksamkeitstest und visueller Gedächtnistest.
»Continuous Performance Test«
CPT
Test der dauerhaften Diskrimination von Signalen und Nichtsignalen mit teilweise geringem Abstand mit oder ohne Gedächtnisbeanspruchung. CPTT Schwächen sind wiederholt bei schizophrenen Patienten festgestellt worden (verschiedene Versionen, eine Version als PC-Test, Hogrefe).
»Continuous Visual Memory Test«
CVMT
Der Test besteht aus abstrakten Figuren, von denen einige wiederholt, andere nur einmal dargeboten werden. Der Proband muss entscheiden, ob die Figur »alt« oder »neu« ist.
»Controlled Oral Word Association Test«
COWAT
Der Test dient der Erfassung der spontanen Produktion von Wörtern, die mit einem bestimmten Buchstaben beginnen oder zu einer bestimmten Wortklasse gehören (Wortflüssigkeitstest).
Daueraufmerksamkeit
DAUF
Test zur langfristigen selektiven Aufmerksamkeit (PC-Test, Schuhfried).
d2-Test -
d2
S. Aufmerksamkeits-Belastungs-Test (d2).
»Delayed matching to sample test«
Der DMS dient der Untersuchung des Arbeitsgedächtnisses. Die grundlegende Aufgabe besteht darin, einen dargebotenen Reiz mit einem vorher gezeigten zu vergleichen. Im Gegensatz zu simultanen Matching-to-sample-Aufgaben werden hier Beispiel- und Zielreiz zeitlich verzögert (»delayed«) dargeboten.
579 Testglossar
Test
Abkürzung
Beschreibung
»Dementia Apathy Interview and Rating«
DAIR
Das DAIR wurde zur Erfassung einer Apathie bei Patienten mit einer leichten bis mittelgradig schweren Demenz entwickelt. Es erhebt Veränderungen der Motivation, des Engagements und der Emotionen seit Krankheitsbeginn.
Demenz-Test -
D-T -
Der D-T - soll eine allgemeine Diagnose alterskorrelierter Abbauerscheinungen erlauben und dabei der Abschätzung des Demenzzustandes, der Differenzierung demenzieller Alterserkrankungen und der Verlaufsdokumentation dienen. Der D-T - umfasst folgende Untertests: soziodemografische Fragen, MMST, Skalen zur Einschätzung des Alltagsverhaltens, Haschinski-Score, Reproduktionsgedächtnistest, Wortproduktionstest, Handlungstest, Gedächtnistest, Fragen zur Orientierung.
»Dementia Screening Test«
DemTect
Der DemTect hat als Screeningverfahren zur Überprüfung verschiedener kognitiver Funktionen (Gedächtnis-, Zahlentranskodieren-, verbaler Flüssigkeits-, Zahlenspannen- und verzögerter Abruftest) die Abklärung eines möglichen Demenzverdachtes zum Ziel.
Deutscher Mathematiktest
DEMAT
Der DEMAT dient der Überprüfung der mathematischen Kompetenz von Grundschülern in Bezug auf die Inhalte der Mathematiklehrpläne der 1.–4. Klasse sowie zur frühzeitigen Diagnose einer Rechenschwäche bzw. besonderer Mathematikstärken.
Diagnostikum für Zerebralschädigung
DCS
Das DCS versucht die Diagnostik von Hirnschädigungen durch Erfassung figural mnestischer Funktionen. Erfasst werden die Bereiche selektive Aufmerksamkeit, Gestaltwahrnehmung, Gestaltspeicherung, Gestaltreproduktion. Die angestrebte Trennung von hirngeschädigt und funktionell beeinträchtigt ist konzeptuell überholt (9 Karten zur Vorgabe geometrischer Figuren).
»Digit Cancellation Test«
DCT
Visueller Test zur selektiven Aufmerksamkeit.
»Digit Symbol Test«
DST
Test der Konzentrationsfähigkeit und der komplexen und geteilten Aufmerksamkeit (Subtest des WAIS, WAIS-R, HAWIE-R), bei dem der Proband eine vorgegebene Zuordnung von Zahlen zu Symbolen nutzen soll, um einer Reihe von einstelligen Ziffern (100) die richtigen Symbole zuzuordnen.
Eigenschaftswörterliste
EWL
Die EWL ist ein mehrdimensionales Selbstbeurteilungsverfahren zur quantitativen Beschreibung des aktuellen Befindens. Sie liegt in einer längeren (EWL-N) und einer kürzeren Form (EWL-K) vor. Das Verfahren erfasst insgesamt 15 Befindlichkeitsaspekte, die sich 6 größeren Bereichen (leistungsbezogene Aktivität, allgemeine Inaktivität, Extra-/Introversion, allgemeines Wohlbehagen, emotionale Gereiztheit und Angst) zuordnen lassen.
»Embedded Figures Test«
EFT
Der EFT dient der Erfassung der Fähigkeit, in komplexe Figuren eingebettete einfache Figuren auf Wahrnehmungsebene zu erfassen und auszugliedern. Es geht also um die Erfassung perzeptivkognitiver Stile wie Feldabhängigkeit/-unabhängigkeit (12 Vorlagen mit komplexen Figuren).
»Facial Recognition Test«
FRT
Der Test erfordert das Erkennen und die Diskrimination von unvertrauten Gesichtern (verschiedene Bilder mit Gesichtern bei abgedecktem Haar und verdeckter Kleidung).
580
Anhang
Test
Abkürzung
Beschreibung
Farbe-Wort-Interferenztest
FWIT
Der FWIT misst neben der Lese-, Benennungs- und allgemeinen Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit die Selektivität bzw. Interferenzneigung (»konzentrativer Widerstand gegenüber dominierenden Reaktionstendenzen«). Der FWIT existiert als Computerund als Papier-und-Bleistift-Test (Hogrefe bzw. Schuhfried).
Finger-Tapping -Test
FTT
S. Tapping
Frankfurter Aufmerksamkeitsinventar
FAIR
Das FAIR versucht die gerichtete Aufmerksamkeit bzw. die Konzentration zu erfassen und bedient sich dabei einer methodischen Weiterentwicklung der Durchstreichtests (Papier-und-Bleistiftverfahren).
Gesichter-Namen-Lerntest
GNL
Der GNL dient der Erfassung von Störungen des Namenlernens und -behaltens (Testkarten mit Fotos und Namen).
Go/NoGo-Test -
Halstead-Reitan Category Test
Es wird die Fähigkeit zur Unterdrückung einer nicht adäquaten Reaktion erhoben (Beispiel in der TAP). HRCT
Hamburger Schreibprobe
Der Test misst das Abstraktionsvermögen und die kognitive Flexibilität, indem das organisierende Prinzip in einer Reihe von Elementen (Formen, Linien, Farben, Figuren etc.) erkannt werden soll; s. SCT. Die HSP dient der Erfassung des Rechtschreibkönnens von Schülern im Grundschulalter sowie in der Sekundarstufe I. Die Testergebnisse sollen eine Grundlage sowohl für differenzierte Maßnahmen im Unterricht als auch für die gezielte Einzelförderung von Schülern mit Rechtschreibschwierigkeiten liefern.
Hamburg-Wechsler Intelligenztest für Erwachsene – Revision 1991
HAWIE-R
Aufbauend auf dem WAIS-R entwickelte deutschsprachige Version zur Messung der Intelligenz als zusammengesetzte und globale Fähigkeit mit 11 Subtests, die sich in einen Verbal- und einen Handlungsteil gruppieren lassen.
»Hayling Sentence Completion Test«
HSCT
Test zur Erfassung exekutiver Funktionen, in dem Sätze mit kontextuell sinnvollen (Reaktionsinitiierung) und sinnlosen (Reaktionsunterdrückung) Wörtern ergänzt werden sollen.
Heidelberger Rechentest
HRT 1–4
Der HRT 1–4 gibt einen Überblick über die Beherrschung mathematischer Grundlagen, die eine notwendige Voraussetzung für den Erwerb mathematischen Wissens und komplexerer mathematischer Fertigkeiten darstellen. Er umfasst 11 Untertests und 3 Skalenwerte für die Bereiche: a) Rechenoperationen, b) Numerisch-logische und räumlich-visuelle Fähigkeiten und c) Gesamtleistung. Zusätzlich wird vorab die Schreibgeschwindigkeit als Kontrollvariable geprüft.
Heidelberger Sprachentwicklungstest
HSET
Der HSET ist eine Testbatterie zur Ermittlung des Entwicklungsstandes sprachlicher Fähigkeiten. Es wird das entwicklungsangemessene Wissen in folgenden Bereichen geprüft: Satzstruktur, morphologische Struktur, Satzbedeutung, Wortbedeutung, interaktive Bedeutung und Integrationsstufe.
»Hooper Visual Organization Test«
VOT
Der VOT wurde entwickelt zur Differenzierung hirnorganisch und funktionell bzw. motivational bedingter Abnahmen kortikaler Leistungsfähigkeit. In zunehmend schwierigeren puzzleartigen Vorlagen müssen Objekte erkannt werden. Das ursprüngliche Anwendungsziel ist mittlerweile obsolet.
581 Testglossar
Test
Abkürzung
Beschreibung
»Hopkins Verbal Learning Test«
HVLT
Test zur Erfassung der verbalen Merkfähigkeit unter Lernbedingungen mit sofortigem und verzögertem Abruf durch Erfassung des freien Abrufs und des Wiederkennens (Wortlisten).
Intelligenz-Struktur-Test -
IST
Der I-S-T -T-2000R ist ein Intelligenztest, mit dem 11 Fähigkeiten erfasst werden können: verbale, figural-räumliche, rechnerische Intelligenz, Merkfähigkeit, schlussfolgerndes Denken, verbales Wissen, figural-bildhaftes Wissen, numerisches Wissen, Wissen (Gesamt) sowie fluide und kristallisierte Intelligenz.
»Iowa Gambling Task«
IGT
Die IGT ist ein Test zur Prüfung des Entscheidungs- und Risikoverhaltens. Sie untersucht das Verhalten von Personen in einem Gewinnspiel mit nicht expliziten Regeln. Aufgabe des Probanden ist es dabei, möglichst viel Geld zu gewinnen und möglichst wenig zu verlieren.
»Judgement of Line Orientation«
JLO
Test zur Erfassung räumlich-perzeptiver Leistungen durch Prüfung der Wahrnehmung der Linienorientierung.
Kaufman-Asessment Battery for Children
K-ABC
Die K-ABC ist ein Individualtest zur Messung von Intelligenz und erworbenen Fertigkeiten bei Kindern im Alter von 2–12 Jahren. Die Messung intellektueller Fähigkeiten wird dabei von der Messung des Standes erworbener Fertigkeiten getrennt, um die unterschiedlichen Bereiche einzeln und im Vergleich miteinander erfassen zu können. Die K-ABC ist in 4 Skalen gegliedert: einheitliches Denken, ganzheitliches Denken, Fertigkeitenskala und sprachfreie Skala.
Knuspels Leseprobe
Knuspel-L wird zur Messung grundlegender Lesefähigkeiten von Kindern des 1.–4. Schuljahres angewendet. Der Test basiert auf einem theoretischen Modell der Leselernentwicklung und misst mit insgesamt 4 Subtests die grundlegenden Lesefertigkeiten des Re- und Dekodierens auf Wortebene, das Leseverstehen auf der Satzebene und korrespondierend dazu das zur Beurteilung des Leseverstehens notwendige Hörverstehen.
Kognitives Minimalscreening
KMS
Auf Grundlage des MMST entwickeltes Verfahren zum Demenzscreening, das die Bildungsabhängigkeit des MMST überwinden will. Untersucht werden die folgenden 5 Bereiche: Datum, Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit und Zahlenverständnis, verbale Flüssigkeit und Erinnerungsfähigkeit.
Kurztest für allgemeine Intelligenz
KAI
Dieser Test misst die wichtigsten Parameter der augenblicklich verfügbaren Intelligenzfunktionen (fluide Intelligenz).
Kurztest für zerebrale Insuffizienz
c.I.-Test -
Der c.I.-Test dient dem Screening leichter zerebrovaskulärer und metabolischer Insuffizienzen, wie sie bei zerebraler Arteriosklerose, degenerativem Hirnprozess, intrazerebralem raumfordernden Prozess, Hirnvergiftungen etc. vorkommen.
Kurztest zur Erfassung von Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen
SKT
Der SKT ermöglicht die Quantifizierung von Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen und besteht aus 9 Untertests. Er eignet sich zur Schweregradbestimmung sowie zur Verlaufskontrolle bei Patienten mit kognitiven Leistungsstörungen, »hirnorganischen« Psychosyndromen oder demenziellen Erkrankungen.
582
Anhang
Test
Abkürzung
Beschreibung
Leistungsprüfsystem für 50- bis 90-Jährige
LPS 50+
Das LPS 50+ stellt eine Neubearbeitung des bekannten LPS von Horn für die Altersgruppe von 50–90 Jahren dar, wobei auf den Untertest 8 und die Arbeitskurve des LPS verzichtet wurde. Die Items wurden unverändert übernommen, jedoch auf die doppelte Größe gebracht und nach dem Schwierigkeitsgrad gruppiert. Es dient der Erhebung des kognitiven Status älterer Menschen und speziell der Früherkennung degenerativer Erkrankungen.
Luria-Nebraska Neuropsychologische Testbatterie
LNNB
Standardisierte Zusammenstellung von Lurias Untersuchungsprozeduren mit dem Ziel einer besonders guten Diskrimination von neurologisch gesunden und erkrankten Personen (11 bzw. 12 klinische Skalen je nach Parallelform).
Mehrfachwahl-WortschatzIntelligenztest
MWT
Eindimensionaler Intelligenztest zur Messung der verbalen Intelligenz basierend auf dem Verbalteil des HAWIE. In Form des MWTTB besteht bereits eine Weiterentwicklung.
Memo-Test -
M-T -
Test zur Erfassung der verbalen Merkfähigkeit unter Lernbedingungen mit und ohne verzögerten Abruf. Im Gegensatz zu anderen ähnlichen Verfahren werden nur die nicht erinnerten Wörter wiederholt (Wortlisten).
»Mini-Mental Status Test«
MMST
Der MMST ist ein einfaches Verfahren zur quantitativen Erfassung kognitiver Leistungseinbußen bei älteren Menschen mit demenziellen und psychischen Erkrankungen. Er umfasst 5 kognitive Aspekte: Orientierung, Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit und Rechenfähigkeit, Erinnerungsfähigkeit und Sprache.
Mosaik-Test -
MT
S. Block-Design
Münchner Verbaler Gedächtnistest
MVG
Deutsche Version des CVLT. Der MVG ist ein Test zur Erfassung des verbalen Gedächtnisses unter Lern- und Interferenzbedingungen (Wortlisten mit semantisch gruppierten Items).
Neglectprüfung
Neglect
Als Subtest der TAP misst der Neglecttest in einem Dual-task-Paradigma bei erzwungener Fixation auf die Bildschirmmitte die Fähigkeit (Genauigkeit, Geschwindigkeit), in der linken und rechten Bildschirmhälfte rasch wechselnde Zahlen zu entdecken.
»Neuropsychiatric Inventory«
NPI
Das NPI wurde zur Erfassung von Verhaltensstörungen bei Patienten mit demenziellen Erkrankungen entwickelt. Mithilfe des NPI werden zehn Verhaltensbereiche evaluiert, in denen demente Patienten häufig Auffälligkeiten aufweisen. Es handelt sich hierbei um Wahn, Halluzinationen, Agitation/Aggression, Dysphorie, Ängstlichkeit, Euphorie, Apathie, Disinhibition, Irritierbarkeit/Labilität und abnormes motorisches Verhalten (Fremdbeurteilung).
Neuropsychologische Testbatterie des »Consortium to Establish a Registry for Alzheimers’ Disease«
CERAD-NP
Testbatterie zur Erfassung von für die Demenz vom Alzheimer-Typ spezifischen kognitiven Defiziten mit folgenden Subtests: Verbale Flüssigkeit, modifizierter »Boston-Naming-Test«, »Mini-Mental Status Test«, Wortliste Gedächtnis, konstruktive Praxis, Wortliste abrufen, Wiedererkennen, konstruktive Praxis abrufen.
Nonverbaler Lerntest
NVLT
S. Verbaler und nonverbaler Lerntest.
583 Testglossar
Test
Abkürzung
Beschreibung
Nürnberger Altersinventar
NAI
Die im NAI zusammengefassten Testverfahren haben das Ziel, wesentliche Bereiche der kognitiven Leistungsfähigkeit, des Verhaltens, der Befindlichkeit und des Selbstbildes von Personen hohen Lebensalters gemäß psychometrischen Standards zu erfassen. Es ermöglicht demenzdiagnostische Fragestellungen, wobei für die wichtigsten Subtests Cut-off-Werte zur Abgrenzung von Demenzpatienten angegeben werden.
»Object Alternation Test«
OAT
Der OAT misst exekutive Funktionen, indem er verlangt, über Rückmeldungen zu erkennen, dass der Zielreiz immer von einem Ort zum zweiten wechselt, sobald der Ort des Zielreizes richtig erkannt wurde.
Oldenburger Fehleranalyse
OLFA
Die OLFA dient der Ermittlung orthografischer Kompetenzen in der Grundschule. Dabei werden Schülertexte auf ihre schriftsprachliche Kompetenz hin qualitativ analysiert.
»Percent Participations Index«
PPI
Der PPI ist ein Indikator der aktiven Teilnahme eines Patienten an einer Behandlung und dient der Erfassung einer eventuell vorhandenen Motivationsstörung. Zur Bestimmung des PPI wird die individuelle Anstrengung des Patienten während einer Behandlungseinheit durch den Therapeuten beurteilt und in Beziehung zur Dauer seiner aktiven Teilnahme an der Therapie gesetzt.
Perseverationstest
PERSEV
Das computergestützte Verfahren zur Feststellung motorischer Perseverationstendenzen (Wiederholung gleicher motorischer Sequenzen) stellt eine Modifikation des Mittenecker-Zeigeversuchs dar.
»Picture Memory Interference Test«
PMIT
Der PMIT erfasst die Fähigkeit, Bilder aus 3 unterschiedlichen Listen erinnern zu können. Nach Darbietung der Listen und einer zusätzlichen Interferenzliste geht es darum, dass die Personen die einzelnen Bilder den unterschiedlichen Listen zuordnen können. Die Reaktionszeiten werden zusätzlich erfasst.
»Posners Spatial Cueing Paradigma«
Test zur ortbasierten Aufmerksamkeit, bei dem die Wirkung ortbezogener Hinweisreize auf die nachfolgenden Reaktionszeiten untersucht wird.
»Progressive Matrices«
Der PM dient der Bestimmung der sprachfreien Intelligenz und speziell des logischen Schlussfolgerns. Der Test gliedert sich in 5 Teile zu jeweils 12 Aufgaben. Diese stellen figurale Reihen dar, welche jeweils eine Lücke enthalten. Die Probanden müssen dasjenige Muster aus einer gegebenen Auswahl finden, das aufgrund einer oder mehrerer Gesetzmäßigkeiten in diese Lücke passt.
Regensburger Wortflüssigkeitstest
RWT
Der RWT dient zur Erfassung des divergenten Denkens in den Bereichen formallexikalische und semantische Wortflüssigkeit. Die Wortflüssigkeit ist bei psychischen Störungen häufig gemindert, z. B. bei Depression, Schizophrenie und Demenz.
Revisionstest
Rev.T.
Der Rev.T. ist ein allgemeiner Leistungstest zur Untersuchung anhaltender Konzentration bei einfacher geistiger Tempoarbeit (Subtraktion oder Addition). Über die Konzentrationsfähigkeit hinaus soll der Test Kenntnisse über Arbeitsstil und -verhalten liefern. Der Test besteht aus 15 Testzeilen zu je 44 Aufgaben.
»Rey Auditory Verbal Learning Test«
RAVLT
Test zur Erfassung der verbalen Merkfähigkeit unter Lern- und Interferenzbedingungen (Wortlisten).
584
Anhang
Test
Abkürzung
Beschreibung
»Rey-Osterrieth Complex Figure Test«
ROCFT
Der ROCFT dient der Erfassung von Störungen der visuellen Wahrnehmungsorganisation, des visuellen Gedächtnisses und zeichnerisch-visuokonstruktiver Leistungen (Vorlage komplexer geometrischer Figuren zur unmittelbaren und verzögerten Wiedergabe).
»Rivermead Behavioral Memory Test«
RBMT
Der RBMT erfasst die Gedächtnisschwierigkeiten, mit denen hirnverletzte Patienten in ihrem Alltag konfrontiert sind. Er enthält folgende Aufgabenstellungen: Erinnern einer Abmachung, Erinnern, dass man etwas verliehen hat, Bilder wiedererkennen, Geschichten nacherzählen, Gesichter wiedererkennen, Erinnern eines kurzen Weges, Erinnern, dass man eine Mitteilung hinterlassen soll, Orientierungsfragen und Erinnern eines Personennamens.
»Sally-Ann-Task« -
Die Sally-Ann-Task gehört zur Gruppe der »first-order-false-belieftests« und wird bei Kindern im Alter von 2–4 Jahren eingesetzt. Bei diesem Test wird anhand von Geschichten geprüft, welche Vorstellungen Kinder über die Annahmen einer anderen Person zum Zustand der Welt haben. Dabei müssen die Kinder Perspektiven wechseln und sich in den mentalen Zustand einer anderen Person hineinversetzen können.
Salzburger Lese- und Rechtschreibtests
SLRT
Mit dem SLRT lassen sich Schwächen beim Erlernen des Lesens und Schreibens in den Grundschuljahren diagnostizieren. Bei jüngeren Kindern stehen Defizite im lautierenden und synthetischen Lesen im Vordergrund, bei älteren Schwächen bei der automatisierten Worterkennung.
»Selective Reminding Test«
SRT
Der Test erfordert eine Wortliste so lange zu lernen, bis sie gekonnt wird (oder bis zum 12. Durchgang). Das Charakteristikum ist, dass nur die nichtreproduzierten Wörter wiederholt werden. Nach dem 12. Durchgang kann zudem ein Test zum Wiedererkennen durchgeführt werden.
»Serial Digit Learning Test« (»Digit Sequence Learning Test«)
SDLT
Der Test erfordert das Erlernen von Zahlenfolgen. Die Länge der Zahlenfolgen wird abhängig vom Bildungsstand gewählt. Die Zahlenfolgen werden so lange wiederholt, bis sie 2-mal richtig reproduziert werden oder bis zum 11. Durchgang.
»Shipley-Hartford Scale« (»Shipley Institute of Living Scale«)
SHS
Mit dieser Papier- und Bleistiftaufgabe wird die Fähigkeit zum Bilden abstrakter Konzepte erfasst. Der Test besteht aus einem 40-ItemsMultiple-Choice-Subtest, der das Vokabular des Probanden prüft und einem 20-Items-Subtest, der Konzeptbildung und Problemlösen bei abstrakten verbalen und arithmetischen Problemen testet.
»Short Category Test«
SCT
Der Test misst das Abstraktionsvermögen und die kognitive Flexibilität, in dem das organisierende Prinzip in einer Reihe von Elementen (Formen, Linien, Farben, Figuren etc.) erkannt werden soll; er stellt eine vereinfachte und verkürzte Form des »Halstead-Reitan Category Test« dar.
»Signal-Detection Test«
SDT
Vor dem Hintergrund der Signalentdeckungstheorie entwickeltes Testverfahren zur Erfassung der Fähigkeit, schwache visuelle ‚ Signale vor einem stark verrauschten Hintergrund zu entdecken. Beim SDT müssen 4 Punkte, die ein Quadrat bilden, unter anderen Punktkonfigurationen entdeckt werden (PC-Test, Schuhfried).
585 Testglossar
Test
Abkürzung
Beschreibung
»Social attribution task«
SAT
In diesem Theory of Mind-Test wird die Fähigkeit überprüft, soziale Attributionen zu erzeugen. Dies geschieht mit einem kurzen Film, in dem die Akteure geometrische Figuren sind (Kreise und Dreiecke), die jedoch eine soziale Interaktion »aufführen« (spielende Freunde, kämpfende Gegner etc.). Der Proband soll anschließend die Situationen interpretieren.
»Span of Apprehension«
SOA
Tachistoskopische Darbietung von unterschiedlich großen Buchstabenmengen zur Erfassung der Aufmerksamkeitsspanne. Im angloamerikanischen Raum häufig eingesetzt zur Erfassung von Aufmerksamkeitsstörungen bei schizophrenen Patienten.
Spiegelzeichnen
Stroop-Test -
Spiegelzeichnen ist ein Test zur Überprüfung des prozeduralen Gedächtnisses anhand einer motorischen Lernaufgabe. Der Proband hat die Aufgabe, eine einfache geometrische Figur mehrfach nachzuzeichnen. Dabei hat er keinen direkten Blick auf seine Zeichnung, sondern kann diese nur in einem Spiegel sehen. Stroop
Supra-Blockspanne
S. Farbe-Wort-Interferenztest S. »Block-Tapping Test«
Symbol-Zahlen-Test -
SZT
Der computergestützte SZT gilt als Konzentrations-, Aufmerksamkeits- und Vigilanztest (Hogrefe).
Tapping
TAP
Test zur Erfassung der Rhythmusfähigkeit, bei dem der eigene Schlagrhythmus einem Tonrhythmus anzupassen ist (PC-Test, Schuhfried).
»Test of Everyday Attention«
TEA
Der TEA erfasst drei Aspekte der Aufmerksamkeit: selektive Aufmerksamkeit, Daueraufmerksamkeit und Aufmerksamkeitswechsel unter Verwendung von Alltagsmaterialien.
Test zur Früherkennung von Demenzen mit Depressionsabgrenzung
TFDD
Der TFDD ist als Screeningverfahren zur Früherkennung einer Demenz und zur Abgrenzung einer Demenz von einer Pseudodemenz (z. B. bei Depression) entwickelt worden. Der TFDD beinhaltet Aufgaben zur unmittelbaren und verzögerten Reproduktion, zur zeitlichen Orientierung, zum Befolgen von Anweisungen, zu räumlich-konstruktiven Leistungen und zur Wortflüssigkeit. Zusätzlich wird seitens des Untersuchers und des Patienten eine globale Einschätzung des Schweregrades der Depression vorgenommen.
Testbatterie für visuelle Objekt- und Raumwahrnehmung
VOSP
Die VOSP umfasst einen visuell-sensorischen Screeningtest sowie je 4 Tests zur Objektwahrnehmung (unvollständige Buchstaben, Silhouetten, Objekterkennung, zunehmende Silhouetten) und zur Raumwahrnehmung (Punkte zählen, Positionen unterscheiden, Zahlen lokalisieren, Würfelzahl analysieren).
Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung
TAP
Im deutschsprachigen Raum weit verbreitete computergestützte Testbatterie zur Erfassung einer Vielzahl von Aufmerksamkeits- und Nachbarfunktionen (PC-Test). -
Testverfahren zur Dyskalkulie
ZAREKI
Screeningtest zur Dyskalkulie im Schulalter mit Fokus auf mehrere Teilkompetenzen beim Rechnen.
»The Prosody-Voice Screening Profile«
PVSP
Der PVSP ist ein Wahrnehmungstest im Kontext einer Konversation zur Messung der Prosodie einer Person. Der Test bietet dabei eine Gesamtbewertung und eine Einzellautanalyse zur Angemessenheit der Ausdrucksweise, Lautstärke, Tonlage und Intonation der Sprache.
586
Anhang
Test
Abkürzung
Beschreibung
»Token Test«
TT
Der TT dient der Aufdeckung rezeptiver Störungen bei Aphasikern. Das Testmaterial besteht aus 20 Plättchen (»Tokens«), die sich unverwechselbar unterscheiden und die der Patient auf Aufforderung nach unterschiedlichen Kriterien anordnen soll.
»Toronto Alexithymia Scale-26«
TAS
Fragebogen zur Erfassung der Alexithymie. Die Skala ist ein vollstandardisiertes Verfahren aus 26 Selbstaussagen, welche 4 Kategorien zugeordnet werden können: 1) difficulty to distinguish between feelings and body sensations, 2) difficulty to communicate feelings, 3) reduced day dreamings, 4) externally-orientated thinking.
»Trail Making Test« (Form A/B)
TMTT A/TMTTB
Test zur Erfassung der Symbolerkennung, des Scannings und der Umstellfähigkeit, der auch zur Erfassung der allgemeinen Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und der geteilten Aufmerksamkeit verwendet wird. TMTT A besteht nur aus Zahlenmatrizen, TMTTB aus Zahlen-Buchstabenmatrizen mit der Aufgabe, die Symbolsequenzen zu erkennen und zu verbinden.
»Trier Social Stress Test«
TSST
Der TSST beurteilt die endokrine Reaktivität auf psychosozialen Stress. Der Stresstest ermöglicht die Konfrontation von Personen mit psychosozialer Belastung (freies Reden oder Kopfrechnen vor einem Gremium) unter standardisierten Laborbedingungen.
Turm von Hanoi
TvH
Der TvH ist eine Aufgabe zur Erfassung der vorausschauenden Planung und des prozessorientierten Problemlösens. Ein Turm aus 3, 4 oder mehreren Scheiben soll nach bestimmten Regeln von einer Position auf eine andere gebracht werden (PC-Test, Hogrefe).
Turm von London
TvL
S. Turm von Hanoi (andere Materialien).
»Verbal Fluency Test«
VFT
Mit diesem Test, der in unterschiedlichen Varianten vorliegt, wird die Fähigkeit zur schnellen Reproduktion von verbalen Inhalten geprüft. Bei einer Version des Tests werden dem Probanden sukzessive verschiedene Buchstaben des Alphabets vorgegeben. Der Proband soll dann innerhalb 1 Minute für jeden der genannten Buchstaben so viele Wörter wie möglich reproduzieren, die mit diesem Buchstaben beginnen.
Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest
VLMT
Test zur Erfassung der verbalen Merkfähigkeit unter Lern- und Interferenzbedingungen (Wortlisten).
Verbaler und nonverbaler Lerntest
VLT/NVLT
VLT und NVLT sind Verfahren zur Untersuchung sprachlicher und nonverbaler Lernleistungen nach der Wiedererkennungsmethode. Die Verfahren sind bzgl. der Untersuchungsmethode völlig identisch und unterscheiden sich nur im verwendeten Gedächtnismaterial [sinnfreie Worte (VLT) bzw. sinnfreie Figuren (NVLT)].
Vigilanz
VIGIL
VIGIL erlaubt Aussagen über die Genauigkeit und Geschwindigkeit der Bearbeitung einfacher Aufgaben unter monotonen Reizbedingungen sowie über den Verlauf der Leistung über die Zeit (Reaktion auf ungleichmäßige Sprünge eines sonst gleichmäßig in Kreisen springenden Lichtpunktes; PC-Test, Schuhfried).
587 Testglossar
Test
Abkürzung
Beschreibung
»Visual Selective Reminding Test«
VSRT
Der VSRT ist ein Subtest des »Test of Memory and Learning« (TOMAL) und prüft verschiedene Aspekte des Gedächtnisses (Langzeitund Kurzeitgedächtnis, Lernleistung etc.). Dem Probanden werden sukzessive auf einer Testtafel eine Reihe von visuellen Informationen gezeigt, die er unmittelbar danach reproduzieren soll. Bei jedem nachfolgenden Durchgang werden dann nur noch die Informationen gezeigt, die der Proband im vorausgehenden Durchgang nicht erinnern konnte.
»Visual Spatial Performance«
VS
Die VS ist ein computergestütztes Verfahren zur detaillierten, quantitativen Erfassung elementarer visuell-räumlicher Wahrnehmungsstörungen.
»Warrington Recognition Memory Test«
RMT
Test zur Fähigkeit, Wörter und Gesichter wiederzuerkennen.
»Wechsler Adult Intelligence Scale«
WAIS
Multidimensionaler Intelligenztest mit 6 Subtests zur Verbalintelligenz und 5 zur Handlungsintelligenz; s. Hamburg-Wechsler-Intelligenz-Test für Erwachsene – Revision 1991.
»Wechsler Adult Intelligence Scale Revised«
WAIS-R
Weiterentwicklung des WAIS (hauptsächlich Austausch veralteter Items); s. Hamburg-Wechsler-Intelligenz-Test für Erwachsene – Revision 1991.
»Wechsler Memory Scale«
WMS
Die WMS ist die am weitesten verbreitete Testbatterie zur Erfassung von Gedächtnisstörungen, wobei ihr eine klar theoretische Fundierung fehlt. Untersucht werden 7 Bereiche: personale Orientierung, zeitliche und räumliche Orientierung, logisches Gedächtnis, Gedächtnisspanne, visuelle Reproduktion, Wortpaarassoziationslernen und einfache kognitive Operationen.
»Wechsler Memory Scale« – Revidierte Fassung
WMS-R
S. WMS. Es existiert eine Revision, die 3 neue figurale Subtests enthält (figurales Gedächtnis, visuelles Paarassoziationslernen, visuelle Gedächtnisspanne), mittelfristige Behaltensleistung prüft und die Auswertungsmodalitäten verbessert.
Wiener Testsystem
WTS
Das WTS ist eine computergestützte psychologische Testbatterie zur Erfassung von Leistungs- und Persönlichkeitsmerkmalen. Aus den mehr als 120 Testverfahren wird je nach Anforderung eine Auswahl getroffen. Folgende Kategorien sind dabei vertreten: Intelligenztests, Leistungstests, Persönlichkeitstests, Einstellungsund Interessentests, Klinische Tests.
»Wisconsin Card Sorting Test«
WCST
Test zur Untersuchung der Abstraktions- und Umstellfähigkeit. Er gilt fälschlicherweise als selektiver »Frontalhirntest« und wurde wiederholt bei schizophrenen Patienten angewandt, die v. a. durch Perseverationsfehler auffielen (Karten mit Symbolen zur Vorgabe der zu erkennenden Kategorien).
Zahlen-Symbol-Test -
ZST
S. »Digit Symbol Test«
Zahlen-Verbindungs-Test -
ZVT
Der ZVT gilt als ausgewiesen zur Erfassung der kognitiven Leistungs- bzw. Bearbeitungsgeschwindigkeit und damit als Basisgröße der sprachfreien Intelligenz. Konfundiert wird der ZVT aber durch seine starke Abhängigkeit von der Handmotorik. Es existiert auch eine Version (ZVTT G) für ältere Probanden, bei der die Zahlenmatrizen größere sind und weniger Elemente enthalten.
Stichwortverzeichnis
590
Anhang
A Abhängigkeit 286 Ablationsexperiment 13 Ablenkbarkeit 455 Abrufstörung 335 Abstinenz 298, 301, 305 Abweichung, morphometrische 463 ACTH – Aufmerksamkeit 127 – Aufmerksamkeitsfokus 133 – CNV 134 – dimensionale Komplexität 135 – EEG 134 – EKP 134 – erhöhte Ablenkbarkeit 134 – intranasale Gabe 126 – Nd-Komponente 135 – Reaktionszeit 136 Affekterinnerung 250 Affektgenerierung 268 Aggravation 47 Agnosie 60 Agoraphobie 190, 191, 194 Aktigraphie 80 – Aktivitätsniveau 80 Aktivierung, metabolische 488 – kortikale Stromdichte 489 Aktivierungsparadigma 97 – allgemeines lineares Modell 98 – Cluster 98 – ereigniskorrelierter Ansatz 98 – geblockter Ansatz 98 – Konjunktionsanalyse 97 – neuronale Konnektivität 98 – Voxel 98 Aktivitätsstörung, einfache 455 Alarmsystem, emotionales 180 – Amygdala 180 Alertness 52 – phasische 53 – tonische 53 Alkohol 287 Alkoholabhängigkeit 159, 288 – Heritabilität 160 – High-risk-Kinder 160 – kognitive Beeinträchtigung 159 – moderierende Faktoren 160 – Vulnerabilität 160 Alkoholkonsum 106, 297, 298 – Belohnungssystem 106 – Entzugssyndrom 106 – graue Substanz 107 – Toleranzentwicklung 106 – weiße Substanz 107 – zentralnervöser Schaden 106
Altern 36 – normales 36 – Plastizität 36 Altgedächtnis 56 – episodisches 56 – semantisches 56 Alzheimer-Krankheit 111 – Gyrus cinguli 111 – metabolische Anreicherung 112 – metabolische Einbuße 112 – Motivationsstörung 70 – N-Acethyl-Aspartat-Abfall 113 – neuronaler Zelluntergang 113 – Präcuneus 111 – Projektionsfaser 113 – sporadische 363 – Volumenminderung 111 – zelluläre Ebene 111 Alzheimer Demenz 7 Morbus Alzheimer 70 Amin, biogenes 91 – Indolamin 91 – Katecholamin 91 Ammenschlaf 179 Amnesie – dissoziative 249, 250, 272 – retrograde 289 Amphetaminstimulanz 310 Amygdala 259, 261, 408 – autistische Störung 408 – soziale Kompetenz 408 Amygdalaaktivierung 269 Anamnese 47 Angst 193, 221 Angsterkrankung 220 Angstkonditionierungsexperiment 245 Angstreaktion, pathologische 101 – Amygdala 101 – Gyrus cinguli 101 – Insel 101 Angststörung 100, 248 – beteiligte Hirnregion 100 – generalisierte 193 – klassische Konditionierung 100, 101 – Spektroskopie 100 – Volumetrie 100 Anhedonie 268 Anorexia nervosa 322 – allgemeines Wissen 322 – Aufmerksamkeit 322 – Geburtskomplikation 323 – Hirnleistungsstörung 322 – Kurzzeitgedächtnis 322 – Lernleistung 323 – prä-/postnatale Hirnschädigung 327
– psychomotorische Geschwindigkeit 323 – Reaktionszeit 323 Ansatz, interdisziplinärer 26, 27 Ansatz, pharmakologischer 126 – ethische Grenze 126 – Problem 126 – Vorteil 126 Anstaltspsychiatrie 11, 12 Antidementiva 542 – Acetylcholinesterase-Hemmer (AchEH) 543 – Antioxidantien 544 – kognitive Leistungsfähigkeit 543 – neurobiochemische Basis 543 – NMDA-Hemmer 544 – Wirkung 542 – Zielgruppe 542 Antidepressiva 195, 530 – Alltagskompetenz 535 – Einteilung 530 – Fahrtüchtigkeit 541 – Indikation 534 – kognitive Beeinträchtigung 534 – REM-Schlaf-Unterdrückung 533 – Rezeptorveränderung 532 – Selektivität 531 – Verkehrssicherheit 535 – Wirkmechanismus 531 Antidepressiva, selektive 534 – älterer Patient 534 – exekutive Funktion 534 Antidepressiva, trizyklische 532 – älterer Patient 534 – Gedächtnis 534 – primärer Effekt 532 – Psychomotorik 534 Antipsychotika vgl. Neuroleptika 535 – Alltagssicherheit/Fahrtauglichkeit 540 – atypische 536 – Minussymptom 536 – neurokognitiver Effekt 540 – Plussymptom 536 – typische 536 apathico-akinetico-abulic syndrome 69 Apathie 70, 367 – Aktivitätsniveau 80 – Alzheimer Demenz 70, 71 – Delir 73 – demenzielle Erkrankung 73 – Depression 73 – diagnostische Kriterien 71 – nichtdegenerative Krankheitsbilder 73 – Parkinson 70
591
A–B
Stichwortverzeichnis
– Schädel-Hirn-Trauma 70 – Stimmung 72 – zerebrovaskuläre Erkrankung 70 – zielgerichtetes Handeln 73 – zielgerichtetes Verhalten 71 Aphasie 19 ApoE-Polymorphismus 364 Arbeitsgedächtnis 30, 291, 314, 338, 498, 503 – Hirnstruktur 31 – Merkmal 30 – Störungen des 31 Arbeitsgedächtnisdefizit 338, 469, 497 Arbeitstherapie 12 Areale, eloquente (lokale Spezialisten) 90, 98 Asperger-Syndrom 411 – Abgrenzung 414 – Diagnostik der Störung 414 – Diagnostik neuropsychologischer Auffälligkeiten 415 – Emotionserkennung 413 – exekutive Funktion 413 – Fusiform face area 413 – Gesichtserkennung 420 – Intelligenz 412 – kognitive Flexibilität 413 – motorische Entwicklung 413 – Prädiktor 412 – Prävalenz 412 – Sprache 413 – Temporallappen 419 – Theory of Mind 413 – Therapie- und Interventionsansatz 425 Assoziationsstudie 147, 161 – polymorphe Marker 146 Asymmetrie, zerebrale 13 Ataque de nervios (Nervenattacke) 560 – Symptom 560 Atrophie – frontale 292 Atypika 538 – Aripiprazol und Amisulprid 540 – Clozapin 539 – kognitive Funktion 538 – Olanzapin 539 – Quetiapin 539 – Risperidon 539 – Ziprasidon 539 Aufgabe, first-order-false-belief 409 – autistische Kinder 411 – geistig behinderte Kinder 411 Aufmerksamkeit 52, 133, 332, 467, 494 – Aufrechterhaltung 133 – fokussierte 53
– gestörte Fokussierung 134 – geteilte 53 – Kapazität 133 – Ressourcen 134 – selektive 53 – Selektivität 133 Aufmerksamkeitsaktivierung 52 Aufmerksamkeitsausrichtung 266 Aufmerksamkeitsbias, emotionskongruentes 266 Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS) 157 – Geschwister 157 – Heritabilität 157 Aufmerksamkeitsdiagnostik 55 Aufmerksamkeitsfunktion 334 Aufmerksamkeitskomponente 467 Aufmerksamkeitsleistung 192, 495 Aufmerksamkeitslenkung 194 Aufmerksamkeitsstörung 333, 455, 467 – einfache 455 Aufmerksamkeitssystem 28 – Beeinträchtigung 28 – sekundäre Funktionsstörung 28 – Struktur 28 Aufmerksamkeitstraining 512 Aufmerksamkeitsverschiebung 468 Aufmerksamkeitsverzerrung 194 Aufmerksamkeitszuwendung 389 – negative Stimuli 389 – positive Stimuli 389 Aufsuchen, aktives 221 Ausdruckspsychologie 18 Autismus, frühkindlicher 157, 402 – Abgrenzung 409 – Aufmerksamkeit 403 – Diagnostik der neuropsychologischen Auffälligkeiten 409 – Diagnostik der Störung 408 – exekutive Funktion 406 – Gedächtnisstörung 404 – Häufigkeit 402 – Heritabilität 157 – Informationsverarbeitung 402 – Intelligenz 403 – kognitive Flexibilität 402 – motorische Funktion 406 – neuronale Entwicklungsstörung 157 – neuropsychologisches Profil 402 – Sprachverständnis 405 – Sprech- und Sprachfähigkeit 404 – Suszeptibilitätsgen 157 – Theory of Mind 407 – verhaltenstherapeutische Methode 423 – zentrale Kohärenz 157, 404 Autismus, High Functioning (HFA) 411
– Charakteristika 412 – Diagnostik neuropsychologischer Auffälligkeiten 416 – Emotionserkennung 413 – Gesichtserkennung 420 – Intelligenz 403 – Sprachfunktion 405 – Therapie- und Interventionsansätze 425 Autismus-Spektrum-Störung 401, 404 – Auffälligkeiten der Hirnstruktur 419 – Festhaltetherapie 424 – Frühförderung 423 – Gedächtnisstörung 404 – genetischer Faktor 415 – Integrationsdefizit zerebraler Funktionen 421 – medikamentöse Behandlung 422 – neurosensorisches Verfahren 424 – theoretisches Konzept 421 – Theory of Mind 407 – Verhaltenstherapie 423 – Zellreduktion 419 Azetaldehyd 298
B Basalganglien 227 Beeinträchtigung – kognitive 298, 305, 306 – mnestische 361 Beeinträchtigung, neuropsychologische 210 – Aktivierung neuronaler Systeme 210 – Hippocampusvolumen 210 – Reversibilität 213 – strukturelle Auffälligkeit 210 Behandlungseffekt 519 Behandlungsverfahren, neuropsychologische 36 – Diagnostischer Nachweis 36 – Generalisierbarkeit 37 – hypothesengeleitete Vorgehensweise 36 – kognitives Training 37 – methodische Schwierigkeiten 37 – Vor- und Nachdiagnostik 37 Belastungsstörung, posttraumatische (PTBS) 488 – Positronenemissionstomographie (PET) 488 – regionaler zerebraler Blutfluss (rCBF) 488
592
Anhang
Belastungssyndrom 243 Belohnungssystem – Aufgabe 83 – Bestandteil 83 – Erkennen 83 – Erwartung 83 – neuronale Struktur 84 – Vorhersage 82 Benzodiazepine 195, 528 – akuter Effekt 529 – Anwendung 528 – Einteilung 528 – Halbwertszeit 528 – Langzeiteffekt 529 – mnestische Störung 529 – pharmakokinetische Eigenschaft 528 – pharmakologische Eigenschaft 528 – Rezeptor 529 – Straßenverkehr 530 – Verkehrssicherheit 530 – Wirkungsweise 529 Benzodiazepinrezeptor 259 Beschäftigungstherapie 12 β-Amyloid 360 Bildgebung, diffusionsgewichtete 94 – Blut-Hirn-Schranke 94 – Diffusionskoeffizient 94 – multiple Sklerose 94 – weiße Substanz 94 – zerebrale Ischämie 94 Bildgebung, funktionelle 94 – Differenzialdiagnose 95 – Energieverbrauch 95 – hämodynamische Parameter 94 – PET 95 – Single Photon Emission Computerized Tomography (SPECT) 94 Bildgebung, makromorphologische 93 Bildgebung, metabolische 99 – chemische Verschiebung 99 – Funktionsmarker 99 – Kernresonanzsignal 99 – Untergangsmarker 99 – Zellmembran 99 Binding 7 Bindungsprozess 92 Bindungsprozess 92 – Kohärenz 92 – Synchronisation 92 Biomarker 360 Blood oxygenation level dependent 96 Blutfluss, zerebraler (CBF) 211, 212, 393 Borderline Persönlichkeitsstörung 247, 384 – Aktivierungsmuster 393
– – – – – – – – – – – – –
ätiologischer Faktor 384 Aufmerksamkeitszuwendung 389 Blockmerkspanne 385 Cortisolspiegel 394 deklaratives Gedächtnis 385 funktionelle Asymmetrie 390 instabile Muster 384 Instabilität 390 Interferenzkontrolle 385 komorbide psychische Störung 395 Leistungskonsistenz 390 Problemlöseleistung 388 psychopathologisches Symptom 384 – serotonerges System 393 – Typ II-Traumata 384 – visuoräumliche Verarbeitung 389 – Volumenminderung 391 – Wortliste 389 – zerebralen Blutfluss 393 Bulimia nervosa 324 – krankheitsbezogenes Material 324 – selektive Informationsverarbeitung 324
C Capsula interna 230 Charakterpsychologie 18 checking-Verhalten 236 Chorea Huntington 159 – asymptomatische Genträger 159 – Ekeldiskrimination 159 – Genort 159 Cingulektomie 229 Cingulum 227 Computertomographie 93 – Hirnmorphologie 93 – Röntgenstrahl 93 Contingent Negative Variation (CNV) 134 Cortex, orbitofrontaler 227, 231, 232 Cortex, parietaler 392 – Asymmetrie 392 – Volumenminderung 392 Craving 7 Suchtverlangen 105 CRH 125 – anxiogener Effekt 137 – anxiogene Wirkung 137 – emotionale Funktion 127 – Rezeptortyp 125
D D1-Rezeptorsystem 340 D2-Rezeptorsystem 340 D4-Dopaminrezeptor 466 Daueraufmerksamkeit 52, 333 Dauermedikation 471 Defizit – kognitives 300, 304 – neuropsychologisches 193 Defizit, neuropsychologisches 152 – schizophrener Patient 152 Dehydrierung 302 Delir 73 – Aufmerksamkeit 73 – Bewusstsein 73 – kognitive Störung 73 – Schlaf-Wach-Rhythmus 73 Dementia praecox 29, 333 Demenz 73, 94, 158, 349, 370 – Alzheimer-Typ 158, 360 – Apathie 73 – e-4-Allel 159 – frontotemporale 366 – Genmutation 158 – Heritabilität 158 – kognitives Defizit 73 – kortikale 349 – molekulare Ursache 158 – nosologische Einteilung 111 – präsenile 348 – Risikogen 158 – senile 348 – subkortikale 349 – vaskuläre 364 – VBM 94 – Verlaufsbeobachtung 94 – Verwandte 158 – zielgerichtetes Handeln 73 Demenzbegriff 349 Demenzdiagnostik 58, 355 Demenzerkrankung 58 Demenzkranke 348 Demenzverdacht 351 Denken, dualistisches 479 Depersonalisation 249 Depression 72, 138, 201, 342, 370, 497 – Alertness 201 – Arbeitsgedächtnis 203 – Aufmerksamkeit 201 – CRH 138 – Depressionsmodell 213 – Dexamethason-Suppressionstest 139 – elektrokonvulsive Therapie (EKT) 209
593
B–F
Stichwortverzeichnis
– explizites Gedächtnis 202 – geteilte Aufmerksamkeit 201 – Glukokortikoide 138 – Hyperaktivität der HHN-Achse 138 – kognitive Flexibilität 202 – kognitive Triade 72 – Konzeptbildung 202 – majore 247 – Medikamente 209 – Misserfolg 209 – Motivation 209 – PET 211 – Planungsprozess 202 – SPECT 211 – Verlaufsstudien 214 – Vigilanz 201 Depressivität 193 Deprivation 259, 260 Derealisation 249 Design 326 – cross-sectional 326 – prospektives 326 Dexamethason-Hemmtest 394 – BPS 394 – Einfluss komorbider Erkrankungen 394 – Feedbacksensitivität 394 Diagnose – falschnegative 355 Diagnostik, neuropsychologische 44, 45, 50, 63 Diathese-Stress-Modell, multikausales 391 Differenzialdiagnose 350, 370 Diffusions-Tensor-Bildgebung 94 – Erkrankung 94 – farbkodierte DTI 95 – Markfaser 94 – Wassermolekülmobilität 94 – weiße Substanz 94 Diplom-Prüfungsordnung 18 Disinhibition 224, 232 Dissoziation 246, 249 – doppelte 223, 224 – peritraumatische 246 Dopamin 457, 461 Dopaminhypothese 461, 465 Dopaminsystem 228 Dopamintransporter 461, 465 Doppelte Defizit-Theorie 436 Dosiswirkungszusammenhang 470 DSM-IV 458 Durchblutungsstörung – zerebrale 365 Dysfunktion – exekutive 336, 499 – frontale 314
Dyskalkulie vgl. Rechenstörung 443 – prozedurale Dyskalkulie 447 – Zahlendyslexie 447 – Zahlenwissendyskalkulie 447 Dyskonnektion 340 Dysregulation, katecholaminerge 460
E e4-Allel 364 Ecstasykonsument 312, 313, 314 EEG-Untersuchung 229 Effekt, neurotoxischer 312 Effektdauer 519 Egoinvolvement 184 Einsicht 171 – Schlaf 171 – Tiefschlaf 171 Elektroenzephalografie (EEG) 135 – dimensionale Komplexität 135 – kognitive Defokussierung 135 Emotion 137 – Reaktionsebene 137 – sekundäre 268 emotional instabile Persönlichkeitsstörungen vgl. Borderline Persönlichkeitsstörung 384 Emotionsinduktion 270 Emotionspsychologie 190 Emotionsregulation 264, 269 Emotionsregulationsprozess 268 Endophänotyp 225, 556 – neurophysiologische Merkmale 556 – psychologische Merkmale 556 – quantitative Merkmale 556 Endophänotypkonzept 225 Enkodierung 363 Entwicklung, neuronale 338 Entwicklungsfenster, kritisches 259 Entwicklungsphase, kritische 260 Entwicklungsstörung, tiefgreifende 400 – Asperger-Syndrom 401 – Definition 400 – frühkindlicher Autismus 401 – Merkmale 400 Entwicklungsstörung, umschriebene 401 – Definition 401 – Einteilung 401 – Merkmale 401 Entwöhnungsbehandlung 288 Entwöhnungseinrichtung 304 Entzugssymptom 287
Ereignis, traumatisches 242 Erinnerung – autobiografische 264 – intrusive 260 Erinnerungsarbeit 377 Erkrankung 148 – monogene 148 – polygene 148 Erlebnis, traumatisches 243 error detection 232 Essstörung 323 – Arbeitsgedächtnis 325 – Aufmerksamkeitsdefizit 324 – Aufmerksamkeitsleistung 323 – Interferenzneigung 323 – kognitive Ineffektivität 325 – kognitive Verlangsamung 325 – mnestische Einbußen 325 – Prädiktor 328 – Prognose über Gewichtsstabilität 328 – prospektiven Studie 328 – psychomotorische Geschwindigkeit 324 – Therapieabbrecher 328 – Veränderung des Leistungsprofils 326 – zentrale Exekutive 325 Exekutivfunktion 332, 337, 341, 342
F Fähigkeit, räumlich konstruktive 503 Fähigkeit, phonologische 435 – deutsche Sprache 435 – englische Sprache 435 – Förderung 442 – Überprüfung 438 Fähigkeit, mathematische 444 – neurobiologisches Korrelat 446 – primäre 444 – Rechensystem 446 – sekundäre 444 – Zahlenverarbeitungssystem 446 Fakten, narrative 273 Feedback 123, 125 – negatives 123 – proaktives 125 – reaktives 125 Feld(un)abhängigkeit, Theorie 404 Fibrillenbündel 360 final common pathway (gemeinsame Endstrecke) 27 Flashback 257
594
Anhang
Fluchtverhalten 220 Fluency-Leistung 202 – kognitive Flexibilität 202 – Produktivität 202 Forschungsansatz, neuropsychologischer 552 – Modell 552 – Testverfahren 552 Fremdanamnese 47, 59 Fremdbeurteilung 50 Frontalhirnschädigung 297, 499 Früherkennung 351 Fugue, dissoziative 249 Funktion 13, 58 – exekutive 58, 59, 234, 297, 306, 313, 366, 498, 499, 518 Funktion, kognitive 160 – Allel 160 – Kandidatengen 161 – Molekulargenetik 160 Funktionsdefizit, exekutives 499, 515 Funktionsniveau, psychosoziales 343 Funktionsstörung, exekutive 44, 59 Funktionsstörung, kognitive 35 – pharmakologische Therapie 35 – Prädiktor 35 Funktionsstörungen, exekutive 361 Funktionstest, exekutiver 468 Fusiform face area 408 – Gesichterbetrachtung 408 – soziale Wahrnehmung 408
G GABA-Rezeptor 195 Gedächtnis 57, 127, 203, 261, 332, 469 – Arbeitsgedächtnis 203 – Bildung 127 – deklaratives 127, 261 – emotionales 131 – explizites 170, 261, 289 – implizites 170, 261 – konzeptuelle Einordnung 203 – Kurzzeit- 203 – logisch-semantisches 297 – nondeklaratives 127 – Operationalisierung 203 – prozedurales 170 – sekundäres 289 – typische Untersuchungsparadigmen 128 Gedächtnisabfragen 177 – Abruftest 177 – Enkodierungstest 177
Gedächtnisbildung 166 – Abruf 166 – cholinerge Aktivität 176 – Enkodierung 166 – Konsolidierung 166 – Kortisolausschüttung 176 Gedächtnisdefizit 203, 496 – Alter 203 – automatic processes in memory 203 – effortful processes 203 Gedächtnisleistung 341, 514 Gedächtnismodell 271 Gedächtnisstörung 289, 335, 336, 369 – anterograde 289 – retrograde 289 Gedächtnisstrategie 375 Gedächtnistest 56, 57 Gedächtnisverlust, retrograder 291 Gedächtnisverzerrung 184, 194 Gefäßveränderung, arteriosklerotische 364 Gehirnkrankheit 10 Gen 558 – externer Reiz 558 – interner Reiz 558 – Kodierabschnitt 558 – neuronale Veränderung 558 – Promotorelement 558 – Regulationsabschnitt 558 – Verstärkerelement 558 Generalisierung 508, 517 Generalisierungseffekt 519 Genetik 148 – Allel 148 – Genkopiezahlvarianten 148 – Genotyp 148 – Marker 148 – Phänotyp 148 – quantitative trait locus 148 – Suszeptibilitätsgen 148 Genexpression 558 – Beeinflussung 558 – Therapie 558 Genomscan 465 Gilles-de-la-Tourette-Syndrom 233 Glukokortikoid 246 Glukokortikoid-Rezeptordichte 259 Glukosehypometabolismus 352 Guided Recovery 520, 521 Gütekriterium 50
H Halluzinogen 310 Haloperidol 341 Hemisphäre 439 – funktionelles Defizit 439 – Lesenlernen 440 – linke 439 – Planum temporale 439 – rechte 439 – Temporallappen 439 Heritabilität vgl. Erblichkeitsschätzung 146, 465 Hilflosigkeit 267 Hippocampus 245, 259, 261, 263 Hippocampusfunktion 253 Hippocampusvolumen 254 Hippocampusvolumetrie 254, 258 Hippokampus 170, 195, 314, 392 – Prädiktor 392 – Schizophrenie 149 – strukturelle Kernspintomographie 392 – Volumenminderung 392 Hirnfunktion, exekutive 60 Hirnfunktionsmodell 553 – ätiologisches 555 – Betrachtungsebene 553 – Brückenschlag 561 – diagnostische Subgruppe 554 – DSM-IV 554 – ICD-10 554 – neurobiologisches 554 – psychologisches 554 Hirnlokalisation 13 Hirnpathologie 17 Hirnreifung 259 Hirnschädigung 44, 552 – emotionaler Prozess 552 – kognitiver Funktionsausfall 552 – motivationaler Prozess 552 Hirnverletztenlazarett 17 Hirnverletzung 17 Hirnvolumina 303 HNNA-Aktivierung 260 Hören, dichotisches 134 – geteilte Aufmerksamkeit 135 – negative difference wave 135 – Reaktionszeit 136 – selektive Aufmerksamkeit 134 Hyperarousal 257 Hypermnesie 260, 264 Hypofrontalismus 340 Hypofrontalität 185, 233 – Alterungsprozess 185 – Depression 185
595
F–L
Stichwortverzeichnis
– Schizophrenie 185 Hypometabolismus 463 Hypoperfusion 463 Hypothalamus 123 – Neurohormon 123 – Neuropeptide 123 – Nucleus arcuatus 123, 136 Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA) 122, 245, 252, 394 – ACTH 122 – Aktivierung 122 – BPS 394 – CRH 122 – Depression 394 – experimenteller Ansatz 126 – Hippokampus 122 – methodisches Problem 126 – neuropsychologische Wirkung 122 – PTBS 394 – Regelkreis 123 – Regulierung 122 – Stresshormon 122
– Generalisierung 93 – Lernvorgang 93 – Neurotransmission 93 Interferenz, attentionale 267 International Classification of Functioning 287 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit 45 Intervention, pharmakologische 479 – depressiver Patient 480 – Glukosemetabolismus 479 – schizophrener Patient 479 Intervention, psychotherapeutische 480 – Glukosestoffwechsel 480 – Zwangsstörung 480 Intoxikationssymptom 286 Intrusion 265 Irrenanstalt 11
K I IAPS, SAM-Skalen 178 ICD-10 220, 458 ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung, und Gesundheit) 44, 46 Identitätsstörung, dissoziative 250 Imagination, traumaassoziierte 257 Impulsivität 233, 313, 455 Impulskontrolle 367 Impulskontrollstörung 232, 234, 459 Induktion 221 Informationsverarbeitung 333 Informationsverarbeitung, visuelle 31 – Blickbewegungsmuster 31 – Blickmotorik 31 – Fixation 31 – Struktur 31 Inhibition 270, 459 – kognitive 224 Inhibitionsfähigkeit 460 Inhibitionsleistung 468 Inhibitionsstörung 469 Insula 227, 270 Intelligenzmessverfahren 60 Intelligenztest 61, 293, 295 – sprachfreier 61 Interaktion, neuronale 92 – Chronifizierung 93
Katecholamin 252 Katecholaminsystem 461 Kaufrausch 234 Kernspintomographie, funktionelle 95 – Aktivierungsbedingung 96 – Aktivierungslandkarte 96 – BOLD-Kontrast 96 – Magnetfeldhomogenität 96 – regionaler zerebraler Blutfluss 96 – Sauerstoffsättigung 96 Klassifikationssystem 44, 554 – DSM 26 – ICD-10 348 Kleinhirn 339 Koffein 287 Kommunikationsstörung 61 Komorbidität 457 Komorbiditätsrate 458 Kompensationsstrategie 500 Kompulsivität 233 Konnektivätsanalyse 98 – Dynamic-Causal-Modelling 99 – effektive Konnektivität 99 – funktionelle Integration 98 – funktionelle Landkarte 98 – funktionelle Segregation 98 – psychophysiologische Interaktion 99 – zeitliche Korrelation 99 Konnektivität 95 – Diffusions-Tensor-Bildgebung 95
– funktionelle Kernspintomographie 95 Konsolidierung 291 Konsolidierungseffekt 174 – Abrufphase 174 – Lernphase 174 Konstrukt 554 – kognitives 554 – neurobiologisches 554 – psychologisches 554 Konsum 298 Kontinuitätshypothese 302 Konzentrationsfähigkeit 190 Konzentrationsleistung 495 Kopplungsanalyse 147 Koro 560 Körperschemastörung 232 Korsakoff-Syndrom 288, 289, 291, 302 Kortex – präfrontaler 255, 463 Kortex, okzipitaler 440 – Verarbeitung von Buchstaben 440 – Verarbeitung von Wortmaterial 440 Kortexvolumina 337 Kortikoide 252 Kortikosteroid 128 – Dexamethason 128 – Dosis-Wirkungs-Beziehung 128 – Gedächnisakquisition 128 – Gedächtniskonsolidierung 128 – Schlaf 130 Kortikotropin-Freisetzungsfaktor 252 Kortisol 123 – Arbeitsgedächtnis 131 – Blut-Hirn-Schranke 123 – EKP-Komponente 136 – emotionales Wohlbefinden 138 – Erinnerungsleistung 130 – explizite Worterinnerung 129 – Gedächtnisbildung 127 – Hippokampus 129 – immunologische Wirkung 123 – metabolische Wirkung 123 – mismatch negativity 136 – negatives Feedback 123 Kortisolkonzentration 253 Kortisolspiegel 252 Krankheitseinsicht 337, 342, 360, 367 Kurzzeitgedächtnis 56
L Längsschnittstudie 317 Langzeitgedächtnis 56
596
Anhang
Lebenszeitkonsum 303 Leistungsfähigkeit, kognitive 209 – selektive Serotonin-Rückaufnahmeinhibitoren 209 – trizyklische Antidepressiva 209 Leistungsniveau, intellektuelles 61 Leistungstest, neuropsychologischer 352 Leistungstraining 501 Lernen 57 – konditional-assoziatives 225 Lernfähigkeit 469 Lernleistung 313, 341 Lernprozess 496 Lerntechnik 375 Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) 432 – Arbeitsgedächtnis 437 – auditive Wahrnehmung 432 – Bewegungswahrnehmung 437 – Blickbewegung 436 – Diagnostik 437 – elektrophysiologische Studie 441 – Erblichkeit 157 – Kandidatengen 439 – mismatch negativity 433 – neurobiologisches Ursachenmodell 438, 439 – neuropsychologische Auffälligkeiten 432 – nichtsprachliche Reize 433 – orthografisches Wissen 437 – phonologische Bewusstheit 435 – Sprachverarbeitung 435 – Sprachwahrnehmung 433 – Symptomatik 432 – Trainingsprogramm 441 – visuelle Wahrnehmung 436 Lewy-Körper-Demenz 113 – default network 113 – Frontalkortex 113 – Hippokampus 113 – intraneuronale Einschlusskörper 113 – Marklager 114 – metabolische Unterfunktion 113 Lexikon, mentales 440 Low resolution electromagnetic tomography 489
M Magnetoenzephalographie-Studie 464 Magnetresonanzspektroskopie (MRS) 100, 255 – 1H 100
– funktionelle 100 – in-vivo-31P-MRS 100 Magnetresonanztomographie 93 – funktionelle (fMRT) 463 – Magnetfeld 93 – Segmentierung 93 – strukturelle Messung 93 – Volumenbestimmung 94 Magnetstimulation, transkranielle 464 Major Depression 202, 215 – kognitive Flexibilität 202 – Leistungssteigerung 215 – nonverbalen Gedächtnis 202 – semantische Wortflüssigkeit 202 – Subtyp Melancholie 215 – Tagesschwankung 215 Mamillarkörper 292 Mangelerscheinung 349 Manie 204 – Aktivierungsmuster 211 – Beeinträchtigungen (Überblick) 206 – emotional bias 205 – exekutive Funktion 204 – Inhibition irrelevanter Reize 204 – regionaler cerebraler Blutfluss 211 – verbales Lernen 204 – Verlaufsstudien 214 Mediator 305 Mediatoransatz 305 Meditation 486 – Aktivierungsunterschied 486 – fMRT 486 – PET 486 – α-Aktivität 486 Mehrebenenbetrachtung 560 Membran-Turnover 99 Merkfähigkeit 313, 314 Metaanalyse 372, 463, 468, 499, 520 metabolische Aktivierung – Behandlungserfolg 489 – prognostische Bedeutung 488 – prognostische Differenzierung 489 Methylendioxymethamphetamin (MDMA) 310 Methylphenidat 457, 462, 470 Mikrotubuli 360 Mild cognitive impairment 36, 369 minimale cerebrale Dysfunktion 459 Minussymptomatik 339, 340, 342 mismatch detection 232 Mismatch negativity (MMN) 433 Missbrauch, sexueller 248 Modellentwicklung 27 Moderator 305 Moderatoransatz 305 Morbus Alzheimer (7 AlzheimerKrankheit)
Motivation 513 – Biochemie 81 – biologische Modelle 85 – Handlungsregulationssystem 81 – kognitive Theorie 85 – neuroanatomische Verankerung 81 – neuronales Netzwerk 84 – Ziel 85 Motivationsstörung 68 – Abgrenzung 71, 72 – Alzheimer Demenz 70 – Behandlung 85 – depressiver Patient 69, 79 – Diagnostik 73 – Fremdbeurteilungsverfahren 74 – Hirnschädigung 69 – Lokalisation 69 – Operationalisierung 72 – Parkinson 70 – psychologische Maßnahme 86 – Psychopharmaka 86 – psychotischer Patient 69 – Schädel-Hirn-Trauma 70 – Selbstbeurteilungsverfahren 74 – Verhaltensstörung 69 – zerebrovaskuläre Erkrankung 70 MR-Spectroscopic-Imaging (MRSI) 7 metabolische Bildgebung 99 Multi-Infarkt-Demenz 365 Myelinisierung 260
N N200-Latenz 229 Narration 273 Narrativ 250 Nebennierenrinde 252 Negativsymptomatik 336-337 Neokortex, Synchronizität 176 Netzwerk 2, 554 – Informationsverarbeitung 2, 3 – Komponenten 2 – pathologisches 2 Netzwerk, neuronales 81 – Belohnung 81 – Motivation 81 – zielgerichtetes Verhalten 81 Netzwerkstörung, sekundäre 3 Neurodegeneration 339 Neurogenese 312 – postnatale 259 Neuroleptika 335, 341, 535 – atypische 341, 535 – Einteilung 535
597
L–P
Stichwortverzeichnis
– klassische 535 – Rezeptorbindungsprofil 537 – therapeutischer Effekt 535 – Wirkmechanismus 536 Neuromodulator 313 Neuronenpopulation 90, 91, 92 – Integration 91 – Modulation 91 – Spezialisierung 92 Neuropeptid 229 Neuroplastizität 312 Neuropsychologie 17, 18, 124, 552, 554 – Aufgaben 28, 36, 552 – bildgebende Verfahren 27 – Funktionsanalyse 27 – In-vivo-Nachweis 27 – Instrument 27 – klinische 8, 18, 19, 20, 22 – neuroanatomischer Ansatz 124 – neurochemischer Ansatz 124 – zentraler Gegenstand 554 – Ziele 552 Neuropsychologie, Gesellschaft für 19 Neurotoxizität 303, 312 Neurotransmission, dopaminerge 340 Neurowissenschaft, kognitive 553 Nikotin 287 NonREM-Schlaf 167 – Deltaschlaf 167 – Lernen 176 – slow wave sleep 167 – Spindeln 176 – Tiefschlaf 167 Noradrenalin 462 Noradrenalin-Metabolit 462 Nucleus accumbens 230 Nucleus caudatus 227, 466 Nucleus subthalamicus 230 Nucleus suprachiasmaticus 168 – Hell-Dunkel-Zyklus 168 – Oszillator 168 – Schrittmacher 168
O Objektivität 50 Oddball-Paradigma 433 Opioidsystem, endogenes 252 Organ, zirkumventrikuläres 123 – ACTH 123 Overtesting 352
P P300 464 – Komponente 192 – Latenz 229 Panikpatient 191 Panikstörung 190, 192, 194 Parkinson, Morbus 159 – familiäre Häufung 159 – Verwandte 159 – Vorhersage 159 – Zelluntergang 159 Patient, depressiver 480, 483 – cordance 483, 485 – metabolische Aktivierung 480 – Placebo 483 – Power-Spektrum 483, 485 Patient, euthymer 214 – Beeinträchtigung 214 – Flexibilitätsleistung 214 Patient, schizophrener 479 – Aktivierungsmuster 485 – Arbeitsgedächtnisaufgabe 478 – frontostriäres Schleifensystem 478 – kognitives Training 485 – pharmakologische Intervention 479 – regionaler zerebraler Blutfluss 485 – SPECT 485 Perseveration 232 Phobie, soziale 100, 193 – Amygdala 101 – Automatisierung 101 Plaques 360 Plastizität 556 – Aktivierungsmuster 556 – Erregungsmuster 92 – Hippokampus 92, 556 – kortikale Repräsentation 556 – neuronale 92 – Psychotherapie 557 – Veränderung 556 Polysomnogramm 167 – Hypnogramm 167 Positronenemissionstomographie (PET) 176, 226, 255, 352 – Untersuchung 226 Posttraumatische Stresserkrankung 104 – Amygdala 105 – dissoziativer Typ 105 – Gedächtnisbildung 105 – Gyrus cinguli 105 – Hippokampus 104 – Hyperarousal-Typ 105 – Integrationsstörung 105 – Nucleus accumbens 105
– regionaler zerebraler Blutfluss 105 Potential, evoziertes 464 Prädemenzphase 360 Prädiktor 342 Prävalenz 454 Prävention 377 Primärstörung, fokale 3 Priming 497 – affektives 178 Primingeffekt 224 Problemlöseaufgabe 499 Problemlösen, Masterplanner 182 Problemlöseverhalten, soziales 342 Processing negativity (negative difference wave) 135 Profile, neuropsychologische 208 – bipolare Störung 208 – unipolare Depression 208 – Unterschied 208 Proopiomelanocortin (POMC) 122 – ACTH 122 – Melanokortine 123 Pseudodemenz 200 – depressive 370 Psychiatrie 10, 15 – biologisch orientierte 26 – geisteswissenschaftlich-humanistische 15 – naturwissenschaftliche 10 – naturwissenschaftlich orientierte 15 Psychiker 10 Psychoanalyse 15 Psychopathologie 340 Psychopathologieforschung 552 – bildgebende Verfahren 553 – experimentalpsychologische Paradigmen 553 – Konvergenz und Kooperation 553 – neurowissenschaftliche Ausrichtung 553 – reduktionistisches Vorgehen 553 – Zukunft 552 Psychopharmaka 16, 373, 526 – Funktionstüchtigkeit 526 – Häufigkeit 527 – Motivationsproblem 69 – Symptomreduktion 526 – Verkehrssicherheit 541, 542 – Verordnung 527 Psychopharmakologie 16 Psychose, schizophrenieartige 332 Psychotechniker 17 Psychotherapeutengesetz 20 Psychotherapie 557 – neurobiologische Ebene 554 – neurobiologische Wirkung 557
598
Anhang
Psychotherapiegesetz 19 Psychotraumatologie 251 PTO junction 169
Q Querschnittstudie 315 Querschnittsuntersuchung 463
R Reaktionstempo 503 Reaktionsunterdrückung 222 Reaktionszeitexperiment 14 Rechenstörung 443 – Diagnostik 445 – diagnostische Kriterien 444 – Förderprogramm 449 – Gedächtnisleistung 445 – Heritabilität 443 – Leitsymptom 443 – linguistische Fähigkeit 444 – neuropsychologisches Modell 446 – Prävalenz 443 – räumlich-visuelle Wahrnehmung 445 – Subtyp 445 Reduktionismus 9 Rehabilitation – berufliche 342 – kognitive 343, 494 – psychiatrische 500 – psychosoziale 342 Rehabilitationseinrichtung 19 Reiz, sozialer 513 Reiz, akustischer 433 – Unterscheidungsfähigkeit 433 Reliabilität 50 REM-Schlaf 167 – Amygdala 169, 177 – Aufmerksamkeitsreaktion 180 – depressiver Patient 179 – posttraumatische Belastungsstörung 179 Remediation, kognitive 304, 500 Remediationsprogramm 306 Repräsentation, kortikale 556 – Phantomgliedschmerz 557 – Streichmusiker 556 – Tinnitus 556
Repräsentationsmodell, duales 264, 273 Reproduktion, freie 496 Reservekapazität 375 Restitution 302, 500 – kognitive 307 Restitutionsverlauf 300 Rezeptor, glukokortikoider 260 Rezeptortyp, zentralnervöser 124 – Glukokortikoidrezeptor (GR-Rezeptor) 124 – Mineralokortikoidrezeptor (MR-Rezeptor) 124 Risikofaktor 245, 246 – posttraumatischer 247 Ritual 220 Romantiker, medizinischer 11 Rückbildung 300
S scaffolded instruction 516 Schädel-Hirn-Trauma 70, 459 – Emotionalität 70 – Motivationsstörung 70 – Persönlichkeit 70 – psychosoziale Folgen 70 Schaden, neurotoxischer 313, 315 Schizophrenie 27, 107, 149 – Amygdala 108 – Aufmerksamkeitsfeld 34 – Befund 30 – Chromosom 22 154 – chronische 110 – Defizit 29 – Endophänotyp 151 – familiäre Häufung 149 – genetic loading 150 – Genkopiezahlvariant 149 – genomweite Assoziationsstudie 149 – Hemisphärenlateralität 111 – High-risk-Studie 152 – Hippokampus 110 – Informationsverarbeitung 107 – Kandidatenregion 152 – kognitive Flexibilität 34 – kognitive Funktion 108 – Komponente ereigniskorrelierter Potenziale 151 – Konnektivität 111 – Kopplungsanalyse 149 – Langzeitverlauf 149 – Leistungseinbußen 149 – Marklagerabnormalität 27
– – – –
Negativsymptom 107 Netzwerkstörung 27 neuromorphologischer Befund 153 neuronale Entwicklungsstörung 153 – obligate Anlageträger 151 – okulomotorische Funktionsstörung 150 – Positivsymptom 107 – präpsychotisches Stadium 35 – Stadienmodell 154 – Störungsmuster 30 – Suszeptibilitätsgen 149 – Ventrikelsystem 107 – Volumenabnahme 107 – Vorbote der Erkrankung 153 Schlaf 130, 178 – deklarative Gedächtniskonsolidierung 130 – emotionale Reaktivität 178 – HHN-Achse 130 – Kathartische Funktion 178 – Kernschlaf 185 – Konditionierungslernen 180 – Kortisolspiegel 130 – optionaler Schlaf 185 – Persönlichkeitsfaktor 185 – Schlafbedarf 186 – Schlafdauer 186 – Schlafhomöostase 181 Schlafdeprivation 166, 182, 183 – Arbeitsgedächtnis 184 – divergentes Denken 182 – Frontalhirnfunktion 181 – Intonation 184 – Langzeitgedächtnis 184 – P300-Komponente 183 – Stimmung 184 – Stresshormon 180 – subjektive Müdigkeit 184 Schlafdruck 168 – EEG-Frequenz 168 Schlafentzug 7 Schlafdeprivation Schlafstadien, REM-Schlaf 167 Schriftspracherwerb 437 – individuelles Entwicklungsniveau 438 – orthografisches Wissen 437 Selbst-Erhaltungs-Therapie 376 Selbstmonitoring 343 Selbstregulation 459 Selbständigkeit 360 Selbstverbalisierung 343 Serotonin 228, 235, 462 Serotonin-Noradrenalin-Hypothese 228 Serotonin-Wiederaufnahmehemmer 227, 462
599
P–S
Stichwortverzeichnis
Serotoninagonist 228 Serotoninspiegel 259 Serotonintransporter 311 Signalveränderung 93 – biochemische 93 – neuronale Funktionskarte 93 – vaskuläre 93 Simulation 47, 50 slow oscillations 176 – Lernen 176 – Neokortex 176 Somatiker 10 Sozialverhalten, hyperkinetische Störung des 455 SPECT-Untersuchung 255 Stadium 361 – isokortikales 361, 362 – limbisches 361, 362 – transentorhinales 361 Steroid-Psychose 138 Stimmung 212 – Induktion 212 – negative 212 – positive 212 Stimmungsinduktion 486 – Amygdala 488 – gesunde Person 486 – Patient 488 – PET 486 – rCBF 488 Stimulanzien 457 Stimulanzientherapie 457 Stimulationsexperiment 13 Störung, affektive 27, 62, 101, 156, 200 – Abgrenzung 200 – Alter 208 – Antriebsstörung 34 – Bewertung 34 – Einflussfaktor 207 – emotionale Stimuli 102 – fazilitierte Erinnerung 35 – genetische Faktoren 156 – kognitive Funktion 102 – kognitive Symptome 200 – Leistungsstreuung 207 – linksfrontale Dysfunktion 208 – Motivation 34 – Netzwerkmodell 103 – Neuropathologie 27 – neuropsychologische Auffälligkeiten 200 – neuropsychologische Defizite bei Angehörigen 156 – präfrontale Aktivität 102 – rechts-posteriore Dysfunktion 208 – Regulationsstörung 102 – Stimmungslage 200
– Subtyp 207 – Überaktivierung 213 – Unteraktivierung 213 – Valenz der Aufgabenitems 210 – Volumenreduktion 102 – zelluläre Ebene 102 Störung, aphasische 61 Störung, bipolare 207, 215 – Gedächtnisstörung 207 – weiße Substanz 211 Störung, depressive 69 – Motivationsproblem 69 Störung, dissoziative 248 Störung, leicht kognitive 369 Störung, psychische 2, 79, 91, 146, 402, 552, 555, 560 – biochemische Verankerung 91 – Defizitscreening 3 – Diagnostik 3 – Endophänotyp 148, 556 – Erblichkeitsschätzung 146 – fundamentale Dysfunktion 91 – funktionelle Analyse 552 – Funktionsstörung 2 – gemeinsame Endstrecke 3 – genetischer Faktor 555 – Kindes- und Jugendalter 402 – kognitives Defizit 79 – Konnektivität 2 – krankheitsassoziierte Gene 146 – kulturspezifische 560 – motivationaler Einfluss 80 – multifaktorielle Verursachung 148 – negatives Feedback 79 – neuropsychologische Funktionseinbuße 91 – phänomenologisch-deskriptive Klassifikation 146 – psychologischer Faktor 79 – Störungswissen 3 – Strukturstörung 2 – Umweltfaktor 555 – ursachenorientierte Klassifikation 146 – Vorhersage 556 Störungsmodell, detailliertes 553 – Entwicklung 555 – kognitive Funktion 553 – neuronale Dysfunktion 553 Stress 252, 272 – chronischer 253 – posttraumatischer 244 Stress-Gedächtnis-Modell 258 Stressexposition 245, 260 – frühe 259 Stresshormon 173 – Cortisol 174
– Glukokortikoide 173 Stressmodell 258 Stroopaufgabe, emotionale 266 Strukturanalyse, nichtinvasive 91 Studie 132 – emotionale Versuchsprozedur 132 – Glukokortikoidwirkung 132 – humanexperimentelle 132 – Resting State 392 – tierexperimentelle 132 Studiendesign 97 – faktorielles Design 97 – kategoriales Design 97 – parametrisches Korrelationsdesign 97 Substanz – psychotrope 286 Substanzkonsum 286 Substanzmittelabhängigkeit 69 – Motivationsproblem 69 Suchtentwicklung – Belohnungssystem 106 – Impulsgenerierung 106 – Nucleus accumbens 106 Suchterkrankung 105 – kognitive Ebene 105 – körperliche Ebene 105 – neuronale Ebene 105 – Verhaltensebene 105 Suchtverlangen 106 – Amygdala 106 – Gyrus cinguli 106 – Nucleus caudatus 106 – Thalamus 106 Supervisory-attentional-control-System 467 Suppression 270 Symptom – dissoziatives 249 – psychoformes 249 Symptomatik, extrapyramidale 342 Synaptogenese 339 Syndrom, velocardiofaziales (VCFS) 154 – Chromosom 22 154 – psychotische Störung 154 Synopsis 544 Syphilis 12 System – limbisches 262 – serotonerges 311, 462 System, endokrines 122 – Homöostase 122 System, exekutives 28 – Abstimmung 28 – Repräsentation 28 – Überwachung 28
600
Anhang
System, exekutives – Verhaltenskontrolle 28 – Verhaltenssteuerung 28 – Verzahnung 28 System, magnozelluläres 436 – Funktion 436 – Projektion 436 System, parvozelluläres 436 – Verarbeitung 436
Triple-Code-Modell 447 Tunnelgedächtnis 272 Typika 538 – kognitive Funktion 538 – negative Auswirkung 538 – Verbesserung 538
U T Taubheit, emotionale 268 Teilleistungsstörung 458 Temporallappen 463 – mediobasaler 360 Test, – dynamischer 515 – psychometrischer 49 Testbatterie – zur Aufmerksamkeitsprüfung 53, 54 – standardisierte 356 Testinterpretation 50 Testpsychologie 17 Thalamus 292 Theory of Mind 407 Therapie, neuropsychologische 20, 343 Therapiemotivation 305 Therapieprogramm 304 Thiaminmangel 288, 292 Ticsymptome 234 Tiefenhirnstimulation 230 Tiefenpsychologie 15 Toleranzentwicklung 106 Training 306, 343, 500 Trainingsansatz 375 Trainingsleistung 507 Trainingsprogramm, kognitives 375 Trainingsschema 506 Trainingsstudie 517 Trainingsverfahren 504 Traum 168 – Funktion 168 – luzides Träumen 180 – neuronale Grundlage 169 Trauma 242 – frühkindliches 244 Traumaexposition 245, 263 Traumatherapie 273 Traumatisierung 244, 259 Trichotillomanie 233, 234 Trinkmenge 300 Trinkmuster 300
Überakkommodation 271 Überassimilation 271 Universitätspsychiatrie 12 Unruhe 455 Untersuchung, neuropsychologische 47, 200, 216 – affektive Störung 200 – Bedeutung 200 – Belastbarkeit 201 – Indikationsstellung 216
V Validität 50 vaskuläre Demenz 114 – Hirninfarkt 114 – N-Acethyl-Aspartat-Wert 114 Ventrikelvergrößerung 339 Veränderung, metabolische 479 – pharmakologische Intervention 479 – Prädiktor 489 – psychotherapeutische Intervention 479 Verarbeitung, emotionale 266, 269 Verarbeitung, visuelle 436 – magnozelluläres System 436 – parvozelluläres System 436 Verarbeitungsprozess 91 – parallel 91 – sequentiell-hierarchisch 91 Verfahren, bildgebendes 93, 478 – Aktivierungsmuster 478 – biochemisch-metabolische 93 – funktionelle 93 – Inkonsistenzen 478 – makromorphologische 93 – neuronale Veränderung 478 – ultrastrukturelle 93 – Variabilität 478 Vergessen, direktives 265 Verhaltens-Hemm-System 235 Verhaltensauffälligkeit 367
Verhaltensbeobachtung 51, 52 Verhaltensgenetik 148 – Heritabilität 148 – molekulare 160 – quantitative 148 Verhaltenstherapie 16 Verhaltenstherapie, kognitive 559 – neurobiologische Grundlage 559 – operantes Lernprinzip 559 Vermeidungsverhalten 220 Vigilanz 52, 342, 495, 503 Vigilanzleistung 514 Volumenminderung 263, 302 Vorschulkind 469 Voxel basierte Morphometrie (VBM, Volumenbestimmung) 94 Vulnerabilität 244 Vulnerabilitätsmarker 258
W Wahrnehmung 494, 514 Wahrnehmungsleistung, räumliche 60 Wahrnehmungsstörung, auditive 432 – diagnostisches Verfahren 437 – Therapie 441 Wahrnehmungsstörung, visuelle 436 – Steuerung der Blickmotorik 443 – Therapie 443 Wahrnehmungstraining 502, 508 Weg 90 – holistischer (Top-down-Ansatz) 90 – reduktionistischer (Bottom-upAnsatz) 90 Wernicke-Enzephalopathie 292, 302 Wernicke-Korsakoff-Syndrom 292 white matter lesions 102 Wiedererleben, intrusives 246 Wiedergabe, gestützte 496 Wiederholung, ritualisierte 221 Wirksamkeitsnachweis 508 Wissen, orthografisches 437 – Teilfertigkeit 437 Wo, Wohin-Weg 92 Wortassoziationsexperiment 14
Z Zugangsweg, Modell des zweifachen 440 – direkter Prozess 440
601 Stichwortverzeichnis
– indirekter Weg 440 Zustand, gewünschter 85 – Dynamik 85 – Inhalt 85 – Struktur und Eigenschaft 85 – Ziel 85 Zwangsgedanken 221 Zwangshandlung 221 Zwangspatient 220 Zwangsritual 222 Zwangsspektrumsstörung 233 Zwangsstörung 103, 156, 191, 480 – Basalganglien 103 – Entkonditionierung 483 – familiäre Häufung 156 – Gyrus cinguli 103, 104 – metabolische Aktivität 480 – nonverbales Gedächtnis 157 – Nucleus caudatus 480 – Nucleus accumbens 104 – Perseverationsneigung 156 – räumliches Arbeitsgedächtnis 156 Zwangssymptome 234 2-Faktoren-Modell 251 2-Prozess-Modell 167 – homöostatischer Prozess 168 – Schlaf-Wach-Regulation 167 – zirkadianer Prozess 168 Zwillingsstudie 465 Zytoarchitektur 338
S–Z