Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Lioba Baving
Störungen des Sozialverhaltens
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Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Lioba Baving
Störungen des Sozialverhaltens
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Prof. Dr. Dr. Lioba Baving Lehrstuhlinhaberin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Christian-Albrechts-Universität Kiel Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Zentrum für Integrative Psychiatrie gGmbH Niemannsweg 147 24105 Kiel
ISBN-10 ISBN-13
3-540-20934-4 978-3-540-20934-8
Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.com © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Renate Schulz Lektorat: Annette Allée, Dinslaken Design: deblik Berlin SPIN 10980842 Satz: medionet AG, Berlin Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126 – 5 4 3 2 1 0
Vorwort aus Max und Moritz (Wilhelm Busch)
Ach, was muss man oft von bösen Kindern hören oder lesen! Wie zum Beispiel hier von diesen, Welche Max und Moritz hießen; Die, anstatt durch weise Lehren Sich zum Guten zu bekehren, Oftmals noch darüber lachten Und sich heimlich lustig machten. Ja, zur Übeltätigkeit, Ja, dazu ist man bereit! Menschen necken, Tiere quälen, Äpfel, Birnen, Zwetschgen stehlen, Das ist freilich angenehmer Und dazu auch viel bequemer, Als in Kirche oder Schule Festzusitzen auf dem Stuhle. Aber wehe, wehe, wehe! Wenn ich auf das Ende sehe!! Ach, das war ein schlimmes Ding, Wie es Max und Moritz ging. Drum ist hier, was sie getrieben, Abgemalt und aufgeschrieben.
Allen Kindern und Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens gewidmet.
IX
Vorwort Aggressiv-dissoziale Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen verursachen sowohl erhebliches individuelles Leid als auch gesamtgesellschaftliche Belastungen. Diese Kinder und Jugendlichen stellen nicht nur ihre Eltern und Lehrer vor besondere Anforderungen, sondern auch die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe tätigen Fachkräfte. Ziel des vorliegenden Buches ist es, das für erfolgreiche Therapien und Hilfen bei oppositionellen und aggressiv-dissozialen Kindern bzw. Jugendlichen relevante Wissen kompakt und praxisnah darzustellen. Der Schwerpunkt liegt – neben der Diagnostik – auf der Therapie; für das Verständnis der Störungen des Sozialverhaltens erforderliche theoretische Konzepte werden bewusst knapp dargestellt. Die ersten drei Kapitel widmen sich der Geschichte der Störung, ihrer Definition und Klassifikation und verschiedenen Aspekten ihrer Entstehung. 7 Kapitel 4 und 5 behandeln die Diagnose und Differenzialdiagnose der Störungen des Sozialverhaltens. Geführt wird der Leser hier durch „diagnostische Leitfragen“, die ihn dazu anleiten sollen, den einzelnen Jugendlichen mit seiner individuellen Problematik einzuordnen sowie begleitende Störungen und Probleme zu identifizieren. 7 Kapitel 6 bildet mit dem Thema Therapie den Schwerpunkt des Buches. Hier werden die Interventionsmöglichkeiten umfassend vorgestellt und ihre Anwendung in der Praxis beschrieben. Besondere Aufmerksamkeit liegt dabei auf dem Umgang mit akut-aggressiven Kindern und Jugendlichen in Notfallsituationen; Fachkräfte erhalten hier konkrete Handlungsvorschläge für diese schwierigen Situationen. Der letzte Teil (7 Kap. 7 und 8) befasst sich mit Verlauf und Prognose der Störungen des Sozialverhaltens sowie mit den Schwerpunkten zukünftig zu leistender Forschung. Das Buch richtet sich an Mediziner, Psychologen und Pädagogen, die an der ambulanten oder (teil-)stationären Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens mitwirken, aber auch an die in Jugendämtern und Einrichtungen der Jugendhilfe tätigen Fachkräfte; darüber hinaus an alle Leser, die mehr über diese spezielle Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit ihren vielfältigen Eigenschaften und Schwierigkeiten wissen möchten. Kiel, im Frühjahr 2006 Lioba Baving
XI
Inhaltsverzeichnis Ein Blick zurück: Zur Geschichte der Störung. . . . . . . . . . . . . . . . .
1
4.5.4 Drogenscreening . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Weitergehende Diagnostik. . . . . . . . . 4.7 Entbehrliche Diagnostik . . . . . . . . . .
2
Worum es geht: Definition und Klassifikation. . . . . . . . . . . . . . . .
5
5
2.1 2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.5
Definition. . . . . . . . . . . . . Leitsymptome . . . . . . . . . Schweregradeinteilung . . . . Untergruppen . . . . . . . . . . Untergruppen nach ICD-10 . Untergruppen nach DSM-IV . Ausschlussdiagnosen . . . . .
Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung . . . . . . . . .
5.1 5.2
5.3.2
Weitere diagnostische Leitfragen. . . . . Identifizierung weiterer Störungen und Belastungen . . . . . . . . . . . . . . . Achse II des MAS: Umschriebene Entwicklungsstörungen. . . . . . . . . . . Achse III des MAS: Intelligenzniveau . . . Achse IV des MAS: Körperliche Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . Achse V des MAS: Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände . . . Achse VI des MAS: Globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus. . Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens . . . . . . Hierarchie des diagnostischen Vorgehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose. . . . . . . . . . . . .
6
Was zu tun ist: Interventionen . . . . .
87
6.1 6.2
Auswahl des Interventionssettings. . . . Behandlungsprogramme und ihre Komponenten. . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheitsstadienbezogene Komponenten. . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoedukative Maßnahmen und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . Schulbezogene Interventionen . . . . . . Therapieprogramme. . . . . . . . . . . . . Pharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . . Komorbiditätsbezogene Komponenten Besonderheiten bei ambulanter Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten bei teilstationärer Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten bei stationärer Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
1
3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2 4.3 4.4 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3
. . . . . . .
Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie. . . .
Biologische Perspektive. . . . . . . . . Psychosoziale Perspektive . . . . . . . Kind/Jugendlicher in seiner Familie . Kind/Jugendlicher und die Gleichaltrigen . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Kind/Jugendlicher und die Schule . . 3.2.4 Kind/Jugendlicher und seine Familie im psychosozialen Umfeld . . . . . . . 3.3 Modellvorstellungen . . . . . . . . . .
4
. . . . . . .
6 7 7 8 8 12 13
5.2.1 5.2.2 5.2.3
17
. . . . . .
19 21 21
5.2.4
. . . .
25 27
5.3
5.2.5
5.3.1 . . . .
27 28
Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik. . . .
31
Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . Leitsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . Psychischer Status des Kindes/ Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle Lebenssituation des Kindes/ Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . Störungsspezifische Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . Komorbide Störungen . . . . . . . . . . Störungsrelevante Rahmenbedingungen. . . . . . . . . . . Testpsychologische und somatische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fremd- und Selbstbeurteilungsskalen Altersbezogene Testdiagnostik . . . . . Körperliche Untersuchung . . . . . . . .
. . .
32 32 36
.
41
6.2.2
.
42
. .
42 43
6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.6 6.3
.
48
6.2.1
6.4 . . . .
50 50 51 54
6.5
55 57 57
59 60 60 61 66 67 68 68 68 68 71
90 91 94 103 105 107 130 132 136 136
XII
6.6 6.7
Inhaltsverzeichnis
Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Entbehrliche Therapiemaßnahmen . . . 157
7
Der Blick voraus: Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
8
Was wir nicht wissen: Offene Fragen . . 167
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
1 Ein Blick zurück: Zur Geschichte der Störung
2
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte der Störung
Dissoziales Verhalten wurde historisch aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet (Earls 1994). Der Vorstellung, dass bei Straftätern ein »Defekt in der Charakterbildung« oder eine »Psychopathie« vorliege, stand der Ansatz gegenüber, dass dissoziales Verhalten eine Reaktion auf widrige familiäre und gesellschaftliche Bedingungen darstelle, also nicht primär auf ein intrapsychisches Defizit zurückzuführen sei, sondern als eine Form der Anpassung an abweichende Lebensbedingungen verstanden werden müsse. William Healy (1869‒1963), der in Chicago und Boston die ersten an Jugendgerichte angeschlossenen Kliniken gründete, ging von einem »konstitutionellen psychischen Defekt« aus, der auf mentalen wie physischen, überwiegend erblich bedingten Defiziten beruhe. Zeitgleich veröffentlichte der englische Psychologe Cyril Burt die Abhandlung »The young delinquent« (Burt 1925), in der er neben vielfältigen biologischen Einflüssen auch soziale Faktoren in ihrer Bedeutung für delinquentes Verhalten würdigte. Hervey Cleckley beschrieb in seiner Monographie The mask of sanity (Cleckley 1941) Merkmale seiner ‒ teilweise durchaus angepassten ‒ Patienten, die sich auch in aktuellen PsychopathieKonzepten wiederfinden, nämlich Affektarmut, Mangel an Einfühlungsvermögen und Schuldgefühl, Unvermögen aus Erfahrung zu lernen, ausgeprägte Egozentrik und Verantwortungslosigkeit. Er nahm an, dass diesen Merkmalen ein tiefgreifender Defekt, eine Art »emotionaler Demenz«, zugrunde liege. Zunehmend trat jedoch die Vorstellung eines konstitutionellen Defektes in den Hintergrund, u. a. mit der Rezeption psychoanalytischer Ideen, zugunsten der Betrachtung der Entwicklungsbedingungen dissozialen Verhaltens. August Aichhorn wies in Verwahrloste Jugend ‒ Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung (Aichhorn 1925) auf den Zusammenhang zwischen emotionalen Entbehrungen in der frühen Kindheit ‒ aber auch einem Mangel an Erziehung ‒ und späterer dissozialer Entwicklung hin. John Bowl-
by beschrieb in seinen frühen Untersuchungen delinquenter Jugendlicher (Bowlby 1944) den »gefühllosen Charakter«, den er als besonders gefährdet für das Begehen wiederholter Straftaten betrachtete; er fokussierte jedoch insbesondere auf die Entwicklungsbedingungen dieser Jugendlichen, deren Vorgeschichte durch längere Trennungen von Mutter oder Pflegemutter gekennzeichnet sei. Stärker soziologisch orientierte Theorien betonten die Bedeutsamkeit sozialer Faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Dissozialität, zum einen den Einfluss ungünstiger Vorbilder, der zu dissozialem Verhalten verleitet (»Zugtheorien«), zum anderen ungünstige soziale oder ökonomische Verhältnisse, welche die unter diesen Bedingungen lebenden Menschen zu dissozialem Verhalten nötigen (»Drucktheorien«). Eine bahnbrechende empirische Untersuchung wurde von Sheldon und Eleanor Glueck (Glueck u. Glueck 1950) durchgeführt. Sie verglichen 500 dissoziale Jugendliche mit einer ebenso großen, sehr sorgfältig gematchten Gruppe nichtdissozialer Jugendlicher und fanden sowohl konstitutionelle Unterschiede als auch eine überzufällige Häufung von psychsozialen Belastungsfaktoren, insbesondere gestörte Eltern-Kind-Beziehung und Anschluss an dissoziale Gleichaltrige. ! Auch aus aktueller Sicht ist ein komplexes Wechselspiel biologischer, psychischer und sozialer Faktoren an der Entstehung und Aufrechterhaltung dissozialen Verhaltens beteiligt, wobei die im Einzelfall relevanten Faktoren und deren relative Bedeutung interindividuelle Unterschiede aufweisen (7 Kap. 4).
Bezüglich der Entwicklung und Prognose dissozialen Verhaltens konnte Lee Robins in ihren umfangreichen Längsschnittuntersuchungen zeigen, dass dissoziale Erwachsene meist auch dissoziale Kinder und Jugendliche waren, dass sich aber keineswegs jedes im Kindes- und Jugendal-
Ein Blick zurück: Zur Geschichte der Störung
ter auftretende dissoziale Verhalten ins Erwachsenenalter fortsetzt (Robins 1978). Ein ebenfalls relevanter Begriff, der auch in die Gesetzgebung Eingang gefunden hat, lautet »Verwahrlosung«. Hermann Stutte (Stutte u. von Bracken 1967) fasste darunter sowohl die Lebenssituation eines Kindes oder Jugendlichen als auch das potenziell daraus resultierende Verhalten: Ein »Zustand mangelnden Bewahrtseins«, der durch Mängel in der familiären, sozialen oder epochalen Situation bedingt sei, könne bei entsprechender Disposition des Kindes zu seinem Versagen in Bezug auf die Anforderungen des Gemeinschaftslebens führen. Hartmann definierte Verwahrlosung als »persistentes und generalisiertes Sozialversagen« (Hartmann 1977). Wegen seiner negativen Besetzung und potenziell stigmatisierenden Wirkung ist der Begriff der Verwahrlosung, insbesondere in der Sozialpädagogik, sehr umstritten, ist aber nach Meinung anderer Autoren auch heute noch relevant, weil er eine spezifische Personengruppe mit einer konkreten sozialen Realität bezeichnet, während die Begriffe »Dissozialität« oder »Störung des Sozialverhaltens« eine weit größere Personengruppe einschließen. Im DSM-II, der zweiten Version des Diagnosesystems der US-amerikanischen psychiatrischen Fachgesellschaft (Diagnostisches und Statistisches Manual, American Psychiatric Association 1952), wurde die Störung des Sozialverhaltens (»conduct disorder«) als diagnostische Kategorie etabliert, die unabhängig von der legalen Einordnung des entsprechenden Verhaltens als delinquent oder nichtdelinquent zu sehen ist. Die oppositionelle Störung, bei der trotziges, aufsässiges und negativistisches Verhalten im Vordergrund steht – nicht aber aggressives oder dissoziales Verhalten wie bei der »conduct disorder« – wurde im DSM-III (American Psychiatric Association 1980) als diagnostische Kategorie aufgeführt. Die Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-9 der Weltgesundheitsorganisation (WHO 1978) enthielt zwar die Diagnose der Störung des Sozialverhal-
3
1
tens, nicht jedoch die der oppositionellen Störung, die erst in die ICD-10 Eingang fand. Die aktuellen Versionen der beiden international gebräuchlichen psychiatrischen Diagnosesysteme, DSM-IV (American Psychiatric Association 2001) und ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation 2000), haben sich in ihrer Konzeption der Störungen des Sozialverhaltens einander angenähert (7 Kap. 2).
2 Worum es geht: Definition und Klassifikation 2.1
Definition – 6
2.2
Leitsymptome
2.3
Schweregradeinteilung – 7
2.4
Untergruppen – 8
2.4.1 2.4.2
Untergruppen nach ICD-10 – 8 Untergruppen nach DSM-IV – 12
2.5
Ausschlussdiagnosen – 13
–7
6
Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation
1
2.1
Definition
2
Kennzeichnend für die Störungen des Sozialverhaltens (F91) ist nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation 2000) »ein sich wiederholendes und andauerndes Muster dissozialen, aggressiven oder aufsässigen Verhaltens«, welches die Grundrechte anderer oder dem jeweiligen Lebensalter entsprechende soziale Normen und Regeln verletzt und seit 6 Monaten oder länger besteht. Für die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens ist also ein Verhaltensmuster gefordert, einzelne dissoziale Handlungen rechtfertigen diese Diagnose nicht. Oft liegen bei Störungen des Sozialverhaltens ungünstige psychosoziale Bedingungen vor. Eine Störung des Sozialverhaltens kann zusammen mit einer hyperkinetischen Störung (hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens F90.1) oder mit einer emotionalen Störung wie Depression oder Angst (kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen F92) auftreten. Gegenstand dieser Monographie sind alle Störungen des Sozialverhaltens entsprechend der ICD-10, also die diagnostischen Kategorien F91, F90.1 und F92. Unter dem diagnostischen Begriff »Störung des Sozialverhaltens« wird ein Cluster von dissozialen, aggressiven und/oder oppositionellen Verhaltensweisen subsumiert und aus psychiatrischer Sicht beschrieben.
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Definition Dissoziales Verhalten verletzt die sozialen Regeln und Prinzipien der Gesellschaft, das Verhalten wird jedoch nicht notwendigerweise in einem gesetzlichen Zusammenhang beurteilt. Bei aggressivem Verhalten handelt es sich um gegen Personen oder Objekte gerichtetes Verhalten, das einen physischen oder emotionalen Schaden verursachen kann.
Nicht jedes aggressive Verhalten ist dissozial – dann beispielsweise nicht, wenn es der Verteidigung der eigenen Person dient. Wiederkehrendes
aggressives Verhalten jedoch, das in einem gegebenen sozialen Kontext deutlich unangemessen ist, erschwert oder verunmöglicht das Zusammenleben mit anderen Menschen und ist mit grundsätzlichen gesellschaftlichen Regeln nicht vereinbar. Auch oppositionelles Verhalten, also trotziges und ungehorsames Verhalten, ist keineswegs immer deviant, sondern in bestimmten Entwicklungsphasen als beinahe normativ zu betrachten (»terrible two«). Ein andauerndes Muster von erheblich ausgeprägtem und altersinadäquatem oppositionellem Verhalten ist jedoch insofern dissozial, als es ebenfalls mit den grundsätzlichen Regeln des Zusammenlebens nicht vereinbar ist. Da aber die ICD-10 zwischen oppositionellen, aggressiven und dissozialen Verhaltensweisen trennt, wird dieser semantischen Abgrenzung auch in der vorliegenden Monographie gefolgt. Einige dissoziale Verhaltensweisen sind gleichzeitig auch delinquente Verhaltensweisen. Definition Der Begriff der »Delinquenz« bezieht sich auf die Verletzung oder Missachtung von strafrechtlichen Normen, unabhängig davon, ob der Handelnde dafür strafrechtlich belangt werden kann. Als »kriminell« wird ein Handeln hingegen dann bezeichnet, wenn das normverletzende Verhalten strafrechtlich sanktioniert werden kann, der Handelnde also strafmündig ist (in Deutschland derzeit ab dem Alter von 14 Jahren).
Ein Kind oder Jugendlicher kann also als delinquent bezeichnet werden, wenn er als gesetzwidrig definiertes Verhalten zeigt, das gleiche Verhalten kann aber auch als »Störung des Sozialverhaltens« einer psychiatrischen Beschreibung zugänglich gemacht werden. Zu bedenken ist jedoch, dass eine Störung der sozialen Rolle allein kein diagnostisches Kriterium einer psychischen Störung darstellt und soziale Abweichungen oder soziale Konflikte ohne persönliche Beeinträchtigung nicht als psychische Störung betrachtet werden sollten (Weltgesundheitsorga-
7
2.3 Schweregradeinteilung
nisation 2000). Streng genommen dürfte also die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens nur dann gestellt werden, wenn von dem zu beobachtenden aggressiven oder dissozialen Verhalten angenommen wird, dass es sich um die Manifestation einer psychischen Störung handelt, wobei jedoch der kinder- und jugendpsychiatrische Sprachgebrauch an dieser Stelle so konsequent nicht ist. Der konzeptuelle Unterschied wird aber spätestens bei der Frage von Behandlungsentscheidungen deutlich, wo wir dann von Störungen des Sozialverhaltens mit überwiegend psychiatrischem bzw. überwiegend pädagogischpsychosozialem Interventionsbedarf sprechen.
2.2
Leitsymptome Verhaltensweisen, welche die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens begründen 5 Deutliches Maß an Ungehorsam, Streiten oder Tyrannisieren 5 Ungewöhnlich häufige oder schwere Wutausbrüche 5 Grausamkeit gegenüber anderen Menschen oder gegenüber Tieren 5 Erhebliche Destruktivität gegen Eigentum 5 Feuerlegen 5 Stehlen 5 Häufiges Lügen 5 Schulschwänzen 5 Weglaufen von zu Hause (außer zur Vermeidung körperlicher oder sexueller Misshandlung)
! Nicht jedes dissoziale Verhalten ist ein Anzeichen für Psychopathologie oder erfordert psychiatrische Behandlung.
Im Gegensatz zur kategorialen Definition einer Störung des Sozialverhaltens, bei der eine Person die entsprechenden diagnostischen Kriterien erfüllt und somit die Diagnose gestellt werden kann, oder aber nicht erfüllt und die Diagnose verworfen wird, kann das Ausmaß an oppositionellem, aggressivem und/oder dissozialem Verhalten auch als eine kontinuierliche oder dimensionale Variable betrachtet werden. Bei einer solchen dimensionalen Betrachtung können sowohl Verhaltensweisen, welche die Schwelle für die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens noch nicht erreichen, als auch unterschiedliche Schweregrade einer Störung des Sozialverhaltens differenzierter beschrieben werden.
2
Jede einzelne der genannten Verhaltensweisen genügt bei erheblicher Ausprägung über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten für die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens, nicht jedoch einzelne solcher Handlungen.
2.3
Schweregradeinteilung
Entsprechend den ICD-10-Forschungskriterien kann der Schweregrad einer Störung des Sozialverhaltens in den folgenden Abstufungen beschrieben werden: 5 Leicht: keine oder nur wenige Symptome neben denen, die für die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens gefordert werden; das disruptive Verhalten verursacht nur geringen Schaden für andere. 5 Mittelgradig: die Zahl der Symptome und der Schaden für andere liegt zwischen leicht und schwer. 5 Schwer: viele Symptome neben den für die Diagnose geforderten und/oder nennens-
8
Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation
1
werter Schaden für andere, z. B. bei Diebstahl, Vandalismus oder schwerer körperlicher Gewalt.
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Zwischen der Vielfalt delinquenter Handlungen, die von einer Person begangen werden, und dem Schweregrad der schwersten von ihr begangenen delinquenten Handlung besteht ein positiver statistischer Zusammenhang. Weiterhin kann nach den ICD-10-Forschungskriterien im Fall einer komorbiden Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (F90.1) oder einer komorbiden emotionalen Störung (F92) deren Schweregrad zur Beschreibung des Schweregrades des Störungsbildes insgesamt herangezogen werden.
2.4
Untergruppen
2.4.1 Untergruppen nach ICD-10 In der ICD-10 werden mehrere Untergruppen der Störungen des Sozialverhaltens unterschieden, die therapeutisch sowie prognostisch bedeutsam sind.
13 14 15 16 17 18 19 20
Störungen des Sozialverhaltens: Untergruppen nach ICD-10 F91.0 Auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens F91.1 Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen F91.2 Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen F91.3 Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten F90.1 Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens F92.0 Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung F92.8 Sonstige kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen
Entsprechend ihrer allgemeinen Systematik enthält die ICD-10 auch die Untergruppen »Sonstige Störungen des Sozialverhaltens« (F91.8), »Nicht näher bezeichnete Störung des Sozialverhaltens« (F91.9) und »Nicht näher bezeichnete kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen« (F92.9). Die »Nicht näher bezeichnete Störung des Sozialverhaltens« (F91.9) wird als eine Restkategorie bezeichnet, deren Verwendung nicht empfohlen wird, und zu »Sonstige Störungen des Sozialverhaltens« (F91.8) und »Nicht näher bezeichnete kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen« (F92.9) enthält die ICD-10 keinerlei Ausführungen. Dementsprechend wird hier auf diese diagnostischen Untergruppen nicht weiter eingegangen. F91.0 Auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens Über diese Störung liegen kaum empirische Befunde vor. Eventuell handelt es sich um eine leichter ausgeprägte Störung des Sozialverhaltens, bei der vergleichbare Mechanismen wie bei den übrigen Störungen des Sozialverhaltens wirksam sind, jedoch in weniger starker Ausprägung. Auch außerfamiliäre protektive Faktoren könnten dazu beitragen, dass außerhalb der Familie keine Symptomatik von Störungswert entsteht, z. B. ein hoch strukturiertes und tragfähiges außerfamiliäres Milieu oder soziale Ängste beim Kind, so dass es außerhalb der Familie sein Verhalten soweit kontrolliert, dass die Symptomatik nur im sicheren Rahmen der Familie Störungswert erreicht. Andererseits können in der Familie spezifische Bedingungen vorliegen, vor allem eine bedeutsame Beziehungsstörung des Kindes zu einem oder mehreren Mitgliedern der Kernfamilie (z. B. neu hinzugekommenes Elternteil), so dass oppositionelles Verhalten dort und nur dort positiv verstärkt wird. Welche Bedingungen bei einem Patienten jeweils relevant sind, sollte diagnostisch gut herausgearbeitet werden und in die Therapieplanung ein-
2.4 Untergruppen
gehen. Aufgrund der oft hohen Kontextspezifität der Störung ist die Prognose möglicherweise günstiger, als wenn oppositionelles oder aggressives Verhalten in verschiedenen sozialen Kontexten auftritt. F91.1 Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen Hier liegt eine deutliche und umfassende Beeinträchtigung der Beziehungen des betroffenen Kindes zu anderen Menschen vor, wobei hauptsächliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber den »sozialisierten« Störungen des Sozialverhaltens gestörte Beziehungen zu Gleichaltrigen sind, die sich als Isolation, Zurückweisung oder Unbeliebtsein bei anderen Kindern oder Jugendlichen sowie durch das Fehlen länger dauernder Freundschaften mit Gleichaltrigen zeigen. Gelegentlich bestehen gute – jedoch keine engen oder vertrauensvollen – Beziehungen zu Erwachsenen, oft sind jedoch auch die Beziehungen zu Erwachsenen durch Unstimmigkeiten, Verärgerung und Feindseligkeit gekennzeichnet. Häufig findet sich eine begleitende emotionale Problematik. F91.2 Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen Das wesentliche Differenzierungsmerkmal gegenüber der Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen besteht in der guten Einbindung in die Gruppe der Gleichaltrigen mit angemessenen, andauernden Freundschaften, während die Beziehungen zu Erwachsenen häufig schlecht sind. Oft besteht die Bezugsgruppe aus dissozialen Kindern/Jugendlichen, wodurch dann das sozial unerwünschte Verhalten des Betroffenen reguliert und verstärkt wird; er kann jedoch auch einer nichtdissozialen Peer-Gruppe angehören und sein dissoziales Verhalten außerhalb dieses Rahmens zeigen.
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2
F91.3 Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten Dieses Störungsbild ist gekennzeichnet durch trotziges, provokatives, negativistisches und feindseliges Verhalten, aktive Missachtung von Regeln und Anforderungen Erwachsener, geringe Frustrationstoleranz und häufige Wutausbrüche sowie gezieltes Ärgern von Erwachsenen und Gleichaltrigen. Die Kinder sind oft zornig, verärgert und nachtragend und schreiben anderen Menschen die Verantwortung für eigene Fehler zu. Es kommen jedoch keine schweren aggressiven oder dissozialen Handlungen vor; anderenfalls ist eine der anderen Störungen des Sozialverhaltens zu diagnostizieren. Diese Störung tritt in der Regel bei Kindern unter 9–10 Jahren auf. Oft liegt eine komorbide Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung vor (August et al. 1999). Von einer oppositionellen Störung sind Jungen und Mädchen etwa gleich häufig betroffen, während aggressiv-dissoziale Störungen bei Jungen deutlich häufiger als bei Mädchen auftreten. Eine oppositionelle Störung geht mit erheblichen negativen psychosozialen Konsequenzen einher, vor allem Konflikten zwischen Kind und Eltern sowie beeinträchtigten Beziehungen zu Gleichaltrigen. Dadurch wird ein Kind mit einer oppositionellen Störung wichtiger sozialer Erfahrungen und Lernmöglichkeiten beraubt, auch dann, wenn keine weiteren psychiatrischen Störungen vorliegen. Ein Teil der Jungen mit einer oppositionellen Störung entwickelt eine Störung des Sozialverhaltens mit aggressivem oder dissozialem Verhalten (F91.0–F91.2), vor allem vom Subtypus mit Störungsbeginn im Kindesalter (August et al. 1999). Umgekehrt geht eine aggressiv-dissoziale Störung häufig mit oppositionellen Symptomen begleitend oder in der Vorgeschichte einher. Der enge Zusammenhang zwischen oppositioneller Störung und aggressiv-dissozialer Störung gilt vor allem für Jungen, während nur wenige oppositionelle Mädchen aus Nicht-Inanspruchnahme-Stichproben eine aggressiv-disso-
10
1 2 3 4 5 6 7 8
Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation
ziale Störung entwickeln. Bei Mädchen hingegen ist das Vorliegen einer oppositionellen Störung ein bedeutsamer Risikofaktor für die Entwicklung einer Angststörung oder einer depressiven Störung (Rowe et al. 2002). F90.1 Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens Sind neben den Kriterien einer Störung des Sozialverhaltens auch die Kriterien für eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90) erfüllt – Letztere wird auch als Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bezeichnet –, liegt nach der ICD-10 eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1) vor (. Abb. 2.1). Gering ausgeprägte oder si-
9
Leitsymptom(e) gesichert für Diagnose »Störung des Sozialverhaltens« (mit Schweregrad und Dauer)
10 11
zusätzlich Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung?
12 13 14 15 16 17 18 19 20
tuationsspezifisch auftretende Unaufmerksamkeit oder Hyperaktivität, die bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens häufig zu beobachten sind, rechtfertigen jedoch die Diagnose einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens nicht. Diese Kombinationsdiagnose ist zum einen in der Häufigkeit begründet, mit der die beiden Störungen gemeinsam auftreten, zum anderen in der ausgeprägteren Dysfunktion und ungünstigeren Prognose gegenüber der einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0) wie auch gegenüber den Störungen des Sozialverhaltens (F91). Sowohl das Auftreten einer oppositionellen Störung als auch der Übergang von einer oppositionellen in eine aggressiv-dis-
nein
ja
zusätzlich Emotionale Störung? nein
ja
Störungen des Sozialverhaltens (F91)
Depressive Störung? nein
Sonstige Sonstigekombinierte kombinierteStörung Störung desSozialverhaltens Sozialverhaltensund und des derEmotionen Emotionen(F92.8) (F92.8) der
zusätzlich Emotionale Störung? nein Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1)
ja Sonstige Hyperkinetische Störung (F90.8)
ja
Störung Störungdes desSozialverhaltens Sozialverhaltens mitdepressiver depressiverStörung Störung mit (F92.0) (F92.0)
. Abb. 2.1. Störungen des Sozialverhaltens mit komorbider ADHS und/oder emotionaler Störung. (Nach AWMF-Leitlinie »Störung des Sozialverhaltens«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003)
2.4 Untergruppen
soziale Störung – vor allem einer solchen mit Beginn im Kindesalter – wird durch das Vorliegen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung begünstigt (Loeber et al. 1995). Hierbei erhöhen die hyperaktiv-impulsiven Symptome die Wahrscheinlichkeit einer Störung des Sozialverhaltens mehr als die inattentiven Symptome (Lalonde et al. 1998; Babinski et al. 1999). Eine aggressiv-dissoziale Störung mit komorbider ADHS beginnt nicht nur früher, sondern ist auch – verglichen mit einer aggressiv-dissozialen Störung ohne ADHS – von ausgeprägterer Symptomatik und höherer Persistenz gekennzeichnet. F92 Kombinierte Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen Nach der ICD-10 ist die Diagnose einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92) dann zu stellen, wenn neben der Störung des Sozialverhaltens auch eine depressive Störung oder eine andere emotionale oder Befindlichkeitsstörung besteht. Beim gleichzeitigen Vorliegen einer depressiven Störung aus dem Kapitel F3 mit anhaltenden, eindeutigen depressiven Symptomen, wie ausgeprägter Traurigkeit, Interessenverlust und Freudlosigkeit, sind die diagnostischen Kriterien für eine Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (F92.0) erfüllt (. Abb. 2.1). Bei Vorliegen einer Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung ist gegenüber einer Störung des Sozialverhaltens sowie gegenüber einer depressiven Störung ohne das Vorliegen der jeweils anderen Störung das Risiko für schulisches Versagen, Substanzmissbrauch und –abhängigkeit erhöht (Marmorstein u. Iacono 2003). Ein beträchtlicher Anteil der Kovariation zwischen beiden Störungen ist auf gemeinsame Faktoren zurückzuführen, die das Risiko beider Störungen erhöhen, wie Dissozialität in der Familie oder Zugehörigkeit zu einer delinquenten Peer-Gruppe (Fergusson et al. 1996). Eine sonstige kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8) wird dia-
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gnostiziert, wenn neben einer Störung des Sozialverhaltens gleichzeitig auch eine emotionale Störung des Kindesalters (F93) oder eine neurotische Störung (F4) vorliegt, also anhaltende, eindeutige Symptome wie Angst, Furcht, Phobien, Zwangsgedanken oder -handlungen, Depersonalisations- oder Derealisationsphänomene oder Hypochondrie bestehen (. Abb. 2.1). Ein niedriges Selbstwertgefühl, leichtere emotionale Verstimmungen sowie Zorn und Ärger, die bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens häufig vorkommen, rechtfertigen die Diagnose einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen nicht. In unselektierten Inanspruchnahme-Populationen zeigte sich eine klinisch signifikante Komorbidität von Zwangsstörungen mit Störungen des Sozialverhaltens (Geller et al. 1996). Möglicherweise wird der Zusammenhang u. a. über eine komorbide Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung vermittelt, die mit beiden Störungen überzufällig häufig assoziiert ist. Nicht selten tritt eine posttraumatische Belastungsstörung komorbid zu einer Störung des Sozialverhaltens auf (Steiner et al. 1997; Ruchkin et al. 2002), meist im zeitlichen Verlauf nach der Störung des Sozialverhaltens (Cauffman et al. 1998; Reebye et al. 2000). Bei Mädchen sind vor allem sexuelle Übergriffe relevant, bei Jungen eher körperliche Übergriffe oder Unfälle. Bei Vorliegen einer Störung des Sozialverhaltens besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, traumatisierenden Ereignissen ausgesetzt zu werden; möglich ist aber auch, dass ungünstige psychosoziale Bedingungen sowohl die Entwicklung einer Störung des Sozialverhaltens als auch einer posttraumatischen Belastungsstörung begünstigen. Vergleichsweise wenig ist über den Zusammenhang zwischen somatoformen Störungen und Störungen des Sozialverhaltens bekannt. Bei jugendlichen Delinquenten ging ein höherer Schweregrad der Störung des Sozialverhaltens mit einer stärker ausgeprägten Somatisierung einher (Vermeiren et al. 2002), und das DSM-IV benennt das Vorliegen einer aggressiv-dissozi-
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Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation
alen Störung als einen Risikofaktor für eine spätere somatoforme Störung. F90.8 Sonstige hyperkinetische Störung Wenn gleichzeitig eine Störung des Sozialverhaltens, eine emotionale Störung und eine hyperkinetische Störung vorliegen, kann die Diagnose einer sonstigen hyperkinetischen Störung (F90.8) gestellt werden (. Abb. 2.1). Problematik der Kombinationsdiagnosen Wie aus . Abb. 2.1 ersichtlich, ist bei den Kombinationsdiagnosen F90.1 und F92 die Art der Störung des Sozialverhaltens aus der Diagnose nicht mehr zu entnehmen, bei F92.8 darüber hinaus die Art der anderen emotionalen Störung nicht mehr, bei F90.8 auch nicht mehr, ob eine depressive Störung oder eine andere emotionale Störung vorliegt. Deswegen wird in den Forschungskriterien empfohlen, für Forschungszwecke – zusätzlich zu der Verwendung einer kombinierten Kategorie als übergreifender Diagnose – die drei Dimensionen Störung des Sozialverhaltens, hyperkinetische Störung und emotionale Störung einzeln zu beschreiben. Störungen des Sozialverhaltens mit Beginn in der Kindheit vs. Beginn in der Adoleszenz Nach den ICD-10-Forschungskriterien kann man – in Anlehnung an die entsprechenden Subtypen der »conduct disorder« nach DSM-IV – Störungen des Sozialverhaltens mit Beginn in der Kindheit von Störungen des Sozialverhaltens mit Beginn in der Adoleszenz abgrenzen. Die beiden Subtypen unterscheiden sich in Symptomatik, Geschlechterverhältnis, Entwicklungsverlauf und Prognose (Moffitt et al. 2002). Beide Subtypen können in leichter, mittelgradiger und schwerer Ausprägung auftreten. Bei Störungen des Sozialverhaltens mit Beginn in der Kindheit tritt (mindestens) ein Symptom einer Störung des Sozialverhaltens bis spätestens zum 10. Lebensjahr auf. Hiervon sind wesentlich mehr Jungen als Mädchen betrof-
fen. Oft bestanden vorher oder zeitgleich oppositionelle Symptome und eine komorbide Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ist wesentlich häufiger als bei einer Störung des Sozialverhaltens mit Beginn in der Adoleszenz. Bei statistischer Berücksichtigung von Lebensalter und Geschlecht zeigen Kinder und Jugendliche mit frühem Störungsbeginn eine höhere Anzahl aggressiv-dissozialer Verhaltensweisen, mehr physische Aggression, gestörte Beziehungen zu Gleichaltrigen und früher beginnenden sowie schneller ansteigenden Substanzabusus (Lahey et al. 1999a; Taylor et al. 2002). Auch die Wahrscheinlichkeit eines chronischen Verlaufes und des Übergangs in eine dissoziale Persönlichkeitsstörung ist größer (Ridenour et al. 2002). Bei Störungen des Sozialverhaltens mit Beginn in der Adoleszenz tritt keines der Symptome einer Störung des Sozialverhaltens bis zum 10. Lebensjahr auf. Dieser Subtyp ist weniger deutlich jungenlastig als der Subtyp mit Beginn in der Kindheit, weniger mit ADHS und oppositioneller Störung assoziiert und von weniger schwerem aggressiv-dissozialem Verhalten gekennzeichnet, das in höherem Maße durch deviante Gleichaltrige beeinflusst wird. Aber auch diese Jugendlichen können in ihrer Entwicklung gefährdet sein und sind als Erwachsene in höherem Ausmaß von psychischen Störungen, Substanzabhängigkeit, finanziellen Schwierigkeiten und Eigentumsdelikten betroffen, als dieses bei Jugendlichen ohne Störung des Sozialverhaltens der Fall ist (Moffitt et al. 2002).
2.4.2 Untergruppen nach DSM-IV Im DSM-IV lauten die diagnostischen Kategorien der Störungen des Sozialverhaltens »conduct disorder« und »oppositional-defiant disorder«, die unter dem Oberbegriff der »disruptive behavior disorders« zusammengefasst und von der »attention-deficit/hyperactivity disorder« abgegrenzt werden. Nach dem DSM-IV müssen
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2.5 Ausschlussdiagnosen
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für die Diagnose einer »conduct disorder« drei Symptome vorhanden sein. Somit ist beim Vorliegen von ein oder zwei Symptomen – auch in erheblicher Ausprägung – nach dem DSM-IV die diagnostische Schwelle noch nicht erreicht, während nach der ICD-10 bereits die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens gestellt würde, für welche ja lediglich ein Symptom in erheblicher Ausprägung über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten erforderlich ist. Während die ICD-10-Forschungskriterien den DSMIV-Kriterien sehr ähnlich sind, ist die Sinnhaftigkeit der klinischen ICD-10-Kriterien in dem linearen Zusammenhang zwischen der – auch geringen – Anzahl der Symptome einer Störung des Sozialverhaltens und dem negativen Outcome begründet (Satterfield u. Schell 1997; Fergusson u. Woodward 2000).
sprechend der DSM-IV-Klassifikation der Begriff »disruptives Verhalten« verwendet. Hiervon abzugrenzen ist der Begriff »externalisierendes Verhalten«, also – entsprechend der Wortbedeutung – nach außen gerichtetes Verhalten, welches disruptive und hyperkinetische Verhaltensweisen zusammenfasst und diese dem »internalisierenden Verhalten«, also gehemmtem, ängstlichem, zurückgezogenem und depressivem Verhalten, gegenüberstellt (Achenbach u. Edelbrock 1978).
Verwendete Begrifflichkeit . Tabelle 2.1 gibt eine Übersicht über die im Text verwendeten Begriffe, jeweils bei kategorialer wie auch dimensionaler Beschreibung. Aufgrund der besseren Lesbarkeit werden im Text die Störungen des Sozialverhaltens, auf den familiären Rahmen beschränkt (F91.0), bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1) und bei vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2) als aggressiv-dissoziale Störungen zusammengefasst. Die Störung des Sozialverhaltens, mit oppositionellem, aufsässigen Verhalten (F91.3) wird kurz als oppositionelle Störung bezeichnet. Statt der sehr umständlichen Formulierung »oppositionell-aggressiv-dissoziales Verhalten« wird ent-
Schizophrenie (F20) Aggressives oder dissoziales Verhalten im Rahmen einer Schizophrenie kann u. a. wahnhaft oder durch Halluzinationen motiviert sein. Auch in der Prodromalphase schizophrener Störungen können soziale Regelübertretungen und aggressive Verhaltensweisen das klinische Bild prägen.
2.5
Ausschlussdiagnosen
Die folgenden Diagnosen müssen ausgeschlossen worden sein, um die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens stellen zu können.
Manische Episode (F30), bipolare affektive Störung (F31) Soziale Regelübertretungen, erhöhte Reizbarkeit und aggressives Verhalten bis hin zu aggressiven Erregungszuständen können im Rahmen einer manischen Episode auftreten.
. Tab. 2.1. Störungen des Sozialverhaltens: kategorial (ICD-10 und DSM-IV) und dimensional ICD-10
DSM-IV
Dimensionale Beschreibung
Störungen des Sozialverhaltens (F91) – Aggressiv-dissoziale Störungen (F91.0–F91.2) – Oppositionelle Störung (F91.3)
Disruptive behavior disorders
Disruptives Verhalten
– Conduct disorder – Oppositional-defiant disorder
– Aggressiv-dissoziales Verhalten – Oppositionelles Verhalten
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Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation
Anpassungsstörung mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens (F43.24), Anpassungsstörung mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten (F43.25) Hier ist z. B. die Trauerreaktion eines Jugendlichen auf ein belastendes Lebensereignis einzuordnen, die sich in (u. a.) aggressivem oder dissozialem Verhalten manifestiert. Halten die Symptome länger als 6 Monate an, sollte nach der ICD-10 im Allgemeinen nicht mehr die Diagnose einer Anpassungsstörung gestellt werden, sondern die Diagnose in Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen klinischen Bild geändert werden. Dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2) Die dissoziale Persönlichkeitsstörung gehört zu den spezifischen Persönlichkeitsstörungen (F60), bei denen laut ICD-10 »eine schwere Störung der charakterlichen Konstitution und des Verhaltens« vorliegt, die mehrere Bereiche der Persönlichkeit betrifft; das auffällige Verhaltensmuster ist tiefgreifend und in vielen persönlichen und sozialen Situationen eindeutig unpassend. Das Zustandsbild ist nicht direkt auf signifikante Hirnerkrankungen oder -schädigungen zurückzuführen. Neben diesen allgemeinen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung müssen für die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung nach der ICD-10 mindestens drei der folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen vorliegen: 5 mangelnde Empathie und Gefühlskälte gegenüber anderen; 5 deutliche und durchgängige verantwortungslose Haltung sowie tiefgreifende Missachtung und Verletzung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen; 5 Unvermögen zur Aufrechterhaltung längerfristiger Beziehungen, aber keine Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen; 5 sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives einschließlich gewalttätigem Verhalten;
5 Unfähigkeit zum Erleben von Schuldbewusstsein und zum Lernen aus negativen Erfahrungen, einschließlich Bestrafung; 5 deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das eigene Verhalten anzubieten. Anhaltende Reizbarkeit sowie eine vorausgehende Störung des Sozialverhaltens im Kindesund Jugendalter vervollständigen das klinische Bild, sind aber keine Voraussetzungen für die Diagnose. Aufgrund der größeren Verhaltensvariabilität und -plastizität bei Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu Erwachsenen ist die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vor dem Alter von 16 Jahren wahrscheinlich unangemessen. Bei Jugendlichen ist der Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens der Vorzug vor der Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung zu geben, um den Entwicklungsaspekt der Störung und damit die Notwendigkeit pädagogischer und psychiatrisch-psychotherapeutischer Interventionen zu betonen. Schwere bzw. schwerste Intelligenzminderung (F72, F73) Treten bei Vorliegen einer Intelligenzminderung aggressive oder dissoziale Verhaltensweisen auf, so können diese mit F7x.1 (Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung, die Beobachtung oder Behandlung erfordert) kodiert werden. Für das x ist eine Ziffer zwischen 0 und 3 je nach dem vorliegenden Intelligenzniveau einzusetzen. Grundsätzlich schließt das Vorliegen einer Intelligenzminderung zusätzliche Diagnosen anderer Abschnitte des Kapitels V (F) nicht aus. Treten bei einer leichten Intelligenzminderung (F70; IQ 50–69) oder einer mittelgradigen Intelligenzminderung (F71, IQ 35–49) Symptome einer Störung des Sozialverhaltens auf, sind diese nach der ICD-10 gesondert zu kodieren. Da jedoch für die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens von einem wenigstens grundlegenden Verständnis der Rechte anderer Menschen sowie
2.5 Ausschlussdiagnosen
altersentsprechender sozialer Normen ausgegangen werden muss, ist diese Diagnose mit einer so niedrigen Intelligenz, wie sie bei einer schweren Intelligenzminderung (F72; IQ 20–34) oder gar schwersten Intelligenzminderung (F73; IQ