Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Frank Häßler
Intelligenzminderung Eine ärztliche Herausforderung
1C
Prof. Dr. Frank Häßler Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter Universität Rostock Gehlsheimer Straße 20 18147 Rostock
ISBN-13
978-3-642-12995-7
Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
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18/5135 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort Lange Zeit galten geistig behinderte Menschen als Stiefkinder, als »Cinderellas« der Psychiatrie (Tarjan 1966). Erst mit der Psychiatrie-Enquete 1975 gelang ein erster Schritt zur Reform: Sie forderte eine Trennung der Versorgung psychisch Kranker und geistig Behinderter sowie die Schaffung von eigenständigen Behinderteneinrichtungen außerhalb der Krankenhäuser. Später, in der Deklaration von Madrid 1996 (Helmchen 1999), verpflichteten sich die Psychiater,
» die beste verfügbare Therapie in Übereinstimmung mit anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen und ethischen Prinzipien anzubieten. Psychiater sollen therapeutische Maßnahmen so gestalten, dass sie die Freiheit so wenig wie möglich beeinträchtigen.
«
Ziel war nicht nur eine Entpsychiatrisierung und Enthospitalisierung, sondern auch eine Verbesserung der Lebensqualität und die Schaffung mehrdimensionaler, multiprofessioneller therapeutischer Ansätze. Eine verbindliche Basis für die Umsetzung dieser Ziele könnte mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 geschaffen worden sein. Kern dieses Übereinkommens ist es, die Chancengleichheit behinderter Menschen zu fördern und ihre Diskriminierung in der Gesellschaft zu unterbinden. Welche Auswirkungen die Behindertenrechtskonvention auf deutsche Gesetze haben wird, bleibt allerdings abzuwarten. Während in Deutschland noch immer die Integration favorisiert wird, geht die UN-Konvention einen Schritt weiter und spricht von sozialer Inklusion. Das bedeutet, im vollen Umfang an der Gesellschaft teilzuhaben und dabei Autonomie und Unabhängigkeit zu wahren. Indem die Konvention Menschen mit Behinderungen davon befreien will, sich selbst als »defizitär« sehen zu müssen und als defizitär angesehen zu werden, geht es auch um die Überwindung des sogenannten medizinischen Modells. Vielmehr wird die gesellschaftliche Wertschätzung von Menschen mit Behinderung gefordert (Diversity-Ansatz), die zur Normalität menschlichen Lebens und des gesellschaftlichen Zusammenlebens gehört. Die Konvention definiert nicht den Begriff Behinderung, beschreibt ihn aber als dynamisches Konzept, das hinreichend offen ist, um Erfahrungen und Erkenntnisse zukünftiger gesellschaftlicher Lern- und Sensibilisierungsprozesse einzubeziehen. Da Menschen mit geistiger Behinderung einerseits vulnerabler für somatische und psychische Störungen und Erkrankungen sind, diese in Symptomatik und Verlauf deutlich von den üblichen Manifestationen abweichen können und andererseits eine erschwerte Anpassung an die Anforderungen des alltäglichen Lebens (Adaptabilität) aufweisen, bedürfen sie einer besonderen medizinischen Aufmerksamkeit und Fürsorge.
VI
Vorwort
Die Diagnostik der Intelligenzminderung mit und ohne psychische Störungen ist ein komplexer Prozess, der auf mehreren Ebenen mit unterschiedlichen Methoden ablaufen muss (multidimensionale Diagnostik). In der Therapie sind störungsspezifische, individualisierte, multimodale Ansätze, nötigenfalls unterstützt durch psychopharmakologische Interventionen, und eine enge Vernetzung der psychosozialen Helfersysteme gefordert. Da auf die besonderen gesundheitlichen und speziell die psychischen Probleme, Störungen und Komorbiditäten bei Menschen mit geistiger Behinderung weder im Medizinstudium noch in den fachärztlichen Weiterbildungscurricula dezidiert eingegangen wird, ist es das vordergründige Anliegen des vorliegenden Buchs, diese Wissenslücken hinsichtlich Klassifikation, Ätiologie, Diagnostik, Differenzialdiagnostik und Therapie zu schließen. Darüber hinaus werden aber auch spezifische Aspekte wie Sexualität, Konsum legaler und illegaler Drogen sowie forensische Implikationen beleuchtet, über die es bis dato kaum Literatur gibt. Da dieses Buch nicht nur für Ärzte gedacht ist, sondern für alle, die sich in der Betreuung, Förderung und Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung engagieren, enthält es viele praktische Tipps, die sich in meiner nunmehr über 20-jährigen Arbeit mit intelligenzgeminderten Menschen bewährt haben. Authentische Fallbeispiele verdeutlichen das zweite große Ziel, das ich mit diesem Buch verfolge – eine von Empathie getragene, vorurteilsfreie Begegnung mit geistig behinderten Menschen, von der beide Seiten profitieren können. Frank Häßler
Rostock, im Dezember 2010
VII
Inhaltsverzeichnis 1
Ein Blick zurück: Menschen mit geistiger Behinderung in der Medizin/ Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1.1
Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
1.2
Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
1.3
Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
1.4
Neuansätze in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
2
Worum es geht: Ausgangslage, Definition und Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
2.1
Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.2
Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2.3
Gesetzliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2.4
Klinisches Erscheinungsbild und Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.4.1
Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.4.2
Schweregradeinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
3
Was ist erklärbar? Ursächliche Zusammenhänge und Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . 17
3.1
Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
3.2
Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
3.3
Häufigkeit von psychischen und somatischen Störungen und Verhaltensproblemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
4
Der Blick auf das Besondere: störungsspezifische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
4.1
Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
4.2
Medizinische und psychologische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
4.2.1
Körperliche und neurologische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
4.2.2
Psychischer Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
4.2.3
Apparative Untersuchungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
4.2.4
Genetische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
4.2.5
Psychologisch-psychometrische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
4.2.6
Interventionsrelevante Diagnostik unter multiaxialen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
4.3
Auswahl spezifischer Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
4.3.1
Trisomie 21 (M. Down) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
4.3.2
Rett-Syndrom (F84.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
4.3.3
Fragiles-X-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
4.3.4
Angelmann-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
4.3.5
Prader-Willi-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
4.3.6
Fetales Alkohol-Syndrom (FAS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
5
Unterscheiden ist wichtig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
5.1
Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
5.2
Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (HKS/ADHS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
VIII
Inhaltsverzeichnis
5.3
Schizophrene Psychosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.4
Frühkindlicher Autismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
5.5
Bewegungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64 64
56
5.5.1
Umschriebene Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen (ICD-10 F82) . . . . . . . . . . . . .
5.5.2
Tic und Tourette-Syndrom (ICD-10 F95) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
5.5.3
Choreatiforme Syndrome (ICD-10 G10, G25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
5.5.4
Myokloniforme Syndrome (ICD-10 G15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
5.5.5
Dystone Syndrome (ICD-10 G24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
5.5.6
Spastisch-dystone infantile Zerebralparese (ICD-10 G80) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
5.6
Progressive Enezephalopathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
5.7
Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
6
Spezifische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
6.1
Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
6.2
Konsum legaler und illegaler Drogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89 91
6.3
Forensische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.3.1
Gesetzliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
6.3.2
Zusammenhang zwischen Intelligenzminderung und Delinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
6.3.3
Forensische Relevanz im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
6.3.4
Forensische Relevanz im Zivilrecht und Öffentlichen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
7
Was ist zu tun? Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
7.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
7.2
Sonder- und Heilpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
7.3
Psychotherapeutische Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
7.3.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
7.3.2
Training lebenspraktischer Fertigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
7.3.3
Verhaltenstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
7.3.4
Kreativtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
7.4
Ergotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
7.5
Tiergestützte Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
7.6
Psychodynamische oder psychoanalytische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
7.7
Familieninterventionen und Zusammenarbeit mit den Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . 122
7.8
Pharmakologische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
7.8.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
7.8.2
Psychopharmakoprävalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
7.8.3
Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
7.8.4
Psychopharmaka bei Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
7.8.5
Kombinationen von Psychopharmaka (Evidenzgrad IIb–III) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
7.9
Soziotherapeutische Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
7.10
Behandlung unter besonderen Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
7.10.1
Komorbide Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
7.10.2
Infantile Zerebralparese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
7.10.3
Sexuelle Triebenthemmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
7.11
Jugendhilfe - und Rehabilitationsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Inhaltsverzeichnis
IX
8
Der Blick voraus: Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
8.1
Entscheidende Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
8.2
Kasuistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
8.2.1
Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
9
Was wir nicht wissen: offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 A1
Adressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
A2 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
1
Ein Blick zurück: Menschen mit geistiger Behinderung in der Medizin/Psychiatrie1 1.1
Antike – 2
1.2
Mittelalter – 2
1.3
Neuzeit – 3
1.4
Neuansätze in der Gegenwart – 5
1
Nach Häßler u. Häßler 2005.
1
2
1
Kapitel 1 • Ein Blick zurück: Menschen mit geistiger Behinderung in der Medizin/Psychiatrie
Das Verhältnis der Psychiatrie zu Menschen mit geistiger Behinderung ist durch zahlreiche historische Hypotheken belastet, auf die im Folgenden etwas näher eingegangen werden soll.
1.1
Antike
Bei fast allen archaischen Völkern war die Aussetzung und Tötung von Neugeborenen ein Mittel zur Geburtenregulierung und daher moralisch und rechtlich erlaubt. Von diesem Recht wurde offensichtlich selbst bei Neugeborenen ohne erkennbare körperliche Missbildungen und geistige Behinderungen häufig Gebrauch gemacht. Die Kindstötung war grundsätzlich dem Kindesvater erlaubt. Er hatte das Recht, das neugeborene Kind auszusetzen oder zu verkaufen, es als Opfergabe einem der vielen Götter oder einer Göttin zu weihen. Trotzdem bestanden zwischen den antiken Staaten merkliche Unterschiede. In Theben war es verboten, Kinder auszusetzen. Wenn der Vater sehr arm war, lieferte er das Kind gleich nach der Geburt bei den Behörden ab. Diese gaben es an geeignete und geneigte Bürger ab. Sie verpflichteten sich vertraglich, das Kind großzuziehen, wofür es ihnen später als Sklave oder Sklavin gehörte (Sarkady 1974). Sparta ging eigene Wege mit abschreckender Härte. Nach spartanischer Auffassung war das Kind nicht Besitz des Vaters, sondern des Staates, und der Staat entschied über das Kind bereits von Geburt an. Missgestaltete Knaben wurden unmittelbar nach der Geburt getötet. Im Rom des 4. Jh. v. Chr. war die Tötung von behinderten Kindern kein Verbrechen, sondern kodifiziertes Recht: »Cito necatus tamquam ad deformitatem puer«, schnell ums Leben gebracht wie ein missgestalteter Knabe (XII tabulis insignis – Zwölftafelgesetz; Huchthausen 1981). Vierhundert Jahre später rechtfertigt Seneca (2–65 n. Chr.) ohne Hass oder Zorn eine solche Tat als vernünftig:
»
Tolle Hunde bringen wir um; einen wilden und unbändigen Ochsen hauen wir nieder, und an krankhaftes Vieh, damit es die Herde nicht anstecke, legen wir das Messer, ungestalte Geburten schaffen wir aus der Welt, auch Kinder, wenn sie gebrechlich und missgestaltet zur Welt kommen, ersäufen wir. Es ist nicht Zorn, sondern Vernunft, das Unbrauchbare von dem Gesunden abzusondern (Seneca, Bücher über den Zorn I 15; von Gleichen-Rußwurm 1925).
«
Im antiken Rom war es somit üblich, lebensunfähige Menschen, Kinder mit körperlichen Abnormitäten und psychopathologisch auffällige Personen auszusetzen, zu verbannen oder gar zu töten. Einen weiteren Beweis dafür finden wir unter anderem in dem späteren Gesetzeswerk »Politeia«, 410 n. Chr.:
»
Wer siech am Körper ist, den sollen sie sterben lassen, wer an der Seele mißraten und unheilbar ist, den sollen sie sogar töten (Huchthausen 1981).
«
Generell trugen die Angehörigen von »dementes«, »debiles« und »furiosi« die Sorge und Verantwortung, woraus nicht selten freiheitsentziehende Unterbringungspraktiken resultierten. Wenn keine Angehörigen existierten, übernahm ein Betreuer, der »curator furiosi«, o. g. Aufgaben bzw. Verpflichtungen. Kaiser Justinianus I. verankerte 542 n. Chr. Schutz, Versorgung und Pflege zum Wohle der Kranken in einem Gesetzwerk (corpus juris).
1.2
Mittelalter
Im christlichen Europa ist im Mittelalter die Behandlung der von Wahn Befallenen, der Besessenen, der Fallsüchtigen und der Melancholiker eher Sache der Priester und Mönche als die der Ärzte. Mehr oder minder geduldet und mit dem Lebensnotwendigsten versorgt, vegetieren geis-
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1.3 • Neuzeit
tig Behinderte in den ersten Klöstern, die im 5. bis 11. Jahrhundert entstehen. Mit erstaunlichem Niveau beeindruckt die Irrenpflege im arabischen Mittelalter. Aus der religiösen Verwurzelung im Islam, einer Religion, die in allen Geschöpfen Allahs Allmacht und Güte am Werk sieht, resultiert ein besonders enges Verhältnis der Narren und Schwachsinnigen zu Allah. Schon durch den Propheten Muhamed waren die arabischen Ärzte angehalten worden, sich in humaner Weise mit den Geistesstörungen zu beschäftigen. Der Koran macht Unterhalt und Pflege der Irren zu einer Standespflicht. In der Sure 4, Vers 4, heißt es:
»
Ihr sollt den Schwachsinnigen nicht ihr Vermögen in die Hand geben, sondern es für sie verwalten; ernährt sie damit und kleidet sie, und sprecht Worte freundlichen Ratschlags zu ihnen (Koran 1959).
«
Die Weiterführung der humanistischen antiken Tradition in der Behandlung von Geisteskranken, die sogar psychotherapeutische Elemente enthielt, finden wir am ehesten in der arabischen Welt, basierend auf dieser vom Koran ausgehenden Toleranz und dem religiös eingeforderten Wohlwollen ihnen gegenüber. Dafür stehen Namen wie Ibn Sina (980–1037) mit dem »Canon medicinae«, Maimonides (1135–1204), Ali Ibn Rabban und Ali Abbas. Entsprechend dieser Einstellung ging es auch um eine angemessene Unterbringung von Menschen mit geistiger Behinderung. In den arabischen Hochkulturen nahm die Errichtung von Krankenspitälern und Häusern für Geisteskranke im 8. und 9. Jahrhundert rasch zu, was sich bis in den iberischen Einflussbereich erstreckte. Ackerknecht nennt die Errichtung eines solchen Spitals in Bagdad um 750, in Kairo 873, in Damaskus um 800, in Aleppo 1270 und in Kaladun 1283. In der nordafrikanischen Stadt Fez bewohnten im 7. Jh. Geisteskranke ein ganzes Stadtviertel, das jedoch
nicht den Charakter eines Ghettos hatte (Ackerknecht 1985). Bei der Behandlung und Unterbringung geistig behinderter Menschen ist für das 15. und 16. Jahrhundert sowohl zwischen der Stadt- und der Landbevölkerung als auch hinsichtlich der Zuordnung von Krankheitsbildern nach dem damaligen Stand der Medizin zu unterscheiden. 4 Für die »harmlosen« Irren, zu denen schwachsinnige Kinder und Heranwachsende ebenso zählten wie Altersdemente und geistig Behinderte durch Verletzungen oder Krankheiten, waren grundsätzlich die Verwandten verantwortlich, bei denen sie wohnten und verpflegt wurden. Zeigte sich das Krankheitsbild derart, dass eine Gefährdung der Öffentlichkeit nicht zu befürchten war, so ließ man sie frei herumlaufen, steckte sie eventuell in ein Narrenkleid. Das Narrenkleid mit der Narrenkappe und die Insignien des Narrentums: Schellen und Marotte waren Freibrief und Schutzbrief zugleich. Mit Betteln und Sammeln von Almosen waren vor allem die Kinder und die Alten auf die Barmherzigkeit ihrer Mitbürger angewiesen. Auf Passionsaltären wurden insbesondere in der Ecce-homo-Szene (Verspottung) vereinzelt Schwachsinnige von den mittelalterlichen Meistern dargestellt. Ein Kind auf dem linken Flügel des Aachener Passionsaltars (Kölner Meister um 1505) trägt eindeutig mongoloide Züge.
1.3
Neuzeit
Die medizinische Behandlung von Geisteskranken hatte sich im christlichen Europa im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit kaum verbessert. Abgesehen von wenigen ärztlichen Schulen, wie in Salerno und Mailand, baute die Medizin im Allgemeinen auf Aberglaube und volkstümlicher Erfahrung auf, wie andere Handwerker
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Kapitel 1 • Ein Blick zurück: Menschen mit geistiger Behinderung in der Medizin/Psychiatrie
spezialisierten sich einzelne Richtungen in der Chirurgie auf Zahnausreißen, Steinherausholen oder Aderlass. Die vorherrschende Befangenheit in Teufelsglauben und Hexenwahn können aber selbst so hervorragende Persönlichkeiten und Ärzte wie Paracelsus (1491–1541) und Johann Weyer (1515–1588) nicht überwinden. Ersterer ordnete in seinem Buch »Von den Krankheiten, die der Vernunft berauben«, erschienen erst 1567, Epilepsie, Manie, Irrsinn, Veitstanz und Hysterie den Geisteskrankheiten zu und führte diese auf natürliche Ursachen zurück. Zu den »rechten unsinnigen Leut« zählt Paracelsus neben Lunatici, Vesani, Melancholici und Obsessi auch die Insani. z
Hohe Hospitäler in Hessen
1527 beschloss der Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen, im Zuge der Säkularisierung drei Klöster und eine Pfarrei zu Armenhospitälern umzuwandeln, die als »Hohe Hospitäler« in die Geschichte Hessens eingingen. Bereits Ende des 16. Jahrhunderts hatte sich die ursprünglich auf 100 Pfleglinge ausgerichtete Zahl der Hospitaliten verdoppelt, von denen psychisch Kranke und geistig Behinderte ein Viertel ausmachten. Narren und Simple oder Menschen mit blödem Verstand teilten Räumlichkeiten, Mahlzeiten, Arbeitsplätze und Gottesdienste mit den körperlich Kranken, den Krüppeln und den armen Alten. Die Versorgung oblag auch hier den Seelsorgern und den Aufwärterehepaaren. Ein studierter Arzt wurde erst 1821 eingestellt. Ähnliche Zustände herrschten auch an anderen Einrichtungen bis weit in das 19. Jahrhundert vor. z
Erste Gesetze zum Schutz von Geisteskranken
Im Zuge der Aufklärung befasste sich nun die gesetzgeberische Seite mit dem Schutz von Geisteskranken, nachdem diese bis dato nur von strafrechtlichen Verfolgungen ausgenommen waren. Basierend auf der »Peinlichen Gerichts-
ordnung« Karls V. von 1532 wurden »furiosi«, »dementes«, »phrenetici«, »insani« und »mencapti« in der Praxis straffrei gelassen. 1774 erließ das Parlament in England das erste europäische Gesetz zum Schutz von Geisteskranken. Österreich folgte unter Kaiser Joseph II. mit den Direktiven für das Krankenwesen. Derselbe Kaiser errichtete 1784 den Irrenturm im Hauptspital von Wien. Zur selben Zeit prangerten Pinel und Esquirol in Frankreich die Missstände in den Anstalten an und wiesen auf die Not der bedauernswerten Kranken hin. Andererseits sah Pinel im Idiotismus die Abwesenheit aller geistigen Fähigkeiten (Baruk 1990). Menschen mit geistiger Behinderung sprach man menschliche Gefühle und Regungen ab und missbrauchte sie zum Ergötzen eines zahlenden Publikums. Auch im Wiener Narrenturm wurden Patienten zur Freude von Erwachsenen und Kindern gegen Entgeld vorgeführt. Geistesgestörte und Missgestaltete gehörten ebenso zum »Personalbestand« von Schaustellern und Wandertruppen. z
Beginn der modernen Psychiatrie
Die zunehmende Entfaltung der Psychiatrie im 19. Jahrhundert wurde einerseits durch humanitäre Grundsätze in Fortführung der Ideen der französischen Revolution geprägt, andererseits basierte sie auf den Fortschritten in Medizin und Biologie und wurde gesellschaftlich durch die sich durchsetzende staatliche Erkenntnis der sozialen Gerechtigkeit als stabilisierender Faktor erst ermöglicht. In Deutschland waren es vor allem die Leiter der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreich gegründeten modernen Anstalten, die ein Aufblühen der Psychiatrie einleiteten. Die Wortprägung »Psychiatrie« stammt von dem Hallensischen Stadtphysikus J. Ch. Reil aus dem Jahre 1808. Die erste Schule für Kretinen nahm unter der Leitung des Lehrers Guggenmoos ihre Arbeit 1816 in Salzburg auf. 1840 wurde durch J. Guggenbühl die erste Anstalt für Kretinen auf dem
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1.4 • Neuansätze in der Gegenwart
Abendberg bei Interlaken errichtet. Am Ende des 19. Jahrhunderts existierten in Preußen 3600 Betten in 28 sogenannten Idiotenanstalten (Bilz 1898). Nach Henze (1934) dominierten im 19. Jahrhundert drei unterschiedliche Richtungen die Schwachsinnigenfürsorge: 4 die philantropisch-karitative = sozialpädagogische Richtung, in deren Rahmen mit der zweiten Welle der Rettungshausbewegung in den Jahren 1840–1860 »Idiotenanstalten« entstanden, 4 die schulpädagogische Linie, die wesentlich die Anfänge der Hilfsschulpädagogik beeinflusste, 4 die medizinische Richtung, die die Schwachsinnigen als geistig krank und ärztlicher Pflege bedürftig ansah. 1875 wird durch den Leiter der Alsterdorfer Anstalten, Sengelmann, die Konferenz der Idiotenanstalten ins Leben gerufen, wo die allgemeine Beschulung propagiert wird und somit auch die Einordnung von Schwachbefähigung, welche dem späteren Konzept der Debilität entspricht. 1880 entsteht die erste Hilfsschule in Elberfeld; 1920 werden bereits 43.000 Kinder in Hilfsschulen unterrichtet. Ein Großteil der debilen Kinder wird in Heilerziehungsheimen betreut. In dieser Zeit konstituiert sich auch die großen Wohlfahrtsverbände, die bis auf den heutigen Tag eng mit der Betreuung und Pflege von Menschen mit schwerer und schwerster geistiger Behinderung verbunden sind. 1848 entsteht die Innere Mission der evangelischen Kirche, 1863 das Rote Kreuz, 1897 der Caritasverband der katholischen Kirche, 1919 die Arbeiterwohlfahrt und 1924 der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband. Für die medizinische Richtung mag stellvertretend Griesinger stehen, der in Geisteskrankheiten nicht nur Gehirnkrankheiten sah, sondern auch eine psychosoziale Komponente. In Bezug auf die Idiotenanstalten schrieb er: »Wie die Irrenanstalten die Voraussetzung für die Er-
kenntnis der Irren, so machen die jetzt zu gründenden Idiotenanstalten erst das Kennenlernen dieser Intelligenzmängel möglich« (Jantzen 1982). Leider blieb Griesingers Theorie nur eine unter vielen neuen psychiatrischen Ansätzen. z
Sozialdarwinismus und Rassenhygiene der Nationalsozialisten
Um die Jahrhundertwende war der ursprüngliche Optimismus, Geisteskrankheiten heilen zu können, weitestgehend einem therapeutischen Nihilismus gewichen. Hinzu kamen die weit verbreiteten biologistischen Ansichten des Monisten Ernst Haeckel (1834–1919), der unter anderem mit Begriffen wie Lebenswert, Kontraselektion und Vorwegnahme von rassenhygienischen Positionen den Grundstein für den späteren Sozialdarwinismus legte. Diese theoretischen Überlegungen beeinflussten maßgeblich die Entwicklung der Rassenhygiene, die ihre Umsetzung in der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik fand. Bereits am 14. Juli 1933 wird das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« in Kraft gesetzt. Damit begannen Verschärfungen der repressiven Verwahrung und die Unterbindung der Fortpflanzungsfähigkeit bei geistig Behinderten und psychisch Kranken, die als erbkrank galten. Zwangssterilisationen waren an der Tagesordnung. Der schwerwiegendste und perfideste Eingriff in die Anstaltsversorgung war der von 1940 bis August 1941 durchgeführte Massenmord (T4-Aktion), der vermutlich 70.000 Patienten das Leben kostete. Die Psychiatrie, die von einer »sozialen Psychiatrie« über die »Sippenpsychiatrie« zur »Vernichtungspsychiatrie« degeneriert war, hatte ärztliches Ethos verraten und beschmutzt.
1.4
Neuansätze in der Gegenwart
Sowohl dieser geschichtliche Hintergrund als auch die vorwiegend traditionellen medizini-
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Kapitel 1 • Ein Blick zurück: Menschen mit geistiger Behinderung in der Medizin/Psychiatrie
schen Konzepte der geistigen Behinderung mit einem biologistisch determinierten defizitären Ansatz haben zu einer Vordenker- und Vorreiterrolle der Heil- und Behindertenpädagogik bis hin zur Rehabilitationspädagogik in der Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung geführt. Auch die Krankenhausreform der Nachkriegsjahre reaktivierte alte Ausgliederungswünsche, um sich in klinifizierten Häusern, d. h. modernen Psychiatriekliniken, den »Heilbaren und Behandlungsfähigen« zuzuwenden. z
Reformbeginn 1975
> Einen ersten Schritt zu einer Reform stellten die Empfehlungen der Psychiatrie-Enquete 1975 dar, worin die Trennung der Versorgung psychisch Kranker und geistig Behinderter sowie die Schaffung von eigenständigen Behinderteneinrichtungen außerhalb der Krankenhäuser angemahnt wurde.
1975 betrug der Anteil geistig Behinderter an der Gesamtzahl aller Psychiatriepatienten im Bundesdurchschnitt 18,5%. Aus der gleichen Zeit stammen die »Normalisierungsprinzipien« für heilpädagogische Heime. Aber erst die sozialpsychiatrisch akzentuierte Reform in den 80er-Jahren hat im deutschsprachigen Raum zu einem tiefgreifenden Umdenken angeregt und dank der Heil- und Behindertenpädagogik auch die geistig Behinderten erreicht. Die neu definierte Rolle der Psychiatrie in der Betreuung geistig behinderter Menschen zeigte sich in klinikinternen Verbesserungen, der Hinwendung zu kleineren, therapeutisch orientierten Fachkrankenhäusern mit vorrangiger Förderung der sozialen Kompetenz und moderneren Behandlungsstrategien, d. h. Integration psychotherapeutischer Verfahren neben der Psychopharmakatherapie. Begleitend wurden gemeindenahe Wiedereingliederungsmaßnahmen und die Integration entwicklungspsychologischer, sozioökologischer und psychoeduka-
tiver Modelle in ein Gesamtbehandlungskonzept eingeführt. z
UN-Behindertenkonvention
Zwei Jahre nach ihrer Unterzeichnung trat am 26. März 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention auch in Deutschland in Kraft. Ziel dieses von über 130 Staaten gezeichneten Übereinkommens ist, die Chancengleichheit behinderter Menschen zu fördern und ihre Diskriminierung in der Gesellschaft zu unterbinden. Mit dieser Zielsetzung steht die Konvention unmittelbar für das Empowerment der in der und von dieser Gesellschaft behinderten Menschen (Aichele 2008). Die Konvention listet die individuellen subjektiven Rechte der Menschen mit Behinderung auf. Dazu gehören unter anderem das Recht auf Leben (Artikel 10), das Recht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht und Schutz der Rechts- und Handlungsfähigkeit (Artikel 12), das Recht auf Zugang zur Justiz (Artikell 13), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 14), Freiheit vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch (Artikel 16), das Recht auf seelische und körperliche Unversehrtheit (Artikel 17), das Recht auf unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gesellschaft (Artikel 19), das Recht auf Gesundheit (Artikel 25; 7 Übersicht) und das Recht auf Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben (Artikel 29).
Artikel 25 – Gesundheit lautet: States Parties recognize that persons with disabilities have the right to the enjoyment of the highest attainable standard of health without discrimination on the basis of disability. States Parties shall take all appropiate measures to ensure access for persons with disabilities to health services that are gender-sensitive, including health-related rehabilitation. In particular, States Parties shall: Provide persons with disabilities with the same range, quality and standard of free
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1.4 • Neuansätze in der Gegenwart
affordable health care and programmes as provided to other persons, including in the area of sexual and reproductive health and population-based public health programmes; Provide those health services needed by persons with disabilities specifically because of their disabilities, including early identification and intervention as appropriate, and services designed to minimize and prevent further disabilities, including among children and other persons; Provide these health services as close as possible to people’s own communities, including in rural areas; Require health professionals to provide care of the same quality to persons of disabilties as to others, including on the basis of free and informed consent by, inter alia, raising awareness of the human rights, dignity, autonomy and needs of persons with disabilities through training and the promulgation of ethical standards for public and private health care; Prohibit discrimination against persons with disabilities in the provision of health insurance, and life insurance where such insurance is permitted by national law, which shall be provided in a fair and reasonable manner; Prevent discriminatory denial of health care or health services or food and fluids on the basis of disabilty.
Menschen mit Behinderungen sollen danach nicht nur die gleichen Gesundheitsleistungen wie andere Menschen auch erhalten, sondern es sollen ihnen darüber hinaus auch Gesundheitsleistungen angeboten werden, die
»
speziell wegen ihrer Behinderung benötigt werden, soweit angebracht, einschließlich Früherkennung und Frühintervention, sowie Leis-
tungen, durch die, auch bei Kindern und älteren Menschen, weitere Behinderungen möglichst gering gehalten oder vermieden werden sollen.
«
Inwieweit diese Ziele auch umgesetzt und in gesetzlichen Grundlagen verankert werden, bleibt abzuwarten.
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Worum es geht: Ausgangslage, Definition und Klassifikation 2.1
Kindes- und Jugendalter – 10
2.2
Erwachsenenalter – 11
2.3
Gesetzliche Grundlagen – 12
2.4
Klinisches Erscheinungsbild und Klassifikation – 14
2.4.1 2.4.2
Definitionen – 14 Schweregradeinteilung – 15
2
2
10
Kapitel 2 • Worum es geht: Ausgangslage, Definition und Klassifikation
2.1
Kindes- und Jugendalter
Art und Schweregrad der intellektuellen Beeinträchtigung bestimmen wesentlich den Umgang im Alltag hinsichtlich Unterstützung, Begleitung, Betreuung, Beaufsichtigung und Pflegeaufwand und damit auch die körperlichen, emotionalen und auch finanziellen Belastungen der Familienangehörigen wie auch der Betreuer in den Einrichtungen. Um möglichst frühzeitig effiziente Hilfen installieren zu können, bedarf es einer fundierten rechtzeitigen Diagnostik. Dennoch kann die frühzeitige Feststellung einer intellektuellen Behinderung auch unerwünschte Wirkungen haben: Stigmatisierung, Vernachlässigung weiterer Förderung, Beeinträchtigung der emotionalen Beziehung u. a. > Ausgehend von diesen Besonderheiten gilt es, Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderungen, die einen Anspruch auf eine angemessene gesundheitliche Versorgung haben, durch spezialisierte gesundheitsbezogene Leistungen im präventiven, kurativen und rehabilitativen Bereich eine weitestgehend selbstständige und selbst bestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Dieses Ziel steht in völligem Einklang mit den Schwerpunktsetzungen des Grünbuchs der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 14.10.2005 (Häßler 2007).
Zwischen Anspruch und Erfordernissen bezüglich der gesundheitlichen Versorgung von geistig behinderten Kindern und Jugendlichen mit und ohne psychische Störungen und der Realität klafft –mit gewissen territorialen Ausnahmen – eine große Lücke, die sich in erster Linie auf strukturelle, aber auch inhaltlich diagnostischtherapeutische Aspekte bezieht. Eine Erhebung an kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken, in die die Angaben von 74 der insgesamt 136 befragten Kliniken eingingen, zeigte, dass
der Anteil der ambulant und stationär behandelten geistig behinderten Patienten bei jeweils 6% lag (Hennicke 2005). An der Rostocker Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter lag der Anteil vollstationär behandelter geistig behinderter Kinder im Jahre 2008 bei 14%. Wenn eine Klinik über ein ambulantes und/oder stationäres Spezialangebot verfügt, was bei nur 8% der Kliniken der Fall war, wurden deutlich mehr Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung und zusätzlichen psychischen Störungen versorgt. Von einer flächendeckenden, regionalisierten kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung dieser Personengruppe kann somit keine Rede sein. In dieser Befragung wurde die psychiatrischpsychotherapeutische Versorgungssituation für geistig behinderte Kinder und Jugendliche mit zusätzlichen psychischen Störungen durch die ärztlich tätigen Kinder- und Jugendpsychiater mit Noten zwischen 4 und 5 bewertet. Es herrschte auch eine gewisse Unwissenheit, wo und von wem denn dann diese Kinder und Jugendlichen, die überwiegend in den Familien, teils aber auch in Fördereinrichtungen der Behindertenhilfe leben, versorgt werden. Das spricht nicht dafür, dass eine multiprofessionelle Vernetzung entsprechender Angebote existiert. Positiv zu sehen ist, dass sowohl im Bereich der diagnostischen Verfahren als auch der therapeutischen Interventionen (Psychotherapie, heilpädagogische Übungsbehandlung, Familientherapie, Ergotherapie, Kreativtherapie, Psychoedukation und Psychopharmakotherapie) der hohe Qualitätsstandard der Kinder- und Jugendpsychiatrie bei dieser Personengruppe zum Tragen kommt, auch wenn bis dato der Evidenzgrad der angewandten therapeutischen Strategien eher gering ist. Insbesondere bei der Psychopharmakotherapie (Prävalenz abhängig vom Schweregrad der Behinderung zwischen 25 und 40%) gilt es zu berücksichtigen, dass viele Faktoren den Einsatz limitieren: fehlende Zulas-
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2
2.2 • Erwachsenenalter
sungen für das Kindes- und Jugendalter, nur wenige fundierte wissenschaftliche Untersuchungen, veränderte oder paradoxe Wirkungsweisen, notwendige Abweichungen von Dosierungsund Dosisschemata, erschwerte Wirkungs- und Nebenwirkungsbeurteilungen, vielfältige Interaktionen durch Polypharmazie, Verabreichungsund Complianceprobleme und nicht zuletzt gesetzliche Vorschriften. Vor diesem Hintergrund hat die Gemeinsame Kommission »Seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit geistigen und schweren Lernbehinderungen« der DGKJP, des BKJP und der BAG der leitenden Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie gängiges Wissen und klinische Erfahrungen einiger Experten zusammengefasst und in einer S1-Leitlinie veröffentlicht (Hennicke et al. 2009). Dieselbe Kommission hatte bereits im Jahre 2006 aufgrund der unbefriedigenden kinderund jugendpsychiatrischen Versorgungssituation für geistig behinderte Kinder und Jugendliche mit und ohne zusätzliche psychische Störungen ein Positionspapier veröffentlicht, in dem entsprechende Zielvorgaben für die einzelnen Versorgungsbereiche (ambulant, teilstationär, vollstationär) formuliert sind. Darin enthalten ist auch die Vernetzung zwischen den unterschiedlichsten Berufsgruppen und Hilfesystemen, die an Therapie und Betreuung beteiligt sind. > Bewährt hat sich die Integration spezieller ambulanter (mit oder ohne aufsuchenden Charakter) und stationärer Einheiten für Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderungen in eine große kinder- und jugendpsychiatrische Klinik; dies nicht nur in Bezug auf die Nutzung der umfassenderen sachlichen und personellen Ressourcen, sondern auch in Bezug auf eine zumindest partielle Integration.
Die besonderen Bedürfnisse und Aspekte einer ganzheitlichen Versorgung, denen insbesondere Eltern-Kind-Stationen gerecht werden, sollten
sich nicht nur in den angepassten Personalanhaltszahlen widerspiegeln, sondern auch in den Sonderregelungen bezüglich der Verweildauer. Inwieweit das neue Entgeltsystem OPS in den psychiatrischen Kliniken den diagnostischen und therapeutischen Mehraufwand berücksichtigt, bleibt abzuwarten. Mittels der aktuellen Codes können die tatsächlich erbrachten Leistungen der einzelnen Therapeuten in Zeiteinheiten in der Regel- und in der Intensivbehandlung abgebildet werden. Ab 2013 haben diese tagesbezogenen Abrechnungen Vergütungsrelevanz. Unabhängig von Abrechnungs- und Vergütungssystemen benötigen Kinder und Jugendliche mit geistiger bzw. Mehrfachbehinderung und zusätzlichen psychischen Störungen besonders geschultes Personal, das einerseits im Umgang mit diesen psychischen Störungen, andererseits mit den spezifischen Lebenserfahrungen und Kommunikationsformen behinderter Kinder sowie deren Lebenskontexten vertraut und versiert ist. Um dieses zu garantieren, bedarf es spezieller Weiterbildungscurricula sowie einer stärkeren inhaltlichen Orientierung auf diese Klientel in der studentischen und fachärztlichen Aus- und Weiterbildung.
2.2
Erwachsenenalter
In den letzten 10 Jahren ist die Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung um ca. 10 Jahre gestiegen. Damit hat sich auch das Störungsspektrum um die gerontopsychiatrischen Aspekte erweitert. Den differenzierenden Bedarf an Diagnostik und Behandlung deckt jedoch die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung und zusätzlichen psychischen Störungen derzeit nicht (DGPPN 2009). Darüber hinaus hat sich das GKV-Modernisierungsgesetz nachteilig auf die gesundheitliche Versorgung der Betroffenen ausgewirkt. Der behinderungsbedingte Versorgungsbedarf ist finanziell nicht ausreichend
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2
Kapitel 2 • Worum es geht: Ausgangslage, Definition und Klassifikation
gedeckt. 39% der in einer Studie Befragten gaben an, wegen der Praxisgebühr und bestimmter Leistungsausschlüsse auf notwendige und ärztlich empfohlene Leistungen verzichtet zu haben, speziell bei Zahnersatz, Arznei- und Verbandmitteln sowie Sehhilfen (Klinkhammer 2009). Ein weiteres Problem ist, dass Ärzte und Angehörige anderer Berufsgruppen auf diesem Gebiet der Medizin ungenügend oder gar nicht ausgebildet sind, da entsprechende Inhalte weder während des Studiums noch in der Facharztausbildung oder in der Weiter- und Fortbildung ubiquitär angeboten werden. Auch das Bild in der Öffentlichkeit ist noch weitestgehend durch Voreingenommenheit, Ignoranz und Intoleranz geprägt und getrübt.
2.3
Gesetzliche Grundlagen
In Artikel 3 des Grundgesetzes (GG) ist seit der Änderung 1994 (Gesetz zur Änderung des GG vom 14.11.1994, BGBl. S. 3146) das Diskriminierungsverbot verankert. »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« Dadurch sind auch Menschen mit geistiger Behinderung als »Rechtssubjekte« mit Selbstbestimmungsrechten, Informationsrechten etc. ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten (Fegert 2005). Die von vielen Menschen mit geistiger Behinderung benötigte Unterstützung/Assistenz ist im Leistungskatalog der Eingliederungshilfe (SGB XII, §§ 53ff ) beschrieben. Das SGB XII löste 2005 das BSHG (Bundessozialhilfegesetz) ab. In § 1 SGB IX ist die Grundlage für die Eingliederungshilfe, d. h. die Förderung der selbstbestimmten und gleichberechtigten Teilhabe am Leben der Gesellschaft als Ziel der Leistungen für Menschen mit Behinderungen vorgegeben. Leistungen der gesundheitlichen Versorgung gehören nicht (mehr) zum Leistungsspektrum der Eingliederungshilfe. Somit unterliegen Menschen mit einer geistigen Behinderung trotz er-
wiesenen quantitativen und qualitativen Mehrbedarfs an gesundheitlicher Versorgung den allgemeinen Bedingungen der Gesetzlichen Krankenversicherung, auch Aufzahlungen, Zuzahlungen und Leistungsausschlüssen. Die ersatzweisen Leistungen der Sozialhilfe zur Gesundheitsversorgung begrenzen sich nach dem Leistungsumfang des SGB V. Die rechtlichen Regelungen für die Rehabilitation und Pflege geistig behinderter Menschen sind in einer Vielzahl unterschiedlicher Gesetze gefasst, die häufig geändert werden. Auch für Fachleute und Eltern ist es daher schwierig, einen Überblick über die geltende Rechtslage zu erhalten (Wendt 2003). . Tab. 2.1 Grundlagen. Tab. 2.1 gibt eine Übersicht über die gesetzlichen Grundlagen. Über die finanziellen Hilfen, die ihnen und ihrem behinderten Kind zustehen, können sich Eltern im Ratgeber der Lebenshilfe »Finanzielle Hilfen für Menschen mit Behinderung, ihre Angehörigen und Betreuer(innen)« informieren (s. auch 7 Anhang A2: »Weiterführende Literatur«). Trotz eindeutiger internationaler und nationaler gesetzlicher Regelungen ist die Anwendung im individuellen Fall oft kompliziert und unübersichtlich. Die jeweiligen kommunalen und überörtlichen Leistungsträger legen die Rechtslagen unterschiedlich aus (und dies manchmal noch auf verschiedenen Hierarchieebenen), geben sich eigene Ausführungsvorschriften, Normen und Definitionen und unterliegen internen, inoffiziellen Deckelungen/ Budgetierungen. Darüber hinaus wird die vom Gesetzgeber fixierte Vorgabe, dass sich alle im SGB IX genannten Rehabilitationsträger an der Servicestelle, der institutionellen Basis für das Teilhabemanagement, beteiligen, bis dato kaum umgesetzt.
13
2
2.3 • Gesetzliche Grundlagen
. Tab. 2.1 Übersicht über relevante gesetzliche Vorschriften. (In Anlehnung an Fegert 2005) Gesetz
Vorschrift
Inhalt
UN-Behindertenrechtskonvention
Präambel
Förderung, Schutz und Gewährleistung des vollen, gleichberechtigten Genusses aller Menschenrechte und Grundfreiheiten
Artikel 3
Menschenwürde, individuelle Autonomie, die Freiheit, eigene Enrscheidungen zu treffen, und Selbstbestimmung
Artikel 25
Gleiche Gesundheitsleistungen und gleicher Zugang zu ihnen wie bei Nichtbehinderten, Spezialleistungen aufgrund der Behinderung zur Verminderung oder Vermeidung von Behinderung
UN- Kinderrechtskonvention
Artikel 23
Förderung, Teilhabe und Unterstützung
Grundgesetz (GG)
Artikel 3
Gleichheit und Diskriminierungsverbot
Sozialgesetzbuch (SGB) IX
§ 1
Leistungen, um Selbstbestimmung und Teilhabe zu fördern
§ 2
Behindertendefinition
§ 4
Teilhabeziele und Leistungskatalog, um unabhängig von der Ursache der Behinderung 1. die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern, 2. Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug anderer Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen zu mindern, 3. die Teilhabe am Arbeitsleben entsprechend den Neigungen und Fähigkeiten dauerhaft zu sichern oder 4. die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbstständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern
§ 53 Kap. 6
Eingliederungshilfe für behinderte Menschen
SGB XII SGB V
Hilfe bei Krankheit
SGB XI
§ 14
Hilfe zur Pflege
Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII)
§ 35 a
Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche
Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG), im Zusammenhang mit BGB
§ 1906, § 1631 b
Anhörung, Verfahrensfähigkeit, Verfahrensbeistand, Unterbringung, freiheitsentziehende Maßnahmen für Erwachsene, für Minderjährige
Strafgesetzbuch (StGB)
§ 174
Sexueller Missbrauch Schutzbefohlener, Hilfsbedürftiger
Jugendgerichtsgesetz (JGG)
§§ 20/21
Schuldfähigkeit
§§ 63/64
Maßregeln
§ 62
Verhältnismäßigkeit der Maßregel
§ 3
Verantwortungsreife
§ 105
Jugend- vs. Erwachsenenstrafrecht
2
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Kapitel 2 • Worum es geht: Ausgangslage, Definition und Klassifikation
2.4
Klinisches Erscheinungsbild und Klassifikation
2.4.1
Definitionen
Für die Intelligenzminderung (geistige Behinderung) ist neben dem verminderten Intelligenzniveau die erschwerte Anpassung an die Anforderungen des alltäglichen Lebens (Adaptabilität) bedeutsam. Dies gilt in geringerem Ausmaß auch für die Lernbehinderung. Definition Personen mit Intelligenzminderung sind – abhängig vom Schweregrad – aufgrund von Anpassungsproblemen und kognitiven Defiziten beeinträchtigt in ihrer Unabhängigkeit bezüglich der Selbstversorgung, im Erlernen schulischer, beruflicher und sozialer Fertigkeiten und in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung.
Nach den beiden Klassifikationssystemen ICD10 und DSM-IV ist geistige Behinderung/Intelligenzminderung wie folgt definiert: DSM-IV-TR (2003) – Hauptmerkmal ist eine unterdurchschnittliche allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit. Diese ist begleitet von starken Einschränkungen der Anpassungsfähigkeit in mindestens zwei der folgenden Bereiche: Kommunikation, eigenständige Versorgung, häusliches Leben, soziale/zwischenmenschliche Fertigkeiten, Nutzung öffentlicher Einrichtungen, Selbstbestimmtheit, funktionale Schulleistungen, Arbeit, Freizeit, Gesundheit und Sicherheit. Der Beginn der Störung muss vor dem 18. Lebensjahr liegen.
ICD–10 der WHO (2000) – Eine sich in der Entwicklung manifestierende, stehen gebliebene oder unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, mit besonderer Beeinträchtigung von Fertigkeiten, die zum Intelligenzniveau beitragen, wie z.B. Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten.
Sozialgesetzbuch – Nach sozialrechtlicher Definition (SGB IX, § 2 Abs. 1 Satz 1) sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische
Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt ist.
Die in der ICD-10 klassifizierten Gesundheitsprobleme werden in der »Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit – ICF der WHO« (Stand Oktober 2005, www.dimdi.de) um Funktionsfähigkeit, Partizipation (Teilhabe) und Umweltfaktoren erweitert und mit diesen verknüpft. Sowohl im Sozialgesetzbuch (SGB) IX (2001) als auch bei der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO (ICF) (2001) erfolgt eine Abkehr von Denkmodellen, die sich an Primärdefekten orientieren (disability, impairment, handicap) und eine Hinwendung zu prozessorientierten Modellen, die auf individuelle Ressourcen/Kompetenzen (empowerment), Normalisierung und Selbstbestimmung abzielen und Funktion en und Teilhabe in den Vordergrund stellen (Seidel 2005). Seit Oktober 2005 liegt eine deutschsprachige Version der ICF vor, die man auf der Webseite des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) kostenlos herunterladen kann (www.dimdi. de). Die ICF geht bei jeder Beeinträchtigung der funktionalen Gesundheit von Behinderung aus. . Tab. 2.2 und . Tab. 2.3 geben einen Überblick über den Aufbau der ICF. Definition Die Lernbehinderung wird nicht als separate psychiatrische Kategorie der ICD-10 geführt. Sie ist gemäß internationaler Terminologie als grenzwertige Intelligenz mit einem IQ zwischen 85 und 70 definiert.
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2
2.4 • Klinisches Erscheinungsbild und Klassifikation
. Tab. 2.2 Überblick über die ICF – Funktionsfähigkeit und Behinderung Komponenten
Körperfunktionen und -strukturen
Aktivitäten und Partizipation
Domänen
Körperfunktionen und Körperstrukturen
Lebensbereiche (Aufgabe, Handlungen)
Konstrukte
Veränderung in Körperfunktion (physiologisch) und in Körperstruktur (anatomisch)
Leistungsfähigkeit (Durchführung von Aufgaben in standardisierter Umwelt), Leistung (in üblicher Umwelt)
Positiver Aspekt
Funktionale und strukturelle Integrität
Aktivitäten und Partizipation
Negativer Aspekt
Schädigung – Behinderung
Beeinträchtigung der Aktivität und/oder Partizipation – Behinderung
. Tab. 2.3 Überblick über die ICF – Kontextfaktoren Komponenten
Umweltfaktoren
Personenbezogene Faktoren
Domänen
Äußere Einflüsse auf Funktionsfähigkeit und Behinderung
Innere Einflüsse auf Funktionsfähigkeit und Behinderung
Konstrukte
Fördernde oder beeinträchtigende Einflüsse von Merkmalen der materiellen, sozialen und einstellungsbezogenen Welt
Einflüsse von Merkmalen der Person
Positiver Aspekt
Positiv wirkende Faktoren
Nicht anwendbar
Negativer Aspekt
Negativ wirkende Faktoren (Barrieren, Hindernisse)
Nicht anwendbar
2.4.2 z
Schweregradeinteilung
Lernbehinderung
Der IQ-Bereich liegt zwischen 70 und 85. In der Regel reicht die entsprechende intellektuelle Ausstattung nicht zu einem erfolgreichen Regelschulbesuch, da sich in erster Linie die Minderbegabung in Schulschwierigkeiten äußert. Individuell muss in einem solchen Fall der sonderpädagogische Förderbedarf entsprechend der gesetzlichen Richtlinien festgestellt werden. z
Leichte Intelligenzminderung (F70) – 80% aller geistig Behinderten
Der IQ-Bereich liegt zwischen 50 und 69. Die Personen erwerben Sprache verzögert, jedoch in einem Umfang, dass eine alltägliche Konversation normal gelingt. Die meisten erlangen eine volle Unabhängigkeit in der Selbstversorgung
(Essen, Waschen, Ankleiden, Darm- und Blasenkontrolle) und in praktischen und häuslichen Tätigkeiten, dabei allerdings verlangsamte Entwicklung. Schwierigkeiten treten beim Erlernen schulischer Fertigkeiten, insbesondere beim Erlernen des Lesens und der schriftsprachlichen Äußerungen auf. Die meisten sind für eine Arbeit anlernbar, die praktische Fähigkeiten und angelernte Handarbeit verlangt. Eine emotionale und soziale Unreife kann bestehen, sodass sie u. U. eigenständig den Anforderungen einer Ehe oder Kindererziehung nicht nachkommen können. z
Mittelgradige Intelligenzminderung (F71) – 12% aller geistig Behinderten
Der IQ liegt gewöhnlich im Bereich zwischen 35 und 49. Die Leistungsprofile können sehr unterschiedlich sein. Das Ausmaß der Sprach-
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2
Kapitel 2 • Worum es geht: Ausgangslage, Definition und Klassifikation
entwicklung reicht von der Fähigkeit, an einfachen Unterhaltungen teilzunehmen, bis zu einem Sprachgebrauch, der lediglich für die Mitteilung der Grundbedürfnisse ausreicht; einige lernen niemals sprechen, verstehen einfache Anweisungen, andere lernen Handzeichen. Die Fähigkeiten zur Selbstversorgung entwickeln sich verzögert, einige Personen benötigen lebenslange Beaufsichtigung. Schulisch lernen sie einige grundlegende Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Zählen. Als Erwachsene sind sie in der Lage, einfache praktische Tätigkeiten zu verrichten, wenn die Aufgaben einfach und gut strukturiert sind sowie eine Beaufsichtigung besteht. Ein völlig unabhängiges Leben im Erwachsenenalter wird selten erreicht. Die Betroffenen sind in der Regel körperlich voll beweglich und aktiv, fähig, Kontakte zu pflegen, sich zu verständigen und einfache soziale Leistungen zu bewältigen. z
Schwere Intelligenzminderung (F72) – 7% aller geistig Behinderten
Der IQ liegt gewöhnlich im Bereich zwischen 20 und 34. Die Störung ähnelt hinsichtlich des klinischen Bildes dem unteren Leistungsbereich der mittelgradigen Intelligenzminderung. Die meisten Personen mit schwerer Intelligenzminderung haben ausgeprägte motorische Beeinträchtigungen. z
Schwerste Intelligenzminderung (F73) – Die qualifizierte Feststellung des Schweregrads der intellektuellen Einschränkungen, deren individuelle Ausprägung sowie der damit verbundenen körperlichen, psychologischen und sozialen Beeinträchtigungen ist eine entscheidende Grundvoraussetzung für alle weiteren Diagnostiken, Therapien und Förderungen.
Art und Schweregrad der intellektuellen Beeinträchtigung bestimmen wesentlich den Umgang im Alltag hinsichtlich Unterstützung, Begleitung, Betreuung, Beaufsichtigung und Pflegeaufwand, damit die körperlichen, emotionalen und auch finanziellen Belastungen der Familienangehörigen wie auch der Betreuer in den Einrichtungen vertretbar bleiben. Zudem bestimmen Art und Schweregrad der intellektuellen Beeinträchtigung die gesamte zukünftige Lebensperspektive der betroffenen Person, welche Angebote der Unterstützung von Förderung sinnvoll und notwendig sind sowie welche Hoffnungen und Erwartungen an Selbstständigkeit und Selbstbestimmung anzulegen sind. Nicht zuletzt auch zur Bewertung der psychopathologischen Auffälligkeiten muss der Untersucher notwendigerweise eine realistische Vorstellung vom Ausprägungsgrad der intellektuellen Behinderung haben.
Die möglichst frühzeitige Feststellung einer intellektuellen Behinderung kann auch unerwünschte Wirkungen haben: Stigmatisierung, Vernachlässigung weiterer Förderung, Beeinträchtigung der emotionalen Beziehung u.a. Sie sollte daher im Einzelfall genau überlegt werden (möglichst auch im Zusammenhang mit einer ursächlichen Klärung der Behinderung). Dennoch ist, vielleicht auch wegen dieser Bedenken, erschreckend, dass sich das Erstdiagnosealter im Zeitraum von 1995 bis 2000 um 7 Monate nach hinten verschoben hat und somit wertvolle Zeit zur Frühintervention verloren geht. Das Erstdiagnosealter je nach Art der Behinderung zeigt . Tab. 4.1
4.1
Anamnese
Die Informationen über Entwicklungsstand, Entwicklungs- inklusive Bildungsgeschichte, Krankheitsgeschichte nebst Komorbiditäten und störungsrelevanter Rahmenbedingungen müssen durch Befragung von mehreren zuverlässigen, unabhängigen Quellen erhoben werden. Die betroffenen Jugendlichen und Erwachsenen sind im Rahmen ihrer Möglichkeiten einzubeziehen. Im Vordergrund steht die Exploration der Eltern hinsichtlich des Entwicklungsstandes, die um Informationen von Dritten (Großeltern, andere Verwandte, Lehrer, Erzieher, Freunde etc.) ergänzt werden sollten. Komplettiert wird die Diagnostik durch eine Verhaltensbeobachtung unter Beachtung der großen Ws: Wer beobachtet wen, unter welchen Bedingungen, wie lange, mit welchen Methoden, um was zu erfassen? Die eigene Befragung umfasst die Aspekte: 4 kognitive Leistungsfähigkeit: Denken, Wahrnehmung, Gedächtnis, 4 Sprache, Motorik, Lernfähigkeit, Emotionalität, 4 soziale Anpassungsfähigkeit (bezogen auf die jeweilige Entwicklungsstufe),
4
25 4.1 • Anamnese
IQ ≥ 85 keine Intelligenzminderung
Intelligenztest
Intelligenztest nicht durchführbar
Prüfung der sozialen Anpassungsfähigkeit
nein
IQ: 70–84 niedrige Intelligenz Entwicklungsdiagnostik nein
oder/und spezielle Testverfahren für geistig Behinderte
IQ: 50–69
oder/und IQ: 35–49 Arbeitsproben oder/und
Diagnostik komorbider psychiatrischer Störungen
leichte Intelligenzminderung (F70)
mittelgradige Intelligenzminderung (F71)
IQ: 20–34 schwere Intelligenzminderung (F72) IQ: < 20 schwerste Intelligenzminderung (F73)
Prüfung spezieller Funktionen nein nicht möglich
klinische Beurteilung
apparative Labordiagnostik
Intelligenzniveau nicht bekannt
. Abb. 4.1 Diagnostik der geistigen Behinderung (DGKJP 2003)
4 Persönlichkeit, Temperament, 4 Kommunikation und zwischenmenschliche Fähigkeiten (Sprachverständnis, expressive Sprache), 4 Eigenständigkeit, Selbstbestimmtheit, 4 lebenspraktische Fertigkeiten, schulische Fertigkeiten, Freizeit, Körperhygiene, Ernährung (Essen, Trinken), 4 Verhalten im Kindergarten/in der Schule/ in Frühförderstellen/ärztlichen Praxen/Kliniken, 4 Verhalten und Interaktion mit relevanten Bezugspersonen zu Hause und im sozialen
Kontext von Kindergarten/Schule/anderen Einrichtungen, 4 Selbstschilderung in Abhängigkeit von der Beeinträchtigung und Kooperationsfähigkeit der jeweiligen Person, 4 vorliegende Ergebnisse medizinischer Untersuchungen (internistisch-neurologisch). Die Entwicklungsgeschichte lässt sich am validesten durch Exploration der Eltern/Bezugspersonen erfragen. Folgende Punkte sollten dabei unbedingt eruiert werden:
26
Kapitel 4 • Der Blick auf das Besondere: störungsspezifische Diagnostik
. Tab. 4.1 Erstdiagnosealter (Krause 2005) >13 Monate [%]
Behinderung
Erstdiagnosealter [Monate]
Geburt bis 3 Monate [%]
4–12 Monate [%]
Down-Syndrom 1995 (n=41)
0,1
95,1
4,9
Geistige Behinderung 1995 (n=206)
14,4
41,5
23,5
34,7
19,9 im 2. Lj. 8,3 im 3. Lj. 4,4 im 4. Lj. 2,1 später)
Geistige Behinderung 2003 (n=87)
20,9
39,1
14,9
46,0
12,6 im 2. Lj. 13,8 im 3. Lj. 8,1 im 4. Lj. 11,5 später)
Mehrfachbehinderung 1995 (n=152)
7,2
34,9
51,3
13,8
4
4 Risiken während der Schwangerschaft, Geburt und Neugeborenenperiode, 4 die Meilensteine der Entwicklung (inklusive motorische Entwicklung, Sprachentwicklung und Sauberkeitsentwicklung), 4 der Beginn, die Intensität (Gesamtentwicklung, Teilbereiche) und der Verlauf der Entwicklung (Stillstand, Abbau, auch Beeinflussung durch Belastungen), 4 Entwicklungsstörungen und Behinderungen in der Familie, 4 die soziale Kompetenz und die Integration in die Familie bzw. Gesellschaft, 4 belastende Bedingungen versus Ressourcen in der Familie, 4 Förderungskonzepte und -möglichkeiten der Eltern bzw. Institutionen, 4 Entwicklungs- und Bildungsverlauf 4 und nicht zuletzt die Krankheitsanamnese (inklusive somatischer und psychischer Auffälligkeiten, Vordiagnostik und Vorbehandlungen). Durch Informationen vom Kindergarten, der Schule, Werkstätten oder sonstiger betreuender Einrichtungen erhält man Auskunft über die soziale Kompetenz des Betroffenen, dessen Integ-
ration in die Gruppe, belastende Bedingungen versus Ressourcen sowie Förderungskonzepte der Erzieher, Lehrer und Betreuer. Zu den zu explorierenden störungsrelevanten Rahmenbedingungen gehören Umweltfaktoren wie Bildungsmöglichkeiten, soziokultureller Hintergrund, Anregung durch die Umwelt und der Umgang mit der Störung selbst. Abschließend sollten die Eltern/Bezugspersonen hinsichtlich psychosozialer Bedingungen und familiärer Ressourcen zu folgenden Punkten befragt werden: 4 spezifische Bewältigungsstrategien, 4 inkonsistentes/restriktives Erziehungsverhalten, 4 mangelnde Wärme in den familiären Beziehungen/Zurückweisung/Überforderung, 4 Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit bei der Förderung von Informationen vom Kindergarten/der Schule/sonstigen Einrichtungen hinsichtlich Förderungsmöglichkeiten und –konzepten, 4 Motivation, Persönlichkeitsmerkmale, Umfang der Beeinträchtigungen, 4 Krankheiten und Syndrome (z. B. Chromosomenaberrationen, Stoffwechselerkrankun-
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4
4.2 • Medizinische und psychologische Diagnostik
gen, Sinnesbehinderungen, Zerebralparese, Fehlbildungen, Epilepsie), 4 Ausmaß begleitender Verhaltensstörungen.
4.2
Medizinische und psychologische Diagnostik
Die Diagnostik zur Abklärung der Intelligenzminderung umfasst unter anderem die Intelligenz-, Entwicklungs- und Leistungsdiagnostik. Erforderlich ist die individuelle Untersuchung in Abhängigkeit von der Beeinträchtigung und Kooperationsbereitschaft der Person. Bei der Auswahl der Instrumente und der Interpretation der Ergebnisse müssen der soziokulturelle Hintergrund, bisherige Bildungsmöglichkeiten, kommunikative, motorische und sensorische Beeinträchtigungen berücksichtigt werden. > In der Regel ist das Profil der Stärken und Schwächen einer Person in der Alltagsbewältigung eine präzisere Grundlage für die Abschätzung der Lernfähigkeit als die Bestimmung des Intelligenzquotienten.
Die medizinischen Zusatzuntersuchungen orientieren sich jeweils an spezifischen Indikationen. Die Ziele medizinischer Diagnostik liegen in der groben Einschätzung der ursächlichen Bedingungen, der Art und des Ausmaßes der Intelligenzminderung einschließlich der sensorischen Fähigkeiten sowie in der Einleitung weiterer notwendiger und optionaler Diagnostik. > Die medizinische Basisdiagnostik ist eine unverzichtbare Voraussetzung für alle weiterführenden Untersuchungen einer Intelligenzminderung. Sie sollte von entsprechend qualifizierten Fachärzten durchgeführt werden.
Zu den medizinischen Untersuchungen gehören: 4 eine körperliche Untersuchung (entwicklungsneurologisch) unter Verwendung von Checklisten zur Erkennung von Dysmorphiezeichen bzw. »minor physical anomalies« (internistisch), 4 eine Sehprüfung, 4 eine Sprach- und Hörprüfung sowie 4 elektrophysiologische Untersuchungen wie EEG, EP und EMG. Im Einzel- und Verdachtsfall kann und sollte die Diagnostik um neuroradiologische, biochemische und serologisch-immunologische Untersuchungen, Hormonanalysen, Liquoruntersuchungen, Muskel- bzw. Nervenbiopsien, Chromosomenanalyse und molekulargenetische Untersuchungen erweitert werden.
4.2.1
Körperliche und neurologische Untersuchung
Da der geistig behinderte Mensch einerseits in seiner Komplexität und andererseits bezüglich seiner aktuellen Beschwerden und Funktionseinschränkungen bzw. Veränderungen beurteilt werden soll, bedarf es beim ersten Kontakt nach der Orientierung eines mehrgleisigen Vorgehens. Es geht um das Sammeln vielfältiger zuverlässiger Informationen aus seinem Umfeld unter Einbeziehung der Eltern/Betreuer, um ein Bild von den Stärken und Schwächen, den möglichen Ursachen der Behinderung, aber auch der vorliegenden Funktionseinschränkungen. Die fundierte Kenntnis von der »Gesamtheit« des Patienten erleichtert das ärztlich diagnostische Vorgehen bei akuten Störungen und Erkrankungen und vermeidet Zeitverluste bzw. oft individuell belastende stationäre Fehleinweisungen und Fehlindikationen für apparative Untersuchungen. Bei allen Entscheidungen müssen Aufwand und Nutzen in einem vernünftigen Verhältnis
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4
Kapitel 4 • Der Blick auf das Besondere: störungsspezifische Diagnostik
zueinander stehen. Diagnostischer Nihilismus ist ebenso fehl am Platze wie diagnostischer Aktionismus. Dieses Abwägen des Notwendigen erfordert Erfahrung. Somit kann die körperliche Untersuchung keinem starren Schema folgen, sondern muss an die individuelle Situation und das erreichbare Ziel entsprechend adaptiert werden.
Van Karnebeek et al. unterstreichen die Bedeutung der allgemeinkörperlichen, neurologischen und speziellen dysmorphologischen Untersuchung: Sie ist in 62% der untersuchten Fälle essenziell für die Diagnose, in 79% steuert sie dazu bei. Dysmorphiezeichen wurden in größeren Untersuchungen bei ca. 50% aller Patienten gefunden (van Karnebeek et al. 2002).
> Die körperliche Untersuchung beginnt nicht erst mit dem Auskultieren, Palpatieren oder der Reflexprüfung. Körperhaltung, Bewegungsmuster, Mimik, Gestik, Kontaktaufnahme, Wachheit und Interesse müssen neben vielen anderen Informationen vom ersten Augenblick der Begegnung an erfasst werden und das weitere Vorgehen leiten.
Im Vordergrund stehen das Aufbauen einer Beziehung, die Schaffung einer ruhigen, angstreduzierenden Atmosphäre, das Einbeziehen der Patienten in den Untersuchungsgang. Eine Geste wie das Spielenlassen mit dem Reflexhammer schafft Vertrauen, nimmt die Untersuchungsangst und bezieht den Patienten ein. Gegen den Willen des Patienten ermittelt, wird jeder somatische Befund fragmentarisch sein. Körpergröße, Gewicht und Kopfumfang sollten gemessen und in entsprechende Perzentilkurven eingetragen werden. Insbesondere in der Bewertung von Entwicklungsverläufen, aber auch in der Einschätzung körperlicher Akzeleration versus Retardierung sind diese einfach zu erhebenden Befunde sehr hilfreich. Die Erhebung des allgemeinkörperlichen Status inklusive des Pflegezustands leiten in der Regel zum speziellen pädiatrisch/internistischen und neurologischen Untersuchungsteil über (siehe Untersuchungsbogen, nach dem üblicherweise in der Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter des Universitätsklinkums Rostock vorgegangen wird).
Tipps und Tricks 5 Kein schematisch starrer Ablaufplan 5 Sammeln so vieler Informationen und Befunde wie möglich 5 Untersuchung beginnt bei der ersten Wahrnehmung, 5 Empathische und ruhige, aber konsequente Herangehensweise 5 Einbeziehen von Begleitpersonen und der zu untersuchenden Person 5 Abwägen von Notwendigem und Machbarem 5 Niemals überfallartig mit belastenden oder schmerzhaften Untersuchungsschritten beginnen
z
Gesetzlich vorgeschriebene Vorsorgeuntersuchungen, sogenannte Uund J-Untersuchungen im Neugeborenen-, Kindes- und Jugendalter
Der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen hat in den »Kinder-Richtlinien« die ärztlichen Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten bei Kindern bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres verbindlich festgelegt. Die sogenannten Kindervorsorgeuntersuchungen werden im »Gelben Heft« des Gemeinsamen Bundesausschusses dokumentiert. Rechtsgrundlage der Kindervorsorgeuntersuchungen ist § 26 SGB V. Von einem Kinderarzt vorgenommene Kindervorsorgeuntersuchungen sollen sicherstellen, dass genetische Defekte, körperliche und
29 4.2 • Medizinische und psychologische Diagnostik
4
Kriterien für die körperliche und neurologische Untersuchung (nach dem Untersuchungsbogen der Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter des Universitätsklinikums Rostock) – Körperbau und Haltung – Kopfumfang [cm], Gewicht [kg], Größe [m], BMI – Ernährungszustand – Pflegezustand – Haut (Farbe, Oberfläche, Turgor, Behaarung, Verletzungen, Dysmorphiezeichen) – Zustand der Finger- und Fußnägel – Lymphknoten (palpabel, vergrößert, wenn ja: verschieblich?) – Mundhöhle und Rachen – Zahnstatus – Tonsillen – Schilddrüse – Lunge – Herz (Herztöne, Herzgeräusche, Rhythmus) – Arterien – RR [mmHg], Puls [min] – Abdomen (Druckschmerz, Resistenzen, Bruchpforten, Nierenlager) – Vegetative Funktion – Blasen-Mastdarm-Funktion – Genitale/sekundäre Geschlechtsmerkmale – Schädel (Kopfhaltung, Konfiguration, Fontanellen, Klopf-, Druckschmerz, Symmetrie)
– Ohren (Ohrmuscheln, Ohrläppchen) – Lidachsen/Lidspalten/ Augenabstand/Bulbi – Cornealreflex – Pupillen – Lichtreaktion – Konvergenzreaktion – Gesichtsfeld – Sehvermögen (orientierend) – Augenhintergrund – Augenbewegung – Nystagmus – Weitere Hirnnerven: Facialis, Trigeminus – Rachenreflex – Gaumensegel – Zunge – Accessorius – Sprachartikulation – Gehör (orientierend) – Geruch – Geschmack – Wirbelsäule (Lordose, Kyphose, Skoliose, Klopf- und Druckschmerz, Beweglichkeit) – Muskeltonus – Trophik – Motilität – Grobe Kraft – Armhalteversuch (AHV) – Beinhalteversuch (BHV) – Brachioradialisreflex – Bizepssehnenreflex (BSR)
psychische Erkrankungen von Kindern, die eine normale Entwicklung des Kindes in besonderem Maße gefährden, schnell erkannt werden, um möglichst früh eine entsprechend adäquate Therapie einleiten zu können. Zugleich sollen die Untersuchungen dazu dienen, Fälle von Vernachlässigung, Verwahrlosung, Kindesmisshandlung oder sexuellem Missbrauch zu erkennen und das Kind vor weiteren Gefährdungen zu schützen.
– Trizepssehnenreflex (TSR) – Quadrizepsreflex/Patellarsehnenreflex (PSR) – Triceps-surae-Reflex/ Achillessehnenreflex (ASR) – Bauchdeckenreflex – Cremaster – Pyramidenbahnzeichen: – Mayer – Trömner – Gordon – Oppenheim – Babinski – Oberflächensensibilität – Tiefensensibilität – Finger-Nase-Versuch (FNV) – Knie-Hacken-Versuch (KHV) – Gangbild (Zehen- und Hackengang sowie Seiltänzergang) – Blindgang – Romberg-Test – Stereognosie – Diadochokinese – Lateralität – Somatische Gesamtbeurteilung – Neurologische Gesamtbeurteilung
kU1: 2.–4. Lebensstunde
Die U1 dient dazu, Defekte vitaler Funktionen aufzudecken, die sofortiges Handeln erfordern. Dazu bedarf es der körperlichen Untersuchung mit Inaugenscheinnahme, der Auskultation von Herz und Lunge sowie der Palpation des Bauchs und der Genitalien.
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4
Kapitel 4 • Der Blick auf das Besondere: störungsspezifische Diagnostik
kU2: 3.–10. Lebenstag
kU8: 43.–48. Lebensmonat
Die U2 erfolgt in der Regel noch in der Klinik, d. h. innerhalb der ersten 5 Lebenstage, da die postpartale Verweildauer mittlerweile meistens unter 5 Tagen liegt. Sie beinhaltet die Beurteilung von Haut, inneren Organen, Geschlechtsteilen, außerdem eine Blutentnahme im Rahmen des Neugeborenen-Screenings zwecks Erkennung angeborener und therapierbarer Stoffwechselkrankheiten wie Phenylketonurie und Hormonstörungen. In den letzten Jahren ist auch ein Hörtest in das Untersuchungskonzept aufgenommen worden.
Bei der U8 werden unter anderem Beweglichkeit, Koordination, Reflexe, Muskelkraft, Aussprache und erneut der Zahnstatus des Kindes untersucht.
kU3: 4.–6. Lebenswoche
kUntersuchungen für 6- bis 10-Jährige
Die U3 findet in der Regel erstmalig beim niedergelassenen Kinderarzt statt. Im Rahmen der U3 sollen die Körperfunktionen, das Hörvermögen und speziell die Hüfte (Hüftscreening mittels Ultraschall zum Ausschluss einer Hüftdysplasie) untersucht werden.
Für die Altersgruppe der 6- bis 10-Jährigen gibt es keine bundeseinheitlichen Regelungen zur Früherkennung. § 26 SGB V in Verbindung mit der Kinderrichtlinie legt für die in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Kinder bis zur Vollendung des 6. Lebensjahrs einen Anspruch auf die Untersuchungen U1 bis U9 und nach Vollendung des 10. Lebensjahrs eine Jugendgesundheitsuntersuchung (Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses, GBA) fest.In einzelnen Bundesländern sind Maßnahmen für Kinder im Alter von 6 bis 10 Jahren vorgesehen, die in der Regel jedoch sehr allgemein gehalten sind und wenig konkrete Anhaltspunkte bieten. Schuleingangsuntersuchungen werden in allen Bundesländern durchgeführt; hier sind allerdings unterschiedliche Modelle und Schwerpunkte zu unterscheiden.
kU4 bis U7
In den Untersuchungen U4 bis U7 liegt der Schwerpunkt auf der altersgerechten körperlichen Entwicklung des Kindes, um beispielsweise zerebrale Bewegungsstörungen aufzudecken. 4 U4: 3.–4. Lebensmonat 4 U5: 6.–7. Lebensmonat 4 U6: 10.–12. Lebensmonat 4 U7: 21.–24. Lebensmonat 4 U7a: 34.–36. Lebensmonat Bei der U7a geht es vordergründig darum, allergische Erkrankungen zu erkennen, die stark zugenommen haben, daneben um den Ausschluss von Sozialisations- und Verhaltensstörungen, Essproblemen (Adipositas), Sprachentwicklungsstörungen sowie von Misshandlungen. Außerdem wird der Zahn- bzw. Gebissstatus überprüft.
kU9: 60.–64. Lebensmonat
Die U9 findet im Jahr vor der Einschulung statt und soll zur Einschätzung der Schulfähigkeit mit beitragen. Tests auf Koordinationsfähigkeit (Grob- und Feinmotorik), Sprachverständnis sowie Hör- und Sehvermögen stehen im Vordergrund.
kU10: 7.–8. Lebensjahr
U10 und U11 schließen die Lücke zwischen U9 (mit etwa 5 Jahren) und J1 (mit etwa 12 bis 14 Jahren). Schwerpunkte: Erkennen von umschriebenen Entwicklungsstörungen des Lesens, Schreibens, Rechnens, der Sprache und der Motorik sowie der Symptome einer ADHS. Bei Bedarf wird eine Therapie eingeleitet.
31
4
4.2 • Medizinische und psychologische Diagnostik
kU11: 10.–11. Lebensjahr
Über die Ziele der U10 hinaus soll diese Untersuchung schwerpunktmäßig der Bewegungs- und Sportförderung dienen, den problematischen Umgang mit Suchtmitteln erkennen und verhindern helfen, aber auch gesundheitsbewusstes Verhalten unterstützen (u. a. Ernährungs-, Bewegungs-, Stress-, Sucht- und Medienberatung). kJ1: 13.–15. Lebensjahr
In der Pubertät folgt die J1 (Jugendgesundheitsuntersuchung), bei der auf Haltungsanomalien, Impfstatus, Strumaprophylaxe, Kreislauf (Blutdruck), besondere familiäre Situationen, schulische Entwicklung, das Gesundheitsverhalten, die Motorik, Pubertätsentwicklung und Sexualverhalten geachtet wird. kJ2: 17.–18. Lebensjahr
Schwerpunkte der letzten Vorsorgeuntersuchung sind Pubertäts- und Sexualitätsstörungen, Haltungsstörungen, Kropfbildung, Diabetesvorsorge sowie Sozialisations- und Verhaltensstörungen.
Beispiel Weder bei der U6 noch bei der U7 ist ein Junge aufgefallen, der sowohl eine massive Adipositas bei Hyperphagie als auch eine deutliche muskuläre Hypotonie und ein impulsives Verhalten aufweist. Er war nicht als klinisch relevant auffällig oder gar als Verdacht auf Prader-Willi-Syndrom beschrieben worden. Das Gewicht lag bei beiden Untersuchungen über der 97. Perzentile. U-Untersuchungen machen also nur Sinn, wenn aus den wenigen erfassten Anhaltspunkten auch diagnostische oder differenzialdiagnostische Schlussfolgerungen gezogen werden. Das Beispiel demonstriert eindrucksvoll die Notwendigkeit von fächerübergreifenden Kenntnissen zum Komplex der Intelligenzminderungen.
4.2.2
Psychischer Befund
Der psychische Befund wird zum einen in der Basisdokumentation (BADO) erfasst. Zum anderen sollte er als Text Eingang in die Patientenakte finden unter Berücksichtigung folgender Merkmale: 4 Bewusstseinslage, 4 Orientierung zur Person, zum Ort und zur Zeit, 4 Kooperation, 4 Sprache/Sprachverständnis, 4 Stimmung und Affekt, 4 Aktivität/Antrieb, 4 Psychomotorik, 4 Denken (formal/inhaltlich), 4 Wahrnehmung, 4 Gedächtnis/Merkfähigkeit, 4 Angst/Zwang, 4 Suizidalität.
4.2.3
Apparative Untersuchungsverfahren
Apparative Untersuchungsmethoden dienen der Diagnosesicherung und stehen mit wenigen Ausnahmen nicht am Anfang der Diagnostik. Im Folgenden soll nur auf die relevanten Methoden außerhalb der Forschung eingegangen werden. z
Elektroenzephalographie (EEG)
Das EEG liefert keine Informationen bezüglich des Vorliegens oder der Ausprägung einer Intelligenzminderung. Somit ist es nicht bei jedem geistig behinderten Menschen notwendig. Da Menschen mit einer geistigen Behinderung eher motorisch unruhig sind, ist auch die Befundung eines Standard-EEGs (Dauer ca. 20 Minuten) durch die vielen Bewegungsartefakte nicht ganz einfach. Dennoch ist die Ableitung eines EEGs bei Verdacht auf Hirnfunktionsstörungen und bei zerebralen Krampfanfällen angezeigt. Der diagnostische Nutzen zur Abklärung einer Epi-
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4
Kapitel 4 • Der Blick auf das Besondere: störungsspezifische Diagnostik
lepsie liegt nach der Auswertung der verfügbaren Literatur nur bei 4,4% (Shevell et al. 2003), ansonsten sogar nur bei ca. 1%. Sowohl durch Provokationsmethoden (Hyperventilation, Fotostimulation, Schlafentzug) als auch durch zeitliche Ausdehnung mit Erfassung mehrerer Körperfunktionen (Schlaf-EEG, Polysomnographie, 24-Stunden-EEG) lässt sich neben speziellen Auswertmethoden die Aussagekraft des EEGs erhöhen. Limitierungen der Methode liegen in der geringen räumlichen Auflösung, in der Erfassung nur der relativ oberflächennahen Hirnstrukturen, in der Schwierigkeit, die Elektroden richtig zu setzen, und in der Abhängigkeit vom Alter sowie der Vigilanz der untersuchten Patienten. > Ein unauffälliges EEG schließt ein epileptisches Anfallsleiden nicht aus. z
Evozierte Potenziale
Bei diesen Untersuchungen werden akustisch, visuell und somatosensibel evozierte Potenziale (AEP; VEP, SSEP) gemessen und ausgewertet. 4 AEPs (akustisch evozierte Potenziale) liefern aussagefähige Befunde bei Entwicklungsstörungen, verzögerten Leitungsfunktionen wie z. B. bei einer Leukenzephalitis sowie bei organisch bedingten Hörstörungen bzw. deren Einteilung in peripher oder zentral. Das abgeleitete Potenzial ist abhängig vom Hörvermögen und der Körpertemperatur und beeinflussbar durch einige Medikamente. 4 Eine verzögerte Darstellung der VEP (visuell evozierte Potenziale) ist z. B. bei Veränderungen der Myelinscheide (hervorgerufen durch zerebrale Speicherkrankheiten, hereditäre Erkrankungen und isolierte Sehbahnerkrankungen) zu erwarten. Zum völligen Verlust der frühen VEP-Komponenten führt eine kortikale Blindheit. Da die drei veränderlichen Parameter Latenz, Amplitude und Wellenform durch eine große Zahl möglicher Affektionen verändert sein kön-
nen, sind die Aussagen relativ unspezifisch. Darüber hinaus ist die Methode sehr anfällig bei Veränderungen bzw. Nichteinhalten der Ableitparameter. 4 SSEPs (somato-sensorisch evozierte Potenziale) haben ihre Berechtigung nicht nur bei Erkrankungen des peripheren Nervensystems, sondern auch bei der Diagnostik klinisch stummer Herde des ZNS bei Verdacht auf Leukenzephalopathie. Auf die Einhaltung der Ableitbedingungen sowie auf potenziell beeinflussende Medikamte wie Antidepressiva und Benzodiazepine muss geachtet werden. z
Schädelsonographie
Die Schädelsonographie ist eine schonende, mittlerweile sehr hoch auflösende Methode zur Darstellung zerebraler und spinaler Strukturen, ist also auch zum Screening von Fehlbildungen geeignet. z
Computertomographie (CT) des Schädels
Als Vorteil des CTs ist die kostengünstige, rasche Verfügbarkeit der Methode mit ausreichender Kontrastauflösung intrakranieller Weichteilstrukturen sowie des Schädelknochens bei relativ kurzer Untersuchungszeit zu nennen. Nachteilig ist die Strahlenbelastung. Dennoch eignet sich ein CT bei der Suche nach Ursachen von Entwicklungsstörungen, zur Darstellung von Fehlbildungen, zum Nachweis von Hirnödemen, Hydrozephalus, Hirninfarkten, Raumforderungen und, gekoppelt mit der Gabe von Kontrastmittel, zur Lokalisierung vaskulärer Prozesse. z
Magnetresonanztomographie (MRT) des Schädels
Vorteile gegenüber dem CT sind das Vermeiden der Strahlenbelastung, bessere Gewebedifferenzierung und eine multidimensionale Gehirndarstellung. Auf der anderen Seite dauert die Untersuchung lange, der Aufenthalt in der Röhre ist belastend, die Untersuchung von Patienten mit
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4
4.2 • Medizinische und psychologische Diagnostik
magnetischen Fremdköpern ist limitiert, und der Einsatz im Neugeborerenalter unterliegt einigen Besonderheiten (schwache Unterscheidung von Läsionen im reifungsbedingten Defizit). Allein auf der Basis des MRT kann bei einer unbekannten Ursache die Diagnose in 0,2 bis 3,9% aller Fälle gestellt werden (van Karnebeek et al. 2005a). Die Trefferrate bezüglich zerebraler Abnormalitäten liegt bei gezielten MRT-Untersuchungen bei ca. 40%. > Verkalkungen und frische intrazerebrale Blutungen innerhalb von 3 Tagen lassen sich im CT besser als im MRT erkennen.
4.2.4
Genetische Untersuchung
Die Genetik hat innerhalb der letzten 10 Jahre immense Fortschritte gemacht, insbesondere was komplexe psychische Krankheiten angeht. Bei allen Abwägungen über Sinn und Risiken genetischer Untersuchungen darf nicht vergessen werden, wie viel Leid von genetisch determinierten Störungen für die betroffenen Patienten, aber auch für ihre Angehörigen ausgeht. Genetik als ein wissenschaftliches Werkzeug versteht sich als Dienstleistung im diagnostischen Prozess (Warnke u. Grimm 2006). Damit geht es sowohl um die Erklärung bzw. Ursachenaufdeckung eines Syndroms beim Patienten selbst als auch um Aussagen über Erkrankungsrisiken von Nachkommen oder anderen Familienmitgliedern. Ausgehend vom Konzept der Endophänotypen hat sich die genetische Entwicklungsepidemiologie entwickelt, die zu den genetischen Betrachtungen den alterskorrelierten Beginn psychischer Störungen, Krankheitsverläufe und Komorbiditäten mit ins Blickfeld rückt. Der Erfolg genetischer Studien und damit der Erkenntnisgewinn hängen aber auch von der Qualität der Phänotyp-Erfassung, also der Psychopathologie ab. Zunehmend geht es um die Auf-
deckung komplex genetischer Verursachungen, Gen-Gen- und Gen-Umwelt-Interaktionen. In einigen wenigen Fällen ist neben der Änderung unserer ätiologischen Sichtweise auf bestimmte Störungen und Erkrankungen auch ein therapeutischer Benefit, wie beim M. Gaucher Typ 1, herausgekommen. Die geistige Behinderung ist der häufigste Anlass zur klinisch-genetischen Untersuchung und Beratung. Die Trefferquote 4 von Chromosomenanalysen liegt bei 3,7%, 4 die der genetischen Diagnostik des FragilenX-Syndroms zwischen 0,7 und 2,6% und 4 die beim subtelomeren Screening um 6,6% (van Karnebeek et al. 2005a). Das Wissen um die syndromspezifische Disposition kann Eltern und Lehrern helfen, belastende Verhaltensweisen von Kindern besser zu verstehen und ihre Erwartungen und Anforderungen darauf abzustimmen (Sarimski 2006). Um letztendlich die Gendiagnostik auf eine verpflichtende gesetzliche Grundlage zu heben und eventuellem Missbrauch vorzubeugen, verabschiedete die Bundesregierung ein entsprechendes Gesetz (Gendiagnostikgesetz) zum 1.2.2010. Verantwortlich für eine genetische Untersuchung ist der anordnende Arzt und nicht das Labor. Es ist im Gesetz sogar ein Arztvorbehalt verankert. Dieser Arzt muss auch den Patienten bzw. die Sorgeberechtigten/gesetzlichen Betreuer über Zweck, Art, Umfang, Aussagekraft, Konsequenzen einschließlich Risiken aufklären und dies dokumentiern. Darüber hinaus hat er eine mindestens 10 Jahre währende Aufbewahrungspflicht. Der Patient bzw. die Sorgeberechtigten/gesetzliche Betreuer müssen schriftlich nicht nur in die Untersuchung, sondern auch in die Probenaufbewahrung bzw. Weitergabe der Untersuchungsergebnisse an Dritte einwilligen. Bei jeder prädiktiven Untersuchung ist aufgrund des Gesetzes eine zu dokumentierende genetische Beratung davor und danach erforderlich. Gesetzlich verboten sind vorgeburtli-
34
Kapitel 4 • Der Blick auf das Besondere: störungsspezifische Diagnostik
che Untersuchungen auf Erkrankungen, die erst im Erwachsenenalter auftreten können (RichterKuhlmann 2010).
4.2.5
4
Psychologisch-psychometrische Untersuchung1
Die Ziele der (neuro-)psychologischen Diagnostik sind insbesondere die valide Klassifikation des Schweregrads der intellektuellen Behinderung mit der Feststellung, in welchem Ausmaß Beeinträchtigungen der kognitiven Fähigkeiten vorliegen, sowie auch die Erfassung von individuellen Stärken. Aus den differentiellen Untersuchungsergebnissen lassen sich darüber hinaus unmittelbar Hinweise ableiten: 4 für den angemessenen und förderlichen Umgang im Alltag nach Maßgabe der vorliegenden Fähigkeiten, Potenziale und Möglichkeiten, 4 für die Einleitung spezifischer heilpädagogischer Übungs- und Förderprogramme (z. B. Sprache, Motorik, Wahrnehmung), 4 für die angemessene Beschulung und berufliche Eingliederung, 4 für den Verlauf der Entwicklung in unterschiedlichen Fähigkeitsbereichen. Die Durchführung dieser differenzierten diagnostischen Untersuchungen ist erfahrenen Psychologen oder speziell ausgebildeten Heil- oder Sonderpädagogen vorbehalten. z
Spektrum der Testverfahren
Zur Basisdiagnostik gehört eine ausführliche Untersuchung der Intelligenz mit standardisierten sprachgebundenen Intelligenztests und sprachfreien Tests, z. B. der Snijders-Oomen Nicht-verbale Intelligenztest SON R2½–7, die Coloured Progressive Matrices CPM 3;8–12;0 Jahre, 1
Mod. und erw. nach Stahl u. Irblich 2005 sowie Sarimski u. Steinhausen 2008a.
die Grundintelligenztests CFT 1 (5;3–9;5 Jahre) und CFT 20 (9–18 Jahre) bzw. eine Entwicklungsdiagnostik, wenn eine Intelligenztestung aufgrund der Beeinträchtigung und Kooperationsfähigkeit nicht möglich ist. Die folgenden Darstellungen von Testverfahren (. Tab. 4.2 und . Tab. 4.3) sind eine Auswahl und spiegeln nicht das gesamte Spektrum existierender Tests wider. Da entsprechend der Definition der Entwicklungsstand als Referenzgröße dient, vor deren Hintergrund die Verhaltensauffälligkeiten erst als pathologisch eingestuft werden, kommt der Entwicklungs- und Intelligenzdiagnostik eine basale Bedeutung zu. Je jünger die zu testenden Kinder sind, desto schwieriger ist die Testdurchführung. Der Untersucher bedarf nicht nur großer Erfahrungen im Umgang mit dem Testmaterial, sondern auch mit Kindern der speziellen Altersstufen. Aufgrund höherer Interkorrelationen unterschiedlicher Entwicklungsbereiche gestaltet sich die Diagnostik umschriebener Entwicklungsstörungen besonders schwierig. > Bei einem zu erwartenden IQ unter 40 helfen uns die erwähnten Intelligenztests nichts, da sie nur im Bereich oberhalb eines IQs von 40/45 valide Befunde liefern. Sprachfreie Intelligenztests eignen sich bei anzunehmender niedriger Intelligenz besser als sprachgebundene.
Ergänzend werden Leistungen, Fertigkeiten, Verhalten und spezielle Symptome mit speziellen standardisierten Verfahren für die zugrunde liegende Subpopulation erfasst: 4 Einbeziehen von Arbeitsproben und Beobachtungen (z. B. vom Malen, beim Spielen, Alltagsfertigkeiten beim Essen, Anziehen usw., Kulturtechniken); 4 Erfassung spezieller Funktionen, z. B. mit neuropsychologischen Verfahren wie TÜKI; vgl. . Tab. 4.3, Zürcher Neuromotorik (5–18 Jahre), speziellen Untertests der Leis-
4
35 4.2 • Medizinische und psychologische Diagnostik
. Tab. 4.2 Leistungs- und Entwicklungsdiagnostik im Vorschulalter. (Mod. nach Resch et al. 2004) Testname
Autor(en)
Inhalt
Alter
Dauer [min]
Bayley Scales
Bayley 1993
Erfassung des kognitiven und motorischen Entwicklungsstands nebst Verhaltens- und Temperamentsauffälligkeiten
0–42 Mon.
45–60
Griffith-Skalen
Brandt 1983
Entwicklung in Motorik, Persönlichkeit, Sozialverhalten, Hören, Sprache, Kognition
0–2 J.
20–45
Münchner funktioneller Entwicklungstest (MFED)
Hellbrügge et al. 1994
Entwicklungsstand/-alter in Motorik, Sprache Sozialverhalten
0–3 J.
ca. 50
Entwicklungsgitter
Kiphard 2000
Tabellarische Entwicklungs-prüfung (Spätentwicklung); 6 Kategorien, nur zum Teil normiert
0–4 J.
60–90
Entwicklungstest für Kinder (ET 0;6–6)
Petermann und Stein 2000
7 Skalen Körpermotorik, Handmotorik, kognitive Entwicklung, Sprachentwicklung, soziale und emotionale Entwicklung
6 Mon.–6 J.
k. A.
Sprachentwicklungstest (SETK-2)
Grimm 2000
4 Untertests erfassen rezeptive und expressive Sprachleistungen
2 J.
25
Kaufman Assessment Battery for Children (K-ABC)
Melchers und Preuss 1994
16 Untertests zur Erfassung intellektueller Fähigkeiten und Fertigkeiten
2,5–12½ J.
40–90
Wiener Entwicklungstest
Kastner-Koller et al. 1998
13 Untertests zu Motorik, Wahrnehmung, Gedächtnis, kognitiven, sprachlichen und sozialen Fähigkeiten
3–6 J.
ca. 60
Heidelberger Sprachentwicklungstest (HSET)
Grimm und Schöler 1991
13 Untertests zur differenzierten Sprachentwicklungsdiagnostik
3–9 J.
40–80
Psycholinguistischer Entwicklungstest (PET)
Angermeier 1977
12 Untertests zur Erfassung sprachlicher Kommunikation und basaler kognitiver Funktionen
3–10 J.
60–90
Hannover-Wechsler-Intelligenztest für das Vorschulalter (HAWIVA)
Eggert 1975
Frühdiagnostik der Intelligenz, Revision 2001
4–6½ J.
ca. 45
Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung (FEW)
Frostig 1979
5 Untertests zur Erfassung visueller Wahrnehmungsfunktionen
4–9 J.
30–40
Graphomotorische Testbatterie (GMT)
Rudolf 1986
7 Untertests zur graphomotorischen Entwicklung
4–7 J.
ca. 45
Motoriktest (MOT 4–6)
Zimmer et al. 1987
18 Aufgaben zur Prüfung der feinund grobmotorischen Entwicklung
4–6 J:
15–20
Fortlaufende visuelle Wiedererkennungsaufgabe
Kessler und Pietrzyk 2000
Form S8, Prüfung von Gedächtnisleistungen
6–9 J.
ca. 15
36
Kapitel 4 • Der Blick auf das Besondere: störungsspezifische Diagnostik
. Tab. 4.3 Leistungs- und Entwicklungsdiagnostik im Grundschulalter (Mod. nach Resch et al. 2004)
4
Testname
Autor(en)
Inhalt
Alter
Dauer [min]
Coloured Progressive Matrices
Schmidtke et al. 1980
3 Untertests à12 Items zur Ergänzung geometrischer Figuren und Muster (sprachunabhängig)
4¾– 11 J.
abhängig von der Intelligenz
Tübinger Luria-Christensen Neuropsychologische Untersuchungsreihe für Kinder (TÜKI)
Deegener et al. 1997
9 Untertests zur Testung von Motorik, Wahrnehmung, Denkprozessen und Sprache
5–16 J.
bis 120
Grundintelligenztest Skala 1 (CFT 1)
Weiß et al. 1997
5 Untertests zur Erfassung visueller Wahrnehmungsgeschwindigkeit und sprachfreier Denkkapazität
5–9 J.
ca. 30
Grundintelligenztest Skala 2 (CFT 20)
Weiß 1997
2 Testteile mit je 4 Untertests zur Erfassung nichtsprachlicher Denkfähigkeit
ab 9 J.
ca. 45
Hamburg-Wechsler Intelligenztest für Kinder (HAWIK III)
Tewes et al. 2000
10 Untertests plus 3 Zusatztests zur Erfassung verbaler und manuell-visueller Intelligenzaspekte
6–17 J.
60–90
Adaptives Intelligenz-Diagnostikum (AID)
Kubinger et al. 1991
11Untertests plus 3 Zusatztests, Spektrum wie beim HAWIK III
6–16 J.
30–70
tungsverfahren oder Skalen der Entwicklungsverfahren; 4 Beurteilung adaptiver Kompetenzen mit dem Heidelberger Kompetenz-Inventar (HKI) für Schulkinder zwischen 7 und 16 Jahren; 4 Fragebogen zur Erfassung des Verhaltens und der gegenwärtigen sozialen Anpassungsfähigkeit, z. B. Verhaltensfragebogen für Kinder mit Entwicklungsstörungen (VFE, s. Hinweise unten); Vineland Social Maturity Scale (deutsche Kurzform); Vineland Adaptive Behavior Scales; Adaptive Behavior Scale; Nisonger Beurteilungsbogen für das Verhalten von behinderten Kindern (NCBRF, s. Hinweise unten); Aberrant Behavior Checklist (ABC); Psychiatric Assessment Schedule for Adults with a Developmental Disability (PAS-ADD, deutsche Bearbeitung); Mood, Interest & Pleasure Questionnaire (MIPQ, deutsche Übersetzung);
4 Erfassung aggressiven Verhaltens, z. B. mit der Modified Overt Aggression Scale (MOAS in deutscher Übersetzung), dem Frankfurter Aggressionsfragebogen (FAF), dem Disability Assessment Schedule (DAS, in deutscher Übersetzung) oder dem Behavior Problem Inventory (BPI-01 in deutscher Übersetzung); 4 Erfassung von Hilfe- und Beratungsbedürfnissen sowie des Bewältigungsverhaltens von Eltern (Soziale Orientierungen von Eltern behinderter Kinder, SOEBEK; Fragebogen zu Bedürfnissen von Eltern behinderter Kinder, BEK). Während für den BEK keine normorientierte Auswertung vorgesehen ist, liegen für den SOEBEK deutsche Normen vor. 4 Verhaltensbeobachtung: 5 freie Verhaltensbeobachtung mit dem Ziel, erste Informationen über unterschiedliche Kontexte hinweg zu sammeln,
37
4
4.2 • Medizinische und psychologische Diagnostik
5 systematische Verhaltensbeobachtung mit speziellen Techniken wie schriftliche Aufzeichnung oder Videoaufnahme 4 Experimentelle funktionale Analyse (EFA) mit systematischer Variation von Testbedingungen, mit deren Hilfe die dem Verhalten zugrunde liegenden bzw. aufrechterhaltenden Faktoren überprüft werden (zeitaufwendig und im Ergebnis abhängig von den agierenden/anwesenden Personen (Hastings u. Noone 2005). In einem weiteren Untersuchungsgang geht es im Rahmen einer multimodalen, multidimensionalen und multiprofessionellen Diagnostik um die Erfassung biologischer und psychosozialer Risiken als mögliche Ursache für komorbide und koinzidente psychische Störungen. Der diagnostische Prozess unterscheidet sich nur marginal von dem bei nicht geistig Behinderten. Er sollte aber erfahrenen Psychologen und Psychologinnen vorbehalten bleiben. Hinweise zu VFE und NCBRF Als Screeninginstrumente haben sich sowohl der VFE als auch der NCBRF bewährt. Mit dem VFE kann in 5 Skalen mit insgesamt 96 Merkmalen ein breites Spektrum an Auffälligkeiten im Verhalten und Befinden bei Kindern mit geistiger Behinderung beurteilt werden. Diese 5 Skalen sind bezeichnet mit disruptiv/ antisozial, selbst-absorbiert, Kommunikationsstörung, Angst, soziale Beziehungsstörung.Das Verfahren ist nicht nur valide und reliabel, sondern es liegen auch deutsche Normen vor, separat für leicht, mittelgradig und schwer behinderte Kinder und Jugendliche im Alter von 4 bis 17 Jahren (Steinhausen u. Winkler Metzke 2005). Der NCBRF erfasst sowohl positives Sozialverhalten auf 2 Skalen (ruhig, kooperativ und sozial angepasst) als auch problematisches Verhalten auf 6 Skalen (oppositionell-aggressiv, sozial unsicher, hyperaktiv, zwanghaft, selbstverletzend und reizempfindlich). Deutsche Vergleichswerte liegen in Form einer Untersuchung durch Sarimski (2004) an 246 Kindern mit geistiger Behinderung vor. Beide Beurteilungsbögen, die durch die Eltern oder auch andere Bezugspersonen ausgefüllt werden können, sind enthalten in: »Geistige Behinderung und schwere Entwicklungsstörung – KIDS 2« (Sarimski u. Steinhausen 2007).
4.2.6
Interventionsrelevante Diagnostik unter multiaxialen Gesichtspunkten
Wie bereits mehrfach erwähnt, ist Intelligenzminderung häufig mit somatischen und/oder psychischen Störungen assoziiert. Diese werden ebenso wie umschriebene Entwicklungsstörungen, assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände und die Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung auf den 6 Achsen nach MAS erfasst. Die Intelligenzminderung wird nach MAS auf Achse 3 entsprechend der Schweregradeinteilung kodiert: 4 4: niedrige Intelligenz, IQ 70–84; 4 5: leichte Intelligenzminderung, IQ 50–69; 4 6: mittelgradige Intelligenzminderung, IQ 35–49; 4 7: schwere Intelligenzminderung, IQ 20–34; 4 8: schwerste Intelligenzminderung, IQ Die Items der Achse 5 sollten nicht unverschlüsselt auf Arztbriefen erscheinen, da viele Eltern mit der deutlichen Benennung der Probleme nicht einverstanden sind und die weitere Compliance dadurch gefährdet ist. Eine Aufzählung der Ziffern hat sich hier mehr bewährt.
und sei ihr »Sonnenschein«. Sie selbst sei wegen Ängsten und Depressionen in psychiatrischer Behandlung. Wegen massiver Verhaltensauffälligkeiten erfolgte 2009 die Einweisung in eine Heimeinrichtung. Auf der MAS-Achse 5 würden folgende assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände verschlüsselt werden (7 folgende Übersicht). Da es sich bei der Migration und den Geburten der Halbgeschwister um keine aktuellen Ereignisse handelte, wurden sie nicht mit »2=trifft zu« kodiert. Auf der Achse 6 wird der Junge für eine »ständige Betreuung (24-Stunden-Versorgung)« eingeschätzt. 1
Beispiel Ein 12 Jahre alter Junge wird aus einer Heimeinrichtung in der Tagesklinik aufgenommen, da er wiederholt Mädchen in der Schule für individuelle Lebensbewältigung ernsthaft gewürgt hat. Die Eltern sind 1999, als er 1 Jahr alt war, nach eigenen Angaben aus einer ehemaligen Sowjetrepublik wegen unsicherer Lebensverhältnisse nach Deutschland gekommen. Der Kindesvater trank nach Angaben der Kindesmutter täglich 2–6 Flaschen Bier, war unter dem Einfluss von Alkohol gereizt und gewalttätig, insbesondere ihr, aber auch dem Kind gegenüber. 2002 verünglückte er infolge einer alkoholischen Beeinträchtigung tödlich. 2003 heiratete die Mutter einen Deutschen, der als Fernfahrer nur an den Wochenenden zu Hause ist. Aus dieser Beziehung gingen 2 Kinder hervor, wobei 2007 die damals 1½-jährige Halbschwester plötzlich verstarb. Unser Patient wurde nach 1 Jahr Zurückstellung von der Schule in die Förderschule eingeschult, von wo er mit der 5. Klasse wegen mangelnder Buchstabenkenntnisse auf die Schule für individuelle Lebensbewältigung wechseln musste. Nach Aussagen der Mutter war und ist er kein Wunschkind. Sein 2004 geborener Halbbruder, der zu Hause lebt, sei völlig normal entwickelt
Abnorme intrafamiliäre Beziehungen
1.0 Mangel an Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung
2
1.1 Disharmonie in der Familie zwischen Erwachsenen
1
1.2 Feindliche Ablehnung/Sündenbockzuweisung gegenüber Kind
2
1.3 Körperliche Kindesmisshandlung
1
1.4 Sexueller Missbrauch (innerhalb der Familie)
1
1.8 Andere
2
2
Psychische Störungen, abweichendes Verhalten oder Behinderung in der Familie
2.0 Psychische Störung/abweichendes Verhalten eines Elternteils
2
2.1 Behinderung eines Elternteils
1
2.3 Behinderung der Geschwister
1
2.8 Andere
1
3
Inadäquate/verzerrte intrafamiliäre Kommunikation
–
4
Abnorme Erziehungsbedingungen
2
4.0 Elterliche Überfürsorge
1
4.1 Unzureichende elterliche Aufsicht/ Steuerung
9
4.2 Erziehung, die eine unzureichende Erfahrung vermittelt
1
4.3 Unangemessene Anforderungen/Nötigung durch Eltern
1
39
4
4.3 • Auswahl spezifischer Syndrome
4.8 Andere 5
1
Abnorme unmittelbare Umgebung
5.0 Erziehung in einer Institution
2
5.1 Abweichende Elternsituation
2
5.2 Isolierte Familie
2
5.3 Lebensbedingungen mit möglicher psychosozialer Gefährdung
1
5.8 Andere
1
6
Akute, belastende Lebensereignisse
6.0 Verlust einer Liebes- oder engen Beziehung
2
6.1 Bedrohliche Umstände infolge Fremdunterbringung
2
6.2 Negative veränderte familiäre Beziehungen durch neue Familienmitglieder
1
6.3 Ereignisse, die zur Herabsetzung der Selbstachtung führen
2
6.4 Sexueller Missbrauch (außerhalb der Familie)
1
6.5 Unmittelbare, beängstigende Ereignisse
2
6.8 Andere
1
7
7.0 Verfolgung oder Diskriminierung
1
7.1 Migration oder soziale Verpflanzung
1
7.8 Andere
1
8
2
8.1 Abnorme Streitbeziehungen mit Schülern/Mitarbeitern
2
8.1 Sündenbockzuweisung durch Lehrer/ Ausbilder
2
8.2 Allgemeine Unruhe in Schule/Arbeitssituation
2
8.2 Andere
1
9
Belastende Lebensereignisse infolge von Verhaltensstörungen oder Behinderungen des Kindes
9.0 Institutionelle Erziehung
2
9.1 Bedrohliche Umstände infolge Fremdunterbringung
2
9.2 Abhängige Ereignisse, die zur Herabsetzung der Selbstachtung führen
1
9.8 Andere
1
Auswahl spezifischer Syndrome
Die . Tab. 4.4 enthält eine Auswahl wichtiger genetischer Syndrome mit ihren typischen Verhaltensphänotypen, von denen im weiteren Text einige näher beschrieben werden. Beim Auftreten charakteristischer Verhaltensmerkmale sollte nicht nur an die aufgeführten Syndrome gedacht, sondern unter Beachtung aller Pro- und Contra-Argumente auch eine genetische Diagnostik unter Berücksichtigung der Auflagen des neuen Gendiagnostikgesetzes veranlasst werden. Insbesondere bei weiterem Kinderwunsch ist eine genetische Diagnostik in Hinsicht auf eine fundiertere Aufklärung angezeigt.
4.3.1
Gesellschaftliche Belastungsfaktoren
Chronische Belastungen im Zusammenhang mit Schule oder Arbeit
4.3
Trisomie 21 (M. Down)
Allgemeines Der Kinderarzt Down beschrieb im Jahr 1866 erstmals das Krankheitsbild. Die Ursache für das Morbus-Down-Syndrom ist die Trisomie 21. Diese Chromosomenanomalie, bei der ein Chromosom dreifach statt doppelt vorhanden ist, wurde 1959 von Lejeune erkannt (Neuhäuser u. Steinhausen 2003). 4 Das Morbus-Down-Syndrom ist die häufigste Chromosomenanomalie. Sie kommt bei einem von 700 bis 1000 neugeborenen Kindern vor (Chiurazzi u. Oostra 2000). 4 Innerhalb der Gesamtgruppe von geistig Behinderten machen die Down-Betroffenen 15–25% aus. 4 Für die Chromosomenanomalie ist hauptsächlich das Alter der Mutter verantwortlich. Bei einem Alter der Mutter über 40 Jahre ist das Risiko für die Geburt eines Kindes mit M. Down 50-fach höher. Die Überlebenschancen bei Trisomie 21 betragen 4 nach dem 1. Lebensjahr 91% und 4 nach dem 10. Lebensjahr 85% (Leonard et al. 2000);
40
Kapitel 4 • Der Blick auf das Besondere: störungsspezifische Diagnostik
. Tab. 4.4 Häufige Chromosomenaberrationen. (McElwee u. Bernard 2002; Moss et al. 2009)
4
Syndrom
Genetische Marker
Häufigkeit
Intelligenzminderung
Verhaltensphänotyp
Trisomie 21
Freie Trisomie 21, Translokation und Mosaik
1:700– 1000
Leicht
Häufig keine Psychopathologie, Defizit im verbalen Kurzzeitgedächtnis, im Alter häufig Demenz
Angelmann
Chr 15, q11–13
1:12.000– 25.000
Schwer bis schwerst
Puppenartige Bewegungen, heitere bis fröhliche Grundstimmung mit häufig situationsinadäquatem Lachen, Epilepsie
PraderWilli
Chr 15, q11–13
1:10.000– 50.000
Leicht bis mittelgradig
Ab dem 3. Lebensjahr Fressattacken, aggressive Nahrungssuche, zwanghaftes Verhalten, SVV
Cornelia de Lange
Chr 5, p13, Chr X, p11.2, Chr 10
1:10.000– 50.000
Leicht bis schwerst
Stereotypes Verhalten, Situationsverharren, Beißen
Cri du Chat
Chr 5, p15
1:50.000
Mittelgradig bis schwer
Schaukeln des Körpers, Echolalie, SVV
Fragiles X
Chr X, q27.3
1:4000m 1:8000w
Leicht bis mittelgradig
ADHS, mangelnde Impulskontrolle, SVV, Probleme in Informationsverarbeitung, autistische Züge, Perseverationen, bei Mädchen eher Depression, Epilepsie
Lowe
Chr X, q25–26
1:200.000
Keine bis schwerst
Repetitive Handbewegungen, Manirismen, Rituale
Smith-Magensis
Chr 17, p11.2
1:25.000
Mittelgradig bis schwerst
Objekte zum Mund führen, eingeschränkte Interessen, Perseverationen, in die Hand beißen, Schlafstörungen
Turner
Chr X nur einmal
1:2500; nur weiblich
Keine bis leicht; Diskrepanz zwischen Verbal-und Handlungs-IQ
Antriebslosigkeit, Aufmerksamkeitsprobleme, Dyskalkulie, Probleme mit visuell-räumlichem Arbeitsgedächtnis
Velo-cardial-facial
Chr 22, p11
1:4500
Leicht bis schwer
Bipolare Störungen und Psychosen
4 nach dem 60. Lebensjahr 40% und 4 nach dem 68. Lebensjahr 13% (van Allen et al. 1999). Eine kausale Behandlung der Trisomie 21 ist nicht möglich. z
Ursachen
Drei verschiedene Entstehungsprozesse einer Trisomie 21 werden beschrieben:
4 In 90% der Fälle liegt eine »freie« Trisomie 21 vor. Ursache ist eine Non-Disjunktion bei der Entstehung mütterlicher bzw. väterlicher Keimzellen oder bei den ersten Teilungen nach der Befruchtung. In dem Fall wird das Chromosomenpaar 21 nicht getrennt. 4 Bei 8–10% findet man eine Translokation. In dem Fall ist das Chromosom 21 mit einem anderen akrozentrischen Chromo-
41
4
4.3 • Auswahl spezifischer Syndrome
som verbunden. Sie kann neu entstanden oder vererbt sein. 4 Bei 1–2% der Kinder liegt ein Mosaik vor. Hier gibt es neben der Zelllinie mit dem überzähligen Chromosom 21 Zellen mit normalem Chromosomensatz. Ursache ist eine Non-Disjunktion während der ersten Zellteilungen nach der Befruchtung, sodass unterschiedliche Zelllinien entstehen. z
Symptome
Menschen mit Morbus-Down-Syndrom zeigen spezifische morphologische Merkmale. Dazu zählen unter anderem: schräg stehende Lidachsen, weiter Augenabstand, flache Nasenwurzel, große, furchige, oftmals vorgestreckte Zunge und Wangenrötung. In der Iris sieht man »Brushfield-Flecken«, die Ohren sind klein, die Nackenhaut ist leicht abzuheben. Die Finger und Hände sind kurz und plump, der 5. Finger zeigt eine Klinodaktylie. Es liegt oft eine Vierfingerfurche sowie eine Veränderung des Hautleistenmusters vor. Zu den großen Fehlbildungen zählen vor allem die Herzfehler. Besonders AV-Kanal und isolierte Septumdefekte werden beschrieben. Ebenfalls häufig kommen Darmatresien vor, etwa die Ösophagusatresie, die Duodenalstenose und die Analatresie. Die geistige Entwicklung bei Menschen mit Morbus-Down-Syndrom ist fast immer verzögert. Nach Statistiken liegt der IQ zwischen 30 und 70. Dabei sind Imitationsvermögen und soziale Fertigkeiten oft gut entwickelt. Beginnt man frühzeitig mit pädagogischen Fördermaßnahmen, sind die Ergebnisse meist erfreulich. Soziale Integration und Selbstständigkeit können erreicht werden. Personen mit Morbus-Down-Syndrom haben eine liebenswert-freundliche Wesensart. Sie sind musisch ansprechbar, meist fröhlich und ausgeglichen. Probleme können auftreten durch Hyperaktivität, Bockigkeit, Trotz oder starke Antriebsminderung.
Mit Trisomie 21 assoziierte Probleme Demenz-Risiko Aufgrund einer pathologischen Spaltung des Amyloid-Vorläuferproteins (Amyloid Precursor Protein, APP), die durch einen Mangel des Neurotransmitters Acetylcholin verursacht wird, kommt es zu einer Aggregation des β-A4-Proteins, wobei die Amyloidablagerungen hauptsächlich im Gehirn erfolgen. Das Gen für das APP ist auf dem Chromosom 21 lokalisiert. Da dieses Chromosom bei Trisomie 21 in dreifacher Ausführung vorliegt, kommt es zu einer vier- bis fünffachen Menge an APP. > Rund 50% dieser Down-Patienten entwickeln bis zum 60. Lebensjahr eine Alzheimer-Demenz.
Der Zusammenhang von Alter und Demenz beim Down-Syndrom ist seit 1976 bekannt. Die Untersuchungen von Lai u. Williams (1983) und van Allen et al. (1999) kamen zu alterskorrelierten Prävalenzen einer Alzheimer-Demenz beim M. Down: 4 Im Alter zwischen 35 und 49 Jahren lag die Prävalenz noch bei 8%. 4 Bei den 50- bis 59-Jährigen betrug sie schon 55%. 4 Der Anteil bei den über 60-Jährigen lag sogar bei 75%. Männer sind rund dreimal so häufig betroffen wie Frauen. Rückzugsverhalten, Abnahme der Selbstversorgung, Schwierigkeiten bei der Verständigung, Apathie und spätere komplette Hilflosigkeit sprechen für eine Alzheimer-Demenz. Es müssen jedoch Differentialdiagnosen wie Hypothyreose, Depression und Hör- und Sehprobleme berücksichtigt werden. kDifferenzierende Untersuchungen (Carr 1994)
Carr publizierte 1994 eine eigene Langzeitbeobachtung von Down–Syndrom-Patienten. Er
42
Kapitel 4 • Der Blick auf das Besondere: störungsspezifische Diagnostik
. Tab. 4.5 MRT-Befunde von entwicklungsbedingten Abweichungen des Gehirns bei M. Down
4
Hirnregionen
Effekte
Literatur
Hirnvolumen total – Graue Substanz – Weiße Substanz
– – –
Pinter et al. 2001
Kleinhirnvolumen
–
Pinter et al. 2001
Hippocampus
–
Pinter et al. 2001
Amygdala
–
Pinter et al. 2001
Parahippocampaler Gyrus
+
Raz et al. 1995
Frontalhirn
+/–
Pinter et al. 2001
Parietallappen
+
Pinter et al. 2001
Temporallappen
+
Pinter et al. 2001
Okzipitallappen
+/–
Pinter et al. 2001
Planum temporale
–
Frangou et al. 1997
Lentikularer Nucleus
+
Pinter et al. 2001
Thalamus und Hypothalamus
+
Jernigan et al. 1993
Ventrikel
+
Pearlson et al. 1998
Corpus callosum
– (Rostrum)
Wang et al. 1992
– Volumenminderung, + Volumenzunahme, +/– keine Veränderung.
stellte fest, dass sich die Abnahme des IQ bei Kindern und Jugendlichen nicht im Erwachsenenalter fortsetzt und das Vorhandensein von neuropathologischen Alzheimer-Veränderungen nicht zwingend auf eine klinische Demenz-
symptomatik schließen lässt. Nicht bei allen Down–Syndrom-Patienten mit typischen neuropathologische Veränderungen hätte sich auch ein demenzieller Abbau gezeigt. Auch trete die Klinik der Demenz erst später auf als von der Neuropathologie her zu erwarten ist. So hatten in einer Post-mortem-Studie 40-jährige Patienten mit Down-Syndrom neuropathologische Veränderungen, die die Kriterien für eine Alzheimer-Erkrankung erfüllten (Mann et al. 1984), ohne dass Zeichen einer Demenz aufgefallen waren. Die frühesten pathologischen Veränderungen treten im medialen Temporallappen auf. Bei all diesen Befunden darf nicht vergessen wer-
den, dass beim M. Down unabhängig von einer Demenz entwicklungsbedingte pathologische Veränderungen auftreten, die von degenerativen, altersabhängigen Prozessen unterschieden werden müssen (Teipel u. Hampel 2006). Einen Überblick über entsprechende MRT-Befunde gibt . Tab. 4.5. Bezüglich der mentalen Gesundheit sind Down–Syndrom-Patienten den Untersuchungen Carrs zufolge weniger anfällig für psychiatrische Erkrankungen, z. B. Neurosen und Schizophrenien, als andere Patienten mit Lernschwäche. Es seien bei 10 und 29% Depressionen festzustellen, die häufig zur Fehldiagnose einer Demenz führen können. Manie sei eine Diagnose, die man nicht für kompatibel mit einem Down-Syndrom ansah, allerdings wurde sie in einigen wenigen Fällen beschrieben. Auch erwähnte Carr (1994) in seiner Übersichtsarbeit, dass zweimal
43
4
4.3 • Auswahl spezifischer Syndrome
Anorexien bei Down-Syndrom verhaltensthe-
rapeutisch behandelt wurden, einmal sogar mit gutem Erfolg. Selbstverletzungen seien eher selten.
Während Collacott 1993 in der Leicestershire-Studie bei nur 10% aller Down-Patienten eine Epilepsie diagnostizierte, gehen van Allen et al. (1999) von 36,8% Spätmanifestationen (adult onset epilepsy) aus.
kWeitere Studien zu Verhaltensauffälligkeiten
Cosgrave et al. veröffentlichten 1999 das Ergebnis ihrer Querschnittsuntersuchung von 128 älteren Down–Syndrom-Patienten, darunter 29 Personen mit einer Demenz. Es wurde bei allen aggressives, angepasstes und unangepasstes Verhalten analysiert. Das Vorliegen einer Demenz ließ nicht zwangsläufig auf eine Entwicklung von aggressiven Verhaltensstörungen schließen. Allerdings zeigten Demenz-Patienten mit niedrigem kognitivem Niveau eher auch ein niedriges Niveau von angepasstem Verhalten. Aggressives Verhalten sei aber generell nicht häufiger bei Down-Syndrom-Patienten mit Demenz als bei denen ohne dementielle Symptome. Prasher (1993) untersuchte weitere Verhaltensstörungen, die bei Down-SyndromPatienten mit einer diagnostizierten Demenz auftraten. Dabei waren Veränderungen in Stimmung, Kommunikationsschwierigkeiten, Gangstörungen, Nachlassen in der Selbstversorgung, Schlafstörungen, Umherwandern sowie Harninkontinenz im Zusammenhang mit Demenz nachzuweisen. Bereits 1994 postulierte er, dass 10 Jahre zwischen neuropathologischen Alzheimer-Veränderungen und klinischem Beginn einer Demenz lägen. In einer aktuellen Studie an 506 Patienten mit Trisomie 21 verdoppelte sich die Demenzprävalenz alle 5 Jahre: 4 8,9% bei den 49-Jährigen, 4 17,7% bei den 50- bis 54-Jährigen und 4 32,1% bei den 55- bis 59-Jährigen. Über 60 Jahre nimmt die Häufigkeit an demenzerkrankten Trisomie-21-Patienten ab, da diese eine höhere Mortalität von 44% gegenüber 10,7% der gleichaltrigen nicht dementen Patienten aufwiesen (Coppus et al. 2006).
z
Einschränkungen im Alltag
In der Kategorie Selbsthilfe und Unabhängigkeit wurde nachgewiesen, dass insgesamt zwei Drittel der vom Down–Syndrom Betroffenen zur Selbstständigkeit bei der Nahrungsaufnahme und Körperhygiene fähig waren, einschließlich Bekleiden, Waschen, Baden, Toilettengang; ein Viertel der Betroffenen konnten sich sogar selbst die Haare waschen. Bei der Durchsicht der unterschiedlichen Studienergebnisse wurde eine strenge Korrelation von IQ und Selbsthilfe festgestellt. z
Persönlichkeit und Verhalten
Carr (1994) hat Charakter- bzw. Temperamentsstereotypien für das Down-Syndrom nachweisen können, die als Herzlichkeit, nachahmendes Verhalten, Heiterkeit und Musikliebe imponierten. Insgesamt wurden Down–Syndrom-Betroffene positiver, d. h. im Verhalten angemessener, eingeschätzt als andere geistig Behinderte. Sie seien rücksichtsvoller, freundlicher und kritischer. Ein Viertel der Untersuchten hätten »milde« Tics, die Hälfte bis zwei Drittel seien eigensinnig, ein Fünftel passiv und zurückgezogen, zurückhaltend in der Kommunikation und im Sozialverhalten. Der Autor sieht letztere Symptomatik als mögliches Zeichen einer beginnenden Depression oder Demenz. Insgesamt seien die Betroffenen leichter führbar, besonders im jüngeren Alter. 50 bis 60% würden sehr gern ihre Freizeit mit Musikhören, Zeichnen, Malen, Bücheranschauen sowie Fernsehen verbringen. Die Häufigkeit der sportlichen Betätigung variiert. Bis zu 75% bevorzugen Schwimmen, Tischtennis und organisiertes Spielen. 5 bis 66% würden Clubs für Behinderte besuchen. Drei Viertel hätten einen
44
4
Kapitel 4 • Der Blick auf das Besondere: störungsspezifische Diagnostik
oder mehrere Freunde, ein Drittel hätte einen besten Freund. Ein Drittel seiner Down–Syndrom-Klientel habe die Absicht zu heiraten, 40% hätten einen festen Freund/feste Freundin und Sexualpartner/-in. Noch Mitte der Neunzigerjahre hatten die Eltern bzw. Betreuer von Morbus-Down-Betroffenen eine sehr restriktive Einstellung zur sexuellen Selbstbestimmung ihrer Kinder bzw. Betreuten (Shepperdson 1995).
4.3.2
Rett-Syndrom (F84.2)
Das Rett-Syndrom zählt zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung F84.2. Von den neurologischen Abweichungen wird hauptsächlich das weibliche Geschlecht befallen. Die Erstbeschreibung anhand von 22 Fällen erfolgte bereits 1966 durch Rett. Da es eine Überlappung zur autistischen Störung gibt, wurden Betroffene mit einem Rett-Syndrom lange Zeit als Autisten angesehen. Die typischen Merkmale sind regressives Verhalten, Verlust händischer Fähigkeiten im Alter zwischen 6 und 30 Monaten, Apraxie, Zurückbleiben des Kopfumfangs, zunehmende Spastik, zerebrale Anfälle und Skoliose. Der Verhaltensphänotyp umfasst stereotype Handbewegungen, Hyperventilation und auffällige Atembewegungen (Regulationsprobleme wie Luftschlucken und Aufblähen des Bauchs mit Luft) sowie darüber hinaus autistische Verhaltensmuster, Grimassieren, repetitive Mund- und Zungenbewegungen, Schlafstörungen, nächtliches Schreien, Angst und Stimmungstiefs/rasche Stimmungswechsel (Mount et al. 2003a). Während nächtliches Lachen mit zunehmendem Alter abnimmt, nehmen nächtliche epileptische Anfälle zu (Young et al. 2007). Ursache des Rett-Syndroms ist eine Mutation im Methyl-CpG-Bindungsprotein 2-Gen (MECP2). Bisher sind über 200 unterschiedliche pathogene MECP2-Mutationen bekannt, von denen einige mit milderen und andere mit
schwereren klinischen Symptomen assoziiert sind (Ham et al. 2005). Da fast die Hälfte aller betroffenen Mädchen auch Störungen in der Nahrungsaufnahme zeigen und der Body-MassIndex dadurch sehr niedrig ist sowie zusätzliche gastrointestinale Probleme auftreten, bedarf es einer engen Zusammenarbeit verschiedener Facharztdisziplinen (Prior et al. 2009).Während sich Mädchen mit einem Rett-Syndrom in ihrem Verhalten signifikant von anderen geistig behinderten Mädchen unterscheiden durch mehr Handstereotypien, Atemregulationsprobleme, Stimmungsschwankungen, Ängstlichkeit, nächtliches Schreien, repetitive Mundbewegungen und Grimassieren, zeigen erwachsene Patientinnen mit diesem Syndrom ein niedrigeres Niveau von Irritierbarkeit, Hyperaktivität und Sprachstörungen als eine gleich behinderte Vergleichsgruppe (Mount et al. 2002; 2003b). Zur Begrüßung lacht das 9-jährige Mädchen, bei dem das Rett-Syndrom trotz mittelgradiger Behinderung und Besuch einer Schule zur individuellen Lebensbewältigung bisher nicht diagnostiziert worden war. Sie schaut an der Betreuerin vorbei, wendet geradezu den Kopf ab, wiederholt auf die Frage, wie sie heiße, mehrfach »wie heißt du«, klatscht in die Hände und gibt glucksende Geräusche beim Atmen von sich. Sie hat eine heitere Grundstimmung, echolaliert quasi jede Aufforderung und lässt sich dann doch nach langem Betteln durch die Betreuerin ein Küsschen auf die Wange geben.
4.3.3
Fragiles-X-Syndrom
Das Fragile-X-Syndrom ist bedingt durch eine Trinukleotidrepeatverlängerung im Gen Fragile X Mental Retardation (FMR1). Es tritt sowohl bei Jungen auf, dort mit typischen syndromalen Zeichen wie großer Kopfumfang, große Ohren, prominentes Kinn und vergrößertes Hodenvo-
45
4
4.3 • Auswahl spezifischer Syndrome
lumen, als auch bei Mädchen, dann mit weniger charakteristischen Merkmalen (Ropers 2006). Nach neueren Studien liegt bei ca. einem von 4000 Jungen und einem von 8000 Mädchen eine Vollmutation (>200 CGG-Wiederholungen) vor, bei einem von 813 Jungen sowie einem von 259 Mädchen eine Prämutation (55–200 CGGWiederholungen; Sullivan et al. 2006). Verlängerungen über 200 Triplettwiederholungen führen zu einer Methylierung des FMR1-Promoters und somit zu einer Stilllegung der Genfunktion. Personen mit einer Vollmutation zeigen ausgeprägtere Störungen in der Entwicklung und im Verhalten. Bis zu 25% der betroffenen Patienten entwickeln, meistens schon in der Kindheit, eine Epilepsie, die bezüglich der Anfallsformen sehr heterogen sein kann. Die Palette reicht von primär generalisierten bis hin zu fokalen Anfällen, die in der Regel medikamentös gut zu kontrollieren sind. Auch aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht ist eine Diagnostik von Patienten mit einem Fragilen-X-Syndrom erforderlich, da 54–59% an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leiden. Neuropsychologische Störungen zeigen sich bei betroffenen Jungen und Mädchen in spezifischen Problemen bei sequentiellen Speicher- und Planungsprozessen und bei exekutiven Funktionen wie Planen und Adaptieren von Lösungsstrategien sowie hinsichtlich der Hemmung irrelevanter Handlungen. Darüber hinaus neigen Betroffene zu repetitiven Äußerungen, Perseverationen und marginalen Gesprächsbeteiligungen, zum Beißen in den Handrücken, vorrangig bei Jungen beobachtet, und zu eigenartigen rudernden bzw. wedelnden Armbewegungen. Mädchen fallen geschlechtsspezifisch durch introvertierte Verhaltensweisen wie Scheu, Zurückhaltung, Tendenzen zur Selbstverletzung und Depressivität auf (Steinhausen et al. 2002). Bei männlichen Prämutationsträgern über 60 Jahre liegt die Penetranz für ein fragiles-Xassoziiertes Tremor-/Ataxie-Syndrom (FXTAS) bei ca. 38% (Finke et al. 2009). Zu den Haupt-
symptomen gehören autonome Dysfunktion (orthostatische Hypotension, Impotenz, Urinund Stuhlinkontinenz), ein hypokinetisch-rigides Syndrom (Ruhetremor, Bradykinese, Rigor, Hypomimie), ein progredientes zerebelläres Syndrom (Gang- und Standataxie, Intentionstremor), Polyneuropathie, kognitive Störungen in Form erhöhter Distraktibilität und Disinhibition sowie Aufmerksamkeits- und Arbeitsgedächtnisstörungen. Um das Risiko für nachfolgende Generationen (Prämutationsträgerstatus und Erkrankung an Fragilem-X-Syndrom) gering zu halten, bedarf es bei entsprechender Klinik einer radiologischen Abklärung mittels MRT (Läsionen im Bereich der mittleren Kleinhirnstiele). Eine kausale Therapie existiert bis dato nicht.
4.3.4
Angelmann-Syndrom
1965 beschrieb Harry Angelman drei Kinder mit an Marionetten erinnernde Bewegungen. Die ursprünglichen Bezeichnungen »puppet children« und »happy puppets« werden nicht mehr verwandt. In den meisten Fällen durch eine Deletion auf dem mütterlichen Chromosom 15q11-q13 hervorgerufen, kennzeichnet die Betroffenen in den typischen Fällen neben einer schweren Intelligenzminderung mit deutlicher Sprachentwicklungsstörung eine ataktische Gangstörung mit charakteristischen puppenartigen Bewegungen und einer heiter bis fröhlichen Grundstimmung mit häufig situationsinadäquatem Lachen. Schon früh, d. h. in den ersten 3 Lebensjahren, beginnt häufig eine Epilepsie mit BNS-Krämpfen, Fieberkrämpfen, Grand-mal-Anfällen, atypischen Absencen oder myoklonischen Anfällen (Huber 2005). Typische EEG-Veränderungen wie rhythmische generalisierte 4–6/SekundenAktivität über den vorderen Hirnabschnitten, Spikes und Sharp-waves, Spikes und 3–4/Sekunden-Wellen von hoher Amplitude über den hinteren Hirnregionen nach Augenschluss können schon vor den ersten Krampfanfällen registriert
46
Kapitel 4 • Der Blick auf das Besondere: störungsspezifische Diagnostik
. Tab. 4.6 Phasen der Syndromentwicklung
4
Phase
Alter
Beschreibung
Phase 1
Geburt bis Ende 1. Lebensjahr
Schlechte Nahrungsaufnahme, Gedeihstörung durch zentrale Hypotonie
Phase 2
1.–6. Lebensjahr
Gewichtszunahme ohne erkennbare Appetitsteigerung, später Übergewicht bis zur Adipositas bei Zunahme der Kalorienzufuhr, Muskelhypotonie, schlafabhängige Atemstörungen
Phase 3
3.–15. Lebensjahr
Aggressive Nahrungssuche, Fressattacken, fehlendes Sättigungsgefühl, unterdurchschnittliche Intelligenz, hypothalamischer Hypogonadismus, Impulsivität
Phase 4
Nach dem 20. Lebensjahr
Gesteigerter Appetit ohne Aggressivität, Müdigkeit, 25% entwickeln einen Diabetes mellitus Typ 2, bipolare Störungen, psychotische Störungen (eher bei der mütterlichen Disomie als bei der Deletion)
werden. An Dysmorphiezeichen dominieren ein relativ kleiner runder Schädel mit okzipitaler Abflachung, ein hypoplastisches Gesicht mit tiefliegenden Augen, ein spitzes Kinn bei breitem Mund und auseinanderstehenden Zähnen.
4.3.5
Prader-Willi-Syndrom2
Das Prader-Willi-Syndrom (PWS) ist eine komplexe genetisch verursachte Störung, die zu 75% durch einen Expressionsmangel von Genen auf dem väterlichen Chromosom 15q11–q13 determiniert ist. Die Inzidenzraten in der Allgemeinbevölkerung liegen bei über 1:50.000. Der charakteristische Phänotyp umfasst eine schwere neonatale muskuläre Hypotonie, den frühen Beginn einer Hyperphagie, Dysmorphiezeichen wie eine schmale Unterlippe, mandelförmige Augen, kurze Hände und Füße, die Entwicklung einer krankhaften Adipositas, Kleinwuchs, Hypogonadismus, Lernbehinderung bis leichte Intelligenzminderung, psychische und Verhaltensprobleme. Die immer früher mögliche Dia-
2
Nach Goldstone et al. 2008.
gnosestellung in den ersten Lebensmonaten bei schwerer unerklärbarer Hypotonie erlaubt eine effizientere Frühintervention, insbesondere mit dem Ziel der Vorbeugung hinsichtlich der die Lebensqualität schwer beeinträchtigenden Adipositas. Eine genetische Untersuchung, auch noch in der Adoleszenz, ist nur bei Vorliegen mehrerer Merkmale, vor allem bei anamnestisch neonataler Hypotonie, gonadaler Reifungsverzögerung, Zurückbleiben des Wachstums von Händen und Füßen sowie Adipositas bei gleichzeitiger unterdurchschnittlicher Intelligenz dienlich. Wenn auch nicht bei allen Betroffenen, so lassen sich doch 4 mehr oder minder typische Phasen der Syndromentwicklung unterscheiden (. Tab. 4.6). Eine der zentralen, wenn auch nicht nebenwirkungsarmen Therapiestrategien ist die kontinuierliche Verabreichung von Wachstumshormonen ab dem 1. Lebensjahr. Multimodale Therapiestrategien hängen von der individuellen Symptomausprägung, dem eigenen Leidensdruck sowie dem des psychosozialen Umfelds ab.
47
4
4.3 • Auswahl spezifischer Syndrome
4.3.6
Fetales Alkohol-Syndrom (FAS)3
Obwohl pränatale Alkoholschäden seit über 100 Jahren bekannt sind, erfolgte die wissenschaftliche Wahrnehmung des Syndroms erst in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die Ursachen des FAS sind bis heute nicht eindeutig geklärt. Die Inzidenz liegt bei 0,5 –2 von 1000 Geburten. Fasst man die auf den teratogenen Effekt des Alkohols zurückzuführenden strukturellen Anomalien, neurokognitiven Störungen und Verhaltensauffälligkeiten unter dem weiter ausgelegten Begriff der Fetalen Alkohol-Spektrum-Störungen (FASD) zusammen, steigt die Inzidenz auf 4–6 betroffene Kinder auf 1000 Geburten. Leitsymptome sind Kleinwuchs, verschiedene Fehlbildungsymptome (kraniofaziale Dysmorphien) und Entwicklungsbeeinträchtigungen. Während im Säuglingsalter Essstörungen, motorische Unruhe und Schlafstörungen dominieren, steht im Kindesalter die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung im Vordergrund. In der Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter fallen die äußerlich normal erscheinenden Betroffenen durch Aggressivität, emotionale Störungen und Einschränkungen in der Kommunikation und Alltagskompetenz auf. Langzeituntersuchungen (Steinhausen et al. 1993; Streissguth et al. 1996) zeigten: 4 Bei 90% der Erwachsenen mit FAS lagen psychische und andere Gesundheitsprobleme vor. 4 Bei 60% kam es wegen Lern- und/oder Verhaltensstörungen zu Schulunterbrechungen oder einem vorzeitigen Schulabbruch. 4 60% hatten Konflikte mit dem Gesetz, 50% war wegen psychischer Störungen oder stationärer Drogenentzugsbehandlungen die Freiheit entzogen worden.
3
Nach Spohr u. Steinhausen 2008.
4 70%–86,5% waren arbeitslos und unselbstständig in der Lebensführung. Diese verheerenden Folgen der intrauterinen Alkoholexposition sind unabhängig von der primären phänomenologischen Diagnose in der Kindheit und unbeeinflusst von protektiven Faktoren wie stabiles, entwicklungsförderndes Zuhause, Erstdiagnose vor dem 6. Lebensjahr, Ausbleiben von Gewalterfahrungen gegen die eigene Person und Inanspruchnahme therapeutischer Hilfen.
49
Unterscheiden ist wichtig Differenzialdiagnostik und multiaxiale Bewertung häufiger organischer und/oder psychischer Störungen bei intelligenzgeminderten Kindern
5.1
Epilepsie – 50
5.2
Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (HKS/ADHS) – 52
5.3
Schizophrene Psychosen – 56
5.4
Frühkindlicher Autismus – 61
5.5
Bewegungsstörungen – 64
5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4 5.5.5 5.5.6
Umschriebene Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen (ICD-10 F82) – 64 Tic und Tourette-Syndrom (ICD-10 F95) – 65 Choreatiforme Syndrome (ICD-10 G10, G25) – 66 Myokloniforme Syndrome (ICD-10 G15) – 67 Dystone Syndrome (ICD-10 G24) – 69 Spastisch-dystone infantile Zerebralparese (ICD-10 G80) – 71
5.6
Progressive Enezephalopathie – 73
5.7
Demenz – 75
5
50
Kapitel 5 • Unterscheiden ist wichtig
5.1
Epilepsie
z
5
Epidemiologie
Die Prävalenz für Epilepsie in der Allgemeinbevölkerung in Europa und den USA wird mit 0,5–1,0% angegeben. Rund 75% aller Epilepsien manifestieren sich vor dem 18. Lebensjahr. Bei Menschen mit Intelligenzminderung liegt die Prävalenz zwischen 14 und 32%, bei intelligenzgeminderten Kindern sogar zwischen 20 und 40% (Shields 2004; Huber 2005). Die Prävalenz steigt mit dem Schweregrad der Intelligenzminderung und mit zusätzlichen körperlichen Behinderungen weiter an. Ein Viertel der Neuerkrankten sind Kinder (Neubauer et al. 2008). z
Therapie mit Antieleptika
Bei optimaler Therapie mit Antiepileptika (AE) können 60 bis 75% der normal intelligenten Patienten in Remission gebracht werden. Bei Kindern mit Intelligenzminderung liegt diese Rate aber weitaus niedriger (Shields 2004). Die Therapieprinzipien bei Menschen mit geistiger Behinderung und einer Epilepsie sind dieselben wie bei epilepsiekranken Menschen ohne geistige Behinderung. Die . Tab. 5.1 und . Tab. 5.2 geben sowohl Auskunft über die AE der ersten und zweiten Wahl als auch über neuere AE, deren Zulassungsstatus im Kindes- und Jugendalter sowie über AE und deren Potenzial, bestimmte Anfälle zu verstärken. Bei diesen neueren AE (. Tab. 5.3) steht eine abschließende Bewertung hinsichtlich ihrer Effizienz und ihrer Nebenwirkungen im Kindes- und Jugendalter noch aus. z
Sonstige Therapien
Alternativ zur medikamentösen Mono- oder auch Kombinationstherapie mit all ihren Limitierungen und Nebenwirkungen kommt eine epilepsiechirurgische Behandlung bei sorgfältiger Risiko-Nutzen-Abwägung infrage. Eine epilepsiechirurgische Therapie sollte in Erwägung gezogen werden, wenn über zwei Jahre trotz optimaler Antiepileptikatherapie keine
befriedigende Anfallskontrolle erzielt wurde, die Lebensqualität massiv beeinträchtigt ist, die Auswirkungen der Anfälle und/oder der Antieleptika auf Kognition und Verhalten nicht hinnehmbar sind und eine läsionelle fokale Ursache (Dysplasien, Neoplasien, Sturge-Weber-Syndrom) vorliegt, welche eine Remission durch Hirnreifungsprozesse unwahrscheinlich macht. Etwa 65–75% der epilepsiechirurgisch behandelten Kinder werden anfallsfrei (van Empelen et al. 2005). Ein chirurgischer Eingriff kommt nur für 20–30% aller Epilepsie-Betroffener infrage. Neben der Epilepsiechirurgie existiert mit der Vagusnerv-Stimulation (VNS) ein einzigartiges elektrisches Verfahren zur Behandlung therapierefraktärer Epilepsien, welches bereits 1997 von der FDA (Federal Drug Administration) zugelassen wurde (ab einem Alter von 12 Jahren). In vielen Studien liegt der Anteil der Kinder, die eine Anfallsreduktion über 50% nach VNS-Implantation aufwiesen, zwischen 40 und 50% (Helmers et al. 2001; Murphy et al. 2003). Weder die Dauer der Epilepsie vor der Implantation noch das Alter zum Zeitpunkt der VNSTherapie hatten einen signifikanten Einfluss auf die Veränderung der Anfallsfrequenz und der Stärke der Anfälle nach der Implantation des Generators (Benifla et al. 2006).Vor allem Kinder mit einer Intelligenzminderung zeigten in vielen Studien (. Tab. 5.4) eine Anfallsreduktion von mehr als 50%. Die Effekte treten häufig aber nicht unmittelbar nach der Implantation ein. Uthman et al. (2004) berichteten im Rahmen einer Langzeitstudie über die größten Effekte nach 12 Jahren (Anfallsreduktion nach 1 Jahr: 26%, nach 5 Jahren: 30%, nach 12 Jahren: 52%). Da die Erfassung psychischer Nebenwirkungen bei mehrfach behinderten Kindern und Jugendlichen äußerst aufwendig und schwierig ist, erhält die Fremdbeobachtung im fürsorglichtherapeutischen Bereich eine herausragende Bedeutung sowohl in der (Verlaufs-)Diagnostik als auch in der Therapie. Epilepsie ist ein Aspekt der komplexen Behinderung und sollte nicht den
51
5
5.1 • Epilepsie
. Tab. 5.1 Antiepileptika (AE) bei primär generalisierten Anfällen (Glauser et al. 2006; Neubauer et al. 2008) Absencen
Juvenile Myoklonien
Tonisch-klonische Anfälle
1. Wahl
Valproat, Ethosuximid, Lamotrigin**(III)
Valproat, Lamotrigin, Levetiracetam***, Topiramat****
Valproat (III)
2. Wahl
Levetiracetam
Primidon Benzodiazepine
Lamotrigin, Levetiracatam
Provozierende AE
Phenytoin, Oxcarbazepin+, Carbamazepin*, Barbiturate, Pregabalin, Tiagabin+++
Phenytoin, Carbamazepin, Oxcarbazepin, Gabapentin++, Tiagabin
Phenytoin, Carbamazepin, Oxcarbazepin, Tiagabin
*Retard 300–400 mg nicht unter 6 Jahren; **Monotherapie ab 12 Jahren, Add-on ab 2 Jahren; ***Add-on ab 4 Jahren, Monotherapie ab 12 Jahre; ****Monotherapie ab 2 Jahre; +nicht unter 6 Jahren; ++über 12 Jahre Monotherapie, 3–12 Jahre Add-on; +++über 12 Jahre.
. Tab. 5.2 Antiepileptika bei Rolando-Epilepsie, LGS-Syndrom und fokalen Anfällen Rolando-Epilepsie
Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS)
Fokale Anfälle
1. Wahl
Sultiam, Gabapentin, Valproat (III)
Valproat, Lamotrigin, Levetiracetam, Topiramat, Zonisamid*, Felbamat**
Carbamazepin, Valproat, Lamotrigin, Levetiracetam, Topiramat, Oxcarbazepin (III)
2. Wahl
Clobazam, Levetiracetam
Primidon, Phenobarbital
Phenytoin, Primidon, Benzodiazepine
Provo-zierende AE
Phenytoin, Oxcarbazepin, Carbamazepin
Benzodiazepine
–
*Keine Zulassung bei Kindern. **Add-on ab 4 Jahre.
. Tab. 5.3 Neuere Antieleptika Antieleptikum (Name)
Zulassung bzw. Indikation
Dosierung Halbwertszeit (HWZ) Abbau
Beurteilung
Pregabalin* (Lyrica®)
Add-on von partiellen Anfällen mit und ohne sekundäre Generalisierung
150–600 mg/Tag HWZ 6,3 Std. Exkretion über Nieren
Gut verträglich, potent
Zonisamid* (Zonegran®)
Add-on von partiellen Anfällen mit und ohne sekundäre Generalisierung
50–500 mg/Tag HWZ 63 Std. Metabolisierung über CYP 3A4
Keine abschließende Beurteilung möglich
Rufinamid (Inovelon®)
Add-on bei Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS) ab 4 Jahre
400–3200 mg/Tag HWZ 6–10 Std. Geringe Metabolisierung über CYP P450
Keine abschließende Beurteilung möglich
Lacosamid** (Vimpat®) oral und i.v.
Add-on von partiellen Anfällen mit und ohne sekundäre Generalisierung
50–400 mg/Tag HWZ 13 Std. Geringe Eiweißbindung
Keine abschließende Beurteilung möglich
*Keine Zulassung bei Kindern. **Ab 16 Jahre.
52
Kapitel 5 • Unterscheiden ist wichtig
. Tab. 5.4 Follow-up-Studien nach Vagusnerv-Stimuation (VNS) mit mindestens 50% intelligenzgeminderten Kindern. (Häßler et al. 2010; s. Literatur dort)
5
Autor
Anzahl (Alter) IQ
Follow-upZeitraum
Anfallstypen
Response
Andriola et al. 2001
n = 5, (3–15 Jahre) IQ 50% /= 68%
Trimble 2006
n = 153 ( Das Risiko für eine ADHS-Symptomatik steigt mit Abnahme des IQ.
Die Autoren untersuchten allerdings nur Adoleszente mit einem IQ > 40. Fest steht, dass es bestimmte Syndrome gibt, bei denen eine ADHSSymptomatik zum Phänotyp gehört. . Tab. 5.5 gibt dazu einen Überblick. Nach der Ansicht von Antshel et al. (2006) steckt die Forschung bezüglich ADHS bei In-
56
Kapitel 5 • Unterscheiden ist wichtig
. Tab. 5.5 Syndrome mit dem assoziierten Verhaltensphänotyp ADHS
5
Syndrom
Genetische Marker
Häufigkeit
IM
Verhaltensphänotyp
Fragiles X*
Chr X, q27.3
1:4000 m 1:8000 w
Leicht bis mittelgradig
ADHS (Vollmutation 54–59%) Mangelnde Impulskontrolle, SVV, Probleme in Informationsverarbeitung, autistische Züge, Perseverationen, bei Mädchen eher Depression, Epilepsie
22q11 DeletionsSyndrom**
Chr 22, p11
1:4500
Leicht bis schwer
ADHS (36–44%) Bipolare Störungen und Psychosen
*Sullivan et al. 2006,**Niklasson et al. 2009.
telligenzminderung (intellectual developmental disabilities, IDD) noch in den Kinderschuhen. »The epidemiology of ADHD in IDD is in a very early stage of development, and we currently do not have good estimates of the baserates of ADHD symptoms in IDD.« > Intelligenzgeminderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene sollten aufgrund der publizierten Untersuchungen hinsichtlich einer ADHS-Symptomatik mit den etablierten diagnostischen Verfahren frühzeitig gescreent werden, damit rechtzeitig eine effektive Therapie eingeleitet werden kann. Oberhalb eines IQs von 50 ist ein probatorischer Behandlungsversuch mit Methylphenidat angezeigt.
5.3 z
Schizophrene Psychosen Allgemeines
Schizophren bedeutet auf Griechisch: »Ich spalte den Geist«. Nach moderner Auffassung handelt es sich im Kern der Schizophrenie aber um eine Desintegration seelischer Teilfunktionen mit einer tiefgreifenden Störung des Realitätsbezugs. Sehr häufig bilden sich im Verlauf der
Erkrankung kognitive Defizite heraus, die im Sinne einer seelischen Behinderung längerfristig die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, insbesondere in Bezug auf Schulbewährung und Berufsbildung, erschweren oder gar verhindern. Bei geistiger Behinderung generell und speziell beim Prader-Willi-Syndrom und der Deletion 22q11 muss mit einem erhöhten Risiko für die Ausbildung von psychotischen Störungen im Jugendalter gerechnet werden (Sarimski u. Steinhausen 2008). z
Klassifikation
In der klinischen Praxis werden Schizophrenien entweder nach der iInternationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) oder dem diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen (DSM-IV) klassifiziert. Eine Gegenüberstellung der diagnostischen Kriterien für Schizophrenie der beiden Klassifikationssysteme zeigt . Tab. 5.6. Die Unterschiede liegen weniger in der essenziellen Symptomatik als vielmehr im strengeren Zeitkriterium des DSMIV und der Bedingung, dass auf sozialer Ebene krankheitsbedingte Beeinträchtigungen vorhanden sein müssen. Beide Klassifikationssysteme berücksichtigen nicht die besondere Symptomatik in einem frühen Erkrankungsalter, wo eher unspezifische Störungen im Vordergrund stehen
57 5.3 • Schizophrene Psychosen
5
. Tab. 5.6 Allgemeine diagnostische Kriterien für Schizophrenie (Nach Möller u. Deister 2000) ICD-10
DSM-IV
Gruppen 1–4 (mindestens eines der folgenden Symptome eindeutig vorliegend) – Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung, Gedankenentzug oder Gedankenausbreitung – Kontrollwahn, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten, deutlich bezogen auf Körper- oder Gliederbewegungen oder bestimmte Gedanken, Tätigkeiten oder Empfindungen, Wahnwahrnehmungen – kommentierende oder dialogische Stimmen, die über die Person reden, oder andere Stimmen, die aus bestimmten Körperteilen kommen – anhaltender kulturell unangemessener bizarrer Wahn Gruppen 5–8 (mindestens zwei Symptome eindeutig vorliegend) – anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität, täglich oder während mindestens eines Monats, begleitet von flüchtigen oder undeutlich ausgebildeten Wahngedanken ohne deutlich affektive Beteiligung oder begleitet von lang anhaltenden überwertigen Ideen – Neologismen, Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedankenfluss, was zu Zerfahrenheit oder Danebenreden führt – katatone Symptome wie Erregung, Haltungsstereotypien oder wächserne Biegsamkeit, Negativismus, Mutismus, Stupor – negative Symptome wie auffällige Apathie, Sprachverarmung, verflachte, inadäquate Affekte
A-Symptome (mindestens zwei der folgenden Symptome eindeutig vorliegend, nur eines der Symptome ist erforderlich, wenn der Wahn bizarr ist oder wenn akustische Halluzinationen mit kommentierenden und/oder dialogischen Stimmen bestehen) – Wahn – Halluzinationen – desorganisierte Sprache – massiv desorganisiertes Verhalten oder katatone Symptome – negative Symptome, d. h. Affektverflachung, Sprachverarmung oder Apathie Für eine bedeutende Zeitspanne seit dem Beginn der Störung sind ein oder mehrere Funktionsbereiche wie Arbeit, zwischenmenschliche Beziehungen oder Selbstfürsorge deutlich unter dem Niveau, das vor dem Beginn erreicht wurde.
Zeitkriterien: Mindestens eines der in den Gruppen 1–4 oder mindestens zwei der in den Gruppen 5–8 aufgezählten Symptome liegen überwiegend innerhalb eines Zeitraums von mindestens einem Monat vor.
Zeitkriterium: Zeichen des Krankheitsbildes halten für mindestens sechs Monate an. In diesen sechs Monaten müssen A-Symptome mindestens einen Monat vorhanden sein.
können (s. oben). Im DSM-IV haben die Kategorien postschizophrene Depression (F20.4) und Schizophrenia simplex (F20.6) aus der ICD-10 kein Pendant. Die Unterformen paranoider Typus, Hebephrener (ICD-10) oder desorganisierter Typus (DSM-IV), katatoner Typus, undifferenzierter Typus und residualer Typus sind in beiden Klassifikationssystemen identisch. Für all diese Unterformen gilt, dass die allgemeinen Kriterien der Schizophrenie erfüllt sein müssen. z
Epidemiologie
Abhängig von den zugrunde gelegten Diagnosekriterien variiert die Prävalenz, d h. die Rate
der zu einem bestimmten Zeitpunkt lebenden Schizophreniepatienten, zwischen 0,6% und 1% (Eggers u. Röpcke 2004). Die Angaben zur Prävalenz schizophrener Psychosen mit Beginn vor dem 15. Lebensjahr (Early Onset Schizophrenia, EOS) schwanken zwischen 0,014% und 0,04% (Remschmidt et al. 2004), d. h. 1,4% bis 4,0% aller Schizophrenien treten vor dem 15. Lebensjahr auf. In der Regel gibt es eine Gleichverteilung zwischen den Geschlechtern. Bei Manifestationen im Kindesalter erkranken Jungen aber ungefähr doppelt so häufig wie Mädchen.
58
Kapitel 5 • Unterscheiden ist wichtig
z Ätiologie kBeteiligte Gene
5
Ergebnisse von Familien-, Adoptions- und Zwillingsstudien weisen auf die Bedeutung von erbgenetischen Faktoren (Prädisposition) für die Verursachung der Schizophrenie hin, obwohl 80% sporadisch, d. h. ohne weitere Erkrankungsfälle in der Familie auftreten. In molekulargenetischen Untersuchungen werden immer neue Gene entdeckt, die mit einer Schizophrenie assoziiert sind. Sie spielen vor allem eine Rolle in der Neurotransmission und Signaltransduktion. Zu diesen gehören: Neuregulin (NRG-1), Dysbindin, G72/D-Aminosäureoxidase (DAAO), Prolindehydrogenase (PRODH), Catechol-OMethyltransferase (COMT), der Regulator des G-Protein-Signals (RGS-4) und PPP3CC, ein Gen, welches eine katalytische Untereinheit des Calcineurins kodiert. Zu den bereits bekannten Kandidatengenen, die mit einer Schizophrenie assoziiert sind, zählen 5HT2A und der Dopamin-D3-Rezeptor (Elkin et al. 2004). kPathologische Befunde des Hirns
Die in den frontotemporalen, frontostriatalen und frontothalamisch-zerebellären Strukturen gefundenen Veränderungen sind nicht nur auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen, sondern erklären auch teilweise die klinische Vielfalt der Schizophrenie bzw. die unterschiedliche Psychopathologie (Bagary et al. 2003). Bezüglich bildgebender Untersuchungen gibt es nur wenige Befunde bei kindlichen bzw. jugendlichen Schizophrenen. Rapoport et al (1997) untersuchten 16 schizophrene Kinder zwei Jahre nach Erkrankungsbeginn mittels MRT nach und fanden eine signifikante Ventrikelvolumenzunahme bei gleichzeitiger Volumenminderung mittig sagittal gelegener Thalamusstrukturen. Die schizophrenen Kinder mit der größten Ventrikelvolumenzunahme hatten zwar die geringsten prämorbiden Auffälligkeiten, aber die schwerste klinische Symptomatik.
kStörung des Dopaminstoffwechsels
Obwohl ein gut belegtes neurochemisches Modell der Schizophrenie noch fehlt, gibt es viele Hypothesenbildungen, von denen die Dopaminhypothese nach wie vor die größte Bedeutung hat. Insbesondere die Positivsymptomatik lässt sich hinreichend mit einer prä- und postsynaptischen Regulationsstörung des Dopaminstoffwechsels mit dopaminerger Überaktivität in limbischen Hirnregionen und entsprechender Unteraktivität im Frontalhirn erklären. Der Dopaminagonist Amphetamin kann bei Gesunden positive schizophrene Symptome provozieren. 4 Am wahrscheinlichsten ist eine Dysfunktion des frontalen Kortex und anderer Regionen des heteromodalen Assoziationskortex wie oberer Temporalgyrus, unterer Parietallappen, Planum temporale und die Broca-Region, welche zu einer Dysbalance mesolimbischer dopaminerger Systeme wie Hippocampus, Amygdala, Septum, Cingulum und Nucleus accumbens führt. 4 Der Interaktion mit Glutamat kommt in diesem komplizierten Regulationsgefüge eine herausragende Bedeutung zu. Eine neuere Arbeit, die bei schizophrenen Patienten zwischen 16 und 65 Jahren erniedrigte D-Serin-Spiegel (endogener Agonist des glutamatergen NMDA-Rezeptors) im Serum fand, bestätigte die glutamaterge Unterfunktion im präfrontalen Kortex (Hashimoto et al. 2003). kGeburtskomplikationen
Nach wie vor gelten Geburtskomplikationen als Risikofaktor für die Entwicklung einer Schizophrenie. Cannon et al. (2002) fanden in einer Metaanalyse drei Gruppen von Geburtskomplikationen, die signifikant mit Schizophrenie assoziiert waren. Die Effektstärken lagen aber generell unter 2. 4 Der Gruppe der Schwangerschaftskomplikationen waren Blutungen, Diabetes, Rhesus-
59
5
5.3 • Schizophrene Psychosen
faktorinkompatibilität und Präeklampsie zugeordnet. 4 Zur Gruppe der abnormen fetalen Entwicklung zählten geringes Geburtsgewicht, kongenitale Malformationen und verminderter Kopfumfang. 4 Als direkte Geburtskomplikationen wurden uterine Atonie, Asphyxie und Kaiserschnittgeburt (aufgrund von Problemen) angesehen. Solche frühkindlichen Risiken haben Auswirkungen auf neurale Reifungsprozesse, womit der Bogen zu den schon angesprochenen Dysbalancen/Läsionen im dorsolateralen präfrontalen Kortex und in temporolimbischen Regionen geschlossen wird. z
Diagnostik
Die Diagnostik stützt sich in erster Linie auf anamnestische Angaben von Eltern bzw. Personen aus dem Nahfeld, die Exploration des betroffenen Kindes, die Verhaltensbeobachtung, die bildnerische Ausdrucksweise und ergänzend auf die Positiv- und Negativsymptomskala (PANSS). z
Verlauf/Prognose (Häßler et al. 2004)
Bis dato existieren hinsichtlich des Langzeitverlaufs und der Prognose psychotischer Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend nur wenige Studien. Obwohl an kindliche und jugendliche Psychosen die gleichen diagnostischen Kriterien wie im Erwachsenenalter angelegt werden, gilt es, entwicklungsspezifische Variationen zu berücksichtigen. Verglichen mit Schizophrenien, die im Erwachsenenalter beginnen, ist die Prognose bei sich früher manifestierenden Psychosen wesentlich schlechter. 4 Durchschnittlich liegt die Vollremissionsrate früher Schizophrenien im internationalen Schrifttum bei 25%. 4 Dagegen weisen 50% eine chronische Störung mit Restsymptomen auf.
4 In deutschen Langzeitstudien liegt die Vollremissionsrate kindlicher Schizophrenien bei rund 20%. z
Therapie
Das therapeutische Vorgehen richtet sich zunächst nach der Akuität der Symptomatik, dem Vorliegen von Plus- oder überwiegender Minussymptomen, dem Alter, dem aktuellen (aggressiven) Erregungszustand, der Compliance der Betroffenen bzw. deren Sorgeberechtigten, den Erfahrungen des behandelnden Teams, den komorbiden Störungen. Einfluss auf den Verlauf der Therapie haben die Effizienz der angewandten Behandlung, das Nebenwirkungsprofil, der Status, ob eine Ersterkrankung vorliegt oder nicht und die Prognose. In der Regel ist eine Kombination aus Psychopharmakotherapie und multimodalen psychosozialen und psychotherapeutischen Verfahren am effektivsten. Psychoedukative Behandlungsprogramme fördern die Compliance und senken die Rezidivraten. Hauptansatzpunkte der Schizophreniebehandlung sind: 4 Psychopharmaka, 4 Erarbeitung einer Vertrauensbeziehung, 4 kognitive Therapie, 4 Training von Problemlösefertigkeiten, 4 unterstützende Familientherapie, 4 Angehörigenarbeit, 4 Stärkung von Selbstheilungsversuchen, 4 Episodenprophylaxe, 4 Rehabilitation und 4 Förderung der Teilnahme an Selbsthilfegruppen. Die langfristig anzulegenden Therapiepläne sollten auf die individuellen Besonderheiten und Bedürfnisse der intelligenzgeminderten schizophrenen Kinder und Jugendlichen eingehen. Wie bereits erwähnt, ist die Einbeziehung der Schule in die jeweiligen Therapieschritte, in denen es um Rehabilitation, Episodenprophy-
60
Kapitel 5 • Unterscheiden ist wichtig
laxe, Training von Problemlösefertigkeiten und Stärkung von Selbstheilungsversuchen geht, ein wichtiger Bestandteil. Nur wenn die Pädagogen einbezogen werden, lassen sich Überforderungen, Stigmatisierungen und unprofessionelle Fehleinschätzungen der in den meisten Fällen noch vorhandenen Residualsymptomatik vermeiden.
5
> Je akuter die Symptomatik, je erregter der Betroffene und je höher die Wahrscheinlichkeit von auto- und/oder fremdaggressivem Verhalten, desto dringlicher ist eine rasch wirksame Psychopharmakotherapie unter vollstationären Bedingungen.
Unter Umständen muss die Therapie gegen den Willen des Erkrankten auf der Grundlage der länderspezifischen gesetzlichen Bestimmungen (PsychKG) erfolgen. Dabei sollte man sich stets vergegenwärtigen, dass auch ein »verrückter« Patient Anspruch auf eine humane und nicht entwürdigende Behandlung, auf Aufklärung und weitestgehende Einbeziehung in alle erforderlichen Maßnahmen hat, da es auf seine Bereitschaft zur Mitarbeit nach der Akutphase ankommt. Eigene Erfahrungen lehren, dass schizophrene Patienten in der Remission sehr wohl Bescheid wussten über das, was ihnen gegenüber in der akuten Phase geäußert wurde oder wie mit ihnen verfahren wurde. In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie (http://www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/028-003.htm) finden sich zur Orientierung Therapieschemata bzw. Essentials, die an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden sollen.
Es gibt in der Psychopharmakotherapie kein Antipsychotikum, das universell einsetzbar allen anderen überlegen wäre. Bezüglich des Einsatzes bei intelligenzgeminderten Kindern und Jugendlichen bleibt somit viel individueller Spielraum (s. auch unter 7 Abschn. 7.8). Bezüglich evaluierter Behandlungsansätze (Baving u. Schmidt
2001) konnten insbesondere die Ergebnisse randomisierter kontrollierter Studien mit Clozapin bei epileptischen Anfällen und Neutropenien im nachstationären Verlauf nicht überzeugen. Ein wichtiger Bestandteil der Langzeitbehandlung schizophrener Kinder und Jugendlicher ist die nachstationäre Reintegration in die Wohneinrichtung und die Schule. Dazu bedarf es eines gut aufeinander abgestimmten Komplementärversorgungssystems mit Tageskliniken, Schulen für Kranke, Übergangswohnheimen, psychiatrischen Ambulanzen, Rehabilitationswerkstätten, tagesstrukturierenden Treffs, Beratungsstellen und nicht zuletzt Einrichtungen der Jugendhilfe nach § 35a KJHG.
Beispiel 1 Eine 16-jährige Patientin wird auf Antrag des sorgeberechtigten Jugendamts (die Bereiche Aufenthalt und Gesundheit waren der Kindesmutter wegen Vernachlässigung familiengerichtlich entzogen worden) nach § 1631b BGB mit Genehmigung des zuständigen Gerichts in die Kinderund Jugendpsychiatrie eingewiesen. Freiheitsentziehende Maßnahmen waren notwendig geworden, da die Patientin über einen langen Zeitraum der Förderschule fernblieb, nicht in die therapeutische Wohngruppe zurückkehrte und bei älteren Männern bzw. auf der Straße lebte. Bereits bei der Aufnahme fiel eine deutliche Intelligenzminderung auf, die später testpsychologisch mit einem IQ von 64 bestätigt wurde. Vordergründig berichtete die Patientin, dass sie Mitglied einer Sternenkriegersekte sei, die sie seit dem 4. Lebensjhar beschützen würde. Besonders ihr Freund J. begleite sie seit 2 Monaten ständig, warne sie vor Gefahren, lege sich ihretwegen mit allen an, verprügele sogar Leute auf der Straße und helfe ihr klarzukommen. Er sei wie alle anderen Sternenkrieger auch mit Speeren bewaffnet (stecken in einem Rucksack) und besitze eine blaue Hautfarbe. An den Wochenenden kämen
61
5
5.4 • Frühkindlicher Autismus
alle Sternenkrieger der Umgebung, ca. 400, in einer nahe gelegenen Kleinstadt zusammen. Sie hätten auch eine eigene Sprache, die sie selbst nur wenig beherrsche. Auf Aufforderung stammelt die Patientin ca. 5 exotische Neologismen. Ihrer Meinung nach könne jeder diese Sternenkrieger sehen, die sich im Alltag wie richtige Menschen bewegen würden. Motorisch unruhig, dysphorisch gereizt und affektiv äußerst labil, wird die Patientin auf ein atypisches Antipsychotikum eingestellt. Nach 10 Tagen Behandlung mit dem Antipsychotikum der zweiten Generation, Quetiapin (450 mg/Tag) erklärt sie ihren Austritt aus der Sekte. Seitdem würde J. auch nicht mehr auftauchen. Sie brauche ihn nicht mehr, habe ja nun Freundinnen auf der Station.
Beispiel 2 Eine 14-jährige Patientin, die als »Risikokind« (Zwilling, Frühgeburt, Geburtsgewicht unter 1500 g, Herzfehler) mit 9 Jahren zwecks »Schulreifebeurteilung« erstmalig in unserer Ambulanz vorgestellt wurde, wo ein IQ (K-ABC) von 53 zur Einschulung in die Förderschule führte, wird kurz vor Weihnachten 2009 stationär aufgenommen. Es waren seit November Ängste und akustische Halluzinationen aufgetreten. Zunächst relativ unauffällig entwickelt die Patientin Ende Dezember ein buntes psychopathologisches Bild mit paranoiden Gedanken, akustischen und optischen Halluzinationen, Zerfahrenheit der Gedanken, Affektlabilität, Rückzugsverhalten, aggressiven Ausbrüchen, Schlafstörungen, Hyperakusis und Selbstzweifeln Labor, MRT und Liquor sind unauffällig. Mit der Einstellung auf Quetiapin schwächt sich die akute Symptomatik ab, wobei die Ängste und die paranoiden Gedanken nach wie vor präsent sind. Der Vergleich zweier Briefe der Patientin (. Abb. 5.1. und . Abb. 5.2) zeigt die Veränderungen. Der Brief in der akut psychotischen Phase demonstriert die »Derangiertheit« der Patien-
. Abb. 5.1 Brief in der präpsychotischen Phase
tin, die gedankliche Zerfahrenheit bis hin zum Gedankenabbruch, was sich auch im Schriftbild widerspiegelt.
5.4 z
Frühkindlicher Autismus Definition
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen, zu denen der frühkindliche Autismus zählt, werden in der ICD-10 – GM (F84; Version 2008) wie folgt umschrieben: 4 qualitative Abweichungen in der wechselseitigen sozialen Interaktion: 5 gestörtes nonverbales Verhalten 5 seltene oder keine Blickkontakte
62
Kapitel 5 • Unterscheiden ist wichtig
5 Haften an vorherrschenden Themen, funktionalen Routinen und Ritualen 5 Präferenz für sensorische Eindrücke 5 Situationsbeharren 5 motorische Stereotypien Beim frühkindlichen Autismus kommen dann noch hinzu: 4 Beginn vor dem 3. Lebensjahr 4 Sprachentwicklungsverzögerung 4 in 75 bis 80% aller Fälle eine Intelligenzminderung
5
. Abb. 5.2 Brief in der akut psychotischen Phase
5 Mangel an sozialem Lächeln oder interaktionsbegleitendem Minenspiel 5 beeinträchtigte Beziehung zu Gleichaltrigen 5 kaum Interesse an anderen Kindern, an Fantasiespielen mit Gleichaltrigen 5 Unfähigkeit zu stabilen Freundschaften, sich in die Gefühlswelt anderer hineinzuversetzen 4 Beeinträchtigung in der Kommunikation: wenn Spracherwerb vorhanden, dann ist die Sprache häufig stereotyp, repetitiv, echolalisch und dient nicht dem Informationsaustausch 4 eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten:
Im gesamten Autismusspektrum weisen mit Ausnahme der High-functioning-Autisten 40% der Betroffenen eine deutliche geistige Behinderung und 30% eine milde bis moderate Intelligenzminderung auf (Fombonne 2003). Aus neuropsychologischer Sicht haben Menschen mit Autismus Probleme, fremdes und eigenes Verhalten und Erleben zu erkennen, zu verstehen, zu erklären, zu prognostizieren und zu kommunizieren (Theory of mind). Betroffene neigen auch eher zum genaueren Erfassen von Details als von globalen Zusammenhängen (Schwäche der zentralen Kohärenz). Ob die frontal lokalisierten Defizite exekutiver Funktionen, also Vorausplanen, zeitliche Diskrimination, Flexibilität und Initiierung, spezifisch für den Autismus sind oder im Zusammenhang mit komorbiden Störungen wie dem ADHS auftreten, ist noch nicht hinreichend geklärt. > Entscheidend für die Diagnose ist neben dem Vorhandensein und dem Ausprägungsgrad der Kernsymptome die Behinderung im Alltag. z
Epidemiologie
Nach Fombonne u. Tidmarsh (2003), die 6 Studien bezüglich der Häufigkeit des frühkindlichen Autismus und des Asperger-Syndroms auswerteten, schwankte die Prävalenz für den (früh-
63
5
5.4 • Frühkindlicher Autismus
kindlichen) Autismus zwischen 4,9 und 72,6 auf 10.000. Ihre eigene vorsichtigere Schätzung geht von einer Prävalenz von 10 auf 10.000 Kinder aus. Jungen sind häufiger als Mädchen betroffen. z
Ätiologie
Autismus besitzt eine Erblichkeit von über 90%, wobei mit aller Wahrscheinlichkeit mehrere Gene, möglicherweise bis zu 20, mit jeweils nur kleinen Effekten beteiligt sind (Poustka 2009). Große Genomstudien fanden einen Zusammenhang zwischen Autismus und Regionen auf den Chromosomen 2, 3, 7, 11, 16 und 17. Auffällig ist, dass häufig Spontanmutationen im Genom autistischer Kinder ohne familiäre Belastung vorkommen (Morrow et al. 2008). In verschiedenen Bildgebungsverfahren und Post-mortem-Untersuchungen ließen sich nachweisen: 4 sprunghaftes Gehirnwachstum zwischen dem 1. und 4. Lebensjahr auf ein Volumen, das nichtautistische Kinder erst ab dem 5. Lebensjahr aufweisen, 4 Reduktion der weißen Substanz, des Corpus callosum und der interregionalen Verbindungen (Störung der Konnektivität). Ursächlich werden auch Defekte von Spiegelneuronen und der Synaptogenese von glutamatergen Synapsen angesehen (Poustka 2009). z
Diagnostik
Zu Beginn der Diagnostik haben sich als Screening-Instrumente Fragebögen wie der FSK (Screening-Fragebogen zur sozialen Kommunikation) bewährt. Bei erhärtetem Verdacht sollten dann das Autism Diagnostic Interview-Revised (ADI-R) und die Autism Diagnostic Observation Scale (ADOS) angewandt werden; sie liegen in deutscher Übersetzung vor. Beide Instrumente sind valide und reliabel für die Diagnostik des frühkindlichen Autismus. Sie bedürfen jedoch der Einweisung bzw. des Trainings.
4 Das ADI-R ist ein standardisiertes, semistrukturiertes Interview mit den Eltern mit vorgegebenen Kodierungen zu 40 Kernsymptomen und 80 weiteren Symptomen, die häufig mit Autismus assoziiert sind. 4 Das ADOS umfasst ein vorsprachliches Modul, ein Modul für Kinder, die in Sätzen sprechen können, eins für fließend Sprechende und eins für ältere Jugendliche und Erwachsene. z
Therapie
Vor Beginn der Therapie sollte ein individuelles Behandlungsziel bzw. eine Reihenfolge der zu behandelnden Symptome aufgestellt werden. Sprachverständnis, Sprachaufbau, Erlernen sozialer Fertigkeiten, Ausschleifen störenden Verhaltens und Erkennen des Ausdrucksverhaltens von Gesichtern stehen im Vordergrund. Spezielle Programme wie TEACCH (treatment and education of autistic and related communication handicapped children; Schopler 1997) sind nicht per se effektiver als kommunale eklektische Therapieprogramme (Goldstein 2002). Fast alle Therapieprogramme stützen sich auf visuelle Zeichen wie Handzeichen und Grafiksymbole zur bildlichen Anleitung bzw. verwenden sie, um die zwischenmenschliche Kommunikation zu verbessern, Alltags- und Arbeitsschritte zu verdeutlichen, zu bahnen und zu festigen. Gruppentherapeutische Settings scheinen bezüglich des Kontaktaufbaus und der Verbesserung der Kommunikation Einzeltherapien überlegen zu sein. C., fast 14 Jahre alt, schafft es, mit zwei Betreuern im weitläufigen Gelände der Behinderteneinrichtung spazieren zu gehen. Notiz von seiner Umgebung nimmt er nicht oder für seine Begleiter nicht wahrnehmbar. Zurück in seinem Zimmer hockt er sich vor den Heizkörper und streicht mit einem Löffel darüber. Sein rechtes Ohr presst er direkt an die metallene Oberfläche.
64
5
Kapitel 5 • Unterscheiden ist wichtig
So kann C. stundenlang verharren. Früher wehrte er sich vehement, wenn er dabei gestört wurde, schrie, biss, schlug um sich oder kletterte behände auf den Schrank, wo er vor den Zugriffen des Personals sicher war. Jetzt geht er zur Schule, trommelt, schaukelt, lässt sich anfassen, spricht aber nach wie vor nicht. Sein Lieblingsplatz war und ist vor dem Heizkörper, den er mit Gegenständen aus Metall zum Schwingen bringt. Und das allein scheint ihm zu genügen.
Bewegungsstörungen
5.5
Unter Bewegungsstörungen im Kindes- und Jugendalter werden nicht nur neurologisch fassbare Syndrome wie eine infantile Zerebralparese subsummiert, sondern alle motorischen Auffälligkeiten. Es handelt sich um eine Häufung von fein- und grobmotorischen Symptomen, die jedoch nicht alle Störungswertigkeit haben müssen. Es ist wichtig und nutzbringend, die auffälligen Symptome zu erkennen und bei Notwendigkeit auch zu behandeln.
5.5.1
z
Umschriebene Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen (ICD-10 F82)
Symptomatik
Hauptmerkmal ist eine schwerwiegende Entwicklungsbeeinträchtigung der motorischen Koordination, die nicht allein durch eine Intelligenzminderung oder eine spezifische angeborene oder erworbene neurologische Störung erklärbar ist. In den meisten Fällen zeigt eine sorgfältige klinische Untersuchung dennoch deutliche entwicklungsneurologische Unreifezeichen wie choreatiforme Bewegungen freigehaltener Glieder oder Spiegelbewegungen und
andere begleitende motorische Merkmale. Die Kinder werden als »ungeschickt« beschrieben, lernten später krabbeln und laufen als die anderen, sie würden oft hinfallen, das Schriftbild sei sehr schlecht, insgesamt würden sie feinmotorische und grobmotorische Koordinationsstörungen aufweisen (»Syndrom des ungeschickten Kindes«, »Haltungsschwäche« der Orthopäden). Sehr häufig finden sich komorbide Artikulationsstörungen (ICD-10 F80). Die Kinder sind meist 5–10 Jahre alt, wenn sie zur klinischen Untersuchung vorgestellt werden. Auffälligkeiten bei den altersbezogenen neuropädiatrischen Basisuntersuchungen sind: 4 breitbasige Gangbilder, 4 bimanuelle Koordinationsstörungen, 4 unsicherer Einbeinstand und Strichgang. Oft finden sich »neurological soft signs« wie verbreiterte reflexogene Zonen und gesteigerte Muskeleigenreflexe o. ä., ohne dass eine syndromale Zuordnung gelingt. > Immer sollte bei neurologisch auffälligen Zeichen die Vorstellung bei einem Neuropädiater erfolgen. z
Testverfahren
Die Testung erfolgt orientierend durch die pädiatrischen Vorstellungen (»U-Untersuchungen«). Quantifizierende Skalen können bei Bedarf eingesetzt werden, z. B. die Lincoln-Oseretzki-Skalen, der KTK (Körperkoordinationstest für Kinder) oder der MOT 4-6 (Motoriktest für 4- bis 6-jährige Kinder). Altersbereiche der Tests und getestete Items zeigt . Tab. 5.7. Weiterhin zu erwähnen sind normierte Testverfahren wie das Kiphard-Entwicklungsgitter, die Münchner funktionelle Entwicklungsdiagnostik (MFED), der Wiener Entwicklungstest (WET), die Bayley-Skalen (II) und der ET 6-6 (Entwicklungstest) nach Peterman, die alle Sub-
65
5
5.5 • Bewegungsstörungen
. Tab. 5.7 Motoriktests Bezeichnung
Testspektrum
Altersgruppe
Besonderheiten
LOS 18 Lincoln-OseretzkiSkalen (18 Aufgaben)
Motorische Kraft, Geschwindigkeit, Gleichgewichtshaltung, AugeHand-Koordination, Auge-Fuß-Koordination
Lernbehinderung 7;0 bis 13;11 Jahre, geistige Behinderung 8;0 bis 12;11 Jahre
Normierung 1974
KTK Körper-Koordinationstest für Kinder (4 Untertests)
Messung des Entwicklungsstands der Gesamtkörperbeherrschung und -kontrolle
6–14 Jahre
Balancieren rückwärts, monopedales Überhüpfen, seitliches Hin- und Herspringen, seitliches Umsetzen
MOT 4–6 Motoriktest für 4bis 6-jährige Kinder (18 Items)
Gesamtkörperliche Gewandtheit und Beweglichkeit, feinmotorische Geschicklichkeit, Gleichgewichtsvermögen, Reaktionsfähigkeit, Sprungkraft und Schnelligkeit, Bewegungsgenauigkeit, Koordinationsfähigkeit
4–6 Jahre
Tic und Tourette-Syndrom (ICD-10 F95)
skalen für die Testung altersentsprechender Motorik enthalten.
5.5.2
z
Die Tic/Tourette-Erkrankung ist in der ICD-10 im Kapitel V unter Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend eingegliedert, und reaktive emotionale Störungen oder Komorbiditäten mit anderen psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters sind häufig. Trotzdem handelt es sich nicht um eine primäre psychische Störung.
Therapie
Die Therapie derartiger motorischer Auffälligkeiten ist die Domäne der Ergotherapeuten. Rezeptiert werden sollten zunächst sensomotorisch-perzeptive Behandlungen unter der Vorstellung, propriozeptive Defizite auszugleichen. Dann können je nach Bedarf auch motorischfunktionelle Behandlungen folgen, oft ist es aber nicht mehr notwendig. Zu empfehlen ist weiterhin, solche Kinder in Kinder- und Jugendsportgruppen ohne Leistungsdruck zu integrieren, auch und gerade aufgrund des sozialen Aspekts. Oft werden die Ärzte gefragt »welcher Sport denn für das Kind geeignet sei«. Dazu fehlen aussagekräftige Untersuchungen, aus der Praxis zu empfehlen sind Tanzgruppen (rhythmische, koordinierte Bewegungen!), Reiten o. ä., aber auch gut angeleitete Judogruppen, letztere gerade für Kinder mit Selbstwertproblematiken.
Definition Ein Tic ist eine unwillkürliche, rasche, wiederholte, nichtrhythmische Bewegung meist umschriebener Muskelgruppen oder eine Lautproduktion, die plötzlich einsetzt und keinem erkennbaren Zweck dient. Unterschieden werden motorische Tics und vokale Tics.
66
Kapitel 5 • Unterscheiden ist wichtig
Beispiele für motorische Tics sind Blinzeltics oder orofaziale Tics. Vokale Tics kommen in Form von Grunzen, Schnüffeln oder Räuspern am häufigsten vor. Seltener sind Wiederholungen von Wörtern oder Satzfragmenten. Unter komplexen Tics versteht man plötzliche Bewegungen mit Intentionscharakter.
5
Definition Die Kombination von motorischen und vokalen Tics wird als Tourette-Syndrom bezeichnet.
Die Diagnose erfolgt ausgehend vom klinischen Bild. Kind und Eltern müssen exploriert werden, besonders im Hinblick auf die Frage, ob überhaupt ein Leidensdruck besteht. Einfache motorische Tics sind häufig und werden von vielen Kindern gar nicht als belastend erlebt. Es empfiehlt sich für die Quantifizierung, an Eltern und Lehrer einmal eine Symptomliste auszugeben, z. B. die Yale-Global-Tic-SchweregradSkala (YGTSS). Die entwicklungsneurologische Untersuchung ist ebenso essenziell wie die kinder- und jugendpsychiatrische Anamnese. Laboruntersuchungen sind für die differenzialdiagnostische Abklärung nicht zwingend notwendig, wohl aber ein Elektroenzephalogramm (fokale Anfälle!) und ein kraniales MRT (Ausschluss eines intrazerebralen Prozesses). Die Therapie beginnt mit der Aufklärung über das Krankheitsbild und in der Ansprache bzw. Bearbeitung oft bestehender Ängste der Eltern. Verhaltenstherapeutische Maßnahmen können hilfreich sein. Sind die Kinder etwas älter, können sie oft eine den Tics vorausgehende Anspannung wahrnehmen, die umgelenkt werden kann. 4 Pharmakotherapeutisch sind in Deutschland Dopaminrezeptorblocker (Neuroleptika) Mittel der ersten Wahl: Tiapridex,
Pimozid, Risperidon. Eine Zulassung für die Erkrankung haben diese Medikamente für das Kindes- und Jugendalter nicht. 4 Mit Sulpirid, Aripriprazol, Clonidin, Clonazepam und Piracetam hat man Alternativen als Mittel der zweiten Wahl. 4 Nur bei ausgeprägten Ticstörungen oder Tourette-Syndromen kommen als Mittel der dritten Wahl Clozapin oder Tetrabenazin infrage. Es kann mit einem selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) gearbeitet werden, z. B. Fluvoxamin, besondes bei komorbiden Zwängen. Die tiefe Hirnstimulation ist derzeitig Ultima Ratio, könnte aber bei schweren Erkrankungsverläufen eventuell an Bedeutung gewinnen. Derzeitig kann sie noch nicht empfohlen werden. Die Prognose ist bei einfachen Tics gut, bei stark ausgeprägtem Tourette-Syndrom different. Oftmals tritt die Ticstörung passager auf. Das betrifft sowohl motorische als auch vokale Tics, ebenso das Tourette-Syndrom. Den betroffenen Familien sollte der Kontakt zu Betroffenenverbänden bzw. Selbsthilfegruppen angeboten werden, von denen es in Deutschland mehrere gibt.
5.5.3
Choreatiforme Syndrome (ICD-10 G10, G25)
Definition Als Chorea (griech. »chorea« = Tanz) werden unwillkürliche, unregelmäßige, abrupte, kurzzeitige und zufällig verteilte Muskelaktivierungen und Bewegungen verstanden. Im Gegensatz zu den Tics sind sie langsamer und nicht repetetiv (!), im Gegensatz zu dystonen Bewegungen dagegen schneller. Typisch ist der drehende und schraubende,
67
5
5.5 • Bewegungsstörungen
eben an einen Tanz erinnernde Charakter der Bewegungen. Es können alle Körperregionen betroffen sein. Unter Ballismus vesteht man kurze und schleudernde Bewegungen, die meist die kräftigeren proximalen Muskelgruppen betreffen.
Die wichtigsten choreatischen Erkrankungen sind 4 die Huntington-Erkrankung (Chorea major, 4p16.3, direkter Gentest bei Erwachsenen möglich) und 4 die parainfektiöse Chorea minor Sydenham (α- bzw. β-hämolysierende Streptokokken).
4 andere arzneimittelinduzierte choreatiformen Störungen. Eine kausale Therapie steht nicht zur Verfügung. Pharmakologisch werden als Mittel der ersten Wahl Neuroleptika eingesetzt, paradoxerweise trotz möglicher choreatiformer Spätdyskinesien. Pharmakologische Alternativen sind jedoch nicht bekannt bzw. nicht untersucht. Da die Chorea ein eher seltenes Krankheitsbild ist, fehlen für das kindliche Lebensalter generell aussagekräftige Studien (Problem der »orphan diseases«). Eingesetzt werden können: 4 Tiaprid, 4 Haloperidol, 4 Perphenazin und 4 Clonazepam.
Differenzialdiagnostisch sind in der täglichen
Praxis die hyperkinetischen Störungen und die tardiven (arzneimittelinduzierten) Dyskinesien abzugrenzen. Dem Neuropädiater obliegt die weitere Differenzialdiagnose: 4 toxische Chorea, 4 arzneimittelinduzierte Chorea, 4 choreatiforme Syndrome 5 bei intrazerebraler Raumforderung oder zerebrovaskulären Störungen, 5 nach Operationen im Herz-KreislaufSystem, 5 bei metabolischen Störungen, 5 bei hereditären Erkrankungen einschließlich der benignen hereditären Chorea, 5 bei Lupus erythematodes (Chorea bei Nachweis von Antiphospholipidantikörpern), 4 Chorea-Akanthozytose (McLeod), 4 paroxysmale kinesiogene Choreoathetose (DYT10), 4 paroxysmale nichtkinesiogene dystone Choreoathetose, 4 Chorea bei neurodegenerativen Erkrankungen, 4 dopamin-sensitive Dystonie und
Wie bei der Ticerkrankung werden Tetrabenazin und Clonazepam nicht als Mittel der ersten Wahl betrachtet. Bei komorbiden Zwängen werden SSRIs (z. B. Fluvoxamin) empfohlen, bei Depressivität Sulpirid oder Trizyklika, bei Ängsten Lorazepam oder Alprazolam. Die supportive psychotherapeutische Begleitung der betroffenen Kinder und ihrer Eltern ist unerlässlich. Die Bahnung eines Kontakts zu Selbsthilfegruppen bzw. Betroffenenverbänden, z. B. www.huntington-hilfe.de, ist möglich.
5.5.4
Myokloniforme Syndrome (ICD-10 G15)
Definition Unter Myoklonien werden plötzliche, sehr kurz andauernde (!) Muskelzuckungen mit klinisch sichtbarem Bewegungseffekt verstanden.
68
Kapitel 5 • Unterscheiden ist wichtig
. Tab. 5.8 Differenzialdiagnostik der Hyperkinesie
5
Hyperkinesie
Topik
Abgrenzung
ADHS
Generalisiert
Hyperkinetisches Verhalten als Impulskontrollstörung, Bewegungen sind intendiert
Jaktationen
Generalisiert
Stereotyp, willentlich eingeleitet, bei geistiger Behinderung oder tiefgreifender Entwicklungsstörung
Tics
Fokal, multifokal
Kurz, unwillkürlich, aber unterdrückbar, mit Bewegungseffekt
Chorea
Fokal, segmental, generalisiert
Drehende und schraubende Bewegungen, »tanzen«, unwillkürlich
Myoklonie
Fokal, multifokal, segmental, generalisiert
Sehr kurz andauernd, mit Bewegungseffekt, einzelne Muskelgruppen
Dystonie
Fokal, multifokal, segmental, generalisiert
Länger andauernd, komplexe Bewegungen und Haltungen
Tremor
Fokal, segmental, generalisiert
Oszillierend, meist rhythmisch, sistiert im Schlaf, verschiedene Amplituden
Faszikulationen
Fokal, generalisiert
Einzelne Muskelfasern, keine Bewegungseffekte
Myokymien
Fokal
»Muskelwogen«, kaum Bewegungseffekt
Spasmen
Fokal, segmental
Bei spastischen Syndromen, geschwindigkeitsabhängiger Dehnungswiderstand
Die Dauer der Entladungen, abgeleitet im Elektromyogramm, beträgt durchschnittlich etwa 20–120 ms. Als Asterixis bezeichnet man einen »negativen« Myoklonus, d. h. das plötzliche unwillkürliche Sistieren einer Bewegung (Benecke 2005). Die Störungen sind oft schwer von anderen Hyperkinesien oder von epileptischer Aktivität abzugrenzen. . Tab. 5.8 modifiziert nach Benecke (2005), beschreibt Abgrenzungsmerkmale. Für die genaue Diagnose lässt sich die Dauer myoklonischer Entladungen mit einem Elektromyogramm (EMG) bestimmen, im Kindesalter am besten mit Oberflächenelektroden. Um einen kortikalen Myoklonus zu identifizieren, wird synchron neben dem EMG ein Elektroenzephalogramm (EEG) abgeleitet. Die Myoklonusaktivität im EMG wird dann als Trigger für eine Rückwärtsanalyse des EEGs benutzt. Es lassen sich bei kortikalem Myoklonus dann C-Refle-
xe (N. medianus) nachweisen und Riesen-SEPs mitteln (back averaging) (Benecke 2005). Die Differenzialdiagnose der Myoklonien ist diffizil und sollte entsprechend qualifizierten Zentren vorbehalten bleiben. Zu nennen wären die physiologischen Myoklonussyndrome wie Schreckreaktionen, die bei Kindern häufigen Schlafmyoklonien, Singultus, postsynkopal. Das kortikale Myoklonus-Syndrom wurde bereits erwähnt. Als primäre myoklonische Syndrome weiter zu bedenken sind (Auswahl): 4 die generalisierten epileptischen Myoklonussyndrome (BNS-Krämpfe, myoklonischastatische Anfälle, juvenile Myoklonusepilepsie, Startle-Epilepsie, Hyperekplexie, baltische Myoklonusepilepsie UverrichtLundborg), 4 das Opsoklonus-Myoklonuns-Syndrom sowie 4 der Aktionsmyoklonus.
69
5
5.5 • Bewegungsstörungen
An Erkrankungen mit Myoklonus als führendem Syndrom sind zu nennen: 4 hereditäre essenzielle Myoklonie, 4 hereditäre myoklonische Dystonie (Myoklonus-Dystonie-Syndrom), 4 Lafora-Einschlusskörperchen-Erkrankung, 4 Zeroidlipofuszinosen, 4 Sialidosen, 4 MERRF (myoclonus epilepsy with ragged red fibers), 4 metabolische Enzephalopathien, im Rahmen hypoxischer infantiler Zerebralparesen, postenzephalitisch und im Rahmen paraneoplastischer Syndrome. Für die pharmakologische Therapie werden primär Antiepileptika verwendet, allerdings fehlen für das Kindes- und Jugendalter mit Ausnahme der häufigeren epileptischen Syndrome aussagekräftige Studien. Zur Verfügung stehen, auch in Kombination möglich: 4 Valproinsäure, 4 Clonazepam, 4 Clobazam und 4 Piracetam. Für die nichtepileptischen Myoklonussyndrome können Anticholinergika, andere Benzodiazepine und Betablocker zum Einsatz kommen. > Bei der myoklonischen Dystonie ist die prompte und deutliche Besserung der myoklonischen Aktivität nach Alkoholkonsum ein Diagnosekriterium (Jugendliche).
Die betroffenen Kinder und ihre Familien sollten psychotherapeutisch begleitet und der Kontakt zu Selbsthilfegruppen angeboten werden.
5.5.5
Dystone Syndrome (ICD-10 G24)
Definition Eine Dystonie ist durch anhaltende Muskelkontraktionen gekennzeichnet, die häufig zu abnormen Haltungen und repetitiven Bewegungen führen (Caballos-Baumann 2005).
Die repetitiven Bewegungen oder abnormen Haltungen sind Folge tonischer, klonischer, phasischer oder rhythmischer Muskelkontraktionen. Typisch ist die Zunahme dystoner Symptome bei Intentionsbewegungen. Es können tremoröse oder myokloniforme Aktivierungsmuster hinzukommen.
Definition Unter einer Athetose versteht man verzerrende repetitive Bewegungsmuster von langsam schraubenden Bewegungen, bevorzugt der Akren.
Diese Bewegungen werden heute meist als distale Dystonie aufgefasst, manchmal auch als langsame Chorea. Dystone Symptome können an allen Stellen des menschlichen Körpers auftreten. Im Kindesalter treten sie am häufigsten als zervikale und als krurale (Fuß, Bein) Dystonie auf, Letztere im Rahmen spastisch-dystoner infantiler Zerebralparesen. Die Dystonien lassen sich einteilen: 4 nach der Ätiologie in primär und sekundär, 4 nach dem Alter der Betroffenen in infantil, juvenil, adult, 4 nach der Topik in fokal, segmental, multifokal, generalisiert und in Hemisymptomatik. Bei einem Dystonie-plus-Syndrom werden die dystonen Syndrome von anderen neurologi-
70
5
Kapitel 5 • Unterscheiden ist wichtig
schen Symptomen begleitet, z. B. beim DystonieMyoklonus-Syndrom. Die häufigsten sekundären Dystonien sind die arzneimittelinduzierten und die im Rahmen hypoxischer Hirnschäden (infantile Zerebralparese). Viele heredodegenerative Erkrankungen gehen mit dystonen Syndromen einher: M. Wilson, M. Huntington oder die spinozerebellären Ataxien. Auch die Tic-Erkrankung kann mit dystonen Symptomen einhergehen = Tic-Dystonie-Syndrom. z
Differenzialdiagnose
Differenzialdiagnosetisch am wichtigsten ist im Kindesalter die zervikale Dystonie, die fälschlicherweise immer noch als »Torticollis spasticus« bezeichnet wird. Die zervikale Dystonie ist die häufigste fokale Dystonie überhaupt. Sie tritt in verschiedenen Erscheinungsformen auf: 4 Tortikollis, 4 Laterokollis, 4 Retrokollis und 4 Anterokollis. Davon abzugrenzen sind die perinatal auftretenden Einblutungen in den M. sternocleidomastoideus einer Seite, die ebenfalls zu den bekannten Rotations-/Seitneigehaltungen des Kopfes führen. Die Unterscheidung ist eminent wichtig, da sich völlig unterschiedliche therapeutische Konsequenzen ergeben: Botulinumtoxin versus operative Verpflanzung des Muskelansatzes. Im Säuglingsalter ist weiterhin das sogenannte KISS-Syndrom (KISS = kopfgelenkinduzierte Symmetriestörung) zu nennen mit konsekutiver »C-Skoliose« und opisthotonusähnlicher Haltung des Kopfes (Biedermann 1991). Diese Störung ist als Entität nicht anerkannt und per definitionem harmlos: Eine manualmedizinische Behandlung beseitigt die zugrundeliegende Funktionsstörung (Buchmann und Häßler 2004). Weiterhin zu beurteilen ist im Kindesalter in der Differenzialdiagnose zum sogenannten idiopathischen Spitzfuß und zur spastisch-dystonen infantilen Zerebralparese das Segawa-
Syndrom, also die L-Dopa-sensitive Dystonie,
die durch eine fast unmittelbare Symptomverbesserung nach Dopamingabe gekennzeichnet ist. Das Leiden betrifft vorwiegend Mädchen und beginnt als dystone Gangstörung mit eingeschränkten Stellreflexen im Kindesalter. Entsprechenden Zentren ist die Beurteilung der paroxysmalen Dyskinesien im Kindesalter vorbehalten: 4 nichtkinesiogene dystone Choreoathetose, 4 belastungsinduzierte Dystonie/Choreoathetose, 4 kinesiogene Choreoathetose. Die weitere Differenzialdiagnose der paroxysmalen Bewegungsstörungen mit dystoner Komponente ist außerordentlich vielgestaltig: 4 epileptische Syndrome, 4 paroxysmale Ataxien, 4 Hyperekplexie, 4 Sandifer-Syndrom (anhaltende Kopfneigung nach dem Essen bei Kindern aufgrund eines gastroösophagealen Refluxes), 4 Stereotypien bei geistiger Behinderung, 4 tardive Dyskinesien. Genaue elektroenzephalografische Untersuchungen sind ebenso essenziell wie ein zerebrales MRT und das Screening auf neurodegenerative und Stoffwechselerkrankungen. Laborchemisch sollten im Kindesalter Blutbild, Differenzialblutbild, Coeruloplasmin, ANA/ANF, Leberenzyme, Schilddrüsen-Werte einschließlich der AK, Kreatinkinase, Harnsäure, langkettige Fettsäuren, lysosomale Enzyme, alpha-Fetoprotein und die Aminosäuren bestimmt werden. Die Kupferausscheidung und die Suche nach Oligosacchariden und Mukopolysacchariden im Urin komplettieren die Diagnostik. Zu bedenken ist, dass viele Kinder mit spastischen infantilen Zerebralparesen eine deutliche dystone Komponente aufweisen. Tremor, Myokymien und Faszikulationen sind in ihrer Symptomatik so charakteristisch,
71
5
5.5 • Bewegungsstörungen
dass ihre differenzialdiagnostische Einordnung meist gelingt. Es sei auf die entsprechenden Lehrbücher der Neurologie und Neuropädiatrie verwiesen. z
Therapie
Bei fokalen und segmentalen Dystonien ist Botulinumtoxin i.m. Mittel der ersten Wahl. Generalisierte Dystonien können pharmakologisch behandelt werden mit: 4 Anticholinerika, 4 Baclofen, 4 Benzodiazepinen, 4 Clozapin und 4 Tetrabenazin. Bei Kindern und besonders bei primärer dystoner Symptomatik an den Beinen sollte ein Dopamin-Versuch durchgeführt werden = diagnosis ex juvantibus eines Segawa-Syndroms. Die tiefe Hirnstimulation ist als Ultima-Ratio-Therapie bei schwerer generalisierter Dystonie möglich. Eine begleitende psychotherapeutische Behandlung bei schweren Dystonien kann auch im Kindesalter segensreich sein. Ausgeprägte sozialphobische Symptome gerade im Jugendalter aufgrund der als entstellend erlebten Symptomatik können kombiniert mit einem SSRI aufgefangen werden. Ein 8-jähriges intelligenzgemindertes Mädchen (IQ 68) wurde im März 2010 aufgenommen, da sie seit Ende 2009 erneut dystoniforme Bewegungsstörungen mit innenrotiertem Zehenspitzengang aufwies. Nach Aussage der Eltern ging sie zu 90% im Spitzfußgang und zeigte seit ca. 3 Monaten zunehmend eine verminderte Belastungsfähigkeit. Von Zeit zu Zeit habe sie Schmerzen in beiden Füßen und den Waden und könne nur mithilfe von Unterarmstützen laufen. Im Januar 2010 erfolgte erstmalig eine Botulinumtoxininjektion im Rahmen der ambulanten Behandlung aufgrund des Zehenspitzengangs. Eine Befundänderung konnte bisher nicht verzeichnet werden. Derzeit
besucht sie die 4. Klasse des Förderschulteils einer Körperbehindertenschule. Die Eltern berichten, sie gehe gern zur Schule, habe gute Schulleistungen und sei im Klassenverband sozial sehr engagiert. In ihrer Freizeit liebe sie es zu reiten, Flöte zu spielen und mit ihrem Vater zu joggen. Bei Verdacht auf ein primär dystones Syndrom (Segawa-Syndrom) mit Beginn im Kindes- und Jugendalter entschieden wir uns für einen L-Dopa-Test. Ambulant war bereits eine L-Dopa-Therapie von 2008 bis Januar 2010 mit wechselnder Dosierung erfolgt. Da unter dieser Situation die o. g. Beschwerden zugenommen hatten, erfolgte ein Medikamentenwechsel auf Artane. Zudem war im Januar 2010 erstmalig eine Botulinumtoxininjektion in beide Waden gegeben worden. Im stationären Rahmen wurde die Artanmedikation abgesetzt und schrittweise Levodopa aufdosiert. Bereits bei einer Medikation von 100 mg Levodopa/25 mg Carbidopa täglich konnte eine deutliche Besserung der Symptomatik innerhalb von zwei Tagen beobachtet werden. Eine kontinuierliche Dosissteigerung des Levodopa auf 3-mal täglich 100 mg/25 mg wurde von der Patientin gut vertragen, es traten keine unerwünschten Wirkungen auf. Unter der Medikation kam es im stationären Rahmen zu einer vollständigen Symptomreduktion. Zur Entlassung erfolgte die Umstellung auf ein Retardpräparat.
5.5.6
z
Spastisch-dystone infantile Zerebralparese (ICD-10 G80)
Definition und Klassifikation
Die infantilen Zerebralparesen stellen kein einheitliches Krankheitsbild dar. Sie bilden einen Symptomkomplex, der eine Gruppe von statischen Enzephalopathien umfasst, die nach Hagberg u. Hagberg (1993) charakterisiert sind durch:
72
Kapitel 5 • Unterscheiden ist wichtig
4 eine neurologisch klar definierte Störung – Spastik, Dystonie, Dyskinesie, Ataxie, 4 Entstehung vor dem Ende der Neonatalperiode, 4 fehlende Progredienz des zugrunde liegenden Prozesses, 4 häufig, aber nicht zwingend, assoziierte Störungen wie Lernbehinderung, geistige Behinderung, Sehstörungen, Epilepsie.
5
Ausgeschlossen sind damit Erkrankungen des Gehirns, die progredienter Natur sind. Es wird angestrebt, Krankheitsbilder wie die sensomotorische Integrationsstörung, das sogenannte »Minimale cerebrale Dysfunktionssyndrom, MCD« oder die verschiedenen »Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrome« nicht in die infantilen Zerebralparesen einzuordnen. International hat sich die Klassifikation nach Hagberg u. Hagberg (1993) durchgesetzt: 4 spastische Zerebralparese 5 spastische Hemiplegie 5 bilaterale spastische Zerebralparese – beinbetont (Diplegie, Beine mehr als Arme betroffen), ca. 60% – komplett (Tetraplegie, Arme mehr als Beine betroffen), ca. 20% – tri-betont (Beine und ein Arm mehr als anderer Arm betroffen), ca. 10% – spastisch-dyskinetisch, ca. 10% 4 dyskinetische Zerebralparese – vorwiegend dyston – vorwiegend athetoid 4 ataktische Zerebralparese: nicht progressive kongenitale zerebelläre Ataxie Die spastischen Formen sind die weitaus häufigsten. Die spastische Hemiparese ist dominant bei den Reifgeborenen, die spastische Diplegie bei den Frühgeborenen. Infolge der intrazerebralen Blutungen bei den sehr kleinen Frühgeborenen scheint die spastische Hemiparese in dieser Gruppe zuzunehmen. Dyskinetische und
ataktische Formen machen die Minderzahl aus und finden sich eher bei Reifgeborenen. z
Ätiologie
Als Ursache der infantilen Zerebralparese werden genetische und früh pränatale Schädigungen einer perinatalen Entstehung gegenübergestellt. Die früher sehr kontroverse Debatte wird durch den Einsatz der neueren bildgebenden Verfahren ein wenig entschärft. Man nimmt heute an, dass bei Reifgeborenen mit bilateralen spastischen infantilen Zerebralparesen Läsionen des Gehirns vorherrschen, die im dritten Trimenon entstehen. Kernspintomografisch werden periventrikuläre Leukomalazien mit konsekutiver Ventrikelerweiterung nachgewiesen. Zu etwa 20% ist die Entstehung peri- oder neonatal zuzuordnen (hypoxisch-ischämische Enzephalopathie mit kortiko-subkortikaler Schädigung parasagittal oder im Bereich der Basalganglien/Thalamus). Bei Frühgeborenen finden sich überwiegend Läsionsmuster des frühen dritten Trimenons, d. h. kernspintomografisch stellen sich die Äquivalente einer periventrikulären Leukomalazie oder Marklagerreduktionen nach Blutungen dar. Für die spastischen Hemiplegien ist eine strukturelle Läsion des Gehirns in etwa zwei Drittel der Fälle verantwortlich. Bei den Reifgeborenen sind das zu 50% Infarkte im Stromgebiet der A. cerebri media, zu 50% periventrikuläre unilaterale Gliosen. Beim Frühgeborenen finden sich vorwiegend läsionelle Ursachen in Form unilateraler porenzephaler periventrikulärer Marklagerreduktionen nach ventrikulären Blutungen. Bei wahrscheinlich mehr als 50% der Reifgeborenen mit dyskinetischer infantiler Zerebralparese findet man bilaterale Schädigungen des Thalamus und der Basalganglien, die typischerweise hypoxisch-ischämisch entstehen. Choreoathetoide Zerebralparesen nach Kernikterus sind heute sehr selten geworden. Bei der ataktischen infantilen Zerebralparese bleibt die Ursache meist unklar, genetische Aberrationen werden angenom-
73
5
5.6 • Progressive Enezephalopathie
men. Bei ca. 30–40% der Kinder findet man im MRI eine zerebelläre Hypoplasie. z
Diagnose und Verlauf
Da eine sichere ätiologische Zuordnung der infantilen Zerebralparese oft nicht möglich ist, bleibt die Diagnose im Wesentlichen eine klinische. Die Störung des Gehirns zeigt in den ersten Wochen und Monaten, oft sogar Jahren, noch ein klinisch unspezifisches Bild. Erst bei Fortschreiten der Gehirnentwicklung prägt sich das typische klinische Bild aus. Transitorische neurologische Zeichen wie Tonus- und Haltungsasymmetrien, fluktuierende ataktische und dyskinetische Zeichen erschweren in den ersten Lebensjahren die Diagnosestellung. Daneben bedarf der Ausschluss eines progredienten Prozesses einer gewissen Beobachtungsdauer. > Diskutiert wird, die Diagnose einer Zerebralparese frühestens mit 3 Jahren, idealerweise mit 5 Jahren zu stellen. Natürlich ist bei einem eindeutigen klinischen Bild und bei klarer Ätiologie auch eine frühere Diagnosestellung möglich.
Die infantile Zerebralparese ist eine persistierende, keine progrediente Erkrankung und damit eine Behinderung. Dennoch können eine zusätzliche Verschlechterung der Gehfähigkeit, der Fähigkeit, frei zu sitzen, sowie andere motorische Beeinträchtigungen im Jugend- und Erwachsenenalter bei 40% der Betroffenen neu hinzutreten (Martin 2007). Als Ursachen der Verschlechterung kommen Schmerzen, mangelnde Übung bis zum Verlernen der Gehfähigkeit, koinzidente progrediente genetische Syndrome, komorbide Erkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems sowie Medikamentenwirkungen bzw. -nebenwirkungen infrage. z
Therapie
Die Therapie der Zerebralparese fokussiert auf eine Optimierung der vorhandenen Möglichkeiten. Jede Behandlung einer infantilen Zere-
bralparese ist immer eine Langzeittherapie mit interdisziplinärer Ausrichtung. Herausragende Bedeutung nimmt dabei die Physiotherapie ein. Zum Einsatz kommen u. a. die Verfahren nach Vojta, nach Bopath und andere Techniken. Da ähnlich wie bei der Behandlung spastischer Paresen anderer Ätiologie kontrollierte Studien fehlen, ist es nicht möglich, eine wissenschaftlich fundierte Emfehlung zu geben, ob eine der aufgeführten Methoden den anderen bei der Behandlung der infantilen Zerebralparese überlegen ist. Bei entsprechend ausgeprägter Symptomatik kommen Nachtschienen zum Einsatz, ebenso die Verordnung von Einlagen. Fokale spastisch-dystone Symptome werden heute mit Botulinumtoxin A behandelt, generalisierte Symptome (Tetraspastik) mit Baclophen oder Tizanidin oral. Die intrathekale Applikation von Baclophen (»Pumpe«) ist für ältere Kinder eine gute Option. Orthopädische Korrekturoperationen und dorsale Rhizotomien sollten am Ende der therapeutischen Möglichkeiten stehen.
5.6 z
Progressive Enezephalopathie Allgemeines
Auch wenn in einigen vorausgegangenen Abschnitten schon Hinweise auf progressive neurologische Erkrankungen bzw. deren Folgesymptome vorhanden sind, so soll hier explizit und ausführlich auf sie eingegangen werden, da sie keine geringe diagnostische und therapeutische Herausforderung im Gesundheitssystem spielen und in der Regel eine große Belastung für die Betroffenen und ihre Angehörigen darstellen. Darüber hinaus kommt dieser Gruppe von Erkrankungen ätiologisch eine große Bedeutung zu, da sie die Ursache für eine psychomotorische Retardierung sein können. Viele dieser Erkrankungen sind mit einer nur geringen Überlebenszeit assoziiert. Deshalb ist bei entsprechenden Früh- oder Hinweissymptomen insbesondere bei Abbauprozessen an eine progressive Enze-
74
Kapitel 5 • Unterscheiden ist wichtig
phalopathie zu denken. Nicht selten, insbeondere bei vielen adulten Formen und der Chorea Huntington, tritt hingegen der demenzielle Abbau erst sehr spät ein. z
5
Definition
In der Literatur existiert keine einheitliche Begriffszuordnung. Diese Gruppe sehr heterogener genetisch bedingter Erkrankungen des Zentralnervensystems ist einerseits durch einen progressiven Verlauf und andererseits durch kognitive Störungen gekennzeichnet. Oft ist ein Verlust/Abbau neuronaler Substanz mittels bildgebender Verfahren wie CT und MRT nachweisbar. Verschiedene Termini beschreiben ein und dieselbe Gruppe von Erkrankungen: 4 progressive Enzephalopathie, 4 neurodegenerative Erkrankungen in der Kindheit, 4 frühkindliche Demenz, 4 neurodegenerative Enzephalopathie u. a. In Anlehnung an Stromme et al. (2008) wird im Folgenden der Begriff Progressive Enzephalopathie (PE) verwendet. Abhängig davon, wie weit man die Definition fasst, gehören zu dieser Gruppe metabolische (Stoffwechselerkrankungen), neurodegenerative und entzündliche Erkrankungen. In der ICD-10 der WHO sind diese Erkrankungen verschlüsselt in den Kapiteln B (B22), E (E70–72; E74–77; E79; E83; E88,9) und G (G10–13; G20–26; G30–32; G35–37; G93.4; G93.9 und G96). Die entzündlichen Erkrankungen sind nicht Gegenstand der folgenden Betrachtungen. z
Epidemiologie
Stromme et al. (2007) fanden in einer Osloer Geburtenstudie der Jahrgänge 1985 bis 2003 84 PEFälle. Das entspricht einer kumulativen Inzidenz von 0.6 auf 1000 Lebendgeburten. Für metabolische Erkrankungen betrug die kumulative Inzidenz 0.40 und für lysosomale Speichererkrankungen 0.17 auf 1000 Lebendgeburten. Ähnliche
Raten wurden auch in anderen epidemiologischen Studien gefunden. Für metabolische Erkrankungen wiesen Dionisi-Vici et al. (2002) eine leicht geringere Inzidenz von 0.27 auf 1000 Lebendgeburten und Meikle et al. (1999) für lysosomale Speichererkrankungen eine von 0.13 in Westaustralien nach. > Die altersspezifischen Inzidenzraten sprechen für eine deutliche Risikoabnahme mit zunehmendem Alter.
Während die Inzidenz im 1. Lebensjahr noch 79.89, im 2. Lebensjahr 8.64 und zwischen dem 3. und 6. Lebensjahr 1.9 auf 100.000 betrug, lag sie nach dem 6. Lebensjahr nur noch bei 0.65. Das männliche Geschlecht überwog mit 66,7%. 71,4% aller erfassten Fälle manifestierten sich im 1. Lebensjahr. Eine breite Varianz zeigte sich hinsichtlich des Erstmanifestationsalters von metabolischen Erkrankungen (45,5% im 1. Lebensjahr) hin zu neurodegenerativen Erkrankungen (7,4% im 1. Lebensjahr). Das durchschnittliche Alter bei der ersten Diagnosestellung lag bei 4,5 Jahren. Aufgrund der vorliegenden Daten muss mit 6–6,5 Fällen von PE auf 100.000 Kinder im Alter bis 15 Jahren gerechnet werden. Innerhalb eines 10-Jahres-Zeitraums verstarben 36,9% aller Fälle von PE, 43,6% innerhalb der Gruppe der metabolischen und 18,5% innerhalb der Gruppe der neurodegenerativen Erkrankungen (Stromme et al. 2008). Die 1-Jahres-Überlebensrate betrug insgesamt 81%, die 10-Jahres-Überlebensrate immerhin noch 66%. z
Klassifikation, Klinik und Therapie
Die Klassifikation orientiert sich an den Studien von Hoffmann und Rating (2004) sowie Kohlschütter (2004). Eine umfassende Darstellung der über 10.000 monogenen Erbkrankheiten, unter denen die PE eine herausragende Rolle spielt, ist an dieser Stelle nicht möglich. Auf die entsprechende weiterführende neuropädiatrische Literatur sei verwiesen. Durch immer neue molekulargenetische Untersuchungen erweitert
75
5
5.7 • Demenz
sich nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ unser Wissen. So ist eher davon auszugehen, dass die an Verläufe, Manifestationsalter und Klinik angelehnte derzeitige Schematisierung durch neue genetische Befunde revidiert wird. Typisches Beispiel dafür sind die neuronalen Zeroidlipofuszinosen (NCL), bei denen in den letzten Jahren 160 ursächliche Mutationen auf nunmehr 11 Genen (CLN 1–10 und CLNCN 7) gefunden wurden (Jalanko u. Braulke 2009). 2004 waren erst 4 Gene bekannt. Dennoch gibt die Auflistung der Stoffwechsel- und neurodegenerativen Erkrankungen (. Tab. 5.9 und . Tab. 5.10) einen orientierenden Überblick. Aufgenommen in die Tabellen wurden nur Erkrankungen, die mit einer psychomotorischen Retardierung einhergehen. So fehlen z. B. unter den kongenitalen Defekten der Glykosylierung der Typ Ib (Phosphomannose-Isomerase-Enzymdefekt), die Neurotransmitterdefekte und unter den Mukoplysaccharidosen die Typen I S (M. Schreie), IV A und B (M. Morquio) sowie Typ VI (M. Maroteuax-Lamy), da bei diesen Erkrankungen die Intelligenz normal ist und auch im weiteren Krankheitsverlauf im Durchschnitt bleibt. Ein Mädchen hatte nach unauffälligem Schwangerschafts- und Geburtsverlauf die Meilensteine der frühkindlichen Entwicklung altersgerecht durchlaufen. Im Alter von 2¾ Jahren krampft es erstmalig generalisiert. Innerhalb von 3 Monaten entwickelt sich die expressive Sprachfähigkeit so weit zurück, dass das Mädchen kaum noch verständlich in maximal 3-Wort-Sätzen spricht. Zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme läuft die Patientin geführt an einer Hand, weist anfangs eine Muskelhypotonie, später eine Spastik und eine zunehmende generalisierte Ataxie auf. Innerhalb von zwei weiteren Monaten kann sie nicht mehr selbstständig sitzen, nässt und kotet ein, führt stereotyp alle Gegenstände zum Mund, krampft trotz adäquater antiepileptischer Medikation (Valproat plus Phenobarbital) nahe-
zu täglich, speichelt und ist aphasisch. Das zerebrale CT zeigt deutliche Atrophien, speziell im Kleinhirn. Im Alter von 4½ Jahren verstirbt die Patientin in der Häuslichkeit. Histopathologisch wird die Diagnose einer spätinfantilen neuronalen Zeroidlipofuszinose gesichert. Die Familienanamnese ist hinsichtlich degenerativer Erkrankungen ohne Hinweis.
5.7
Demenz
Am anderen Ende der Lebensspanne sind ältere Erwachsene mit einer Intelligenzminderung mit einem höheren Risko behaftet, an einer Demenz zu erkranken, als gleich alte Personen ohne eine Intelligenzminderung. Auf das besondere, genetisch verankerte Risiko bei Morbus-Down-Betroffenen wurde unter 7 Abschn. 4.3.1.2 bereits eingegangen. Wie sich Alter und Intelligenzminderung unabhängig von einer Trisomie 21 auf die Entwicklung einer Demenz auswirken, ist noch weitgehend unbekannt. z
Epidemiologie
Wie aus . Tab. 5.11 ersichtlich, weisen intelligenzgeminderte Erwachsene die höchste Prävalenz einer Demenz auf. Diese liegt um das 3-Fache höher als in der Allgemeinbevölkerung. Die Ergebnisse basieren auf einer Untersuchung von Strydom et al. (2009), die 281 Erwachsene mit Intelligenzminderung im Alter von 60 und dann im Follow-up mit 65 Jahren erfassten. Die Prävalenzraten differierten nicht bei den unterschiedlichen Schweregraden der Intelligenzminderung und auch nicht beim Geschlecht. Insbesondere die unter 65-Jährigen hatten aber ein wesentlich höheres Risiko als in der Gesamtpopulation. z
Definition
Das demenzielle Syndrom verläuft in der Regel chronisch oder fortschreitend. Dabei sind höhere kortikale Funktionen wie Gedächtnis, Den-
5
– Fettsäureoxidationsdefekte
– Glutarazidurie Typ I
– Biotinidase- und Holocarboxylase- Synthese-Mangel
– Methylmalonazidurien
Generell: Störungen des Harnstoffzyklus mit Hyperammonämie, der Glukoneogenese mit Hypoglykämien, der Atmungskette mit Laktazidose und Ketose und des Nierentubulus Akute Stoffwechselkrise mit Trinkschwäche, Erbrechen, Myoklonien, Dyskinesien, Dystonien, Erbrechen, schwere Enzephalopathie; später langsam progredienter Verlauf mit Ataxie, Pyramidenbahnläsionen, Myoklonien, Hirninsulten
Glukosezufuhr, ggf. Carnitin
L-Carnitin, Therapie der Dystonie
Biotin
Ggf. Gabe von Vitamin B12
Carnitinsubstitution, ggf. Metronidazol
1:6.000
Entsprechende Diäten
Gabe von Folsäure und Vitamin B6
– Propion- und Isovalerianazidurie
Gefäßkrankheiten mit Auftreten von Infarkten
Entgiftung, Glukose und Insulin i.v., Diät
Neugeborenenscreening Diät
Stopp der Eiweißzufuhr, hochkalorische Ernährung, forcierte Diurese, evtl. extrakorporale Entgiftung
Therapie
Organoazidopathien
Homocystein-Stoffwechselstörungen
Intrauterine Dystrophie, Mikrozephalie, Minderwuchs, Fehlbildung, geistige Behinderung
Hyperammonämie, Inappetenz, Erbrechen, Bewusstseinstrübungen, Enzephalopathie mit Anfällen, Multiorganversagen
Klinik
Lethargie, Trinkschwäche, akute Enzephalopathie, Ataxie, Epilepsie
1:6.600
1:8.000
Häufigkeit
Ahornsirupkrankheit
Phenylketonurie
Aminoazidopathien
– N-Azetylglutamatsynthase-Mangel – Karbamylphosphatsynthase-Mangel – Ornithin-Transkarbamylase-Mangel (X-chromosomal vererbt) – Argininbernsteinsäure-Krankheit – Arginasemangel
Harnstoffzyklusdefekte (autosomal rezessiv vererbt), z. B.:
Unterformen
. Tab. 5.9 Übersicht ausgewählter Stoffwechselerkrankungen mit primärer mentaler Retardierung oder progredientem mentalen Abbau
76 Kapitel 5 • Unterscheiden ist wichtig
– Conradi-Hünermann-Syndrom und CHILD-Syndrom (nur bei Mädchen)
– Smith-Lemli-Opitz-Syndrom
Cholesterolsynthesedefekte
2. Einzelenzymdefekte der Peroxisomen: – Refsum – X-linked ALD – Pseudoneonatale ALD – Bifunktionale Enzymdefizienz – Pseudo-Zellweger-Syndrom – Isolierte Pipecolazidämie – Mevalonazidurie – Trihydroxycholestanazidämie – Glutarazidurie Typ III – Hyperoxalurie Typ I – Acatalasie
1. Perioxisomale Assemblierungsstörung: – Zellwegger – Neonatale Adrenoleukodystrophie (NALD) – Infantiler Refsum – Pseudoinfantiler Refsum – Zellweger-like-Syndrom – Rhizomele Chondrodysplasia punctata
Peroxisomale Erkrankungen
Unterformen
. Tab. 5.9 Fortsetzung
1:20.000
1:40.000
Häufigkeit
Skelettfehlbildungen, ichthyosiforme Hautveränderungen
Dysmorphien, psychomotorische Retardierung, muskuläre Hypotonie, Katarakt, Gedeihstörung
Generell: Dysmorphien Schwere neurologische Störungen wie Hypotonie, Myopathie, Epilepsie, Ataxie, periphere Neuropathien Okuläre Symptome wie Retinopathie, Optikusdystrophie, Katarakt, Retinitis pigmentosa Hepatomegalie, Hyperbilirubinämie, Cholestase
Klinik
Keine rationalen Therapieansätze
Cholesterolgabe
Frühzeitige Knochenmarktransplantation
Therapie
5.7 • Demenz
77
5
Schwere Hypotonie, Epilepsie, Trinkschwäche, Atmungsprobleme, Dystrophie, Hydrozephalus, Balkenmangel, Entwicklungsstillstand, schwere Pyramidenbahn-zeichen
2. Störungen des Pyruvat-Metabolismus
Im Kindesalter primäre Multisystemerkrankungen:
Ketogene Diät plus Thiamin
Keine kausale Therapie, eher symptomatisch, Vermeidung toxischer Medikamente Bekämpfung der Laktatazidose mit Bicarbonat
Keine spezifischen Therapien
Generell: Vermehrte Blutungen durch Gerinnungsstörungen, Minor-Anomalien, Gedeihstörung, Hepatomegalie, Hepatopathie, Hypogonadismus, muskuläre Hypotonie, Epilepsie, periphere Neuropathie, Ataxie, Retinitis pigmentosa, mentale Retardierung
Myopathie, Myalgien, Muskelkrämpfe Psychomotorische Retardierung, Abbau, Stroke-like-Episoden, Migräneartige KS, Epilepsie, Ataxie, Visus- und Hörverlust, Pyramidenbahnzeichen, periphere Polyneuropathie Gerinnungsstörungen, Durchfall, Hepatopathie, Minderwuchs, Diabetes, Hypoparathyreoidismus, Kardiomyopathien, Nierentubulopathien
1:3.000–1:10.000
1:50.000
Therapie
Klinik
1. Störungen der Atmungskette: – Leigh-Enzephalopathie – MELAS-Syndrom – MERF-Syndrom – Kearns-Sayre-Syndrom (KSS)
Mitochondriale Erkrankungen
Kongenitale Defekte der Glykosylierung (CDG) Enzymdefekt der: – Phosphomannomutase – α-1,3-Glykosyltransferase – α-1,3-Mannosyltransferase – Dolichol-P-Mannose-Synthese – Dolichol-P-Mannose-Verwendung – α-1,6-Mannosyltransferase – α-3-Glukosyltransferase – α-1,3-Mannosyltransferase – N-Azetyl-Glukosaminyltransferase – Glukosidase I – GDP-Fukose-Transporter – β-1,4-Galaktosyltransferase – GDP-D-Mannose-4,6-Dehydratase
Häufigkeit
5
Unterformen
. Tab. 5.9 Fortsetzung
78 Kapitel 5 • Unterscheiden ist wichtig
4. Mukolipidosen I bis IV
3. Sphingolipidosen
2. Oligosaccharidosen: – Mannosidosen – Fucosidose – Galaktosialidose
1. Mukopolysaccharidosen: – I M. Hurler – II M. Hunter – III A, B, C, D/M. Sanfilippo – VII M. Sly
Lysosomale Speichererkrankungen Generell: vergröbertes Gesicht/Dysostosis multiplex, psychomotorische und sprachliche Entwicklungsstörung, Hepatosplenomegalie, Kardiomegalie Oft kommen noch Ataxie und periphere Neuropatien sowie Epilepsie dazu
Therapieresistente neonatale Anfälle, schwere Retardierung, Linsendislokation, Pyramidenbahnläsion
– Molybdän-Kofaktor-Defizienz
Klinik
Hämaturie, Infektionen, Koliken, Entwicklungsretardierung, extrapyramidales Syndrom mit Athetose und Dystonie, Automutilationen
Häufigkeit
– Lesch-Nyhan-Syndrom
Störungen im Stoffwechsel von Purinen und Pyrimidinen
Unterformen
. Tab. 5.9 Fortsetzung
Symptomatische Therapie, purinarme Diät
Therapie
5.7 • Demenz
79
5
80
Kapitel 5 • Unterscheiden ist wichtig
. Tab. 5.10 Ausgewählte neurodegenerative Erkrankungen Unterformen
Häufigkeit
Klinik
Therapie
– Metachromatische Leukodystrophie
Spätinfantile Form (2. Lj.) mit Stolpern, muskulärer Hypotonie, später Spastik, Optikusatrophie, Dezerebration Frühjuvenile Form (4–6 Jahre) Spätjuvenile Form (6–10 Jahre) Adulte Form wie Psychose
Knochenmarktransplantation, symptomatische Therapie
– M. Krabbe
Beginn 4.–6. Monat mit Irritabilität, Spastik, Krämpfen, Optikusatrophie, später schlaff, bulbäre Störungen, Lebenserwartung gering
– Spongiöse Dystrophie (M. Canavan)
Abbau von erworbenen Fähigkeiten, Bewegungsstörungen, Krämpfe, Optikusatrophie, Makrozephalie
– M. Alexander
Makrozephalie, Tetraspastik, Krämpfe
– Myelinopathia centralis diffusa (M. Hanefeld)
Spastik, Ataxie, Optikusatrophie, Demenz
– Zystische Leukenzephalopathien
Makrozephalie, Hirnzysten, Ataxie, Spastik, Anfälle
M. Pelizaeus-Merzbacher
Nystagmus, Stridor, Hypotonie, später Dystonie, Spastik
Leukodystrophien
5
Degeneration der grauen Substanz – Poliodystrophien Sphingolipidosen – Gangliosidosen – M. Gaucher Typ II – M. Niemann-Pick – Neuronale Zeroidlipo-fuszinosen
Generell: Demenz, Spastik, zerebrale Anfälle, Hepatosplenomegalie, Myoklonien
1:12.550 in Skandinavien, 1:100.000 weltweit
Degeneration der Basalganglien Chorea Huntington
Hyperkinesien, Choreoathetose, Rigidität, Krämpfe, Demenz
Unklassifizierte Erkrankungen
7 Abschn. 4.3.2
Rett-Syndrom
Keine spezifischen Therapieoptionen außer Enzymersatztherapie bei M. Gaucher Typ I
81
5
5.7 • Demenz
. Tab. 5.11 Prävalenz der Demenz beim Down-Syndrom (DS), Intelligenzminderung ohne DS und in der Gesamtbevölkerung (Rice et al. 2001, Coppus et al. 2006, Strydom et al. 2009) DownSyndrom
Intelligenzminderung
Gesamtprävalenz
Gesamt 16,8%
18,3%
5,7% >65 Jahre 0,23% 60 Jahre: 25,6%
ken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen beeinträchtigt. Kognitive Beeinträchtigungen können mit Veränderungen der Motivation, der emotionalen Kontrolle und des Sozialverhaltens einhergehen. Manchmal treten diese Begleitsymptome vor den kognitiven Defiziten auf.
Definition Die Diagnose einer Alzheimer Demenz (AD) stützt sich laut ICD-10 auf folgende Merkmale: 1. Schleichender Beginn mit langsamer Verschlechterung und Irreversibilität. 2. Fehlen klinischer Hinweise oder spezieller Untersuchungsbefunde, die auf eine System- oder Hirnerkrankung hinweisen, welche eine Demenz verursachen kann (z. B. Hypothyreose, Hyperkalzämie, Neurosyphilis u. a.) 3. Fehlen eines plötzlichen apoplektischen Beginns oder neurologischer Herdzeichen.
Da das klinische Bild der AD sehr bunt sein kann, sollte die Diagnostik einem Entscheidungsalgorithmus folgen. 4 Im ersten Schritt ist zu prüfen, ob höhere psychische Funktionsbeeinträchtigungen seit mindestens 6 Monaten vorhanden sind. Eine Leistungsabnahme im Gedächtnis, im Urteilsvermögen und im Denken geht in der Regel mit spürbaren Behinderungen im Alltag einher. Hinsichtlich des typischen Verlaufs (schleichend und langsam) darf keine deutliche Verbesserung eintreten. 4 Im zweiten Schritt ist zu verifizieren, ob die in der ICD-10 aufgeführte verminderte Affektkontrolle, die durch emotionale Labilität, Reizbarkeit, Apathie und/oder Vergröberung des Sozialverhaltens charakterisiert sein kann, vorliegt. 4 Der dritte Schritt beinhaltet die differenzialdiagnostischen Erwägungen sowie allgemeinkörperliche, neurologische, neurophysiologische, laborchemische und bildgebende Untersuchungen (CT bzw. MRT). 4 Als vierter Entscheidungsschritt fungieren diagnostische Maßnahmen, die die Diagnose erhärten. Dazu zählen Positronenemissionstomografie (PET) und Single-Photonen-Emissionstomografie (SPECT). Eine endgültige Diagnose der AD ist erst nach dem Tod histopathologisch durch Nachweis von massenhaft vorhandenen Neurofibrillen, Angiopathien sowie allgemeinen Zellnekrosen möglich. Bei Menschen mit geistiger Behinderung ergeben sich zusätzliche diagnostische Schwierigkeiten, da zum einen ihre prämorbiden Fähigkeiten häufig unterhalb der Leistungen liegen, die Standardtestverfahren erfassen (Global Deterioration Scale, GDS; Mini Mental Status Test, MMST; Alzheimer’s Disease Assessment Scale, ADAS). Zum anderen unterliegt die verbale Kommunikationsstrecke erheblichen Einschrän-
82
Kapitel 5 • Unterscheiden ist wichtig
. Tab. 5.12 Pharmakotherapie der Demenz Präparat
Rivastigmin ChE-Hemmer
Donezepil ChE-Hemmer
Galantamin ChE-Hemmer
Memantine GABAerg
Metabolismus
Renal
CYP2D6, CYP3A4
CYP2D6
20% P450
Halbwertszeit
1 h
70 h
7–8 h
60–100 h
Tagesdosis
Initial
2-mal 1,5 mg
5 mg (1. Monat)
2-mal 4 mg
5 mg (1. Woche)
Erhaltung
2-mal 3–6 mg
10 mg
2-mal 8 mg
2-mal 10 mg
Durchfall, Übelkeit, Erbrechen, Anorexie, Somnolenz, Schwindel
Durchfall, Übelkeit, Erbrechen, Muskelkrämpfe, Schlaflosigkeit
Durchfall, Übelkeit, Erbrechen, abdominale Schmerzen, Somnolenz, Kopfschmerzen, Schwindel
Unruhe, Urininkontinenz, Durchfall, Kopfschmerzen, Schwindel, Stürze, Obstipation
Nebenwirkungen >5%
5
kungen. Eine Übersicht zu standardisierten Untersuchungsinstrumenten findet sich bei Rösler et al. (2003). Aus eigenen Erfahrungen fallen die Betroffenen neben einem veränderten Verhalten (Psychopathologie, Sozialverhalten, soziale Kompetenz) in erster Linie durch verstärkte Tagesmüdigkeit und Orientierungsstörungen auf. Deshalb eignet sich in der Frühdiagnostik der Einsatz der Epworth Sleepiness Scale (ESS) zur Erfassung der Tagesmüdigkeit. z
Therapie
Unter dem Aspekt der Lebensqualität, der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und der möglichst frühen Intervention bei psychiatrisch relevanten Symptomen eines demenziellen Prozesses kommt einer adäquaten Therapie mit Antidementiva ein hoher Stellenwert zu. Dabei stehen cholinerge Substitutionsstrategien mittels Acetylcholinesterase-Hemmern (AChE-Hemmer) im Vordergrund. . Tab. 5.12 gibt eine Übersicht über AChE-Hemmer und GABAerg wirkende Antidementiva. Außerhalb der Demenz bei Trisomie 21 gibt es keine Studien zu ACE-Hemmern bei Menschen mit Intelligenzminderung. Eigene Erfahrungen sprechen für hervorragende Effekte,
insbesondere Langzeiteffekte von Rivastigmin, was auch das folgende Beispiel (Häßler 2005b) illustriert.
Beispiel Der mittlerweile 71-jährige Patient befindet sich seit 1954, d. h. seit seinem 15. Lebensjahr in Betreuung einer evangelischen Förder- und Pflegeeinrichtung. Familien- und entwicklungsanamnestische Daten ließen sich nicht eruieren. Die Intelligenzminderung liegt im leichten bis mittelgradigen Bereich (F70/71). Herr D. benötigte noch nie Psychopharmaka. Bis auf gesteigerte Muskeleigenreflexe der unteren Extremitäten und eine leichte Dysdiadochokinese gibt es weder allgemeinkörperlich noch neurologisch Auffälligkeiten. Bis auf seinen Namen in Druckbuchstaben kann Herr D. nicht schreiben. Im Zahlenbereich bis 100 ist er zumindest beim Vorwärtszählen sicher. Bis auf Kleinigkeiten ist er selbstständig, jahrelang arbeitete er auf der angegliederten Hühnerfarm. Er spielt in seiner Freizeit Offiziersskat und sieht fern. Im November 2002 kam es zu einer zunehmenden Gereiztheit, Affektlabilität sowie aggressiven Durchbrüchen, wobei es ihm hinter-
83 5.7 • Demenz
her sofort leid tat. Außerdem fiel eine extreme Verlangsamung von Denk- und Arbeitsabläufen auf. Er verwechselte die Wochentage, fragte viel nach, wirkte leichter erschöpfbar und ungeselliger. Das Kartenspielen vernachlässigte er ganz. Nach der Global Deterioration Scale GDS wies Herr D. kognitive Einbußen auf, die den Stadien 3–4 zugeordnet wurden. In der adaptierten Epworth Sleepiness Scale (ESS; im letzten Item Schule durch Arbeit ersetzt) lag der Summenscore bei 15. Im Dezember 2002 erfolgte die Einstellung auf Rivastigmin 1,5 mg/d. Unter dieser niedrigen Dosierung, die bis 2006 beibehalten werden konnte, wurde der Primärzustand wiederhergestellt. Wenn man von den durch die Intelligenzminderung begründeten Defiziten, die ja schon immer vorhanden waren, absieht, erreichte Herr D. einen klinisch unauffälligen Zustand. 2007 erfolgte eine Dosiserhöhung auf bis zu 4,5 mg/d.
5
85
Spezifische Aspekte 6.1
Sexualität – 86
6.2
Konsum legaler und illegaler Drogen – 89
6.3
Forensische Aspekte – 91
6.3.1 6.3.2
Gesetzliche Grundlagen – 91 Zusammenhang zwischen Intelligenzminderung und Delinquenz – 93 Forensische Relevanz im Strafrecht – 94 Forensische Relevanz im Zivilrecht und Öffentlichen Recht – 99
6.3.3 6.3.4
6
86
Kapitel 6 • Spezifische Aspekte
Menschen mit geistiger Behinderung weisen einige Besonderheiten auf, die sowohl in ihrem Alltagsverhalten, bezüglich ihrer Adaptabilität, speziell in der Diagnostik, als auch wenn nötig in der Therapie berücksichtigt werden müssen. Zu diesen zählen vor allem spezifische Aspekte in der Sexualität, das Konsumverhalten hinsichtlich Alkohol und illegaler Drogen sowie ihr erhöhtes Risiko, sich antisozial oder delinquent zu verhalten.
6
6.1 z
Sexualität Allgemeines
Sexualität, d. h. menschliche Geschlechtlichkeit, zeichnet sich durch biologische, psychologische und soziale Wirkfaktoren aus, weist unterschiedliche Dimensionen auf und erfüllt miteinander in Wechselbeziehung stehende verschiedene Funktionen wie: 4 die Lustdimension, 4 die reproduktive Dimension und 4 die beziehungsorientierte Dimension (Beier et al. 2001). Grundsätzlich gelten diese Dimensionen der Sexualität auch für Menschen mit geistiger Behinderung. Die Frage ist also nicht, welche Personen mit einer geistigen Behinderung welche Sexualität haben, sondern wie sie im Erleben und Ausleben ihrer sexuellen Bedürfnisse unterstützt werden können. Insbesondere das jeweilige institutionelle Klima und die Einstellung der Betreuer/Pflegepersonen entscheiden wesentlich über diese Frage. Bever (2003) konstatierte in seiner Untersuchung, dass nur 3% aller BewohnerInnen in Mecklenburg-Vorpommern in Einrichtungen der Behindertenhilfe leben, die den Forderungen des Normalisierungsprinzips, d. h. 6–8 Personen in einer Wohngruppe, entsprechen. Weniger als 20% verfügten über ein Einzelzimmer. Von einer Intimsphäre kann also mitnichten die Rede sein.
z
Wünsche und Bedürfnisse
Nach nahezu allen Untersuchungen hatten in einem unterstützenden toleranten Umfeld 40% bis 60% der leicht geistig behinderten Menschen wiederkehrende sexuelle Koituserfahrungen mit Partnern. Bei mittelgradig bis schwer geistig behinderten Menschen lag diese Rate nur noch bei 9% (Conod 2008). Über Pettingerfahrungen vor allem mit Küssen verfügten nahezu 80% (Siebelink et al. 2006). Zwischen den Vorstellungen von Eltern, Heimleitern und Betreuern bezüglich der sexuellen Bedürfnisse von Intelligenzgeminderten und denen der Betroffenen liegen teils große Unterschiede. In einer Untersuchung von Pueschel u. Scola (1988) bekundeten über 50% der befragten 73 Teenager mit Trisomie 21 Interesse an Geschlechtsverkehr und 40% der Jungen sowie 22% der Mädchen verfügten über Masturbationserfahrungen. Dagegen gingen nur 4 Eltern davon aus, dass ihre Kinder entsprechende Bedürfnisse haben könnten. Auch in der erwähnten Untersuchung von Bever (2003) wünschten sich 13% Geschlechtsverkehr, 8% eine Heirat/Verlobung und 8% hegten einen Kinderwunsch. 4 Vor dem Hintergrund der durchaus vorhandenen Wahrnehmung von Geschlechtsunterschieden kommt es auf der Ebene der Lustdimension häufig schneller und inadäquater zu sexuellen Kontakten ohne ausreichende Prüfung der Angemessenheit der Situation und des Einvernehmens des vermeintlichen Sexualpartners. 4 Damit fehlt den sexuellen Kontakten oft eine beziehungsorientierte Dimension. Diese subsummiert neben der Bindungsfunktion der Sexualität das biopsychosoziale Grundbedürfnis eines jeden Menschen nach Akzeptanz, Nähe, Sicherheit und Geborgenheit. Abhängig vom Ausmaß der Behinderung gelingt die Integration von sexueller Lust innerhalb einer solchen auf Vertrauen, Achtung, Akzeptanz, Sicherheit, Nähe und
87
6
6.1 • Sexualität
Geborgenheit basierenden Beziehung kaum zufriedenstellend. 4 Die reproduktive Dimension spielt mit zunehmendem Behinderungsgrad eine untergeordnete Rolle. Die Fertilität schwer geistig behinderter Menschen ist eingeschränkt bis aufgehoben. Die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft ist bei intelligenzgeminderten Frauen 118-mal geringer als in einer normal intelligenten Vergleichsgruppe (Huovinen 1993). Dennoch haben viele Eltern und Betreuer vor einer ungewollten Schwangerschaft Angst. Die Rechtslage bezüglich einer irreversiblen Sterilisation ist dazu aber eindeutig, zumal auch für Menschen mit einer geistigen Behinderung alle nichtinvasiven bzw. invasiven reversiblen Verhütungsmaßnahmen zugänglich sind. z
Rechtslage hinsichtlich einer Sterilisation
In der Neuregelung des Betreuungsgesetzes vom 1.1.1992 mit dem Ziel, eine höchstmögliche Rechtssicherheit zu schaffen, werden drei Personengruppen unterschieden: 1. Minderjährige, 2. Geschäftsunfähige Volljährige und 3. Einwilligungsunfähige Volljährige (Braun et al. 2003). Ad. 1: Die Sterilisation minderjähriger geistig behinderter Menschen ist unzulässig und nicht durch Einwilligung zu rechtfertigen! Auch Eltern können nach § 1631c BGB nicht in eine Sterilisation des Kindes einwilligen. Auch das Kind selbst kann nicht in die Sterilisation einwilligen. Ad. 2: Die Sterilisation geschäftsunfähiger geistig behinderter volljähriger Menschen bedarf für ihre Zulässigkeit der Einwilligung des Patienten ungeachtet der Frage, ob er unter rechtlicher Betreuung steht! (Bezüglich Einwilligungs- und Geschäftsfähigkeit siehe 7 Abschn. 6.3.4) Gemäß § 1905 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB muss die Steri-
lisation unterbleiben, wenn sie dem Willen des Betreuten widerspricht. Darunter ist im Gegensatz zur Einwilligung, für deren Wirksamkeit es auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Betroffenen ankommt, der natürliche Wille zu verstehen. Der Widerstand muss sich nach dem Gesetzeswortlaut gegen die Sterilisation richten, bei Zweifeln hat die Sterilisation zu unterbleiben. Kommt der Widerwille schon im vormundschaftsgerichtlichen Verfahren zum Ausdruck, ist die Genehmigung gemäß § 1905 Abs. 2 Satz 1 BGB zu versagen. Ad. 3: Die Entscheidung über die Durchführung einer Sterilisation für diese einwilligungsunfähigen Menschen fällen andere Personen (Betreuer, Sachverständiger) und Institutionen (Betreuungsbehörde, Vormundschaftsgericht). Diese ist bindend für den behandelnden Arzt. Für die Entscheidungsfindung muss ein besonderer Betreuer bestellt werden, dessen Aufgabenbereich auf die Sterilisation beschränkt ist (§ 1899 Abs. 2 BGB). Die Einwilligung des Betreuers ist im Übrigen nur wirksam, wenn drei situationsgebundene Erfordernisse zusammentreffen, nämlich: 4 wenn anzunehmen ist, dass es ohne die Sterilisation zu einer Schwangerschaft kommen würde (§ 1905 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB), 4 wenn infolge dieser Schwangerschaft der Eintritt einer der im Gesetz näher umschriebenen Notlagen zu erwarten wäre, die nicht auf andere zumutbare Weise abgewendet werden könnte (§ 1905 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BGB), 4 wenn die Schwangerschaft nicht durch zumutbare andere Mittel verhindert werden kann (§ 1905 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 BGB). Diese Voraussetzungen gelten kumulativ und müssen alle für eine Einwilligung des Betreuers in die Sterilisation erfüllt sein; fehlt eine dieser Voraussetzungen, muss eine Sterilisation unterbleiben.
88
6
Kapitel 6 • Spezifische Aspekte
> Besonders wichtig ist, dass zunächst nach § 1905 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 BGB die Schwangerschaft, aus der die Notlage droht, zumutbar durch andere Verhütungsmittel vermieden werden kann. In Betracht kommen alle üblichen chemischen und mechanischen Mittel der Empfängnisverhütung, sofern sie zuverlässig angewendet werden können und nicht mit unverhältnismäßigen Nebenwirkungen oder Unzuträglichkeiten verbunden sind.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass als schwerwiegende Gefahr für den seelischen Gesundheitszustand der Schwangeren auch die Gefahr eines schweren und nachhaltigen Leides gilt, das ihr drohen würde, weil vormundschaftsgerichtliche Maßnahmen, die mit ihrer Trennung vom Kind verbunden wären, gegen sie ergriffen werden müssten (Schwarz 2009). Nach § 1905 Abs. 2 bedarf die Einwilligung des Betreuers in jedem Fall der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts. Jeder Arzt muss sich, bevor es zu einer solchen Sterilisation kommt, die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts vorlegen lassen. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Sterilisation erst zwei Wochen nach Wirksamkeit der Genehmigung durchgeführt werden darf (§ 1905 Abs. 2 Satz 2 BGB). Dies ist deshalb erforderlich, um etwaige Rechtsmittel und deren Entscheidung abzuwarten. Jeder verantwortungsvolle Arzt muss daher den Betreuer bei der Einwilligung und vor der Operation befragen, ob die vormundschaftsgerichtliche Entscheidung auch rechtskräftig bzw. wirksam ist. > Bei der Sterilisation ist stets der reversiblen Methode der Vorzug zu geben.
Vorgehen zum Erlangen einer vormundschaftlichen Genehmigung 4 Bestellung eines Verfahrenspflegers
4 Persönliche Anhörung des Patienten und seiner Angehörigen durch das Vormundschaftsgericht 4 Durchführung einer Sachverständigenbegutachtung, welche die medizinischen, psychologischen, sozialen, sonder- und sozialpädagogischen Gesichtspunkte berücksichtigt. Hierbei müssen mindestens zwei Gutachter gehört werden 4 Besprechung der Ergebnisse der Anhörung und der Gutachten mit dem Betreuten und seinen Angehörigen 4 Die Bekanntmachung der Entscheidung erfolgt an den Verfahrenspfleger, den Betreuer, Betroffenen und die eventuell eingeschaltete Betreuungsbehörde. 4 Die Sterilisation darf erst 2 Wochen nach Wirksamkeit der Genehmigung durchgeführt werden. Bei der Sterilisation ist stets die Methode der Vorzug zu geben, die eine Refertilisierung zulässt. Die Probleme, die Menschen mit einer geistigen Behinderung in der Sexualität haben, sind in der folgenden Übersicht zusammengefasst. Sexuelle Probleme von Menschen mit Behinderung 5 Empathie und Nachhaltigkeit fehlen in der Beziehungsgestaltung. 5 Sexuelle Aktivität findet direkt und ohne Rücksicht auf andere statt (Masturbation in der Öffentlichkeit). 5 Es besteht erhöhte Gefahr von genitaler (Selbst-)Verletzung. 5 Die sexuelle Aktivität ist objektorientiert. 5 Häufig ist die sexuelle Orientierung bisexuell oder autoerotisch. 5 Sexuelles Verhalten und sexuelle Bedürfnisse werden tabuisiert. 5 Es mangelt an angemessener sexueller Aufklärung und damit an Wissen. 5 Die Intimhygiene ist unzureichend.
89
6
6.2 • Konsum legaler und illegaler Drogen
5 Die Compliance bezüglich oraler Kontrazeption ist mangelhaft. 5 Die Rechtslage bezüglich einer Sterilisation ist schwierig. 5 Häufig sind die Betroffenen Opfer sexuellen Missbrauchs durch andere geistig Behinderte bzw. auch Nichtbehinderte. z
Sexueller Missbrauch
Für den Punkt, dass geistig Behinderte häufig Opfer sexuellen Missbrauchs sind, sprechen die Ergebnisse der Untersuchung von Zemp 2002. Die Autorin befragte je 130 behinderte Frauen und Männer im Alter von 18–78 Jahren, die in Institutionen lebten und betreut wurden. 27% der Frauen und 3% der Männer waren zwangssterilisiert. 64% der Frauen und 50% der Männer gaben sexuelle Gewalterfahrungen an, doppelt so viele im Vergleich zur Normalbevölkerung. 26,2% der Frauen und 7% der Männer waren vergewaltigt worden. In 13% der Fälle erfolgten die Übergriffe durch das Pflegepersonal! Diese Zahlen decken sich mit internationalen Studien. Der Anteil geistig behinderter Frauen, die sexuell missbraucht wurden, liegt zwischen 25 und 63%. Während die Wahrscheinlichkeit eines sexuellen Missbrauchs in einer Einrichtung der Behindertenhilfe geringer ist als bei allein lebenden oder nur gering betreuten intelligenzgeminderten Frauen, sind die Täter umfeldabhängig zu suchen. In Einrichtungen der Behindertenhilfe sind es in zwei Dritteln aller Fälle Mitbewohner, ansonsten Bekannte oder gar Familienangehörige (Gust et al. 2003). Auf der anderen Seite weisen Menschen mit einer geistigen Behinderung auch viele Risikofaktoren auf, selbst zum Sexualtäter zu werden. Dazu gehören die einschlägigen Opfererfahrungen, eine hohe Impulsivität, häufig ein Mangel an (Opfer)Empathie, eine geringe Aufklärungsrate zur Sexualität und nicht zuletzt ein geringes
Angstniveau, was als Hemmmechanismus fungieren könnte (Lindsay u. Lees 2003). z
Weiterführende Hinweise
Wissend um diese Probleme kommt es auf eine pädagogisch therapeutische Begleitung der Sexualität geistig behinderter Menschen an, deren Bedürfnisse sich nicht von denen Nichtbehinderter unterscheiden. Voraussetzung für eine emanzipatorische Sexualerziehung durch Sorgeberechtigte und/oder Betreuer ist neben fachlichem Wissen und einer vorurteilsfreien, empathischen Herangehensweise die Überprüfung eigener Einstellungen zur Sexualität. Die in 7 Anhang A2, weiterführende Literatur, angegebenen Titel dienen der Unterstützung, der Ermutigung bezüglich des Umgangs mit diesem tabuisiertem Thema und der eigenen Sicherheit.
6.2
z
Konsum legaler und illegaler Drogen Prävalenz
Trotz des in unserer Gesellschaft weit verbreiteten Alkoholkonsums existieren nur wenige Studien zur Konsumprävalenz bei Menschen mit Lernbehinderung und Intelligenzminderung. Auch die Konsequenzen des Alkoholmissbrauchs und die Therapiemöglichkeiten für Menschen mit unterdurchschnittlicher Intelligenz finden in der Literatur nur wenig Beachtung. Krishef u. DiNitto (1981) konnten zeigen, dass von 111 Alkohol konsumierenden Personen mit geistiger Retardierung 40% medizinische Probleme, 36% zerebrale Krampfanfälle und 50% eine Einnahme psychotroper Substanzen angaben. > Nahezu alle Untersuchungen kommen aber zu der Schlussfolgerung, dass Intelligenzminderung allein kein erhöhtes Risiko für einen Alkohol- und/oder Drogenkonsum darstellt.
90
6
Kapitel 6 • Spezifische Aspekte
Alkoholmissbrauch scheint unter intelligenzgeminderten Personen genauso häufig verbreitet zu sein wie unter nicht intelligenzgeminderten Personen (Clarke u. Wilson 1999). Edgertons (1986) fand sogar niedrigere Raten für Alkoholund/oder Drogengebrauch bzw. -missbrauch bei Menschen mit geistiger Behinderung im Vergleich zu normal intelligenten Personen. Innerhalb spezifischer ambulanter Alkoholbehandlungsprogramme oder in Suchtberatungsstellen bzw. in klinischen Forschungen finden sich relativ wenige Menschen mit geistiger Behinderung. Tyas u. Rush (1993) geben eine Zahl von 2,3% an. Diese erhöht sich auf 5%, wenn körperliche und/oder geistige Behinderung im Rahmen von Alkoholrehabilitationsprogrammen erfasst werden. Krishef u. DiNitto (1981) verglichen Alkohol missbrauchende geistig behinderte Menschen, die in Gruppeneinrichtungen wohnten, mit allein Lebenden, mit solchen, die bei den Eltern lebten, mit einigen, die in einer Partnerschaft zusammenlebten, und mit welchen, die unter anderen Bedingungen lebten. Es zeigten sich keinerlei signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen. Betreute Einrichtungen scheinen aber einen gewissen Schutz vor ungehemmtem Alkoholmissbrauch darzustellen. Allein Lebende wiesen das höchste Missbrauchsrisiko gegenüber der Droge Alkohol auf. Andererseits konnte Edgerton (1986) keine signifikanten Unterschiede bezüglich des Alkoholkonsums und –missbrauchs in Abhängigkeit von der Wohnsituation feststellen. z
Ursachen und drogenassoziierte Probleme
Betrachtet man mit dem Alkoholmissbrauch in Zusammenhang stehende soziale Probleme wie Arbeitsplatzverlust sowie delinquentes Verhalten, konnten Krishef u. DiNitto ebenfalls keine nennenswerten Differenzen zwischen intelligenzgeminderten und normal intelligenten Menschen feststellen.
4 Ihrer Untersuchung zufolge tranken 7% geistig Behinderte täglich Alkohol. 4 Ebenfalls 7% hatten aufgrund übermäßigen Alkoholkonsums Probleme mit Behörden. 4 Ein Drittel der Probanden hatte bereits wegen Trinkens oder des nachfolgenden Verhangenseins (Katers) die Arbeit versäumt. Die Ursachen für die Suchtentwicklung sind wie bei allen Menschen sehr vielschichtig. Natürlich dominieren bei geistig Behinderten psychosoziale Faktoren. Menschen mit primären psychischen Störungen (inklusive intellektueller Minderbegabung) tendieren zum Suchtmittelgebrauch, um in erster Linie psychosozialen Problemen zu entfliehen, Kränkungen und Zurücksetzungen, Hänseleien und Demütigungen zu kompensieren oder sich als Teil einer Gruppenkultur zu fühlen, zu der sie nüchtern nicht gehören würden. Schinner (2000) nennt als besondere psychosoziale Belastungsfaktoren in der Suchtentwicklung geistig Behinderter: 4 frühkindliche narzisstische Störungen aufgrund mangelnder oder fehlender Zuwendung mit schwerwiegenden Folgen für die Herausbildung eines Identitäts- und Selbstwertgefühls, 4 mangelnde oder fehlende Kompensationsmöglichkeiten aufgrund intellektueller und emotionaler Einschränkungen, 4 mangelnde oder fehlende Entwicklung von Möglichkeiten der Selbstbestimmung, 4 mangelnde oder fehlende soziale Integration. > Menschen mit geistiger Behinderung bleiben häufig ein Leben lang fremdbestimmt, teils auch bevormundet und stigmatisiert. Es fehlen somit wesentliche individuelle und soziale Schutzfaktoren, um das Risiko einer Suchtentwicklung zu minimieren.
Suchtmittelmissbrauch verstärkt bereits primär vorhandene Verhaltensauffälligkeiten bzw.
91
6
6.3 • Forensische Aspekte
führt im Rausch zum Auftreten derselben. Die verzögerte Informationsaufnahme, das geringe Instruktionsverständnis, die verminderte Frustrationstoleranz und die hohe Impulsivität erschweren den adäquaten Umgang bereits ohne Berauschung. Besonders häufig kommt es zu aggressiven Verhaltensweisen jeglicher Art (auch in Institutionen). Dabei können dann auch schwere Fehlhandlungen auftreten, die strafrechtliche Konsequenzen haben und verschiedene Deliktbereiche betreffen. Somatische Störungen können im Sinne eines schnelleren und verstärkten Auftretens eine ungünstige Verlaufskomplikation darstellen. Insbesondere epileptische Anfälle sind zu nennen, aber auch schwerere Entzugssyndrome und eine hohe Nebenwirkungsrate auf Psychopharmaka. > Allgemein kann man konstatieren, dass substanzabhängige oder missbrauchende geistig Behinderte sensibler auf die berauschenden Substanzen reagieren und häufiger sowie stärker ausgeprägte psychiatrische Komplikationen aufweisen. z
Prävention
Obwohl Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht mehr Alkohol als vergleichbare normal intelligente Personen trinken, besteht für sie, wie oben erwähnt, ein höhtes Risiko. Unabhängig vom Grad der Behinderung bedarf es effektiver primärer Präventionsmaßnahmen, speziell für gefährdete Personen mit einer Intelligenzminderung oder solche unter ihnen, die bereits ein riskantes Alkoholkonsummuster aufweisen. Die Verhaltenspräventionsmaßnahmen, die sich in der Allgemeinbevölkerung als wirksam erwiesen haben, greifen nur bedingt in der Subpopulation der geistig behinderten Menschen. Dazu zählen fast alle Maßnahmen gegen Alkohol am Steuer, da die Betroffenen in der Regel nicht über eine Fahrerlaubnis verfügen, allenfalls Personen mit einer Lernbehinderung. Die Verhältnisprä-
vention, zu der staatliche Maßnahmen wie Preisund Verkaufsregulierung sowie das Jugendschutzgesetz zählen, ist natürlich vergleichbar wirksam, müsste aber auf die Besonderheiten von Menschen mit einer Intelligenzminderung hin erweitert werden: 4 An offensichtlich geistig behinderte Personen dürften ebenso wie an Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren nur in Begleitung einer Betreuungsperson alkoholische Getränke (Bier, Wein, Sekt) abgegeben werden; Branntwein und branntweinhaltige Getränke überhaupt nicht. 4 Eine solche Regelung wäre auch für Wohngemeinschaften und Heime sinnvoll, die man zu alkoholfreien Zonen erklären sollte. 4 Auch geistig behinderte Kinder und Jugendliche verbringen viele Jahre in der Schule. Zu den zu vermittelnden Bildungsinhalten sollten auch Themen wie Alkohol, Gesundheit und Sucht gehören. Darüber hinaus sind oft zusätzliche Projekte wie Konzeptarbeit und Suchtwochen sinnvoll (Thomasius et al. 2009). 4 Dabei ist es wünschenswert, Eltern einzubeziehen. Diese sollten nicht nur Vorbild sein, sondern offensiv das Thema sowohl in Bezug auf präventive Aufklärung als auch bei Problemen ansprechen, gemeinsam Regeln aufstellen, die Verantwortung des Kindes stärken, Freizeitalternativen aufzeigen und mitgestalten und bei Bedarf professionelle Hilfe zurate ziehen.
6.3
Forensische Aspekte
6.3.1
Gesetzliche Grundlagen
Für straffällig gewordene Menschen mit Intelligenzminderung kommen eine Reihe von Paragrafen des deutschen Jugendstrafrechts (JGG) und des Strafgesetzbuchs (StGB) zum Tragen, die entscheidend dafür sind, wie im Einzelfall
92
6
Kapitel 6 • Spezifische Aspekte
die Intelligenzminderung gewertet wird und die richterliche Entscheidung bestimmt. Generell stellt sich dabei allerdings die Frage, ob diese Gesetze hinreichend Spielraum lassen, um im Einzelfall zu einem angemessenen Urteil zu kommen. Der Grund dafür liegt in der Schwierigkeit begründet, dass zum einen der Grad der Intelligenzminderung exakt bestimmt werden muss, um in juristischem Sinne entweder Intelligenzminderung oder Schwachsinn zugrunde legen zu können. Zum anderen muss auch die genaue Relevanz der geistigen Behinderung für den Tathergang im Zusammenhang mit allen speziellen und allgemeinen Faktoren berücksichtigt werden, die auch in Prozessen gegen nicht intelligenzgeminderte Angeklagte herangezogen werden. Eine zentrale Rolle spielen dabei die juristischen Begriffe 4 Einsichtsfähigkeit 4 Steuerungsfähigkeit 4 Schuldfähigkeit Ihre Relevanz (7 Abschn. 6.3.3) ergibt sich aus den folgenden Gesetzen: 4 § 3 JGG zur Regelung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit mit dem Geltungsbereich für Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren 4 § 105 JGG zur Reifebeurteilung im Altersbereich 18 bis 21 Jahre 4 §§ 20/21 StGB zur Schuldfähigkeit, ab Vollendung des 14. Lebensjahrs Besondere Bedeutung kommt diesen beiden letztgenannten Paragrafen zu.
»
Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinn oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.
«
»
Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
«
Als juristische Kategorien für eine verminderte bzw. aufgehobene Schuldfähigkeit aufgrund einer verminderten oder aufgehobenen Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit gelten demnach die krankhafte seelische Störung, die tiefgreifende Bewusstseinsstörung, die schwere andere seelische Abartigkeit und der Schwachsinn. > Eine aufgehobene Steuerungsfähigkeit kommt nur unter einem IQ von 50 infrage.
Nach der Entstehungsgeschichte der §§ 20, 21 StGB soll das psychische Merkmal des Schwachsinns den intellektuellen Störungen vorbehalten sein, deren Ursachen man nicht kennt. Bei bekannter körperlicher Ursache ist der Begriff der krankhaften seelischen Störung zu präferieren. Bei erheblich verminderter oder aufgehobener Schuldfähigkeit kommt bei andauernder Gefährlichkeit unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) nur eine Unterbringung intelligenzgeminderter Straftäter im Maßregelvollzug infrage, wobei der Maßregelvollzug kaum über Voraussetzungen erfüllt, diese Straftäterpopulation adäquat und effektiv über Jahre hinweg zu therapieren (7 Abschn. »Intelligenzgeminderte Täter im Maßregelvollzug« in diesem Kapiel). Alternativ zum Maßregelvollzug wären geschlossene Heime der Behindertenhilfe sinnvoll, an denen es aber in der Fläche mangelt. Auch geschlossen geführte, spezielle Abteilungen der Allgemeinpsychiatrie könnten diese Aufgabe übernehmen. Mit dem Abbau allgemeinpsychiatrischer Betten und der Enthospitalisierung chronisch psychisch Kranker geht die Entwicklung aber genau in die andere Richtung.
93
6
6.3 • Forensische Aspekte
> In den letzten 40 Jahren wurden allgemeinpsychiatrische Betten stark reduziert, während es in den forensischen psychiatrischen Krankenhäusern und Entziehungsanstalten zu einem dramatischen Anstieg der Belegungszahlen um mehr als 100% sowie gleichzeitig zu einem Rückgang günstiger Prognosestellungen kam. 1965 betrug das Verhältnis von allgemeinpsychiatrischen zu forensischen Betten noch 23,5:1, 2005 nur noch 6,8:1 und 2008 5,3:1.
6.3.2
z
Zusammenhang zwischen Intelligenzminderung und Delinquenz
Prävalenz
Trotz aller methodischer Schwierigkeiten existieren Vergleichsstudien, die belastbare Prävalenzzahlen von Delinquenz bei Menschen mit geistiger Behinderung liefern. Hodgins (1992) untersuchte eine schwedische Geburtskohorte des Jahres 1953 (n = 15.117) und fand, dass die Wahrscheinlichkeit einer gerichtlichen Verurteilung für geistig behinderte Männer 3-mal höher und für geistig behinderte Frauen sogar 4-mal höher als für nicht Intelligenzgeminderte ist. Die Odds Ratio für Straftaten intelligenzgeminderter Männer lag bei 5.0 und die für Frauen bei 25.0. Eine ähnliche Untersuchung an einer dänischen Totalpopulation (n = 300.000) über 43 Jahre zeigte vergleichbare Resultate. Intelligenzgeminderte Frauen und Männer, die stationär psychiatrisch behandelt worden waren, wiesen eine Risikorate für Straftaten von 6.9 und 5.5 auf. Auch wenn in diesen Studien keine Aussagen über Ursachen und Wirkungen getroffen wurden, verdeutlichen die Zahlen den Bedarf an geschulten Richtern und fachlich versierten Gutachtern, um den besonderen Bedürfnissen
von geistig behinderten Rechtsbrechern gerecht werden zu können. 4 Nach zwei englischen Studien hatten 2% bis 5% aller geistig Behinderten in Cambridge und London als potenziell Verdächtige Kontakt mit der Polizei gehabt (Lyall et al. 1995, McNulty et al. 1995). 4 Die Prävalenzzahlen geistig behinderter Strafgefangener in amerikanischen und englischen Gefängnissen liegen bei bis zu 9,5% (Übersicht bei Murphy u. Mason 2004), was dem Dreifachen der allgemeinen Prävalenz geistiger Behinderung entspricht. Aufgrund der Einschränkungen sozialer, motorischer und sprachlicher Funktionen und der damit verbundenen restriktiven Teilhabe am gesellschaftlichen Zusammenleben von Menschen mit geistiger Behinderung werden Straftaten eher von leicht bis mittelschwer geistig Behinderten verübt. Auch in der Untersuchung von Lyall et al. 1995 wies nur eine Person eine schwere geistige Behinderung auf. Andererseits kommen nicht alle »Straftaten«, die von intelligenzgeminderten Menschen verübt werden, zur Anzeige. Viele Körperverletzungen, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und Eigentumsdelikte, die in Heimen an der Tagesordnung sind, werden, aus nachvollziehbaren Gründen, nicht angezeigt. z
Justizielle Herausforderungen
Unsere Justiz und unser Rechtssystem sind wenig auf die besonderen Belange von Menschen mit geistiger Behinderung eingestellt. Das fängt bei Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen an und hört bei Skandalurteilen gegenüber vermeintlichen Tätern mit einer geistigen Behinderung auf. Menschen mit geistiger Behinderung haben in der Regel keine Lobby und sind selbst nur in den wenigsten Fällen in der Lage, ihre Interessen adäquat zu artikulieren und zu vertreten. Leicht suggestibel lassen sie sich schnell einschüchtern und frustrieren, erkennen die
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6
Kapitel 6 • Spezifische Aspekte
Tragweite bestimmter Einlassungen nicht und können wegen häufig mangelnder Orientierung und Merkfähigkeit keine sie entlastenden Alibis liefern. Um in Ruhe gelassen zu werden, stimmen sie leichtfertig Vernehmungsprotokollen zu. Eigene diesbezügliche Erfahrungen vor Gericht (glücklicherweise Ausnahmen) betreffen auch unter Betreuung stehende geistig behinderte Zeugen und Angeklagte, die einerseits ohne Betreuungsbeistand der Befragungstortur ausgesetzt wurden und andererseits in ihren Aussagen als uneingeschränkt glaubwürdig eingeschätzt wurden. Bezüglich spezieller Delikte herrschte lange Zeit die Auffassung vor, dass bei Brandstiftungen und Sexualstraftaten Menschen mit geistiger Behinderung überrepräsentiert sind. Möglicherweise werden intelligenzgeminderte Brandstifter aber nur häufiger als normal intelligente begutachtet. In einer Gutachtenvergleichsanalyse wiesen 32,6% der Brandstifter (n = 46), 4,7% der Sexualstraftäter (n = 106) und 8,9% der Tötungsdelinquenten (n = 56) einen IQ Somit ist für die Festlegung einer Eingangsschwelle die Grenzziehung zwischen Minderbegabung und Schwachsinn nötig.
Mit Blick auf die forensische Praxis ist unter allgemeinen Gesichtspunkten zu relativieren, dass die Bestimmung des IQ als Ergänzung zur Syndrombeschreibung für die Eingrenzung der leichten Intelligenzminderung allein ausreicht.
95
6
6.3 • Forensische Aspekte
Sekundär müssen über den Intelligenztiefstand hinaus aber weitere Aspekte des Bindungsgefüges berücksichtigt werden, in dessen Rahmen es zu den Straftaten Schwachsinniger kommt: 4 die Verflechtung mit oft psychosozialen Risiken (Bindungsstörung, dissoziales Herkunftsmilieu, Gewalterfahrungen), 4 die Ausprägung von Verhaltensstörungen, insbesondere von asozialen und aggressiven Zügen, 4 das Ausmaß der unzureichenden sozialen Anpassung und 4 Alkoholismus, wobei die Tatmotive der normalen Gewaltkriminalität ähnlich sind. Somit können andere Faktoren im Bedingungsgefüge krimineller Handlungen oftmals gegenüber dem alleinigen Risiko Intelligenzminderung überwiegen (Günter 2004). z
Auswirkung des Schwachsinns auf die Verantwortungsreife (§ 3 JGG) und die Reife (§ 105 JGG)
§ 3 JGG regelt die strafrechtliche Verantwortlichkeit Jugendlicher zwischen 14 und 18 Jahren:
»
Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zum Zeitpunkt der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.
«
Expressis verbis wird hier die Einschätzung der geistigen Reife gefordert, die mittels der erwähnten diagnostischen Schritte und Verfahren erfolgen sollte. Es kommt aber nicht allein auf die Bestimmung eines IQ an, sondern auch auf die Alltagsbewältigung, die dazu eingesetzten Strategien und das individuelle Repertoire von Handlungsalternativen. Die Verneinung der Verantwortungsreife kommt nur für aufholbare, d. h. temporäre Entwicklungsverzögerungen in Betracht, also nicht primär für Jugendliche mit einer geistigen Be-
hinderung, die bei tat- und tatzeitbezogener Relevanz hinsichtlich ihrer de- oder exkulpierenden Wirkung eher bei den §§ 20/21 StGB (Schuldfähigkeit) zu untersuchen ist. Auch wenn Intelligenzminderung ein relativ stabiles individuelles Merkmal ist, unterliegt die Intelligenz insbesondere in ihren Teilbereichen erheblichen Schwankungen, sodass partielle Entwicklungen durchaus möglich sind. Diese Schwankungen sind insbesondere relevant hinsichtlich Sexualstraftaten, die aufgrund einer deutlichen Diskrepanz zwischen biologischer und sozial-emotionaler Reife bedingt sein können. Dennoch sollte sehr restriktiv mit der Verneinung der Verantwortungsreife umgegangen werden, da die Realisierung familienrechtlicher Bestimmungen bzw. Maßnahmen der Jugendhilfie alternativ zu juristischen Strafen, Weisungen etc. oft deutlich hinter den pädagogischen Erwartungen und damit ihrer kriminalpräventiven Effizienz zurückbleiben. In § 105 JGG geht es um die Reifebeurteilung im Altersbereich 18 bis 21 Jahre:
»
Begeht ein Heranwachsender (18–21 Jahre) eine Verfehlung …, so wendet der Richter die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften … an, wenn
«
»
1. die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand oder
«
»
2. es sich nach der Art, den Umständen und den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt.
«
Auch hier geht es um die Anerkennung einer Reifeverzögerung und der Hervorhebung von Entwicklungskräften, die noch maßgeblich am Werk sind und eine Nachreifung wahrscheinlich
96
Kapitel 6 • Spezifische Aspekte
erscheinen lassen. Da es sich bei einer geistigen Behinderung aber um ein persönlichkeitsimmanentes, (zeit-)stabiles Merkmal handelt, könnten intelligenzgeminderte Straftäter eher nach Erwachsenenstrafrecht als nach Jugendstrafrecht verurteilt werden, was mit dem Diskriminierungsverbot nicht vereinbar ist. z
6
Auswirkung des Schwachsinns auf Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit (§§ 20/21 StGB)
Gemäß §§ 20/21 StGB zur Schuldfähigkeit (siehe 7 Abschn. 6.3.1) fordern Gesetzgeber und höchstrichterliche Rechtsprechung im zweiten Schritt für die Beurteilung der Verantwortungsfähigkeit, dass zuerst die Auswirkungen der psychischen Störung auf die Einsichtsfähigkeit und danach die Auswirkungen der Störung auf die Steuerungsfähigkeit zu diskutieren sind. Werden die Aufhebung der Einsichtsfähigkeit oder das Fehlen der Einsicht bei verminderter Einsichtsfähigkeit nachgewiesen, so erübrigt sich allerdings die Erörterung der Steuerungsproblematik. Denn verminderte Einsichtsfähigkeit und verminderte Steuerungsfähigkeit können nicht zugleich vorliegen (BGH 17.11.94, Az: 4 StR 441/94; BGH 04.11.04, Az: 4 StR 388/04; BGH 28.01.05, Az: 2 StR 445/05). > Prinzipiell – d. h. nicht nur für das Eingangsmerkmal des Schwachsinns – gilt, dass die Verminderung der Einsichtsfähigkeit allein weder eine Schuldminderung über die Anwendung des § 21 StGB begründen noch die Anordnung einer Maßregel bei Fortdauer einer aus der Störung resultierenden Gefährlichkeit erwirken kann. Es kommt speziell auf die tat- und tatzeitbezogene Einsicht an, die trotz verminderter Einsichtsfähigkeit fehlen oder vorhanden sein kann.
Nach Lammel (2007) lassen sich aus der Rechtsprechung charakteristische Sachverhalte, die den Umgang mit Personen mit Intelligenzmin-
derungen in foro und insbesondere die Sachverständigentätigkeit betreffen, zusammenfassen: 4 Personen mit Intelligenzminderung können in einem Strafverfahren auch als Geschädigte in Erscheinung treten. Ist das der Fall, kann das die Frage nach der Widerstandsunfähigkeit der oder des Betroffenen nach sich ziehen. Die Beantwortung dieser Frage ist gutachtlich zu klären; sie ist kein Thema des Schuldfähigkeitsgutachtens über den Angeklagten. 4 Hinsichtlich des Angeklagten sind die Diagnose, die Zuordnung der Störung zum Eingangsmerkmal des Schwachsinns und die Aussagen über die tatkausale Bedeutung der Störung nicht immer nachvollziehbar. Sie bedürfen in jedem Fall einer hinreichenden Begründung. 4 Die durch einen Schwachsinn tatbezogen bewirkte Aufhebung der Einsichtsfähigkeit ist der kaum vorfindbare Ausnahmefall. 4 Die Aussage über eine störungsbedingte verminderte Einsichtsfähigkeit allein kann weder zur Feststellung verminderter Schuldfähigkeit gem. § 21 StGB noch zur Anordnung einer Unterbringung gem. § 63 StGB führen. Die Feststellung der tatbezogenen Einsicht fällt in die juristische Kompetenz. 4 Wird aus gutachtlicher Sicht die Unterbringung einer Person mit Intelligenzminderung in den Maßregelvollzug in Erwägung gezogen, dann ist sehr kritisch zu prüfen, ob verminderte Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt und andauernde Gefährlichkeit tatsächlich auf das Eingangsmerkmal des Schwachsinns reduziert werden können. > In der Regel ist es nur die verminderte Steuerungsfähigkeit, die die Feststellung einer verminderten Schuldfähigkeit gem. § 21 StGB nach sich ziehen kann.
Bei schwerster und schwerer Intelligenzminderung ist vorrangig die Einsichtsfähigkeit, bei
97
6
6.3 • Forensische Aspekte
mittelgradiger Intelligenzminderung teils die Einsichtsfähigkeit und teils die Steuerungsfähigkeit und schließlich bei leichter Intelligenzminderung entweder die Einsichtsfähigkeit oder die Steuerungsfähigkeit entweder vermindert oder aufgehoben. Intelligenzminderung allein führt also nicht oder nun selten zu einer verminderten oder aufgehobenen Steuerungsfähigkeit. Diese wird, wie bereits erläutert, eher durch andere Faktoren bedingt: koinzidente psychische Störungen, Symptome wie Impulsivität oder organische Defizite und Erkrankungen sowie konstellative Alkohol-/Drogenbeeinflussung. Eine Ausnahme könnte vorliegen, wenn die generell vorliegende Fähigkeit zur Einsicht in das Unrecht der Tat in einer komplexen Überforderungssituation tatbezogen vermindert oder gar aufgehoben ist. z
Auswirkung des Schwachsinns auf Maßregeln der Unterbringung nach den §§ 63 und 64 StGB
Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begangen, so ordnet das Gericht nach § 63 StGB die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht dann gemäß § 64 die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass die Person infolge ihres Hangs erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung er-
geht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen. Bezüglich der Unterbringung gilt für Jugendliche § 7 JGG: Als Maßregel der Besserung und Sicherung im Sinne des allgemeinen Strafrechts können die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt, die Führungsaufsicht oder die Entziehung der Fahrerlaubnis angeordnet werden (§ 61 Nr. 1, 2, 5, 6 StGB). z
Intelligenzgeminderte Straftäter im Maßregelvollzug
Der Maßregelvollzug bei Jugendlichen und jungen Heranwachsenden (14–21 Jahre) steht im Spannungsfeld von Medizin, speziell der Kinderund Jugendpsychiatrie, und Justiz (Häßler et al. 2004). Primär geht es um Freiheitsentzug für junge, sich noch in einer rasanten Entwicklung befindende Menschen in gesicherten Kliniken bzw. Abteilungen. > Obwohl ein solcher Freiheitsentzug von Strafgerichten angeordnet wird, erfolgt die Unterbringung nach den §§ 63 oder 64 StGB als sogenannte Maßregel der Besserung und Sicherung und hat demzufolge einen vordergründig therapeutischen Aspekt. Doch lassen sich Schwachsinn als »Nicht-Krankheit« und Schwachsinn aufgrund genetischer, frühkindlicher und dementieller Ursachen nicht bessern!
Eine therapeutische Intervention verspricht nur Erfolg bei entsprechenden Störungen wie Impulskontrollstörung, Störung der Sexualpräferenz und Symptomen wie Angst, Aggressivität, Zwang etc., die sowohl bei Menschen mit Intelligenzminderung als auch bei normal Intelligenten auftreten können. Schwachsinn ohne eine F7x.1-Diagnose
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6
Kapitel 6 • Spezifische Aspekte
bzw. eine vorhandene und verschlüsselte Zweitdiagnose sollte demnach kein Eingangskriterium für die Unterbringung im Maßregelvollzug sein, wenn man den Vorgaben des Gesetzgebers »Besserung und Sicherung« folgt. Verschiedene Studien liefern Zahlenmaterial zu Zusammenhängen von Intelligenzminderung, Altersgruppe und Art der Delikte: 4 Im Rostocker Jugendmaßregelvollzug wurden seit der Eröffnung im März 2001 119 Jugendliche und 76 Heranwachsende untergebracht und behandelt. Ohne Schulabschluss waren 5 unter den Jugendlichen 60% und 5 unter den Heranwachsenden 48%. 4 Aus einer aktuellen Analyse des Arbeitskreises Maßregelvollzug (2008) geht hervor, dass zum Stichtag im Februar 2008 100 Jugendliche in den forensischen Einrichtungen, die sich an dieser Erhebung beteiligen, untergebracht waren. Davon wiesen 48% eine geistige Behinderung (IQ < 70) oder eine Lernbehinderung (IQ < 85) auf. 5 Über den gesamten Maßregelvollzug (Erwachsene und Jugendliche) wiesen die Patienten mit dem Eingangsdelikt Körperverletzung den höchsten Anteil von Intelligenzminderung auf (30,8%). 5 Dagegen hatten nur 7,7% der wegen Sexualdelikten Untergebrachten und 2,1% der Brandstifter eine unterdurchschnittliche Intelligenz. 5 Jeder Vierte bis Fünfte wegen Eigentumsdelikten bzw. Mord/Totschlag Eingewiesene verfügte über intellektuelle Fähigkeiten, die in einem Durchschnittsbereich von unter 85 lagen. Für das Ziel, Stigmatisierung und Ausgrenzung intelligenzgeminderter Straftäter im Maßregelvollzug entgegenzuwirken, geht es darum, fachliche Kompetenz bezüglich der gesundheitlichen und therapeutischen Erfordernisse dieser speziellen Klientel in den Einrichtungen vorzu-
halten oder in den Maßregelvollzug durch externe Spezialisten einzubringen.
» Offenders with intellectual disability suffer psychosocial disadvantages far more than those implied by the »psychiatric« or »disability« label. A service provision model is required which must be integrative and consistent. We suggest the use of multiskilled key workers, who maintain close contact with individual clients (Glaser u. Florio 2004).
«
Neben den Anforderungen der Justiz (Sicherheit, Kriminalprognose, Lockerungen etc.) sind auch Standards der psychiatrischen Behandlung und Standards der Betreuung und Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung zu berücksichtigen und zu gewährleisten. Personenzentriert sollte ein sogenannter Keyworker arbeiten, der von den einzelnen Spezialdisziplinen unterstützt wird. Ein solcher Keyworker vereint mehrere Rollen in sich, ist Anwalt des Patienten, Freund, Elternteil, Priester, Gesetzeshüter und Gesetzesverstärker, Lehrer und Rollen-Modell. Der Vorteil liegt in einer kontinuierlichen, flexiblen, koordinierenden und auf einer emotional tragfähigen Beziehung aufbauenden Hilfe, die ohne Informationsverlust und mit viel Kompetenz bezüglich des Entwicklungsprozesses fungiert und die über die Entlassung hinaus, d. h. prospektiv angelegt sein sollte. Eine englische Studie kommt zu einer ähnlichen Einschätzung, plädiert aber auch für hoch gesicherte »Maßregelvollzusgplätze«. Ein Drittel der 102 untersuchten Patienten (DurchschnittsIQ: 65,75) zeigte auch unter hoch gesicherten speziellen Betreuungsbedingungen allgemein delinquentes Verhalten, Alkoholmissbrauch und beging sexuelle Übergriffe.
» High security services are still required for a number of patients with intellectual disabilities. New and existing services need to be configu-
99
6
6.3 • Forensische Aspekte
red to meet specific profiles of need and longterm rehabilitation and specialist care (Thomas et al. 2004).
«
Andererseits könnte alternativ zum stigmatisierenden und häufig unverhältnismäßigen Maßregelvollzug ein Großteil der fehlplatzierten Patienten in weniger gesicherten Einrichtungen, d. h. außerhalb des Maßregelvollzugs untergebracht und behandelt werden. Auf die für die Therapie von Menschen mit geistiger Behinderung spezialisierten Einrichtungen, die optional auch freiheitsentziehende Maßnahmen realisieren können, käme eine große Aufgabe und Verantwortung zu. Für zwei Gruppen, intelligenzgeminderte jugendliche und erwachsene Rechtsbrecher mit oder ohne psychiatrische Zweitdiagnose, die zusätzlich zur geistigen Behinderung auch noch einen Alkoholmissbrauch betreiben, gibt es derzeit keine flächendeckenden speziellen therapeutischen Angebote. Ohne derartige Angebote werden aber die Sozial- und damit auch die Kriminalprognose ungünstiger ausfallen, was wiederum den Aufenthalt im Maßregelvollzug verlängert bzw. die Entlassung daraus unmöglich macht. Somit kommt schon auf die Gutachter und die erkennenden Gerichte eine große Verantwortung zu, da unter Kenntnis all dieser Aspekte eine Einweisung in den Maßregelvollzug bei weniger gefährlichen Deliktarten wie Diebstahl, Vandalismus und leichten Körperverletzungen mit größter Sorgfalt zu prüfen und erst bei Ausschöpfung aller Alternativen zu empfehlen ist.
6.3.4
z
Forensische Relevanz im Zivilrecht und Öffentlichen Recht
Betreuungsrecht (Knittel 2008)
Im Rahmen betreuungsrechtlicher Fragestellungen werden ärztliche Gutachten angefordert, vor allem:
4 zu den allgemeinen Voraussetzungen einer Betreuung, 4 zur Notwendigkeit einer Unterbringung bzw. freiheitsentziehender Maßnahmen (§ 1906 Abs. 1 bzw. 4 BGB), 4 zum Einwilligungsvorbehalt (§ 1903 Abs. 1 BGB) sowie 4 zu Sonderfragen wie Sterilisation (§§ 1905 und 1900 Abs. 5 BGB). Als Grundvoraussetzungen für die Einrichtung einer Betreuung (§ 1896) geht es im ersten Schritt unter anderem auch um die Beurteilung, ob eine geistige Behinderung vorliegt und im zweiten Schritt, ob deshalb und wenn ja, in welchem Umfang der Betroffene nicht mehr in der Lage ist, seine eigenen Angelegenheiten (Sorge um die Gesundheit, Aufenthaltsbestimmung, Vertretung vor Ämtern, Sorge um finanzielle Angelegenheiten) zu besorgen und wofür dann die konkrete Hilfe eines Betreuers erforderlich ist. Freiheitsentziehende Maßnahmen dienen der Abwehr von Eigen- und/oder Fremdgefährdung, ein Risiko, das bei Menschen mit Intelligenzminderung sehr hoch sein kann. Diese Maßnahmen sollten indiziert, zeitlich befristet und angemessen sein und nur als Ultima Ratio nach Ausschöpfung aller anderer, weniger in die Persönlichkeitsrechte eingreifender Maßnahmen, nach gerichtlicher Anhörung bzw. Inaugenscheinnahme und Genehmigung vorgenommen werden. z
Öffentlich-rechtliche Unterbringung
Die Unterbringung gegen den Willen der Betroffenen in einem psychiatrischen Krankenhaus ist im jeweiligen Landesgesetz (PsychKG) geregelt und betont mehr oder minder das Fürsorgeprinzip. Voraussetzung für die Zwangseinweisung ist immer eine Gefährdungssituation (Eigen- und/ oder Fremdgefährdung) aufgrund einer psychischen Krankheit, einer vergleichbaren psychischen Störung, einer Suchtkrankheit oder einer geistigen Behinderung. Zumindest in Mecklenburg-Vorpommern ist eine öffentlich-rechtliche
100
Kapitel 6 • Spezifische Aspekte
Unterbringung auch für Minderjährige unter 14 Jahren möglich. Sie steht damit in gewisser Konkurrenz zur zivilrechtlichen Unterbringung Minderjähriger (bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres) nach § 1631b BGB (s. unten).
renen Berufsgruppen abgegeben werden. Eine Unterbringung in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik, die nicht durch Ärzte veranlasst bzw. begründet wird, dürfte aus Sicht des Autors nicht mit dem SGB V vereinbar sein.
z
z
Zivilrechtliche Unterbringung nach § 1631b BGB
In der neuen Fassung vom 4.7.2008 BGBl. I S. 1188 lautet der § 1631b:
»
6
Eine Unterbringung des Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, bedarf der Genehmigung des Familiengerichts. Die Unterbringung ist zulässig, wenn sie zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch andere öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen. Das Gericht hat die Genehmigung zurückzunehmen, wenn das Wohl des Kindes die Unterbringung nicht mehr erfordert.
«
Die familiengerichtliche Genehmigung der Unterbringung in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. einer Einrichtung der Jugendhilfe auf Antrag der/des Sorgeberechtigten erlaubt eine Freiheitsentziehung, zwingt aber nicht dazu. Wenn von einem geistig behinderten Kind oder Jugendlichen eine erhebliche Selbstoder Fremdgefährdung ausgeht, kann eine vorübergehende Unterbringung erforderlich werden, die auf einer sachverständigen Stellungnahme – leider nicht unbedingt fachärztlich – beruht. Laut Gesetz zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG-Reformgesetz) vom 17.12.2008, Inkrafttreten 1.9.2009, kann eine solche gutachterliche Stellungnahme auch von nichtärztlichen, aber in der Jugendhilfe erfah-
Einwilligungsfähigkeit
Die Frage der Einwilligungsfähigkeit tritt in allen medizinpraktischen und medizintheoretischen Fachgebieten auf, soweit sie Eingriffe und Forschungen am Menschen durchführt. An die Einwilligungsfähigkeit werden abhängig vom Schweregrad des medizinischen Eingriffs unterschiedliche Anforderungen gestellt. Betreuung und Geschäftsfähigkeit werden zwar tangiert, ersetzen bzw. implizieren in ihren juristischen Konstrukten aber nicht die Einwilligungsfähigkeit, die gesondert zu prüfen ist.
Definition Einwilligungsunfähig ist, wer wegen (…) geistiger Behinderung (…) nicht erfassen kann, 5 um welche Tatsachen es sich bei der Entscheidung handelt oder 5 welche Folgen oder Risiken sich aus der Einwilligungsentscheidung ergeben und 5 welche Mittel es zur Erreichung der mit der Einwilligung verbundenen Ziele gibt oder 5 welchen Wert oder welchen Rang die von der Einwilligungsentscheidung berührten Güter oder Interessen für ihn besitzen. (Helmchen u. Lauter 1995)
In die komplexe Entscheidung, ob eine Person einwilligungsfähig ist oder nicht, müssen das Risikoprofil der geplanten Maßnahme ebenso einfließen wie die Fähigkeiten dieser Person zum Informationsverständnis, zur Informationsverarbeitung, zur Urteilsbildung, zur Willensbe-
101
6
6.3 • Forensische Aspekte
stimmung und nicht zuletzt zur Willensäußerung. z
Geschäftsfähigkeit
Nach § 104 BGB ist nur dann Geschäftsunfähigkeit anzunehmen, wenn ein Zustand krankhafter Störungen der Geistestätigkeit die freie Willensbestimmung ausschließt.
Laut UN-Behindertenrechtskonvention ist Intelligenzminderung keine krankhafte Störung. Indem die Konvention Menschen mit Behinderungen davon befreien will, sich selbst als »defizitär« sehen zu müssen und als defizitär angesehen zu werden, geht es auch um die Überwindung des sogenannten medizinischen Modells. Vielmehr wird die gesellschaftliche Wertschätzung von Menschen mit Behinderung gefordert (Diversity-Ansatz), die zur Normalität menschlichen Lebens und des gesellschaftlichen Zusammenlebens gehört. Die Konvention definiert nicht den Begriff Behinderung, beschreibt ihn aber als dynamisches Konzept, das hinreichend offen ist, um Erfahrungen und Erkenntnisse zukünftiger gesellschaftlicher Lern- und Sensibilisierungsprozesse einzubeziehen.
Auch wenn Intelligenzminderung keine krankhafte Störung ist, spielt sie bei der Frage der Geschäftsfähigkeit eine bedeutende Rolle. Bei einem IQ unter 60 (fehlende Rationale!) soll demnach Geschäftsunfähigkeit bestehen (Heinrichs 2005). Im Intelligenzbereich über 60 kommt es vor allem auf psychopathologische Auffälligkeiten, das Wissen um die Inhalte, Tragweite und Bedeutung eingegangener Rechtsgeschäfte, soziale Kompetenzen, die Kritik- und Widerstandsfähigkeit gegenüber Dritten, Belastungsfaktoren und andere beeinflussende Faktoren an, die auch temporär die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung aufheben können. Als Teil der Geschäftsfähigkeit ist die Prozessfähigkeit (Fähigkeit, selbst Klagen einzureichen oder einen Prozessvertreter zu benennen) zu verstehen (Habermeyer 2009). z
Glaubhaftigkeit
Da es in der Glaubhaftigkeitsbegutachtung um die situative Glaubhaftigkeit spezifischer Aussa-
gen geht, sind entwicklungstypische Merkmale intelligenzgeminderter Personen zu berücksichtigen. Die vom BGH aufgestellten Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten umfassen: 4 Kompetenzanalyse; die Intelligenz hat einen großen Einfluss auf die sprachlichen, kognitiven und exekutiven Funktionen 4 Analyse der Aussagequalität; legt man die von Steller u. Köhnken 1989 erstellten Realkennzeichen zugrunde, dürften intelligenzgeminderte Opfer und/oder Zeugen benachteiligt sein, möglicherweise sogar unberechtigterweise in ihrer Aussageglaubhaftigkeit angezweifelt werden 4 Konstanzanalyse; bei eingeschränkter Merkfähigkeit, Gedächtnisleistung und Wiedergabefähigkeit sind geistig Behinderte von vornherein benachteiligt, allgemein muss zudem die leichtere Beeinflussbarkeit durch Dritte berücksichtigt werden 4 Fehlerquellenanalyse 4 Motivationsanalyse Bei intelligenzgeminderten Personen dürfte es schwerer fallen, durch Gegenbelege die geforderte »Nullhypothese« zu entkräften: Die Aussage ist so lange als falsch anzunehmen, bis sie logisch hinreichend sicher widerlegt wird und damit als zutreffend angesehen werden kann. Bis dato fehlen adaptierte Kriterien, die dem individuellen Vermögen geistig behinderter Menschen gerecht werden. z
Familienrecht
Im Rahmen des Sorgerechts (§ 1671 und weitere BGB) kann es bei Übertragung der elterlichen Sorge, die sich nach dem Kindeswohl richten soll, zu einer Entscheidung kommen, bei der Intelligenzminderung im Kontext des Förderungsund Kontinuitätsgrundsatzes eine Rolle spielt. 4 Der Förderungsgrundsatz beinhaltet die Eignung, Bereitschaft und Möglichkeit der Eltern zur Übernahme der für das Kindes-
102
Kapitel 6 • Spezifische Aspekte
wohl maßgeblichen Erziehung und Betreuung. 4 Der Kontinuitätsgrundsatz fordert dagegen die Stetigkeit und Wahrung der Entwicklung des Kindes.
6
Per se schließt eine Intelligenzminderung allein weder die Erziehungsfähigkeit noch die Stetigkeit und Wahrung der Entwicklung des Kindes aus. Im Einzelfall kommt es auf eine genaue, objektive Prüfung aller Umstände an. In die abschließende Wertung müssen dann auch noch die Bindung des Kindes an die Eltern und der Kindeswille eingehen. Im Konfliktfall kommt erschwerend hinzu, dass der Begriff des Kindeswohls ein unbestimmter Rechtsbegriff ist. Auch Remschmidt u. Mattejat (2009) haben in ihren Katalog der Möglichkeiten und Zusammenhänge, in denen von einer Gefährdung des Kindeswohls auszugehen ist, nicht die Intelligenzminderung aufgenommen. Im Vorfeld einer familienrechtlichen Entscheidung für oder gegen das Sorgerecht im Zusammenhang mit einer Intelligenzminderung eines oder beider Elternteile sollten alle unterstützenden Maßnahmen ausgeschöpft werden, die das KJHG (KICK) ermöglicht, um Gefahren für das Kindeswohl abzuwehren (Hilfen zur Erziehung nach den §§ 27 bis 35 SGB VIII). Ähnliches gilt für Begutachtungen bei Gefährdung des Kindeswohls gemäß § 1666 BGB. z
Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gemäß § 35a KJHG (Fegert 2005, Dölling 2009)
Die Vorschrift regelt den Anspruch auf Eingliederungshilfe. Sie betrifft zwar lediglich die seelische Behinderung, die durch eine Abweichung vom alterstypischen Zustand von länger als 6 Monaten gekennzeichnet ist, und damit nicht Fälle von körperlicher und geistiger Behinderung. Es gibt jedoch häufig Kombinationen von psychischer Störung (auf Basis der ICD-10, also
mit Krankheitswert) und geistiger Behinderung, eine sogenannte Mehrfachbehinderung. In diesen Fällen muss entschieden werden, ob die Beeinträchtigung der Teilhabe allein bzw. überwiegend aus der psychischen Störung resultiert. Somit haben dann auch geistig behinderte, vorwiegend seelisch behinderte oder von seelischer Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe. Für allein geistig behinderte Kinder und Jugendliche kann eine Anspruchsbegründung im Bereich des SGB XII vorliegen. z
Fahreignung
Aufgrund der theoretischen und praktischen Anforderungen beim Erwerb der Fahrerlaubnis hat die Prüfung der Fahreignung mit wenigen Ausnahmen nur Relevanz für Menschen mit Lernbehinderung, d. h. mit einem IQ über 70, nicht aber für Menschen mit Intelligenzminderung. Sie dürften in der Tat weder den Anforderungen des Fahrerlaubniserwerbs noch denen des modernen Straßenverkehrs wirklich gewachsen sein. > Nach der Fahrerlaubnisverordnung (FeV) und den Begutachtungsleitlinien (BAST 2000) wird für Führer von Kraftfahrzeugen mindestens ein IQ von 70 gefordert, für Bus- und Taxifahrer von mindestens 85.
Wie bereits mehrfach erwähnt, kommt es aber nicht allein auf den IQ an, sondern auch auf die soziale Intelligenz, die Persönlichkeitseigenschaften sowie koinzidente psychische und/oder somatische Störungen. Eine Fahrprobe sollte bei entsprechenden Zweifeln erfolgen. In Ausnahmefällen sind Menschen mit einem IQ unter 70 durchaus in der Lage, verantwortungsbewusst und sicher ein Fahrzeug, insbesondere in vertrauten Umgebungen, zu führen.
103 6.3 • Forensische Aspekte
z
Testierfähigkeit
»Geistesschwäche« ist eine der Eingangsmerkmale nach § 2229 Abs. 4 BGB, die die Testierunfähigkeit begründen, da nicht mehr die Fähigkeit gegeben ist »die Bedeutung einer abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln«.
6
105
Was ist zu tun? Interventionen 7.1
Allgemeines – 106
7.2
Sonder- und Heilpädagogik – 108
7.3
Psychotherapeutische Interventionen – 109
7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4
Allgemeines – 109 Training lebenspraktischer Fertigkeiten – 110 Verhaltenstherapie – 110 Kreativtherapie – 115
7.4
Ergotherapie – 120
7.5
Tiergestützte Therapie – 121
7.6
Psychodynamische oder psychoanalytische Therapien – 122
7.7
Familieninterventionen und Zusammenarbeit mit den Angehörigen – 122
7.8
Pharmakologische Behandlung – 122
7.8.1 7.8.2 7.8.3 7.8.4 7.8.5
Allgemeines – 122 Psychopharmakoprävalenz – 123 Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen – 124 Psychopharmaka bei Erwachsenen – 131 Kombinationen von Psychopharmaka (Evidenzgrad IIb–III) – 133
7.9
Soziotherapeutische Interventionen – 135
7.10
Behandlung unter besonderen Bedingungen – 136
7.10.1 7.10.2 7.10.3
Komorbide Epilepsie – 136 Infantile Zerebralparese – 138 Sexuelle Triebenthemmung – 138
7.11
Jugendhilfe - und Rehabilitationsmaßnahmen – 139
7
7
106
Kapitel 7 • Was ist zu tun? Interventionen
7.1
Allgemeines
Da geistige Behinderung keine Krankheit ist, zielen therapeutische Interventionen auf komorbide psychische Störungen, assoziierte Verhaltensauffälligkeiten und Funktionsbeeinträchtigungen. Sie dienen somit in erster Linie der Verbesserung der sozialen Anpassung und damit der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Zielgruppe von psychiatrisch behandlungsbedürftigen Menschen mit einer geistigen Behinderung bedarf trotz aller Heterogenität einer speziellen psychiatrischen Versorgung, wobei »Challenging Behaviour« die größte Herausforderung darstellt (Gaese 2006).
Definition Challenging Behaviour ist ein kulturell unangemessenes Verhalten von einer Intensität, Häufigkeit und Dauer, dass die psychische Sicherheit der Personen oder anderer ernsthaft gefährdet ist, oder Verhalten, das gravierend die Nutzung von Einrichtungen der Gemeinschaft begrenzt oder dazu führt, dass der Zugang zu diesen verweigert wird (Emerson u. Bromley 1995).
Die allgemeinen Grundsätze, die speziell bei der Behandlung geistig behinderter Menschen zu beachten sind, zeigt die folgende Übersicht.
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Grundsätze in der Behandlung von Menschen mit Intelligenzminderung 5 Intelligenzminderung ist keine Krankheit. 5 Menschen mit Intelligenzminderung sind vulnerabler, psychisch und/oder somatisch zu erkranken. 5 Sie sind auch anfälliger gegenüber täglichen Stressoren bzw. Traumata, die wiederum einen großen Einfluss auf die
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Ausbildung und Ausprägung psychischer Störungen haben. Trotz des höheren Morbiditäts- und auch Mortalitätsrisikos weisen Menschen mit Intelligenzminderung unterschiedlichste Entwicklungsverläufe auf, die nur schwer prognostiziert werden können. Abhängig vom Grad ihrer Behinderung bedürfen Menschen mit Intelligenzminderung bezüglich ihrer gesellschaftlichen Teilhabe häufig einer lebenslangen Assistenz. Menschen mit Behinderung benötigen unsere Aufmerksamkeit, Achtung, Empathie und häufig unseren Schutz. Wichtige Bereiche wie Sexualität und Konsum von Rauschmitteln, die zur Lebensqualität und Lebenszufriedenheit beitragen, dürfen nicht länger tabuisiert oder ignoriert werden. In unseren Bemühungen, ihre soziale Adaptabilität sowie gesellschaftliche Teilhabe zu verbessern bzw. ihre psychischen Auffälligkeiten, die diese einschränken, und ihre psychischen Störungen effektiv zu behandeln, sind Kooperationen zwischen verschiedensten Professionen und Institutionen nötig. Die Betroffenen selbst sowie ihre Angehörigen und Betreuer sind in alle Entscheidungen einzubeziehen und über Ziele, Mittel und Alternativen therapeutischer Interventionen umfassend aufzuklären. Vor Beginn einer Therapie steht eine fundierte Diagnostik unter Ausschöpfung aller relevanten Informationsquellen. Behandlungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Intelligenzminderung sollten, wenn immer möglich, im vertrauten Lebensumfeld
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7.1 • Allgemeines
Information, Aufklärung, stützende Beratung von Angehörigen und Bezungspersonen
ja Funktions- und Fertigkeitendefizite?
ja spezifische Komorbiditäten?
Aufbau und Erweiterung von Funktionen und Fertigkeiten gemäß individueller Fertigkeitenund Lernzielanalyse mittels Verhaltensmodifikation
• Therapie spezifischer komorbider Störungen gemäß individueller Bedingungsanalyse mittels Verhaltenstherapie • bei entsprechender Indikation Kombination mit Pharmakotherapie
persistierendes selbstverletzendes Verhalten?
• evtl. aversive verhaltenstherapeutische Verfahren unter streng kontrollierten klinischen Bedingungen. • evtl. Kombination mit Opioid-Rezeptorblockern oder Morphinantagonisten
ja unspezifische Komorbiditäten?
Therapie komorbider Störungen unter besonderer Berücksichtigung spezifischer Bedigungen bei geistig behinderten Menschen
. Abb. 7.1 Interventionen bei geistiger Behinderung (DGKJP 2007)
durchgeführt werden, d. h. ambulant vor teilstationär, vor stationär. 5 Alle Therapien, die auch bei nicht geistig behinderten Menschen zum Einsatz kommen, lassen sich generell auch auf Menschen mit Intelligenzminderung anwenden, müssen aber auf die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse zugeschnitten werden. 5 In der Pharmakotherapie gilt der Grundsatz: »start low, go slow«. Neben einer
evidenzbasierten Pharmakotherapie sollte auf das höhere Risiko von Nebenwirkungen und Interaktionen geachtet werden. Die Notwendigkeit einer psychopharmakologischen Therapie ist im Verlauf zu überprüfen.
Einen komprimierten Überblick über die medizinisch-psychotherapeutischen Interventionen bei geistiger Behinderung und koinzidenten psychiatrischen Auffälligkeiten bzw. Störungen gibt . Abb. 7.1.
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Kapitel 7 • Was ist zu tun? Interventionen
Auswahl des Interventions-Settings
Behandlungen von Jugendlichen und Erwachsenen mit Intelligenzminderung sollten, wenn immer möglich, im vertrauten Lebensumfeld durchgeführt werden. Insbesondere Behandlungen, die auf den Aufbau und die Erweiterung von Funktionen und Fertigkeiten abzielen, sind daher in der Regel ambulant unter Einschluss gezielter Anleitungen für Eltern sowie Pflege-, Erziehungs- und Betreuungspersonal durchzuführen. Als besonders effektiv haben sich aufsuchende Hilfen erwiesen, die sowohl in der Häuslichkeit als auch in Institutionen wirksam werden. Mit zunehmendem Schweregrad werden Jugendliche und Erwachsene mit Intelligenzminderung ganz oder teilweise in spezialisierten Einrichtungen oder spezialisierten integrierten Einheiten betreut und beschult. Stationäre oder teilstationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Interventionen können indiziert sein, wenn ambulante Maßnahmen nicht ausreichend erfolgreich sind, z. B. infolge mangelnder Ressourcen in der Familie oder in der betreuenden Einrichtung bei besonders ausgeprägten komorbiden Störungen. Therapeutische Zugangswege ergeben sich auf verschiedenen Ebenen. Sowohl auf den Kontext gerichtete systemische Interventionen als auch individuumzentrierte verbale und nonverbale Therapieansätze (körperorientierte Verfahren, Spiel- und Kreativtherapie, Musiktherapie) haben sich bewährt. Sie bedürfen jedoch der Anpassung an die kommunikativen Ressourcen der Patientinnen und Patienten. Häufig sind höherfrequente Therapien erforderlich. Gefordert sind multimodale Ansätze (nötigenfalls unterstützt durch psychopharmakologische Interventionen) und eine enge Vernetzung der psychosozialen Helfersysteme. Jeder Behandlung sollte eine sorgfältige Information und Aufklärung über die Art der Behinderung vorausgehen sowie ihre speziellen Auswirkungen 4 auf das Erlernen sozial adaptiver Fertigkeiten und
4 auf die Bewältigung von Anforderungen des täglichen Lebens (z. B. im Kontakt mit anderen Menschen) sowie 4 auf die Verarbeitung und Bewältigung von Gefühlszuständen (z. B. Angst, Freude, Traurigkeit). z
Psychoedukation
> Jeder Mensch mit einer geistigen Behinderung hat ein Recht auf Informationen zu seinen individuellen Ressourcen, bestehenden Verhaltensauffälligkeiten, komorbiden psychischen Störungen und verschiedenen Behandlungsalternativen. Insbesondere bei Menschen mit geistiger Behinderung erweitert sich diese Informationspflicht auf die Eltern/ Sorgeberechtigten bzw. gesetzlich bestimmten Betreuer. Mit entsprechender Einwilligung sollten Bezugspersonen aus dem Lebensumfeld einbezogen werden.
7.2
Sonder- und Heilpädagogik
Förderung basiert sowohl auf sonder- und heilpädagogischen Konzepten als auch auf Anteilen, die in der Förderpflege realisiert werden. Individuelle Förderung heißt, das Kind, den Jugendlichen ganzheitlich zu betrachten. In der Heilpädagogik gilt es abzuwägen, welche Mittel am effektivsten zum Neulernen bei der individuellen Bedürfnislage des Betroffenen sind, ohne ihn zu überfordern. Bei schwer und schwerst geistig Behinderten stehen die Förderpflege und die körperzentrierte Erweiterung der individuellen kommunikativen Möglichkeiten im Vordergrund. Ansätze entsprechender basaler Pädagogik (Theunissen und Plauthe1995): 4 basale Stimulation der Sinnesempfindungen und der Motorik, Entfaltung der Wahrneh-
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7.3 • Psychotherapeutische Interventionen
mungsmöglichkeiten und der sinnlichen Erkenntnis (Körpererfahrung); 4 basale Kommunikation und körperzentrierte Interaktion durch intensive Zuwendung, Körperkontakt, nonverbale Kommunikation, Sprache, Selbst- und Sozialerfahrung, emotionale Fundierung, Beziehungsgestaltung. Weitergehende Ansätze: 4 Entwickeln emotionaler und sozialer Kompetenzen, 4 Entwickeln eines Verständnisses für das eigene Befinden und Erleben, 4 Förderung der Mobilität, 4 Förderung kognitiver Fähigkeiten wie schlussfolgerndes Denken, räumliche Orientierung, 4 Unterstützung der Ich-Entwicklung, 4 Förderung von Interessen und deren Ausgestaltung, 4 Förderung zur größtmöglichen lebenspraktischen Selbstständigkeit, 4 Förderung eigenverantwortlichen Handelns, 4 Hilfestellung, mit der Behinderung leben zu können, 4 Förderung der Integration in eine soziale Gemeinschaft. Mit einer frühen Förderung beugt man dem Einschleifen inadäquater Verhaltensmuster vor, vermittelt positive Lernerfahrungen und gibt sowohl den Eltern als auch dem betroffenen Kind das Gefühl einer kompetenten Unterstützung. Lernziele, die den individuellen Voraussetzungen des Behinderten und den Sozialisationsbedingungen in seiner Familie bzw. seinem Umfeld Rechnung tragen, sollten sich auf alle Lernfelder wie Häuslichkeit/Familie, Institution/Schule, Fördereinrichtung sowie Freizeit und Spiel erstrecken, um Handlungs- und Alltagsbezogenheit zu garantieren. In einen Gesamtbehandlungsplan, der Entwicklungsfortschritte erfasst
und berücksichtigt (Verlaufsdokumentation), muss auch die künftige Lebensgestaltung integriert werden. Eine Hierarchisierung der angestrebten Lernziele wird dabei unumgänglich sein. Zahlreiche Lernprogramme, die sich auf Selbsthilfefertigkeiten, Essverhalten, Konzentration, einfache und komplexe soziale Fähigkeiten, Sprache, Sexualität u.a.m. beziehen, werden im Internet angeboten (z. B. über www.lebenshilfedetmold.de – Detmolder Lernwege-Modell).
7.3
Psychotherapeutische Interventionen
7.3.1
Allgemeines
Grundsätzlich gilt, dass es keine besondere Therapie für Menschen mit geistiger Behinderung gibt und die Ziele analog zu denen in der Therapie nicht behinderter Menschen sind. Dennoch müssen die Therapien auf die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse zugeschnitten werden, wobei die Interaktionspartner/ Bezugspersonen einzubeziehen sind. > Bewährt haben sich systemische Sichtweisen und individualisierte Kombinationen verschiedener psychotherapeutischer und supportiver Techniken, die die Problembewältigungsperspektive, die Beziehungsperspektive und die Klärungsperspektive berücksichtigen und integrieren.
Da insbesondere schwerergradig behinderte Menschen in ihrer verbalen Kommunikation eingeschränkt sind, keine Vorstellung innerpsychischer Vorgänge haben und nur über eine eingeschränkte Informationsverarbeitungsleistung verfügen, gehören zu den therapeutischen Grundregeln (Häßler et al. 2005a): 4 Geduld: Veränderung und Entwicklung sind möglich, aber eher längerfristig erforderlich
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Kapitel 7 • Was ist zu tun? Interventionen
für den therapeutisch notwendigen Beziehungsaufbau im Hinblick auf die Reaktion der Klienten. Vertrauen: Entsteht durch Verständnis, Korrektheit, Ehrlichkeit, Kontinuität insbesondere von therapeutischer Seite. Distanz: Berücksichtigung der therapeutischen Neutralität Vermeidung von Druck, Zwang, körperlicher und/oder verbaler Intimität. Haltende und stützende Atmosphäre: Dazu gehören auch klare Strukturen und eine überschaubare Regelhierarchie. Arbeiten mit der Dynamik von Sein und Handeln: Frage von Balance und Rhythmus, Aktionismus vermeiden, auch Schweigen kann konstruktiv sein. Integration sprachlicher Anteile Schaffung von Vertrautheit hinsichtlich sprachlicher Elemente. Planung: Ausgewogenheit zwischen Bewährtem/Erlerntem und Neuem, Entwicklung eines Gespürs für das Einbringen neuer Ziele und Inhalte.
7.3.2
Training lebenspraktischer Fertigkeiten
Ziele für Trainingsmaßnahmen können z. B. sein: angemessenes Toilettenverhalten, Körperpflegeverhalten, selbstständiges An- und Auskleiden, Essverhalten, soziale Fertigkeiten, praktische Problemlösefertigkeiten, Ausdauer und Konzentration und anderes mehr. Die Ziele sollten im Hinblick auf ihre jeweilige Bedeutung für die Gesamtsituation des Patienten hierarchisiert werden, d. h. das Ausmaß seiner Abhängigkeit von anderen Menschen bzw. seine Möglichkeiten zu selbstbestimmtem Handeln, Bewegungsfreiheit, Eigenständigkeit sollte dabei berücksichtigt werden.
Im Bereich des Aufbaus und der Erweiterung von Funktionen und Fertigkeiten werden die folgenden Methoden angewendet: 4 Verhaltensmodifikation (operante Konditionierung, sukzessive Approximation, Generalisationslernen), 4 Eltern- und Mediatorentraining. Diese Behandlungen basieren immer auf sorgfältigen Analysen des individuell vorhandenen Funktions- und Fertigkeitenniveaus sowie auf einer Operationalisierung von zielorientierten Teillernschritten. Das gezielte Training lebenspraktischer Fertigkeiten soll die Kompetenz zu eigenständiger Lebensbewältigung erweitern und dient auch der Prävention von sekundären Verhaltens- und Emotionsstörungen (Hospitalismus). Für die Zielgruppe geistig behinderter Kinder und Jugendlicher existieren nur wenige Gruppenprogramme wie das Social Skills Training for Adolescents with General Moderate Learning Difficulties oder das nicht standardisierte Trainingsprogramm TEACCH (Treatment and Education of Autistic and Related Communication-Handicapped Children), welches ursprünglich als pädagogisch-therapeutischer Ansatz für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit autistischen Störungen entwickelt wurde. Mittels TEACCH soll das gesamte Lern- und Lebensumfeld an den individuellen Hilfebedarf des Kindes angepasst werden. Eine deutschsprachige Übersicht findet sich bei Häußler (2005). Dagegen gibt es ausgefeilte und praxisorientierte Therapieprogramme für das Problemverhalten lernund leicht geistig behinderter Kinder (Meir-Korell 2003, Noterdaeme 2006).
7.3.3
Verhaltenstherapie
Verhaltenstherapie dient der Reduktion von Verhaltensauffälligkeiten, der besseren sozialen Adaptation durch Impulskontrolle (Stimu-
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7.3 • Psychotherapeutische Interventionen
luskontrolle, Reizreaktionsverhinderung), der Modifikation sekundärer Störungen, der Rückfallprävention und dem Ziel, die Handlungskompetenz und damit die soziale Teilhabe zu stärken. Bevor mit der Therapie begonnen wird bzw. begonnen werden kann, bedarf es einer auf fundierter Beobachtung fußenden funktionellen Verhaltensanalyse, da nicht jedes »Probemverhalten« dysfunktional ist und die Ursachen variieren können. Im nachfolgenden Beispiel sollen die Verhaltenskonstellationen anhand realer Situationen Ursache und Wirkung demonstrieren.
Beispiel Die 12-jährige Patientin M. neigt zum Hinunterstürzen heißer Getränke, bemächtigt sich dieser auch von anderen Mitbewohnern und reagiert äußerst aggressiv, wenn ihr dieses verwehrt bzw. ihr Verhalten verhindert wird. 1. Das selbstschädigende Verhalten (Gefahr der Verbrühung des oberen Speisetrakts) wird durch die besondere Aufmerksamkeit, die es bei den Betreuern findet, verstärkt oder aufrechterhalten. Betreuer sitzen neben M. bei den Mahlzeiten, was diese in ihrer Sonderrolle genießt, da sonst wenig Zeit für individuelle Zuwendung im Alltag bleibt. Besondere Gefahr besteht bei »Lieblingsbetreuern«! 2. Die Angst des Betreuungspersonals spornt sie zusätzlich an. Die Gefahr ihres provozierenden, testenden Verhaltens besteht verstärkt bei weniger geliebten Betreuern. 3. Ablenkungen wie Spielangebote durch das Personal wirken wie eine Belohnung im Sinne positiver Verstärkung. 4. Das selbstschädigende Verhalten dient der Beendigung bzw. Vermeidung unangenehmer Situationen, so beispielsweise, um beim gemeinsamen Essen die häufig soziale Überforderung zu umgehen, denn durch das Verhalten der anderen Mitbewohner
fühlt sie sich belästigt. Eine Separierung intensiviert diesen negativen Verstärker . 5. Zeitweise nutzt M. ihr Verhalten selbst als spielerisches Kräftemessen mit dem Personal, dann rennt sie um den Tisch wie in einem Fangspiel. 6. In Situationen des Alleingelassenseins dient das Verhalten auch der sensorischen Autostimulation bei vorhandener Hypalgesie. Möglicherweise war das der Beginn des eingeschliffenen Musters. Eine Lösung des Problems bestand in einer über Wochen andauernden Bereitstellung von lauwarmen Getränken in der betreffenden Wohngruppe (Berücksichtigung der Lebenswirklichkeit) bei gleichzeitiger Umlenkung des Verhaltens in ein gewünschtes Muster. M. beschäftigt sich jetzt in Situationen verminderter Zuwendung mit dem Zerknautschen von Pappbechern. Somit wird einerseits alternatives Verhalten verstärkt und andererseits inkompatibles Verhalten abgeschwächt.
Insbesondere bei leichter geistig behinderten Menschen haben sich verhaltenstherapeutische Interventionen bewährt, wenn folgende Besonderheiten Berücksichtigung finden (Häßler et al. 2005): 4 Der Therapeut arbeitet strukturierend und zeigt Grenzen auf. 4 Er bemüht sich um die Bearbeitung des Hier und Jetzt. 4 Er akzeptiert den Patienten vorurteilsfrei (was nicht heißt, dass jedes Verhalten akzeptiert werden muss). 4 Er verhält sich direktiv, oft reedukativ sowie ausdrucksfördernd. 4 Die Interaktion zwischen Therapeut und Patient muss zu einer guten und affektiv positiven Beziehung führen. 4 Die Interaktion muss über Kommunikationskanäle laufen, die für den Patienten akzeptable sind.
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Kapitel 7 • Was ist zu tun? Interventionen
4 Die Therapie ist an das kognitive Niveau des Patienten angepasst. 4 Die Therapie richtet sich nach der psychischen Belastbarkeit des Patienten. 4 Die Frequenz der Sitzungen ist wegen der geringen Lernfähigkeit geistig Behinderter höher als bei normalen Patienten (besser zweimal pro Woche für 10–15 Minuten als einmal für 50 Minuten, da die Aufmerksamkeitsspanne begrenzt ist). z
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Positive Verstärkung
Einfache Techniken der positiven Verstärkung stehen im Vordergrund des Trainings lebenspraktischer und sozialkommunikativer Fertigkeiten wie An- und Ausziehen, Essen und Trinken, Körperhygiene, Ausscheidungsfunktionen, Aufräumen, Telefonieren, Erkennen der Uhrzeit, Einkaufen, Umgang mit Geld, Orientierung im Straßenverkehr etc. Dazu dient das folgende verhaltenstherapeutische Inventar: 4 Formung von Verhalten (shaping): Da komplexe Handlungsweisen von schwer geistig Behinderten nicht ausgeübt werden können, müssen diese in Einzelschritte zerlegt und dementsprechend separat verstärkt werden. 4 Training von Verhaltensabfolgen (chaining): Sukzessive werden Verstärkungen von erlernten Einzelschritten weggelassen und kommen nur noch bei erlernter Folge von aufeinander bezogenen Verhaltensschritten zum Einsatz. 4 Führen beim Ausführen angestrebter Reaktionen (prompting): Hierbei wird die eigenständige Wiederholung der gewünschten Reaktion verstärkt, nachdem der primär verstärkte Führungsvorgang das Reaktionsmuster gebahnt hat. 4 Lernen am Modell: Ähnlich dem »prompting« ist das Lernen am Modell aufgebaut. Da schwer geistig Behinderte beim Imitieren Probleme haben, kommt es in erster Linie auf die Beziehung und Nähe zur »Modell-
person« und dann auf die Intensität bzw. Frequenz des Nachahmens an. 4 Generalisierung erlernter Muster: Häufig treten gelernte (konditionierte) Verhaltensmuster nur unter den Bedingungen auf, unter denen sie verstärkt wurden. Die gelernten Verhaltensweisen müssen schrittweise auf andere Situationen ausgedehnt werden. 4 Unterscheidungslernen: Dieser Schritt ist als höhere Stufe des Trainings einzuschätzen, da es hier bereits um die Differenzierungsfähigkeit geht, ob und wann ein gelerntes Verhalten sinnvoll bzw. erwünscht ist. > Materielle Verstärker, wie Geschenke, Geld und Süßigkeiten werden sukzessive durch soziale Verstärker (Zuwendung und Lob) ersetzt. Grundprinzip sollte sein, dass die Verstärkung unmittelbar im Anschluss an die erwünschte bzw. gelernte Handlung erfolgt und die verstärkende Person empathisch reagiert.
Da eine unmittelbare Verabreichung bzw. Realisierung von Verstärkern nicht immer möglich ist, können Ersatzverstärker, sogenannte Tokens eingesetzt werden. Eine überschaubare und konsequente Ersatzverstärkung nach einem vorher festgelegten Plan schafft die Voraussetzungen für die notwendige Effizienz. Letzendlich läuft das Sammeln von Tokens auch auf eine materielle oder soziale Verstärkung hinaus. Ein ohne Anteilnahme ablaufender automatisierter Verstärkungsvorgang verliert jedoch seine Wirkung und kann zu einem Rückfall in bereits ausgeschliffene bzw. abgelegte Verhaltensweisen führen. z
Negative Verstärkung
Als mehr psychotherapeutisch ist das Verlernen bzw. Umlernen von Problemverhalten anzusehen, das einem Neulernen häufig im Wege steht und sowohl die individuelle Lebensqualität als auch das Zusammenleben gravierend beeinträchtigt. Hierbei kommen neben o. g. verhal-
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7
7.3 • Psychotherapeutische Interventionen
tenstherapeutischen Techniken auch aversive Verfahren zur Anwendung. Diese lassen sich in rein negative Verstärker (Strafe, elektrische Schmerzreize, aversive Gerüche etc.) und das Abbrechen bzw. Ausbleiben von positiven Verstärkern unterteilen. Auch sogenannte Korrekturverfahren (overcorrection) lassen sich den negativen Verstärkern zurechnen, wenn unangenehme Wiederherstellungshandlungen (Auswaschen verschmutzter Unterwäsche bei Enuresis oder Enkopresis, Aufwischen und Saubermachen bei selbstinduziertem Erbrechen) zur Verminderung der störenden Verhaltensmuster eingesetzt werden. Als dritte Kategorie der negativen Verstärker fungieren Ausschlussverfahren (time out), zu denen auch Sichtblockaden gehören. Das Verbringen in einen Time-out-Raum sollte indiziert sein, gut dokumentiert werden und bedarf bei längerer bzw. regelmäßiger Anwendung der gerichtlichen Genehmigung. Während des Aufenthalts ist eine regelmäßige Sichtkontrolle sicherzustellen. > Korrektur- und Ausschlussverfahren haben in jüngster Zeit hochaversive Techniken weitestgehend ersetzt (Kahng et al. 2002). Eine Kombination mit nicht aversiven Verfahren und positiver Verstärkung ist einer alleinigen Bestrafung vorzuziehen.
Strafen sollten, wenn sie unvermeidbar sind, nur unter klarer Indikation, strenger Kontrolle, in unmittelbarem Zusammenhang mit störenden Verhaltenssequenzen, konsequent und unter der Garantie einer sich daraus ergebenden Lernmöglichkeit angewandt werden. Blair (1992) beobachtete sogar eine Zunahme des bestraften Verhaltens. Strafen dürfen auf gar keinen Fall unzureichende personelle, räumliche und materielle Bedingungen kompensieren. Um eine klare Indikationsstellung zu gewährleisten, muss das Pflege- und Erziehungspersonal nicht nur geschult sein und werden, sondern auch super-
vidiert werden, was leider noch zu den Ausnahmen in Betreuungseinrichtungen zählt. z
Spezielle Korrekturtechniken
Ergeben sich in der Bedingungsanalyse von stereotypem bzw. selbstverletzendem Verhalten regelmäßig vorausgehende Situationen, kann neben der Veränderung dieser triggernden Situationen auch eine Stimuluskontrolle zur Korrektur beitragen. Unter Stimuluskontrolle versteht man eine dosierte Reizexposition, die toleriert wird und sukzessive unter verhaltenstherapeutischen Interventionen erhöht werden kann. Eine weitere Technik ist die der Reaktionsverhinderung, die sich insbesondere bei zwanghaftem Verhalten bewährt hat. Die Reaktion auf einen Reiz wird durch Zuwendung, Ablenkung, Spiel, Sport oder Kreativtherapie hinausgezögert, bis der eingeschliffene Reiz-Reaktions-Zusammenhang gelöscht ist. Dieses Vorgehen ist auch Hauptbestandteil der differenziellen Verstärkung inkompatiblen Verhaltens. Dabei werden Verhaltensweisen verstärkt, die inkompatibel mit dem selbstverletzenden Verhalten sind, so z. B. Einnehmen einer verhindernden Körperhaltung, Halten von Gegenständen, gezielte Beschäftigung mit vorgegebenen Materialien. Eine weitere Möglichkeit stellt die differenzielle Verstärkung alternativen Verhaltens durch Förderung der Kommunikation und Selbstständigkeit dar. Zur Kommunikationsanbahnung hat sich das Picture Exchange Communcation System (PECS) bewährt (Frost und Body 2002). kAggressivitätskontrolle
Manchmal ist zuvor eine Umlenkung in tolerierbare alternative Verhaltensweisen angezeigt, die zum verhaltenstherapeutischen Inventar gehört. Aggressivität, die gegen andere oder sich selbst gerichtet wird, darf an gefahrlosen Objekten, wie Sandsäcken, Kissen, Knautschtieren etc. ausagiert werden.
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Kapitel 7 • Was ist zu tun? Interventionen
> Körperliche Aktivierung, bis hin zur Ermüdung kann aggressives Verhalten vorbeugend verhindern bzw. in seiner Intensität mindern.
7
Nach Dosen (1997) entwickelte Benson 1990 ein »anger management training«, mit dessen Hilfe die Patienten die Kontrolle über aggressive Gefühle und Handlungen erlernen. Ein sowohl für Einzel- als auch Gruppentherapie ausgearbeitetes Programm umfasst folgende Teile: 4 Identifikation von Gefühlen: Die Patienten lernen bei sich und anderen drei Gefühle (Glück, Ärger, Bosheit) zu unterscheiden. 4 Entspannungsübungen: Über Muskelentspannung werden psychische Spannungen abgebaut. 4 Autosuggestion: Der Patient bedient sich bestimmter Denkformeln, die ihm bei der Kontrolle bestimmter stressender Situationen behilflich sein können. 4 Problemlösung: In gespielten und konkreten Situationen werden praktische Übungen durchgeführt. kEinfluss der Rahmenbedingungen
Nicht alle Faktoren, die das Auftreten von Problemverhalten triggern, können verändert werden. Wichtig ist aber die Schaffung von Rahmenbedingungen, die diesem Auftreten vorbeugen bzw. Frequenz und Ausmaß reduzieren helfen. > Am günstigsten wirken sich eine klare Tagesstruktuierung sowie ein stabiles Bezugsbetreuersystem mit mindesten zwei Bezugsbetreuern aus; im Urlaubsund Krankheitsfall beugt man somit Irritationen und Beziehungsabbrüchen vor. kRational-emotive Therapie (R.E.T.)
Auch zum Training sozial erwünschter Verhaltensweisen wurden verschiedene Programme entwickelt. Weiterhin existieren Erfahrungen in der Anwendung der rational-emotiven The-
rapie (R.E.T.) bei geistig behinderten Menschen (Schneider 1989), wobei die Entwicklung von Selbstakzeptanz und Selbstwert sowie der Selbstkommunikation im Vordergrund stehen. Um ein positives Selbstbild zu entwickeln, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die positiven Aspekte und Kompetenzen der Person. Die Entwicklung der Selbstkommunikation beinhaltet das Bewusstmachen einer inneren Sprache und das schrittweise Verbalisieren von Gefühlen, um eine bessere Kontrolle zu erreichen. Nach Schneider ist die R.E.T., die wöchentlich in der Gruppensituation stattfindet, indiziert bei leicht geistig Behinderten mit depressiven Zuständen, Borderline-Patienten, Impulskontrollstörungen sowie bei Problemen des Selbstbewusstseins und der sozialen Interaktion, die eine existenzielle Krise auslösen. kBeziehungstherapie
Dosen (1997) hat eine entwicklungsdynamisch orientierte Beziehungstherapie konzipiert, in der die Herausbildung einer positiven affektiven Bindung zwischen Therapeut und Patient im Vordergrund steht. Dabei werden nicht emotionale Konflikte des Patienten aus der Vergangenheit aufgedeckt, damit dieser sie vielleicht verarbeiten kann, sondern die Therapie setzt an den aktuellen Erfahrungen des Patienten in der Therapiesituation an. Der Therapeut bleibt während der gesamten Therapie in einer vertraulichen Beziehung zum Patienten und löst die wesentlichen Probleme mit ihm zusammen. In der Beziehungstherapie kann der Therapeut auch ein speziell trainierter Gruppenleiter oder eine enge Betreuungsperson sein, die von einem Psychotherapeuten supervidiert wird. Diese Form der Therapie erfolgt im jeweils konkreten Lebensraum des Patienten. Die Behandlung verläuft in drei Phasen: 1. Das Verhalten des Patienten wird von der Gruppe akzeptiert, Symptome werden nicht bekämpft, sondern nach Möglichkeit als Bestandteil der gesamten Persönlichkeit
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7.3 • Psychotherapeutische Interventionen
angenommen. Es wird nach Wegen für eine angenehme Kommunikation gesucht. 2. In dieser Phase beginnt der Aufbau einer positiven Beziehung zwischen Therapeut und Patient. Der Therapeut versucht anfangs, auf alle gezeigten Verhaltensweisen positiv zu reagieren, um ein Gefühl allumfassender Akzeptanz zu vermitteln. Durch dieses Gefühl wird der Patient schrittweise die kommunikative Initiative übernehmen und seine Bedürfnisse artikulieren. 3. Der Therapeut versucht aufgrund der positiven Atmosphäre, fixiertes Problemverhalten zu lösen und durch ein sozial positiveres zu ersetzen. In dieser Phase wird sehr stark mit positiven und negativen Verstärkern gearbeitet, gleichzeitig erhält der Patient soziale Bestätigung durch die Gruppe, die ihn zum weiteren Erlernen sozialer Verhaltensweisen anregt. Die mittlere Behandlungsdauer beträgt etwas 6 Monate. Der Patient sollte im Verlauf dieser Therapie immer ein vertrautes Umfeld sowie möglichst unveränderte Strukturen hinsichtlich des Personals und im Tagesablauf vorfinden. Die Beziehungstherapie wiederholt und fördert emotionale Entwicklungsphasen, wie sie auch jedes normal begabte Kind durchläuft. Beispielhaft setzt verbale Kommunikation bei einem kontaktgestörten Kind zunächst körperlichen Kontakt voraus. kKontakttraining bei Distanzstörungen
Ein weiteres Problemverhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung stellen sogenannte Distanzstörungen dar, die durch enthemmtes Kontaktverhalten und gleichzeitig fehlende Fremdenangst charakterisiert sind. Auch hier erweisen sich verhaltenstherapeutische Techniken als sehr hilfreich. Nach Süss-Burghart (1997) wurde mit einem kognitiven Diskriminationstraining begonnen, »bekannte« von »fremden« Erwachsenen zu unterscheiden, wofür u. a. auch
Szenenbilder verwendet wurden. Mit einer In-vivo-Therapie wurde diese Unterscheidung in Alltagssituationen geübt und richtige Reaktionen (Kontaktaufnahme bei »bekannten« Personen, Kontaktabwendung bei »fremden« Personen) wurden sofort sozial und materiell verstärkt. Fehler führten zu einem Time-out. Mit diesem Training konnte distanzloses Verhalten völlig abgebaut werden. Geistig behinderte Menschen werden auch aufgrund mangelnden Distanzverhaltens häufig Opfer sexuellen Missbrauchs.
7.3.4
Kreativtherapie
Kein Verfahren allein wirkt spezifisch. Neben der Psychopharmakotherapie und den bereits etablierten Lernprogrammen, Trainingstechniken sowie verhaltenstherapeutischen Behandlungsansätzen eröffnen sich mit kreativtherapeutischen Zugängen weitere Optionen. Kreativtherapie umfasst Kunst, Drama, Theater, Spiel, Musik und Tanz. Ziele kreativtherapeutischer Interventionen sind: 4 Schaffung einer nonverbalen Kommunikations- und Ausdrucksplattform, 4 Bewusstmachung eigenen Handelns und eigener Fähigkeiten, 4 Selbstbestätigung und Erreichen von Anerkennung durch nonverbale Handlungen, 4 Entwicklung einer ästhetischen Erlebnisfähigkeit, 4 kognitive Umstrukturierung des Erlebten, 4 Verhaltensänderung, Förderung von Empowerment, 4 Verdeutlichung und Evaluierung von Veränderungsprozessen. Insbesondere handlungsorientierte Ansätze haben sich bewährt.
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Kapitel 7 • Was ist zu tun? Interventionen
Kunsttherapie In der Kunsttherapie geht es um den Einsatz von bildnerischem Material: Bleistift und Papier, Tinte, Farbe, Holz, Metall, Ton etc., d. h. Material, mit dem man sich ausdrücken an, indem man damit Formen gestaltet. Materialgebrauch und Formgebung stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Akteur, seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten, seiner Stimmung, seinen Konflikten u.a.m. Mit dem Arbeiten entsteht ein individuell geprägtes, manchmal verzerrtes Bild von der Realität.
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Definition In der Auseinandersetzung mit unseren inneren Bildmanifestationen sollten wir uns selbst und andere kennenlernen. Somit geht es in der Kunsttherapie um einen innerpsychischen und sich sinneshaft wie psychomotorisch auswirkenden Formbildungs- und Gestaltungsvorgang, der sich in der bildnerischen Formdynamik eines ästhetischen Mediums spiegelt und der innere wie äußere Lebensverhältnisse abbildet, sodass diese, sofern sie Leiden verursachen, bearbeitbar und zentrierbar sind (Menzen 1995).
Bilder und Skulpturen sind nicht nur Indikatoren für psychische und/oder somatische Leiden, sondern auch ein Abbild der facettenreichen Persönlichkeit ihres Schöpfers. Sie demonstrieren neben Wunden, Befindlichkeiten, Gefühlskonstellationen, körperhaften und mentalen Verunsicherungen, Zerrüttungen, Wünschen, Sehnsüchten, Einsichten, Entwicklungen und Beziehungen (Häßler 1996) auch Fähigkeiten und Fertigkeiten bzw. Defizite. Brems (1993) schrieb der Kunsttherapie drei Funktionen zu, eine diagnostische, eine therapeutische und die der Bewusstmachung: 4 diagnostische Funktion 5 zur Konflikterkennung
5 zur Trieb- und Affektanalyse 5 zur Persönlichkeitsdiagnostik 5 zur Entwicklungsstanddiagnostik 5 zur Therapieplanung 5 zur Prozesseinschätzung psychotherapeutischer und pädagogischer Interventionen 5 zur Evaluierung der Therapieeffektivität 4 Bewusstmachung 5 Raum für freie Affekt- und Triebäußerungen 5 Provokation von Affekten und verdrängten Konflikten 5 abwehrfreie Aufarbeitung von Erlebtem 5 kreative Expression antizipierter Ereignisse 5 Bahnung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung 5 Öffnung zum Dialog 4 therapeutische Funktion 5 Begünstigung nonverbaler Ausdrucksmöglichkeiten 5 Erlernen von Fähigkeiten, u. a. Motorik, Ausdauer, Konzentration 5 Steigerung bzw. Stärkung des Selbstvertrauens und des Selbstbewusstseins 5 Begünstigung kreativer Problemlösungstrategien 5 Förderung von Introspektions- und Reflexionsfähigkeit 5 Schaffung von Bedingungen für Begegnung und Beziehungsaufnahme 5 Training von Teilleistungsstörungen Gegenüber anderen Therapien besitzt Kunsttherapie durch die geschaffenen Produkte den Vorteil einer objektiveren Prozessbeurteilung, der wiederholbaren Identifikation mit der eigenen Kreativität bzw. Leistung und damit der vorzeigbaren Selbstbestätigung und Selbstaufwertung. Nicht selten ist »Kunst« die Brücke in die außerinstitutionelle Welt, ein integrierendes Medium, durch welches Aufmerksamkeit und Verständnis erzielt werden können. Tretter berichtete 1995, dass durch den Einsatz von Kunsttherapie unter anderem eine Re-
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7.3 • Psychotherapeutische Interventionen
duktion der Medikamentendosis, ein prosoziales Verhalten im unmittelbaren Anschluss an die Kunstprojekte, eine Abnahme des mittleren Aggressionsniveaus, mehr Eigeninitiative und eine psychische Stabilisierung erzielt werden konnten. Alle diese Wirkeffekte lassen sich auch uneingeschränkt als Ziele in der Betreuung und Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung formulieren.
berücksichtigt werden, dass diese häufig in ihrer Wahrnehmung eingeschränkt sind und herausfordernde Verhaltensmuster wie Stereotypien, Unruhe, impulsive und aggressive Durchbrüche bieten. Bei der Umsetzung können und sollten entsprechend der individuellen Fähigkeiten und der Zielstellungen verschiedene rezeptive Zugänge genutzt werden. kAnsprechen des Tastsinns
Dramatherapie
Im täglichen Leben drücken wir uns nicht nur mit Worten aus, sondern auch durch Mimik, Gestik, Körperhaltung, Bewegung bzw. Bewegungsabläufe, also durch Aktion. Dramatherapie nutzt jegliche Art von Aktion und Aktivität im Interesse eines diagnostischen und therapeutischen Prozesses. Sie ist somit eine enorm alltagsnahe, flexible und kreative Methode und hat sich dank der Pionierarbeit von Sue Jennings (1978) einen festen Platz im psychotherapeutischen und auch pädagogisch orientierten Behandlungs- und Förder- bzw. Trainingsrepertoire erobert.
Insbesondere bei schwer geistig und mehrfach Behinderten bietet sich als Zugang primär der Tastsinn/taktiles Erkennen an. Über Hand-zuHand-Kontakt kann eine Beziehung hergestellt werde, lässt sich Geduld erproben und demonstrieren, Vertrauen aufbauen, Distanz ausdrücken, Kraft dosieren, Fremdsteuerung ausüben, Befindlichkeit und Vegetativum erspüren etc. Der therapeutische Prozess ist eine Einladung, sich Gefühlen über Kontakt zu öffnen, sich darüber mitzuteilen und zu kommunizieren. Spielerische Elemente, Musik, Tanz und Geschichten/ Märchen können in den dramatherapeutischen Prozess integriert werden und erweitern so die Wahrnehmung über optische, akustische oder kinetische Reize. Neben interpersonellen Aspekten dient Berührung ebenso der Erfahrung von Objekten, deren Oberfläche, Temperatur, Gestalt und Größe. So kann Dramatherapie auch der Stimulation zur Selbstbetätigung dienen und die soziale Kompetenz stärken.
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kAnsprechen motorischer Funktionen
Definition Drama hat seinen Ursprung im Griechischen und bedeutet frei übersetzt »handeln«. Eine Therapie, die auf Handeln basiert, ist eine Therapie der Aktion, des aktiven Gestaltens bzw. Ausdrückens.
Eignung zur Therapie bei Intelligenzminderung
Auch wenn Dramatherapie bei Menschen mit geistiger Behinderung ein noch randständiges Spezialgebiet ist, scheint diese Therapieform gerade bei dieser Klientel, welche Schwierigkeiten in der verbalen Kommunikation hat und sich größtenteils über nichtsprachgebundene Mittel ausdrückt, prädestiniert zu sein. Andererseits muss in der Dramatherapie geistig Behinderter
Bewegung als höhere Stufe aktiviert und intensiviert die Körpererfahrung über das Ansprechen motorischer Funktionen, nutzt räumliche Dimensionen, erlaubt eine szenische Gestaltung und die Einbeziehung spielerischer Elemente, basiert auf Aktivierung und Deaktivierung, Steuerung und Kontrolle und das nicht nur in einer Therapeut-Klient-Beziehung, sondern
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Kapitel 7 • Was ist zu tun? Interventionen
auch in Gruppensituationen. Tanztherapeutische Elemente erweitern und bereichern die Gestaltungsmöglichkeiten. So lässt sich z. B. im Einzeltanz individuelle Freiheit ausagieren. Dieser kann ebenso wie spielerische Anteile oder Selbstmassage dem Warm-up für komplexere Bewegungen bzw. -abläufe dienen. Vielfältigste Variationen und Kombinationen in Abhängigkeit von den physischen und psychischen Möglichkeiten der zu therapierenden Menschen mit geistiger Behinderung ergeben sich aus den oben skizzierten Grundelementen.
7
z
Spezielle Grundsätze
Dramatherapie mit geistig Behinderten sollte sich mehr an der Realität orientieren und bedarf, zumindestens in den Anfängen, in höherem Maße der Fremdsteuerung. Es geht ja darum, realitätsbezogene Erfahrungen zu machen, zu sammeln, zu generalisieren, Ängste abzubauen, individuelle und damit soziale Kompetenz zu erlangen, um dadurch letztendlich die Lebensqualität und -zufriedenheit zu verbessern. Aufgrund eines oft fehlenden bzw. defizitären Problembewusstseins und eingeschränkter kognitiver Fähigkeiten treten fiktive Elemente, Fantasie, Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene in der Dramatherapie von Menschen mit geistiger Behinderung in den Hintergrund, ohne sie ganz aus den Augen zu verlieren. Die Betroffenen sind und bleiben in der Regel »echt«, sind, egal in welcher Rolle, sie selbst und somit einem direkten Zugang offen. Dennoch gelten hier wie sonst in der Dramatherapie nicht geistig Behinderter auch einige Handlungsbestandteile, die der Therapeut einbeziehen bzw. berücksichtigen muss. Aufgrund der langjährigen Erfahrung von Junker u. Cimmermans (1998) haben sich folgende Punkte als praxisrelevant und effizient herausgestellt:
4 die Identität des Klienten/Akteurs und seine Lebensgeschichte, die er im Handeln ausdrückt; 4 die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse, in der die Therapie stattfindet bzw. in der sich der Akteur befindet; 4 das Problem, welches dem Akteur nicht immer selbst bewusst ist und somit den Prozess der Bewusstmachung erfordert; die durch das Problem hervorgerufene Spannung erzeugt Bedürfnisse, vor allem im Umfeld, sodass ein interaktionelles Problem entsteht; 4 Formulierung eines Ziels, z. B. Verhaltensmodifikation; 4 Aufstellen von hierarchischen Regeln; 4 Ausführung unter Berücksichtigung aller Umstände, eigentliches Handeln; 4 Effektevaluierung; 4 Abschätzen von Kurzzeit- und Langzeitfolgen, Integration anderer Behandlungsstrategien, multiprofessionellesr Therapiekonzept.
Musiktherapie Definition Musiktherapie ist eine lustbetonte psychotherapeutische Behandlungsform, die sich am ehesten symptom- bzw. störungsspezifisch einsetzen lässt. In Kombination mit bewegungstherapeutischen Angeboten kann selbstverletzendes Verhalten um 10–20% reduziert werden (Bienstein u. Nussbeck 2006).
z
Allgemeine Ziele
Nach Brückner (1992) können vier allgemeingültige Ziele für die Musiktherapie formuliert werden.
119
7
7.3 • Psychotherapeutische Interventionen
1. Aktivierung und Auslösung sozial kommunikativer Prozesse durch nonverbale Handlungen: Die nonverbalen Handlungsabläufe werden durch das anschließende Gespräch bzw. Spiel zur Ermöglichung einer Verhaltenskorrektur bewusst gemacht; 2. Aufbau von Verhaltensweisen, mit denen der Klient lernt, mit psychovegetativen Fehlspannungen und psychischen Fehlverhaltensweisen umzugehen; 3. Aktivieren und Auslösen von Emotionen und deren Bewusstmachung durch die Auseinandersetzung mit inneren und äußeren Konflikten; 4. Entwicklung von ästhetischer Erlebnisfähigkeit und Anbahnung von musischen Interessen, die eine harmonische Persönlichkeitsentfaltung fördern. Diese allgemeinen Ziele sind natürlich nur bedingt auf die Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung anwendbar. z
Erfolgreiche Therapiekonzepte
Schuchardt (1999) weist darauf hin, dass bei Menschen mit einer geistigen Behinderung ein handlungsorientiertes Musiktherapiekonzept bevorzugt werden sollte. Durch vielfältige konkrete und handlungsbezogene Zugangsweisen wird die an sich nicht gegenständliche Musik veranschaulicht. Dadurch ermöglicht man ein ganzheitliches Erleben und Aufnehmen der musikalischen Erscheinungs- und Ausdrucksformen und unterstützt das musikalische Hörerlebnis im Sinne des aktiven Hörens. Schulze (1993) konnte empirisch belegen, dass sich Musiktherapie allein und als unterstützende Kotherapie bei verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Interventionen als effektiv in der Behandlung aggressiver Verhaltensmuster erwies. Signifikante Veränderungen spiegelten sich insbesondere in den Bereichen der allgemeinen
Abnahme der Aggressivität wider, in deren Verschiebung von der tätlichen auf die verbale Ebene, in verbesserten, d. h. alternativen Lösungsvorschlägen, Spannungsregulierung, gestiegene Selbstreflexion und in gewachsenem Selbstvertrauen. Zur Anwendung kamen unterschiedliche Verfahren aus dem Methodeninventar der Musiktherapie. 4 Aktive Musiktherapie 5 in der Gruppe: – Improvisationen mit körpereigenen Instrumenten und Materialien – Instrumentalimprovisation – Bewegungsimprovisation – Gruppensingtherapie – tänzerische Gruppenmusiktherapie 5 einzeln: Schmieren, Zeichnen, Malen nach Musik 4 Rezeptive Musiktherapie 5 in der Gruppe – zum Bewusstmachen von Gefühlen – zur Beobachtung von Körperfunktionen – zur Beruhigung und Selbstbesinnung – regulative Musiktherapie 5 einzeln – kommunikative Einzelmusiktherapie – reaktive Einzelmusiktherapie – ungerichtete rezeptive Einzelmusiktherapie Dabei kommt es nicht darauf an, möglichst viele Verfahren bei einem Klienten einzusetzen, sondern nach dessen Fähigkeiten eine Auswahl zu treffen, die im Verlaufe der Therapie kritisch hinterfragt werden sollte und eventuell erweitert werden kann. Alle aufgeführten Verfahren sind nach lerntheoretischen Prinzipien aufgebaut, d. h. es erfolgt ein hierarchisches Stufensystem vom geringen bis zum erheblichen Schwierigkeitsgrad.
120
Kapitel 7 • Was ist zu tun? Interventionen
> Jede Behandlungsintervention bedarf einer klaren Indikationsstellung, einer umfassenden, in der Regel mehrzeitigen Diagnostik unter Einbeziehung des Umfelds und sollte störungsspezifisch unter Berücksichtigung entwicklungsdynamischer Aspekte auf Zielsymptome ausgerichtet sein. Bei einem mehrdimensionalen multiprofessionalen Ansatz kommt es auch auf das kritische Hinterfragen der Effektivität einzelner Behandlungsbausteine im Sinne einer Therapievaluierung an.
7
Die vorangegangenen Betrachtungen dienen neben einer Methodenüberschau der Orientierung und beruhen auf eigenen langjährigen Erfahrungen in der Betreuung und Behandlung von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung aller Altersstufen.
7.4
Ergotherapie1
Definition Ergotherapie begleitet, unterstützt und befähigt Menschen, die in ihren alltäglichen Fähigkeiten eingeschränkt sind oder von Einschränkung bedroht sind.
Das Ziel von Ergotherapie ist nach Auffassung des Deutschen Ergotherpieverbands das Erreichen bedeutungsvoller Betätigungen in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit. Damit erfolgt Ergotherapie nach der Devise: »Über Sinneserfahrung im Handeln Lebenserfahrungen und Handlungskompetenz gewinnen«. International stehen die Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden sowie das Erreichen eines Maximums an Unabhängigkeit
1
Nach Scheepers et al. 2006.
und Lebensqualität im Vordergrund von »occupational therapy«. Bei der ergotherapeutischen Arbeit mit geistig Behinderten muss vor Beginn der Therapie genau überprüft werden, welche Lebensgestaltungsmöglichkeiten und individuellen Perspektiven der Betroffene hat. In diesem Bereich beinhaltet die Ergotherapie die Vermittlung verschiedener Erfahrungen, die der geistig behinderte Mensch zur weiteren Entwicklung seiner Persönlichkeit braucht, die er sich aber nicht eigenständig aneignen kann. Ein weiteres Ziel ist die weitestmögliche Einbeziehung der zu Behandelnden, die darüber hinaus noch selbstbestimmt über die Mittel und Methoden entscheiden sollten. Durchgeführt wird die Ergotherapie in den verschiedensten Einrichtungen für geistig Behinderte wie Integrationskindertagesstätten, Sonderschulen, Behindertenwerkstätten, Wohnund Freizeiteinrichtungen und Tagesförderstätten. Etabliert hat sich die Ergotherapie sowohl im stationären als auch ambulanten Sektor, erfolgreich auch im aufsuchenden Setting. Um die eingeschränkten Funktionen und Fähigkeiten wiederherzustellen, greift die Ergotherapie auf eine Vielzahl an Behandlungsansätzen zurück: 4 »Basale Stimulation«, das heißt die Anregung von Sinneswahrnehmungen bei wahrnehmungsbeeinträchtigten Menschen; bei geistig behinderten Kindern durch Ertasten einfacher und komplexer Alltagsformen, das »Manschen« mit Ton, Integration optischer und akustischer Reize; 4 Wahrnehmungsbehandlung nach Avres, Frostig oder Affolter; auch im Sinne der Händeführung, um die Umwelt wahrzunehmen; 4 Behandlung von Körperschemastörungen bei gestörter Wahrnehmung des eigenen Körpers; 4 physiotherapeutisches Training nach Bobath zum Abbau »falscher« Bewegungsmuster;
121
7
7.5 • Tiergestützte Therapie
4 Koordinationstraining, Übungen zur Grobund Feinmotorik durch Bearbeiten unterschiedlichster Materialien wie Papier, Holz, Metall, Stein, Ton, Gips etc. mittels Schneiden, Sägen, Bohren, Meißeln, Formen, Gießen usw.; dieses Training dient oft gleichzeitig der Konzentration, der Regulierung der Anstrengungsbereitschaft, der Motivationsförderung und der Ausdauer; 4 psychosoziale Verfahren, 4 Training der Arbeitsfähigkeit, 4 Training im lebenspraktischen Bereich (d. h. im Alltag, ideal naturalistisch im Lebensumfeld).
7.5
Tiergestützte Therapie
Die moderne tiergestützte Therapie wurde 1969 durch Lewinson begründet (»The dog as a cotherapist«). Diese Therapieform ist seitdem in den USA, in Großbritannien, in Österreich sowie in der Schweiz anerkannt und weit verbreitet. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass – ähnlich wie bei den Bindungsverhältnissen zwischen Säuglingen, Kleinkindern und Erwachsenen – eine intensive Bindung zwischen dem Mensch und dem Hund besteht (Frömming 2006). Dabei wird die Kommunikation zwischen Mensch und Hund als Lernprozess von beiden Seiten verstanden. Oft gelten Tiere auch als Partner von Menschen, die von Behinderungen betroffen sind. Die Hilfe und die Unterstützung des Tieres erfolgt in verschiedenster Art und Weise, wobei sich die tiergestützte Therapie als ganzheitliches Entwicklungs- und Förderprogramm versteht.
Definition Durch die tiergestützte Therapie werden das psychische, das soziale und das physische Wirkungsfeld beeinflusst. Ziel ist es, einen positiven Einfluss auf den Genesungspro-
zess sowie die Verbesserung der Lebensqualität zu erzielen.
Nach Prothmann (2007) entfaltet die tiergestützte Therapie in den folgenden Bereichen nachweisbare Wirkungen: 4 physische und physiologische Wirkung: 5 Senkung des Blutdrucks und der Herzfrequenz, Kreislaufstabilisierung 5 Muskelentspannung, Abnahme der Spastik, Besserung des Gleichgewichts 5 neuroendokrine Wirkung, Ausschüttung von Endorphinen, Änderung der Schmerzwahrnehmung 5 motorische Aktivierung, Training der Muskulatur, Verdauungsaktivierung, Anregung zur besseren Ernährung, bessere Körperpflege, Übergewichtsreduktion, Förderung einer regelmäßigen Tagesstruktur 5 Ersatz gestörter Sinnesfunktionen (Blindenhund, Gehörlose, Rollstuhlfahrer) 4 psychische Wirkung: 5 Stabilisierung der Befindlichkeit (Zuneigung, Zärtlichkeit, Trost) 5 Förderung von positivem Selbstbild, Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein 5 Förderung von Kontrolle über Umwelt und sich selbst 5 Förderung von Sicherheit, Selbstsicherheit und Abbau von Angst 5 Stressreduktion, Beruhigung und Entspannung 5 soziale Integration 5 antidepressive und antisuizidale Wirkung 4 soziale Wirkung: 5 Aufhebung von Einsamkeit und Isolation 5 Nähe, Intimität, Körperkontakt 5 Streitschlichtung, Familienzusammenhalt, Rettung der Beziehung 5 positive soziale Attribution
122
7
Kapitel 7 • Was ist zu tun? Interventionen
Dass Haustiere, vor allem größere Tiere (Hunde, Pferde), allgemein vielfältige entwicklungsfördernde Einflüsse auf Kinder haben, ist hinreichend belegt worden (Olbrich u. von Otterstedt 2003). Durch den Einsatz von Tieren können folgende entwicklungsfördernde Faktoren herausgebildet und verfestigt werden: 4 Verantwortungsgefühl 4 Pflichtbewusstsein 4 Rücksichtnahme 4 Bedürfnisse anderer respektieren 4 Sensibilität sowie Achtung vor Lebewesen 4 Freundschaft 4 soziale Kompetenz 4 Toleranz 4 Hilfsbereitschaft 4 Gefühle zulassen 4 Entdeckung der Natur 4 Integration in Gemeinschaften
7.6
Psychodynamische oder psychoanalytische Therapien
Bisher liegen nur geringe Erfahrungen mit psychoanalytischen Ansätzen wie der psychoanalytisch-interaktionellen Psychotherapie zur Behandlung von Frühstörungen bei geistig Behinderten vor (Heigl-Evers et al. 1993). Auch wenn sich die klassische Psychoanalyse nicht für Menschen mit geistiger Behinderung zuständig erklärte, gab es immer wieder Ansätze, das Phänomen der geistigen Behinderung an sich oder auch die begleitenden psychischen Auffälligkeiten zu beschreiben und zu erläutern (Niedecken 1999). Die psychoanalytische Entwicklungspsychologie, die Objektbeziehungstheorie und die Ich-Psychologie ermöglichten (präödipal) die Beschreibung persistierender Störungen der frühen Entwicklung als Ursache psychopathologischer Auffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung.
Eine Einführung in Frühstörungen und die psychoanalytisch interaktionellen Therapiemethoden findet sich bei Gaedt (2004). Die Effektivität ist nicht gut untersucht, sodass psychodynamische und psychoanalytische Behandlungen über Einzelfälle hinaus nicht empfohlen werden können.
7.7
Familieninterventionen und Zusammenarbeit mit den Angehörigen
Als »Mitbetroffene« bedürfen Eltern und Angehörige der Hilfe zur Selbsthilfe, um langfristig als Quelle sozialer Unterstützung zur Verfügung zu stehen. Über eine umfassende medizinische, soziale, prognostische und rechtliche Aufklärung hinaus sind die Ziele einer Familienintervention: 4 Überwindung der oftmals eingetretenen eigenen Isolierung, 4 Hilfe beim Umgang mit den eigenen Belastungen, 4 Veränderung eingeschliffener, verzerrter innerfamiliärer Kommunikations- und Interaktionsmuster, 4 Stärkung als »Kotherapeuten« und 4 Vorbereitung auf oft notwendige Wechsel der Betreuungsform für das behinderte junge oder auch schon ältere Kind (Ablösung). Beratungsdienste, mehr oder weniger angeleitete Gesprächskreise von Eltern, Eltern-Kind-Gruppen, gemischte integrative Gruppen (Angehörigenselbsthilfegruppen) und Familien entlastende aufsuchende Dienste stehen zur Verfügung.
7.8
Pharmakologische Behandlung
7.8.1
Allgemeines
Die Pharmakotherapie sollte in ein Gesamtbehandlungskonzept unter Einschluss allgemeiner
123
7
7.8 • Pharmakologische Behandlung
und spezieller psycho- und soziotherapeutischer sowie pädagogischer Maßnahmen in Abhängigkeit von einer differenziellen Indikation eingebettet sein. Mit zwei Einschränkungen gelten für Menschen mit geistiger Behinderung die gleichen Behandlungskriterien wie für nicht intelligenzgeminderte Personen: 4 mit einer geringeren Dosis beginnen und 4 langsamer auftitrieren («start low, go slow«). > Besteht unter Einbeziehung und Abwägung aller o. g. Aspekte eine Indikation zur Psychopharmakotherapie, so ist nach angemessener und dokumentierter Aufklärung bei Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen eine rechtsverbindliche Zustimmung einzuholen oder bei Einwilligungsunfähigkeit die des gesetzlichen Vertreters bzw. Betreuers.
In Hinblick auf die §§ 1904 und 1906 BGB kommt der Entscheidung, ob es sich um eine Heilbehandlung oder eine »freiheitsentziehende Maßnahme« durch den Einsatz von Medikamenten handelt, eine juristische Bedeutung zu. Bei einer Heilbehandlung, soweit sie nicht mit einer extremen Gefährdung des Betroffenen einhergeht, wovon bei zugelassenen Medikamenten, insbesondere Neuroleptika, a priori nicht ausgegangen werden muss, reicht die Zustimmung des Personensorgeberechtigten bzw. Betreuers. Im Falle »freiheitsentziehender Maßnahmen« bedarf es der Zustimmung des Vormundschaftsgerichts bzw. des Familiengerichts.
7.8.2
Psychopharmakoprävalenz
Die frühe Literatur wird ausführlich in den Übersichten von Aman (1983), Gadow (1986) und Aman u. Singh (1988) dargestellt. In den 80er-Jahren lagen die Prävalenzraten von Psychopharmaka, die in Großeinrichtungen betreute bzw. untergebrachte Menschen mit geistiger
Behinderung erhielten, zwischen 30% und 50%. Dagegen nahmen nur 25% bis 35% aller gemeindenah in unterschiedlichen Wohnformen lebenden geistig Behinderten Psychopharmaka. Nicht eingerechnet wurden in diese Angaben Antiepileptika, die neben der Indikation bei zerebralen Krampfanfällen oder einer Epilepsie auch bei psychischen Problemen bzw. Verhaltensauffälligkeiten eingesetzt wurden. Singh et al. (1997) werteten die Literatur der Jahre 1956 bis 1995 aus und kamen zu der Beurteilung, dass die typischen Prävalenzraten für Psychopharmaka und/ oder Antikonvulsiva in Großeinrichtungen zwischen 44% und 60% liegen. Unter Berücksichtigung der bereits erwähnten Prävalenzraten psychischer Störungen bei leicht bis mittelschwer geistig Behinderten ist der Einsatz von Psychopharmaka in dieser Größenordnung sachlich nachvollziehbar. Zu erwarten wäre, dass in den letzten 10 Jahren mit der Ära der atypischen Neuroleptika und der SerotoninWiederaufnahmehemmer (SSRI) sowie der Fokussierung auf bipolare Störungen sowohl eine Änderung in der Psychopharmakaprävalenz als auch im Verordnungsverhalten bezüglich einzelner Substanzklassen eingetreten ist. Eine Antwort auf diese Fragen findet sich in der Untersuchung von Spreat et al. (2004). Die Autoren verglichen an 2248 geistig behinderten Personen in Oklahoma die Psychopharmakamedikation 1994 und 2000. Bei einer nahezu gleich bleibenden Antipsychotikaprävalenz von 21% nahm der Anteil der Atypika von 0,1% auf 7,7% und der der SSRIs von 1,2% auf 11,1% zu. Die Psychopharmakaprävalenz in Pflegeheimen lag mit 31,7% um 12,2% über der in betreuten Wohneinrichtungen. Einen Überblick über Studien bezüglich der Psychopharmakaprävalenz geben . Tab. 7.1 und . Tab. 7.2. Die folgenden Ausführungen bezüglich einzelner Substanzen bzw. Substanzklassen stützen sich in erster Linie auf Übersichtsarbeiten von Santosh u. Baird 1999, Gerlach et al. 2004, Häßler et al. 2004, Verhoeven u. Tuinier 2004 und
124
Kapitel 7 • Was ist zu tun? Interventionen
. Tab. 7.1 Psychopharmakaprävalenz bei erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung (Angaben in %)
7
Autoren
Neuroleptika – davon Atypika
Antidepressiva – davon SSRIs
Anxiolytika
Sedativa
Antiepileptika
Meins et al. 1993
27,8
2,9
3,2
3,6
K. A.
Baumeister et al. 1993
31,8
2,9
8,5
6,0
31,6
Branford 1994
23,0
4,0
2,0
k.A.
29,0
Spreat et al. 1997
21,6 – 0,1
5,5 – 1,2
9,1
3,4
4,8 (nur psychiatrische Indikation)
Häßler 1998
33,8 – 25,0
2,4
k.A.
8,4
27,2
Stolker et al. 2002
41,2
15,3
21,5
k.A.
21,5
Spreat et al. 2004
20,8 – 7,7
15,0 – 11,1
11,7
2,2
7,6 (nur psychiatrische Indikation)
. Tab. 7.2 Psychopharmakaprävalenzen bei Kindern und Jugendlichen Autoren
Neuroleptika
Clonidin
Stimulanzien
Singh et al. 1997 de Bildt et al. 2006 (n = 862)
Gesamt 11%
3,9%
2,9%
2,3%
8,5%
Handen u. Gilchrist 2006 und werden bei einigen Substanzen durch spezielle Literaturquellen ergänzt.
7.8.3
Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen
Neuroleptika Berücksichtigt werden an dieser Stelle nur Studien (speziell auch auf das Jugendalter bezogen),
die die Wirksamkeit und Sicherheit von klassischen und atypischen Neuroleptika bei externalisierenden Störungen (»challenging behavior«) untersucht haben. Vor Beginn einer Therapie mit Neuroleptika sind körperliche und psychiatrische Untersuchungen, eine Leber- und Nierenfunktionsprüfung, Differentialblutbild und EKG sowie EEG optional aufgrund der Absenkung der Krampfschwelle erforderlich. z
Zuclopenthixol (Evidenzgrad IIb-III)
Zuclopenthixol (. Tab. 7.3) ist für Kinder und Jugendliche nicht zugelassen. Die Tageshöchstdosis in der Indikation Schizophrenie liegt bei 75 mg. Bezüglich der Anwendung bei intelligenzgeminderten Kindern und Jugendlichen gibt es neben Einzelberichten zwei offene Studien über 12 Wochen, die neben einem guten Effekt auf die Zielsymptome Hyperaktivität, Aggressivität und Impulsivität vor allem die Sicherheit (geringe Nebenwirkungsrate) von Zuclopenthixol belegen (Heinze 1967; Spivak et al. 2001). Nach eigenen Erfahrungen liegt die effektivste Tagesdosis zwischen 6 und 16 mg. Die indi-
125
7
7.8 • Pharmakologische Behandlung
. Tab. 7.3 Studien bei Zuclopenthixol Autor
Design; Tagesdosis
Anzahl; Alter
Wirksamkeit
Nebenwirkungen
Heinze 1967
Nicht placebokontrolliert, Ciatyl (Racemat); 5–75 mg/Tag
71; 3–20 Jahre
»Gute bis sehr gute Wirkung auf die Unruhe«
5–10% EPMS
Spivak et al. 2001
Nicht placebokontrolliert, Ciatyl-Z (reines Enanciomer); Ø 13,5 mg/Tag
15; Ø 12,2 Jahre
Wutanfälle, Aggressivität und Hyperaktivität p < 0.001, selbstverletzendes Verhalten p < 0.02, Stereotypien p < 0.01
Weniger als unter Vormedikation p < 0.08
. Tab. 7.4 Studien zu Risperidon Autor
Design
Anzahl
Alter (Jahre)
Dosis; Dauer
Effektivität
Buitelaar et al. 2000
Open-label
26
10–18
2,1 mg/Tag 2–12 Monate
OAS-M (54%), CGI (54%)
Findling et al. 2000
Doppelblind
20 (10 P)
3–15
0,03 mg/kgKG; 10 Wochen
RAAP, CGI sign. Verbesserung
Buitelaar et al. 2001
Doppelblind
38
14
2,9 mg/Tag; 6 Wochen
CGI, OAS-M, ABC sign. Verbesserung
Aman et al. 2002
Doppelblind
118 (55 P)
5–12
1,16 mg/Tag; 6 Wochen
NCBR-F, CGI sign. Verbesserung
Snyder et al. 2002
Doppelblind
110
5–12
0,033 mg/kgKG; 6 Wochen
NCBR-F (CD-Subskala, CGI, BPI, ABC) sign. Verbesserung
Findling et al. 2004a
Open-label
107
5–12
1,5 mg/Tag; 48 Wochen
NCBR-F (CD-Subskala) sign. Verbesserung
Croonenberghs et al. 2005
Open-label
504
5–14
1,6 mg/Tag über 1 Jahr
NCBR-F, CGI, ABC sign. Verbesserung
OAS-Overt Aggression Scale, CGI Clinical Global Impression, ABC Aberrant Behavior Checklist, NCBR-F Nisonger Child Behavior Rating-Form, CD Conduct Disorder.
viduelle Enddosis sollte über Titrierungsschritte von 2 mg/Tag innerhalb von 14 Tagen erreicht werden. Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, Prolaktinspiegelerhöhung und/oder EPMS sind bei diesen Dosierungen nicht beobachtet worden und auch nicht zu erwarten.
z
Risperidon (Evidenzgrad Ib)
In einer Vielzahl von randomisierten, kontrollierten Studien erwies sich Risperidon (Risperdal ®) bei Kindern und Jugendlichen als effektiv in der Kontrolle von Hyperaktivität, Irritabilität, Impulsivität, fremd- und autoaggressivem Verhalten sowie Stereotypien (. Tab. 7.4). Die Nebenwirkungen wie Prolaktinspiegelerhöhung,
126
Kapitel 7 • Was ist zu tun? Interventionen
. Tab. 7.5 Studien zu Clozapin
7
Clozapine (nicht für diese Indikation, nicht für 12 Monate) bezüglich Effizienz und Sicherheit liegen nur vereinzelt vor. Risperidon ist zur Therapie aggressiven Verhaltens bei intelligenzgeminderten Kindern ab 5 Jahren zugelassen. z
Clozapin
Wie die folgende Tabelle . Tab. 7.5 zeigt, ist die Studienlage hinsichtlich der Anwendung dieses ersten atypischen Neuroleptikums bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung sehr dürftig. Clozapin hat eine Zulassung ab 16 Jahren und fungiert als Antipsychotikum der 2. Wahl. Die Besonderheiten bezüglich Nebenwirkungen und Interaktionen sind entsprechend der Fachinfo unbedingt zu beachten. z
Ebenso wie bei Clozapin ist u. a. das Absenken der Krampfschwelle zu beachten. Aufgrund der indifferenten Studienlage empfiehlt sich Olanzapin nicht als Mittel der 1. Wahl. Die mittleren Tagesdosen liegen zwischen 10 und 20 mg. Individuell ist eine höhere Dosierung bis 30 mg/ Tag möglich. z
Quetiapin
Aufgrund vorliegender offener Studien (. Tab. 7.7) lässt sich nicht eindeutig ableiten, dass Quetiapin effektiv in der Behandlung aggressiven und hyperaktiven Verhaltens ist. Eigene Erfahrungen weichen aber deutlich von den Studienergebnissen ab, da sich Quetiapin nicht nur als wirksam, sondern in einer Dosierung bis max. 450 mg/Tag auch als äußerst nebenwirkungsarm erwies. z
Aripiprazol
Die von Stigler et al. (2004) beschriebenen 5 Fälle im Alter von 5 bis 18 Jahren wiesen im CGI eine unglaubliche 100%ige Verbesserung auf. Aripiprazol besitzt eine Zulassung ab 15 Jahren für die Indikation schizophrene Psychosen.
Olanzapin
In einer offenen Studien und einer placebokontrollierten Untersuchung (. Tab. 7.6) erwies sich Olanzapin bei Jugendlichen als wirksam bezüglich der Symptome Hyperaktivität und Irritabilität. Die Nebenwirkungs- und Abbruchrate war höher als in den Studien mit Risperidon. Olanzapin hat keine Zulassung für Minderjährige.
Zusammenfassung 4 Risperidon besitzt nicht nur als einziges atypisches Antipsychotikum eine Zulassung für die Behandlung von expansiven Verhaltensstörungen bei intelligenzgeminderten Kindern ab 5 Jahren, es ist auch das am besten untersuchte Neuroleptikum in dieser Indikation und hat eine hohe Effizienz bei selbst-
127
7
7.8 • Pharmakologische Behandlung
. Tab. 7.6 Studien zu Olanzapin Olanzapin nicht für diese Indikation, nicht für 50 (Aman et al 2003). D. h. bei einem IQ 50 zeigen intelligenzgeminderte Kinder und Jugendliche höhere Nebenwirkungsraten (Research units on pediatric psychopharmacology autism network 2005, Thomson et al. 2009). Unter Stimulanzien, insbesondere unter Dosen bis 0,3 mg/kgKG können sich bei intelligenzgeminderten Kindern die Zielsymptome Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörung und Impulsivität paradoxerweise sogar verstärken (Pearson et al. 2004). Einen Überblick zu den Dosierungen gibt . Tab. 7.8. Inwieweit Stimulanzien Verhaltensauffälligkeiten bei geistig behinderten Menschen, die kein ADHS haben, positiv beeinflussen, ist bisher in keiner einzigen größeren Untersuchung gezeigt worden (Deb u. Unwin 2007).
Atomoxetin Eine Alternative stellt der noradrenerge Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin dar. Er erwies sich in ersten Fallstudien als effektiv in einer Komedikation bei den Symptomen Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit und nebenwirkungsarm bei geistig behinderten Kindern und Jugendlichen (Jou et al. 2005). Die individuelle Dosis sollte zwischen 0,5 bis 1,2(1,6) mg/kgKG liegen.
Zusammenfassung
Antidepressiva Bis zur aktuellen Diskussion bezüglich suizidaler Gedanken in Verbindung mit selektiven serotonergen Wiederaufnahmehemmern (SSRIs) hatten diese die weitaus nebenwirkungsbehafteteren Trizyklika verdrängt. Trizyklika senken die Krampfschwelle, weisen als »dirty drugs« ein höheres Risko zum deliranten Syndrom auf, haben ein geringeres therapeutisches Fenster und besitzen mehr kardiale Risiken. Die Risiken der Trizyklika treffen jedoch nicht auf die SSRIs zu, die für Kinder und Jugendliche mit der Indikation »Problemverhalten« zugelassen sind (. Tab. 7.9). Die aktuelle Studienlage erlaubt darüber hinaus keine generalisierende Empfehlung für SSRIs bei stereotypem oder aggressivem Verhalten: 4 Entsprechende Untersuchungen für Sertralin, Citalopram/Escitalopram und Paroxetin bei geistig behinderten Kindern fehlen. 4 Fluoxetin weist eine zu geringe Responserate auf; es kann selbst aggressives, Manie ähnliches Verhalten hervorrufen. 4 Fluvoxamin war bei Kindern mit einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung weniger effektiv als bei entsprechenden Erwachsenen und wies eine höhere Nebenwirkungsrate auf.
Bei einem IQ über 70 können Stimulanzien ebenso wie bei normal intelligenten Kindern angewendet werden. Unterhalb eines IQ von 50 überwiegt das Risiko bezüglich Nebenwirkungen den begrenzten Nutzen.
Dennoch scheint Fluoxetin auch einen positiven Einfluss auf selbstverletzendes Verhalten, Impulsivität und depressive Symptome bei Kindern mit einer Intelligenzminderung zu haben, ohne
Vigil (Tbl. à 100 mg)
6–8
Equasym Retard (Kps. à 10, 20, 30 mg)
Modafinil*
5–8
Medikinet Retard (Tbl. à 10, 20, 30, 40 mg)
Amphetaminsaft
6–10
Ritalin LA (Kps. à 20, 40 mg)
D-L-Amphetamin (keine Fertigarznei)
8–12 (14)
Concerta (Kps. à 18, 36, 54 mg)
Methylphenidat mit verzögerter Freisetzung
5–8
4–5
3–4
Ritalin (Tbl. à 10 mg), Medikinet (Tbl. à 5, 10, 20 mg), Generika
Methylphenidat mit schneller Freisetzung
Wirkdauer/ Dosis [h]
Medikament
Chemische Kurzbezeichnung
. Tab. 7.8 Stimulanzien und ihre Dosierungsbereiche
0,1–0,5
0,3–1,0
0,3–1,0
0,3–1,0
0,3–1,0
0,3–1,0
mg/kgKG
100–500 mg
5–20 mg, max. 40 mg
max. 60 mg
max. 60 mg
max. 60 mg
max. 72 mg
10–40 mg, max. 60 mg
Tagesdosis
1–2
1–3
1
1
1
1 (evtl. + morgens MPH unret.)
1–3 (2/3 morgens, 1/3 abends)
Einzelgaben
7.8 • Pharmakologische Behandlung
129
7
130
Kapitel 7 • Was ist zu tun? Interventionen
. Tab. 7.9 Zulassungstatus von SSRIs im Kindes- und Jugendalter
7
Fluoxetin
Fluctin
>8 Jahre, nur Hartkapseln 20 mg, nach 4 bis 6 Sitzungen Psychotherapie
5–60 mg/Tag
Depression
Fluvoxamin
Fevarin
>8 Jahre
25–50 mg/Tag, max. 200 mg/Tag
Zwangsstörungen
dass die gefürchtete maniforme Aktivierung auftrat. Dies geht aus einer Übersicht von Aman et al. (1999) hervor, in die 15 veröffentlichte Fallberichte und 4 offene Studien eingingen. Für Fluvoxamin liegen aus doppelblinden, placebokontrollierten Studien Erfahrungen mit autistischen Kindern vor. Danach kam es entsprechend der Zielkriterien dieser Studien zu Verbesserungen im motorischen (stereotypen) Verhalten, im Halten des Blickkontakts und in der Kommunikation (siehe Handen u. Gilchrist 2006). Für depressive Symptome empfiehlt sich der Einsatz von Fluoxetin, für Zwangssymptome von Fluvoxamin und für Angst von Sertralin (off-label). Andere Antidepressiva wie Venlafaxin, Mirtazapin und Bupropion sind bei geistig behinderten Kindern noch nicht gut untersucht.
Impulsivität, bipolaren Störungen, fremd- und autoaggressivem Verhalten bei geistig behinderten Jugendlichen bewährt, weisen aber ein nicht zu unterschätzendes Nebenwirkungspektrum bis hin zu teratogenen Effekten auf. Häufig sind Kombinationen von Mood Stabilizern und gering dosierten Neuroleptika notwendig. Lithium kann generell weder für Kinder unter 12 Jahren noch für geistig behinderte Kinder und Jugendliche empfohlen werden, da die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Nebenwirkungen bis hin zur Intoxikation erhöht ist (Handen u. Gilchrist 2006). Eine Beschränkung der Zulassung auf Erwachsene liegt laut Roter Liste 2009 aber nicht vor.
Andere Psychopharmaka Zusammenfassung
z
Die antidepressiven Effekte von Antidepressiva des SSRI-Typs sind nach jetziger Datenlage im Kindesalter geringer als bei Jugendlichen und Erwachsenen. Bezüglich antiaggressiver Effekte ist die Studienlage derzeit nicht konstant. Beim Einsatz von SSRI sollten aufgrund entsprechender Warnhinweise suizidale Gedanken und Handlungen im Vorfeld eruiert werden, um entsprechend aufklären und eine individuelle Risiko-NutzenAnalyse vornehmen zu können.
Naltrexon zeigte in mehreren kontrollierten Studien über einen kurzen (akuten) Behandlungszeitraum bei geringen Nebenwirkungen gute Effekte auf hyperaktives, impulsives, stereotypes und (auto)aggressives Verhalten. Limitierend sind die kleinen Fallzahlen, wobei Jungen besser respondierten als Mädchen.
Mood Stabilizer Mood Stabilizer wie Lithium und einige Antiepileptika (Valproinsäure, Carbamazepin, Oxcarbazepin) haben sich in der Therapie von
z
Opiatantagonisten
Buspiron
Buspiron, ein Anxiolytikum aus der Reihe der Azaspirodecandione sowie ein kompletter Agonist präsynaptischer 5HT1A-Rezeptoren und ein partieller Agonist postsynaptischer 5HT1A-Rezeptoren hat sich in der Behandlung von Angststörungen und oppositionell auffälligem Verhal-
131
7
7.8 • Pharmakologische Behandlung
. Tab. 7.10 Zuclopenthixol in der Therapie expansiver Verhaltensstörungen bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung (Nach Häßler et al. 2005) Studie
Anzahl; Alter
Dosis [mg/Tag]
Effektivität
Nebenwirkungen
Karsten et al. 1981, vs. Haldol
n = 100; Ø 25.4 Jahre
Ø 34 mg/Tag
CGI 50% Verbesserung, p < 0,001
Miktionsstörungen, Müdigkeit, Angst, EPMS
Izmeth et al. 1988, vs. Placebo
n = 113; 18–56 Jahre
Ø 123 mg/Woche
CGI, NOSIE Verbesserung
Mehr als Placebo
Singh u. Owino 1992, vs. Placebo
n = 52
Ø 20 mg/Tag
CGI signifikante Verbesserung
Mehr als Placebo
Malt et al. 1995, vs. Haldol
n = 34; 18–60 Jahre
Ø 5,5 mg/Tag
CGI p < 0,01, SHBS p < 0,001
Müdigkeit
CGI Clinical Global Impression Scale, NOSIE Nurse’s Observation Scale for Inpatient Evaluation, SHBS Schedule for Handicaps, Behavior and Skills.
ten bei Kindern und Jugendlichen als besonders wirksam und nebenwirkungsarm erwiesen. An Nebenwirkungen wurden, wenn überhaupt, Schwindel, Kopfschmerzen, Müdigkeit und Gewichtszunahme beschrieben. z
Entbehrliche Psychopharmaka
Benzodiazepine und Sedativa/Hypnotika sind wegen ihrer Nebenwirkungen, der Gefahr paradoxer Effekte und der Gewöhnung/Abhängigkeit in der Langzeittherapie entbehrlich.
geistig behinderten Menschen spricht. Die folgenden Ausführungen beziehen sich einzig und allein auf den Einsatz von Psychopharmaka bei Menschen mit geistiger Behinderung bezüglich eines Problemverhaltens. In erster Linie finden die mit mindestens dem Evidenzgrad I versehenen aktuellen Studien nähere Beachtung. Bezüglich älterer Untersuchungen und retrospektiver Studien bzw. Fallberichten sei auf die zitierte Übersichtsliteratur verwiesen. z
7.8.4
Psychopharmaka bei Erwachsenen
Neuroleptika Noch 2007 schrieben Deb u. Unwin, dass seit 2002 nur eine einzige randomisierte kontrollierte Studie zur Effektivität von Antipsychotika auf Problemverhalten bei Erwachsenen mit Intelligenzminderung ohne komorbide psychiatrische Störungen publiziert wurde. Diese einzige Studie betraf das atypische Neuroleptikum Risperidon. Seitdem sind einige weitere Studien durchgeführt und veröffentlicht worden, was für eine zunehmende Fokussierung auf die Zielgruppe der
Zuclopenthixol (Evidenzgrad Ib)
Bereits 1999 unterstrichen Santosh u. Baird: “Zuclopenthixol is the only conventional antipsychotic that has any positive effect on chronic behavioural disturbances.” . Tab. 7.10 gibt eine Übersicht über ältere randomisierte Studien zur Zuclopenthixol-Therapie bei Menschen mit geistiger Behinderung. Eine eigene randomisierte, placebokontrollierte, multizentrische Doppelblindstudie mit insgesamt 39 geistig behinderten Patienten (Placebo n = 20, Zuclopenthixol n = 19) zwischen 18 und 50 Jahren wurde über 16 Wochen durchgeführt. Es zeigte sich eine signifikante Überlegenheit von Zuclopenthixol gegenüber Placebo. Die Responderrate (MOAS-Score) betrug in der
132
Kapitel 7 • Was ist zu tun? Interventionen
ITT-Population 36,8% vs. 5% (p < 0,02), in der PP-Population 41,2% vs. 5,9% (p < 0,04). Zuclopenthixol wurde in einer mittleren Dosierung von 11,4 mg/Tag eingesetzt. Hinsichtlich der Verträglichkeit ergaben sich keine Unterschiede zur Placebogruppe (Häßler et al. 2007; 2008). Zuclopenthixol kann 3-mal täglich bis zu einer Höchstdosis von 20 mg/Tag gegeben werden. Zusammenfassung
7
Zuclopentixol hat sich in mehreren placebokontrollierten Studien nicht nur als effektiv in der Behandlung von Aggressivität (speziell fremdaggressivem Verhalten), sondern auch als sehr nebenwirkungsarm erwiesen. z
Die empfohlene und zu empfehlende Dosis liegt zwischen 0,5 und 4 mg/Tag. Dosen über 50 mg alle 14 Tage haben keinen zusätzlichen Effekt, erhöhen nur das Risiko von Nebenwirkungen, insbesondere von EPMS (de Leon et al. 2009). Zusammenfassung Risperidon ist bei Erwachsenen nicht so gut untersucht wie bei Kindern und Jugendlichen. Die Ergebnisse zeigen im Erwachsenenbereich ein wesentlich inhomogeneres Bild. In der Praxis hat sich Risperidon in Tagesdosen bis 3 (max. 4) mg und bei einem tolerierbaren Nebenwirkungsspektrum als aggressionsreduzierend erwiesen.
Risperidon (Evidenzgrad Ib)
Aufgrund der positiven Ergebnisse in Studien mit verhaltensauffälligen intelligenzgeminderten Kindern fand Risperidon als atypisches Neuroleptikum am meisten Beachtung. Gagiano et al. (2005) verabreichten über 4 Wochen 39 Erwachsenen eine Tagesdosis von 1–4 mg Risperidon. In der Risperidongruppe zeigten 58,2% eine Verbesserung in der Aberrant Behaviour Checklist (ABC) gegenüber 31,3% in der Placebogruppe (n = 38). Über Nebenwirkungen berichteten 59% in der Verumgruppe und 66% in der Placebogruppe. EPMS, Müdigkeit, Verletzungen und Kopfschmerzen standen im Vordergrund der angegebenen Nebenwirkungen. Gewichtszunahme, metabolische Veränderungen und eine Erhöhung des Prolaktinspiegels müssen beachtet werden. In der von Tyrer et al. (2008) publizierten 3-armigen Studie (n = 86 nicht psychotische, aggressive intelligenzgeminderte Personen) ergab sich kein Vorteil von Risperidon gegenüber Haldol und Placebo. Singh et al. (2005) publizierten eine Literaturübersicht zur Effektivität von Risperidon bei intelligenzgeminderten Menschen, wobei nur 7 Studien placebokontrolliert und doppelblind waren, aber die Autoren psychiatrische Störungen nicht ausgeschlossen hatten.
z
Andere atypische Neuroleptika (Evidenzgrad IIb)
Zu Quetiapin, Olanzapin, Clozapin, Aripiprazol und Ziprasidon liegen keine aktuellen randomisierten placebokontrollierten doppelblinden Studien bei Erwachsenen vor, die außerhalb der Indikation psychiatrische Störungen wie Schizophrenien, Depression oder Manie durchgeführt worden wären. Es handelt sich um Fallstudien oder retrospektive Studien mit sehr kleinen Zahlen (n < 25; Deb u. Unwin 2007). Aus eigenen Erfahrungen heraus profitieren aggressive Patienten, die weder auf Risperidon noch auf Zuclopenthixol ausreichend respondiert haben, häufig von Quetiapin in Tagesdosen von 150–400 mg. Eine nach wie vor aktuelle Cochrane-Metaanalyse bezüglich des Einsatzes von Antipsychotika bei Verhaltensstörungen von Menschen mit geistiger Behinderung, die keine zusätzliche psychiatrische Störung hatten, konnte sich nur auf 9 randomisierte kontrollierte Studien stützen, die aber alle vor 1999 publiziert worden waren (Brylewski u. Duggan 2004).
133
7
7.8 • Pharmakologische Behandlung
Andere Psychopharmaka
z
z
Auch wenn es keine diesbezüglichen randomisierten placebokontrollierten Studien im Erwachsenenbereich gibt, scheinen sowohl Valproat als auch Topiramat einen positiven Effekt auf das Verhalten von Menschen mit geistiger Behinderung zu haben (Deb u. Unwin 2007).
Antidepressiva (Evidenzgrad IIa–IIb)
Die einzige randomisierte kontrollierte Studie (Crossover Design), in der Antidepressiva bei Verhaltensproblemen von Menschen mit geistiger Behinderung eingesetzt wurde, stammt aus dem Jahre 1995 (Lewis et al.). 6 von 10 eingeschlossenen Probanden profitierten von Clomipramin. In einer neueren retrospektiven Studie untersuchten Janowsky et al. (2005) an 14 geistig behinderten Erwachsenen den additiven Effekt von täglich 10–40 mg Paroxetin. Während sich das selbstverletzende Verhalten signifikant besserte, nahm die Fremdaggressivität nicht ab. Branford et al. (1998) schätzen den Effekt von SSRIs auf Problemverhalten von geistig behinderten Menschen als sehr gering ein. In 65% aller Behandlungen mit Paroxetin oder Fluoxetin ließen sich bei 33 Erwachsenen keinerlei positive Wirkungen nachweisen. z
Opiodantagonisten (Evidenzgrad IIa)
Eine alternative Behandlungsstrategie beruht auf der Opioidhypothese, die davon ausgeht, dass selbstverletzendes Verhalten (SVV) die endogene Opioidausschüttung triggert und damit zentrale Belohnungssysteme stimuliert. Gleichzeitig verhindert endogenes Opioid, dass der durch SVV ausgelöste Schmerz hemmend auf das Verhalten wirkt. Die Behandlungsalternative besteht somit in der Anwendung von Opioidantagonisten (Naltrexon und Naloxon). Die einzige randomisierte kontrollierte Studie, die den Effekt von Naltrexon im Vergleich zu Placebo an 33 Erwachsenen untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass Naltrexon in der Behandlung nicht wirksam ist (Willemsen-Swinkels et al. 1995). Zumindest kurzfristig kann Naltrexon aber SVV in bis zu 47% aller Fälle reduzieren. Zu dieser Einschätzung kommen Symons et al. (2004) anhand ihrer quantitativen Analyse von 27 Publikationen der Jahre 1983 bis 2003.
Mood Stabilizer
7.8.5
Kombinationen von Psychopharmaka (Evidenzgrad IIb–III)2
In der Durchsicht der entsprechenden Literatur fällt auf, dass es kaum Erfahrungsberichte, offene Untersuchungen und schon gar keine kontrollierten Studien zur Polypsychopharmazie gibt, obwohl ein Fünftel bis zwei Drittel aller Menschen mit geistiger Behinderung, die in Pflegeeinrichtungen leben, mehr als ein Psychopharmakon erhalten. Lott et al. (2004) untersuchten die Arzneimittelverschreibungen für 2344 Personen, die aufgrund von tiefgreifenden Entwicklungsstörungen mit und ohne Intelligenzminderung in gemeindenahen Institutionen untergebracht waren. 62% dieser Population hatten mehr als ein Psychopharmakon und 36% nahmen sogar drei und mehr Psychopharmaka ein. Die folgenden Kombinationstherapien stützen sich in erster Linie auf praktische Erfahrungen (»experience-based«) und weniger auf statistisch abgesicherte, methodisch anspruchsvolle Studien (»evidence-based«; . Tab. 7.11): 4 Konventionelles Antipsychotikum mit konventionellem Antipsychotikum, z. B. Haldol mit Levomepromazin 4 Atypisches Antipsychotikum mit konventionellem Antipsychotikum, z. B. Risperidon und Zuclopenthixol 4 Atypisches Neuroleptikum, z. B. Risperidon, mit Methylphenidat
2
Häßler et al. 2005.
Akutphase (Dominanz von Plussymptomen mit Erregung, Aggressivität): – Einstellung auf Haloperidol i.v. 5–15 (30) mg/Tag, – meistens in Kombination mit einem niedrigpotenten Neuroleptikum, z. B. Levomepromazin 50–150 (300) mg/ Tag – nicht länger als maximal 14 Tage – Kreislauf überwachen, EKG-Ableitung vor und nach Neuroleptikaeinstellung, Laborparameter, Prolactinspiegel und Blutzucker regelmäßig, zu Therapiebeginn wöchentlich, bestimmen, – bei EPMS zusätzlich ein Anticholinergikum (Biperiden), überlappende Umstellung auf ein atypisches Neuroleptikum ab dem 3. Tag zur Vermeidung von Spätdyskine sien Bei weniger Akuität: primäre Einstellung auf ein Atypikum oder konventionelles Neuroleptikum Kombination eines Neuroleptikums, z. B. Quetiapin bis 800 (1200) mg/Tag, mit einem Antiepileptikum als Phasenprohylaktikum (bei vorwiegend depressiver Gestimmtheit Lamotrigen 50–200 mg/Tag, bei vorwiegend manischer, submanischer Stimmung Valproat 150–600 mg/Tag) Risperidon 0,25–4 mg/Tag + Zuclopenthixol 6–20 mg/Tag Risperidon 0,25–4 mg/Tag + Methylphenidat bis max. 1 mg/kgKG
Schizoaffektive Störung
Auto- und fremdaggressives Verhalten
Impulsives Verhalten (aggressiv und hypermotorisch) bei einem IQ nicht unter 50
7
Schizophrenie
. Tab. 7.11 Zu empfehlende «experienced-/evidence-based« Polypharmazie
134 Kapitel 7 • Was ist zu tun? Interventionen
135
7
7.9 • Soziotherapeutische Interventionen
4 Atypisches Neuroleptikum mit Antidementiva 4 Neuroleptika mit Antidepressiva (SSRIs) 4 Neuroleptika mit Antiepileptika Bereits in einer Monotherapie können viele Nebenwirkungen auftreten, die sich aufgrund zu wenig beachteter und teils auch nicht bekannter und zu wenig untersuchter Interaktionen bei Polypharmazie zu einem kaum beherrschbaren Problem ausweiten. Mit immer mehr Medikamenten, die verordnet werden, steigen die möglichen Wechselwirkungen und unvorhersehbaren unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen an, wobei sich die Nutzen-Risiko-Relation zugunsten des Risikos verschieben kann. Auch nicht primär psychotrop wirkende Medikamente können durch Interaktionen auf pharmakokinetischer und pharmakodynamischer Ebene psychische Veränderungen bis hin zu Psychosen auslösen. Insbesondere Antibiotika in Kombination mit Lithium, Benzodiazepinen, Neuroleptika, Antidepressiva, Methadon und Disulfiram sind dafür bekannt. > Da Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht nur vulnerabler hinsichtlich des Auftretens psychischer Störungen, sondern auch belasteter mit somatischen Störungen und Erkrankungen sind, müssen die Vor- und Nachteile einer Polypharmazie sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Die Möglichkeiten einer Monotherapie sollten primär ausgeschöpft werden, ehe eine Kombinationstherapie in Erwägung gezogen wird. Ein therapeutisches Drug Monitoring (TDM) sollte bei einer Polypharmazie gewährleistet sein. Auch die epileptogene Potenz eines jeden Psychopharmakons muss berücksichtigt werden.
Polypharmazie gehört zum Alltag in der Behandlung von psychischen (somatischen) Störungen
bei Menschen mit geistiger Behinderung, auch wenn es für die meisten Kombinationen keine Evidenzbasierung gibt. Eine Beschränkung der Psychopharmaka auf so wenig wie nötig ist zu empfehlen. Kenntnisse potenzieller Interaktionen sind dabei notwendig.
7.9
Soziotherapeutische Interventionen
Ein wichtiger Aspekt im »Case Management« zur Betreuung intelligenzgeminderter Klienten ist die Erleichterung des Zugangs zum Versorgungssystem inklusive einer Ressourcenkoordination im medizinischen, schulischen und rehabilitativen Bereich. Erklärte Ziele sind die Verbesserung der Partizipation der Betroffenen und Wohnort- bzw. Gemeindenähe der Betreuung und Behandlung. Der Prämisse »Normalisierung« dienen vor allem: 4 familiennahe Früherkennungs- und Frühfördereinrichtungen, 4 institutionelle Tagesangebote, 4 integrative Kindertagesstätten, 4 Diagnoseförderklassen, 4 Förderschulen, 4 Schulen für geistig Behinderte, 4 Berufsbildungswerke, 4 Werkstätten für Behinderte, 4 Bildungskurse mit sexualpädagogischen Inhalten, 4 Wohntrainingsformen, 4 stärker betreute (therapeutische) Wohnformen und 4 erst an letzter Stelle: Heimeinrichtungen für geistig Behinderte. Sinnvoll ist unter Entwicklungsaspekten eine regelmäßige Überprüfung der Maßnahmen auf ihren Nutzen und ihre Angemessenheit sowie eine Vernetzung der unterschiedlichen Angebote und Einrichtungen. Eine vernachlässigte Rolle
136
7
Kapitel 7 • Was ist zu tun? Interventionen
bezüglich seiner Eigenständigkeit spielt derzeit noch die Freizeitpädagogik. Eine neue Diskussion hat die UN-Behindertenrechtskonvention auch bezüglich einer integrierten Beschulung behinderter oder von Behinderung bedrohter Kinder ausgelöst. Ausgehend von einer allgemeinen Prävalenz geistiger Behinderung von 3% (ca. 80.000 Sonderschüler) liegen die Förderquoten im Förderschwerpunkt Lernen in den meisten Bundesländern deutlich darüber, was durch die unbekannte Zahl an lernbehinderten Kindern (IQ zwischen 70 und 85) erklärt werden kann. Die jüngste Publikation der Bertelsmann Stiftung legt diese Zahlen offen (. Tab. 7.12) und fordert eine Abkehr von speziellen Förderschulen hin zur inklusiven Beschulung, wie sie in anderen Ländern Europas (Großbritannien und Spanien) bereits praktiziert wird. Dazu bedarf es aber deutlicher Veränderungen hinsichtlich pädagogischer Konzepte, struktureller Voraussetzungen, personeller und finanzieller Ausstattung der Schulen in Deutschland. Eine Inklusion ohne geänderte Rahmenbedingungen würde eher zur Diskriminierung von behinderten Kindern führen. Zu überprüfen ist die derzeit gängige Praxis, lernschwache normal intelligente Kinder auf eine Förderschule zu lenken, was dazu führt, dass geistig behinderte Kinder, die durchaus Kulturtechniken erlernen könnten und somit über ein Förderschulniveau verfügen, auf »Schulen für individuelle Lebensbewältigung« (Terminus für eine Schule für geistig Behinderte in Mecklenburg-Vorpommern) gehen müssen, da das Niveau auf den Förderschulen an das der normal intelligenten und leicht lernbehinderten Schüler angepasst wurde. Leidtragende dieser Praxis sind die Schwächsten der Schwachen, denen der Zugang zur Teilhabe, zur Berufs(teil)ausübung erschwert bzw. ganz verwehrt wird.
7.10
Behandlung unter besonderen Bedingungen
7.10.1
Komorbide Epilepsie3
Trotz neu entwickelter Antiepileptika (Levetiracetam und Topiramat) besitzen klassische AEDs (antiepileptic drugs) nach wie vor einen hohen Stellenwert in der Therapie der Epilepsie bzw. epileptischer Anfälle bei Menschen mit geistiger Behinderung. Je höhergradig die Intelligenzminderung ist, desto ungünstiger ist das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Levetiracetam. Unter Topiramat kommt es zu unerwarteten positiven Nebenwirkungen wie Gewichtsabnahme und Minderung aggressiver Ausbrüche. Bei beiden AEDs steht Müdigkeit im Vordergrund der Nebenwirkungen. Zu Lamotrigin, Pregabalin und Zonisamid liegen derzeit noch keine Daten bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung und Epilepsie vor. AED-spezifische psychotrope Nebenwirkungen 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
3
Valproinsäure 2,6 Carbamazepin 2,6 Oxcarbazepin 3 Lamotrigin 1,2 Topiramat 1,3 Gabapentin 3,5,6 Phenytoin 3 (Felbamat 6) Sultiam 6 (Phenobarbital 1,4,5,6) Primidon 1,4,6 (Vigabatrin 6) Tiagabin 2,6 Diazepam 1,4,6,7 Clobazam 1,4,5,6 Lorazepam 1,4,7
Nach Huber u. Seidel 2006.
5,8 6,1 5,0 6,7 8,3 7,7 5,7 4,8 10,9 4,5 5,7 4,4 5,4 7,8 9,0 5,2 9,2
Deutschland gesamt
Baden-Württemberg
Bayern
Berlin
Brandenburg
Bremen
Hamburg
Hessen
Meckenlenburg- Vorpommern
Niedersachsen
Nordrhein-Westfalen
Rheinland-Pfalz
Saarland
Sachsen
Sachsen-Anhalt
Schleswig-Holstein
Thüringen
Anteil von FörderschülerInnen insgesamt
3,9
3,2
5,2
4,2
2,8
2,7
2,6
2,6
5,7
2,3
2,6
3,0
4,3
2,8
1,4
2,9
2,7
Anteil von FörderschülerInnen mit Schwerpunkt Lernen
13,3
32,2
5,7
11,4
26,1
13,0
10,2
4,7
20,5
10,8
15,1
44,9
28,2
33,6
12,5
25,7
15,7
Anteil von FörderschülerInnen mit Förderbedarf in Förderschulen
. Tab. 7.12 Anteil der Förderschülerinnen und Förderschüler in den einzelnen Bundesländern und im Förderschwerpunkt Lernen in den Jahren 2006/07 sowie mit Förderbedarf in Förderschulen in Prozent (Quelle: Bertelsmann Stiftung 2009)
7.10 • Behandlung unter besonderen Bedingungen
137
7
138
Kapitel 7 • Was ist zu tun? Interventionen
. Tab. 7.13 Medikamentöse Optionen bei Spastik
5 Nitrazepam 1,4,6
mit vermutetem Einfluss auf den Muskeltonus, mit wahrscheinlich ausgleichendem Einfluss auf Stimmung und Verhalten, schmerzlindernd ohne starke Sedierung, stärker sedierende Komponente, aggressivitätssteigernd, kognitive Störungen, angstlösend, in Klammern entbehrlich bzw. erloschene Zulassung
7
7.10.2
Primäre Wahl
Baclofen (z. B. Lioresal®) bis 2 mg/ kgKG Tizanidin (Sirdalud®), einschleichen, altersabhängig, max. 20 mg/ Tag Botulinumtoxin lokal, 12 Plus = 12 U/ kgKG, bei Bedarf mehr
Sekundäre Wahl
Gabapentin (z. B. Neurontin®), max. 900–1200 mg/Tag Clonazepam (Rivotril®), altersabhängig, einschleichen, max. 3–4 mg Tetrazepam (Musaril®), max. 200 mg/Tag Memantine (Akatinol®), max. 40 mg/Tag
Infantile Zerebralparese
Viele Kinder mit einer geistigen Behinderung haben diese im Rahmen einer infantilen, oft spastischen Zerebralparese (ICP). Für die Behandlung der spastischen ICP werden nach GCP (good clinical practice) zentral wirksame Medikamente wie Baclofen, Tizanidin, Gabapentin, Clonazepam, Tetrazepam und Memantine eingesetzt(. Tab. 7.13). Diese haben ein definiertes Nebenwirkungsprofil, das im Rahmen psychiatrischer Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung und ICP gezielt genutzt werden kann (s. entsprechende Fachinformationen, z. B. sedierende Wirkung des Baclofen). Das heute in der Therapie der Spastik und der Hypersalivation zu den Mitteln der ersten Wahl zählende Botulinumtoxin hat keine zentralnervösen Nebenwirkungen. Nicht alle eingesetzten Pharmaka haben indikations- oder altersbezogene Zulassungen, das gilt auch für die einzelnen Botulinumtoxinpräparate (Näheres siehe Fachinformationen; Heinen et al. 2006). Ziele der Pharmakotherapie sind: 4 Spasmen und Kloni reduzieren, 4 Erleichterung von Pflege- und Hygienemaßnahmen, 4 funktionelle Verbesserung (daily activity).
Gelegentlich ist bei spastischer ICP im Kindesund Jugendalter eine intrathekale Baclofenapplikation mittels einer Pumpe erforderlich.
7.10.3
Sexuelle Triebenthemmung4
Hypersexualität/sexuelle Triebenthemmung spielt eine wichtige Rolle im Rahmen der Impulskontrollstörung bei Menschen mit geistiger Behinderung. Als sexualtriebreduzierende Pharmaka stehen sowohl Antiandrogene wie Cyproteronacetat (CPA), Medroxyprogesteronacetat (MPA) und LHRH-Analoga sowie Psychopharmaka, insbesondere Antidepressiva, Lithium und Buspiron zur Verfügung. Der Einsatz von Antiandrogenen bedarf im Jugendalter einer besonderen Sorgfalt bei der Indikationsstellung und einer sehr engmaschigen ärztlichen Kontrolle, da das Nebenwirkungsspektrum umfangreich und die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Nebenwirkungen sehr hoch ist. Voraussetzung für eine Antiandrogenbehandlung ist die schriftlich dokumentierte freiwillige Zustimmung des Betroffenen bzw. des gesetzlichen Vertreters. 4
Hebebrand et al. 2002.
139
7
7.11 • Jugendhilfe- und Rehabilitationsmaßnahmen
7.11
Jugendhilfe - und Rehabilitationsmaßnahmen
Einen besonderen Stellenwert haben beratende, das Betreuungsumfeld stützende, beziehungsstiftende und -erhaltende sowie pädagogisch-rehabilitative Maßnahmen. Dies schließt gemäß der Sozialpsychiatrievereinbarung für Deutschland ein: 4 den ambulanten Einsatz von Psychologen und Sozialpädagogen, 4 familienentlastende Dienste, 4 schulische und berufsbildende Beratung, 4 Hilfen für Wohnung und Unterbringung sowie 4 Beratung in sozialrechtlichen Fragen. Die Zuordnung zum Kreis der Personen mit geistiger Behinderung gemäß SGB IX ist ab leichter Intelligenzminderung möglich. Bei drohender oder vorhandener seelischer Behinderung kommen sogar Hilfemaßnahmen nach § 35a KJHG (SGB VIII) infrage. Nicht selten lassen sich über Mischfinanzierungen notwendige Maßnahmen realisieren. Die Arbeitsförderung ist im SGB III geregelt. Nach dem dort festgeschriebenen Grundsatz werden …
»
… die erforderlichen Leistungen erbracht, um die Erwerbsfähigkeit behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben möglichst auf Dauer zu sichern.
«
Um geistig behinderten Menschen nicht nur eine Teilnahme am Arbeitsleben in einer Werkstatt für behinderte Menschen zu ermöglichen, werden gesetzlich zusätzliche Integrationshilfen und Arbeitsassistenz garantiert, die eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gewährleisten. Vorbereitungen dahin und darauf erfolgen in der Regel über Berufsbildungswerke.
Ausführliche Betrachtungen zu den rechtlichen Grundlagen und Bestimmungen bezüglich Rehabilitation und Pflege finden sich in dem Aufsatz von Wendt (2003).
141
Der Blick voraus: Verlauf und Prognose 8.1
Entscheidende Faktoren – 142
8.2
Kasuistik – 143
8.2.1
Fallbeispiele – 143
8
8
142
Kapitel 8 • Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
8.1
Entscheidende Faktoren
Um Redundanz zu vermeiden, soll in diesem Abschnitt weitestgehend auf evidenzbasierte Aussagen bzw. Literatur bzgl. prognostisch günstiger versus ungünstiger Faktoren für den individuellen Verlauf bei Intelligenzminderung verzichtet werden. Generell sei hier darauf hingewiesen, dass der weitere Verlauf und die Prognose von einer frühzeitigen Diagnosestellung und den dann folgenden Interventionen und deren Effizienz abhängen. In den Niederlanden waren 1,93 Kontakte bis zur endgültigen Diagnosestellung notwendig (van Karnebeek et al. 2005). Essenziell für die Diagnose waren die Anamnese (45%), die körperliche Untersuchung (62%), zytogenetische Untersuchungen (20%), molekulare Analysen (7%), metabolische Parameter (5%), Bildgebung (7%) und alle anderen diagnostischen Schritte und Methoden in 23% aller Fälle. Auf den weiteren Verlauf wie auf die Ätiologie (7 Abschn. 3.2, Übersicht »Multikausalität psychosozialer Störungen«) haben viele Faktoren einen Einfluss. Sowohl kindseitige und elternseitige als auch ganz allgemein die Umweltfaktoren müssen dabei individuell und vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass sie interagieren und entwicklungsabhängig mehr oder minder starke Auswirkungen haben. Menschen mit einer geistigen Behinderung sind nicht nur anfälliger für somatische und psychische Störungen – eventuell mitbedingt durch stressinduzierende Lebensereignisse oder gar Traumatisierungen –, sie weisen generell auch ein höheres Risiko für einen frühen demenziellen Abbau und ein höheres Mortalitätsrisiko auf. 41% aller Todesursachen hängen bei ihnen direkt mit der Intelligenzminderung zusammen (Tyrer u. McGrother 2009). In einer Untersuchung von 177 Personen mit einer leichten bis mittleren Intelligenzminderung, die auch die Betreuer mit heranzog, fanden Martorell et al. 2009, dass 75% der intelligenzgeminderten Per-
sonen mindestens ein traumatisches Ereignis in ihrem Leben und 50% eines in den letzten 12 Monaten vor der Studie durchgemacht hatten. Solche Ereignisse (Tod naher Angehöriger, Opfererfahrungen, eigene lebensbedrohliche Erkrankungen oder Verletzungen) hängen eng mit der Ausprägung psychischer Störungen zusammen. Trennungserlebnisse können bei entsprechenden symbiotischen Beziehungen oder schlechter bzw. mangelhafter Ablösung ebenfalls zu reaktiven Störungen führen. Im Verlauf taucht irgendwann für nahezu jede betroffene Familie die Frage auf, ob die Betreuung zum Wohle des geistig behinderten Kindes noch innerhalb der Familie zu leisten ist oder ob es nicht im Interesse aller besser wäre, eine Fremdunterbringung anzustreben. Diese Frage kann nicht pauschal mit Ja oder Nein beantwortet werden. Eine Entscheidungshilfe gibt eventuell das in Teilen autobiografische Buch von Marianne Glaßer, »Keine heile Welt – Leben mit einem behinderten Kind« (Mabuse Verlag, 2009). Darin beschreibt die Autorin und Mutter 13 Jahre Chaos mit ihrem Sohn Mathias, der autistische Züge aufweist, geistig behindert ist und unter epileptischen Anfällen leidet. Am Rande der Selbstaufgabe schafft sie es, ihren Sohn im Alter von 9 Jahren in ein Heim zu geben. Dieser nicht leichte Schritt ermöglicht eine Distanz, die Kraft gibt für das aufreibende (aber nicht mehr tägliche) Miteinander, teilt die Verantwortung und die Aufgaben in der Erziehung und eröffnet damit auch die Chance auf andere Perspektiven, lässt Raum zur Individuation aller und erleichtert durch die vorweggenommene Ablösung diesen oft langwierigen und schmerzhaften Prozess der Trennung. Wenn die Ablösung misslingt und das Leben einzig und allein auf das behinderte Kind ausgerichtet wird, so verkümmert nicht selten die eigene Persönlichkeit, die eigene Entfaltung kommt zu kurz. Viele Eltern zerbrechen irgendwann an ihrem Schicksal oder hadern mit diesem. Das kann so weit gehen, dass das eigene Kind misshandelt wird.
143
8
8.2 • Kasuistik
Beispiel Ein Beispiel dafür liefert ein 35 Jahre alter, geistig behinderter Mann mit einem M. Down, der sich in der Heimeinrichtung wohler fühlt als bei der alleinstehenden Mutter, die ihn erst vor Kurzem aus Altersgründen »weggab«. Fortan führte sie bei ihrem erwachsenen Sohn ohne Rücksicht auf dessen Schamgefühl ausführliche körperliche Inspektionen durch und nahm ihn dann – häufig an Sonnabenden – in unterschiedlichste Notaufnahmen mit, vorrangig in die Urologie und die Dermatologie. So kam es, dass sich ihr Sohn zunehmend gegen die Wochenendbeurlaubungen wehrte, während die Mutter den Heimbetreuern manipulatives Vorgehen unterstellte. Erst ein gerichtlicher Entzug der Betreuung in den Bereichen Gesundheit und Aufenthalt bei Verdacht auf Münchhausen-by-proxy-Syndrom klärte die Situation. Seitdem gibt es keinerlei gesundheitliche Probleme mehr bei dem Mann, der in der Heimeinrichtung für alle ersichtlich aufblühte. Die Mutter darf ihn in Begleitung am Wochenende besuchen.
Kasuistik
8.2
Letztendlich bedürfen geistig behinderte Menschen unserer aller Solidarität, da sie sich kaum selbsbestimmt behaupten können. Davon zeugen auch die folgenden Beispiele, drei unterschiedliche authentische Kasuistiken. Sie demonstrieren auch, wie unterschiedlich die Lebensläufe von Menschen mit geistiger Behinderung sein können.
8.2.1
z
Fallbeispiele
Wolfgang
Wolfgang, geboren 1957 in Rostock, wuchs nach leicht komplizierter Schwangerschaft (Blutung im letzten Trimenon) in einer vollständigen Fa-
milie auf. Beide Eltern sprachen übermäßig dem Alkohol zu, wobei der Kindesvater, von Beruf Lagerarbeiter, äußerst gewalttätig war und seinem Jungen in den ersten Lebensjahren mehrere medizinisch zu versorgende Verletzungen beibrachte. Darunter waren Kopfplatzwunden und Armfrakturen. Die Mutter selbst war nicht in der Lage, ihren Sohn vor diesen Übergriffen zu schützen. Wolfgang wurde in der Häuslichkeit betreut, bis 1965 eine Herausnahme erfolgte. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt längst hätte eingeschult sein müssen, hatte Wolfgang nur die Vorschule besucht. Von der frühkindlichen Entwicklung ist außer einer starken Verzögerung im Sprach- und Sauberkeitsbereich nichts bekannt. Wolfgang selbst erinnert nach über 50 Jahren, dass er mehrfach als kleines Kind wegen Husten und Atemnot, Durchfällen und Gelbsucht stationär im Krankenhaus behandelt worden sei. Aufzeichnungen darüber existieren nicht. Im November 1965 kam er in ein Kinderheim im damaligen Bezirk Neubrandenburg. Er selbst hat schreckliche Erinnerungen daran, weil es dort sehr laut war, er von anderen Kindern drangsaliert wurde und mit seinen Ängsten und Nöten keine Beachtung bei den Betreuern fand. Bereits ein Jahr später, d. h. im Oktober 1966, wurde er in die Evangelische Pflege- und Fördereinrichtung in Rostock aufgenommen. Vom November, einen Monat nach der Aufnahme datiert die erste Eintragung in der Heimakte.
»
Er freute sich sehr in Rostock zu sein, da seine Eltern hier wohnen und er nun öfter Besuch bekommt. Er ist für sein Alter sehr groß und stabil. 1959 sei festgestellt worden, dass es sich bei Wolfgang um einen Zustand nach zerebraler Kinderlähmung handelt. Die meisten Lähmungen hat er im Gesicht, er zuckt dauernd mit dem Mund und zieht die Augenbrauen hoch. Auch seine Hände hat er nicht immer in der Gewalt. Wolfgang ist weiter als die anderen Kinder und dies nutzt er sehr oft aus. Er stiftet gerne
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Kapitel 8 • Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
andere Kinder zu Dummheiten an und kommt dann petzen. Trotzdem er nachts mit dem Riemen am Arm festgemacht wird und dann eine Lepinal, eine Propaphenin und eine Prothazin bekommt, können wir ihn kaum bändigen. … Er hat die anderen Kinder so in der Gewalt, dass diese alles tun, was er verlangt. Wolfgang kann aber auch sehr lieb und gut sein, gerne beschäftigt er sich mit den kleinen Kindern und man kann sich nur wundern, wie vernünftig er mit ihnen umgeht. Er mag auch gerne helfen und kann dies auch sehr gut. So trocknet er ab, zieht andere Kinder an und aus, deckt den Tisch und mag die Jüngeren füttern. … In manchen Momenten, wo man ihn beobachtet, meint man, ein normales Kind vor sich zu haben. Wolfgang bekommt regelmäßig von den Eltern Besuch und wird auch nach Hause geholt. Für Kleidung sorgen die Eltern teilweise.
«
1967 findet sich eine Eintragung, dass er nächtens nicht mehr fixiert wird. An dieser Stelle ist zu entnehmen, dass die Heimakte pro Jahr an sich nur einen Eintrag von einigen Sätzen enthält. So findet sich im August 1970 folgende Bemerkung:
» Wolfgang ist sehr schwer zu lenken und zu erziehen. Seinen Willen meint er immer durchsetzen zu können. Für ihn wäre es bestimmt sehr zum Nutzen, könnte er eine Sonderschule besuchen. Gegenüber Personen, die er nicht respektiert, ist er sehr ungezogen, wird schlimmstenfalls sogar tätlich …
«
1971 wird vermerkt, dass der 14-Jährige vom Wochenendbesuch zu Hause mit einer klaffenden Wunde der Lippe zurückgebracht wurde, die die Eltern auf Nachfrage nicht erklären konnten. Ab 1971 wurde Wolfgang auch in der der Einrichtung angegliederten Gärtnerei beschäftigt. Im April 1973 wurde er konfirmiert. Ab 1975 finden sich Hinweise darauf, dass seine Eltern ihn
kaum noch besuchen und ihn auch nicht mehr nach Hause holen. Dafür kommt ab und zu seine 10 Jahre alte Schwester. Mittlerweile 26 Jahre alt, geht er selbstständig einkaufen, zum Friseur und bringt die Post weg. Des Lesens und Schreibens ist er nicht kundig. 1976 lassen sich seine Eltern scheiden. Kurze Zeit später verstirbt sein Vater. Wenn man Wolfgang befragt, so zeichnet er ein differenziertes Bild von seinen Eltern, wobei immer wieder die erlebten Gewaltszenen, der permanente Geldmangel und die Alkoholisierung im Vordergrund stehen. Mittlerweile lebt seine Mutter bei seiner Schwester in Hamburg. In der Pflege- und Heimeinrichtung hat er mehrere Gruppen- und Betreuerwechsel hinter sich. Eingestellt auf unterschiedlichste Neuroleptika, früher Haloperidol und Bromperidol, später Risperdal und Ciatyl-Z, nimmt er aktuell 2-mal 300 mg Seroquel pro long. Hintergrund der jahrelangen antipsychotischen Einstellung sind sehr affektiv vorgetragene optische Halluzinationen, so das Schweißen auf der nahegelegenen Werft, die aber schon seit über 15 Jahren nicht mehr existiert, sowie das paranoide Erleben, permanent benachteiligt zu sein. So beschwert er sich nahezu wöchentlich darüber, und das schon über 20 Jahre lang, dass man ihm nicht genug zu essen und zu trinken gebe, der Tee mal zu kalt und mal zu heiß sei, die Stullen mal zu klein und mal ohne Butter sind, die Wurst nicht mehr frisch genug ist, seine Zigarettenzuteilung ungerecht und seine Mitbewohner immer störend seien. Keine medikamentöse Einstellung hat an dieser Beschwerdelitanei jemals etwas geändert. Einzig und allein sein fremdaggressives Verhalten, teils schlägt er sich auch selbst gegen den Kopf und schreit nachts laut, wurden und werden dadurch minimiert. Über fast 10 Jahre hatte Wolfgang in der Einrichtung einen Freund, der zwar etwas schwer hörte, ihm aber wie ein Schatten folgte, wobei sie ausführliche Spaziergänge absolvierten. Nach zwei Hüftoperationen des Freundes ging die Beziehung völlig in die Brüche, beide begegnen sich
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8.2 • Kasuistik
heutzutage auf dem Gelände, ohne sich einander eines Blickes zu würdigen. Jegliche Veränderung quittiert Wolfgang mit massivem Widerstand. So auch die über Monate gehenden therapeutischen Versuche, seine soziale Kompetenz zu stärken. Da er im Zahlenraum bis 20 äußerst fit ist, sollte er in einem weiter entfernten Supermarkt lernen, Dinge des täglichen Bedarfes selbstständig zu kaufen. Darauf reagierte er mit Ängsten und Abwehr, zog sich wieder auf die altbekannte Position zurück, sich von anderen rundum versorgen zu lassen. Seine einzige Freude besteht in Volksmusiksendungen im Fernsehen. Ein 2003 durchgeführter Intelligenztest (CPM) erbrachte einen IQ von knapp unter 50. Allgemeinkörperlich und neurologisch bietet er bis auf eine Coxarthrose keine Auffälligkeiten, wenn man vom Speicheln absieht. Periodisch durchgeführte Teambesprechungen laufen stets darauf hinaus, ihn wohl nicht mehr ändern zu können und ihn mit seinen jahrzehntelang eingeschliffenen Eigenarten mehr oder weniger anzunehmen. z
Paul
Paul wurde 1956 in einer Kleinstadt im Erzgebirge geboren. Die Geburt erfolgte mittels Zange, die frühkindliche Entwicklung verlief verzögert. Den Eltern gehörte eine kleine Landwirtschaft, wobei sie auf dem eigenen Hof Haustiere wie Kaninchen, Ziegen und Schweine hielten. Mit zwei Jahren traten bei Paul Fieberkrämpfe auf, mit vier Jahren erstmalig generalisierte tonischklonische Krampfanfälle, die in mehreren Krankenhäusern der Umgebung diagnostiziert und behandelt wurden. Nach heutigen Maßstäben hätte er sicherlich die Diagnose Lennox-Gastaut-Syndrom bekommen. Die psychomotorische Entwicklung verlief deutlich verzögert, eine Einschulung erfolgte nicht. Von Natur aus kränklich, körperlich leptosom, wurde er dennoch in die Gemeinschaft der Gleichaltrigen der nahen Wohnumgebung aufgenommen. Wenn er mal ein paar Tage beim Spielen fehlte, so wussten alle, dass er wieder
einmal wegen seiner Anfälle im Krankenhaus war. Als Jugendlicher half er auf dem elterlichen Hof, und da seine Lieblingsbeschäftigung das Abhalten anderer Leute von der Arbeit war, so bevorzugte er ausgeprägte Gespräche in den Geschäften des kleinen Städtchens, er prägte das Stadtbild geradezu mit. Später bekam er die Anerkennung als Schwerbeschädigter. Mittlerweile 55 Jahre alt, nunmehr bei seinem Bruder, der Agrarwissenschaften studiert hat, und dessen Familie lebend, hat sich bis dato an seinen geschilderten typischen Verhaltensweisen nichts geändert. Er ist stets freundlich, zugewandt, überaus redselig, manchmal haftend, machnmal aber auch gedrängt wirkend, sagt gerade heraus, was er denkt, schnappt von überall etwas auf, was er dem Nächsten zum Besten gibt. Paul kann weder lesen noch schreiben. Wenn ihn etwas besonders interessiert, dann fragt er schon mal einen Passanten, was denn da und dort auf einer Werbetafel, Fahne etc. stehe. Die Anfallsfrequenz ist deutlich niedriger geworden, und so reduzierten sich auch die stationären Aufenthalte auf zwei- bis dreimal pro Jahr. Keiner hätte vor 30 Jahren gedacht, dass Paul so alt werden wird. z
Jost
Jost wurde 1999 als zweites Kind seiner Eltern geboren. Die Schwangerschaft verlief unauffällig. Die Mutter hat ein Agrarökologiestudium abgeschlossen, der Vater arbeitet als Arzt. Bei keinem der Elternteile bestanden anamnestisch Risikofaktoren, die erstgeborene Tochter entwickelte sich völlig komplikationslos. Jost war ein Wunschkind. Im Vergleich zum ersten Kind stellten die Eltern weniger Kindsbewegungen während der Schwangerschaft fest, machten sich jedoch keine Sorgen. Die Geburt verlief unkompliziert. Leicht auffällig war ein leichter Hypotonus des linken Beins, sonst gab es keinen Hinweis auf eine Schädigung. Schlaf- und Trinkverhalten waren komplikationslos. Ab ca. dem 6. Monat fiel den Eltern eine leichte Verzögerung in der
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Kapitel 8 • Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
motorischen Entwicklung auf, so ließen Sitzen und Krabbeln auf sich warten. Im Alter von ca. 10 Monaten wurde Jost einer Physiotherapeutin vorgestellt. Die Eltern wurden beruhigt, »er benötige wohl noch einen kleinen Anstoß«. Aber mit der weiteren Entwicklung wurde Josts motorischer Rückstand immer deutlicher. Mit einem Jahr konnte Jost immer noch nicht sitzen, Jost zeigte keine Stützbewegungen und kein Gleichgewichtsgefühl. Die Hand-Mund-Koordination war mangelhaft, gezielte Greifbewegungen und Händeklatschen fehlten, die Laut- bzw. dann Sprachproduktion war nicht altersgerecht. Dennoch reagierte Jost freundlich und zugewandt auf seine Eltern sowie auf seine Schwester. Der Verdacht auf einen ernsthaften Entwicklungsrückstand wurde immer drängender. Im Alter von 12 Monaten kam Jost halbtags in die Kinderkrippe. Die Eingewöhnung verlief unkompliziert. In der Gruppe fühlte Jost sich zusammen mit den anderen Kindern wohl und nahm fröhlich an allen Aktivitäten teil. Aber während die anderen Kinder schon liefen, anfingen zu sprechen und eigenständig zu essen, konnte Jost nur am Boden robben, musste gefüttert und gehalten werden. Spielzeug wie Bausteine, Steckspiele, Bälle konnte Jost nicht adäquat benutzen. Nach Vorstellung in der kinderneurologischen Ambulanz und nach Durchführung eines MRTs wurde eine rudimentäre Kleinhirnanlage festgestellt. Die offensichtliche Fehlbildung konnten die Eltern sich nicht erklären. Neben der Physiotherapie wurden nun auch ergotherapeutische und logopädische Behandlungen eingeführt. Jost genoss die intensive Zuwendung durch die jeweiligen Therapeutinnen, zeigte sich immer sehr erfreut daüber, lachte viel und verfolgte sein Umfeld sehr wach. In das Familienleben war Jost fest integriert, seine Schwester war froh, einen Bruder zu haben, die Eltern freuten sich über sein freundliches Wesen. Die Aktivitäten der Familie waren durch Jost nicht eingeschränkt. Mittels Babytrage kam er auf dem Rü-
cken seines Vaters oder seiner Mutter überallhin mit, konnte im Kinderfahrradsitz mitgenommen werden, und sogar Paddeltouren waren möglich. Nachdem der integrative Kindergarten, dem es an entsprechender räumlicher und personeller Ausstattung fehlte, den Eltern nahegelegt hatte, Jost in einer spezialisierten Einrichtung betreuen zu lassen, wechselte er in die Kindertagestätte des Behindertenvereins. Dort waren die Erzieher zunächst offensichtlich überfordert, zeigten aber auch unprofessionelles und desinteressiertes Verhalten. So wurde Jost, wenn seine Eltern ihn etwas später brachten als die anderen, z.B. nicht begrüßt, sondern einfach in den Raum gelegt. Wenn er weinte, wurde er in eine fensterlose, verschlossene Kammer geschoben. Jost reagierte mit Abwehr in Form von Schreien und Weinen gegen die dortige Betreuung. Erst nach mehreren Interventionen und Beschwerden der Eltern änderten sich die Verhältnisse zum Besseren. Jost lebte auf und zeigte auch in der Einrichtung sein freundliches Gemüt. Große Entwicklungsschritte waren bis dahin nicht erfolgt. Jost musste weiterhin gefüttert und gewickelt werden, Sitzen, gezielte Greifbewegungen, Pinzettengriff waren ihm nicht möglich. Hinsichtlich der Sprachentwicklung war Jost um Äußerungen bemüht, aber selbst eine Lautverdopplung gelang nur selten. Lediglich »Mama« gelang ihm konstant. Sein Sprachverständnis zeigte sich hingegen relativ gut entwickelt, z. B. schaute er bei Nennung des Namens auch die entsprechende Person an. Mit 7 Jahren wurde Jost in eine Schule für individuelle Lebensbewältigung eingeschult, wo er zurzeit die vierte Klasse besucht. Der Kontakt zu den anderen Kindern gelang schnell. Die Lehrer verstehen meistens, Jost in die Aktivitäten der Klasse einzubinden, er übernimmt gerne Rollen im Morgenkreis, darf dort oft den Gong schlagen und tut dies mit Begeisterung. Im Hauswirtschaftunterricht durfte er z. B. mit Hilfe Quarkspeise anrühren, was aufgrund seiner Ataxie und ausfahrenden impulsiven Bewegungen nicht
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8.2 • Kasuistik
einfach ist. Während eines Kreativprojekts mit Farbe wurde Jost in Mülltüten gehüllt und durfte dann mit einer Gießkanne rote Farbe auf einen großen Bogen Papier verteilen, was ihm viel Vergnügen bereitete. Zwischen Eltern und Schule erfolgt die Kommunikation über ein Pendelheft. Dieses, Jost täglich zu Hause vorgelesen, provoziert bei ihm immer wieder nachhaltig freudige Reaktionen. Nach Meinung der Eltern trägt Jost entscheidend zur guten Stimmung in der Familie bei. Die Beziehung zu seiner Schwester ist herzlich und eng. Die Geschwister teilen sich zum Schlafen seit jeher ein breites Futonbett, manchmal drängt Jost seine Schwester aus dem Bett, versucht sie morgens zu wecken oder schmatzt sie ab. Manchmal feuert Jost sie durch seine Mimik zu Späßen an. Scherze und Albernheiten scheinen Jost anzustecken. Dann kreischt Jost vor Begeisterung, kichert und schleudert Arme und Beine von sich. Ähnlich erfreut ist er z. B. beim Baden, beim Toben, beim schnellen Fahren im Lastdreirad. Bei erfolgreichem Toilettentraining bekommt er von seiner Schwester immer einen selbst gebastelten »Piescher-Orden« verliehen. Mitmenschen gegenüber ist Jost aufgeschlossen und versucht auch mit Fremden z. B. im Bus per Mimik Kontakt aufzunehmen, ist dann arg enttäuscht, wenn sie sein Lachen nicht erwidern, freut sich umso mehr bei Beachtung. Allein die Erwähnung bestimmter Personen (Großeltern, Freunde, Onkel, Tanten) lässt seine Augen leuchten. Großartig findet Jost Feiern, je mehr Personen anwesend sind, desto besser. Dann wendet er sich von einem zum anderen, lacht und gestikuliert. In der Straße wird er von allen Nachbarn begrüßt, und diese machen ihre Späße mit ihm. Sein besonderes Interesse finden kleinere Kinder. Auch hier versucht Jost schnell Blickkontakt herzustellen, ist aber in seinen Bewegungen viel behutsamer. Als ihm sein knapp zweijähriger Cousin auf den Schoß gesetzt wurde, hielt er diesen ganz verantwortungsvoll und sanft fest.
Zu Hause liegt er oft auf dem Teppich in seinem Zimmer und beschäftigt sich ausdauernd mit seinem Spielzeug, welches er durch das ganze Zimmer schiebt, es aber immer besser greifen kann. Gelegentlich schafft er es auch, für wenige Momente in den Stützsitz zu gelangen. Oft versucht er seine Eltern durch Rufe und Kichern, durch das Stoßen gegen einen Ball oder das Ingangsetzen von Spielzeugauto-Geräuschen zum Mitspielen zu bewegen. Besondere Freude hat Jost an Musik: Er beschäftigt sich nicht nur ausgiebig mit seinen Rasseln, Schellen und Klappern, sondern er hört auch gerne beim Gitarrespiel seiner Mutter und Schwester zu. Er robbt dann nah heran, versucht in die Gitarre zu greifen oder beginnt auf seinen Instrumenten rhythmische Geräusche zu erzeugen. Gerne »improvisiert« Jost in seinem RehaStuhl sitzend am Klavier. In Jazz- und Klassikkonzerten, zu denen die Eltern Jost schon immer mitnahmen, ist er ein ausdauernder Zuhörer. Bei energiegeladenen Jazz-Konzerten kreischt er teilweise vor Vergnügen und kann dann kaum gehalten werden. Meistens sind die anderen Konzertbesucher angesichts seiner schleudernden Bewegungen sehr tolerant. Mit Freude registriert die Familie seine selten replizierbaren Sprachäußerungen: »hophop« (Pferd), »Mama«, »Pabe« (Papa), »ia« (Esel), Wafwaf (Hund), nee, hej … Bei Wiederholungen seiner Laute ist Josts freudige Reaktion garantiert. Bei emotionaler Erregung hat Jost einen hohen Mitteilungsdrang. Seine Äußerungen können sich zu einem sehr rhythmischen und bestimmten Singsang steigern. Nachdem die Behinderung von Jost offensichtlich wurde, hatte sich die Mutter entschlossen, ein Pferd zu kaufen und eine Ausbildung zur Reittherapeutin zu machen. Von Anfang an zeigte sich bei Jost keine Scheu vor Pferden. Er genießt die Nähe des Tiers und freut sich, wenn das Pferd seinen Kopf zu ihm herunterneigt und sich überhaupt nicht durch Josts hyperkinetischataktische Bewegungen stören lässt. Zusammen
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Kapitel 8 • Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
mit seiner Schwester oder seiner Mutter kann er gehalten auf dem Pferd sitzen. Anfangs handelte es sich nur um einige Minuten, doch mit den Jahren dehnte sich das »Reitpensum« von Jost immer mehr aus. Schon mit 5 Jahren konnten mit ihm drei bis vierstündige Geländeritte unternommen werden. Mit den Jahren entwickelte er beim Reiten eine immer bessere Stabilität. Phasenweise hält Jost sich selbst am Gurt fest und richtet sich voller Stolz und Körperspannung auf. In einem aktuell erstellten sonderpädagogischen Gutachten werden alle erwähnten Entwicklungsdefizite aufgeführt, es weist aber ausdrücklich auf die gute emotionale Erreichbarkeit, das Sprachverständnis und die wache Teilnahme des Jungen an seiner Umwelt hin. Die Schule für individuelle Lebensbewältigung mit integrierten Therapiemöglichkeiten wird als optimale Schulform konstatiert. Hinsichtlich eines perspektivisch erweiterten Betreuungsbedarfes hegen die Eltern keine Illusion. Als integralen Bestandteil ihrer Familie wollen sie Jost aber noch für die nächsten Jahre zu Hause betreuen. Zusammenfassung So unterschiedlich die geschilderten Verläufe auch sind, letztendlich demonstrieren sie bei relativer, auch zeitstabiler Konstanz der Behinderung die Variationsbreite der Inidvidualität mit überraschenden positiven Entwicklungen und erstaunlichen subjektiven Fähigkeiten, die erst durch ein wohlwollendes, empathisches psychosoziales Milieu in Erscheinung treten (können). Vorschnelle negative Prognosen sollten nur mit allergrößter Zurückhaltung abgegeben werden. Menschen mit geistiger Behinderung bedürfen unserer aller Solidarität, unseres Verständnisses und unserer Assistenz Sie gehören zu uns, in unsere Gesellschaft und dieses Empfinden der Zugehörigkeit muss auf beiden Seiten verstärkt werden.
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Was wir nicht wissen: offene Fragen
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Kapitel 9 • Was wir nicht wissen: offene Fragen
In diesem Kapitel sollen nur die Fragen aufgeworfen bzw. nur die Bereiche angesprochen werden, auf die es in der Tat derzeit keine hinreichenden Antworten gibt oder deren Komplexität noch ungelöste Probleme birgt. z Strukturelle Faktoren kÄnderungen durch die UN-Behindertenrechtskonvention
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Welche Auswirkungen die im März 2009 auch in Deutschland in Kraft getretene UN-Behinderterechtskonvention haben wird, ist derzeit völlig unklar. In der Legislaturperiode ab 2011 steht die Konkretisierung des Inklusionsanspruchs an. Der Ansatz, dass geistige Behinderung zur Bandbreite des Normalen gehört und der Selbstbestimmung zukünftig höchste Priorität einzuräumen ist, ignoriert insbesondere bezüglich der gesundheitlichen Herausforderungen die Realität und könnte zu einer medizinischen Mangelversorgung der sowohl somatisch als auch psychisch sehr vulnerablen Betroffenen führen. Und das, obwohl Menschen mit Behinderungen eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite und von derselben Qualität zur Verfügung zu stellen ist wie anderen, nicht behinderten Menschen. kAusgleich der Versorgungsdefizite
Da, wie eingangs festgestellt, die ambulante, teilstationäre und vollstationäre kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung intelligenzgeminderter Kinder und Jugendlicher in Deutschland defizitär ist, stellt sich die Frage, wie dieser Zustand in absehbarer Zeit abgeändert werden kann. Das Gleiche gilt für die Psychiatrie. Dabei darf nicht übersehen werden, dass aufgrund der Rolle beider Fächer in der deutschen Geschichte ein gewisser Vorbehalt gegen die Psychiatrie herrscht und die flächendeckende Versorgung historisch gesehen den Wohlfahrtsverbänden zukam und auch noch zukommt. Somit dominieren heil- und sozialpädagogische Konzepte
die Betreuung und Versorgung geistig behinderter Menschen. Eine besondere Herausforderung besteht daher in dem Bemühen, beide Denkweisen einander näher zu bringen und durch ein gleichberechtigtes vertrauensvolles Miteinander die gesundheitliche Versorgung der Betroffenen verbessern zu helfen. kInterdisziplinäre Verzahnung
Im Interesse somatisch und/oder psychisch kranker Kinder und Jugendlicher ist ein wesentliches Ziel, Kompetenzen und Ressourcen von Kinder- und Jugendmedizin, von Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie zu verzahnen. Ebenso wichtig ist die fachübergreifende Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe, der Sozialhilfe, den Frühfördereinrichtungen, mit Schulen/Schulämtern, der Arbeitsagentur und dem öffentlichen Gesundheitsdienst. Verbesserungen in Therapie und Betreuung hängen davon ab, inwieweit dies in Zukunft gelingen wird. kVerankerung in der Ausbildung
Unbefriedigend in Bezug auf die speziellen Erfordernisse von Menschen mit geistiger Behinderung ist die derzeitige Integration diagnostischer, therapeutischer und rehabilitativer Inhalte in die studentische Ausbildung und die anschließende Facharztweiterbildung. Wie diese Situation unabhängig von regionalen Initiativen verbessert werden kann, bedarf einer dringenden und allgemein verbindlichen Lösung. z Pathologie kErhöhte Vulnerablilität
Warum Menschen mit einer Intelligenzminderung vulnerabler sowohl für körperliche Erkrankungen als auch für psychische Störungen sind, ist noch nicht hinreichend erforscht und geklärt. Es kann einerseits an der primären strukturellen und/oder funktionellen Beeinträchtigung des Gehirns und anderer Organe liegen, andererseits aber am Erleben eigener Defizite und deren se-
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Was wir nicht wissen: offene Fragen
kundärer Verarbeitung bis hin zu negativen Einflüssen aus dem familiären Nahbereich und dem weiteren psychosozialen Umfeld. kBeeinflussbarkeit des IQs
Von grundlegender Wichtigkeit ist die Frage, ob die Ausprägung einer Intelligenzminderung ein sehr stabiles individuelles Merkmal ist und inwieweit sie entwicklungsabhängigen Veränderungen unterliegt. Im Kern geht es darum, wie stark im Laufe des Lebens der IQ und die damit assoziierten Fähigkeiten und Defizite schwanken können. z Diagnostik kAuswirkungen des Gendiagnostikgesetz
Aufgrund der stringenten Festlegungen im neuen Gesetz ist die Gendiagnostik sehr viel weniger praktikabel geworden. Es ist es sehr wahrscheinlich, dass nun der verantwortliche Arzt den bürokratischen Aufwand scheut und keine durchaus indizierte genetische Untersuchung mehr veranlasst. Welche Implikationen das haben kann, liegt auf der Hand, wenn bei vermeintlich hohem genetischen Risiko unaufgeklärte Eltern weitere Kinder bekommen, obwohl sie an einem genetischen Syndrom leiden. Es stellt sich dann die Frage, inwieweit der Arzt, der die Anordnung einer genetischen Untersuchung unterlassen hat, haftungsrechtlich für die Folgen zur Verantwortung zu ziehen ist. Des Weiteren muss der gesetzlich verankerte Arztvorbehalt zu einer Anpassung der gängigen Praxis führen, da das Neugeborenenscreening nicht mehr wie bisher durch Hebammen durchführbar sein wird. Das sind nur einige von vielen Fragen, die das neue Gendiagnostikgesetz aufwirft. So ist auch völlig unklar, wie im Alltag die Aufbewahrungspflicht genetischer Befunde mit dem Widerrufsrechtbei Arztwechsel vereinbar sein soll, da das Labor ja darüber in Kenntnis gesetzt werden muss. Konkret taucht also die Frage auf: Wie erhält das Labor Kenntnis davon, dass
z. B. nach 6 Jahren die Probe nach dem nunmehrigen Willen des untersuchten Patienten verworfen werden soll, wenn der verantwortliche Arzt nicht mehr praktiziert, seine Tätigkeit ins Ausland verlegt hat o. Ä. und es keinen Rechtsnachfolger gibt? kADHS-Prävalenz
Kann die Diagnose ADHS neben einer Intelligenzminderung gestellt werden? Kontrovers wird diskutiert, ob eine ADHS-Symptomatik, speziell ein Aufmerksamkeitsdefizit, zur Intelligenzminderung gehört, also inhärent ist oder nicht. Diese Frage ist bis dato nicht geklärt, obwohl einige epidemiologische Studien eine höhere ADHS-Prävalenz (2- bis 3-fach höher) unter Kindern und Jugendlichen mit einer niedrigen Intelligenz nachwiesen. kEinfluss des Alkoholkonsumverhaltens
Es gibt bisher keine deutsche Untersuchung zum Alkoholkonsumverhalten von Menschen mit geistiger Behinderung. Es fehlen Studien, welche Alkoholmengen welchen Einfluss auf die Störungen haben. Es gibt außerdem noch keine speziellen Erkenntnisse zu einzelnen Aspekten des Konsumverhaltens, insbesondere worin der übliche Alkoholkonsum Intelligenzgeminderter besteht, ob es Präferenzen gibt, welche Wirkungserwartungen intelligenzgeminderte Konsumenten haben und ob sie in der Tat mit mehr somatischen und psychischen Nebenwirkungen zu rechnen haben. kDemenz
Kognitive Funktionsstörungen, Beeinträchtigungen von Alltagsfunktionen, weitestgehender Verlust der Selbstbestimmheit, Verlust des autobiografischen Bezugsrahmens und Unsicherheit, d.h. die Basissymptome einer beginnenden bzw. sich in der mittleren Phase befindlichen Demenz, gehören zu den Charakteristika von Menschen mit Intelligenzminderung. Es ist daher schwer, einen demenziellen Prozess bei in-
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Kapitel 9 • Was wir nicht wissen: offene Fragen
telligenzgeminderten Menschen rechtzeitig zu erkennen. Es existieren bis dato keine standartisierten Frühdiagnostika, und wir wissen kaum etwas über den Verlauf der Demenz bei Menschen mit einer Intelligenzminderung.
methodisch ernstzunehmende Studien, sodass auf der Basis der Evidenz diese Frage nur für bestimmte psychopharmakologische Optionen und einige wenige verhaltenstherapeutische Programme beantwortet werden kann.
z Therapie, Förderung und Betreuung kInklusion
kVergleich pharmakotherapeutischer Effekte
Mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention entfallen in einigen Bundesländern (z. B. Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern) erste Klassen für Förderschüler bzw. die Diagnoseförderklassen. Das Zauberwort heißt Inklusion: Intelligenzgeminderte Grundschüler werden in Regelschulklassen integriert. In Mecklenburg-Vorpommern liegt die zusätzliche Unterstützung dieser lernschwachen Schüler bei 0,9 Stunden pro Woche. Die Frage, ob intelligenzgeminderte Schüler davon profitieren, kann erst am Ende der Feldversuchsphase beantwortet werden. Dass dabei eine mögliche permanente Überforderung mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Auftreten psychischer Probleme führt, wird in Kauf genommen.
Lassen sich die Ergebnisse bezüglich pharmakotherapeutischer Interventionen im Erwachsenenalter auf Kinder und Jugendliche bzw. umgekehrt übertragen? Möglicherweise liegen die Effektstärken einzelner Psychopharmakotherapien im Kindes- und Jugendalter höher als im Erwachsenenalter. Warum wirken aber gerade Stimulanzien bei unruhigen intelligenzgeminderten Kindern im Vergleich zu normal intelligenten Kindern mit ADHS weniger gut bei gleichzeitig erhöhtem Risiko von Nebenwirkungen? Die Antwort könnte neben zerebralen strukurellen und funktionellen Besonderheiten bei Intelligenzgeminderten auch noch darin liegen, dass kein ADHS im klassischen Sinne vorliegt und die ADHS-ähnlichen Symptome eine völlig andere Ätiologie bei geistig behinderten Menschen haben.
kIndikation zur therapeutischen Intervention
Zunächst ist zu differenzieren: Handelt es sich bei bestimmten Verhaltensweisen von Menschen mit geistiger Behinderung um ein der Intelligenzminderung inhärentes Merkmal, eine Verhaltensauffälligkeit, die situativ bzw. reaktiv getriggert sein kann, eine Verhaltensabnormität oder gar ein Symptom einer psychischen Störung? Daran schließt sich die Frage an, wann eine therapeutische Intervention indiziert ist. Nachvollziehbarkeit eines bestimmten Verhaltensmusters, Dauer, Frequenz und Ausprägung bestimmen unabhängig von kategorialen Einordnungen das therapeutische Handeln. Manchmal ist weniger mehr. kBewertung therapeutischer Interventionen
Welchen Stellenwert haben einzelne therapeutische Interventionen? Bis dato gibt es nur wenig
kOrganisation der therapeutischen Interventionen
Wie sehen bei nebeneinander bestehenden somatischen und psychischen Symptomen bzw. Störungen die Behandlungshierarchien aus, und wer nimmt entsprechende Priorisierungen vor? Leitsatz hierbei könnte sein, dass das Symptom mit dem höchsten individuellen Leidensdruck und dem der Umwelt zuerst behandelt werden muss, bei gleichzeitigem Vorliegen realistischer Erfolgsaussichten. Wer übernimmt bei institutionell untergebrachten geistig behinderten Menschen die »Fallführung«? Eigentlich müsste die Verantwortung bei den gesetzlichen Betreuern liegen, die den Bereich der Gesundheitssorge abdecken. Es geht um die Wahrnehmung und Koordinierung von ärztlichen Untersuchungen, Therapien,
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Versorgung mit neuen Heilmitteln (Ersatz) usw. Auch ein Bezugspfleger könnte diese Aufgabe managen, wenn er dafür Kapazitäten hätte, was bei den derzeitigen Pflegeschlüssel von bis zu 6 Pflegebedürftigen auf eine Pflegekraft nahezu ausgeschlossen ist.
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Anhang A1
Adressen – 156
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Weiterführende Literatur – 159
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Anhang
A1
Adressen
kWohlfahrtsverbände und Behindertenorganisationen:
4 Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V. Heinrich-Albertz-Haus Blücherstr. 62/63 10961 Berlin Tel.: (+49) 30 - 26 30 9 – 0 Telefax: (+49) 30 - 26 30 9 - 32 59 9 Internet: www.awo.org E-Mail:
[email protected] 4 Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte e. V. Kirchfeldstr. 149 40215 Düsseldorf Tel.: 02 11/3 10 06 0 Fax: 02 11/3 10 06 48 Internet: www.bagh.de E-Mail:
[email protected] 4 Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte e. V. Brehmstraße 5–7 40239 Düsseldorf Tel.: 02 11/6 40 04 0 Fax: 02 11/6 40 04 20 Internet: www.bvkm.de E-Mail:
[email protected] 4 Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e. V. Raiffeisenstraße 18 35043 Marburg Tel.: 0 64 21/4 91 0 Fax: 0 64 21/4 91 16 7 Internet: www.lebenshilfe.de E-Mail:
[email protected] 4 Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. (DBSV) Rungestraße 19 10179 Berlin Tel.: 0 30/28 53 87 0 Fax: 0 30/28 53 87 200 Internet: www.dbsv.org E-Mail:
[email protected] 4 Deutscher Caritasverband e. V. Karlstraße 40 79104 Freiburg Tel.: 07 61/20 00 Fax: 07 61/20 05 41 Internet: www.caritas.de E-Mail:
[email protected] 4 Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband e. V. Oranienburger Str. 13–14 10178 Berlin Tel.: 0 30 – 246 36 0 Fax: 0 30/24 63 61 40 Internet: www.paritaet.org E-Mail:
[email protected] 4 Deutsches Rotes Kreuz e. V. Generalsekretariat Carstennstr. 58 12205 Berlin Tel.: 0 30/85 40 40 Internet: www.drk.de E-Mail:
[email protected] 4 Diakonisches Werk der EKD e. V. Stafflenbergstr. 76 70184 Stuttgart Tel.: 07 11/21 59 0 Fax: 07 11/2 15 92 88 Internet: www.diakonie.de E-Mail:
[email protected] 4 Sozialverband VdK Deutschland e. V. Wurzerstraße 4 a 53175 Bonn Tel.: 02 28/82 09 30 Fax: 02 28/8 20 93 43 Internet: www.vdk.de E-Mail:
[email protected] 4 Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V. Hebelstr. 6 60316 Frankfurt am Main Tel.: 0 69/9 44 37 10 Fax: 0 69/49 48 17 Internet: www.zwst.org E-Mail:
[email protected] 157 A1 • Adressen
4 autismus Deutschland e. V. Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus Bebelallee 141 22297 Hamburg Tel.: 0 40/5 11 56 04 Fax: 0 40/5 11 08 13 Internet: www.autismus.de E-Mail:
[email protected] 4 Elterninitiative Internet: www.elternimnetz.de 4 Deutsche Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung e. V. Internet: www.dgsgb.de
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A2
Weiterführende Literatur1
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173
Stichwortverzeichnis
174
Stichwortverzeichnis
A Aggressivitätskontrolle 113 Alkoholkonsum 89 Alzheimer, Demenz 81 Angelmann-Syndrom 45 Antidepressiva 128 Antieleptika 50 Athetose 69 Atomoxetin 128 Aufklärung 4 Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (HKS/ADHS) 52 – Ätiologie 53 – Definition 52 – Diagnostik 54 – Epidemiologie 53 – Symptomatik 52 – Therapie 55 Ausschlussverfahren 113 aversives Verfahren 113
B Basisdokumentation 31 Betreuungsrecht 99 Bewegungsstörungen – Symptomatik 64 – Testverfahren 64 – Therapie 65 Beziehungstherapie 114 Buspiron 130
C Challenging Behaviour 106 Charakterstereotypie 43 Chorea 66 Chromosomenaberrationen 20 Computertomographie – des Schädels 32
D Delinquenz 93 Demenz 41 – Alzheimer 81 – Definition 75 – Therapie 82 Diagnostik – medizinische 27
Dramatherapie 117 Drogenkonsum 89 DSM-IV 14
H Heil- und Behindertenpädagogik 6 Heilpädagogik 108
E Eingliederungshilfe 12 Einsichtsfähigkeit 92 Einwilligungsfähigkeit 100 Elektroenzephalographie (EEG) 31 Entgeltsystem OPS 11 Entwicklungsgeschichte 25 Epilepsie 50 – komorbide 136 epilepsiechirurgische Behandlung 50 Ergotherapie 120 Erstdiagnosealter 24 evozierte Potenziale 32 Exploration 24
F Fahreignung 102 Familienintervention 122 Familienrecht 101 Fetales Alkohol-Syndrom (FAS) 46 Fragiles-X-Syndrom 20, 44 Frühkindlicher Autismus 61 – Ätiologie 63 – Definition 61 – Diagnostik 63 – Epidemiologie 62 – Therapie 63
I ICD-10 14 ICF 14 infantile Zerebralparesen 71, 138 Intelligenztest 34 Islam 3
J Jugendhilfemaßnahmen 139
K Kinder- und Jugendhilfegesetz 13 Kindeswohl 102 Kindstötung 2 KJHG – § 35a 102 Kontakttraining – bei Distanzstörungen 115 Korrekturverfahren 113 Kreativtherapie 115 Kunsttherapie 116
M G Gendefekt – autosomal rezessiver 20 Gendiagnostikgesetz 33 Genetik 33 Geschäftsfähigkeit 101 gesundheitliche Versorgung 10 GKV – Modernisierungsgesetz 11 Glaubhaftigkeit 101 Grundgesetz 12
Magnetresonanztomographie – des Schädels 32 MAS 37 Maßregelvollzug 97 Mehrebenendiagnostik 54 Mood Stabilizer 130 motorische Auffälligkeiten 64 MRT-Befund 42 Musiktherapie 118
N Narrenkleid 3 Neuroleptika 124, 131
175 Stichwortverzeichnis
O Opiatantagonisten 130
P paroxysmale Dyskinesien 70 Pharmakotherapie 122 Phenylketonurie 20 Prader-Willi-Syndrom 46 Prognose 141 progressive Enezephalopathie 73 Psychiatrie-Enquete 6 psychoanalytische Therapie 122 psychodynamische Therapie 122 Psychoedukation 108 Psychopharmaka – Kombinationen 133 Psychopharmakoprävalenz 123 Psychopharmakotherapie 10
R Rassenhygiene 5 rational-emotive Therapie (R.E.T.) 114 Reaktionsverhinderung 113 Rehabilitationsmaßnahmen 139 Reifebeurteilung 95 Rett-Syndrom 44
S S1-Leitlinie 11 Schädel-Hirn-Trauma (SHT) 18 Schädelsonographie 32 Schizophrenie 56 – Ätiologie 58 – Diagnostik 59 – diagnostische Kriterien 57 – Epidemiologie 57 – Therapie 59 – Verlauf 59 Schuldfähigkeit 92 Schwachsinnigenfürsorge 5 Segawa-Syndrom 70 selbstverletzendes Verhalten (SVV) 22 Sexualität 86 sexuelle Triebenthemmung 138 SGB
– V 12 – VIII 13 – IX 12, 14 – XII 12 Sozialdarwinismus 5 soziotherapeutische Interventionen 135 Sterilisation 87 Steuerungsfähigkeit 92 Stimulanzien 128 Stimuluskontrolle 113
T Teilhabe – am gesellschaftlichen Leben 10 Temperamentsstereotypie 43 Testierfähigkeit 103 Tic 65 tiergestützte Therapie 121 Tokens 112 Tourette-Erkrankung 65 Training lebenspraktischer Fertigkeiten 110 Trisomie 21 20, 39, 75
U UN-Behindertenkonvention 6 Unterbringung – öffentlich-rechtliche 99 – zivilrechtliche 100 Untersuchung – körperliche 27 – Kindervorsorge 28 Ursachen – perinatale 18 – postnatale 18 – pränatale 18
V Vagusnerv-Stimulation (VNS) 50 Verhaltensbeobachtung 24, 36 Verhaltensfragebogen 36 Verhaltensphänotyp ADHS 56 Verhaltensstörung 21 Verhaltenstherapie 110 Verlauf 141 Vulnerabilität 21
W Weiterbildungscurricula 11 Wohlfahrtsverbände 5
Z Zürcher Neuromotorik 34
A–Z