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Plinkert · Klingmann (Hrsg.) Hören und Gleichgewicht Im Blick des gesellschaftlichen Wandels 7. Hennig-Symposium, Heidelberg
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Univ.-Prof. Dr. med. Dr. h.c. Peter K. Plinkert Priv.-Doz. Dr. Christoph Klingmann Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde der Universität Heidelberg, Deutschland
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Eine Haftung des Herausgebers oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. © 2010 Springer-Verlag / Wien Printed in Germany SpringerWienNewYork ist ein Unternehmen von Springer Science + Business Media springer.at Satz: JungCrossmedia Publishing GmbH, 35633 Lahnau, Deutschland Druck: Strauss GmbH, 69509 Mörlenbach, Deutschland Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier – TCF SPIN 12455188
Mit 180 (teils farbigen) Abbildungen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-211-99269-2 SpringerWienNewYork
Vorwort Schwindel und der Funktionsverlust des Hörens sind die häufigsten Beschwerden im Laufe des Lebens. Beide Symptome betreffen aber keineswegs nur die älteren Menschen, von denen bis zu 40 % betroffen sind, sondern es können auch Kinder, junge und ältere Erwachsene sowie Hochleistungssportler, Piloten und Raumfahrer darunter leiden. Hörstörungen treten in jedem Lebensalter auf. Durch die enorme Schallbelastung im Beruf und der Freizeit sowie durch die demografische Entwicklung der Bevölkerung wird in den kommenden Dekaden die Zahl der Innenohrschwerhörigen deutlich zunehmen. Durch die modernen mikrochirurgischen und technischen Möglichkeiten kann den meisten Betroffenen heute ein zufriedenstellendes soziales Gehör wiedergegeben werden. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die mikrochirurgische Verbesserung der konduktiven Schwerhörigkeiten, die digitale Hörgeräte-Technik und implantierbare Hörsysteme bei kochleären Schwerhörigkeiten und Cochlea-Implantate bei hochgradiger Schwerhörigkeit bzw. Taubheit. Deren differentialtherapeutischer Einsatz muss sorgfältig abgewogen und mit den Patienten individuell besprochen werden. Um diesem komplexen Thema ein Forum zu geben, fand am 14. und 15. November 2008 in Heidelberg zum 7. Mal das HENNIG-Symposium unter dem Leitthema „Hören und Gleichgewicht – Im Blick des gesellschaftlichen Wandels“ statt. Einen Schwerpunkt dieser von einem breiten Fachpublikum angenommenen Veranstaltung, die von mehr als 500 Teilnehmern besucht wurde, stellte die sich verändernde und alternde Gesellschaft dar. Aus diesem Grund befasst sich ein großer Teil dieses Buches mit der Physiologie und Pathophysiologie des alternden cochleo-vestibulären Systems und deren Therapiemöglichkeiten. Die heutige Gesellschaft verändert jedoch nicht nur ihre Altersstruktur, sondern auch das Freizeitverhalten der Bevölkerung wird zunehmend Grenzbereich-orientierter. In diesen Grenzbereichen auf See, unter Wasser, im Gebirge oder auch in der Schwerelosigkeit herrschen besondere Umweltbedingungen, die Hör- und Gleichgewichtsorgan in einem besonderen Maße fordern, aber auch gefährden können. Experten aus den Bereichen der Seefahrt, des Tauchsports, des Bergsteigens und aus der Raumfahrt beleuchten die Besonderheiten des Gleichgewichts/Hörsystems in diesem Werk. Die modernen Möglichkeiten der Schwindelbehandlung und der Wiederherstellung der Hörfunktion werden von den führenden Experten aus dem deutschsprachigen Raum ausführlich dargestellt und der Leser auf den aktuellen Stand der Forschung und deren Perspektiven gebracht. Die Spannbreite reicht von den theoretischen Grundlagen über die diagnostischen Möglichkeiten bis hin zu moderner pharmakologischer, operativer und rehabilitativer Therapie, die in diesem Buch in verständlicher Form aufgezeigt werden. Wir danken der Firma Hennig Arzneimittel, insbesondere deren wissenschaftlichen Leiter, Herrn Dr. Baumann, für ihre konstruktive Unterstützung bei der Planung und Durchführung dieses Symposiums in Heidelberg sowie für die großzügige Ausstattung dieses Buches, das ohne eine solche Förderung nicht in dieser Form zu publizieren wäre. Unser besonderer Dank gilt den Referenten und Autoren der Beiträge dieses Werkes, ohne deren Mühe die Veröffentlichung dieses Buch nicht möglich wäre. Wir hoffen, Sie haben bei der Lektüre der einzelnen Kapitel viel Freude. Prof. Dr. Dr. h. c. Peter K. Plinkert
Priv.-Doz. Dr. Christoph Klingmann
Inhaltsverzeichnis IX
Verzeichnis der Autoren (Coautoren im Beitrag angeführt) Presbyakusis und moderne Möglichkeiten zur Hörtherapie
3
Grundlagen des Hör- und Gleichgewichtssystems GOEPFERT, Köln
9
Presbyakusis- genetische und umweltbedingte Risikofaktoren PFISTER, Tübingen
15
Pharmakotherapie bei Hörstörungen PLONTKE, Tübingen
25
Gentherapie des Innenohrs PRAETORIUS, Heidelberg
33
Versorgung resthöriger Patienten mit einem neuen hörerhaltenden Cochlea-ImplantatSystem BÜCHNER, Hannover
43
Cochlea-Implant-Versorgung beim alten Menschen: Rules and Pitfalls BATTMER, Hannover
51
Vestibuläre Effekte der Cochlea Implantation BLÖDOW, Berlin Pro und Contra aktiver Mittelohrimplantate
61
Rehabilitation der Schallempfindungsschwerhörigkeit mit dem teilimplantierbaren Hörsystem MedEL Vibrant£ TISCH, Ulm
69
Kriterien gegen den Einsatz aktiver Mittelohrimplantate STEFFENS, Regensburg Gleichgewichtssystem
79
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen SCHERER, Berlin
95
Funktionelle Bildgebung des vestibulären Systems DIETERICH, Mainz
103
Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen WALDFAHRER, Erlangen
115
Physiotherapeutische Schwindelrehabilitation SCHOLTZ, Innsbruck
VIII 129
Inhaltsverzeichnis
Tauglichkeit zum Führen von Fahrzeugen bei Erkrankungen des Gleichgewichtssinns STOLL, Münster Presbyvertigo
145
Veränderungen des vestibulären Systems im höheren Lebensalter HAMANN, München
153
Presbyvertigo – HNO-ärztliche Aspekte SCHMÄL, HNO Zentrum Münsterland
161
Schwindel im Alter WESTHOFEN, Aachen
173
Movement strategies after vestibular loss: aiding these with prosthetic feedback ALLUM, Basel Das Gleichgewichtssystem im Grenzbereich
185
Die Entstehung von Kinetosen HEGEMANN, Zürich
195
Schwindel auf See WESTHOFEN, Aachen
205
Schwindel beim Tauchsport KLINGMANN, Heidelberg
215
Schwindel beim Bergsteigern BAUMGARTNER, Zürich
221
Vestibularisforschung in der Schwerelosigkeit CLARKE, Berlin Aus der Praxis Hören
237
Tonaudiometrie und Vertäubung LIMBERGER, Aalen
243
Objektive Audiometrie mit BERA, AMFR und CERA HOTH, Heidelberg
253
Aktuelle Möglichkeiten der Hörgeräteversorgung KIESSLING, Gießen Gleichgewicht
263
Kurse: Apparative Diagnostik und Therapie des vestibulären Systems BASTA und ERNST Preisträger des Hennig-Vertigo-Preises
275
Strukturelle Hirnplastizität nach peripherer vestibulärer Läsion HELMCHEN
283
Klinische Aspekte der Otolithenfunktionsstörung BASTA
Verzeichnis der Autoren
Prof. Dr. Biomed. Eng. J. H. J. ALLUM Universitätsspital Basel Department of Audiology and Neurootology Hebel Str. 10, 4031 Basel, Schweiz Prov.-Doz. Dr. DIETMAR BASTA HNO-Klinik im ukb Charité Universitätsmedizin Berlin Warener Str. 7, 12683 Berlin, Deutschland Prof. Dr. rer. biol. hum. Dipl.-Ing. ROLF-DIETER BATTMER Unfallkrankenhaus Berlin Zentrum für Klinische Technologieforschung Warener Str. 7, 12683 Berlin, Deutschland Prof. Dr. RALF BAUMGARTNER Neurologische Klinik UniversitätsSpital Zürich Frauenklinikstr. 26, 8091 Zürich, Schweiz Dr. med. ALEXANDER BLÖDOW HELIOS Klinikum Berlin-Buch Klinik für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie und Kommunikationsstörungen Schwanebecker Chaussee 50, 13125 Berlin, Deutschland Dr. Dipl. Inform. ANDREAS BÜCHNER Hörzentrum Hannover Wissenschaftliche Leitung MHH Karl-Wiechert-Allee 3, 30625 Hannover, Deutschland Prof. Dr. Ing. ANDREW H. CLARKE Labor für Gleichgewichtsforschung HNO Abteilung Charité Campus Benjamin Franklin, 12200 Berlin, Deutschland
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Verzeichnis der Autoren
Prof. Dr. M ARIANNE DIETERICH Ludwig-Maximilians-Universität München, Klinikum Grosshadern Direktion Klinik und Poliklinik für Neurologie Marchioninistr. 15, 81377 München, Deutschland Prof. Dr. M ARTIN C. GÖPFERT Universität Göttingen Abteilung für Zelluläre Neurobiologie Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin Hermann-Rein-Str. 3, 37075 Göttingen, Deutschland Prof. Dr. med. K.-F. HAMANN HNO-Klinik und Poliklinik der TU München Ismaninger Str. 22, 81675 München, Deutschland PD Dr. STEFAN HEGEMANN Universitätsspital Zürich Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie Frauenklinikstr. 24, 8091 Zürich, Schweiz Prof. Dr. med. CHRISTOPH HELMCHEN Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Neurologische Klinik, Campus Lübeck Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck, Deutschland Prof. Dr. rer. nat. SEBASTIAN HOTH Univ.-HNO-Klinik Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg, Deutschland Prof. Dr. rer. nat. JÜRGEN KIESSLING Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Gießen Hals-Nasen-Ohrenklinik, Funktionsbereich Audiologie Klinikstr. 29, 35392 Gießen, Deutschland Priv.-Doz. Dr. med. CHRISTOPH KLINGMANN Universitäts-HNO-Klinik Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg, Deutschland Prof. Dr. med. ANNETTE LIMBERGER Hochschule Aalen Studiengang Augenoptik/Augenoptik und Hörakustik Gartenstr. 135, 73430 Aalen, Deutschland Prof. Dr. M ARKUS PFISTER Universitäts-Hals-Nasen-Ohrenklinik Elfriede Aulhornstr. 5, 72076 Tübingen, Deutschland
Verzeichnis der Autoren
Prof. Dr. med. Dr. h. c. PETER K. PLINKERT Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde der Universität Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg, Deutschland Prof. Dr. med. STEFAN K. PLONTKE Universitätsklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und Hörforschungszentrum Tübingen Elfriede-Aulhorn-Str. 5, 72076 Tübingen, Deutschland PD Dr. M ARK PRAETORIUS Universitätsklinikum Heidelberg Leiter der Sektion Otologie und Neuro-Otologie, Hals-Nasen-Ohrenklinik mit Poliklinik Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg, Deutschland Prof. Dr. med. CLAUDIA RUDACK Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde Kardinal-von-Galen-Ring 10, 48149 Münster, Deutschland Prof. Dr. med. HANS SCHERER Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Charité Mitte Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde Charitéplatz 1, 10117 Berlin, Deutschland Prof. Dr. med. FRANK SCHMÄL HNO Zentrum Münsterland Lindenstr. 37, 48268 Greven, Deutschland Ao. Univ.-Prof. Dr. med. ARNE W. SCHOLTZ Medizinische Universität Innsbruck Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Funktionsabteilung Neurootologie Anichstr. 35, 6020 Innsbruck, Österreich Dr. biol. hom. Dipl.-Ing. THOMAS STEFFENS Universitäts-HNO-Klinik Franz-Josef-Strauß-Allee 11, 93053 Regensburg, Deutschland Prof. Dr. med. M ATTHIAS TISCH, OFA Bundeswehrkrankenhaus Ulm Klinik und Poliklinik für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie Oberer Eselsberg 40, 89081 Ulm, Deutschland Dr. med. FRANK WALDFAHRER Universitätsklinikum Erlangen Hals-Nasen-Ohren-Klinik, Kopf- und Halschirurgie Waldstr. 1, 91054 Erlangen, Deutschland
XI
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Verzeichnis der Autoren
Prof. Dr. med. M ARTIN WESTHOFEN Direktor der Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und Plastische Kopf- und Halschirurgie der RWTH Aachen Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen, Deutschland
Presbyakusis und moderne Möglichkeiten zur Hörtherapie
Grundlagen des Hör- und Gleichgewichtssystems P. Senthilan, Q. Lu und M. C. Göpfert
Einleitung Unser Innenohr umfasst dezidierte vestibuläre und auditorsiche Sinnesorgane für die Messung von Gravitation, Dreh-Beschleunigung, und Schall[24], [13]. Im Herzen dieser Organe sitzen spezialisierte mechanosensorische Zellen, die so genannten Haarzellen, welche durch Gravitation, Dreh-Beschleunigung bzw. Schall ausgelöste Auslenkungen ihrer sensorischen Haarbündel in elektrische Antworten wandeln[26]. Der genetische Modellorganismus Drosophila melanogaster, die Frucht- oder Taufliege, besitzt weder Haarzellen noch ein Innenohr im engeren Sinne, ist aber wie wir in der Lage, Schall und Gravitation zu messen[31]. Neuere Untersuchungen haben verblüffende funktionale und genetische Parallelen zwischen Hör- und Gravitationssinn bei Mensch und Fliege aufgedeckt, die Letztere für die Analyse grundlegender Mechanismen des Hörens und Gravitationssinns prädestinieren[14]. Wesentliche Grundlagen von Hör- und Gleichgewichtssinn werden daher im Folgenden am Beispiel des genetischen Modellorganismus Drosophila illustriert.
Verhalten Die Fruchtfliege Drosophila melanogaster reagiert auf Schwerkraft und Schall. Werden die Fliegen im Dunkeln in einem Röhrchen nach unten geklopft, krabbeln diese schnurstracks der Schwerkraft entgegen nach oben[3].
Dieses gerichtete Verhalten, das als negative Gravitaxis oder negative Geotaxis bezeichnet wird, lässt sich leicht quantifizieren, und wurde daher dazu verwendet, erstmals die genetischen Grundlagen des Verhaltens von Tieren zu ergründen[9], [21]. Hören spielt eine wichtige Rolle bei der „Fliegenbalz“, da Drosophila-Männchen ihre Weibchen mit Schall bezirzen: Nähern sich Männchen einem Weibchen, vibrieren Erstere einen ihrer Flügel und produzieren dadurch eine Serie kurzer, niederfrequenter Schallpulse – das so genannte Drosophila-Liebeslied[12]. Dieses Lied, das sich mit speziellen SchallschnelleMikrophonen registrieren lässt[4], [16] erhöht die Paarungsbereitschaft der Weibchen und stimuliert Männchen zur Bildung von „BalzKetten“ – Reihen einander jagender und singender Fliegen[10].
Sinnesorgane und mechanosensorische Zellen Neuste Untersuchungen zeigen, dass Drosophila sowohl Schall als auch Schwerkraft mit Hilfe der Antennen registriert[30]. Die Fliegenantenne setzt sich aus drei Hauptsegmenten zusammen, von denen das dritte keulenförmig ist und seitlich eine federartige Struktur, die Arista, trägt (Abbildung 1 A, B). Biomechanische Messungen haben gezeigt, dass die Arista steif mit dem dritten Antennensegment verbunden ist, und dass sich beide bei mechanischer Reizung gemeinsam bewegen: Läuft die Fliege aufwärts, biegt die Schwerkraft
4
Grundlagen des Hör- und Gleichgewichtssystems
Abb. 1 Fliegenohr. (A): Menschliches Ohr (links, blauer Pfeil) und Fruchtfliegenohr (rechts, blauer Pfeil) haben äußerlich wenig gemein. (B): Bei der Fliege dienen das dritte, distale Antennensegment (III) und die federartige Arista als Schallempfänger. Die auditorischen Neuronen des Johnstonschen Organs (JO) im zweiten Antennensegment (II) setzen von zwei Seiten direkt an der Basis des Schallempfängers an. Bei Beschallung rotiert der Schallempfänger um seine Längsachse vor und zurück, wodurch die Neuronen des Johnstonschen Organs alternierend gedehnt und gestreckt werden. (C): Die auditorischen Neuronen sind primäre Sinneszellen mit einem distalen sensorischen Cilium und einem proximalen Axon. Eine extrazelluläre Kappe verbindet jeweils zwei bis drei Neuronen mit dem Schallempfänger.
Arista und drittes Antennensegment nach unten. Und wird die Fliege beschallt, schwingen beide hin und her[15], [16], [30]. Funktional bildet der distale Teil der Fliegenantenne damit einen mechanischen Reizempfänger, ähnlich wie unser Trommelfell. Registriert werden die Reiz-induzierten Bewegungen des distalen Teils der Fliegenantenne von einem Streckrezeptororgan im zweiten Antennensegment[12]. Dieses Organ, das sogenannte Johnstonsche Organ, umfasst ca. 500 mecha-
nosensorische Zellen[29]. Im Gegensatz zu den Haarzellen in unserm Innenohr besitzen diese Zellen anstelle eines sensorischen Haarbündels ein einzelnes sensorisches Cilium (Abbildung 1 C). Dieses Cilium ist über eine extrazelluläre Kappe direkt mit dem reizaufnehmenden distalen Teil der Antenne verbunden – ein Mittelohr gibt es nicht. Auch weisen die mechanosensorischen Zellen im Fliegenohr anders als Haarzellen selbst ein Axon auf, welches direkt ins Gehirn projiziert. Trotz dieser anatomischen Unterschiede gleichen sich Haarzellen und die mechanosensorischen Zellen in der Fliegenantenne in einem wesentlichen Punkt: Die Entwicklung beider Zelltypen wird von homologen Genen der atonal-Familie gesteuert[22]. Fliegen, denen das Gen atonal (ato) fehlt, fehlen die mechanosensorischen Zellen im zweiten Antennensegment[28], [18]. Mäuse, denen das homolge Gen, Mouse atonal homologue 1 (Math1), fehlt, haben keine Haarzellen im Innenohr[5]. Interessanterweise sind beide Gene so ähnlich, dass sie einander substituieren können – d. h. transgene Mäuse, bei denen Math1 durch Fliegen atonal ersetzt wurde, haben Haarzellen im Innenohr, und transgene Fliegen, bei denen atonal durch Math1 ersetzt wurde, haben mechanosensorische Zellen im zweiten Antennensegment[36]. Anscheinend sind beide Zelltypen evolutiv miteinander verwandt und gehen auf eine gemeinsame mechanosensorische Vorläuferzelle zurück, die vor vielen Millionen Jahren existiert haben muss – der letzte gemeinsame Vorfahre von Wirbeltieren und Insekten, der sogenannte Protostomier-Deuterostomier-Vorfahre, hat vor ca. 500 bis 1.200 Millionen Jahren gelebt[11].
Aktive Schwingungsverstärkung und Zellmotilität Eine der faszinierendsten Eigenschaften unseres Ohrs ist seine Empfindlichkeit: Es detektiert durch Schall ausgelöste Schwingungen, deren
Grundlagen des Hör- und Gleichgewichtssystems
5
äre Verstärker bekannt ist[8], [2], zeichnet sich durch vier wesentliche Eigenschaften aus. Dies sind: 1. eine kompressive Nichtlinearität: Da kleine, durch leisen Schall ausgelöste Schwingungen maximal verstärkt werden, wird ein weiter Bereich von Schallintensitäten in einen engen Bereich von Schwingungsamplituden komprimiert; 2. Frequenzspezifität: Nur durch Schall bestimmter Frequenzen ausgelöste Schwingungen werden verstärkt; 3. Energiezufuhr: Die Energie der schallinduzierten Schwingungen ist größer als die durch Schall zugeführte Energie, da Haarzellen aktiv Energie in die Schwingungen pumpen; 4. das gelegentliche Auftreten von selbst-erhaltenden Rückkopplungsschwingungen, die sich als spontane otoakustiAbb. 2 sche Emissionen messen lassen Mechanik des Fliegenohrs. (z. B. [27]). Diese vier KennzeiOben: Die Bewegungen des antennalen Schallempfängers lassen sich an der Spitze der Arista berührungsfrei mittels eines Laser-Dopp- chen des cochleären Verstärkers ler-Vibrometers messen. Der auf die Aristaspitze fokussierte Laser- finden sich in der Mechanik der strahl ist in der Detailansicht zu sehen. Unten: Zeitspuren der Arista- Drosophila-Antenne wieder (Abschwingungen in Abwesenheit externer Reize (links), entsprechende bildung 2): Der antennale ReizFrequenzspektren (Mitte) und Intensitätscha-rakteristik (rechts). Beim toten Tier (blau) zeigt die Arista nur thermisches Rauschen (links) und empfänger der Fliege zeigt eine ist breit abgestimmt (Mitte). Bei Beschallung an der Bestfrequenz kompressive Nichtlinearität[20], steigt die Schwingungsampli-tude linear mit der Schallintensität Signaturen von frequenzspezifi(rechts). Mechanische Rückkopplung erhöht im lebenden Tier (grün) scher, aktiver Verstärkung und die Antennenfluktuationen, verbessert die Frequenzabstimmung und moduliert die Intensi-tätscharakteristik in nichtlinearer Weise. Gele- Energiezufuhr[19], [20], [33], gentlich wird die Rückkopplung zu groß, es kommt zu selbsterhalten- und oszilliert gelegentlich konden Oszillationen (rot). tinuierlich in der Abwesenheit akustischer Reize[17], [19], [34]. Wie bei uns beruht auch bei der Fliege diese Amplituden im Bereich atomarer Dimensionen Verstärkung auf der Motilität mechanosensoliegen[25]. Diese Empfindlichkeit erreicht das rischer Zellen. Werden die Zellen des JohnOhr mittels eines cleveren Tricks: Ähnlich wie stonschen Organs mittels eines genetischen das Anstoßen einer Schaukel deren SchwinTricks vom reizaufnehmenden distalen Angungen verstärkt, erzeugen die Haarzellen tennenteil abgetrennt, gehen alle Signaturen im Ohr aktiv Bewegungen mit denen sie aktiver Verstärkung in der Antennenmechanik die durch Schall ausgelösten Schwingungen verloren[17], [19]. Die mechanosensorischen verstärken[27]. Diese mechanische RückZellen in unserem Innenohr und in der Fliekopplungsverstärkung, die als der cochle-
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Grundlagen des Hör- und Gleichgewichtssystems
genantenne teilen sich nicht nur Entwicklungsgene, sondern funktionieren offenbar auch in ähnlicher Weise.
Mechano-elektrische Transduktion Die wesentliche Funktion mechanosensorischer Zellen besteht darin, mechanische Reize in elektrische Antworten zu wandeln. Diese mechano-elektrische Transduktion erfolgt über dezidierte Ionenkanäle, die sich bei mechanischer Reizung öffnen (oder schließen). In der Fliegenantenne setzen die mechanosensorischen Zellen direkt am antennalen Reizaufnehmer an, und Bewegungen des Schallaufnehmers werden direkt auf die Transduktions-Kanäle in den Zellen übertragen[1]. Aufgrund dieser direkten mechanischen Kopplung ist die Kraftübertragung zwischen Reizaufnehmer und Ionenkanälen reziprok: Bewegt sich die Antenne, ändert sich der Öffnungszustand der Ionenkanäle, und ändert sich der Öffnungszustand der Ionenkanäle, bewegt sich die Antenne[1], [33]. Dasselbe Phänomen kennt man von Haarzellen, bei denen die Bewegungen der sensorischen Haarbündel das Öffnen und Schließen der Transduktionskanäle widerspiegeln[23]. Analysen der Bewegungen von Fliegenantennen und Haarbündeln deuten darauf hin, dass in beiden Systemen die Transduktion auf gleiche Weise erfolgt: Wie in Haarzellen scheinen auch in der Fliegenantenne mechanische Reize über elastische Elemente (sogennannte „gating springs“) auf die Transduktionskanäle übertragen zu werden, und in beiden Systemen scheinen diese Ionenkanäle mit molekularen Motoren (sogennaten Adaptationsmotoren) zu assoziieren[23], [1]. Ob die Transduktionsmaschinerien in der Fliegenantenne und in unserem Ohr molekular identisch sind, ist noch nicht geklärt: Der Transduktionskanal, der Hören bei Fliegen vermittelt, ist möglicherweise NompC, ein Vertreter der „transient receptor potential“ (TRP) Kation-Ka-
nal Familie[35], [20]. Der Transduktionskanal in unserem Ohr ist molekular noch nicht identifiziert[6], dort kennt man aber den Adaptationsmotor, Myosin 1 c[32]. Welches Protein den Adaptationsmotor in den mechanosensorischen Zellen in der Fliegenantenne bildet, ist noch nicht bekannt.
Transduktions-basierte Schwingungsverstärkung Der cochleäre Verstärker in unserem Ohr beruht auf aktiven Haarzell-Bewegungen. Zwei unterschiedliche Formen aktiver Haarzell-Bewegungen sind bekannt: Spannungsabhängige Bewegungen des Zellkörpers und aktive Haarbündel-Bewegungen[27]. Aktive Zellkörper-Bewegungen, die nur die äußeren Haarzellen in der Säugercochlea zeigen, werden durch das Membranprotein Prestin vermittelt[7]. Aktive Haarbündel-Bewegungen hingegen beruhen auf der TransduktionsMaschinerie selbst[32], [27]. Prestin-Homologa werden im auditorischen Organ von Drosophila exprimiert[37], neuere Befunde deuten jedoch darauf hin, dass es die Transduktions-Maschinerie ist, auf der die aktive Verstärkung im Fliegenohr beruht: simuliert man den antennalen Schallempfänger der Fliege mit einem Harmonischen Oszillator und koppelt an diesen Oszillator TransduktionsModule, lässt sich das gesamte aktive Verhalten des Fliegenohrs sowohl qualitativ als auch quantitativ beschreiben[33]. Die Aktivität stammt dabei vom Zusammenspiel zwischen Transduktions-Kanälen und den assoziierten Adaptationsmotoren, d. h. dem molekularen Mechanismus, auf dem auch die mechanische Aktivität der sensorischen Haarbündel von Haarzellen beruht[32], [27], [33]. Die Analysen am Fliegenohr zeigen damit, dass dieser Transduktions-basierte Mechanismus ausreichen kann, um schallinduzierte Schwingungen im Ohr aktiv zu verstärken.
Grundlagen des Hör- und Gleichgewichtssystems
Schall und Schwerkraft – von Sinneszellen zu zentralnervösen Bahnen Die Axone der ca. 500 mechanosensorischen Zellen des Johnstonschen Organs der Fruchtfliege projezieren alle in das „Antennal Mechanosensory Motor Center“, das ist ein bestimmter Bereich im Fliegengehirn[29]. Anhand der genauen Zielregion in diesem Bereich lassen sich vier Hauptgruppen (A, B, C, E) mechanosensorischer Zellen unterscheiden. Jüngste Untersuchungen zeigen, dass zwei dieser Gruppen (A, B) dem Hören dienen, während die anderen beiden Gruppen (C, E) die Detektion der Gravitation vermitteln[30]: Schaltet man mittels genetischer Tricks die Hörzellen aus, reagieren die Fliegen nicht mehr auf Schall, und werden die Gravitations-empfindlichen Zellen ausgeschaltet, laufen die Fliegen im Röhrchen nicht mehr nach oben. Anders als in unserem Innenohr gibt es bei der Fliege folglich keine separaten Sinnesorgane für Schall und Schwerkraft, sondern lediglich separate Gruppen spezialisierter Sinneszellen. Die Unterscheidung, ob Schall oder Gravitation die Antenne bewegen, treffen die Sinneszellen selbst: Messungen intrazellulärer Kalziumsignale zeigen, dass Schall- und Gravitations-empfindliche Zellen spezifisch auf Schall- und Schwerkraft-induzierte Antennenbewegungen reagieren[30]. Die nachgeschalteten Nervenbahnen im Fliegengehirn wurden teilweise kartiert. Zum Vorschein kamen dabei Verschaltungsmuster, die zumindest oberflächlich an die der auditorischen und vestibulären Bahnen in unserem Gehirn erinnern[29]. Die Parallelen zwischen Hör- und Gravitationssinn von Fliege und Mensch scheinen sich folglich von molekularen Mechanismen in mechanosensorischen Zellen bis hin zu zentralen Verschaltungen tief im Gehirn zu erstrecken.
7
Danksagung Die Autoren bedanken sich bei den Organisatoren des Henning-Symposiums. Die hier vorgestellten Arbeiten der Autoren werden im Rahmen des DFG Research Center for the Molecular Physiology of the Brain (CMPB) Göttingen, der International Graduate School for Genetics and Functional Genomics (ISGFG) Köln, des BMBF Bernstein Networks for Computational Neuroscience und von der VolkswagenStiftung gefördert.
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Presbyakusis – genetische und umweltbedingte Risikofaktoren M. Pfister
Altersschwerhörigkeit (ASH), auch Presbyakusis genannt, ist die häufigste sensorische Beeinträchtigung von älteren Personen. 37 % der 61–70-Jährigen haben einen signifikanten Hörverlust von wenigstens 25 dB[9] Von ASH Betroffene gewöhnen sich nur schwer an diese Einschränkung. Deshalb hat Schwerhörigkeit (SH) großen Einfluss auf die Lebensqualität und das psychologische Befinden der Betroffenen. Kommunikationsprobleme führen zu psychosozialer Dysfunktion mit sozialer Isolation als Folge. Betroffene verlieren ihre Unabhängigkeit; Depressionen, Angstzustände, Lethargie, soziale Unzufriedenheit und möglicherweise kognitive Defizite, ähnlich der Demenz, folgen daraus[8], [18]. Hörgeräte sind zurzeit die einzige verfügbare therapeutische Maßnahme bei ASH. Sie können Geräusche verstärken, aber der Gewinn an Sprachdiskriminierung wird besonders in lauten Umgebungen als nicht ausreichend empfunden. Hörhilfen werden hierbei nur von einem Teil der Betroffenen verwendet. Das liegt zum Teil an den hohen Kosten, an der sozialen Einstellung, die das Hören unterbewertet, und an der Tatsache, dass viele den Gebrauch von Hörgeräten aufgrund sozialer Stigmatisierung nicht akzeptieren[18]. Deshalb müssen dringend neue therapeutische Strategien entwickelt werden, die die neurale und molekulare Basis anstelle der Symptome der Erkrankung fokussieren. Obwohl jeder mit steigendem Alter eine stetige Verschlechterung des Gehörs zeigt, gibt es große Unterschiede in Manifestationsalter, Ausprägung und Progression der Erkrankung.
ASH wurde bisher immer als Teil des natürlichen Alterungsprozesses angesehen – unausweichlich und unheilbar. Diese Sicht der Dinge verhinderte jedoch die Erkenntnis, dass der variierende Grad des Hörverlusts einzelner Patienten unterschiedlichen Ursachen wie Diabetes, Lärm und genetischen Faktoren zuzuschreiben ist, was wiederum bedeutet, dass ASH keine unvermeidbare Erkrankung ist. Stattdessen sollte ASH wie jede andere komplexe Erkrankung als eventuell behandelbar oder vorbeugbar betrachtet werden. Umweltrisikofaktoren wurden bisher in einer Vielzahl von Studien gründlich untersucht. Im Gegensatz dazu gibt es noch kaum Untersuchungen zu genetischen Suszeptibilitätsfaktoren. Die Heritabilität einer Krankheit beschreibt hierbei die relative Bedeutung der genetischen Komponenten. Sie ist definiert als der Anteil der phänotypischen Varianz, der genetisch terminiert ist. In einer Zwillingsstudie wurde die Heritabilität auf 0,47 geschätzt[28], was heißt, dass etwa die Hälfte der Varianz genetischen Faktoren, die andere Hälfte Umweltfaktoren zuzuschreiben ist. Bis jetzt ist nicht bekannt, wie viele Umwelt- und genetische Faktoren zur Etiologie von ASH beitragen und wie sie miteinander interagieren.
Umweltfaktoren und ASH Der bisher am besten untersuchte Faktor ist Lärm. Tägliche Lärmexposition von 85 dB oder mehr führt zu einem gesteigerten Risiko für Lärm-induzierte SH durch primären Verlust
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der äußeren Haarzellen gefolgt von Degeneration der inneren Haarzellen[11]. Bei Personen, die sehr häufig Lärm ausgesetzt waren, sind die Auswirkungen von Alter und Lärm nur schwer zu unterscheiden[6]. Gates et al. postulierten, dass Lärmexposition den Alterungsprozess auf den betroffenen Frequenzen verlangsamt, bei den benachbarten Frequenzen jedoch verstärkt[19]. Eine europaweite Studie zeigt, dass alle Frequenzen betroffen sind, der Hörverlust in den höheren Frequenzen jedoch stärker ausgeprägt ist[14]. Lösungsmittelexposition (Toluol, Trichlorethylen, Styrol und Xylol) wird ebenfalls als ursächlicher Faktor für ASH angesehen[26]. Außerdem bewirken diese Chemikalien oft einen nicht-linearen Effekt in Kombination mit Lärm[31], [5]. Ob zwischen Tabakkonsum und ASH ein Zusammenhang besteht, konnte bis jetzt noch nicht abschließend geklärt werden. Verschiedene Studien zeigen, dass Rauchen keinen Effekt auf das Gehör ausübt[4], [17]. Andere Studien führen zu gegensätzlichen Ergebnissen[21], [30]. Fransen et al. gehen in ihrer Studie noch weiter und berichten von einem dosisabhängigen Effekt[14]. Ebenfalls kontrovers diskutiert wird der Einfluss von Alkohol auf das Gehör. Es wird sowohl von einem gesteigerten Risiko für ASH in Zusammenhang mit Alkohol[30] als auch von einem protektiven Effekt bei moderatem Alkoholgenuss berichtet[4], [25], [14]. Aus diesen verschiedenen Studien lässt sich folgern, dass moderater Alkoholkonsum einen protektiven, Alkoholmissbrauch jedoch einen schädigenden Effekt auf das Gehör haben sollte.
Medizinische Faktoren und ASH Es ist bereits bekannt, dass sensorineuraler Hörverlust bei Patienten mit Diabetes stärker verbreitet ist[27]. Außerdem wurde Diabetes auch mit ASH assoziiert[29]. Diabetes-induzierter Hörverlust wie auch ASH sind sich sehr
ähnlich: beide sind progressiv und betreffen hauptsächlich die hohen Frequenzen. Vermutlich gibt es synergistische Effekte zwischen Diabetes und den Prozessen, die in die Entwicklung von ASH involviert sind[27]. Aufgrund der hohen Prävalenz von HerzKreislauferkrankungen (CVD) bei alternden Individuen, haben viele Studien nach möglichen Assoziationen zwischen CVD und ASH gesucht. In der Framingham Kohorte konnte ein derartiger Zusammenhang gezeigt werden[17]. Dasselbe konnten Brant et al. für erhöhten Blutdruck zeigen[4]. Erst kürzlich konnte eine weitere Studie den Zusammenhang von CVD und ASH bestätigen und sogar einen kombinierten Effekt von CVD, Rauchen und BMI auf das Gehör nachweisen[14]. Hormone können ebenfalls zu Hörverlust beitragen. Aufgrund des unterschiedlichen Estrogenspiegels bei Frauen und Männern könnte eine geschlechterspezifische ASH erklärbar sein. Bei Frauen in der Menopause kann eine Estrogentherapie die Entwicklung von ASH verlangsamen[23]. Wahrscheinlich hat ein am oberen Ende des Normbereiches liegender Aldosteronspiegel einen schützenden Effekt[35]. Progestin könnte dagegen einen negativen Effekt auf die Hörfähigkeit von älteren Frauen, die eine Hormonersatztherapie bekommen, ausüben. Davon betroffen sind sowohl das periphere als auch das zentrale auditorische System[20].
Morphometrische Faktoren Interessanterweise stehen auch morphometrische Faktoren in Verbindung mit ASH. Eine schwedische Studie an Wehrpflichtigen[2] zeigte, dass kleine Personen mit sehr hohem oder sehr niedrigem BMI eher von Schwerhörigkeit betroffen sind als große oder Personen mit einem BMI im Normalbereich. Diese Effekte waren abhängig von Geburtsgewicht und -größe. Das heißt, übergewichtige Personen, die verhältnismäßig klein und leicht geboren wurden, haben ein erhöhtes Risiko,
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im wehrpflichtigen Alter schwerhörig zu sein. Ähnliche Ergebnisse erzielten weitere Studien, die zeigen, dass nicht nur Körpergröße und BMI in Zusammenhang mit ASH stehen, sondern auch die Suszeptibilität für Sonnenbrand einen Bezug zur ASH hat[14], [3]. Die Tatsache, dass genetisch determinierte Komponenten wie Körpergröße und Anfälligkeit für Sonnenbrand in Verbindung mit ASH gebracht werden können, ist außerdem ein weiterer Hinweis, dass ASH wenigstens zum Teil genetisch bedingt ist.
Genetische Faktoren Bislang ist über die involvierten Gene wenig bekannt. Die Wahrnehmung von Geräuschen erfordert komplexe molekulare Vorgänge, und altersbedingte Veränderungen einer beliebigen Komponente können zum Hörverlust beitragen. Deshalb wird erwartet, dass sehr viele Gene an der Entstehung von ASH beteiligt sind. Da genomweite Studien immer noch sehr teuer sind, wurden bisher hauptsächlich Assoziationsstudien mit Kandidatengenen veröffentlicht. Auf diese Weise konnte der Polymorphismus NAT*6A im N-Acetyltransferase 2-Gen mit ASH in Verbindung gebracht werden[36]. Eine weitere Studie kam ebenfalls zu diesem Ergebnis[37]. Die Bestätigung dieser Assoziationsstudie durch eine unabhängige Studie[37] ist als sehr selten und signifikant zu beurteilen. Außerdem konnten Van Eyken et al. in einer finnischen Population SNPs in den Glutathion-S-Transferase-Genen GSTT1 und GSTM1 mit ASH assoziieren[37]. Eine andere Kandidatengenstudie zeigte eine signifikante Assoziation von verschiedenen SNPs innerhalb einer 13-kb-Region in der Mitte des KCNQ4-Gens mit ASH[38]. Auch für den Transkriptionsfaktor GRHL2 konnte ein Zusammenhang mit ASH nachgewiesen werden. Jedoch hat der betreffende Polymorphismus überraschenderweise einen protektiven Effekt auf das Gehör[39].
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Mitochondriale Mutationen verursachen hauptsächlich Erkrankungen, die typischerweise bei älteren Personen auftreten[40]. Tatsächlich konnte bei Patienten mit ASH ein hochsignifikanter Anstieg von mitochondrialen Mutationen im auditorischen Gewebe beobachtet werden[12] Untersuchungen mitochondrialer Mutationen weisen auf einen Zusammenhang der sehr häufigen Mutation mtDNA4977, einer 4.977 bp umfassenden Deletion im mitochondrialen Genom, mit ASH hin[1], [7], während sie in einer altersangepassten Kontrollgruppe ohne Anzeichen für ASH so gut wie nicht nachweisbar war[32]. Eine erste, das ganze Genom umfassende Kopplungsanalyse zur ASH auf der Basis von Familien aus der Framingham Herz-Studie resultierte in sechs Kandidatenregionen auf vier Chromosomen[10]. 2006 wurde durch eine weitere genomweite Kopplungsanalyse ein siebter Lokus identifiziert, der sich mit dem DFNA18 Lokus überschneidet[16]. Erst kürzlich konnte mit einer familienbasierten, ebenfalls das gesamte Genom umfassenden Kopplungsanalyse eine weitere Genregion für Altersschwerhörigkeit auf Chromosom 8 identifiziert werden[24]. Schließlich wurde zuletzt mit der ersten genomweiten Assoziationsstudie ein weiteres Suszeptibilitätsgen für ASH beschrieben werden. Es handelt sich hierbei um den Glutamatrezeptor GRM7[15].
Schlussfolgerungen Bis heute sind die Ursachen von ASH noch nicht abschließend geklärt, vor allem bei den genetischen Risikofaktoren besteht weiterhin großer Forschungsbedarf. Im Fokus der Studien standen bisher meistens exogene Faktoren. Obwohl bei einigen Umweltfaktoren noch Kontroversen bestehen, können diese Erkenntnisse bereits für die Ausarbeitung von Präventionsstrategien für ASH verwendet werden. Das Wissen, das durch histologische und elektrophysiologische Untersuchungen gewon-
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nen wird, hilft dabei, die Entstehungsmechanismen von ASH zu klären. Dadurch können Angriffspunkte für die Behandlung von SH bei älteren Menschen identifiziert werden. Erste Anstrengungen, Kenntnisse über genetische Faktoren zu erlangen, wurden schon unternommen. Genomweite Kopplungsanalysen resultierten in acht Kandidatenregionen für ASH. Durch Assoziationsstudien konnten schon sechs Suszeptibilitätsgene für ASH identifiziert werden. Dieses neu geweckte Interesse an genetischen Hintergründen von ASH wird zur Beschreibung von noch mehr Assoziationen mit weiteren ASH-Genen führen. Dadurch wird unser Wissen über die molekularen Vorgänge bei der Entwicklung von ASH vergrößert, was wiederum zu neuen Behandlungsstrategien führen wird. Da die Industrienationen stark altern und SH die häufigste sensorische Behinderung von älteren Menschen ist, werden diese neuen Therapien ihren Beitrag zur Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität und der Lebensqualität leisten.
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Pharmakotherapie bei Hörstörungen – Gegenwärtiger Stand und aktuelle Entwicklungen S. K. Plontke
Einführung Im Rahmen der Pharmakotherapie von Hörstörungen beobachten wir in den letzten Jahren eine wachsende Differenz zwischen den Erfolgen präklinischer tierexperimenteller Studien und der Pharmakotherapie in der klinischen Praxis. Zum einen erscheinen Berichte über erste Erfolge bei der Regeneration von Haarsinneszellen nicht nur bei Vögeln, sondern auch bei Säugetieren durch Gen-Transfer von Math-1 [15] und beginnend auch durch Nutzung von Stammzellen[20]. Zum anderen ist die klinische Praxis weltweit geprägt von polypragmatischen Therapien und Medikamenten-Cocktails oder der Anwendung von Mono-Therapien auf der Basis nur geringer klinischer Evidenz. In dieser Arbeit sollen gegenwärtig in der klinischen Praxis angewandte medikamentöse Therapieverfahren bei Hörstörungen auf der Grundlage vorliegender Ergebnisse aus klinischen Studien mit höherem Evidenzgrad dargestellt und vor dem Hintergrund präklinischer Untersuchungen auswahlhaft diskutiert werden. Eine ausführliche Übersicht zur Pharmakotherapie bei Hörstörungen findet sich bei Plontke[24], [25]. Weiterhin wird auf aktuelle Entwicklungen im Bereich klinischer Studien bei der Therapie von Hörstörungen, insbesondere durch lokale Medikamentenapplikation an das Innenohr eingegangen.
Systemische Pharmakotherapie Glukokortikosteroide Die Therapie mit Glukokortikosteroiden (z. B. [Methyl-]Prednisolon, Dexamethason) ist die weltweit häufigste pharmakologische Intervention bei akuten Hörverlusten verschiedener Ursachen. Glukokortikosteroide haben vielfältige Wirkungen in nahezu allen Organen über eine verzögerte, DNA-vermittelte Induktion der Proteinbiosynthese nach Transformation eines intrazellulären Glukokortikoidrezeptors sowie bisher unbekannte Mechanismen mit sofortigem Wirkeintritt. Bei der therapeutischen Anwendung im Rahmen der Innenohrtherapie spielen unter anderem wahrscheinlich folgende Effekte eine wichtige Rolle: 1) antiphlogistische Wirkung: durch Blockade proinflammatorischer Mediatoren; unabhängig davon, ob diese auf bakterielle, virale, immunpathologische, chemische, physikalische oder ischämisch-hypoxische Ursachen zurückzuführen sind, und 2) immunsuppressive Wirkung (z. B. durch Hemmung der Aktivierung von T-Lymphozyten). Durch das Vorhandensein von Glukokortikoid-Rezeptoren im Spiralligament und in der Stria vascularis sind direkte immunsuppressive and antiinflammatorische Wirkungen im Innenohr möglich. Hinzu kommen weitere, z. T. nur in Tierexperimenten untersuchte Wirkungen von Glukokortikosteroiden mit möglichem Einfluss auf die Innenohrhomöostase: a) Stabilisierung der Gefäßbarriere insbesondere für zirkulie-
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Pharmakotherapie bei Hörstörungen – Gegenwärtiger Stand und aktuelle Entwicklungen
rende Entzündungsmediatoren und Immunkomplexe, b) Verminderung der Produktion und Wirkung von Vasopressin, c) Erhöhung der Expression von Aquaporinen (AQP1, AQP3) im Innenohr und d) unterschiedlich stark ausgeprägte mineralokortikoide Wirkung (nach [44]). Glukokortikosteroide besitzen antioxidative Wirksamkeit und aktuelle Untersuchungen weisen auf eine antiapoptotische Wirkung hin (insbesondere von Dexamethason) durch Unterdrückung Stress-induzierter Signalkaskaden in Traumamodellen unter Beteiligung des Transkriptionsfaktors NFkB[6]. Zahlreiche tierexperimentelle Studien zeigten ein Wirksamkeit von Glukokortikosteroiden in verschiedenen Traumamodellen, so zum Beispiel bei 1) akutem akustischen Trauma[38], [43], [47], 2) Aminoglykosid-Ototoxizität[13], 3) Pneumokokken-Meningitis[16], 4) autoimmunassoziiertem Hörverlust[45], 5) Cochleostomie[50] und 6) Insertionstrauma bei CIImplantation[10], [12]. Diese präklinischen Erkenntnisse bilden eine rationale Grundlage für die Anwendung von Glukokortikosteroiden bei akuten Hörstörungen unterschiedlicher Genese. Hinweise für eine Wirksamkeit von Glukokortikosteroiden bei der akuten idiopathischen Hörminderung (Hörsturz) kommen u. a. aus einer retrospektiven Kohortenstudie[1]. Die wenigen randomisierten Studien (mit nur geringen Patientenzahlen), die die Wirksamkeit von Glukokortikosteroiden beim Hörsturz gegen Placebo oder Nulltherapie vergleichen, kommen allerdings zu uneinheitlichen Resultaten. Als Ergebnis einer systematischen Übersicht (Metaanalyse) der CochraneCollaboration wird der Stellenwert der systemischen Glukokortikosteroidtherapie in der Behandlung des Hörsturzes deshalb als noch unklar eingeschätzt[48]. Diese Aussage wird auch durch die Metaanalyse von Conlin und Parnes[8] unterstützt.
Rheologika Neben Infektionen mit neurotropen Viren und Autoimmunprozessen werden mit cochleovestibulärer Hypoxie einhergehende Durchblutungsstörungen als weitere vermutete Ursachen für die Entstehung akuter Hörminderungen (insbesondere bei sonst unbekannter Ursache) genannt. Direkte Beweise für diese Hypothesen beim Menschen fehlen jedoch. In humanen Felsenbeinstudien konnten keine Hinweise auf die genannten Ursachen gefunden werden[21], obwohl einschränkend angemerkt werden sollte, dass morphologische post mortem Untersuchungen nur bedingt geeignet sind, die Frage nach den Ursachen einer akuten Hörminderung zu beantworten, da die Felsenbeine meist nicht im akuten Stadium entnommen wurden. Indirekte Hinweise auf eine Beteilung von Durchblutungsstörungen an der Pathophysiologie akuter Hörminderungen stammen jedoch aus zahlreichen tierexperimentellen Untersuchungen sowie epidemiologischen Erkenntnissen über ein gehäuftes Schlaganfallrisiko bei Hörsturzpatienten[19]. In einer kontrollierten klinischen Studie fanden Desloovery und Mitarbeiter[9] keinen Unterschied in der Hörerholung nach Hörsturz nach Gabe von HES + Pentoxiphyllin oder Plazebo (NaCl 0.9 %). Auch Probst und Mitarbeiter[34] fanden in einer ebenfalls randomisierten klinischen Studie weder bei akustischem Trauma noch bei Hörsturz Unterschiede bezüglich des relativen Hörgewinns, wenn die Patienten mit Dextran und Pentoxifyllin, NaCl 0,9 % und Pentoxifyllin oder mit NaCl 0,9 % und Placebo behandelt wurden. Allerdings berichten Klemm und Mitarbeiter[17], basieren auf einer post hoc Analyse der Daten ihrer randomisierten Studie, über die Wirksamkeit von HES gegenüber Placebo (Glucose 5 %) bei Patienten mit Bluthochdruck und/oder ohne Hörverbesserung innerhalb von 48 Stunden nach Hörsturz.
Pharmakotherapie bei Hörstörungen – Gegenwärtiger Stand und aktuelle Entwicklungen
Antioxidantien und antiexzitotoxische Therapie Umfassende Untersuchungen in Tierexperimenten haben Aufschluss über wichtige pathophysiologische Prozesse der akuten und chronischen Innenohrschädigung gegeben und damit wichtige Anhalte für klinische Therapieansätze geliefert. Wesentliche allgemeine Mechanismen insbesondere akuter Innenohrfunktionsstörungen umfassen die Bereiche oxidativer Stress, Exzitotoxizität und Apoptose (Übersicht in [27]). Verschiedene Ursachen – Schalltrauma, Hypoxie/Ischämie, ototoxische Medikamente und (gewerbliche) Chemikalien – können in der Kochlea zu Störungen des Gleichgewichts zwischen Bildung reaktiver Sauerstoffund Stickstoffverbindungen und endogenen antoxidativen Systemen und damit zu oxidativem Stress führen. Antioxidantien wirken entweder direkt z. B. als Radikalfänger oder indirekt über die Unterstützung endogener antioxidativer Systeme. Klinische Studien mit hohem Evidenzniveau fehlen bisher weitestgehend. Auf Grund des als viel versprechend eingeschätzten Potentiales von Antioxidantien – insbesondere bei akuten akustischen Traumata – sind gegenwärtig mehrere Firmen als Sponsor klinischer Studien tätig: Die Firma Sound Pharmaceuticals Inc. (USA) führt gegenwärtig eine Phase II-Studie mit der Substanz SPI-1005 (Ebselen) durch. Ebselen ist eine organische Selenverbindung, die die zum (protektiven) endogenen antioxidativen System gehörende Glutathion-Peroxidase imitiert und reaktive Sauerstoff- und Stickstoffverbindungen neutralisiert. Ebenfalls in die Phase der klinischen Prüfung (Phase II bei Ototoxizität durch Cisplatin) eingetreten ist die Verbindung MRX-1024, hinter der sich das Antioxidans D-Methionin der Firma Molecular therapeutics, Inc. (USA) verbirgt. Bereits abgeschlossen ist eine randomisierte Studie bei (lärmexponierten) Soldaten mit dem Antioxidans N-Acetyl-Cystein (NAC), die allerdings keinen Nutzen der systemischen NAC-Therapie – u. a. auch bedingt durch die nur geringen
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Hörverluste in der Kontrollgruppe – zeigen konnte (Kopke R., persönliche Mitteilung). Einen weiteren Therapieansatz verfolgt die Firma OTOMedicine (USA) mit ihrem Medikament Auraquell TM , welches eine Kombination aus den Vitaminen A, C und E in Verbindung mit Magnesium darstellt und in klinischen Prüfungen untersucht wird. Hier werden, basierend auf erfolgreichen präklinischen Experimenten, antioxidativ (Vitamine) und antiexzitotoxisch (Mg2+) wirkende Substanzen kombiniert[18]. Die protektive Wirkung von Magnesium (aspartat) basiert vermutlich auf der Blockade des NMDA-Rezeptors und damit einer Verhinderung eines für die afferente Nervenfaser toxisch erhöhten Kalziumeinstroms im Rahmen einer übermäßigen Glutamatausschüttung an den Synapsen der inneren Haarsinneszellen z. B. beim akuten akustischen Trauma. In einer randomisierten, plazebokontrollierten Studie an Rekruten konnte gezeigt werden, dass durch prä- und paraexpositionelle Gabe, d. h. bei präventiver Einnahme von Magnesiumaspartat (167 mg/d) während einer zweimonatigen Phase regelmäßiger Schießübungen Ausmaß und Wahrscheinlichkeit eines permanenten Hörverlustes verhindert werden kann (Übersicht in [25]). Die präventive Gabe von Antioxidantien kann auch vor ototoxischer Schädigung durch Aminoglykoside schützen, ohne dass deren antibakterielle Wirkung vermindert wird. In einer randomisierten, placebo-kontrollierten, klinischen Studie konnte der protektive Effekt von (hochdosierter) Acetylsalicylsäure bezüglich einer Minderung des Hörverlustes durch Gentamicintherapie gezeigt werden[39]. Apoptoseinhibitoren Oxidativer Stress, z. B. durch Ischämie, Lärm, ototoxische Medikamente und Chemikalien kann im Innenohr zur Initiierung von Signalkaskaden des programmierten Zelltodes (Apoptose) führen. Für den peptidischen c-Jun N-terminal Kinase (JNK) – Inhibitor AM111 der Firma Auris Medical (Schweiz) zum Beispiel
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demonstrierten präklinische Untersuchungen eine Wirksamkeit bei verschiedenen Schädigungsmodellen des Innenohres. Weiterhin liegen erste Pilotdaten mit AM 111 auch nach Applikation am Menschen vor[42]. Gegenwärtig wird eine GCP-konforme, multizentrische, randomisierte, placebo-kontrollierte klinische Studie zur Wirksamkeit und Sicherheit von AM111 bei Hörsturz duchgeführt (http:// clinicaltrials.gov/). Eine Besonderheit solcher Apoptose-Inhibitoren ist jedoch, dass sie aufgrund ihrer peptidischen Struktur nicht systemisch sondern nur lokal an das Innenohr appliziert werden können. Da dieser Aspekt wahrscheinlich eine Rolle für zahlreiche zukünftige Medikamente zur Innenohrtherapie spielen wird, soll im folgenden Abschnitt auf die lokale Medikamentenapplikation an das Innenohr gesondert eingegangen werden.
Lokale Pharmakotherapie des Innenohres Die lokale, intratympanale Medikamentenapplikation zur Therapie von Innenohrerkrankungen hat in den letzten 15 Jahren ein steigendes Interesse erfahren. Die rationale Grundlage einer lokalen Medikamentenapplikation besteht 1) in der Umgehung der Blut-Hirn-Schranke, 2) in den bei Tieren und beim Menschen nachgewiesenen höheren intracochleären Medikamentenspiegeln[3], [5], [23] und 3) in den dadurch erwarteten geringeren systemischen Nebenwirkungen. Typische Indikationen für eine lokale Medikamentenapplikation bestehen insbesondere für Medikamente mit systemischer Toxizität oder geringer therapeutischer Breite, mit Metabolismus im Blut oder First-Pass-Effekt in der Leber. Bezüglich der lokalen Medikamentenapplikation an das Innenohr bestehen pharmakokinetische Besonderheiten, welche bei der Anwendung dieser Therapieform berücksichtigt werden müssen. Diese Besonderheiten beru-
hen auf der Tatsache, dass im Vergleich zum systemischen Blutkreislauf die Innenohrflüssigkeiten nicht aktiv durchmischt werden und sich dadurch Substanzen im Wesentlichen passiv durch Diffusion verteilen. Bisherige, vor allem präklinische Untersuchungen zeigten 1) die Bedeutung der Clearance aus Mittelohr und Innenohr von intratympanal applizierten Substanzen[5], [26], [32], 2) die hohe Variabilität intracochleärer Konzentration nach Applikation an die Rundfenstermembran[2], [3], [5], [23], [31] und 3) die fehlende gleichförmige Verteilung mit zum Teil ausgeprägten baso-apikalen Konzentrationsgradienten im Innenohr nach intratympanaler Applikation (z. B. [7], [22], [31], [41]). Die lokale Medikamentenapplikation an die Rundfenstermembran ist aus pharmakokinetischer Sicht auch von besonderer Bedeutung für das Vestibularorgan. Tierexperimentelle Untersuchungen und Interpretationen der Ergebnisse mit Hilfe von 1D- und 3D-ComputerModellen zeigten eine rasche Verteilung der lokal applizierten Substanzen über die laterale Wand der Cochlea (Ligametum spirale) in die Skala vestibuli und in das Vestibulum[29], (Abb. 1). Besonders durch die Lagebeziehung von Rundfenstermembran und Ligamentum spirale im basalen Bereich der Cochlea entsteht ein „pharmakokinetischer Shortcut“ zwischen dem basalen Bereich der Scala tympani und dem Vestibulum welcher die lokale Applikation von Medikamenten an die Rundfenstermembran zu einer interessanten Strategie für die Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen machen kann. Dies wird bereits mit der Gentamicintherapie beim Morbus Menière schon seit mehr als fünf Jahrzehnten ausgenutzt[30], [36]. Neben Lokalanästhetika and Aminoglykosiden wurden auch andere Medikamente meist in kleineren klinischen Fallserien zur intratympanalen Therapie von Innenohrerkrankungen appliziert. Die betrifft z. B. 1) Neurotransmitter und Neurotransmitterantagonisten (Glutamat, Glutaminsäure, Caroverin) bei chronischem
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Abb. 1 3D-Rekonstruktion des Innenohres (Meerschweinchen): Durch die Lagebeziehung von Rundfenstermembran (RFM) und Ligamentum spirale (L. s.) entsteht ein „pharmakokinetischer Shortcut“ zwischen dem basalen Bereich der Scala tympani (Sc. T.) und dem Vestibulum. Dies kann von Bedeutung sein für die Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen durch lokale Applikation von Medikamenten an die Rundfenstermembran. (Grafik: © Alec N. Salt und Ruth Gill, St. Louis, USA, Abdruck mit freundlicher Genehmigung).
Tinnitus[37], 2) monoklonale Antikörper gegen Tumor Nekrose Faktor (TNF) alpha (Infliximab) bei „Autoimmunerkrankung des Innenohres“ (AIED)[46] und – wie oben bereits erwähnt – der Apoptose-Inhibitor AM111 bei akutem akustischen Trauma durch SilvesterFeuerwerkskörper[42]. Am häufigsten werden jedoch gegenwärtig Glukokortikoide insbesondere bei akuter, idiopathischer Hörminderung („Hörsturz“) intratympanal angewandt. Bei der wachsenden Anzahl klinischer Berichte in den letzten zehn Jahren werden Dexamethason- oder Methylprednisolon- Präparate entweder 1) primär, 2) sekundär als „Rettungstherapie“ (oder besser: Reservetherapie) oder 3) in Kombination mit einer systemischen Therapie eingesetzt. Dabei kommen verschiedene Applikationssysteme zur Anwendung: 1) einmalige oder wiederholte intratympanale Injektion mit oder ohne Inspektion der Rundfensternische und mit oder ohne Volumenstabilisierung oder 2) Systeme zur kontinuierlichen, kontrollierten Medikamentenapplikation, wie z. B. Katheter
mit Pumpen oder biodegradierbare Polymere, (Übersicht in [26]), (Abb. 2). Bisher existieren vier randomisierte, kontrollierte, klinische Doppelblind-Studien zur intratympanalen Innenohrtherapie bei Hörsturz, die im Folgenden kurz zusammengefasst werden sollen. In allen vier Studien wurden Glukokortikosteroide verwendet. 1) Ho und Mitarbeiter[14] untersuchten die Hörverbesserung bei Patienten mit Zustand nach erfolgloser systemischer Therapie mit einem Medikamenten-Cocktail (Methylprednisolon, Nicametat, Vitamin B Komplex, Fludiazepam und Carbogen-Inhalation). Der Zeitpunkt des Beginns der lokalen Innenohrtherapie lag bei 20 (11– 60) Tagen nach Hörsturz und der durchschnittliche Hörverlust (6PTA, 0,25 – 8kHz) bei 81,0 (71–115) dB. Die Therapie-Gruppe („lokale Rettungstherapie“) erhielt wiederholte (insgesamt drei) intratympanale Injektionen von Dexamethason-Phosphat (4 mg/ml) im wöchentlichen Abstand. Die Kontroll-Gruppe erhielt keine lokale Therapie. Als Therapieerfolg wurde eine
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Abb. 2 Applikationssysteme zur lokalen Medikamentenapplikation an das Innenohr beim Menschen: A: direkte intratympanale Injektion (Abbildung aus: [26], © S. Karger AG 2006, Zeichnung: Andreas Mücke, Berlin), B: Microotoscope „Model Tübingen“, GYRUS Medical GmbH (früher explorent ®/STUEMED® ): Außendurchmesser: 1,2 mm; enthält einen Kanal mit Faseroptik (0,5 mm, 6.000 Fasern) und zwei Arbeitskanäle (0,27 and 0,3 mm) für Absaugung und gezielte Medikamentenapplikation nach Visualisierung der Rundfenstermembran (Abbildung aus: [28], © S. Karger AG 2002). C: Temporär implantierbarer Katheter für die lokale Medikamentenapplikation an das Innenohr (RWμ/ECathTM ), Abdruck mit freundlicher Genehmigung, © DURECT TM, Cupertino, USA[33]. D: Silverstein Micro WickTM (aus: [40]), Abdruck mit freundlicher Genehmigung, © Micromedics Inc., St. Paul, MN, USA. PR: Pauckenröhrchen, P: Promontorium, * RWμCath (Katherspitze), Pfeile: Amboss-Steigbügel-Gelenk
Verbesserung im Tonaudiogramm von 6PTA > 30 dB gewählt. Entsprechend dieses Kriteriums verbesserten sich acht von fünfzehn Patienten (53,3 %) mit lokaler Rettungstherapie aber nur einer von vierzehn Patienten (7,1 %) in der Kontrollgruppe (p < 0,05). Die durchschnittliche Hörschwellenverbesserung in der Therapiegruppe betrug 28,4 dB und in der Kontrollgruppe 13,2 dB. 2) Xennellis und Mitarbeiter[49] untersuchten die Hörverbesserung bei Patienten bei Zu-
stand nach erfolgloser systemischer Therapie mit systemischer Gabe von Glukokortikoiden. Der Zeitpunkt des Beginns der lokalen Innenohrtherapie lag bei 10 Tagen nach Hörsturz und der Hörverlust (4PTA, 0,5 – 4kHz) bei > 30 dB (absolut) oder > 10 dB schlechter im Vergleich zum Gegenohr. Die TherapieGruppe („lokale Rettungstherapie“) erhielt wiederholte (insgesamt vier) intratympanale Injektionen von Methylprednisolon-Acetat (40 mg/ml) innerhalb von 15 Tagen. Die
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Kontroll-Gruppe erhielt keine lokale Therapie. Als Definition für den Erfolg wurde eine Verbesserung im Tonaudiogramm von > 10 dB (4PTA) festgelegt. Dieses Kriterium wurde bei 9 von 19 Patienten mit lokaler Rettungstherapie (47.3 %) und bei keinem von 18 Patienten (0 %) der Kontrollgruppe erreicht (p < 0,005). Die durchschnittliche Hörschwellenverbesserung in der Therapiegruppe betrug 14,9 dB und in der Kontrollgruppe 0,8 dB. Unter den kritisch zu diskutierenden Aspekten dieser Studie sind u. a. das Erfolgskriterium von 10 dB und die vollständig fehlende Erholung in der Kontrollgruppe zu sehen, welche im Widerspruch zu zahlreichen anderen Publikationen steht (Vergleiche z. B. [14]: Kontrollgruppe: + 13.2 dB.). 3) Battaglia und Mitarbeiter[4] verglichen die Ergebnisse bezüglich der Hörverbesserung bei primärer (!) intratympanaler Therapie mit denen bei systemischer oder kombinierter (systemischer und lokaler) Therapie bei Patienten mit Hörsturz vor weniger als 6 Wochen und ohne sonstige Vorbehandlung im Rahmen einer randomisierten, Placebo-kontrollierten Studie. Dabei erhielten die Patienten in Gruppe A (n = 17, „lokal“) intratympanale Injektionen mit Dexamethason (3 Injektionen in 3 Wochen) und ein systemisches Placebo, in Gruppe B (n = 18, „systemisch“) intratympanal ein Placebo und systemisch Prednisolon und die Patienten aus Gruppe C (n = 16, „kombiniert“) intratympanal Dexamethason und systemisch Prednisolon. Der Beginn der Therapie betrug für die verschiedenen Gruppen: A) lokal: 11 ± 14 Tage, B) systemisch: 7±6 Tage und c) kombiniert: 4 ± 3 Tage. Der Hörverlust vor Therapie (PTA0,5 – 2 kHz/Einsilberverständnis) war in den Gruppen: A) 82 ± 82 dB/24 ± 38 %, B) 80 ± 27 dB/34 ± 40 % und C) 75 ± 23 dB/41 ± 40 %. Die Ergebnisse der durchschnittlichen Hörverbesserung betrugen in den Gruppen (Differenz PTA0,5 – 2kHz/Differenz Einsilberverständnis/Anzahl Patienten > 15 dB Verbesserung): A) 31 dB/36 %/12 von 17 Pat., B) 21 dB/20 %/8 von 18 Pat. und in Gruppe C) 40 dB/44 %/14 von 16 Patienten.
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Die Arbeit wurde jedoch wegen mehrer Unzulänglichkeiten bzw. Bias stark kritisiert. Rauch und Reda[35] stellten heraus, dass sich bei der Auswertung des primären Zielkriteriums kein signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen fand (p=0,08). Die Fallzahlabschätzung nach der Zwischenanalyse ergab 92 Patienten per Gruppe und die Zwischenanalyse wurde trotzdem als Endanalyse ausgeführt. Zusätzlich fanden sich Baseline-Unterschiede zwischen den Gruppen (insbesondere) der frühe Behandlungsbeginn in der Gruppe mit kombinierter (systemischer und lokaler Therapie). 4) Plontke und Mitarbeiter[33] untersuchten im Rahmen einer randomisierten, Placebokontrollierten, Doppelblind-Studie die Hörverbesserung bei 23 Patienten mit akutem, idiopathischem, hochgradigem Hörverlust oder akuter Surditas nach erfolgloser systemischer Therapie. Zwölf bis 21 Tage nach dem Ereignis erfolgte die kontinuierliche Applikation von Dexamethason (4 mg/ml) oder Placebo (NaCl 0,9 %) in die Rundfensternische für 14 Tage über einen temporär implantierten Mikro-Katheter. Wenn während dieses Zeitraumes keine vollständige Hörerholung eintrat, wurde die Therapie mit der Verum-Medikation weitergeführt. In der vom BfArM geforderten Zwischenauswertung (ITT-Analyse) fand sich während der Placebo-kontrollierten Studienphase (14 Tage) in der Therapiegruppe eine durchschnittliche Hörverbesserung um 13,9 dB (95 % CI: – 0,4; 28,2) im Tonaudiogramm (4-PTA 0,5 bis 3 kHz) im Vergleich zu 5,4 dB (95 % CI: – 2,0; 12,9) in der PlaceboGruppe. Dieser Unterschied war statistisch nicht signifikant (p = 0,26). Das maximale Einsilberverständnis verbesserte sich während der Placebo-kontrollierten Studienphase (14 Tage) in der Therapiegruppe um 24,4 % und in der Placebogruppe um 4,5 % (p = 0,07). Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die intratympanale Medikamentenapplikation bei der Therapie von Innenohrerkrankungen eine für die Zukunft viel versprechende Ergänzung oder sogar Alternative
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zur systemischen Therapie darstellen wird. Grundsätzlich erscheint die intratympanale Applikation von Glukokortikosteroiden (Dexamethason-Phosphat oder MethylprednisolonAcetat) bei Patienten nach erfolgloser systemischer Therapie als Reservetherapie sinnvoll. Trotz der derzeit noch nicht eindeutigen Datenlage kann dieser Therapieversuch zumindest bei hochgradigem Hörverlust in Betracht gezogen werden. Die Durchführung weiterer, qualitativ hochwertige klinischer Studien auf diesem Gebiet insbesondere mit modernen Medikamententrägern zur kontrollierten Freisetzung ist jedoch erforderlich.
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Erkrankungen des Innenohres wie die Altersschwerhörigkeit, der peripher-vestibuläre Schwindel und Tinnitus sind weit verbreitet. Eine kausale Therapiemöglichkeit besteht jedoch auch heute noch nicht. Vielmehr führen wir eine empirische rheologisch-antiphlogistische Therapie durch, deren Kostenerstattung inzwischen unter Druck geraten ist. Gerade der demographische Wandel führt mit größter Wahrscheinlichkeit zu einem erheblichen Anstieg der Zahl Betroffener. So wird die Zahl der über 80-jährigen Mitmenschen in Deutschland bis 2025 um 70 % zunehmen (Bertelsmann-Stiftung). Bis 2035 soll jeder dritte Deutsche älter als 65 Jahre alt sein (Statistisches Bundesamt). Dies bedeutet, dass bis zu diesem Zeitpunkt geschätzte 10,4 Mio. Menschen über 65 Jahren durch ihren Hörverlust in der Kommunikation und damit in ihrer Fähigkeit zur Teilnahme am Leben beeinträchtigt sein werden. Hinzu tritt der Schwindel, der wohl mit für eine Anzahl von Stürzen im Senium verantwortlich sein dürfte. Gerade Stürze sind wiederum mit ihren Folgeerscheinungen wie die klassische Schenkelhalsfraktur Prädiktoren für einen anschließenden Pflegeheimaufenthalt. Es scheint also geboten, der Rehabilitation der Haarsinneszellen im Innenohr, sowohl in der Cholera als auch im Gleichgewichtsorgan besonderes Augenmerk zu schenken. Das Innenohr bietet sich als ideales Ziel für Molekularmedizinische Überlegungen an. Es bietet mit seinen definierten, in sich im Wesentlichen abgeschlossenen Flüssigkeitsräumen ein geringes Zielvolumen an. In diesem
kann ein Agens mit maximierter Konzentration an den gewünschten Wirkort gebracht werden. Es könnte auch ein therapeutisches Protein spezifisch exprimiert werden. Durch die Lage und die Wirkstoffmenge könnte im Idealfall eine systemische unerwünschte Wirkung vermieden werden. Dies würde eine größere Sicherheit auch gegenüber einer möglichen systemischen pharmakologischen Therapie darstellen, der Beweis hierfür steht letztlich jedoch noch aus. Das Nervenwachstum und ihren Erhalt steuernde Neurotrophine wie NT-3[6] und GDNF[23] hatten gezeigt, im Bereich der Spiralganglienzellen der Cochlea nach einem Trauma protektiv zu wirken. Es wurde ein gentherapeutischer Ansatz gewählt, der das gewünschte Produkt in der Zielzelle zur Expression bringen würde. Adenovirale Vektoren hatten diese Fähigkeit experimentell gezeigt[51], [59]. Dennoch wurde das Modell des HSV-basierten viralen Vektors bevorzugt, da dieses über einen Neurotropismus verfügt, der insbesondere durch den HSV-eigenen Promotor IE4/5 begründet wird[28]. Mit anderen Promotoren, etwa dem CMV-Promotor, konnten HSV-Vektoren auch andere Gewebe des Innenohres, etwa die Stria vascularis oder die Stützzellen des Corti-Organs transfizieren[5], [47]. Zum Zeitpunkt der Studie zeigte nur der hier verwendete HSV-Vektor ein streng neurotropes Transfektionsmuster. Es sind bislang eine Vielzahl von Vektoren für die Gentherapie am Innenohr getestet worden, unter anderen Sendai-Viren[20], Lentiviren[1], Adeno-assoziierte-Viren (AAV)[29], Vaccinia-
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Gentherapie des Innenohres
viren[5]. In der neueren Literatur scheint sich die Hauptanstrengung auf die AAV und Adenovektoren zu konzentrieren. Das ist auch auf die relativ einfach beherrschbare Vektorproduktion zurückzuführen. Durch kommerziell verfügbare Kits können gewünschte Gene in Vektoren solche Vektoren in jedem molekularbiologischen Labor kloniert werden. Auch das potentielle Sicherheitsrisiko, das mit den Adenoviren verbunden wurde, seit bei einem systemischen humanen Therapieversuch ein Todesopfer zu beklagen war, ist angegangen worden[40]. Durch die Deletion der Genregionen E1, E3 und E4 ist die Immunogenität des Vektors erheblich herabgesetzt worden. Dies ist auf die geringere Expression körperfremder, viruseigener Antigene zurückzuführen. Wichtig ist auch die Immunität, die durch einen Kontakt mit dem Wildtyp des Virus verursacht wird. Hierbei ist in der Bevölkerung ein neutralisierender Antikörper-Titer bei bis zu 97 % nachweisbar[4]. Dies betrifft insbesondere den Serotyp 5 der Adenoviren. Dies kann die Effektivität einer Gentherapie beeinträchtigen, indem die Vektoren schon bei der Applikation durch eine Immunreaktion inaktiviert werden. Auch eine wiederholte Anwendung kann so zum Problem werden, da die Immunantwort hierauf erheblich gesteigert werden kann, was insbesondere bei systemischer Anwendung die Leber betrifft[55]. Die Berechenbarkeit der Dosierung und der zu erwartenden Wirkung der Virusvektoranwendung wird hierdurch erschwert. Um dieses Immunproblem zu vermeiden, sind verschiedene Maßnahmen denkbar. So kann die Wahl auf einen anderen Serotyp fallen, 51 humanpathogene davon sind bislang bekannt. Das Grundgerüst (backbone) des Vektors kann auch auf einem bovinen oder porcinen Serotyp beruhen, in der allgemeinen Bevölkerung ist hier keine Immunantwort zu erwarten, anders kann dies jedoch bei Beschäftigten im landwirtschaftlichen Bereich aussehen[9]. Weiter kann der Vektor gleichsam „eingepackt“ werden, in dem er von Polymeren umhüllt wird[7]. Auch kann die Antigen-
Eigenschaft der Oberflächenstrukturen des Viruskapsids verändert werden. Dies verändert nicht nur die Antwort des Immunsystems. Vielmehr kann hierdurch auch die Zielrichtung der Transfektion verändert werden. Während in erster Linie der Coxsackie-Adenovirus-Rezeptor (CAR) für den Eintritt des Virus (und damit auch des Adenovektors) in die Zielzelle verantwortlich gemacht wird, existieren auch alternative Wege. So kann beispielsweise über die an der Zelloberfläche präsentierten Heparinsulfate ein kontaktvermittelter Eintritt ins Zytoplasma nachgewiesen werden[42]. Durch eine solche Erhöhung der Spezifität der Viruskapsidbindung an Zelloberflächen kann gleichzeitig die Gesamtmenge des applizierten Vektors reduziert werden, da die Verteilung auch durch die zelluläre Aufnahme mit beeinflusst wird. Eine geringere Dosis wiederum ist vorteilhaft in Hinblick auf die Vermeidung unerwünschter Effekte. In den Modellen der Hörforschung werden unterschiedliche Tiere eingesetzt. Das Meerschweinchen ist aufgrund der leichten Exposition seiner Cochlea dabei sehr beliebt. Sein Hörvermögen im Tieftonbereich ist ein Vorteil der Gerbils. Insbesondere bei der Untersuchung von Fragestellungen im Zusammenhang mit den Cochlea-Implantaten werden auch Katzen verwendet. Für gentherapeutische Fragestellungen wird insbesondere auf die Etablierung der Methoden in Mäusen wertgelegt. Mäuse haben den Vorteil der guten genetischen Kartierung. Eine Vielzahl von Krankheitsmodellen des Innenohres kann in ihnen genetisch abgebildet und erforscht werden. International sind verschiedene Mutagenesis-Programme mit Mäusen aufgelegt, um hierdurch Zusammenhänge von Genotyp und Phänotyp aufzuklären. Zudem ist die genetische Information über weite Gebiete dem Menschen vergleichbar, was eine translationelle Forschung ermöglicht. Klare Nachteil der Mausmodelle sind die geringen Dimensionen, die einen chirurgischen Zugang erschweren. Bislang wurden häufig deutliche Hörverluste im Tiermodell in kauf genommen.
Gentherapie des Innenohres
Abb. 1 Eine lokale Applikation eines Agens ist am Korrosionspräparat eines Felsenbeines der Maus dargestellt. Es ist über die Membran des runden Fensters, über den Utriculus, eine konventionelle Cochleostomie möglich. Im Menschen wäre auch eine Perforation de Stapesfußplatte denkbar; in der Maus ist dies bei persistierender Arteria stapedialis nicht möglich. Modifiziert nach [39].
Hier konnten wir zeigen, dass das Ausmaß der Schädigung vom Zugang und vom applizierten Volumen abhängig ist. Ein Schutz des verbliebenen Gehörs war im Tiermodell möglich. In der Maus sind im Wesentlichen drei Zugangswege zum Innenohr möglich. So ist die Applikation über die Membran des Runden Fensters (RFM)[47], über eine Öffnung in der knöchernen Wand der basalen Windung (Cochleostomie) und im Bereich der Bogengänge beschrieben[18], [22]. In der eigenen Arbeitsgruppe haben wir hierzu die Möglichkeit der Applikation über den Utrikulus (Utriculostomie) hinzugefügt. Der Vorteil hiervon liegt in der verhältnismäßig großen flüssigkeitsgefüllten Zisterne, die einen langsam injizierten Bolus aufzunehmen vermag. Potentiell schädigende Drucksteigerungen können auch über den Aquäductus cochlearis abgefangen werden. Die Injektionsstelle liegt außerhalb des Sinnesepithels der Cochlea, dennoch hat der Flüssigkeitsraum direkten Zugang hierzu. Zur Anwendung im Menschen etabliert wind bereits zwei Zugangswege: über eine Cochleostomie im Bereich der basalen Windung und über die RFM. Die Cochleostomie wurde zunächst bei komplett tauben Menschen ein-
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gesetzt. Inzwischen zeichnet sich ab, dass mittels einer behutsamen „soft surgery“ Operationstechnik eine unmittelbare Schonung eines verbliebenen Tiefton-Restgehörs möglich ist. Teils wird hierbei eine verkürzte Reizelektrode in die Cochlea eingebracht. Im Bereich der basalen Windung liegt jedoch auch das für das Hochtongehör verantwortliche Sinnesepithel. Eine Schädigung in diesem Bereich ist durch die Manipulation am Knochen auf jeden Fall zu sehen[33]. Zwar konnte sie in unseren tierexperimentellen Untersuchungen durch den Einsatz eines Lasers vermindert werden, der als weniger traumatisierend eingeschätzt wird. Eine Schädigung des Hörvermögens gegenüber dem unbehandelten Ohr lag jedoch vor. Der Weg über die Membran des intakten Runden Fensters wird beim Menschen beispielsweise bei dem akuten, therapieresistenten Hörsturz[54] oder bei Morbus Menière[14] angewendet. Aber auch eine gezielte Perforation der RFM mit anschließendem Abdecken konnte mit erfolgreichem Hörerhalt gezeigt werden[15], [46]. Wir konnten hier zeigen, dass diese Maßnahmen auch in der Maus ohne Beeinträchtigung des Hörvermögens möglich sind. Neben dem Zugangsweg zeigt das Injektionsvolumen den größten Effekt. Hierbei zeigten sich keine Unterschiede, ob ein viraler Vektor oder ein gleich großes Volumen artifizieller Perilymphe appliziert wurde. Ein Volumen von bis zu einem μl konnte unter dem Erhalt des Hörvermögens injiziert werden, wobei es zu einer Expression des Reportergens GFP in den sensorischen Zellen des Innenohres kam. Ein größeres Volumen wie etwa 3 μl war jedoch mit einem deutlichen Hörverlust verbunden. Der Zusatz eines Pancaspase-Inhibitors konnte diesen Volumeneffekt jedoch aufheben. Caspase-Inhibitoren können den Apoptose-Weg der Zellen unterbinden und damit den Zelltod verhindern[50], [53]. Es ist zu vermuten, dass der hydraulische Schädigungseffekt über den Apoptose-Weg geschieht. Den Schutz durch die Caspase-Inhibitoren macht man sich auch experimentell zur Verhinderung der Ototoxizi-
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tät des häufig in der Tumortherapie verwandten Cisplatins zu nutze[58]. Caspase-Inhibitoren könnten jedoch auch in der Chirurgie der Cochlea-Implantate Eingang finden und hierbei ein vorhandenes Restgehör schützen. Denn auch hier ist bei der Insertion der Elektrode von einem hydraulischen Trauma auszugehen. Aminoglycoside sind als die sensorischen Epithele des Innenohres schädigende Agenzien bekannt. Während es beispielsweise bei Vögeln zu einer Regeneration von Sinnesepithel in der Cochlea kommt, ist dies bislang bei Säugetieren nicht beobachtet worden. Eine Ausnahme stellt hierbei das sensorische Epithel im Bereich der vestibulären Organe dar. Hier ist eine Regeneration nach einer Schädigung durch Aminoglycoside beschrieben[8], [27], [52]. Dies kann durch die längerfristige lokale Gabe von Neurotrophinen unterstützt werden. Vorteilhafter scheint jedoch die einmalige Gabe eines Vektors. Haarzellen, die in den mit Aminoglycosid geschädigten und anschließend Math1-behandelten Explantaten auftreten sind nicht aufgrund eines mitotischen Geschehens entstanden sondern durch Transdifferenzierung aus Stützzellen. Die Analyse der Daten in vitro zeigt, dass ca. 60 % der durch das Aminoglycosid zerstörten Haarzellen nach der Math1-Behandlung wieder hergestellt sind. Dies geht mit einer geringeren Epitheldicke einher, was die Transdifferenzierung ebenfalls wahrscheinlich macht, da hierbei keine neuen Zellen durch Teilung entstehen. Im Bereich des auditorischen Sinnesepithels konnten wir keine Regeneration von Haarsinneszellen beobachten, obwohl auch die eigenen Vorarbeiten zeigten, dass mit einer gleichmäßigen Verteilung der injizierten Partikel zu rechnen ist[38], [47]. Andere Arbeitsgruppen hatten darauf hingewiesen, dass eine Injektion des Vektors direkt in den endolymphatischen Raum notwendig sein könnte, um eine Regeneration von Haarsinneszellen in der Cochlea zu erzielen[17], [21]. Woran dies liegt ist nicht klar. Es könnte jedoch an der Konzentration des Vektors, an
einem möglichen zusätzlichen Trauma oder auch an einem anderen Zugang liegen. Die Lage der Stütz- und Haarzellen zwischen Endo- und Perilymphe scheinen eine Injektion in den Endolymphraum jedoch nicht zwingend geboten erscheinen. Eine Expression des Reportergens GFP konnte im Bereich der inneren und äußeren Haarzellen sowie deren Stützzellen auch bei der Applikation in den Perilymphraum zeigen. Neuere Untersuchungen über Morphologie und mögliche Funktion des Saccus endolymphaticus geben Anlass zu Zweifeln an der Theorie eines „Überdruckventils“. Vielmehr scheint die Flüssigkeit eher durch Macrophagen phagozytiert zu werden als einer Resorption zu unterliegen[41]. Unter diesen Voraussetzungen scheint eine Vermeidung eines hydraulischen Traumas nur schwer zu erzielen zu sein. Das eingebrachte Vektorvolumen würde dann vergleichbar eines endolymphatischen Hydrops schädigen können. Die funktionelle Testung ist für die Abschätzung eines therapeutischen Erfolges wesentlich. Etabliert ist im Bereich des Gleichgewichts der Schwimmtest bei Mäusen. Dieser wird in der Literatur bei Studien zur Genetik des Verlustes der Gleichgewichtsfunktion in der Ratte und der Maus[11], [19], der Ototoxizität und bei einem Meerschweinchenmodell der Menière’schen Erkrankung[45] beschrieben. Während gleichgewichtsgesunde Mäuse zielgerichtet zu schwimmen vermögen, ist dies bei einem (Teil-) Ausfall des Gleichgewichtsorgans nicht mehr möglich. Dies zeigt sich in unkoordinierten Schwimmbewegungen, kreisförmig-ungerichtetem Schwimmen oder, in Ausnahmefällen, in einer Unfähigkeit zu schwimmen. Eine präzisere Beurteilung des Gleichgewichtsorganes wird durch die Aufzeichnung des Vestibulo-okulären Reflexes möglich. Während diese Messung für größere Nager wie Meerschweinchen mehrfach beschrieben wurde, ist die Methode bei Mäusen bislang nur selten verwendet worden. Gemessen werden „gain“ und „phase“. Der gain ist hierbei der Quotient aus der Winkelabweichung des Auges und der Winkelabweichung
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Abb. 3 Abb. 2 Die Expression des grün fluoreszierenden Proteins (gfp) als Reportergen einer erfolgreichen Transfektion der Innenohrstrukturen ist zu sehen. Die neuralen Struktruen des Modiolus sowie die Spiralganglien mit ihren Ausläufern zum Corti-Organ sind zu erkennen. Modifiziert nach [36]
des Kopfes bei der Drehung. Die Phase bezieht die maximale Winkelgeschwindigkeit der Augenbewegung auf die der Kopfbewegung. Die Methode der Wahl sind hierbei auf die Sklera aufgebrachte Suchspulen. Dies ist aufwändig und ergibt niedrige Werte, die zudem im Dunklen an der wachen Maus erhoben werden müssen. Dennoch gelingen dabei gute, verwertbare Ergebnisse. Es ist jedoch auch eine Testung auf einem komplexen tierexperimentellen Drehstuhl möglich. Hierbei ist eine achsengerechte Stimulation aller Komponenten des Gleichgewichtsorgans der Maus möglich. Gleichzeitig können dabei einzelne Nervenfasern der Gleichgewichtsorgane gezielt elektrophysiologisch abgeleitet werden. Da es bislang im Gleichgewichtsorgan noch kein technisches Hilfsmittel, vergleichbar etwa dem Cochlea-Implantat gibt ist hier eine Suche nach einer Behandlungsmöglichkeit wichtig und drängend. Die technische Herausforderung für ein solches Gerät ist auch erheblich und nicht rasch zu lösen[34], [57]. Eine Möglichkeit der Regeneration von Haarsinneszellen wäre hier gut. Das menschliche
Eine Übersichtsaufnahme des Innenohres. In grün sind die neuralen Strukturen gefärbt, blau ist die DAPI-Kernfärbung. Rot zu sehen sind die cy3-markierten Nanopartikel in den Spiralganglien und ihren Axonen. Modifiziert nach [36]
Innenohr scheint im Bereich des Gleichgewichtssinnes auch ein latentes Potenzial für eine Regeneration zu haben. Dies könnte die vereinzelten Berichte einer wieder hergestellten Gleichgewichtsfunktion nach Aminoglycosidschädigung beim Menschen erklären. Während das Ziel der Haarsinneszellregeneration sich klar abzeichnet, ist der Weg dorthin noch nicht abschließend geklärt. Virale Vektoren zeichnen sich zwar durch ihre hohe Transfektionseffizienz aus, auch der biologische Sicherheitsaspekt ist durch die Deletion von viralen Genabschnitten berücksichtigt. Der Gedanke bei einer nicht lebensverkürzenden Erkrankung wie der Schwerhörigkeit einen auf der Basis eines potenziell pathogenen Erregers aufgebauten Vektor in der Nähe des Gehirns appliziert zu bekommen mag Vielen nicht behagen. Das Konzept eines nichtviralen Vektors könnte hier Abhilfe schaffen. Eigene und andere Vorarbeiten hatten gezeigt[47], dass die Transfektionseffizienz nichtviraler Agenzien wie etwa Liposomen niedrig ist. Gleichwohl sind neuere Entwicklungen wie baumförmig verzweigte Dendrimere geeignet, DNA in Zellen einzuschleusen. Die Enden der Zweigstrukturen können funktionell verändert werden, um damit spezifischere
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oder bessere Bindungseigenschaften zu verknüpfen[32]. Mit der sich rasch entwickelnden Nanotechnologie werden Materialien zum Teil völlig neue Eigenschaften vermittelt. Die Teilchen, die eine Partikelgröße von 5 bis 200 nm haben können Oberflächenbeschichtet werden und damit Bindungsdomänen oder auch eine genetische Information tragen. Diese kann somit in die Zellen eingeschleust und dort abgelesen werden. Siliziumbasierte Nanopartikel, die wir mit dem Fluoreszenzfarbstoff Cy3 markiert hatten konnten nach einer Applikation vor die intakte Membran des runden Fensters in den Geweben des Innenohres nachgewiesen werden. Hiermit konnte der invasivere Schritt einer Cochleostomie vermieden werden. Ebenfalls konnte das Hörvermögen bewahrt bleiben. Dies weist auf eine schonende Applikation und auf eine sichere Anwendungsmöglichkeit hin. Für die siliziumbasierten Nanopartikel, auch in Kombination mit DNA, wird keine signifikante Zelltoxizität berichtet[24], [25]. Dennoch haben wir in unserer Studie das Muster der Verteilung von Partikeln im Innenohr untersucht, nicht die Expression eines Genes. Die Verteilung ist jedoch Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Insbesondere der Diffusion von Partikeln in der Perilymphe widmen sich zahlreiche Arbeiten[35], [44], [43]. Wir konnten hier über die Vorhersagen des Computermodells hinaus eine Verteilung bis in die apikale Windung der Cochlea beobachten. Ein Transport von Farbmarkern auch über die Synapsengrenzen hinweg ist bekannt[56]. Auch konnte durch die Injektion von Fluorogold oder fast blue in die Cochlea von Javaaffen in vivo der Nucleus cochlearis angefärbt werden[30]. Weitere Arbeiten haben medialen Corpus geniculatum der Katze[31], die Fasern zum Nucleus suprageniculatum der Ratte[26], die Faserverläufe von Nucleus cochlearis anteroventralis zum Nucleus olivaris superior lateralis im Wiesel[13] und der olivocochleären Neurone der Ratte[3] mit Farbstoffen transsynaptisch untersucht. Wir beobachteten eine klare Markierung von
Neuronen der zentralen Hörbahn über eine Farbstoffapplikation vor die intakte Rundfenstermembran zeigen. Dies ist unter dem Gesichtspunkt der Schonung des Innenohres im Rahmen eines solchen therapeutischen Vorgehens wichtig. Während die meisten Untersuchungen sich mit der Therapie der Haarsinneszellen beschäftigen, da diese die mechanoelektrische Transduktion ausführen[12], [17], [48], [49], darf dennoch der zentralere Abschnitt des Hörsinnes nicht aus den Augen verloren werden. Es gibt zunehmend Hinweise, dass zentrale Komponenten bei weit verbreiteten Erkrankungen wie Tinnitus oder auch den Folgen des Alterns eine deutliche Rolle spielen[2], [10], [16]. Dem muss auch die Suche nach geeigneten Therapeutika und deren Applikation Rechnung tragen.
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Versorgung resthöriger Patienten mit einem neuen hörerhaltenden Cochlea-Implantat-System A. Büchner, A. Lesinski-Schiedat, J. Pesch, T. Lenarz
Einleitung Cochlea-Implantat (CI) Patienten erreichen heute ein Hörvermögen, welches vor einigen Jahren noch undenkbar schien. War früher das Ziel das Wahrnehmen von Geräuschen, um sich im Alltag besser orientieren zu können, erwarten heute versorgte Patienten ein offenes Sprachverstehen, also die problemlose Kommunikation sowohl im Alltag als auch über Telefon. Enorme Fortschritte in der Implantattechnik, insbesondere in den Bereichen Elektrodenentwicklung und Signalverarbeitung haben neben modernen Rehabilitationsmaßnahmen und verfeinerten Operationstechniken wesentlich zum gesteigerten Hörvermögen der Patienten beigetragen. Konsequenter Weise sind die Indikationskriterien für die Versorgung mit einem Cochlea-Implantat mit zunehmendem Fortschritt der Technologie weiter in den Bereich der Resthörigkeit verschoben worden. Wurden vor 20 Jahren nur komplett ertaubte erwachsene Patienten mit einem CochleaImplantat versorgt, so geschieht heute eine Routineversorgung bei Patienten mit einem Hörvermögen von bis zu 40 % im Freiburger Einsilbertest. Selbstverständlich gehört auch längst die Versorgung tauber oder hochgradig schwerhöriger Kinder zum Alltag in den Implantationszentren. Einhergehend mit der neuen Elektrodentechnologie und einer verbesserten Operationstechnik konnte auch der postoperative Erhaltungsgrad des Restgehörs der Patienten
kontinuierlich gesteigert werden[17], [8], [11], [14]. Denn obwohl die Hörleistung mit dem Cochlea-Implantat bemerkenswert ist, besitzt das normale Hören, wenn es nicht zu stark geschädigt ist, weiterhin erhebliche Vorteile, gerade in Bezug auf Klangqualität, Hören im Störlärm oder das Hören von Musik. Es ist somit keineswegs verwunderlich, dass sich Patienten mit nutzbarem Restgehör am oberen Ende der CI-Indikationskriterien einen Erhalt ihres natürlichen Hörens wünschen. Eine interessante Patientengruppe stellen in diesem Zusammenhang die Patienten mit nur leichtem bis mittelgradigen Tieftonhörverlust dar. Hier ist oftmals ein Restgehör bis 500 Hz oder gar bis 1.000 Hz vorhanden, welches in diesen Frequenzbereichen durchaus im Bereich der Normalhörigkeit liegen kann[17], [13]. Viele Patienten mit fortgeschrittener Altersschwerhörigkeit, die sich i. A. auf höherfrequente Bereiche des Hörens erstreckt, zeigen ein relativ stabiles tieffrequentes Restgehör unter 1.000 Hz, können jedoch aufgrund ihres starken Hörverlusts im Hochtonbereich nur unbefriedigend mit konventionellen Hörgeräten versorgt werden[3], [10]. Verschiedene Untersuchungen bei CochleaImplantat Patienten mit Restgehör im tieffrequenten Bereich zeigten deutlich verbesserte Hörresultate in problematischen Hörsituationen bei Verwendung dieses Resthörvermögens zusätzlich zum elektrischen Hören über das Cochlea-Implantat. Dies betrifft sowohl die bimodale Versorgung, bei der ein Restgehör auf der nicht implantierten Seite zum
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Einsatz kommt[2], [15], als auch insbesondere die Hybridversorgung mit einem Cochlea-Implantat und einem Hörgerät auf der ipsilateralen Seite bei Erhalt des Restgehörs trotz Cochlea-Implantation[8], [11], [5]. Gerade die klassischen Problemsituationen wie Hören im Störgeräusch (Cocktail-Party-Effekt) bereiten den Patienten mit kombiniertem akustischen und elektrischen Hören deutlich weniger Schwierigkeiten, als Patienten, die ausschließlich über ein Cochlea-Implantat hören können. Bisher jedoch steht dem potentiellen Gewinn durch die Hybridversorgung die Gefahr des Verlustes eines u. U. nicht unerheblichen Restgehörs gegenüber, so dass die Versorgung resthöriger Patienten stockt. Die bisher für den Zweck des Hörerhalts zum Einsatz gekommenen CI-Systeme und damit einhergehende Implantationstechniken erlaubten nur eine begrenzte Erfolgsaussicht von ca. 80 % – 85 %[16], [13]. Bessere Erfolgsaussichten für einen Hörerhalt nach Implantation bietet das Nucleus Hybrid-S Cochlea-Implantat der Fa. Cochlear mit besonders kurzer Elektrode von 10 mm Länge und einer Kontaktanzahl von nur 6 statt 22 beim konventionellen Cochlea-Implantat der Fa. Cochlear[6], [5]. Die Elektrode wird in die basale Windung der Cochlea eingeführt und dient ausschließlich der Übertragung hochfrequenter Signalanteile ab etwa 1.000 Hz. Obwohl dieses System im Hybridbetrieb bei erfolgreichem Erhalt des Tieftonrestgehörs gute Resultate erzielt[5], birgt die geringe Kontaktanzahl das Risiko, bei zunehmender Verschlechterung des Restgehörs, die Reimplantation mit einem konventionellen Cochlea-Implantat angehen zu müssen, da bei Verlust des Restgehörs ein zufriedenstellendes Hören über die sechskanalige Elektrode allein nicht zu erwarten ist. Aus diesem Dilemma könnte ein neu gestalteter Elektrodenträger mit einer speziell darauf abgestimmten Operationstechnik führen, der explizit für den Erhalt von Resthörigkeit entwickelt wurde[14] und dabei den vollen Kontaktumfang des 22-kanaligen Cochlea-
Implantat-Systems „Freedom“ der Fa. Cochlear besitzt. Dieses Nucleus Hybrid-L System wurde in einer Studie an der Medizinischen Hochschule Hannover in einer definierten Patientengruppe evaluiert, deren bisherige Ergebnisse im Folgenden vorgestellt werden. Die Studie ist in Übereinstimmung mit der ISO 14155 (Klinische Prüfung von Medizinprodukten an Menschen) durchgeführt worden und befolgt die GCP-Richtlinien. Vor Studienbeginn wurden die schriftliche Bewilligung und die aufsichtsbehördliche Zustimmung im Einklang mit den nationalen Gesetzen durch das Medizinische Ethik-Komitee erteilt.
Das Hybrid-L CochleaImplantat System Das verwendete Cochlea-Implantat basiert auf dem Freedom-System der Fa. Cochlear, allerdings wird ein neu entwickelter gerader Elektrodenträger statt der anatomisch vorgeformten Contour Advance Elektrode verwandt. Die neue Elektrode weist ebenfalls 22 Elektrodenkontakte auf, sie ist jedoch nur 16 mm lang und 0,35 × 0,25 mm im Durchmesser, verglichen mit einer Länge von 19 mm und 0,8 mm Durchmesser der Contour Advance Elektrode von Cochlear. Die Elektrodenkontakte sind als Halbringe auf der Modiolus zugewandten Seite angeordnet, so dass die laterale Seite der Elektrode
Abb. 1 Elektrodendesign Contour vs. Hybrid-L
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eben ist und eine reibungsarme Insertion gewährleistet werden kann. Um die Elektrode möglichst flexibel und weniger steif als die herkömmliche Elektrode zu gestalten, wurden Zuleitungen zu den Elektrodenkontakten mit reduziertem Durchmesser verwendet. Eine Markierung am Elektrodenträger bei 16 mm Länge dient als Orientierungshilfe, um die korrekte Einführtiefe zu erzielen. Ein an der Elektrodenzuleitung befestigter Silikonflügel dient als Fixierungsmöglichkeit und Orientierungshilfe bezüglich der Rotation der Elektrode und wird in einer dafür angelegten passenden Knochenausfräsung platziert.
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als erweiterte Gruppe gewonnen werden. Der dunkelgraue Bereich definiert den Bereich der Schwellen für die Hybridgruppe und der hellgraue Bereich markiert den Bereich der erweiterten Gruppe. Die Probanden sollten mindestens 10 % aber nicht mehr als 50 % Einsilberverständnis entweder im Freifeld mit Hörgeräten oder unversorgt mit Kopfhörern auf dem zu implantierenden Ohr haben. Das durchschnittliche Alter der Patienten lag bei 51 Jahren (22 bis 71 Jahre). Die mittlere Dauer des Hörverlustes betrug 27 Jahre im Bereich zwischen 3 und 66 Jahren und das
Operatives Vorgehen Grundsätzlich wird die gleiche Vorgehensweise angewandt wie bei einer regulären Implantation des Nucleus Cochlea-Implantat Systems[14]. Jedoch wird die Elektrode im Gegensatz zum üblichen Vorgehen über einen Schnitt in der Membran des Runden Fensters eingeführt, welcher mit einer feinen Injektionsnadel ausgeführt wird. Um einen besseren Zugang zu erhalten, muss die Membran des Runden Fensters im Regelfall vorher durch Wegfräsen von Knochensubstanz freigelegt werden. Die Elektrode wird mit einer für diesen Zweck entworfenen Zange (Fa. Storz) am Silikonflügel gegriffen und durch den Schlitz in der Rundfenstermembran bis zur Markierung eingeführt. Im Anschluss wird der Silikonflügel an der Elektrode in einer dafür angelegten Ausfräsung platziert.
Patienten Auf Grund ihrer Hochfrequenzertaubung wurden insgesamt 32 Patienten an Hand der audiometrischen Kriterien für die Studie an der Medizinischen Hochschule Hannover ausgewählt. Dabei konnten 24 Probanden für die Hybrid Versorgung und 8 Probanden auf Grund ihres erheblichen Restgehörverlustes
Abb. 2 Der audiometrische Einschlussbereich. Der dunkelgraue Bereich beschreibt den Standardbereich einer Hybridversorgung. Der hellgraue Bereich kennzeichnet den erweiterten Indikationsbereich.
durchschnittliche Alter bei Hörgeräteversorgung lag bei 30 Jahren (2 bis 52 Jahre). Alle Patienten wurden nach dem oben beschriebenen operativen Vorgehen von 2 Ärzten operiert (Lenarz 24 und Stöver 8). In allen Fällen war eine komplette Insertion der Elektrode durch das Runde Fenster möglich.
Postoperative Anpassung Einen Monat nach Erstanpassung wurde der Sprachprozessor zusammen mit einem „ImOhr-Hörgerät“ (IdO) angepasst. In allen Fäl-
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len konnte ein Programm erstellt werden, wo es zu keinerlei Überschneidungen der Frequenzbereiche zwischen Hörgerät und Cochlea-Implantat (CI) kam. Das Cochlea-Implantat (CI) deckte hierbei den Hochfrequenzbereich ab. Die Filterfrequenzen der einzelnen Elektroden wurden an das Resthörvermögen angepasst. Der niedrigste vom Hörgerät nicht mehr abgedeckte Frequenzkanal wird auf der apikalsten Elektrode des Hybrid-L Implantates repräsentiert. Darunter liegende Frequenzkanäle werden nicht vom CI übertragen. Dabei wird als Grenzfrequenz zwischen HG & CI die Frequenz gewählt, bei der das Tonaudiogramm die 80 dBHL Linie schneidet. Patienten mit geringem Resthörvermögen wurden mit einem Standard-CI-Programm angepasst, welches auch den vollen Tieftonbereich abbildet. Die Klassifizierung der Patienten erfolgte in Abhängigkeit von der Versorgung in „HybridTräger“ (CI- + Hörgeräteträger) oder „Nur-CITräger“.
Patienten-Messungen Zur Überprüfung des Restgehörs wurden die präoperativ bestimmten tonaudiometrischen Hörschwellen mit den Hörschwellen zum Zeitpunkt der Erstanpassung sowie nach 3, 6, 9 und 12 Monaten intraindividuell verglichen. Das Sprachverstehen bei Benutzung verschiedener elektroakustischer Versorgungsmodi (Hörgerät allein, CI allein, CI und ipsilaterales Hörgerät) wurde intraindividuell sowohl zwischen den unterschiedlichen Modi als auch mit dem präoperativen Sprachverstehen (nur Hörgerät) verglichen. Zur Ermittlung des Sprachverstehens dienten folgende Sprachtests: Freiburger Einsilbersprachtest (FMS) in Ruhe bei einem Präsentationspegel von 65 dBSPL sowie der Oldenburger Satztest im Störgeräusch (adaptiv mit konstantem Störgeräuschpegel bei 65 dBSPL). Die Messungen wurden präoperativ, sowie nach 3, 6, 9 und 12 Monaten nach Erstanpassung wiederholt. 16 Patienten haben bereits die vollständige
12 monatige Testdauer abgeschlossen. Aktuell befinden sich 22 Patienten im Studienabschnitt t 6 Monate. Die Erstanpassung haben alle Probanden erfolgreich absolviert.
Ergebnisse Bei allen Patienten konnte die vollständige Insertion der Elektrode durch das runde Fenster erreicht werden. Dabei traten keine intra- bzw. postoperativen Komplikationen auf. In einem Fall hat sich die Elektrode postoperativ verschoben, was zu einem basalen Anstieg der Elektrodenimpedanzen führte. Eine durchgeführte Röntgenanalyse konnte keine weiteren Aufschlüsse geben. Im Gegensatz zu allen anderen Patienten, wo keine Elektrodenverschiebung beobachtet werden konnte, wurde hier eine andere Art der Elektrodenfixierung verwendet. Der Hauptunterschied ist die Ausnutzung einer Knochenvorwölbung, um eine Elektrodenbewegung zu verhindern, indem die Elektrode mit dem Silikonflügel in einer extra angelegten Ausfräsung fixiert wird. Ein Patient war in der Lage sein Restgehör auch ohne Hörgerät zu nutzen. Sechs Patienten nutzen nur das CI alleine, das heißt ohne Hörgerät auf der ipsilateralen Seite. Alle anderen Patienten sind Hybrid-Träger (CI +HG). Bei 8 der 32 Probanden konnten bei den basalsten Elektroden keine auditorischen Hörsensationen hervorgerufen werden. In diesen Fällen berichteten die CI-Träger von Fazialisnervreizungen (N = 1) oder schmerzhaften, unangenehmen Reizungen bei geringer bzw. keiner Hörempfindung (N = 7). In allen Fällen konnten die Komplikationen durch Deaktivierung der ersten bis zur fünften basalen Elektrode behoben werden.
Erhaltung des Restgehöres In einer Untergruppe von 12 Patienten aus der Hybrid-Gruppe wurde der Unterschied zwischen Luft- und Knochenleitung bei einer
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Abb. 3 Der Median des prä- und postoperativen Hörverlustes bei der Erstanpassung. Die linke Abbildung zeigt die Hörschwellen und den Hörverlust hinsichtlich der Hybridkandidaten (N = 24). Die rechte Abbildung stellt die Ergebnisse der Patienten hinsichtlich des erweiterten Einschlussbereiches dar (N = 8).
Frequenz von 500 Hz in den ersten 6 Monaten nach der Operation kontinuierlich analysiert. Während der ersten 2 Wochen nach der Operation wurde ein Luft-Knochenleitungsunterschied von durchschnittlich 13.6 dB (min = 0 dB, max = 35 dB) beobachtet. Zum Zeitpunkt der Erstanpassung wurde im Mittel noch eine Erhöhung der Schalleitungskomponente um 4.4 dB bezogen auf den präoperativen Wert gemessen. Sechs Monate nach der Operation betrug diese zusätzliche Komponente im Mittel nur noch 1.2 dB Zum Zeitpunkt der Erstanpassung betrug der Abstand durchschnittlich 5 dB. 6 Monate nach der Operation betrug der durchschnittliche Luft-Knochenleitungsunterschied im Vergleich zu den präoperativen Daten nur noch 3,6 dB. Einzig in einem Fall wurde bereits präoperativ ein Luft-Knochenleitungsunterschied von 15 dB gemessen. Eine Zusammenfassung der Luftleitungsschwellen präoperativ und der Unterschied der Hörschwellenveränderung präpostoperativ sind in Abbildung 3 dargestellt. Die Analyse basiert auf dem Audiogramm aus der Erstanpassung jedes Patienten. Der Median der prä- und postoperativen Hörschwelle in der Hybrid-Gruppe ist in der linken Grafik (N = 24), die Patienten mit pantonalem Hörverlust in der rechten Grafik (N = 8) ab-
gebildet. Der Median vor und nach OP der prä- und postoperativen Hörschwellen über die einzelnen Frequenzen zeigen die ausgefüllten Kreise. Der Unterschied des Median über alle Frequenzen (125 Hz – 4.000 Hz) beträgt 10 dB. Die Änderungen in den audiometrischen Hörschwellen sind mittels der durchschnittlichen Schwellen im Frequenzbereich von 125 bis 1.000 Hz analysiert worden.
Langzeitstabilität der Hörschwellen Für die Studienpatienten mit mindestens 12-monatiger Hybrid-Erfahrung (N = 16) wurde die Entwicklung der Hörschwelle über den gesamten Zeitraum analysiert und in Abbildung 4 dargestellt. Hier erkennt man, dass Visit
N
N d 30 dB
N d 15 dB
Init Fitting
32
31 (96 %)
21 (68 %)
6 Mo
22
21 (95 %)
14 (64 %)
12 mo
16
15 (94 %)
11 (69 %)
Tabelle 1 Anzahl der Patienten mit einem Verlust von weniger als 30 dB und weniger als 15 dB während der Besuche bis zu 12 Monaten nach OP
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Versorgung resthöriger Patienten mit einem neuen hörerhaltenden Cochlea-Implantat-System
die Schwellen bei einem Unterschied von weniger als 10 dB im zeitlichen Verlauf als stabil betrachtet werden können. Nur bei einem Patienten zeigt sich eine Hörverschiebung von 14 dB über den Zeitraum von 12 Monaten. Zugleich wurde auch eine ähnliche Verschiebung für das kontralaterale Ohr beobachtet. Bei einem Patienten mit einem postoperativen Hörverlust von mehr als 30 dB konnte sich der Hörverlust teilweise bis zum 9 Monats-Termin auf 20 dB verbessern, wobei hier eine erneute Reintonschwellenmessung indiziert ist. Der Patient trug ab dem neunten Monat ein Hörgerät auf dem ipsilateralen Ohr und wies beim Oldenburger Satztest im Störgeräusch einen zusätzlichen Gewinn durch das Hörgerät (Hybrid-Effekt) von 2,7 dB auf im Vergleich zum CI alleine auf.
Sprachverstehen Die Sprachtests konnten bei allen Patienten in Ruhe und im Störgeräusch durchgeführt werden. Bei 6 Patienten konnte der Test nur mit CI alleine vorgenommen werden, da dies der
täglichen Handhabung entsprach. Die Ergebnisse wurden für beide Gruppen (HG und CI alleine) dargestellt. Um eine Bewertung des individuellen Nutzens für jeden Patienten abschätzen zu können, wurden die Messwerte des Sprachverstehens in der Hybrid-Kondition mit den präoperativen Messwerten der Hörgeräte-Kondition im implantierten Ohr verglichen. In Abbildung 5 sind die Unterschiede als Streudiagramm dargestellt worden. Die präoperativen Ergebnisse wurden auf der XAchse und die postoperativen auf der Y-Achse graphisch aufgetragen. Die gestrichelte Linie zeigt das 95 % Konfidenzintervall, welches für den OLSA Test aus der 2-fachen Standardabweichung der Test – Retest Differenz abgeschätzt wurde und beim FMS auf einem binominalen Modell basiert. Die Punkte oberhalb der durchgezogenen Diagonalen stellen eine Verbesserung dar, die Punkte außerhalb des 95 % Konvidenzintervalls lassen auf einen signifikanten Unterschied schließen (5 % Niveau). Der graue Bereich im Diagramm zeigt den Bereich normal hörender Personen für den OLSA an.
Abb. 4 Langzeitbeobachtung der Luftleitungshörschwellen (gemittelt über die Frequenzen 125 –1.000 Hz). Es ist der Median, das 75 %il und das 95 %il der Hörschwellenveränderungen relativ zu den Schwellen bei der Erstanpassung über die Zeit dargestellt.
Versorgung resthöriger Patienten mit einem neuen hörerhaltenden Cochlea-Implantat-System
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Abb. 5 Streudiagramm des Freiburger Einsilbersprachtests und des Oldenburger Satztest im Störgeräusch. Die präoperativen Ergebnisse werden auf der X-Achse und die postoperativen Ergbenisse auf der Y-Achse angezeigt. Die gestrichelte Linie zeigt das 95 % Konfidenzintervall.
Das durchschnittliche präoperative Ergebnis des Freiburger Einsilbertests (FMS) für das Hören mit Hörgerät alleine lag bei 24,1 % (Median 22,5 %). Die Hybrid-Kondition nach 6 Monaten lieferte im Mittel 45,1 % (Median 48,8 %) (p = 0,002). Der OLSA Score verbesserte sich für den Signal-Rauschabstand von 12,3 dB auf 2,1 dB (Median von 20 dB zu 1 dB SNR) (p < 0,001). Ein Signal- Rauschabstand von 20 dB im OLSA weist auf ein schlechtes Sprachverstehen hin und ist gleich zu setzen mit „Patient konnte nicht getestet werden“. Probanden, die den 12 Monatstermin abgeschlossen haben, zeigten eine Verbesserung des OLSA Scores von 13,9 dB zu 0,2 dB (Median von 20 dB SNR zu – 0,45 dB SNR) (p < 0,001). Die durchschnittlichen Sprachtestergebnisse der Gruppe für den OLSA unter den verschiedenen Konditionen (HG alleine, CI alleine, CI +HG) zeigt Abbildung 6. Um weiterhin den Nutzen der Versorgung speziell unter Hinzunahme des CI’s zu zeigen, wurde die Hybridgruppe in Abhängigkeit von der Dauer des Hörverlustes (DOHL)
in zwei Untergruppen aufgeteilt. Es zeigt, dass Probanden mit einer Dauer des Hörverlustes von weniger als 30 Jahren (N = 10) einen erheblichen Gewinn bei Nutzung CI & Hörgerät von 7,9 dB aufweisen (Hybrideffekt), was bedeutet, dass sie eine Verbesserung mit dem CI gegenüber dem Hörgerät aufweisen, welche sich noch erheblich steigert, wenn beide Systeme genutzt werden (CI und HG). Im Gegensatz hierzu besitzt die Gruppe mit einem Hörverlust (DOHL) von mehr als 30 Jahren (N = 6) nur einen begrenzten Nutzen vom CI allein. Hier zeigt das Hörgerät überwiegend die besseren Resultate beim Sprachverstehen. Trotzdem ergibt sich auch hier ein Gewinn bei gleichzeitiger Nutzung beider Systeme (CI + HG), der allerdings weniger ausgeprägt ist (2,1 dB). Bei dieser Patientengruppe könnte jedoch das Risiko bestehen, dass es zu einem Leistungsabfall im Sprachverständnis kommt, wenn die Patienten zu einem späteren Zeitpunkt ihr Restgehör verlieren würden. Hier ist die Gruppe von Patienten mit kürzerer Hörverlustdauer im Vorteil.
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Abb. 6 Sprachtestergebnisse der unterschiedlichen Konditionen am 6 Monats Termin. Die Abbildung stellt die Ergebnisse der Hörgeräte-Nutzer (Hybrid) separat entsprechend der Dauer des Hörverlustes (DOHL > 30 Jahre, N = 6 vs DOHL < 30 Jahre, N = 10) dar. Der äußere rechte Balken zeigt die Ergebnisse der Patienten, welche Hybrid-L nur als CI nutzen (N = 6).
Die Ergebnisse in Abbildung 5 und 6 zeigen interessanterweise, dass die Probanden, die das CI alleine nutzen (N = 6), in den bei dieser Studie verwendeten Tests eine vergleichbare Leistung erreichen wie die Hybridträger.
Diskussion Unsere Daten zeigen, dass Patienten mit einem Restgehör im Tieftonbereich einen erheblichen Nutzen von der elektroakustischen Stimulation aufweisen, welche die Ergebnisse vorangegangener Studien untermauern[17], [8], [7]. Zwecks Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Restgehörerhaltes und Reduzierung des Insertionstraumas wurden bereits einige spezielle Elektrodenkonzepte entwickelt. Im Gegensatz zu Gstoettner und Adunka[8], [1], die eine dünnere und kürzere Version der Standardelektrode mit einer Insertionslänge von 20 mm vorschlugen, empfahl Gantz et al.[7] eine deutlich kürzere Elektrode mit nur
10 mm und mit 6 aktiven Elektrodenkontakten, um eine möglichst geringe Schädigung zu erreichen. Obgleich eine kürzere Elektrode die hohe Wahrscheinlichkeit gewährleistet, das Restgehör zu erhalten, ist der Nutzen des Systems klar begrenzt auf die Fälle, bei denen das Restgehör nicht erhalten werden kann oder zu einem späteren Zeitpunkt verloren geht. Aus diesem Grund wurde bei der Entwicklung der Hybrid-L Elektrode ein Elektrodenentwurf angestrebt, der die Vorzüge der erhöhten Sicherheit der Gantz-Elektrode mit den Möglichkeiten eines nahezu normallangen Elektroden-Arrays mit voller Kontaktanzahl kombiniert. Im Rahmen früherer FelsenbeinStudien und klinischer Untersuchungen zur atraumatischen Insertion wurde die maximale Länge von 16 mm oder etwa 270 Grad Insertionstiefe ermittelt. Eine Insertion über diesen Punkt hinaus stellt ein deutlich erhöhtes Risiko dar, die Cochlea zu schädigen. Als zusätzliche Unterstützung für diese Einführungstiefe diente auch eine klinische Untersuchung, bei
Versorgung resthöriger Patienten mit einem neuen hörerhaltenden Cochlea-Implantat-System
der Patienten mit einer geraden Elektrode keine Leistungseinschränkung bei unterschiedlichen Einführungstiefen aufwiesen, sofern die Anzahl der aktiven, intracochleären Elektroden mehr als 15 betrug[9]. Die erreichte Erhaltung des Restgehörs in der vorliegenden Studie kann mit der der kürzeren Gantz-Elektrode verglichen werden, bei deren Einsatz ein mittlerer Hörverlust von 10 dB zwischen 150 Hz und 4.000 Hz bzw. 1.000 Hz erzielt werden konnte[5]. Die Ergebnisse sind ferner wesentlich besser als die, die mit einem längeren Elektrodendesign erreicht werden konnten. Kiefer et al.[12] berichteten über einen mittleren Hörverlust von 15 dB bei 250 Hz und 17,5 dB bei 500 Hz. James et al.[11] berichteten über einen Durchschnittswert von 27 dB bzw. 33 dB. In der Studie von Kiefer et al haben 2 von 14 Patienten ihr Hörvermögen komplett verloren (14,2 %), während dieses Schicksal bei der Studie von James et al 2 von 12 (16,7 %) erlitten. Vorliegende Ergebnisse mit der neuen Hybrid-L Elektrode weisen auf eine deutlich verbesserte Flexibilität und Leistungsverbesserung, speziell bei Patienten mit einem progredienten Hörverlust hin. Die Hörleistung der Patienten war auf dem implantierten Ohr bei Verwendung der elektroakustischen Stimulation signifikant besser gegenüber der präoperativen akustischen Stimulation alleine. Der Hybrid-Modus zeigte sich leistungsfähiger als die elektrische oder akustische Stimulation alleine. Diese Ergebnisse unterstützen das Konzept der elektroakustischen Stimulation bei den Patienten, die noch ein Restgehör im Tieftonbereich aufweisen. Die Hörperformanz der Nur-CI-Träger wurde mit Hilfe des OLSA-Satztests im Störgeräusch mit einer Gruppe von 34 neu implantierten Freedom Patienten verglichen. Die durchschnittlichen Sprachtestergebnisse beider Gruppen unterscheiden sich nicht signifikant (p = 0,67). Dies zeigt, dass mit dem kürzeren Elektrodenarray (Hybrid-L) ein ähnliches Ergebnis erzielt werden kann, wie mit der längeren Elektrode beim klassischen Freedom-Implantat. Dies ist
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besonders wichtig bei Patienten, welche postoperativ kein Hörgerät benutzen können oder bei denjenigen, welche ihr Restgehör aus irgendeinem Grunde verloren haben. Innerhalb der hier untersuchten Patientengruppe zeigten die Patienten mit einer längeren Schwerhörigkeitsdauer (> 30 Jahre) ein besseres Sprachverstehen mit dem Hörgerät alleine verglichen mit dem CI alleine. Bei den Patienten mit einer kürzeren Schwerhörigkeitsdauer (d 30 Jahre) war das Sprachverstehen hingegen besser, wenn sie das CI alleine nutzten verglichen mit dem Hörgerät alleine. In beiden Untergruppen zeigte sich ein zusätzlicher Gewinn im Sprachverstehen, wenn die Patienten die Kombination aus CI und Hörgerät nutzen konnten. Dieser zusätzliche Gewinn war bei Patienten mit kürzerer Dauer der Schwerhörigkeit signifikant grösser als bei Patienten mit längerer Scherhörigkeitsdauer. Dieser Sachverhalt lässt vermuten, dass sich bei Patienten mit längerer Schwerhörigkeitsdauer entweder die Anzahl oder die elektrische Erregbarkeit der spiralen Ganglienzellen im Vergleich zu Patienten mit kürzerer Schwerhörigkeitsdauer reduziert haben. Deshalb sollten Patienten mit langer Schwerhörigkeitsdauer sehr ausführlich über diesen möglicherweise eingeschränkten Gewinn aufgeklärt werden. Da wir allerdings bisher erst wenige Daten haben, die sich über ein Jahr hinaus erstrecken, sollte man bei der Definition der Indikationskriterien noch vorsichtig sein. Davon unabhängig zeigt diese Studie jedoch, dass das Elektrodendesign zusammen mit der Insertionstechnik durch das runde Fenster und einer sicheren Befestigung der Elektrode eine hohe Wahrscheinlichkeit der Erhaltung des Restgehörs gewährleistet. Der zusätzliche Vorteil bei der Nutzung des akustischen Hörens in Kombination mit dem elektrischen Hören im Tieftonbereich, besteht in der subjektiv deutlich besseren Klangqualität der Hybridversorgung im Vergleich zur alleinigen CI-Versorgung. Dieser Vorteil ist besonders relevant in Alltagssituationen, etwa um unterschiedliche Sprecher im Stimmenge-
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wirr zu unterscheiden oder zu erkennen. Aber auch der Musikgenuss ist ein Aspekt, der von den Patienten zunehmend ins Spiel gebracht wird und der mit dem Hybrid-System durch den Erhalt des Restgehörs um ein Vielfaches größer ist, als bei alleiniger Versorgung mit einem Cochlea-Implantat. Zukünftigen Studien werden darauf abzielen müssen, genau diese alltagsrelevanten Situationen auch unter Laborbedingungen prüfen und evaluieren zu können. Hierzu müssen neue Tests entwickelt werden, welcher die subjektiven Kommentare und Präferenzen der Patientenaussagen reflektieren.
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Danksagung Wir möchten uns herzlich bei den Patienten für Ihre Mitarbeit in dieser Studie bedanken, sowie bei Henrike Schultrich und Mark Schüßler für die Mithilfe bei der Durchführung der Messungen. Literatur [1]
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Cochlear-Implant-Versorgung beim alten Menschen: Rules und Pitfalls R.-D. Battmer
Einleitung Seit langem hat sich das Cochlear Implant (CI) als die Behandlungsmethode der Wahl bei gehörlosen und ertaubten Patienten durchgesetzt. Trotz der großen Erfolge mit dem CI werden einzelnen oder auch Gruppen von Patienten bei der Versorgung immer wieder Steine in den Weg gelegt. Als Beispiel sei hier der offene Brief des Rechtsanwalts Kochs aus der „Schnecke“* angeführt, indem ein Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) im Falle der Geltendmachung einer Umversorgung mit einem neuen HDO-Sprachprozessor eines 70-jährigen Patienten zitiert wird mit den Worten: „Das Schreiben des Herrn … vom 14. 03. 2008 zeigt, dass das Anspruchsdenken offensichtlich keine Grenzen kennt.“ Und bei der Beurteilung: „… es muss auch Verwunderung geäußert werden, dass die Universitätsklinik … das Anspruchsdenken noch unterstützt und dies in einem Alter, wo die Ansprüche an die Kommunikation nicht allzu groß sind.“ Abgesehen von dieser ungeheuerlichen Diskriminierung älterer Menschen geht der Gutachter davon aus, dass im hohen Alter die Fähigkeit zum geistigen Austausch und zur Teilnahme am sozialen Leben eingeschränkt oder gar nicht mehr vorhanden ist. Dieses Urteil wird nur aufgrund von Vorurteilen gefällt, ohne dabei eine seriöse wissenschaftliche Argumentation anzuführen. Dieser Artikel geht daher speziell auf die Versorgung älterer * Zeitschrift „Schnecke“ ISSN 1234-5678, Nr. 62, November 2008, 20. Jahrgang
Menschen mit einem Cochlea Implantat sowie auf die spezifischen Erfordernisse dieser Patientengruppe in Hinblick auf eine Implantation ein. „Last, but not least“ sollen die vielfachen Erfolge mit diesem Implantat dargestellt werden.
Relevanz der Thematik Allgemeine demographische Daten Die Relevanz dieses Themas wird klar, wenn man sich die demographische Entwicklung in den westlichen Industrieländern vor Augen führt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes betrug der Anteil der Bevölkerung, der 1950 t 60 Jahren alt waren, 14,6 %. Im Jahre 2000 stieg der Anteil dieser Personengruppe auf 23,6 % und wird im Jahre 2050 (laut Hochrechnung) auf 38 – 40 % geschätzt (vgl. www.destatis.de). Berücksichtigt man noch die Angaben des Deutschen Schwerhörigenbundes über die Zahl der Hörbehinderten in unserer Bevölkerung, die im Mittel derzeit bei 20 % liegt, aber im Alter von 60 – 69 auf 37 % und bei über 70-Jährigen auf 54 % steigt, so lässt sich leicht hochrechnen, dass die Zahl der Hörbehinderten im Alter und damit die potentieller Cochlear-Implant-Patienten in den nächsten Jahren und Jahrzehnten drastisch steigen wird (vgl. www.schwerhoerigen-netz.de). Eigene demographischen Daten Um diese Situation etwas anschaulicher zu gestalten und die statistischen Daten zu vali-
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Cochlear-Implant-Versorgung beim alten Menschen: Rules und Pitfalls
dieren, haben wir in einer retrospektiven Erhebung auf der Basis der Cochlea-Implantat-Datenbanken der HNO-Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover (Direktor: Prof. Dr. T. Lenarz) und des Unfallkrankenhauses Berlin (Direktor: Prof. Dr. A. Ernst) die Häufigkeit der CI-Implantationen im Alter untersucht. Dabei teilten wir die Patienten in zwei Gruppen: Patienten die im Alter von 20 – 40 Jahren implantiert wurden und solche, die zum Zeitpunkt der Implantation 60 Jahre und älter waren. Zusätzlich wurden jeweils die prozentuale Zahl an CI-Operationen beider Gruppen in den Jahren 1987, 1997 und 2007 verglichen. Die Gesamtzahl der seit 1984 in den beiden Datenbanken zusammen gelisteten Patienten betrug etwa 3.800 Fälle. Das Ergebnis der Untersuchung ist in Abbildung 1 dargestellt: x Der Anteil der 20 – 40-jährigen Patienten betrug 1987 rund 39 % aller Implantierten (12 von 31) und nur 16 % (5 von 31) war 60 Jahre und älter. x 1997 bleibt dieses Verhältnis nahezu unverändert: 37 % 20 – 40-Jährige (25 von 67), aber schon 21 % 60 Jahre und älter (14 von 67). x Im Jahr 2007 schließlich werden nur noch 14 % 20 – 30-jährige Patienten (27 von 196) implantiert, aber 32 % (61 von 196) mit 60 Jahren und älter. Im Laufe der 20 Jahren lässt sich also bereits eine Trendumkehr erkennen, es werden deutGruppe
Prozentuale Verteilung der Gruppe der 20 – 40-Jährigen und der t 60-Jährigen in den Jahren 1987, 1997 und 2007. In Klammern ist die Gesamtzahl aller implantierten erwachsenen Patienten in dem jeweiligen Jahr angegeben.
lich mehr Patienten über 60 Jahre implantiert als Patienten im Alter von 20 – 40 Jahren. In der Tabelle 1 sind diese Gegebenheiten noch etwas genauer dargestellt. Insbesondere in der Gruppe der über 60-Jährigen nimmt das Altersmaximum zum Zeitpunkt der Implantation in den betrachteten Jahren von etwa 68 1987 auf 89 Jahre 2007 zu. Auffällig ist außerdem, dass sowohl bei den 20 – 40-Jährigen als auch bei den über 60-Jährigen die Ertaubungsdauer deutlich sinkt (d. h. auf 7 bei den 20 – 40-Jährigen und auf 5 bei den über 60-Jährigen). Betrachtet man als Erfolgsindikator der CI-Versorgung die Sprachtestergebnisse des Freiburger Zahlen- und Einsilbertests (Abbildung 2), so sieht man insbesondere bei den Einsilbern
Bereich (Jahre)
% aller Erw.
Mittlere Ertaubungsdauer (Jahre)
1987: 29,5 Gruppe 1997: 30,9 20 – 40 Jahre 2007: 30.2
22.4 – 40.0 25.1– 38.8 20.8 – 39.9
38,7 (12/31) 37.3 (25/67) 21,9 (27/196)
1987: 9,4 1997: 12,2 2007: 6,8
1987: 65.8 1997: 65.5 2007: 70,1
60.7– 67.7 62.5 –75.0 60.0 – 89.5
16.2 (5/31) 1987: 15,7 21.3 (14/67) 1997: 10,7 38,3 (61/196) 2007: 4,7
Gruppe t 60 Jahre
Mittleres Alter (Jahre)
Abb. 1
Tabelle 1 Demographische Patientendaten der beiden Gruppen 20 – 40 Jahre und 60+ Jahre in 1987, 1997 und 2007.
Cochlear-Implant-Versorgung beim alten Menschen: Rules und Pitfalls
Abb. 2 Ergebnisse des Freiburger Zahlen- und Einsilbertests der Gruppe der 20 – 40-Jährigen und der t 60-Jährigen in den Jahren 1987, 1997 und 2007. Die Ergebnisse sind nicht signifikant unterschiedlich. Beim Einsilbertest ist die Verbesserung durch modernere Implantatsysteme über die Zeit besonders deutlich zu erkennen.
eine stetige Verbesserung, die in der Gruppe der über 60-Jährigen sogar noch etwas steiler ausfällt als bei der jüngeren Gruppe. Insgesamt muss man allerdings diese Verbesserung wohl eher dem technischen Fortschritt der Implantatsysteme zuschreiben als anderen Kriterien.
Internationaler Stand der Wissenschaft Während der Erfolg mit dem Cochlear Implant bei gehörlos geborenen Kindern und postlingual ertaubten Erwachsenen inzwischen intensiv erforscht und dokumentiert ist, gibt es relativ wenige Arbeiten, die sich ausschließlich mit implantierten älteren Patienten auseinander setzen. In allen Arbeiten bislang wurden die Sprachtestergebnisse eines Kollektivs jüngerer Erwachsener mit denen älter (meist über 65 Jahre alt) verglichen. Bei 6 von 7 Arbeiten, die seit 2003 über dieses Thema publiziert wurden, zeigten die Ergebnissen der Sprachtests keinen statistisch signifikanten Unterschied im Gruppenvergleich[10], [3], [11], [12], [2], [7]. Nur in der Arbeit von Chatlin et al.[1], bei der Ergebnisse von
45
65 Patienten, die älter als 70 Jahre waren, mit 101 Patienten im Alter zwischen 24 und 69 Jahren in einem Worttest, einem Satztest und einem Satztest im Geräusch verglichen wurden, zeigten sich in allen drei Tests für die ältere Gruppe schlechtere Ergebnisse. Im Geräusch war der Unterschied sogar statistisch signifikant schlechter. Auf einen weiteren Aspekt der CI-Implantation verwiesen sowohl Sterkers et al.[11] als auch Vermeire et al.[12] und Hänsel et al.[2]. Mit der erfolgten Implantation war ein deutlich positiver Einfluss auf die Lebensqualität festzustellen („Improvements in quality-of-life“, gemessen in Qualis) der offensichtlich durch die verbesserte Kommunikationsfähigkeit dieser älteren Patienten entstanden war.
Das alternde auditorische System Es gibt eine Reihe von Gründen anzunehmen, dass ältere Patienten mit einem CI schlechter zurechtkommen könnten als jüngere Patienten. Im wesentliche wird in der Literatur dazu das alternde auditorische System angeführt. Man kann die Veränderungen des auditorischen Systems durch physiologische Alterungsvorgänge einteilen in periphere bzw. zentrale Veränderungen und kognitive Beeinträchtigungen. Bei den peripheren Veränderungen muss man zunächst an den Ausfall von Haarzellen, aber auch an den Verlust von Ganglienzellen denken[9]. Die zentralen Veränderungen entstehen im Wesentlichen durch den Untergang von Neuronen und Synapsen, aber auch durch Verluste von Neurotransmittern und Rezeptoren[6], [4]. Kognitive Defizite schließlich lassen sich in der Beeinträchtigung des Kurz- und Arbeitsgedächtnis sowie insbesondere auch in der Reduktion der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit erkennen[4]. Während die peripheren Veränderungen kaum Auswirkungen auf die Verwendung des Implants haben (bedingt durch die direkte elektrische Stimulation des
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Cochlear-Implant-Versorgung beim alten Menschen: Rules und Pitfalls
Hörnervs), könnten zentrale Veränderungen und kognitive Defizite sich beispielsweise bei Sprachtestergebnissen Älterer, im Vergleich zu einer Gruppe Jüngerer (insbesondere bei Sprachtestes im Störgeräusch) bemerkbar machen. Jene Leser, die sich besonders für die Neurophysiologie des alternden Gehörs interessieren, seien auf den Schriftenreihen Band 16 der Geers-Stiftung „Hören im Alter“ verwiesen. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass auch ein erhöhtes Operations- und Narkoserisiko den möglichen Nutzen von CI-Implantationen von älteren Menschen beeinflussen könnten[8].
Eigene sprachaudiometrische Daten In einer retrospektiven Erhebung auf der Basis der Datenbanken der HNO-Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover und der HNO-Klinik des Unfallkrankenhauses Berlin (s. o.) mit einer Gesamtfallzahl von ca. 3.800 Patienten, haben wir zwei Patientengruppen im Alter von 20 – 40 und von 60 Jahren und älter ausgesuchte. Alle Patienten wurden in den Jahren 2004 bis 2006 implantiert. Die Gruppe der 20 – 40-Jährigen umfasste 55, die Gruppe der t 60 Jahre Patienten umfasste 114 Patienten. Untersucht wurden jeweils die Ergebnisse des Freiburger Zahlentests, des Freiburger Einsilbertests sowie des HSM-Satztests[5] im Geräusch (SNR +10 dB), wobei nur die Daten berücksichtigt wurden, die ein Jahr nach der Erstanpassung erhoben wurden. Die Ergebnisse sind in Abbildung 3 dargestellt. Weder im Zahlen-, noch im Einsilbertest, noch im HSM-Satztest im Geräusch findet sich ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen beiden Gruppen; tendenzmäßig schneidet die Gruppe der älteren Patienten etwas besser ab. Daraufhin haben wir die Gruppe der älteren Patienten weiter aufgeteilt in eine Altersgruppe 60 – 69 Jahre (n = 69), 70 –79 Jahre
Abb. 3 Vergleich der Sprachtestergebnisse (Freiburger Zahlen, Freiburger Einsilber und HSM Satztest im Geräusch) zwischen der Gruppe der 20 – 40-Jährigen und der Gruppe der t 60-Jährigen, implantiert in den Jahren 2004 – 2006. Es besteht in keinem der Tests ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Ergebnissen beider Gruppen.
(n = 36) und 80 und älter (n = 9) (Abb. 4). Während man im Vergleich zu diesen Gruppen bei den Zahlen und den Einsilbern keinen statistisch signifikanten Unterschied findet, nimmt das Ergebnis im HSM-Satztest im Geräusch ab von 39,5 % bei den 60 – 69-Jährigen, auf 21,3 % bei den 70 –79-Jährigen und schließlich 14,7 % bei den 80-Jährigen und
Abb. 4 Aufteilung der Gruppe der t 60-Jährigen in drei Untergruppen: 60 – 69 Jahre, 70 –79 Jahre und 80+ Jahre. Während bei den Freiburger Zahlen und Einsilbern (in Ruhe) kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den drei Untergruppen festzustellen ist, zeigt sich beim HSM Satztest im Geräusch (+10 dB SNR) eine statistische signifikante Verschlechterung mit höherem Alter (* stat. signifikant).
Cochlear-Implant-Versorgung beim alten Menschen: Rules und Pitfalls
Gruppe
Mittleres Alter (sd)
Mittlere Ertaubungsdauer (sd)
Anzahl Patienten
20 – 40 Jahre 31,1 (5.8)
7.9 (11.6)
55
60 – 69 70 –79 80+ Jahre
5.2 (9.3) 2.6 (5.1) 3.5 (5.7)
69 36 9
64.8 (2.7) 73.9 (2.9) 84.2 (2.2)
47
wie Hesse 2007 bemerkt, der zentralen Veränderung bzw. den im Alter auftretenden kognitiven Defiziten zuschreiben.
Rules und Pitfalls
Die außerordentlich guten ErgebDemographische Patientendaten der beiden Gruppen 20 – 40 Jahre nisse der älteren Patienten bei den und 60+ Jahre (unterteilt nach 60 – 69, 70 –79 und t 80 Jahre) aus Sprachtests machen es schwer, den Jahren 2004 – 2006 (sd = Standardabweichung). echte Pitfalls zu identifizieren. Es sei hier nur auf einen Fall verwiesen, der im Laufe der Jahre dem Autor dieses älter ab. Diese Ergebnisse sind statistisch sigArtikels bekannt wurde. Das Audiogramm in nifikant different. Abb. 5 zeigt das Ergebnis einer VoruntersuDie demographischen Daten der beiden chung bei einem damals 61-jährigen Mann. Gruppen in Tabelle 2 zeigen insbesondere Es findet sich beidseits ein Restgehör, wobei bei der mittleren Ertaubungsdauer keinen sidie rechte Seite etwas schlechter ist als die gnifikanten Unterschied. Diese signifikante linke. Mit einem Hörgerät rechts konnte der Verschlechterung im Störgeräusch muss man, Tabelle 2
Abb. 5 Präoperatives Audiogramm (P. B., *08. 05. 1940) bei der Voruntersuchung zum Cochlea Implantat. Hörgeräte beidseits, kein Einsilberverstehen re, HSM mit Hörgeräten beidseits 46 %. Implantiert wurde das rechte Ohr.
48
Cochlear-Implant-Versorgung beim alten Menschen: Rules und Pitfalls
Patient bei 80 dB noch 40 % der einsilbiger Wörter verstehen. Bei beidseitiger optimaler Versorgung erreichte er 46 % im HSM-Satztest. Nominell erfüllte er die Kriterien für eine CI Implantation und wurde 2001 auf der rechten Seite mit einem Implantat versorgt. Die Ergebnisse mit dem Implantat waren sehr eingeschränkt, so verstand er drei Monate nach Erstanpassung mit dem Cochlear Implant alleine keine Sprache. Er benutzte im täglichen Leben nur das Hörgerät links und lehnte schließlich die Benutzung des CIs ohne Hörgerät ab. Nach drei Monaten lehnte er mögliche weitere Nachsorge ab und nahm keinen Vorstellungstermin mehr wahr. Man muss wohl davon ausgehen, dass er sein CI nicht mehr benutzt. In diesem Fall scheint der Patient nicht mehr in der Lage gewesen zu sein (oder er wollte nicht mehr), sich auf den neuen Klang, den das Cochlear Implant übermittelt, einzustellen. Um derartige sehr seltenen Fälle zu vermeiden, könnte im Einzelfall neben den normalen Indikationskriterien (Ergebnisse Einsilberverstehen < 30 %, HSM-Satztest < 50 %) eine zusätzliche Bewertung der Rehabilitationsfähigkeit sinnvoll sein. Zusätzlich sollte eine ärztliche Abwägung des Operationsund Narkoserisikos folgen, um etwaige medizinische Komplikationen im höheren Alter zu vermeiden.
ter wird, ist eine deutliche Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit nach Cochlea Implantation auch im fortgeschrittenen Alter zu registrieren. In allen Altersgruppen kann durch eine CI-Operation eine Verbesserung der Lebensqualität erzielt werden. Diese Tatsachen demonstrieren, dass eine CIVersorgung auch im fortgeschrittenen Alter erfolgreich ist und den Betroffenen in vielerlei Hinsicht Verbesserungen im täglichen Leben bringen. Sie rechtfertigen in keiner Weise eine Ablehnung der Kostenübernahme für alte Menschen. Es sei hier noch vermerkt, dass im Urteil des Landessozialgerichts NordrheinWestfalen zur bilateralen CI-Versorgung vom 03. 11. 2005 klar gestellt worden ist, dass jedem Behinderten eine Versorgung zusteht, die möglichst den Ausgleich der Behinderung erreicht (dies gilt unabhängig vom Alter).
Literatur [1]
[2]
[3]
Fazit
[4]
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Zahl implantierter älterer Menschen steigt weltweit. Dazu haben die Zunahme der Lebenserwartung, eine bessere Aufklärung, eine Verbesserung der körperlichen und geistigen Fitness im Alter sowie das hohe Niveau emotionalen und persönlichen Wohlbefindens beigetragen. Misserfolge können durch geeignete Patientenauswahl vermieden werden. Obwohl jenseits des 80. Lebensjahres das Sprachverstehen im Störgeräusch schlech-
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Vestibuläre Effekte der Cochlea Implantation A. Blödow und M. Westhofen
Einleitung Die Hörrehabiliation mit einem Cochlea Implant hat sich in den letzten Jahren als standardisierte und sichere Versorgungsmethode hochgradig schwerhöriger oder ertaubter Patienten etabliert. Als innenohrchirugischer Eingriff ist sie potentiell mit aufklärungspflichtigen Risiken verbunden. Neben Wundinfektionen, Trommelfelldefekten, Affektionen des Nervus facialis und Implantatunverträglichkeiten gehört hierzu auch das Auftreten von postoperativem Schwindel. Die Literaturangaben zu Letzterem sind uneinheitlich, sie schwanken zwischen 0,33 % bis 75 %[26], [30], [24]. Eine Funktionsstörung des horizontalen Bogengangs findet sich in 3,1 % bis 77 %[6] und die posturale Stabilität der Patienten kann sich nach Cochlea Implantation verschlechtern[3], verbessern[6], [9] oder unverändert bleiben[5]. Bei einigen Patienten bestehen bereits vor der Implantation Schwindelbeschwerden. Die in den letzten Jahren zunehmende Versorgung älterer Patienten mit einer höheren Prävalenz von Schwindelbeschwerden und die nun häufigere bilaterale Versorgung mit einem Cochlea Implantat stellen den implantierenden HNO-Arzt vor die Notwendigkeit einer ausführlichen audiologischen und vestibulären Funktionsdiagnostik. Verschiedene Mechanismen können für das Auftreten eines postoperativen Schwindels verantwortlich gemacht werden. Dazu zählt die Eröffnung des Endolymphraums im Rahmen der Implantation sowie die Eröffnung des Perilymphhraums mit intraoperativem Perilymphverlust oder das
Auftreten einer postoperativen Lymphfistel. Ein mit zeitlicher Latenz eintretender Schwindel kann seine Ursächlichkeit in einem protrahierten endolymphatischen Hydrops finden oder es kann zu einer Fremdkörperreaktion des Labyrinths bzw. Unverträglichkeit mit Entwicklung einer Labyrinthitis kommen. Durch Kempf et al.[20] wurde eine elektrische Stimulation des Labyrinths durch das Cochlea Implantat mit Schwindelsensationen beschreiben, Lesinski et al.[27] wiesen auf das Auftreten eines Tullio-Phänomens nach Cochlea Implanation hin. Auch die Manifestation eines benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels durch elektrische Phänomene[11] und die Entwicklung eines autoimmunbedingten Morbus Menière[14] sind beschrieben worden. Zur präoperativen Risikoabschätzung gehört damit das Wissen, inwieweit eine vestibuläre Schädigung abhängig vom Alter, Implantattyp oder der Implantationsweise erwartet werden muss. Die präoperative Diagnostik sollte dabei nicht nur auf die Einschätzung der Funktion der Cristaorgane beschränkt werden, sondern auch die modernen Möglichkeiten einer isolierten Funktionsdiagnostik der Maculaorgane einschließen. Darüberhinaus ist die Einschätzung der zentral-vestibulären Funktion und damit eine Aussage über ein Kompensationsvermögen von Bedeutung. Die Kenntnis des vestibulären Funktionsstatus ist ausschlaggebend zur Prävention postoperativer Komplikationen.
52
Vestibuläre Effekte der Cochlea Implantation
Vestibuläre Funktionsuntersuchungen vor Cochlea Implantation An der Aachener HNO-Universitätsklinik gehört neben der audiologischen Routineuntersuchung vor einer Cochlea Implanation auch eine ausführliche vestibuläre Testbatterie. Orientierende Untersuchungen sind die vestibulo-spinalen Tests, der Kopf-Impuls-Test in allen Bogengangsebenen[15], die Testung hinsichtlich eines Spontan- bzw. Lage- und Lagerungsnystagmus. Für eine quantitative Einschätzung der peripheren Bogengangsfunktion steht die bithermische Vestibularisprüfung und zur Bewertung der zentral-vestibulären Funktion die frequenzselektive Drehpendelprüfung zur Verfügung. Die Funktionsprüfung der Maculaorgane gehört ebenso zum Untersuchungsumfang. Die sacculäre Maculafunktion wird durch die Ableitung der vestibulär evozierten myogenen Potentiale (VEMP)[8] getestet. Die exzentrische Rotation steht für eine seitengetrennte Einschätzung der utriculären Maculafunktion zur Verfügung[7], [17]. Eine weitere Methode hierfür stellt der kalorische Wendetest im Rahmen der bither-
mischen Vestibularisprüfung mit Starkreiz[34] und die Bestimmung der maculo-papillären Achse im Rahmen der nicht-mydriatischen Fundusfotographie[4] dar. Für die zentral-utriculären Reflexwege ist die Durchführung der Schrägachsenrotation (OVAR) die Methode der Wahl. Zusätzlich wird in der CT und MRT nach anatomischen Irregularitäten und einer Flüssigkeitsfüllung der Cochlea und des Labyrinths gefahndet.
Risiko vestibulärer Schädigung bei der Cochlea Implantation An der Aachener HNO-Universitätsklinik wurde zur Beurteilung der prä- und postoperative Schwindelbeschwerden 62 Patienten (21 Kinder, 41 Erwachsene) mit einer Cochlea Implantat-Versorgung untersucht. Der mittlere Zeitraum zwischen Voruntersuchung und Implantation lag bei 2 Monaten, die Nachuntersuchung erfolgte zwischen 3 und 6 Monate postoperativ. Differenziert nach Ertaubungsursache fand sich bei Kindern in ca. 65 % eine kongenitale Taubheit, in 25 % blieb die Ertaubungsursache unbekannt. Bei Erwachse-
Alter bei der Cochlea Implantation
n/(%)
Alter < 18 Jahre Alter > 18 Jahre
21/(34) 41/(66)
von 5 –15 Jahre von 21– 80 Jahre
Geschlecht Männlich
24/(39)
Weiblich
38/(61)
Ätiologie des Hörverlusts
Kinder
Erwachsene
Kongenital
14/(65)
6/(15)
Hörsturz
0
12/(30)
Meningitis
1/(5)
4/(10)
Trauma
1/(5)
0
Unbekannt
5/(25)
17/(40)
Andere
0
2/(5)
Tabelle 1 Demografische Daten von 62 CI-Patienten aus den Jahren 2000 bis 2007
53
Vestibuläre Effekte der Cochlea Implantation
nen war eine ungeklärte Ertaubungsursache mit 40 % am häufigsten, in ca. 30 % war die Ertaubung in Folge rezidivierender Hörstürze eingetreten. Für das gesamte Patientenkollektiv lag eine postlinguale Ertaubung in 66 % vor. In 25 % bestand bereits präoperativ eine permanente oder rezidivierende Schwindelsymptomatik, hier rangierte das Unsicherheitsgefühls (13 %) vor dem Schwankschwindel (6 %) oder einer Drehschwindelsymptomatik (6 %). Präoperativ bestand eine Normalfunktion der Cristaorgane beidseits in 65 %, eine Ausfall auf der zu operierenden Seite in 15 % und ein beidseitiger Ausfall in 8 %. Nach der Cochlea Implantation fand sich eine Zunahme der Schwindelsymptomatik in 6 %, bei 24 % der Patienten war eine Gleichgewichtsstörung temporär oder permanent aufgetreten. Es bestand bei den Patienten nur noch in der etwa der Hälfte aller Fälle eine normale Funktion des horizontalen Bogengangs, vorwiegend war eine Zunahme einer thermischen Mindererregbarkeit gefolgt von der Zunahme der einseitigen Ausfälle zu verzeichnen. In der
Test
Drehpendelprüfung fand sich gehäuft das einseitige Richtungsüberwiegen bzw. eine Mindererregbarkeit. Die Analyse der präoperativen Funktion der Macula zeigte, dass in bis zu 80 % der Fälle keine Schädigung des Utriculus und/oder des Sacculus vorlag. Auch die Maculaorgane unterlagen einem postoperativen Schädigungsmuster. Der Sacculus war dabei etwa doppelt so häufig betroffen wie der Utriculus. Insgesamt lag das Risiko für eine Bogengangschädigung bei 25 % und für eine Maculaschädigung bei 21 %. Eine unzureichende zentral-vestibuläre Kompensation lag mit einem Risiko von 3 % vor. Im Vergleich der Populationen zeigte sich, dass Erwachsene und hier v. a. Frauen ein höheres Risiko für eine postoperative Bogengangsfunktionsschädigung haben. Eine Abhängigkeit vom Implantattyp fand sich nicht.
Präoperativ (%)
Postoperativ (%)
Thermische Stimulation
Normal 65 Ausfall einseitig 21 Mindererreg. einseitig 6 Ausfall beidseitig 8
Normal 52 Ausfall einseitig 27 Mindererreg. einseitig 12 Ausfall beidseitig 9
Drehpendelprüfung
Normal Linksüberwiegen Rechtsüberwiegen Mindererregbarkeit
84 3 0 13
Normal Linksüberwiegen Rechtsüberwiegen Mindererregbarkeit
78 11 0 11
Exz.Rotation/OVAR
Normal Ausfall
85 15
Normal Ausfall
77 23
VEMP
Normal Ausfall
79 21
Normal Ausfall
68 32
Bogengangsfunktion
Otolithenfunktion
Tabelle 2 Prä- und postoperative Testung der Crista- und Maculafunktion mittels thermischer Stimulation, Drehpendelprüfung, exzentrischer Rotation, off-vertikal-axis-Rotation (OVAR) und vestibulär evozierten myogenen Potentialen (VEMP)
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Vestibuläre Effekte der Cochlea Implantation
Zusammenfassung Der Cochlea-implantierende HNO-Arzt steht vor der Notwendigkeit einer detaillierten präoperativen vestibulären Diagnostik und entsprechender OP-Risikoaufklärung, da das chirurgische Trauma der Insertion einer Elektrode in die Cochlea zum Auftreten von postoperativen Schwindelbeschwerden führen kann. In histopathologischen Untersuchungen ließ sich eine implantationsbedingte Zerstörung von cochleären und vestibulären Strukturen nachweisen[13], [16]. Beim Einführen der Elektrode in die Scala vestibuli kann es zur Verletzung der Lamina spiralis ossea, der Basilarmembran und der vestibulären Rezeptoren kommen. Die Insertion in die Scala tympani führte dagegen nur sehr selten zu einer Zerstörung der cochleären Strukturen[31]. Diese Erkenntnis führte zu Versuchen, die Cochleostomie- und Insertionstechniken zu verbessern. Todt et al.[32] fanden in ihren Untersuchungen eine Bogengangsschädigung in 42,9 % und eine Schädigung des Sacculus in 50 % bei anteriorer Cochleostomie, die Insertion der Elektrode im Bereich des runden Fensters ließ diese Schädigungsraten auf 9,4 % bzw. 13 % sinken. Auf den Nachteil einer zu großen Cochleostomie, v. a. bei Verwendung von Positionern wiesen Hempel et al.[18] hin, die den Fall eines Patienten mit Schwindel durch intralabyrinthäre Luftansammlung nach Schneuzen im Rahmen einer akuten Rhinitis beschrieben. Der Nachweis einer elektrodeninduzierten Stimulation des Sacculus bzw. des Nervus vestibularis inferior gelang Basta et al.[1] durch die Ableitung von eVEMP. Damit wird eine mögliche Schwindelinduktion bei angeschaltetem Implantat erklärlich. Krause et al.[25] konnten in der Untersuchung der präoperativen Sacculusfunktion zeigen, dass bereits 65 % der Patienten einen Ausfall der VEMP aufwiesen, nach einer Cochlea Implantation kam es in 50 % der Fälle zu einem neuen Ausfall der VEMP. Damit hat die Implantation ein hohes Schädigungspotential für den Sacculus. Basta
et al.[2] wiesen nach, dass bei implantierten Patienten mit Schwindelbeschwerden und einer postoperativen Schädigung des Sacculus es v. a. ältere Patienten sind, die einen länger anhaltenden Schwindel über 3 Monate beklagen. Bereits Brey et al.[5] hatten darauf hingewiesen, dass Patienten über 60 Jahren länger unter einem postoperativen Schwindel leiden. Krause et al.[22] fanden in Ihren Untersuchungen bei 45 % der implantierten Patienten das Auftreten von Schwindelbeschwerden, in 32 % fand sich bei den Patienten eine postoperative Minderung oder Ausfall der Funktion des horizontalen Bogengangs. Die Autoren geben an, dass sie keine direkte Korrelation zwischen der postoperativen Bogengangsfunktion und dem Auftreten von Schwindelbeschwerden herstellen konnten. Auch für die Kriterien Alter, Geschlecht, Implanttyp, Operateur, Grund des Hörverlustes und CT-Kriterien des Felsenbeins fanden sie keine Korrelation. Demgegenüber stehen die Daten von Enticott et al.[12], die in 32 % einen postoperativem Schwindel nachweisen konnten. Diese Patienten wiesen schlechtere Werte im Dizziness Handicap Inventory (DHI) und der Activity Balance Confidence-Skala (ABC) auf. Es bestand postoperativ eine verminderte Funktion des horizontalen Bogengangs, während Alter, Grund der Hörstörung, postoperativer Elektrodensitz und der präoperative Status der Bogengangsfunktion keinen Hinweis auf das Risiko eines postoperativen Schwindels lieferten. Auch in dieser Studie wiesen Patienten über 70 Jahre bei postoperativem Schwindel ein höheres Risiko auf, länger unter Schwindelbeschwerden zu leiden. Migliaccio et al.[29] untersuchten mittels des Kopf-Impuls-Tests alle drei Bogengänge und fanden bereits präoperativ eine hohe Prävalenz einer seitendifferenten Cristafunktion. Eine signifikante Verschlechterung wurde postoperativ hier nicht beobachtet. Auch Melvin et al.[28] zeigten, dass in nur einer geringen Anzahl der Fälle (1/16) es zu einer postoperativen Verschlechterung der Bogengangsfunktion (gemessen mittels quantitativem 3 D Kopf-
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a Abb. 1
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b
Subjektive Schwindelbeschwerden vor (Abb. 1 a) und nach einer Cochlea Implantation (Abb. 1 b)
Impuls-Test und Kalorik) kam, jedoch viel häufiger zu einer Störung der Sacculusfunktion. Sie fanden in 30 % einen völligen Ausfall oder eine Teilschädigung des Sacculus durch fehlenden Nachweis der VEMP oder einer um mindestens 10 dB erhöhten VEMP-Schwelle. Sie schlussfolgerten, dass vestibuläre Komplikationen sich im Rahmen der Allgemeinkomplikationen einer Cochlea Implantat-Versorgung bewegen, jedoch der Patient vorher darauf hingewiesen werden muss, ganz besonders dann, wenn die Implantation auf dem noch einzig vestibulär funktionstüchtigen Ohr stattfinden soll. Die Untersuchungen von Vibert[33] an 15 implantierten Patienten zeigten, dass durch Meningitis ertaubte Patienten bereits präoperativ häufiger eine gestörte Vestibularfunktion aufweisen. Die Cochlea Implantation führte in 20 % zu einer temporären Verschlechterung der Funktion des horizontalen Bogengangs, die postoperative Otolithenfunktion, gemessen mittels OVAR, war in allen Fällen ungestört. Jin et al.[19] fanden in ihren Untersuchungen, dass bei zu implantierenden Kindern bereits in 50 % präoperativ ein Funktionsverlust des Sacculus vorlag. Nach der Implantation war nur in 16 % noch eine normale Sacculusfunktion bei abgeschaltetem Implantat nachweisbar, dagegen fand sich bei eingeschaltetem Implantat eine VEMP-Antwort in 66 %. Den Einfluss des Einschaltzustands des Cochlea Implantats auf die Vestibularfunktion verdeutlichten auch Cushing et al.[9]. Im Vergleich zu alterskorrelierten Normalhörigen fanden sie ein schlechteres Balanceverhalten
bei hochgradig schwerhörigen Kindern im Alter von 4 –17 Jahren, v. a. bei Meningitisschädigung. Das Anschalten des Implantats erbrachte dabei einen Vorteil im Balanceverhalten gegenüber dem ausgeschalteten Zustand. In weiteren Untersuchungen fanden Cushing et al.[10] bei Kinder eine präoperativen Ausfall des horizontalen Bogengangs mittels thermischer Vestibularisprüfung in 50 % der Fälle und bei der Drehstuhluntersuchung zu 38 %, die VEMPS waren zu 19 % ausgefallen. Das Auftreten eines Balancedefizits korrelierte dabei am Besten zu den Drehstuhluntersuchungen, so dass für Kinder jeden Alters dieser gut anwendbare Test empfohlen wird. Insgesamt scheint das Risiko einer vestibulären Schädigung bei Cochlea Implantation um 20 %[6] zu liegen.
Abb. 2 Humanes Cochleapräparat mit in der Scala tympani einliegender Cochlea Implantat-Elektrode, die anatomische Integrität ist durch die Insertion in die Scala tympani erhalten geblieben
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Konklusion Die klinische Erfahrung zeigt, dass die Chirurgie des Innenohrs zu vestibulären Störungen führen kann. Die Angaben zur Häufigkeit eines Schwindels nach Cochlea Implantation schwanken deutlich, die Ursache findet sich u. a. in der Traumatisierung der vestibulären und cochleären Stukturen. Präoperativ findet sich bei Patienten mit hochgradigem Hörverlust einen höhere Prävalenz von Funktionsverlusten des Gleichgewichtsorgans und von Schwindelbeschwerden. Implantattyp, Geschlecht und Alter scheinen keine prädiktiven Faktoren für das Auftreten von Schwindelbeschwerden zu sein, jedoch scheinen besonders die über 70-Jährigen länger unter den Schwindelsensationen zu leiden. Die Identifikation von schon geringen Funktionsbeeinträchtigungen der vestibulären Rezeptoren und der Gleichgewichtsfunktion ist wichtig, um das Risiko einer vestibulären Dysfunktion nach Cochlea Implantation zu verstehen und um entsprechende Therapiemaßnahmen anbieten zu können, die zu einer Verbesserung der Kompensation und einer erhöhten Patientensicherheit führen. Bei der immer weiter werdende Indikationsstellung zur Cochlea Implantation und der weiteren Verbreitung der bilateralen Cochlea Implantation nimmt die Kenntnis um die Bedeutung der vestibulären Risiken der Cochlea Implantat-Chirurgie zu. Literatur [1]
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Pro und Contra aktiver Mittelohrimplantate
Rehabilitation der Schallempfindungsschwerhörigkeit mit dem teilimplantierbaren Hörsystem MedEL Vibrant® M. Tisch
Einleitung Hören zu können, ist von allen Sinneswahrnehmungen die wichtigste Voraussetzung für die geistige Entwicklung des Menschen und für ein sozial integrierendes Leben in der Gesellschaft. Rund 14 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter mehr oder minder starker Schwerhörigkeit. Ohne Behandlung entstehen bei Kindern Sprachentwicklungsstörungen, bei Erwachsenen droht die soziale Isolation. Als Therapie kam bis vor 15 Jahren ausschließlich eine konventionelle Hörgeräteversorgung in Betracht. Gerade bei einer hochgradigen Schwerhörigkeit stoßen jedoch konventionelle Hörgeräte auf Grund bauartbedingter technischer Einschränkungen an ihre Grenzen. Hier sind Hörgeräteimplanate aufgrund der Trennung ihrer Einzelkomponenten nach wie vor im Vorteil. Sie bieten in der Regel eine bessere Klangqualität und differenziertere Spracherkennung dank geringerer Verzerrung. Daneben spielen auch medizinische Gründe, wie z. B. intolerable Okklusionen des Gehörganges und rezidivierende Gehörgangsentzündungen bei der Entscheidung für ein Hörgeräteimplantat eine Rolle. Für eine Reihe von Patienten spielt auch die Stigmatisierung durch ein konventionelles Hörgerät eine entscheidende Rolle, sich gegen ein solches Hörgerät zu entscheiden. Anders als für einen Normalhörenden ist es für einen Hörbehinderten besonders schwer, verzerrte Sprache zu verstehen. Darüber hinaus können konventio-
nelle Hörgeräte bei einzelnen Patienten zwar in der Hörprüfkabine effektiv sein, während ihre Anwendung in spezifischen Alltags- und Berufssituationen nur eingeschränkt oder gar nicht möglich ist. Dies trifft insbesondere für Hören im Störlärm oder Konferenzsituationen zu[19]. Diese Nachteile lassen sich in den meisten Fällen durch teilimplantierbare Hörgeräte umgehen. Der Grund hierfür liegt vor allem in der Tatsache begründet, dass aktive Mittelohrimplantate an die Gehörknöchelchenkette angekoppelt werden und so das Innenohr direkt stimulieren[1], [2], [4], [8], [10], [11].
Das teilimplantierbare Hörsystem Vibrant MedEL® Dieses System ist seit 1996 am Markt und wurde mehr als 3.500 Patienten implantiert. Technik Das VSB System setzt sich aus einem äußeren und einem inneren Teil zusammen. Der äußere Teil (Abb. 1) ist ein Audioprozessor, der mit einem Magneten am Kopf unter dem Haar angebracht wird und Mikrofon, Batterie und Elektronik enthält. Das Schallsignal wird von dem Mikrophon aufgenommen, in ein elektrisches Signal umwandelt und an den unter der Kopfhaut implantierten Teil via Induktion übertragen. Der interne Teil besteht aus einer Empfangsstation, die das Signal aufnimmt und über ein Verbindungskabel an den soge-
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Rehabilitation der Schallempfindungsschwerhörigkeit mit dem teilimplantierbaren Hörsystem MedEL Vibrant®
Abb. 1
Da das akustische Signal direkt auf das Innenohr übertragen wird, und der Gehörgang offen bleibt, resultieren erhebliche Vorteile gegenüber konventionellen Hörgeräten, nämlich eine verbesserte Signalqualität, eine Vermeidung von Rückkopplungen und Verzerrungen des Sprachsignals und ein natürlicher Klang der Stimme. Ein weiterer Vorteil gegenüber konventionellen Hörgeräten zeigt sich in der Übertragung höherer Frequenzen (bis 10 kHz). Insgesamt resultiert eine deutliche Zunahme der Sprachverständlichkeit im Allgemeinen und insbesondere im Störlärm.
Audioprozessor
Abb. 2 FMT mit Titanklammer
nannten Floating Mass Transducer (FMT), der an den langen Ambossschenkel mittels einer Titanklammer (Abb. 2) angekoppelt ist, weiterleitet. Bei dem FMT handelt es sich um einen elektromechanischen Wandler, der das akustische Signal in Schwingungen umsetzt, die direkt über die Gehörknöchelchenkette auf das Innenohr übertragen werden. Aufgrund der geringen Masse des FMT (25 mg) kommt es, wie in zahlreichen Studien belegt werden konnte, zu keiner Beeinträchtigung des Restgehörs[3, 13, 17]. Durch die direkte Platzierung des FMT im Mittelohr, ist das Auftreten von Rückkoppelungen unwahrscheinlich, da kein direkter Schallweg zwischen FMT und dem im äußeren Teil gelegenen Mikrofon besteht.
Indikationen Teilimplantierbare Hörgeräte eigenen sich besonders gut für die Versorgung von Patienten mit einer Schallempfindungsschwerhörigkeit, die einen Hochtonsteilabfall aufweisen, wie man ihn nach akuten und chronischen Lärmbelastungen findet. Dies erklärt sich aus der Bauweise der Implantate, die in den mittleren und hohen Frequenzen besonders effektiv die Schwingungen verstärken können. Daneben sind teilimplantierbare Hörgeräte bei Patienten indiziert, bei denen aufgrund der Anatomie des äußeren Gehörganges, rezidivierenden Gehörgangsentzündungen oder anderen chronischen Hauterkrankungen mit Beteiligung des äußeren Gehörganges eine Versorgung mit konventionellen Hörgeräten nicht möglich ist. Der Indikationsbereich bei reinen Schallempfindungsschwerhörigkeiten ist in Abbildung 3 dargestellt, wobei bei Einsatz des StandardAudioprozessors die Obergrenze bei 500 Hz 65 dB und bei 6.000 Hz 85 dB beträgt. Darüber hinaus ist der Einsatz eines stärkeren Audioprozessors möglich, der die Obergrenze in den genannten Frequenzbereichen um ca. 25 dB erhöht. Vor der Implantation einer VSB kann dem Patienten eine Vorstellung über die zu erwartende Hörverbesserung mit Hilfe des sogenannten Direct Drive Stimulators vermittelt werden. Hierbei wird der FMT nahe bzw. auf dem Trommelfell platziert und über einen CD
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Abb. 3 Indikationsbereich für die Schallempfindungsschwerhörigkeit
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dere Anteil des Demodulators durchgeführt und gleichzeitig ohne Fadenarmierung fixiert. Nach Komplettierung der Antrotomie wird die posteriore Tympanotomie angelegt. Nach Möglichkeit sollte der Zugang zur Paukenhöhle mindestens einen Durchmesser von 3 mm haben. In Anbetracht der Tatsache, dass hierbei sowohl die Chorda tympani, als auch der N. fazialis gefährdet sind, ist die Verwendung eines intraoperativen Fazialismonitorings empfehlenswert. Nach Abschluss dieser Vorarbeiten wird das Implantat positioniert, der FMT durch die posteriore Tympanotomie durchgeführt und mit der Titanklammer am langen Ambossfortsatz befestigt (Abb. 4 und 5).
Player mit Verstärker angesteuert. Alternativ kann auch der Gehörgang mit Flüssigkeit gefüllt werden, in die der FMT eingetaucht wird. Operatives Vorgehen Die Operationsschritte, die für die Implantation nötig sind, ähneln dem Vorgehen bei Cochlea Implantaten. Nach einem retroaurikulären Hautschnitt wird zunächst eine erweiterte Antrotomie durchgeführt. Hierbei muss der kurze Ambossfortsatz sicher identifiziert werden. Anschließend wird das Implantatbett angelegt. Im Gegensatz zu anderen Autoren[4, 9, 16], die in den Schädelknochen ein vollständiges Implantatbett für die Aufnahme des VORP’s (Vibrant Ossicel Replacement Prothesis) fräsen, empfehlen wir lediglich ein kleines Knochenlager für die Aufnahme des vorderen Anteil des VORP’s anzulegen. Der Magnet, der den Audioprozessor hält, wird unter den M. temporalis und die Kopfschwarte platziert. Der Vorteil für den Patienten bei diesem Vorgehen besteht darin, dass ein wesentlich kleineres Wundbett und damit ein geringeres Operationstrauma resultieren. Eine weitere Modifikation des herkömmlichen Vorgehens besteht darin, dass eine Knochenbrücke am Übergang zur Antrotomiehöhle erhalten wird. Unter dieser wird später der vor-
Abb. 4 Antrotomie und posteriore Tympanotomie vor Implantation
Abb. 5 FMT in situ
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teilimplantierbaren Hörsystem vom Typ Vibrant Soundbridge versorgt. Die Daten von 65 einseitig und fünf beidseitig operierten Patienten wurden bislang ausgewertet und zeigten vergleichbare Ergebnisse zu den von anderen Autoren publizierten Daten[5, 6, 7, 12, 16]. Ergebnisse und Diskussion Die von uns operierten Patienten (52 Männer, Am Bundeswehrkrankenhaus Ulm wurden in 13 Frauen) waren im Median 63 Jahre alt den letzten 7 Jahren 71 Patienten mit einem (17–79 Jahre). Bei keinem der Patienten kam es postoperativ zu einer relevanten Abwanderung der Knochenleitungsschwelle oder einer Beeinträchtigung der Schalleitung infolge der Ankoppelung des FMT am langen Ambossfortsatz (Abb. 6). Die funktionelle Hörverbesserung nach Anpassung des VSB Systems betrug zwischen 8 und 40 dB. Der Median der funktionellen Hörverbesserung über alle Abb. 6 Frequenzen hinweg lag Unversorgte Reintonschwellen prä- und postoperativ (dargestellt ist der bei 18 dB, entsprechend eiMedian ohne Standardabweichung) nem Hörgewinn von knapp 40 % (Abb. 7). Besonders deutlich wird der Hörgewinn des VSB Systems bei 60 dB. Im Freiburger Sprachtest wurde ohne Hörhilfe eine Einsilberverständlichkeit von durchschnittlich 50 % erreicht. Mit den vor der Operation getragenen konventionellen Hörgeräten erreichten die Patienten im Median 58 % und mit einem Implantat 86 % Einsilberverständlichkeit (Abb. 8). Herausragend ist das Ergebnis der 5 Patienten in unserem Kollektiv, die beidseitig implantiert wurden. Abb. 7 Durchschnittliche funktionelle Hörverbesserung nach VSB Implantation Ohne Hörgeräte betrug (n = 65) (dargestellt ist der Median ohne Standardabweichung die EinsilberverständlichEtwa 8 Wochen nach dem Eingriff erfolgt die Anpassung des Audioprozessors beim klinischen Audiologen oder dem Hörgeräteakustiker.
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Abb. 8 Sprachdiskrimination (Freiburger Sprachtest) bei 60, 80 und 100 dB ohne Hörhilfe, mit konventionellen Hörgeräten und nach einseitiger VSB Implantation (n = 65) (dargestellt ist der Median ohne Standardabweichung)
ventionellen Hörgeräten zunehmend etabliert. Mit einer einseitigen VSB Implantation konnten wir bei allen Patienten ein besseres Sprachverständnis im Vergleich zu einer beidseitigen Versorgung mit konventionellen Hörgeräten erzielen. Eine weitere Verbesserung der Sprachdiskrimination wurde mit einer beidseitigen Implantation erreicht. Zusätzlich Abb. 9 berichten diese Patienten Sprachdiskrimination (Freiburger Sprachtest) bei 55 dB bei ein- und beidüber ein besseres Sprachseitiger Implantation vs. Hörgeräte (n = 5) (dargestellt ist der Median ohne verständnis im Störlärm Standardabweichung) und ein verbessertes Richtungshören. Gerade bei Patienten, die auf ein keit bei 55 dB 45 %, mit 2 idO Geräten 55 %, überdurchschnittliches Diskriminationshören mit einem Hörgeräteimplantat 75 % und mit angewiesen sind (Konferenzsituation), ist dies 2 Hörgeräteimplantaten 100 % (Abb. 9). von erheblicher Bedeutung[14]. Der operative Eingriff selbst war für die PatiZusammenfassend betrachtet stellen teilimenten wenig belastend. Als einzige relevante plantierbare Hörgeräte eine wertvolle ErKomplikation kam es bei einem Patienten zu gänzung der konventionellen Hörgerätevereiner peripheren Fazialisparese, die vermutsorgung dar. Der operative Eingriff selbst ist lich über eine Hitzeentwicklung im Rahmen komplikationsarm. der posterioren Tympanotomie zu erklären Präoperativ müssen die Patienten jedoch ist. Bei diesem Patienten kam es innerhalb von darüber aufgeklärt werden, dass mit einem 8 Monaten postoperativ zu einer weitgehenaktiven Mittelohrimplantat nach derzeitiden Normalisierung der Fazialisfunktion. gem Kenntnisstand keine KernspintomograInsgesamt betrachtet hat sich die VSB in den phie durchgeführt werden kann. Ob durch letzten 12 Jahren als Alternative zu den kon-
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Modifikation der Implantatmaterialien eine Kernspin-Freigabe (zu mindestens für Untersuchungen bis 1,5 T) erreichbar ist, kann derzeit noch nicht abschließend beurteilt werden[15, 18]. Weitere Einschränkungen im täglichen Leben und beim Sport (mit Ausnahme von Extremsportarten, wie Presslufttauchen oder Kampfsportarten) bestehen nicht.
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Zusammenfassung Zur Rehabilitation der Schallempfindungsschwerhörigkeit haben sich in den letzten Jahren teilimplantierbare Hörgeräte zunehmend etabliert. Patienten, die mit einem teilimplantierbaren Hörgerät versorgt wurden, berichten mehrheitlich über erhebliche Vorteile des Implantates im Vergleich zu konventionellen Hörgeräten: Genannt werden dabei ein deutlich besseres Sprachverständnis, vor allem im Störgeräusch, eine verbesserte Klangqualität, ein natürlicherer Klang der eigenen Stimme sowie die grundsätzlichen Vorteile eines offenen Gehörgangs. Implantierbare Hörsysteme weisen einen breiteren Indikationsbereich im Vergleich zu konventionellen Hörgeräten auf. Vor allem die Versorgung von Hochtonschwerhörigkeiten, wie auch die Versorgung von kombinierten Schwerhörigkeiten sind hier zu nennen. Betrachtet man querschnittlich Hörergebnisse bei allen mit diesen Systemen bislang versorgten Patienten, so resultiert im Mittel eine Anhebung der Hörschwelle um knapp 15 dB, entsprechend einem Hörgewinn von über 30 %. Insgesamt betrachtet stellen implantierbare Hörgeräte damit eine hervorragende Ergänzung und Erweiterung der konventionellen Hörgeräteversorgung dar. Literatur [1] [2]
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Kriterien gegen den Einsatz aktiver Mittelohrimplantate T. Steffens
Einleitung Aktive Mittelohrimplantate, also teil- oder vollimplantierbare Hörgeräte (HG), stellen eine technische Alternative zu konventionellen, nichtimplantierbaren HG dar. In Anbetracht des invasiven, teilweise destruktiven Vorgehens bei der Implantation stellt sich die Frage, ob die Qualität dieser Art von Hörgeräteversorgung den hohen Aufwand und die mit der OP verbundenen Risiken und Nebenwirkungen rechtfertigt, wenn nicht zwingende medizinische Gründe, wie Missbildungen des Außenohres vorliegen, die eine Versorgung mit klassischen Hörgeräten unmöglich macht. Es ist besonders zu betonen, dass eine ausgeprägte Unzufriedenheit mit einer konventionellen Hörgeräteversorgung alleine kein zwingender Grund für die Implantation von Hörgeräten darstellen kann, da sich die Verstärkungsverfahren der implantierbaren und klassischen HG identisch sind und die Hörprobleme in der Regel auf die mit Verstärkung nicht korrigierbaren Defizite der Schallverarbeitung im Innenohr, z. B. des Frequenz- und Zeitauflösungsvermögens, oder auf neuronale Degenerationen im Ganglion spirale zurückführen lassen. Diese Begleiterscheinungen einer sensorineuralen Hörstörung, die zum Verlust von auditiver Differenzierfähigkeit führen, lassen sich mit keiner derzeit vorhandenen Hörgerätetechnologie beseitigen, sodass es nicht verwundert, dass dieselben Probleme auch mit implantierbaren HG weiterbestehen. Dieser Beitrag beschreibt aus Sicht der aktuellen Studienlage audiologische, medizinische und technologische Kriterien, die gegen den
Einsatz von teil- und vollimplantierbaren HG und für die Bevorzugung von nichtimplantierbaren klassischen HG sprechen.
Audiologische Kriterien gegen den Einsatz implantierbarer Hörgeräte Jede Hörgerätetechnologie muss sich an ihren audiologischen Ergebnissen messen lassen. Aus der Datenlage der aktuellen Studien lassen sich folgende audiologische Kriterien ableiten, die relevante Nachteile der Anwendung implantierbarer HG gegenüber klassischen, nichtimplantierbaren HG darstellen. Unilaterale Hörgeräteversorgung Ein gewichtiges audiologisches Gegenargument ergibt sich aus der üblicherweise nur unilateralen Anwendung implantierbarer HG. Damit ist unweigerlich der Verzicht auf den binauralen Hörgewinn, eine Einschränkung des Richtungshörens und die Gefahr einer Deprivation der unversorgten Seite verbunden. Sowohl in Ruhe, als auch vor allem in der alltäglichen Hörsituation im Störgeräusch führt eine nur unilaterale HG-Versorgung zu einer relevanten Einschränkung des Sprachverstehens gegenüber der bilateralen Hörgeräteversorgung. In Tabelle 1 sind typische Verbesserungen des Sprachverstehens von Worten in ganzen Sätzen (gemessen auf der Basis von Satztestverfahren) durch effektive Verbesserung des Signal-Rausch-Verhältnisses (SNR) bei bilateraler HG-Versorgung aufgeführt[7]. Auch wenn sich
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Kriterien gegen den Einsatz aktiver Mittelohrimplantate
Im Störgeräusch
Verbesserung SNR
Verbesserung Sprachverstehen
Kopfschatten-Effekt
6 –12 dB
40 – 80 %
Binaurale Störgeräuschunterdrückung 1– 2 dB
10 – 30 %
Binaurale Redundanz
1 dB
10 –15 %
In Ruhe
Verbesserung SNR
Verbesserung Sprachverstehen
Binaurale Summation
1– 3 dB
10 – 45 %
Tabelle 1 Verbesserung des Sprachverstehens im Störgeräusch und in Ruhe von Wörtern in Sätzen bei bilateraler gegenüber unilateraler Hörgeräteversorgung durch den physikalischen Kopfschatten-Effekt und neurophysiologische Effekte zur Verbesserung des effektiven Signal-Rausch-Verhältnisses (SNR).
nicht in jeder realen Hörsituation die Hörgewinne aller Teileffekte einfach addieren lassen, zeigt sich doch, welch großer Nachteil eine nur unilaterale HG-Versorgung im Vergleich zur bilateralen Versorgung darstellt. Nicht selten kann in den alltäglichen störgeräuschbehafteten Kommunikationssituationen mit einer bilateralen HG-Versorgung ein doppelt so gutes Sprachverstehen erzielt werden, wie mit einer unilateralen Versorgung. Bei mittel- bis hochgradigen Hörstörungen führt eine unilaterale Hörgeräteversorgung zu einer starken Beeinträchtigung des Lokalisationsvermögens gegenüber einer bilateralen Versorgung, insbesondere wenn im Tieftonbereich unterhalb von 1500 Hz ein Hörverlust von mehr als 20 – 30 dB vorhanden ist[3]. Sehr kritisch muss eine nur unilaterale Versorgung im Hinblick auf eine mögliche auditorische Deprivation des unversorgten Ohres gesehen werden[12], die schon nach einem halben bis einem Jahr zu einer relevanten Verringerung des Sprachverstehens auf der unversorgten Seite führen kann. Nicht in jedem Fall kann eine späte Nachversorgung des deprivierten Ohres die erlittene Reduktion des Sprachverstehens beheben[10], [1].
Unzureichende Studienevidenz Eine evidenzbasierte Bewertung der Hörtestergebnisse mit dem teilimplantierbaren HG Symphonics „Soundbridge“ von Med-El und den vollimplantierbaren HG „Carina“ von Otologics und „Esteem“ von Envoy ist nahezu unmöglich, da, wahrscheinlich aufgrund der Invasivität der Operation, bisher keine randomisierten Patientengruppen vorliegen. Leider liegt es in der Natur der Sache, dass bei dieser invasiven Behandlungsmethode eine Randomisierung der Patienten in eine Implantations- und eine Vergleichsgruppe mit konventioneller HG-Versorgung nur schwer durchgeführt werden kann. Auch sind die Fallzahlen bei der großen Streuung der Sprachtestergebnisse in der Regel viel zu klein, um eine im Sinne der Evidenz relevante Aussage treffen zu können. Vergleich mit veralteter Hörgerätetechnik Die eigenen Hörgeräte der Patienten weisen in der überwiegenden Mehrheit der publizierten Studien eine veraltete Technik auf. Ergebnisse der Fragebögen zur präoperativen HG-Versorgung zeigen durchgehend, dass präoperativ vor allem Probleme mit der Lautstärkeeinstellung und verschlossenem Gehörgang, mit dem hören leiser Schallquellen und
Kriterien gegen den Einsatz aktiver Mittelohrimplantate
mit Rückkopplungs-Pfeiffen benannt wurden (exemplarisch in der FDA-Zulassungsstudie des „Carina“-Systems, [9]). Diese Probleme sind eindeutige Indizien für eine analoge, lineare Verstärkertechnologie, die spätestens seit Mitte der 90er Jahre in Deutschland als veraltet gilt, und können allesamt mit aktuellen konventionellen Hörgeräten vollständig gelöst werden. Da bei der Bewertung implantierbarer HG wesentliche Aussagen über Hörvorteile nicht aus objektiven audiologischen Messungen des Sprachverstehens, sondern aus subjektiven Fragebögeninventaren gewonnen werden, ist die Referenzsituation mit veralteter Verstärkertechnologie sehr kritisch zu betrachten. Es liegt auf der Hand, dass bei einem solchen Vergleich jedes mit moderner nichtlinearer Verstärkertechnik ausgestattete neues HG in der subjektiven Patientenbeurteilung besser abschneidet, als eine veraltete Technologie, die ja solche Probleme verursachte, dass sich ein Patient einer Ohroperation mit all ihren Risiken und Nebenwirkungen unterziehen ließ. In Anbetracht der im Normalfall vom Patienten selbst zu zahlenden extrem hohen Versorgungskosten pro Ohr von ca. 17.000 € (Symphonics „Soundbridge“) bis zu 25.000 € (Envoy „Esteem“) ist zu fordern, dass für einen beweiskräftigen objektiven Vergleich nur high-end Hörgeräte der klassischen HdOoder IdO-Bauart als Referenzgeräte verwendet werden, deren Zuzahlung im Bereich von „nur“ 2.500 – 3.000 € liegt. Dies wurde bisher jedoch nur in einer Studie[15] ansatzweise insofern berücksichtigt, dass zumindest aktuelle HG der oberen, wenn auch nicht höchsten Leistungsklasse in einen Vergleich des Sprachverstehens in Ruhe einbezogen wurden. Es konnten jedoch keine Vergleichsdaten mit denselben Patienten gewonnen werden, sondern eine Patientengruppe mit „Symphonics Soundbridge“ und eine andere mit Otologics „Carina“ wurden einer Vergleichsgruppe mit konventioneller gehobener HG-Technik gegenüber gestellt. Das Sprachverstehen mit diesen guten konventionellen HG war gegenüber beiden implantierbaren
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Systemen signifikant besser! Ein Vergleich mit modernen Hochleistungs-HG wurde bisher nur in einer zweiten Studie publiziert. Truy et al.[14] führen zwar vor der Implantation einer „Symphonics Soundbridge“ eine dreimonatige Versorgung mit einem modernen HG der oberen Leistungsklasse durch, konnten jedoch nur sechs Patienten untersuchen und insgesamt keine relevante Überlegenheit der „Soundbridge“ nachweisen (siehe auch den folgenden Teil). Kein akustischer Vorteil gegenüber guten, modernen, konventionellen Hörgeräten Die mäßige Verstärkungsleistung derzeitiger implantierbarer HG beschränkt den Einsatz auf gering- bis mittelgradige sensorineuraler Hörstörungen. Bei einer Progredienz besteht die Gefahr, dass keine Verstärkungsreserven mehr zur Verfügung stehen. Schallleitungsstörungen von >40 dB sind (bei der üblichen Ankoppelung an die Gehörknöchelchenkette) nur schwer zu versorgen. Besonders problematisch gestaltet sich in dieser Hinsicht der Einsatz des vollimplantierbaren Systems „Esteem“ von Envoy, weil zu seiner Applikation die Gehörknöchelchenkette irreversibel unterbrochen werden muss um Rückkopplungen zu vermeiden, und dadurch die Luftleitungsschwelle um 40 – 50 dB verschlechtert wird. Bisher wurden zu diesem System nur zwei Studien publiziert (Chen et al. 2004, Barbara et al. 2008). Die darin erreichten Verstärkungen (Abb. 1) müssen bei den präoperativen Hörschwellen von 60 – 90 dBHL jedoch als völlig unzureichend angesehen werden, da das Langzeit-Sprachspektrum normallauter Sprache nicht ausreichend hörbar gemacht werden konnte. Der vielzitierte Vorteil implantierbarer HG im Sprachverstehen resultiert in erster Linie auf dem Vergleich mit veralteter konventioneller Hörgerätetechnologie. Dementsprechend ernüchternd fällt aufgrund der mangelhaften Verstärkungswirkung der Vergleich des Sprachverstehens mit aktuellen, guten konven-
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Kriterien gegen den Einsatz aktiver Mittelohrimplantate
Abb. 1 Postoperative in-situ-Verstärkung des vollimplantierbaren HG „Esteem“ von Envoy. Die blauen Kurven zeigen die Daten von Chen et al.[4] zum Zeitpunkt 4 Monate (gestrichelt) und 10 Monate nach OP (durchgezogen). Durch eine postoperative Hörschwellenverschlechterung reduzierte sich die in situ-Verstärkung um ca. 10 dB. Barbara et al. (rote Kurve) bestimmten die in situ-Verstärkung 12 Monate nach OP. Trotz pantonalem Hörverlust fällt der mitten-betonte Verlauf der in situ-Verstärkung auf. Negative Verstärkungen bedeuten eine schlechtere Hörschwelle mit als ohne HG.
tionellen HG aus[15], [14]. Verhaegen et al. zeigten auf, dass lediglich nur 41 % der Patienten mit einer Soundbridge bei einem mittleren Hörverlust bis 70 dB ein Sprachverstehen in Ruhe erzielten, dass in der Größenordnung liegt, das 95 % der Patienten mit einem modernen, guten digitalen HG bei gleichem Hörverlust erzielten; bei Patienten mit dem Middle Ear Transducer (MET) von Otologics betrug diese Quote 50 %. In der Untersuchung von Truy et al.[14] zeigte nur ein Patient („SG“) mit der „Soundbridge“ beim Sprachverstehen in Ruhe eine signifikante Verbesserung gegenüber dem klassischen HG bei allen drei getesteten Sprachpegeln. Im Störgeräusch wurde dies von keinem Patienten erreicht. Nur zwei Patienten („BLF“, „TM“) konnten bei einem von fünf getesteten Signal-Rausch-Verhältnissen (– 6 dB) ein um ca. 20 %-Punkte besseres Sprachverstehen gegenüber dem klassischen HG erzielen, das bei dem verwendeten
Sprachtest mit Phonemzählung als signifikat unterschiedlich gewertet werden kann[13]. Aufgrund der sehr kleinen Fallzahl (n = 6) reichen die wenigen Verbesserungen der Einzelfälle zwar aus, um im Gruppenunterschied bei zwei von acht Subtests einen rechnerisch signifikanten Vorteil des teilimplantierbaren Systems aufzuzeigen, dem jedoch keine tatsächliche Evidenz oder klinische Relevanz zugeschrieben werden kann. Für die vollimplantierbaren Systeme „Carina“ und „Esteem“ konnten bisher keine Verbesserungen des Sprachverstehens gegenüber klassischen HG nachgewiesen werden. Im Gegenteil, das Sprachverstehen mit beiden vollimplantierbaren Systemen war signifikant schlechter als mit den präoperativen klassischen HG: „Carina“ präop. 81 %, postop. 68 %[9], „Esteem“ präop. 75 %, postop. 28 %[4]. Bisher wurde ein Langzeit-Vergleich mit der Symphonics Soundbridge publiziert[11], der
Kriterien gegen den Einsatz aktiver Mittelohrimplantate
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Abb. 2 In situ-Frequenzgang der vollimplantierbaren Hörgeräte Otologics „Carina“ und Envoy „Esteem“.
eine Aussage darüber ermöglicht, wie sich das Sprachverstehen und die subjektive Beurteilung der Versorgungsqualität einige Jahre nach Implantation entwickelt hat. Im Sprachverstehen zeigte sich nach 3 ½ Jahren Nutzung der Soundbridge ein signifikant schlechteres Ergebnis in Ruhe und kein Unterschied im Störgeräusch im Vergleich zur präoperativen HG-Versorgung. Die strukturierte Befragung mit dem International Outcome Inventory for Hearing Aids (IOIHA)[5], [6] ergab lediglich in der Kategorie „Impact on Others“ einen leichten Vorteil für die „Soundbridge“. In der Kategorie „Quality of Life“ wurden hingegen die eigenen konventionellen HG besser beurteilt. Das immer wieder vorgebrachte Argument einer besseren Hochtonverstärkung bei implantierbaren Hörgeräten lässt sich sowohl in Anbetracht der Breitbandigkeit moderner high-end HG klassischer Bauart mit Frequenzobergrenzen von bis zu 8 kHz, als auch nach der publizierten Studienlage nicht nachvollziehen. In Abb. 2 sind die bisher publizierten in situ-Verstärkungsfrequenzgänge der vollim-
plantierbaren Systeme „Carina“ und „Esteem“ dargestellt. Deutlich ist die, für die zugrunde liegenden mittel- bis hochgradigen, pantonalen sensorineuralen Hörverluste mangelhafte Verstärkung insbesondere im Tiefton- und im Hochtonbereich erkennbar. Besonders hervorzuheben ist ebenfalls die Tatsache, dass seit mehreren Jahren durch die Möglichkeit der offenen Versorgung mit konventionellen HG für alle Patienten mit Hörverlusten im Indikationsbereich implantierbarer HG (gering- bis mittelgradiger Hörverlust) kein Verschluss des Gehörganges mit einer schalldichten Otoplastik mehr erforderlich ist, was als weiteres gewichtiges Argument gegen den Einsatz implantierbarer HG hervorgehoben werden kann. Die technischen Möglichkeiten zur Störgeräuschreduktion sind bei den klassischen Hörgeräten sehr viel weiter entwickelt, als bei den implantierbaren Geräten. Vor allem die sehr wirksamen Richtmikrofone sind bei den vollimplantierbaren Systemen „Carina“ und „Esteem“ überhaupt nicht realisiert. Hier kann lediglich der Audioprozessor der
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„Soundbridge“ eine Störgeräuschreduktion realisieren, die allerdings aufgrund der zulassungsbedingten Festlegung auf einen Hörgeräte-Chip heute nicht mehr dem maximal Möglichen entspricht.
Medizinische und technologische Kriterien gegen den Einsatz implantierbarer Hörgeräte Der große operative Aufwand und die damit verbundenen Risiken und Nebenwirkungen stehen insbesondere durch das Fehlen signifikanter und relevanter audiologischer Vorteile in keinem Verhältnis zur HG-Versorgung mit klassischen Hörgeräten. Die notwendige Unterbrechung der Gehörknöchelchen-Kette und die operative Zerstörung der Chorda tympani bei der Applikation des Envoy „Esteem“ Systems sind bei den ungenügenden Verstärkungseigenschaften dieses Systems nicht akzeptabel. Für alle implantierbaren Systeme gilt eine sehr eingeschränkte oder nicht vorhandene MR-Kompatibilität, die bei der stetig wachsenden Bedeutung der MR-Tomografie einen besonderen Nachteil darstellt. Begrenzte Akku- und Batterielebenszeit, verbunden mit einem notwendigen operativen Austausch und die nur sehr eingeschränkte Teilhabe am technischen Fortschritt durch die dauerhafte Festlegung auf nur einen Hersteller müssen bei den vielfältigen, guten oder überlegenen technischen Alternativen mit konventionellen Hörgeräten als eindeutige Argumente gegen den Einsatz implantierbarer Systeme gewertet werden. Die extremen Versorgungsund Folgekosten bei nur einohriger Versorgung mit implantierbaren Hörgeräten betragen bis zum 10-fachen der Kosten einer beidohrigen Versogung mit klassischen high-end Hörgeräten. Die niedrigsten Versorgungskosten in Höhe von ca. 17.000 € pro Ohr bestehen bei der Versorgung mit der Symphonics „Soundbridge“. Die höchsten Kosten erfordert derzeit die Implantation des Envoy „Esteem“ Systems
mit ca. 25.000 € pro Ohr und den Folgekosten des Batterie/Elektronik-Wechsels alle ca. 5 Jahre in Höhe von ca. 7.000 € pro Wechsel. Bei einer Versorgungsdauer von 30 Jahren mit einem Batterie/Elektronik-Austausch alle 5 Jahre betragen die Kosten für eine beidohrige Versorgung mit dem Envoy „Esteem“ stolze 120.000 € (2 u 25.000 € + 5 u 2 u 7.000 €)! Mit den besten klassischen high-end Hörgeräten betragen die Versorgungskosten bei beidohriger Versorgung im gleichen Zeitraum mit einem Hörgeräteaustausch alle 5 Jahre nach heutiger Kalkulationsgrundlage ca. 36.000 € (6 u 2 u 3.000 €). Keiner der drei derzeit auf dem deutschen Markt tätigen Hersteller implantierbarer HG kann sein wirtschaftliches Überleben und den langfristigen Fortbestand der Implantatstechnologien in dem Maße garantieren, wie es von den Herstellern klassischer Hörgeräte erwartet werden kann. In Fachkreisen bestehen im Gegenteil große Zweifel an der langfristigen Beständigkeit der Produkte und Firmen. Für die vollimplantierbaren Systeme „Carina“ und „Esteem“ werden Ausfallraten von über 50 % berichtet[8], [4]. Mit implantierten HG bindet sich der Patient an einen Hersteller, dessen Produktqualität und an dessen, aufgrund der geringen Absatzzahlen nur beschränktes Innovationspotential.
Fazit Die bisherigen implantierbaren Hörgeräte bieten keine relevanten nachweisbaren Hörvorteile gegenüber guten klassischen Hörgeräten, insbesondere keine bessere Hochtonverstärkung; auch klassische Hörgeräte können seit Jahren mit vollständig offenem Gehörgang angepasst werden. Das Sprachverstehen in Ruhe oder im Störgeräusch ist gegenüber guten klassischen Hörgeräten in den meisten Fällen schlechter. Die üblicherweise nur einseitige Applikation implantierbarer Systeme führt im Vergleich mit der standardmäßigen beidohrigen Versorgung
Kriterien gegen den Einsatz aktiver Mittelohrimplantate
mit klassischen Hörgeräten definitiv zu zusätzlichen Nachteilen in schwierigen Hörsituationen, weil die Hörvorteile des binauralen Hörens nicht ausgenutzt werden können. Auf diesen Umstand müssen Patienten besonders aufmerksam gemacht werden. Dazu ist vor der Implantation über einen ausreichenden Zeitraum die einohrige Versorgung mit konventionellen Hörgeräten mit dem Patienten zu exerzieren. Die Operationsrisiken und extrem hohen Versorgungskosten stehen in keinem Verhältnis zum akustischen Nutzen. Es bestehen große Zweifel an der langfristigen Beständigkeit der implantierbaren Systeme und der Herstellerfirmen.
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Gleichgewichtssystem
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen H. Scherer
Einleitung Das Innenohr ist, wie wir alle wissen, im härtesten Knochen der Körpers eingebettet. Wenn auch die bildgebende Diagnostik immer besser wird und die Forschung auf zellulärer Ebene immer tiefer in die Geheimnisse der Natur eindringt, so sind wir doch noch weit davon entfernt, bei akuten oder anfallsartig auftretenden Erkrankungen dem Patienten einen klaren Hinweis auf die Genese seiner Erkrankung zu geben. Entsprechend vielfältig, skurril und wohl z. T. auch falsch sind die von HNO-Ärzten und anderen Vertretern der im Kopf tätigen Fächern untereinander und dem Patienten gegenüber vertretenen Theorien. Ein klassisches Beispiel ist der Hörsturz. Hier wird von Durchblutungsstörungen gesprochen oder von Virusinfekten, nur selten gibt es aber einen klaren Beweis. A. von Tröltsch hat das Dilemma in seinem Lehrbuch der Ohrenheilkunde (1881) in unnachahmlicher Weise beschrieben: „Die nervöse Taubheit (heutiger Begriff: Hörsturz) ist dasjehnige Leiden, bei der der Kranke nichts hört und der Arzt nichts sieht“ Im Folgenden will ich auf Untersuchungsmethoden eingehen, markante Erkrankungen des Gleichgewichtsorgans anführen und unser Unwissen deutlich machen. Der in diesem Gebiet tätige Arzt soll angeregt werden, Patienten gegenüber mehr begriffliche Vorsicht walten zu lassen und bes. in Gutachten keine
unbewiesenen Behauptungen aufzustellen. Vielleicht wird mancher junge Kollege angeregt, auf diesem Gebiet zu forschen, um die weißen Flecken auf der Landkarte des Innenohres mit Wissen zu füllen.
Vestibuläre Untersuchungsmethoden Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist bekannt, dass die bogenförmigen Kanäle des Labyrinths Teile eines Organs für die Statik sind. Der Gleichgewichtssinn als 6. Sinn war gefunden. Während schon früh mit der thermischen Prüfung eine seitengetrennte Reizung des horizontalen Bogengangs möglich war (tatsächlich wird viel mehr gereizt), gelang es erst vor kurzem, auch die Otolithenorgane seitengetrennt zu stimulieren[1– 3] Parallel dazu wurden Videotechniken zur präzisen Messung von Augenbewegungen in allen drei Ebenen (horizontal, vertikal und torsional) entwickelt und zusätzlich zu der mehr laborgebundenen magnetischen Technik mit Haftschalen (Search Coils) in die klinische Routine eingeführt[4 – 9]. Es wurde eine Screeninguntersuchung entwickelt, mit der die einzelnen Bogengangssensoren untersucht werden können (Head Impuls Test, HIT)[10] . Damit sind die wichtigsten Lücken in der Diagnostik geschlossen. Zu den vorhandenen Methoden wie der unilateralen thermischen und der bilateralen rotatorischen Prüfung gesellten sich
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Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen
Abb. 1 Links: Zentrische Drehung zur bilateralen Stimulation der Utrikuli. Rechts: Exzentrische Drehung zur unilateralen Stimulation des rechten Utrikulus. Der Stuhl wird dazu während der Rotation um 3.5 cm nach rechts verschoben. Der linke Utrikulus ist im Zentrum der Rotation. Auf ihm lastet keine Zentrifugalkraft. Der rechte ist um 7 cm exzentrisch. Auf ihm lastet eine Zentrifugalkraft (FR), die mit der gleichzeitig bestehenden Schwerkraft (FG) verrechnet wird zur effektiven Kraft (Feff). Es tritt eine Augentorsion auf, die zu einer Abweichung der subjektiv empfundenen Vertikalen führt.
s DIE unilaterale akustische Stimulation der Macula sacculi (Sakkulus) und die Ableitung der über die vestibulo-zervikale Bahn geleiteten Potentiale als Summenaktionspotentiale über dem M. sternocleidomastoideus (Vestibular Evoked Myogenic Potentials: VEMP)[11], [12]. s DIE unilaterale Stimulation der Macula utriculi (Utrikulus) mit der minimal exzentrischen Rotation (Abb. 1). Die dabei auftretende Augentorsion wird entweder mit Videotechnik oder Search Coils gemessen oder, einfacher, die Abweichung der subjektiven visuellen Vertikalen (SVV) bestimmt (Abb. 2)[1], [2], [13], [14], [14 –17]. Dazu gibt es die etwas ungenauere, dafür aber ohne Aufwand ausführbare Technik der Positionsänderung im Verlauf einer
Abb. 2 Drehbare Leuchtlinie zur Bestimmung der subjektiven Vertikalen. Die Position der Leuchtlinie wird vom Untersuchten während der Drehung mit einem Potentiometer gesteuert.
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen
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Abb. 3 Kalorischer Wendetest (aus Duwel P et al., 2005) Dabei wird in Rückenlage der Gehörgang gespült und nach 40 Sekunden die untersuchte Person von der Rückenlage in die Bauchlage gedreht. Bei intaktem Utrikulus dreht sich dabei der Nystagmus um (Pfeile). Bleibt die Umkehr des Nystagmus aus, dann ist dies ein Zeichen für einen Schaden des Utrikulus. Der Test ist nur durchführbar, wenn sich kalorisch ein Nystagmus auslösen lässt.
thermischen Prüfung, die von Duwel und Westhofen eingeführt wurde (Abb. 3)[18]. Diese Prüfung ist aber nur dann aussagekräftig, wenn bei der thermischen Prüfung ein kräftiger Nystagmus abgeleitet wird, denn es wird die Richtungsänderung dieses Nystagmus gemessen. Diese Technik eignet sich. damit z. B. nicht für die Fragestellung, ob es bei einem akuten Ausfall der Gleichgewichtsfunktion nur um einen Schaden im Bereich der Bogengänge handelt, oder ob der Utrikulus mitbeteiligt ist. Wie wir später sehen werden hat diese Aussage bedeutendes Gewicht für die Rehabilitation.
s ZWEI BILATERALE 3TIMULATIONSMETHODEN DER Otolithenorgane sind bekannt, zum einen die zentrische Rotation (Abb. 1 links). Dabei wird auf einem Drehstuhl rotiert. Auf den Otolithenorganen, i. W. dem Utrikulus lastet eine jeweils nach außen gerichtete Zentrifugalkraft. Beim Gesunden heben sich die Wirkungen auf, da sie entgegengesetzt gerichtet sind. Besteht aber eine Funktionsdifferenz zwischen rechter und linker Seite, dann tritt eine Augentorsion auf, die wieder, wie oben beschrieben, gemessen werden kann. Wir benützen dazu die subjektive visuelle Vertikale (SVV). (siehe Abb. 2) Weiterhin kann man auf einem Kipptisch bilateral stimulieren[2]
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Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen Abb. 4 a) Kipptisch zur bilateralen Untersuchung der Utrikulusfunktion b) Augentorsion gemessen mit einer 3-D Videoanlage beim Gesunden. Diese Untersuchung kann nur zu Beginn einer Erkrankung eine Aussage machen über die Funktion eines der beiden Utrikulus-Organe. Später verwischen kompensatorische Vorgänge das Bild und es kann ein seitengleicher Befund auftreten, obwohl eines der beiden Organe noch geschädigt ist.
a)
b)
(Abb. 4). Bei stufenweisem Kippen zur Seite tritt ebenfalls eine Augentorsion auf, die gemessen werden kann. Beide bilateralen Methoden sind nur in der Anfangszeit eines vestibulären Schadens geeignet, eine Beteiligung der Otolithenorgane aufzuzeigen, denn die Kompensation verwischt wie bei dem Drehstuhltest der Bogengänge die Seitendifferenz. Man kann damit also gut die Kompensation verfolgen.
Betrachtung klinischer Probleme des Innenohres Wir haben damit seit Jahren eine Batterie von Untersuchungsmethoden zur unilateralen Reizung aller Anteile des Gleichgewichtsorgans und einige Methoden zur bilateralen Reizung.
Aber: immer noch gibt es wissenschaftliche Arbeiten, die die Funktion aller Sensoren nicht beachten oder aus bilateralen Tests Schlüsse ziehen auf unilaterale Krankheitsverläufe– und die damit z. T. wertlos sind z. B. Neurology 2008, 449 – 53[19]. In dieser Arbeit wird festgestellt, dass sich Schäden im Bereich des Utikulus schneller erholen als Schäden im Bereich der Bogengänge. Gemessen wurde die Funktion der Utrikuli aber mit einer bilateralen Kippung, die keine Aussage über die tatsächliche Leistung der Einzelorgane zulässt. Unsere Erfahrungen bei unilateraler Testung unterscheidet sich von dieser Aussage markant[20]. Schäden an den Otolithenorganen werden zentral kompensiert. Der Schaden selbst bleibt aber lange oder auf Dauer bestehen. Da wir das Problem bei einer akuten Funktionsstörung im Innenohr nicht direkt sehen
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen
können, (Siehe Zitat Tröltsch) müssen wir Vermutungen anstellen, die mit dem Gesamtbild des Patienten in Einklang gebracht werden müssen. Es gibt zwei Standarderklärungen für den Hörsturz und den akuten Ausfall des Gleichgewichtsorgans, die Durchblutungsstörung und der Virusinfekt. Sind sie ausreichend? Nein! Eine Durchblutungsstörung liegt wahrscheinlich vor bei älteren Patienten mit entsprechenden Risikofaktoren wie Diabetes, starkem Rauchen usw. In einer Arbeit von Rambold et al aus dem Jahr 2005[21] wird festgestellt: In > 30 % bestand zusätzlich zu einem Hörsturz eine Parese des posterioren Bogengangs. Dies entspricht dem Versorgungsgebiet der A. cochlearis. In dieser Gruppe waren mehr ältere Patienten und solche mit vaskulären Risikofaktoren. Bei einer Patientengruppe mit vaskulären Risikofaktoren kann man also die Vermutungs-Diagnose Durchblutungsstörung stellen und entsprechend behandeln. Einen jungen Menschen ohne solche Faktoren mit durchblutungsfördernden Medikamenten zu behandeln ist zwecklos! Analog zur idiopathischen Fazialisparese, die wohl begründet auf eine Infektion des Ganglion geniculi mit Herpes simplex Typ 1 Viren zurückgeht (Aufhellung im MRT und Auffindung von Viruspartikeln im Ganglion) wird behauptet, dass auch der akute Ausfall Folge einer Infektion mit denselben Erregern sei. Auch im Ganglion Scarpae, dem Ganglion des bipolaren N. vestibularis hat man ähnliche Befunde gefunden. Dies führte dazu, dass insbesonders von neurologischer Seite weltweit der deskriptive Begriff eines akutes Ausfalls (engl.: sudden loss of vestibular function) ersetzt wurde durch den Begriff Neuritis vestibularis (engl. Vestibular Neuritis, VN). Diese leider präjudizierende Benennung ist unsinnig, denn es gibt viele Gründe, die eindeutig gegen eine Virusgenese des akuten Ausfalls sprechen und es gibt noch weitere Ursachen für die Erkrankung, die mit dem Begriff Neuritis nicht erfasst werden. Sie sollen im Folgenden zu Wort kommen.
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s $ER "EGINN EINES !USFALLS DER 'LEICHGEwichtsfunktion wie auch der eines Hörsturzes ist oft schlagartig, oft aus völliger Ruhe heraus. Dabei ist meist gleich zu Beginn die volle Stärke der Erkrankung gegeben. Diese Plötzlichkeit spricht gegen eine Virusgenese, denn es ist kaum vorstellbar, dass Viren einen Schalter umlegen und plötzlich das vestibuläre Licht ausgeht. s $IE 6IRUSGENESE DES AKUTEN !USFALLS DER Gleichgewichtsfunktion fußt auf einem Befall des im inneren Gehörgang befindlichen Ganglion Scarpae. Nun kennen wir aber viele Patienten, die neben einem Gleichgewichtsausfall noch einen gleichzeitig auftretenden Hörsturz haben und umgekehrt. Bleibt man auch in einem solchen Fall bei dem Begriff Neuritis, wie dies leider meist der Fall ist, dann müssten Viren im Ganglion Scarpae und Viren im akustischen Ganglion spirale im Modiolus der Cochlea gleichzeitig die Funktion lahm legen. Dies ist wohl sehr unwahrscheinlich, denn die beiden Ganglien sind örtlich getrennt. Viren werden wohl kaum „in Absprache“ gleichzeitig Schalter umlegen. s VON 3TRUPP ET AL WURDE ;= EINE Untersuchung durchgeführt, bei der Patienten mit einem akuten Ausfall der Gleichgewichtsfunktion mit Methylprednisolon, Valacyclovir oder der Kombination aus beiden behandelt wurden. Wirksam war nur Methylprednisolon. Die Autoren erklärten die Unwirksamkeit von Vancyclovir damit, dass sich bei Beginn der Therapie die Viren bereits in den Zellen abgekapselt hätten und man blieb m. E. zu Unrecht bei der Virusgenese. Man hätte auch die Schlussfolgerung ziehen können, dass eine Viruserkrankung nicht in statistisch ausreichendem Maße vorgelegen hat. s )M)NNENOHRSINDVESTIBULËREUNDAKUSTISCHE Sinneszellen mechanisch aktiv. Sie können über einen Prestinmechanismus ihre Länge ändern[23], [24]. Die äußeren Haarzellen des Cortischen Organs verstärken die Wanderwellen, bei den vestibulären Haar-
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der Funktion weder Endo- noch Perilymphe untersucht werden können, und Hörstürze wie auch akute Ausfälle des Gleichgewichtsorgans bei Tieren nicht auszulösen sind, somit Tierversuche nicht weiterhelfen, wird die Möglichkeit einer biochemischen Genese einer akuten Funktionsstörung des Innenohres weiter im Dunkeln bleiben.
Abb. 5 Kaliumkreislauf in der Kochlea aus N. Strenzke et al.[25]
zellen ist nicht klar, ob sie den Reiz verstärken durch Bildung einer Vorspannung der Cupula oder ob sie den Reiz abschwächen indem sie die Cupula (und auch die Membranen der Otolithenorgane) nach einer beschleunigungsbedingten Auslenkung fixieren und damit die Auslenkung zurückführen. Für diese Aktionen brauchen diese Zellen aber Energie. Sie erhalten die Energie über einen Kaliumkreislauf[25] (Abb. 5). Dieser Kreislauf ist die Batterie des Innenohres. Biochemische Störungen im Innenohr sind denkbar (in Analogie zu einer leeren Batterie im Auto oder in einer Uhr). Da im akuten Fall eines Ausfalls
Es gibt noch weitere Möglichkeiten, wie Schäden auftreten können: s $AS )NNENOHR MIT DEM AKUSTISCHEN 2Ezeptor in der Cochlea und den fünf vestibulären Rezeptoren im Gleichgewichtsorgan ist ein mechanisch hochkomplexes Gebilde. Störungen sollten vorkommen. Bei der Ursachensuche akuter Funktionsstörungen werden mechanische Ursachen aber selten erwähnt. Meines Erachtens zu Unrecht, denn es gibt viele Möglichkeiten, wie mechanisch die Funktion ausfallen kann. Wir müssen suchen in den Ampullen, dem Netz, in dem die Otokonien gefangen sind und in der Membrana tectoria. Diese drei Gebilde haben wohl eine gemeinsame oder ähnliche biochemische Struktur[26]. Sie bestehen aus Matrixproteinen, die in den Stützzellen der jeweiligen Organe gebildet werden (Abb. 6). Diese Proteine haben Endstellen, an denen sich
Abb. 6 Matrixprotein CUMP-1, das von uns in der Cupula gefunden wurde. SS = Signalsequenz, EX = extrazelluläre Domäne, TM = transmembranöse Domäne, Cyt = cytoplasmatischer Anhang, Stecknadeln = potentielle Ansatzpunkte für Zuckermoleküle (aus Scherer et al: Veröffentlichung in Vorbereitung)
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Abb. 7 Stützzelle aus der Crista ampullaris. Sichtbar sind Vesikel, die das Matrixprotein für die Cupula enthalten. Elektonenmikroskopisches Bild Prof. Merker, Anatomisches Institut der FU Berlin
Zuckermoleküle anheften. Diese sind wiederum intensive Wasserfänger, d. h. H²O Moleküle aus der Endolymphe werden angelagert. Das Matrixprotein bildet das Gerüst und Zuckermöleküle mit anheftenden Wassermolekülen im Inneren führen dazu, dass sich die Struktur mit Wassermolekülen aufgebläht wie ein mit Helium gefülltes Luftschiff oder eine sich selbst aufblasende Luftmatratze.
Abb. 8 Transmissions-elektronenmikroskopische Aufnahme von Material aus der Cupula. Sichtbar sind Fasern (Pfeile) und mehr schaumiges Füllmaterial (Sterne). Aufnahme Prof. Merker, Anatomisches Institut der FU Berlin
Das Material für Cupula, Otolithennetz und Membrana tectoria wird fortwährend gebildet von den Stütz-Zellen (Abb. 7 + 8). Wir kennen weder die Geschwindigkeit mit der das Material gebildet wird, noch den bei fortwährendem Bau auch wieder notwendigen Resorbtionsvorgang und dessen Ort. Wir wissen, dass die Strukturen empfindlich sind gegenüber ph-Verschiebungen. Sie schrumpfen bei Absinken des ph-Wertes (Abb. 9).
Abb. 9 Cupula in artifizieller Endolymphe, links mit physiologischem Ph 7,4, rechts in derselben Lösung aber bei Ph 4,0 (verändert mit Tris-Puffer). Die Linie in den beiden Bildern markiert 0.1 mm Die beiden Bilder sind mit derselben Vergrößerung aufgenommen. Die stärkere Färbung rechts entstand durch die größere Dichte der geschrumpften Cupula.
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Abb. 10 Rasterelektronenmikroskopisches Bilder des Ampullendaches eines Lachses. Sichtbar ist die Stelle, an der die Cupula angewachsen ist. Bild 2 ist eine höhere Vergrößerung von Bild 1. Aufnahmen Prof. Bachmann, Anatomisches Institut der Charité, Berlin a)
b)
Abb. 11 Oberkante der Cupula eines Lachses. Man sieht in der Cupula eine fasrige, weniger angefärbte Struktur, die nach oben zieht. b) ist eine höhere Vergrößerung von a). Man erkennt, dass die Cupula an der Seite eine weiche, schaumartige Auflage hat, die zwischen den Pfeilen fehlt. Daran ist zu erkennen, dass die Fasern aus demr Cupula weiterlaufen ins Ampullendach und die Zone zwischen den Pfeilen der Abrissstelle entspricht (Präparation und Aufnahme Prof. K. Helling[35]).
Bisher war nicht bekannt, wie die Cupula am Dach der Ampulle befestigt ist. Es ist uns gelungen, rasterelektronenmikroskopisch am Dach der Ampulle von Lachsen die Anhaftungsstelle darzustellen[27]. Auch an der Cupula selbst kann die Abrissstelle dargestellt werden (Abb. 10 + 11). Die Cupula wirkt wie eine Membran. Sie ist am Dach der Ampulle befestigt, kann aber bei Kopfdrehbeschleunigungen dem Druck der Endolymphe an ihrem seitlichen Rand und vor allem am Unterrand nachgeben, dort wo die Haare der Sinneszellen Kontakt mit der Cupula haben. Dort treten die Scherkräfte
auf, die nach Abbiegung der Stereozilien zu einer Depolarisation der Haarzellen führen. Unabdingbare Vorraussetzung für die Funktion des Sensors ist die Anheftung der Cupula am Ampullendach. Wir wissen aus Tierexperimenten an Tauben[28], [29], die wir in Nagoya/Japan und in Berlin durchgeführt haben, dass eine Loslösung der Cupula vom Dach der horizontalen Ampulle zum klinischen Bild eines Ausfalls der Gleichgewichtsfunktion führt mit entsprechendem Nystagmus, einer Fallneigung zum operierten Ohr und einer stetigen Kompensation innerhalb von wenigen
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Abb. 12 Membrana tectoria™, die links ansetzt und auf den inneren und äußeren Haarzellen liegt. Sie ist rechts von den äußeren Haarzellen befestigt. (Abb. aus Bildatlas Innenohr, Duphar Pharma 1983)
Tagen. Die Tauben konnten ca. eine Woche nach Loslösung der Cupula wieder fliegen. Wurden zusätzlich aber noch Schäden an den Otolithenorganen ausgeführt, trat eine Kompensation nicht ein. Die gestörte Flugfähigkeit erholte sich nicht mehr. Bezieht man diese Experimente auf den Menschen, dann kann man feststellen, dass es zum klinischen Bild eines Ausfalls kommt, wenn die Cupula nicht mehr am Ampullendach fixiert ist. Sie verliert dann ihre Membranfunktion, es entsteht ein Leck.
Welche Faktoren können nun zu einem Abriss der Cupula führen? s :U GERINGER -ATERIALNACHSCHUB 3TÚRUNG im Bereich der Stützzellen, z. B. bei der Einwirkung von Aminoglykosiden) s %INE !NHEBUNG DES !MPULLENDACHES IM Verlauf eines Hydrops. Wir kennen Schwindelanfälle bei der Menière’schen Erkrankung. s 3CHRUMPFUNG DER #UPULA Z" BEI EINEM ph-Abfall.
Wie sieht nun die Situation beim Hörsturz aus? Gibt es auch im Corti’schen Organ mechanische Risikobereiche? Durchaus und wir finden sie an der Membrana tectoria (MT, engl.: TM. Abb. 12 + 13). Sie liegt auf den Haaren der inneren und äußeren Sinneszellen, dürfen diese aber nur gerade Abb. 13 berühren, sonst würden Ansatzstelle der Membrana tectoria™ am knöchernen Teil der Basilarmembja durch das Gewicht ran. Der weitere Verlauf der TM ist gestrichelt gezeichnet. MR = Reissner’sche der RM die Haare abMembran. (Abb. aus Bildatlas Innenohr, Duphar Pharma 1983) knicken und es käme zu
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einer Dauerdepolarisation. Wie hat die Natur dies gelöst? Die Membrana tectoria entspringt am knöchernen Teil der Membrana basilaris.Wie bei der Cupula besteht sie aus azellulären Matrixproteinen, die sich mit Hilfe von Zuckermolekülen mit Wasser vollsaugen. Die MT hat somit einen Turgor, der sie in Form hält. Betrachtet man die Zone, von der sie ausgeht, dann wird klar, dass sie wie eine Luftmatratze über den Haarzellen schweben würde ohne sie zu berühren. Der Kontakt wird hergestellt durch den Zug von marginalen Fäden, die wie Zeltschnüre die MT herunterziehen und festhalten. Reißen diese Fäden oder ein Teil davon, dann hebt sich die MT an entsprechender Stelle ab und verliert den Kontakt zu den Haarzellen. Zuerst von den äußeren Haarzellen und bei größerer Abrisszone auch von den inneren. Dies bedeutet bei Abhebung von den äußeren Haarzellen eine Schallempfindungsschwerhörigkeit (in 20 dB Schritten) und bei Abhebung von den inneren Haarzellen eine Taubheit, wie wir dies beim Hörsturz und speziell bei dessen Erholung auch zu sehen bekommen. Welche Faktoren sind geeignet, die marginalen Fäden abreißen zu lassen?
Wie bei der Cupula in der Ampulle kommt auch hier eine Blockade des Baus des Matrixproteins in Frage. Hier muss bedacht werden, dass Aminoglycoside die Stützzellen schädigen, die das Matrixprotein für Cupula und Membrana tectoria herstellen. Ob auch ein Hydrops in der Lage ist, die Membrana tectoria anzuheben ist fraglich, denn sowohl die Endolymphe im inneren Sulcus, also unter der MT, als auch die Endolymphe oberhalb der MT also in der Scala media haben bei einem Hydrops denselben Druck. Hier müssen noch fluidmechanische Überlegungen angestellt werden, in wie fern doch Druckunterschiede auftreten können. Sowohl beim akuten Ausfall des Gleichgewichtsorgans als auch beim Hörsturz kann es also eine rein mechanische Genese geben. Solange wir bei einem Patienten eine der möglichen Ursachen nicht beweisen können, müssen wir die Symptomatologie descriptiv beschreiben. Begriffe, wie „Vestibuläre Neuritis“ sind hier fehl am Platz. Wir könnten sonst ja auch von einer „akustischen Neuritis“ sprechen anstatt von einem Hörsturz.
b) a) Abb. 14 a) Otokonien der Macula sacculi wie sie gewöhnlich dargestellt werden (nach Fixierung und Dehydration) (aus Bildatlas Innenohr. Duphar Pharma 1983) b) tatsächliche Situation. Die Otokonien liegen in einem Netz, das aus Matrixproteinen gebildet wird.
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Der Benigne Paroxysmale Lagerungsschwindel (BPPV) Der Verlauf dieser Erkrankung und die Ursache der Symptome ist uns wohlbekannt. Es handelt sich um versprengte Otokonien, die entweder im Kanal des vertikalen (häufig) oder horizontalen (selten) Bogengangs liegen (Canalolithiasis) oder auf der Cupula (Cupulolithiasis). Prof. Mamoru Suzuki aus Tokyo hat beim Hennig-Symposium 2006 sehr eindrucksvoll gezeigt, wie sich die Steine bei Positionsänderungen des Kopfes bewegen. Die Genese der Erkrankung ist damit aber noch lange nicht geklärt. Wir wissen nicht, warum die Steine ihr Lager im Bereich des Utrikulus verlassen. Sie liegen nicht auf einer Gallerte, wie oft gezeichnet, sondern in einem dichten Netz aus Matrixproteinen. Bevor es zu einem BPPN kommt muss eine Störung im Bereich des Utrikulus vorliegen. Sie ist nach einer Arbeit von v. Brevern & Clarke et al 2006[30] auch klinisch nachgewiesen. Karlberg et al[31] haben 2000 schon darauf hingewiesen, dass es nach verschiedenen Erkrankungen des Innenohres oft zum BPPN kommt, auch nach Hörsturz! Ein BPPN als Durchgangsyndrom ist eine häufig sichtbare Erscheinung wenn sich ein Gleichgewichtsorgan nach einem akuten Funktionsverlust wieder erholt. Es besteht kein Zweifel, dass die Matrixproteine von Cupula, Membrana Tectoria und den Maculae utriculi und sacculi weitgehend aus identischem Material bestehen (Goodyear & Richardson, Scherer & Tauber et al, Tauber 2001) und sich nur im Aufbau unterscheiden. Damit haben wir mit dem BPPV nach akutem Ausfall und dem Hörsturz eine dritte Erkrankung, bei der eine Störung der Matrixproteine beteiligt sein könnte.
Die Menière’sche Krankheit Die Menière’sche Krankheit gleicht, wenn man unser Wissen betrachtet, einem Sumpf.
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Seit Jahrzehnten werden internationale Symposien über diese Krankheit abgehalten, es entstehen Bücher, aber sind wir denn in der Lage, dem Patienten etwas über die Ursache seiner Erkrankung zu sagen? Meiner Ansicht nach nein. Wir wissen zwar, dass bei der Erkrankung ein Hydrops auftritt, aber warum und wie dieser Hydrops entsteht, wissen wir nicht. So entstehen skurrile Erklärungsversuche, wie einer erst vor Kurzem (Okt. 2008) im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht wurde: … dass ein Medikament …“ in Tierversuchen die Durchblutung des Innenohres verbessert und so die Balance zwischen Produktion und Resorbtion der Endolymphe verbessern und den endolymphatischen Hydrops reduzieren kann. Der erste Teil des Satzes (bis: verbessert) ist richtig, der zweite reine Spekulation. Man findet zwar bei der Erkrankung Veränderungen im Saccus endolymphatius und auch an anderen Stellen, wir können aber nicht sicher sagen, ob diese primär oder sekundär sind. s 7IE SOLL MAN SICH DENN ERKLËREN DASS im Tierversuch zwar ein Hydrops durch Verschluss des Ductus endolymphatikus erzeugt werden kann, die Tiere aber trotzdem keine Anfälle bekommen? s 7IE SOLL MAN SICH DIE 7IRKSAMKEIT EINER Paukendrainage erklären? s 7IE DIE EINER 4ENOTOMIE $URCHTRENNUNG der Sehne des M. tensor tympani)? In den 70-er Jahren des vorletzten Jahrhunderts wurde von dem Berliner Otologen Dr. Friedrich E. Weber diese Methode in der Monatsschrift für Ohrenheilkunde veröffentlicht (Abb. 15). Die Operation wurde in den Folgejahren vielfach mit Erfolg angewandt, später aber wegen häufiger Komplikationen bei den damaligen OPs ohne Mikroskop wieder verlassen. Ehrenberger hat diese Technik mit modernen Methoden mit Erfolg wieder angewandt[32] und auch wir konnten die Anfälle bei MenièrePatienten damit abstoppen. s 7IEERKLËRTSICHDIE7IRKSAMKEITDER"LOckade des horizontalen Bogengangs[33]?
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Abb. 15 Publikation von Dr. Friedrich Weber über die Tenotomie bei Morbus Menière aus dem Jahre 1870
Abb. 16 Kippstuhl zur Untersuchung des zerviko-okulären Reflexes. Der Kopf ist fixiert, der Rumpf wird a – p oder seitlich gekippt oder gedreht und in den jeweiligen Positionen 30 sek. gehalten. In diesen 30 Sekunden werden die Augenbewegungen mit einem dreidimensionalen Videosystem (SMI GmbH, Teltow) gemessen.
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a)
b)
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s &ËLLEVON--WURDENAUCHDURCH!BPOLStern einer Arterie vom 8.HN geheilt (vestibuläre Paroxysmie)[34]. Dies deutet auf ein weit verbreitetes Problem hin, dass sehr häufig die Diagnose einer Menière’schen Erkrankung zu leichtfertig gestellt wird, auch dann, wenn man sich nach den Guidlines der American Academy of Otolaryngology richtet. Tieftonsenken z. B. sind kein alleiniges Charakteristikum eines Hydrops. Sie treten auch beim Costen Syndrom und bei zervikalen Störungen auf Damit kommen wir zum kontroversesten Thema in der Landschaft von Schwindelbeschwerden, dem halsbedingten Schwindel. Hier gehen die Ansichten weit auseinander, aber: s DIE AFFERENTEN UND EFFERENTEN "AHNEN zwischen zervikalen Strukturen und dem Gleichgewichtskerngebiet sind bekannt, s MIT lXIERTEM KOPF UND STATISCH GEKIPPTEM Körper lassen sich vertikale und horizontale Nystagmusschläge auslösen (Abb. 16 + 17). s LËNGER GEHALTENE +IPP 0OSITIONEN STELLEN für das zerviko-vestibuläre System eine starke Provokation dar. Beim Gesunden kann man mit Latenz deutliche Nystagmusschläge auslösen.
Zusammenfassung c) Abb. 17 Bild eines zervikal ausgelösten Nystagmus bei einem Patienten mit Schwindelanfällen. In jedem der Bilder ist das obere Fenster der horizontale Kanal, das untere Fenster der vertikale Kanal. Rot ist rechtes Auge, blau das linke. Der Kopf ist in allen Positionen in gerader Haltung fixiert a) Bild bei Position Körper links, Kopf gerade. Es besteht ein Rechtsnystagmus und ein schwacher Vertikalnystagmus nach unten. b) Bild bei Position Körper rechts, Kopf gerade. Es besteht kein Nystagmus c) Bild bei Körper nach rechts gekippt, Kopf gerade. Es besteht ein deutlicher Vertikalnystagmus nach oben.
Betrachtet man unser Wissen über die Genese von Erkrankungen des Innenohres, dann müssen wir leider feststellen, dass dieses sehr dürftig ist. Ähnlich wie in der Anfangszeit der Dermatologie, in der auch vieles nicht bekannt war und man sich klugerweise auf descriptive Beschreibungen einigte, so sollten auch wir bescheiden sein und keine präjudizierenden Begriffe verwenden. Es war der Zweck dieses Beitrags beim Hennig-Symposium 2008, auf unsere Wissenslücken hinzuweisen und vor allem auch darzulegen, dass es neben Durchblutungsstörungen und Virusinfekten
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noch andere, z. B. mechanische Ursachen im Innenohr gibt. Ein besonderes Gewicht fällt dem Gutachtenswesen zu. Wenn ein Patient nach einem Unfall über Schwindel klagt, wir aber keine entsprechenden Symptome finden, dann dürfen wir auf keinen Fall feststellen, der Patient habe keinen pathologischen Befund solange wir nicht alle derzeit möglichen Untersuchungsmethoden ausgeschöpft haben. Dies betrifft im Besonderen die Otolithenorgane, denn diese sind Messgeräte für Beschleunigungen. Bei Unfällen treten in der Regel übermäßig hohe Beschleunigungen auf. Posttraumatische Schäden an den Otolithenorganen sind somit grundsätzlich in Erwägung zu ziehen. Sie sind in der Zwischenzeit auch nachgewiesen.
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Funktionelle Bildgebung des vestibulären Systems M. Dieterich
Einleitung Die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) des menschlichen Gehirns ist eine zunehmend auch in der klinischen Diagnostik eingesetzte Methode, die es ermöglicht, durch definierte Stimuli angeregte Hirnareale zu lokalisieren. So sind mittlerweile die Hirnaktivierungsmuster für verschiedene sensorische und motorische Stimulationen bekannt. Die „normalen“ Aktivierungsmuster von Gesunden können jetzt mit denen von Patienten mit umschriebenen Erkrankungen verglichen werden. So kann zum Beispiel vor einer neurochirurgischen Tumorexstirpation genau festgestellt werden, wohin ein dem Hirntumor benachbartes Sprachzentrum verlagert wurde, um es beim Eingriff zu schonen. In den letzten 10 Jahren konnten mit Hilfe der funktionellen Bildgebung des menschlichen Gehirns auch neue Erkenntnisse zum Gleichgewichtssystem erarbeitet werden, zunächst bei Gesunden und jetzt zunehmend auch bei Patienten mit umschriebenen vestibulären Erkrankungen[13]. Basis für die Auswertung dieser Untersuchungen waren die Kenntnisse aus neurophysiologischen und Tracer-Studien an Tieren, insbesondere am Macacen, zum vestibulären System im Kortex aus den 70iger bis 90iger Jahren. Aus diesen Studien sind mehrere Areale im Grosshirn, vor allem im temporo-parietalen Kortex, bekannt, die alle multisensorisch waren, d. h. deren Neurone nicht nur auf vestibuläre Reizung reagierten sondern auch auf somatosensorische und/ oder visuelle und ein Netzwerk bildeten. Das Zentrum (sog. core region) dieses Netzwerks
wurde im parieto-insulären vestibulären Kortex (PIVC) lokalisiert[20 – 22], [10]. Heute weiss man hauptsächlich aus funktionellen Bildgebungsstudien, dass ein solches Netzwerk auch beim Menschen im temporo-parietalen Kortex beider Hemisphären existiert (Übersicht: [15], [14]). Die Aktivierungen des Netzwerkes erfolgen bei Gesunden nicht gleichmässig in beiden Hirnhäften sondern mit einer Betonung in der rechten Hemisphäre bei Rechtshändern und in der linken Hemisphäre bei Linkshändern[17], [23]. Zudem spielt die Seite des applizierten Reizes eine Rolle: die Aktivierung ist stärker ausgeprägt in der Hemisphäre ipsilateral zum stimulierten Ohr[8]. Ein weiterer Faktor ist die Richtung des vestibulären Stimulus: die Hemisphäre ipsilateral zur raschen Nystagmusphase des kalorischen Nystagmus wird stärker aktiviert (Abb. 1). Neben diesen Aktivierungen wurden gleichzeitig auch Deaktivierungen beobachtet, die im visuellen und somatosensorischen Kortex beider Hemisphären während vestibulärer Stimulationen lokalisiert waren[33], [9]. Ein entgegen gesetztes Aktivierungs-Deaktivierungsmuster wurde während visueller Stimulation beobachtet mit Aktivierungen in okzipitalen und parietalen visuellen Arealen und gleichzeitigen Deaktivierungen im multisensorischen vestibulären Kortex der hinteren Insel[12], [18] (Abb. 2). Dies führte zu der Hypothese einer gegenseitig hemmenden kortikalen Interaktion zwischen den beiden sensorischen Systemen, dem visuellen und dem vestibulären[12]. Mit diesen Ergebnisse von Hirnaktivierungsstudien des vestibulären Systems bei Gesun-
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Funktionelle Bildgebung des vestibulären Systems
Abb. 1 Funktionelle Bildgebung bei 12 gesunden Rechtshändern mit H215O-Positronen-Emmissions-Tomographie in Ruhe und während einseitiger kalorischer Stimulation des rechten oder linken Ohres. Bei Rechtshändern zeigt sich während Reizung des rechten Ohres eine stärkere Aktivierung (rot) der multisensorischen vestibulären Areale in der rechten Hemisphäre, vor allem der hinteren Insel (PIVC bei Z = – 8), des medialen Frontallappens, des posterolateralen Thalamus, des inferioren Parietallappens sowie des anterioren Zingulum. Bei Reizung des linken Ohres zeigen sich stärkere Aktivierungen in der ipsilateralen linken temporo-insulären Region, was für einen Einfluss der ipsilateralen aufsteigenden Projektion spricht. Insgesamt stellt sich so eine Dominanz der multisensorischen vestibulären Areale in der nicht-dominanten rechten Hemisphäre bei Rechtshändern dar. Im Occipitallappen beidseits sind die gleichzeitigen Deaktivierungen (blau) auf den transversalen Schichten (Z = – 8, + 4, + 20 mm) zu sehen (p < 0.001) (Links: Oberflächendarstellung der rechten und linken Hemisphäre; rechts: transversale Schichten) (modifiziert nach [17]).
den können nun die Daten von Patienten mit verschiedenen peripher und zentral vestibulären Erkrankungen verglichen werden, was ein besseres Verständnis der Syndrome und der Auswirkungen auf das kortikale Netzwerk erlauben wird und die Analyse von Kompensationsvorgängen im Verlauf ermöglicht.
Funktionelle Bildgebung bei peripher vestibulären Erkrankungen Akute einseitige Vestibularisläsion Leitsymptome des akuten einseitigen Vestibularisausfalls sind ein akut oder subakut einsetzender, über Tage bis wenige Wochen anhaltender, meist heftiger Dauerdrehschwindel mit Scheinbewegungen der Umgebung (sog. Oszillopsien), Stand- und Gangunsicherheit
Abb. 2 Funktionelle Magnetresonanztomographie bei 7 gesunden Rechtshändern während visueller optokinetischer Stimulation im Vergleich zu stationärer visueller Stimulation. Neben den deutlichen Aktivierungen (rot) im visuellen Kortex beidseits finden sich signifikante BOLD-Signalminderungen (blau) im temporo-insulären Kortex beidseits, die auch die hintere Insel (PIVC) beinhalten. Damit ergibt sich bei visueller Stimulation ein Muster an Aktivierungen und Deaktivierungen, was reziprok zu dem bei vestibulärer Stimulation ist.
Funktionelle Bildgebung des vestibulären Systems
mit gerichteter Fallneigung sowie Übelkeit und Erbrechen. Die Beschwerden verstärken sich bei Kopf- und Körperbewegungen, sodass die Patienten intuitiv Ruhe suchen. Hörstörungen, Tinnitus oder neurologische Ausfälle gehören nicht zum Krankheitsbild, wobei die Patienten explizit nach derartigen Symptomen befragt werden sollten. Es gibt keine typischen Prodromi oder Auslöser, in seltenen Fällen gehen dem Dauerdrehschwindel kurze Schwindelattacken voraus. Die Vestibularisneuropathie, auch Neuritis vestibularis genannt, ist mit einer Inzidenz von 3,5 pro 100.000[29] – nach dem BPPV und Morbus Menière – die dritthäufigste Ursache peripheren vestibulären Schwindels und macht ca. 7 % der Diagnosen in einer neurologischen Spezialambulanz für Schwindel aus. Die Erkrankung tritt am häufigsten bei Erwachsenen im Alter zwischen 30 und 60 Jahren auf. Die erste Phase des manifesten Funktionsverlustes ist meist durch schweres Krankheitsgefühl gekennzeichnet. Die Beschwerden klingen langsam über viele Tage ab. In drei bis fünf Wochen ist in der Regel in Ruhe Beschwerdefreiheit erreicht. Die virale Genese der Neuritis vestibularis ist – analog zur „idiopathischen Fazialisparese“ und manchen Formen des Hörsturzes – wahrscheinlich, aber bislang nicht sicher bewiesen[28], [26], [5], [4]. Hierfür sprechen autoptische Studien, die entzündliche Degenerationen des Vestibularisnervens zeigten[27], der Nachweis von Herpes simplex-Virus Typ 1 DNA und des „latency-associated transcripts“ in vestibulären Ganglienzellen[1– 3], [32]. Die wesentliche Schädigung des Nervs kommt wahrscheinlich durch die Druckschädigung innerhalb des knöchernen Kanals zustande. Bei solchen Patienten mit Neuritis vestibularis wurde eine erste Fluorodesoxy-glukose-PETUntersuchung (FDG-PET) in der akuten Erkrankungsphase im Mittel am Tag 6 durchgeführt sowie ein zweites FDG-PET 3 Monate später, nachdem die zentral vestibuläre Kompensation eingesetzt hat und die Patienten wieder beschwerdefrei und die vestibulären Defizite abgeklungen waren[6]. Während beider
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FDG-PETs lagen die Patienten mit geschlossenen Augen ohne Stimulation, so dass der Glukose-Stoffwechsel des Gehirns in Ruhe gemessen wurde. Der kategorische Vergleich beider Untersuchungen ergab, dass der regionale zerebrale Glukosemetabolismus (rCGM) während der akuten Krankheitsphase in verschiedenen Arealen signifikant angestiegen war (im PIVC der hinteren Insel, posterolateralen Thalamus, anterioren Zingulum, pontomesenzephalen Hirnstamm und Hippocampus). Gleichzeitig fand sich eine signifikante Minderung des rCGM in visuellen und somatosensorischen Kortexarealen sowie zum Teil im akustischen Kortex (Gyrus temporalis transversus) (Abb. 3). Damit ähnelte das kortikale Aktivierungs-Deaktivierungsmuster bei diesen Patienten mit einer akuten einseitigen Vestibularisläsion dem Muster, das bereits bei Gesunden während einseitiger vestibulärer Stimulation ausgelöst wurde (Kalorik: [31], [19], [17]; Galvanik: [9], [24], [30]). Hier stellt sich
Abb. 3 Statische Gruppenanalyse von 5 Patienten mit akuter Neuritis vestibularis rechts in der akuten Erkrankungsphase im Vergleich zur Kontrolle 3 Monate später nach klinischer Kompensation (keine Stimulation, Augen geschlossen). Ein signifikanter Anstieg (rot) des regionalen zerebralen Glukosemetabolismus (rCGM) stellt sich in der kontralateralen linken hinteren Insel, dem linken Gyrus temporalis superior, Hippocampus, und Thalamus beidseits dar sowie im anterioren Zingulum. Gleichzeitig kommt es zu einem rCGM Abfall (blau) in visuellen und somatosensorischen Kortexarealen beidseits. Zur Illustration werden Voxel bei p < 0,005 gezeigt (modifiziert nach Bense et al.[6]).
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die Frage nach der funktionellen Bedeutung von Deaktivierungen, wie in dieser Studie im visuellen Kortex beider Hemisphären beschrieben. Psychophysische Untersuchungen des visuellen Systems in Form von Erkennen räumlicher Anordnungen dreidimensionaler Objekte zeigten signifikante Defizite auf, wenn die Aufgaben während kalorischer Reizung bei Gesunden ausgeführt wurden, d. h. in der Phase mit kalorischem Nystagmus[25]. Aus diesen Erkenntnissen kann man schliessen, dass auch bei Patienten mit vestibulärem Nystagmus eine Beeinträchtigung visueller Funktionen zu erwarten ist. Betrachtet man das Aktivierungs-Deaktivierungs-Muster in den FDG-PETs der Patienten mit akuter Vestibularisläsion jedoch genauer, so ergaben sich in einigen Details auch Differenzen zu dem Muster bei Gesunden während vestibulärer Reizung: Im Gegensatz zu dem Muster bei Gesunden war die Aktivierung im multisensorischen vestibulären Kortex der hinteren Insel (PIVC) nicht bilateral mit einer Dominanz in der rechten Hemisphäre sondern bei Neuritis vestibularis rechts einseitig kontralateral links lokalisiert[6]. Außerdem waren multisensorische vestibuläre Kortexareale wie die im Gyrus temporalis superior, im inferioren partietalen Lobulus und Präkuneus deaktiviert an Stelle aktiviert zu sein. Diese Areale sind Teil des kortikal-subkortikalen Netzwerks beim Menschen, das für die multimodale Integration von vestibulären und visuellen Informationen im Hinblick auf die Koordination von Augen, Kopf und Körper im Raum sowie die Speicherung der Raumkoordinaten entsprechend der Schwerkraft verantwortlich sind. Die Deaktivierung anstelle Aktivierung dieser Areale passt dazu, dass es bei den Patienten nicht zu einer realen vestibulären Stimulation gekommen ist, sondern dass das neuronale multisensorische Netzwerk im Kortex auf eine nicht reale, durch die einseitige Läsion bedingte interne Tonusimbalance reagiert. Wie kann die Asymmetrie der Aktivierungen in der hinteren Insel (PIVC) bei den Patien-
ten mit Neuritis vestibularis erklärt werden? Eine Annahme ist, dass die dominantere ipsilaterale rechtsseitige aufsteigende Projektion zum rechten Inselkortex durch die akute Neuritis vestibularis rechts unterdrückt wird, weil die tonische Feuerrate des vestibulären Endorgans rechts fehlt. Eine andere oder ergänzende Erklärung wäre die, dass die tonische Imbalance im Gleichgewichtssystem auf Höhe der Vestibulariskerne dazu führt, dass das Vestibularis-Kerngebiet links im Vergleich zur rechten Seite verstärkt aktiviert wird und dies eine linksseitige vestibuläre Stimulation imitiert. Aufgrund der stärkeren Aktivierungen über die ipsilateralen aufsteigenden Bahnen würde damit die linke Seite und die linke temporo-insuläre Region aktiviert bei gleichzeitiger Deaktivierung im visuellen und somatosensorischen Kortex. Zusammenfassend ist bemerkenswert, dass das Aktivierungs-Deaktivierungsmuster im Gehirn von Patienten mit akutem Vestibularisausfall dem von Gesunden während vestibulärer Stimulation (z. B. auf einem Karussell) sehr ähnlich ist und dabei u. a. grosse Teile der Sehrinde beidseits herab geregelt sind. Damit ist anzunehmen, dass die Sehleistung der Patienten in der akuten Erkrankungsphase reduziert ist, was der Patient wissen und berücksichtigen sollte (z. B. nicht selbst Autofahren).
Funktionelle Bildgebung bei Bilateraler Vestibulopathie Leitsymptome der bilateralen Vestibulopathie (BVP) sind (1) Oszillopsien mit Unscharfsehen bei Kopfbewegungen und beim Gehen, (2) Gangunsicherheit, vor allem in Dunkelheit und auf unebenem Grund, (3) Störungen des räumlichen Gedächtnisses[8]. Nach einer Studie an 255 Patienten sind die drei häufigsten Ursachen ototoxische Substanzen, insbesondere Aminoglykoside, beidseitiger Morbus Menière und Meningitis[34]. Die Behandlung der verschiedenen Formen der bilateralen
Funktionelle Bildgebung des vestibulären Systems
Vestibulopathie verfolgt drei Ziele: die Prävention des progredienten Vestibularisausfalls, die Erholung der vestibulären Funktion und die Förderung der zentralen Kompensation (oder Substitution) des vestibulären Funktionsausfalls durch physikalische Therapie. Für die funktionelle Bildgebung des vestibulären Systems war die Repräsentation der Restfunktion im vestibulären Kortex sowie der zentralen Kompensation von besonderem Interesse. So stellte sich u. a. die Frage, ob es während der vestibulären Stimulation bei Patienten mit beidseitigem Vestibularisausfall zu einer kompensatorischen Aktivierung von Kortexarealen anderer sensorischer Systeme (somatosensorisch, visuell, auditorisch) kommt oder die Aktivierungen auf das multisensorische vestibuläre Netz beschränkt bleiben. Der chronische beidseitige Verlust des vestibulären Eingangs könnte zu einer plastischen Reorganisation der visuell-vestibulären Interaktion im Kortex führen. Einige Fragen konnten mit Hilfe von zwei Bildgebungsstudien an Patienten mit BVP beantwortet werden. Im Gegensatz zum Gesunden während vestibulärer Reizung zeigten sich bei Patienten mit beidseitigem Vestibularisausfall während kalorischer Stimulation deutlich reduzierte Aktivierungen und auch reduzierte Deaktivierungen[7] (Abb. 4). Eine gleichzeitige Aktivierung von anderen sensorischen Kortexarealen war nicht fest zu stellen, ebenso
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Abb. 4 Aktivierungen in der H215O-Positronen-Emmissions-Tomographie in Ruhe und während einseitiger kalorischer Stimulation des rechten oder linken Ohres bei Patienten mit bilateraler Vestibulopathie (oben) im Vergleich zu altersangepassten Gesunden (unten) (p < 0,001). Es zeigt sich eine signifikante Verminderung der Aktivierungen (rot) im temporo-insulären Kortex wie auch der Deaktivierungen im visuellen Kortex (nicht dargestellt) (modifiziert nach [7]). Aktivierungen in anderen sensorischen Arealen kommen nicht zur Darstellung.
Abb. 5 fMRT-Aktivierungen während visueller optokinetischer Stimulation bei 10 Patienten mit bilateraler Vestibulopathie (unten) im Vergleich zu einem stationären visuellen Stimulus (SVS) (p < 0,001). In der oberen Zeile sind die Aktivierungen eines Kontrollkollektivs alters- und geschlechtsangepasster Gesunder dargestellt (für eine bessere Abbildung: p < 0,005; Clustergrösse > 5 Voxel). Die Patienten wiesen signifikant stärkere Aktivierungen in Arealen der visuellen und okulomotorischen Systeme auf (modifiziert nach: Dieterich et al. 2008).
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Funktionelle Bildgebung des vestibulären Systems
wenig wie Deaktivierungen in anderen (z. B. motorischen) Systemen. Hingegen wiesen die Patienten während visueller optokinetischer Reizung eine signifikant stärkere Aktivierung des visuellen Kortex als Gesunde auf, was im Sinne einer sensorischen Substitution mit Shift vom vestibulären zum visuellen System zu deuten ist[16] (Abb. 5). Verstärkte Aktivierungen waren hierbei nicht nur im primären visuellen Kortex (inferiore und mittlere occipitale Gyri; Brodmann Areale 17, 18, 19) sondern auch im bewegungssensitiven Areal V5, in den okulomotorischen Arealen (frontales Augenfeld), superioren parietalen Lobulus, und im parahippocampalen Gyrus nachweisbar. Die gleichzeitigen kleineren Deaktivierungen in der rechten hinteren Insel (PIVC) waren anderseits ähnlich denen bei altersangepassten Gesunden[16]. Dieses ist die erste Studie die mit bildgebenden Methoden die aus neurophysiologischen und psychophysischen Untersuchungen bekannte Hochregulation einer sensorischen Modalität bei Verlust einer anderen Modalität nachweist. In diesem Fall bedeutet dies die substitutionelle Hochregulation der funktionellen Sensitivität des visuellen Systems (visuelle Substitution) bei Verlust des vestibulären Funktion.
Zusammenfassung Zusammenfassend ließ sich bei den Patienten mit bilateraler Vestibulopathie mit der funktionellen Bildgebung der Nachweis der Substitution der fehlenden vestibulären Funktion durch andere sensorische Modalitäten wie der visuellen Modalität erbringen. Dies hat die klinische Konsequenz, dass besonders die Integration der verschiedenen anderen sensorischen Modalitäten (visuell und somatosensorisch) durch Physiotherapie gestärkt werden muss. Diese ersten funktionell bildgebenden Studien bei Patienten mit vestibulären Erkrankungen versprechen sehr interessante Einblicke in das komplexe neuronale Netzwerk des menschlichen Gehirns für die Zukunft.
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Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen F. Waldfahrer
Physiologische Grundlagen Das zentral-vestibuläre System erhält Informationen über die Stellung und Bewegung bzw. Beschleunigung des Körpers im dreidimensionalen Raum durch folgende Sensoren bzw. Rezeptoren: s PERIPHER VESTIBULËRES3YSTEM s (AARZELLENINDEN#UPULAEDERDREIAUFeinander senkrecht stehenden Bogengänge s (AARZELLEN IN DEN -ACULAE DER /TOLIthenorgane Utriculus und Sacculus s 3INNESZELLENDES!UGES s 3INNESZELLEN DES SOMATOSENSORISCHEN 3YStems: s -ECHANOREZEPTOREN "ERàHRUNGS UND Drucksinn (Merkel-Zellen, Pincus-IggoTastscheiben, Ruffini-Korpuskel), Vibrationssinn (Pacini-Korpuskel) s 0ROPIOZEPTION 3TELLUNGSSINN "EWEgungssinn, Kraftsinn (Muskelspindeln, Golgi-Sehnenrezeptoren) Hauptaufgabe des zentral-vestibulären Systems ist die Stabilisierung des optischen Bildeindrucks durch kompensatorische Augenbewegungen (so genannter vestibulookulärer Reflex) sowie des aufrechten Standes durch Stellreflexe am Bewegungsapparat. Funktionsstörungen eines der genannten Sensoren können zu einer Irritation des zentralvestibulären Apparates im Sinne eines intersensorischen Datenkonfliktes führen, der sich subjektiv durch Schwindel bemerkbar macht. Hierbei ist weiterhin besonders beachtenswert, dass die Sinneszellen von Cupulae und
Maculae im Gegensatz zu den auditiven Haarzellen eine Ruheaktivität aufweisen. Eine Seitendifferenz der Aktivität der vestibulären Haarzellen (z. B. durch eine entzündliche Aktivitätssteigerung oder durch einen Ausfall) führt ebenfalls zu einem zentralen Mismatch und damit zu Schwindelsensationen – objektiv bedingt dies eine Beeinträchtigung des vestibulookulären Reflexes und damit einen nachweisbaren Nystagmus. Die maximale Seitendifferenz entsteht bei einem akuten einseitigen Labyrinthausfall, häufig auch mit vegetativen Begleitreaktionen (Übelkeit, Erbrechen). Das zentral-vestibuläre System vermag unplausible Informationen eines seiner peripheren Sensoren im zeitlichen Verlauf zu unterdrücken, so dass Schwindel und Nystagmus abklingen. Bei zentral-vestibulären Läsionen kann diese zentrale Kompensation nur bedingt wirksam werden. Wichtig für den Kompensationsvorgang ist, dass dieser aktiv durch ein Kompensationstraining unterstützt und nicht durch Sedativa und Inaktivität behindert wird.
Allgemeine Pharmakologie des vestibulären Systems Das zentral-vestibuläre System als Bestandteil des zentralen Nervensystems verfügt über keine exklusiven Botenstoffe, vielmehr sind die ubiquitär im ZNS vorhandenen Neurotransmitter Histamin, Dopamin, Serotonin, Glutamat, GABA, NMDA, Acetylcholin und
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Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen
Noradrenalin auch im zentral-vestibulären System aktiv. Hieraus folgt, dass es keine pharmakologisch aktive, zu diesen Neurotransmittern agonistisch oder antagonistisch wirksame Substanz geben kann, die exklusiv im vestibulären System wirkt, ohne andere Teile des Zentralnervensystems zu beeinflussen (Übersicht bei [11]). Da Schwindel eine subjektive Empfindung ist, die an die Vigilanz gekoppelt ist, kann ganz allgemein festgestellt werden, dass jede sedierend wirkende Substanz auch eine antivertiginöse Wirkkomponente hat (im Schlaf gibt es keinen Schwindel). Merke: Jedes Sedativum wirkt auch antivertiginös! Die primäre Therapieentscheidung besteht darin, ob bei einem Antivertiginosum eine sedierende Wirkung erwünscht ist, akzeptiert werden kann oder kontraproduktiv ist. Entsprechend hat sich unter praktischen Gesichtspunkten eine Unterscheidung zwischen sedierenden und nicht-sedierenden Antivertiginosa bewährt.
Sedierende Antivertiginosa Hierunter sind Substanzen zu verstehen, die in therapeutischer Dosierung eine alltagsrelevante Sedierung hervorrufen, so dass beispielsweise keine Fahrtüchtigkeit mehr besteht. Sedierende Antivertiginosa sollten nur in begründeten Ausnahmesituationen, wie beispielsweise in der Akutsituation, nur zeitlich limitiert und vornehmlich zur Beseitigung von vegetativen Begleitsymptomen verabreicht werden. Merke: Sedierende Antivertiginosa nur in der Akutsituation und nur zeitlich begrenzt! Durch eine Sedierung wird eine zentral-vestibuläre Kompensation, die durch die Plastizität des Zentralnervensystems grundsätzlich
möglich ist, behindert. Eine Dauertherapie mit sedierenden Substanzen bedarf auch angesichts der zur Verfügung stehenden Alternativen – stets einer eingehenden Begründung. In die Gruppe der sedierenden Antivertiginosa gehören niedrig-potente Neuroleptika, Benzodiazepine und die klassischen H1-Antihistaminika (mit Penetration der Blut-HirnSchranke, z. B. Dimenhydrinat, Diphenhydramin, Meclozin) sowie die H1-Antihistaminika mit calciumantagonistischer Wirkung. Dimenhydrinat (Vomex®, in den USA als Dramamine® im Handel) stellt in der Akuttherapie des vestibulären Schwindels die Substanz der ersten Wahl dar, nicht zuletzt wegen des umfassenden Angebots an Darreichungsformen. Dies gilt insbesondere auch für die Selbstmedikation bei der Menièreschen Erkrankung. Dimenhydrinat wirkt als H1-Antihistaminikum insbesondere am zentralvestibulären System. Diphenhydramin ist in etwa äquipotent zu Dimenhydrinat, aber nur noch als Schlafmittel zugelassen, das ebenfalls nicht mehr verfügbare Meclozin gilt als weniger wirksam. Sulpirid gehört zur Gruppe der niedrig-potenten Neuroleptika vom Benzamin-Typ und wirkt vor allem antagonistisch an Dopamin D2und D3-Rezeptoren. Die Substanz ist außer zur Behandlung des peripher-vestibulären Schwindels auch zugelassen zur Behandlung von Depressionen und – in Dosen ab 600 mg/d – zur Behandlung der Schizophrenie. Sulpirid ist somit vor allem bei Schwindel im Rahmen psychiatrischer Komorbiditäten indiziert. Für alle Neuroleptika (z. B. Promethazin, Triflupromazin, besonders Droperidol) gilt, dass als unerwünschte Arzneimittelwirkungen extrapyramidal-motorische Störungen auftreten können, für Sulpirid ist zusätzlich die Induktion einer Hyperprolaktinämie typisch. Cinnarizin und Flunarizin sind H1-Antihistaminika vom Benzhydriltyp mit zentral calciumantagonistischer und damit Membran stabilisierender Wirkung. Die Substanzen entfalten ihre Wirkung vor allem am peripheren Vestibularapparat.
Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen
Scopolamin (L-Hyoscin) wirkt als Belladonna-Alkaloid, d. h. Parsympatholytikum durch kompetitive Hemmung an muskarinischen Acetylcholinrezeptoren. Demzufolge können als Nebenwirkungen Xerostomie und Akkommodationsstörungen auftreten, bei Prostatahyperplasie und Engwinkelglaukom ist Vorsicht mit der Anwendung geboten. Scopolamin wird als transdermales System vor allem zur Kinetoseprophylaxe eingesetzt (siehe unten).
Nicht-sedierende Antivertiginosa Betahistin wirkt antagonistisch an zentralen präsynaptischen Histamin H3-Rezeptoren und zugleich agonistisch an postsynaptischen H1Rezeptoren (Abbildung 1). Die Substanz ist als erste Wahl zur Prophylaxe von MenièreAnfällen anzusehen (siehe unten) und wird ergänzend zur üblichen rheologischen Infusionstherapie bei „Hörstürzen“ mit Tieftonhörminderung (die eventuell ursächlich auf einen Endolymphhydrops zurückgeführt werden können) eingesetzt. Bei anderen Schwindelformen sollte Betahistin mangels erwiesener
Abb. 1 Wirkung von Histamin und Betahistin am vestibulären System
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Wirksamkeit nur mit Vorbehalt eingesetzt werden. Das Kombinationspräparat Arlevert® setzt sich zusammen aus 20 mg Cinnarizin und 40 mg Dimenhydrinat; die beiden Komponenten sind hier im Vergleich zu den Monosubstanz also niedriger dosiert, ferner wirken hier eine Substanz mit peripherem Angriffspunkt und eine Substanz mit zentralem Angriffspunkt zusammen. Das Präparat ist in therapeutischer Dosierung als nicht sedierend anzusehen und somit auch zur Dauertherapie geeignet.
Therapie einzelner Krankheitsbilder Nachfolgend sind die Therapieempfehlungen für die häufigsten Krankheitsbilder kurz zusammengefasst. Die jeweiligen Dosierungen können zentral der Tabelle 1 entnommen werden. Morbus Menière, Menièrescher Symptomenkomplex Als Medikament der ersten Wahl zur Anfallsprophylaxe bei der Menièreschen Erkrankung ist Betahistin anzusehen. Hierbei ist beachtlich, dass Betahistin in zwei verschiedenen Salzen angeboten wird: s "ETAHISTINDIHYDROCHLORID 6ASOMOTAL ®, Betavert ® N) s "ETAHISTINDIMESILAT!EQUAMEN®, Betavert ®, alle Betahistin-Generika) Beide Salze unterscheiden sich in ihrer Dosierung (siehe auch Tabelle 1), bei unscharfen Verordnungen ohne Angabe des Salzes oder unachtsamem Austausch („aut idem“) seitens der Apotheke drohen hier Dosierungsfehler. Erfahrungen der Vergangenheit haben gezeigt, dass die Effizienz von Betahistin bei der Prophylaxe von Menière-Anfällen durch eine Dosiserhöhung gesteigert werden kann[14]. Die bislang arzneimittelrechtlich zugelassenen Höchstdosierungen lagen bei 48 mg Betahistindihydrochlorid bzw. bei
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Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen
Generischer HandelsName name(n)
Arzneimittelform
Dosierung
Bemerkungen
Nicht-sedierende Antivertiginosa Betahistindihydrochlorid
Vasomotal Betavert ® N
Tabl. Lsg.
3 u 8 –16 mg bzw. 2 u 24 mg
Dosissteigerung im Rahmen von Studien bzw. off label bis 3 u 48 mg
Betahistindimesilat
Aequamen® Betavert ® Generika
Tabl.
3 u 6 –12 mg
Dosissteigerung im Rahmen von Studien bzw. off label bis 3 u 36 mg
Cinnarizin + Dimenhydrinat
Arlevert ® (Kombination 20 mg C. + 40 mg D.)
Tbl.
3 (– 5) u 1 Tabl.
Cocculus
Kombinationspräparate: Vertigoheel®, Vertigo-Hevert ® Monopräparate: Cocculus C30 – D30
Tbl., Trpf., Inj.-Lsg.
je nach Präparat zahlreiche weitere homöopathische Arzneimittel enthalten (auch) Cocculus; Cave: Trpf. enthalten Ethanol!
Ingwer
Zintona®
Kps. (250 mg)
500 mg alle 4 Stunden
Picrotoxin
in D (noch) nicht zugelassen
(Supp.)
0,001 mg 3 x/ Woche
Cinnarizin
als Monopräparat in D nicht mehr zugelassen
Dimenhydrinat
(Vertigo-) Vomex®, Superpep®, Vomacur ®, Reisetabletten
®
derzeit experimenteller Einsatz zur Anfallsprophylaxe bei M. Menière
Sedierende Antivertiginosa 3 u 50 mg, 2 u 75 mg
früher: Stutgeron®
Tbl. (50 mg), Tagesdosis Drg. (50 mg), 300 mg, max. 400 mg Ret.-Kps. (150 mg), Supp. (150 mg), Sirup, Inj.-Lsg. (i. m. 100 mg, i. v. 62 mg)
Tabelle 1 Gebräuchliche Antivertiginosa Die Dosierungsangaben beziehen sich auf Erwachsene (siehe auch [17], [8])
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Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen
Generischer HandelsName name(n)
Arzneimittelform
Diphenhydramin
Drg. (25 mg), Drg. 3 u Amp. (20 mg) 25 – 50 mg Amp. 20 mg als Akutmaßnahme
in D nur noch in der Indikation Schlafmittel zugelassen – Ausnahme: Diphenhydramin-Hevert Amp. 20 mg; früher auch Benadryl®, Emesan® zur Schwindeltherapie
Droperidol Xomolix®
Inj.-Lsg. (2,5 mg)
Einzeldosen 0,625 –1,25 mg, ggf. alle 6 Stunden
auch bei postoperativem Schwindel (Ohrchirurgie) hilfreich; Cave extrapyramidale motorische Symptome (Therapie: Biperiden)
Flunarizin
Flunarizin-ct; Flunavert ®, Natil®
Kps. (5 mg, 10 mg)
5 –10 mg/d (abends)
Anwendungsbeschränkung auf 3 Monate
Meclozin
in D nicht mehr zugelassen
3 u 25 – 50 mg
geringere Wirkung als Dimenhydrinat; früher: Bonamine®, Peremesin®, Postadoxin® N
Promethazin
Atosil®
Filmtbl., Trpf., Inj.-Lsg.
20 – 30 mg als Akutdosis
Sulpirid
Dogmatil®, Meresa® Sulpivert ®, (Vertigo-)Neogama®, Generika
Kps. (50 mg), Tbl. (100 mg) Saft (Dogmatil® )
3 u 50 –100 mg
höhere Dosierungen bei der Indikation Schizophrenie; Cave Wechselwirkungen, Cave Hyperprolaktinämie
Scopolamin
Scopoderm®
TTS
Priming Dose: 150μg, 5μg/h für 72 Stunden
off-label auch zur Speichelsekretionshemmung einsetzbar
Triflupromazin
in D nicht mehr zugelassen
(z. B. Vivinox® Sleep)
Dosierung
Bemerkungen
früher: Psyquil®
Fortsetzung Tabelle 1
32 mg Betahistindimesilat. Aktuell läuft hierzu eine Plazebo kontrollierte Studie zur Dosiseskalation von Betahistin („Medical treatment of Menière’s disease with betahistine: a placebo-controlled, dose-finding study“, 2 u 24 mg versus 3 u 48 mg Betahistindihy-
drochlorid versus Plazebo, Kontakt: Prof. Dr. M. Strupp, Neurologische Klinik der LMU München). Auch eigene Erfahrungen zeigen, dass die Dosierung bis zu 3 u 48 mg Betahistindihydrochlorid bzw. 3 u 36 mg Betahistindimesilat (und im Einzelfall darüber
108
Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen
hinaus) gesteigert werden kann, ohne dass es zu einer Zunahme von unerwünschten Arzneimittelwirkungen kam. Bevor die Ergebnisse der erwähnten Studie vorliegen (und sich hieraus eventuell eine Zulassungserweiterung der Betahistin-Präparate ergibt), kann die Dosiseskalation von Betahistin nur im Rahmen eines individuellen Therapieversuchs „off label“ erfolgen. Betahistin ist kontraindiziert bei Asthma bronchiale, bei Komedikation mit Liquor gängigen H1-Antihistaminika der ersten Generation ist mit einer Wirkungsabschwächung von Betahistin zu rechnen. In diesen Situationen stellt die Kombination von Dimenhydrinat und Cinnarizin (Arlevert ® ) eine alternative Therapieoption dar. Gleiches gilt, wenn sich Betahistin als unzureichend wirksam erwiesen hat. Für die Betahistin-Therapie bei Morbus Menière gilt somit, dass zunächst eine Dosiseskalation erfolgen soll, bis die Anfallsfrequenz ein subjektiv erträgliches Ausmaß erreicht hat. Im Einzelfall kann auch ein Wechsel auf das andere Salz von Benefit sein – ohne dass sich hierfür eine pharmakologische Erklärung finden ließe. Änderungen der Therapie sollten jeweils jenseits eines Einmonatsintervalls erfolgen, da der Therapieeffekt typischerweise mit Latenz eintritt. Picrotoxin, die Wirksubstanz von Cocculus (Kockelskörner), einer indischen Kletterpflanze, ist die gebräuchliche Bezeichnung für ein Gemisch aus Picrotoxinin und Picrotin. Picrotoxin wirkt als nicht-kompetitiver GABA ARezeptorantagonist. Weikert et al.[20] berichteten kürzlich über den Einsatz von Picrotoxin bei Morbus Menière. Hierbei wurden in einer prospektiven, aber nicht randomisierten Studie entweder Picrotoxin-Suppositorien 0,001 mg dreimal pro Woche oder Betahistindimesilat-Tabletten 3 u 12 mg pro Tag appliziert. Hierbei erwies sich Picrotoxin in der Wirksamkeit auf Häufigkeit und Intensität der Schwindelanfälle dem Betahistin überlegen. Da Picrotoxin bislang nicht als Fertigarznei-
mittel zugelassen ist, stellt sein Einsatz trotz dieser vielversprechenden Daten derzeit noch eine Option der zweiten Wahl mit den Einschränkungen des Off Label-Uses dar. Die Anwendung sedierender Antivertiginosa zur Anfallsprophylaxe bei Morbus Menière kommt zweifelsohne nicht in Betracht, nur im akuten Anfall stellt Dimenhydrinat (Vomex® ) die Standardmedikation dar. Sofern ein Menière-Patient im akuten Anfall ärztliche Hilfe beansprucht, ist zunächst zu klären, inwieweit bereits eine adäquate Eigenmedikation erfolgt ist. Gegebenfalls können zusätzlich ein Benzodiazepin (z. B. Diazepam 5 –10 mg), ein niedrig-potentes Neuroleptikum (z. B. Promethazin 20 – 30 mg oder Droperidol 0,625 –1,25 mg) und/oder Metoclopramid verabreicht werden. Ferner helfen auch Corticosteroide (z. B. Prednisolon 100 mg) den Anfallsverlauf zu verkürzen. Zur Langzeittherapie gelten Corticosteroide hingegen nicht als wirksam. Sofern nach Ausschöpfung der medikamentösen Therapie keine subjektiv ausreichende Reduzierung der Anfallsfrequenz zu erreichen ist (bei konsequenter Einnahme der Medikation!), stehen operative Salvage- Verfahren wie die intratympanale Gentamicin-Therapie, die Sakkotomie und die Neurektomie zur Verfügung (siehe z. B. [5], [21]). Die intratympanale Gentamicin-Therapie stellt hierbei eine medikamentöse Therapieoption zumindest im weiteren Sinn dar. In einer kürzlich veröffentlichten Studie von Postema et al.[7] wurden 28 Patienten randomisiert entweder mit intratympanalem Gentamicin (12 mg Gentamicinsulfat einmal pro Woche für 4 Wochen) oder Plazebo behandelt. In der Verumgruppe kam es zu einer signifikanten Reduktion der Schwindelsymptomatik und des Ohrdrucks („aural fullness“) sowie zu einer Verbesserung des Hörvermögens um im Mittel 8 dB.
Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen
Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel (BPLS) ist eine Erkrankung des peripheren Labyrinths, am häufigsten kommt der p-BPLS, also die Canalolithiasis des posterioren Bogengangs vor. Die Diagnose eines BPLS kann durch die Abfolge verschiedener Lagerungsprüfungen gestellt werden. Die Therapie der ersten Wahl besteht in einem Befund adaptierten Befreiungsmanöver. Der BPLS beruht auf einem physikalischen Phänomen, namentlich einer seitendifferenten Lymphströmung infolge unterschiedlichen Gewichts, so dass eine pharmakologische Therapie nicht sinnvoll (und auch in den allermeisten Fällen nicht erfolgreich) ist. In den aktuellen Leitlinien der American Academy of Otolaryngology, Head and Neck Surgery[1] ist hierzu zu lesen: „Clinicians should not routinely treat BPPV with vestibular suppressant medications such as antihistamines or benzodiazepines.“ „Neuropathia vestibularis“, akuter einseitiger Labyrinthausfall Die Ursache des akuten einseitigen Labyrinthausfalls ist bislang nicht überzeugend aufgeklärt, ebenso steht nicht fest, dass es sich um eine Erkrankung der Nervi vestibulares handelt, wie der Begriff Neuropathia suggeriert. Eine Reaktivierung von Herpes simplex- und Varizella-zoster-Viren wird zwar nach wie vor diskutiert, jedoch erwies sich die Gabe von Valaciclovir in einer randomisierten, doppelblinden Studie von Strupp et al.[15] nicht als förderlich. Hingegen war die Gabe von Methylprednisolon mit einem signifikanten Benefit gegenüber Placebo verbunden. Nach einer Hypothese von Scherer et al.[10] kann es – ausgelöst beispielsweise durch Dehydrierung – zu einer Ablösung der Cupula an der gegenüberliegenden Wand des Bogengangs kommen, wodurch die typischen Symptome eines akuten einseitigen Labyrinthausfalls auftreten. Eine Rehydrierung kann hier innerhalb weniger Stunden eine Restitutio ad integrum herbeiführen.
109
In den verbleibenden Fällen wird eine Mikrozirkulationsstörung – analog zum Hörsturz – angenommen, so dass eine entsprechende rheologische Infusionstherapie mit Corticosteroiden empfohlen wird. In der Klinik des Autors wird hierzu die in Tabelle 2 aufgeführte Therapiesequenz angewendet. Ergänzend hierzu sollte ein aktives vestibuläres Training unter professioneller Anleitung frühzeitig initiiert werden. Die Verabfolgung eines sedierenden Antivertiginosums über die Akutphase der ersten Tage hinaus beeinträchtigt die zentrale Kompensation und sollte somit unterbleiben. Vestibularis-Paroxysmien Die Pathophysiologie von Vestibularis-Paroxysmien besteht analog zur TrigeminusNeuralgie in einer fokalen Demyelinisierung an einem der Nervi vestibulares durch den Kontakt mit einem arteriellen Gefäß („Gefäßschlinge“). Die Diagnose kann aber nicht nur anhand einer Angio-MRT-Untersuchung gestellt werden, da derartige Gefäßschlingen auch als Normvariante ohne Krankheitssymptome beobachtet werden können. Stimmen jedoch Angio-MRT-Befund und klinische Symptomatik überein, wird – wiederum analog zur Trigeminus-Neuralgie – ein Therapieversuch wie folgt empfohlen: s 7AHL'APAPENTIN4AGu 300 mg, 2. Tag 2 u 300 mg, ab 3. Tag 3 u 300 mg; Dosissteigerung auf 3 u 600 mg bis 3 u 1200 mg möglich) s ALTERNATIV 0REGABALIN "EGINN MIT u 25 – 50 mg, Steigerung bis zur Standarddosierung 2 u 75 mg, weitere Steigerung möglich bis zur Höchstdosis von 600 mg) s 7AHL#ARBAMAZEPINu 100 mg bis 3 u 200 mg Die mikrovaskuläre Dekompression (siehe z. B. [9]) stellt einen kausalen Therapieansatz dar und sollte in jedem Einzelfall gegenüber der medikamentösen Therapie abgewogen werden.
110
Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen
Tag
Medikamente
Applikation
1
250 ml HES 10 % 200/0,4 300 mg Pentoxifyllin (in Ringer-Lösung) Pentoxifyllin 400 mg Prednisolon 250 mg
Infusion 4 Stunden Infusion 3 – 4 Stunden p. o. alle 8 Stunden Kurzinfusion 8 Uhr
2
250 ml HES 10 % 200/0,4 300 mg Pentoxifyllin (in Ringer-Lösung) Pentoxifyllin 400 mg Prednisolon 200 mg
Infusion 4 Stunden Infusion 3 – 4 Stunden p. o. alle 8 Stunden Kurzinfusion 8 Uhr
3
300 mg Pentoxifyllin (in Ringer-Lösung) Pentoxifyllin 400 mg Prednisolon 150 mg
Infusion 3 – 4 Stunden p. o. alle 8 Stunden Kurzinfusion 8 Uhr
4
300 mg Pentoxifyllin (in Ringer-Lösung) Pentoxifyllin 400 mg Prednisolon 100 mg
Infusion 3 – 4 Stunden p. o. alle 8 Stunden Kurzinfusion 8 Uhr
5
300 mg Pentoxifyllin (in Ringer-Lösung) Pentoxifyllin 400 mg Prednisolon 80 mg
Infusion 3 – 4 Stunden p. o. alle 8 Stunden p. o. morgens
6
300 mg Pentoxifyllin (in Ringer-Lösung) Pentoxifyllin 400 mg Prednisolon 60 mg
Infusion 3 – 4 Stunden p. o. alle 8 Stunden p. o. morgens
7
300 mg Pentoxifyllin (in Ringer-Lösung) Pentoxifyllin 400 mg Prednisolon 40 mg
Infusion 3 – 4 Stunden p. o. alle 8 Stunden p. o. morgens
8
300 mg Pentoxifyllin (in Ringer-Lösung) Pentoxifyllin 400 mg Prednisolon 20 mg
Infusion 3 – 4 Stunden p. o. alle 8 Stunden p. o. morgens
Tabelle 2 Erlanger Infusionstherapie-Schema bei akutem einseitigem Labyrinthausfall
Vestibuläre Migräne Die vestibuläre Migräne wird als häufigste Ursache zentraler Schwindelattacken angesehen[2], [12]. In der aktuellen KopfschmerzKlassifikation der International Headache Society wird die Vestibularis-Migräne unter Migräne vom Basilaristyp subsumiert. Die Therapie erfolgt analog zur klassischen Migräne mit Aura, d. h. mit Betablockern oder Valproinsäure. Auch trizyklische Antidepressiva, Triptane, Topiramat und Lamotrigin wurden – zumeist allerdings nicht in Plazebo kontrollierten Studien – mit Erfolg eingesetzt.
Zentral-vestibuläre Nystagmen Es lassen sich zahlreiche zentral-vestibuläre Störungen mit unterschiedlichen Nystagmusformen abgrenzen. Grundsätzlich gilt, dass eine Behandlungsindikation nur bei subjektiv beeinträchtigender Symptomatik besteht. Über die Therapieoptionen bei den einzelnen Störungen informiert Tabelle 3. Bei vielen zentralen Nystagmusformen sind Aminopyridine wirksam. Der Wirkmechanismus beruht auf einer Kaliumkanalblockade mit konsekutiver Aktivitätssteigerung von (inhibitorischen) Purkinje-Zellen. Aminopyridine (4-Aminopyridin = Fampridin, 3,4-Diamino-
Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen
Art des Nystagmus
Therapieoptionen
Downbeat-Nystagmus
3,4-Diaminopyridin (3 u 5 –10 mg) 4-Aminopyridin (3 u 5 mg) [Clonazepam (3 u 0,5 mg)] [Baclofen (3 u 5 –10 mg)] [Gabapentin (3 u 300 – 600 mg)]
Upbeat-Nystagmus
4-Aminopyridin (3 u 5 mg) Baclofen (3 u 5 –10 mg)
periodisch alternierender Nystagmus
Baclofen (3 u 5 –10 mg)
erworbener Pendelnystagmus
Gabapentin (3 u 300 – 600 mg) [Trihexiphenidyl] [Memantin] Botulinumtoxin retrobulbär
Episodische Ataxie Typ 2
Acetazolamid 4-Aminopyridin (3 u 5 mg/d)
111
Tabelle 3 Therapieoptionen bei zentralen Nystagmen[3], [12], [13]
pyridin = Amifampridin) sind in Deutschland derzeit noch nicht als Fertigarzneimittel erhältlich, können aber als individuelle Rezeptur gefertigt werden. Kinetosen Eine Kinetose stellt die Reaktion eines Organismus auf eine individuelle, situativ bedingte Überforderung des zentral-vestibulären Systems dar. Typischerweise liegt ein intersensorischer Datenkonflikt zwischen visuellem System (ruhiger Horizont) und propiozeptivem sowie vestibulärem System (Wahrnehmung einer Bewegung) vor (Details bei [16]). Eine Kinetose hat keinen Krankheitswert, dennoch können die Symptome zweifelsohne lästig und die aktuelle Lebensqualität beeinträchtigend sein. Als Medikation der ersten Wahl zur Prophylaxe einer Kinetose ist Scopolamin in Form eines transdermalen Systems (Scopoderm® TTS) anzusehen, sofern eine Vorlaufzeit von mindestens acht Stunden zur Anflutung des Wirkstoffs möglich ist. Bei übergewichtigen Personen und/oder unzureichender Wirksamkeit eines Pflasters sollten zwei Pflaster
simultan verwendet oder aber ein Pflaster mit oralem Dexamethason (4 mg 2 – 3 u täglich) kombiniert werden, bei untergewichtigen Personen und Kindern besteht hingegen die Gefahr der Überdosierung bereits bei einem Pflaster. Selbstverständlich dürfen weder Scopolamin noch Dexamethason in dieser Indikation zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden. Eine wertvolle Alternative stellt die Kombination aus Cinnarizin und Dimenhydrinat dar, vor allem deshalb, weil die Wirkung im Gegensatz zu Scopolamin nicht mit Latenz eintritt, so dass das Präparat auch bei manifester Seekrankheit noch erfolgreich eingesetzt werden kann. Eine relevante Sedierung ist in der empfohlenen Dosierungen (3 u 1 Tablette Arlevert ® ) nicht zu erwarten. Ingwer- und Cocculus-Präparate können ebenfalls zur Kinetose-Prophylaxe eingesetzt werden, die individuelle Wirksamkeit ist allerdings unterschiedlich. Sofern eine Sedierung toleriert werden kann (z. B. bei Kindern), kann auf zahlreiche OTC-Präparate mit dem Wirkstoff Dimenhydrinat zurückgegriffen werden.
112
Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen
Sonstiger Schwindel, „Schwindel unklarer Genese“ Auch wenn sich bei exakter Anamneseerhebung und nach einer ausführlichen Gleichgewichtsprüfung viele Schwindel- und Gleichgewichtsbeschwerden einer distinkten Krankheitsentität zuordnen lassen, verbleibt dennoch ein nicht unerheblicher Prozentsatz von Patienten, bei denen keine klare Diagnose gestellt werden kann. Gerne werden dann Verlegenheitsdiagnosen wie Presbystasis, vaskulärer Schwindel, vertebrobasiläre Insuffizienz, Schwindel unklarer Genese oder funktioneller Schwindel gestellt. Auch wenn die Symptomatik der betroffenen Patienten mit den üblichen Diagnostikverfahren häufig nicht objektivierbar ist, darf nicht verkannt werden, dass eine subjektive Beeinträchtigung besteht, die eines Therapieangebots bedarf. Konkret wird der Patient mit subjektiv empfundenem Schwindel nicht zufrieden sein, wenn ihm lapidar eröffnet wird, dass sich keine Ursache für die Symptomatik finden lässt. In einer solchen Situation bedarf es immer auch einer subtilen Anamnese bezüglich psychogener bzw. psychiatrischer Komorbiditäten. Erforderlichenfalls ist hier eine spezifische Therapie einzuleiten. Insbesondere bei geriatrischen Patienten sollte von einer sedierenden Medikation Abstand genommen werden, da dies zu einer Erhöhung der Unfallgefahr führt (siehe [6], [19]) – man möge hier das plakative Bild des Greises vor sich haben, der infolge der benignen Prostatahyperplasie mehrmals nachts aufstehen muss und infolge einer sedierenden Medikation auf dem Weg zur Toilette stürzt und sich den Oberschenkelhals bricht. Ein aktives Schwindeltraining unter professioneller physiotherapeutischer Anleitung ist als primäre Behandlungsoption zu favorisieren, ergänzend kann eine Medikation mit einem nicht-sedierenden Antivertiginosum (erste Wahl: Arlevert ® ) erfolgen. Nicht wenige Patienten profitieren auch von dem vermutlich unspezifischen Effekt einer Medikation mit einem Ginkgo biloba-Extrakt in ausreichend
hoher Dosierung (z. B. Tebonin® 2 u 120 mg oder 3 u 80 mg).
Fahreignung und Fahrtüchtigkeit Zumeist dürfte die Grundkrankheit den entscheidenden Einfluss auf die Fahreignung bzw. Fahrtüchtigkeit ausüben. Hierauf sollte der betroffene Patient aus forensischen Gründen nachvollziehbar (Akteneintrag, besser unterschriebenes Formular) hingewiesen werden. Darüber hinaus kann auch eine entsprechende Pharmakotherapie Einfluss auf die Fahrtauglichkeit ausüben. Dies gilt vor allem für sedierende Antivertiginosa, unter deren Einfluss eine aktive Teilnahme am Straßenverkehr regelmäßig nicht möglich erscheint. Die Einnahme nicht-sedierender Antivertiginosa (Betahistin, Arlevert ® ) schränkt per se die Fahrtüchtigkeit nicht ein, sofern die hierdurch behandelte Erkrankung unter Kontrolle ist.
Zukünftige Entwicklungen Neurokinin 1-Rezeptorantagonisten wie Aprepitant (Emend® ) sind zugelassen zur Prophylaxe und Therapie der Zytostatika-induzierten Emesis. Bislang existieren keine überzeugenden Daten, dass diese Substanzklasse auch bei anderen mit Übelkeit und Erbrechen einhergehenden Zuständen wie Kinetosen und Morbus Menière wirksam wären. Im Bereich der Serotonin-Antagonisten wurden 5-HT1a- und 5-HT2 a/2c-Antagonisten als Ergänzung zu den 5-HT3-Antagonisten (Setrone) entwickelt, die potenziell bei Schwindel wirksam sein könnten. Gleiches gilt für einen Dopamin D2/D3- und 5-HT3-Antagonisten, der derzeit unter dem Kürzel AS 8112 geprüft wird. Auf die Aminopyridine wurde bereits im Kapitel 5.6 hingewiesen.
Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen
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Physiotherapeutische Schwindelrehabilitation A.-W. Scholtz
Wesentliche Indikationen zur physiotherapeutischen Schwindelrehabilitation sind heutzutage[6], [47] s "ENIGNER PAROXYSMALER ,AGERUNGSSCHWINdel s !KUTE.EUROPATHIAVESTIBULARIS s -ENIÒRE3YMPTOMENKOMPLEX s :ENTRAL VESTIBULËRE3TÚRUNGEN s !LTERSSCHWINDEL s 0OSTTRAUMATISCHER3CHWINDEL s 0SYCHOGENER3CHWINDEL Dabei unterscheidet man verschiedene Arten der physiotherapeutischen Schwindelrehabilitation[3]: s 3PEZIlSCHE6ERFAHREN s 3YMPTOMATISCHE6ERFAHREN s 2EHABILITATIVE6ERFAHREN
peripher-vestibulären Systems dar. 10 – 60 Erkrankungsfälle pro 100.000 Einwohner werden pro Jahr diagnostiziert[29]. Der BPLS tritt insbesondere bei älteren Patienten auf (50 % aller Krankheitsfälle). Bei einem Drittel der über 70-Jährigen wird mindestens einmal ein derartiger Lagerungsschwindel festgestellt. Vergleicht man die Lokalisation der Erkrankung, fällt auf, dass der hintere vertikale Bogengang am häufigsten betroffen ist (70 – 80 %). Seltener stellen der horizontale Bogengang (d 20 %) oder der vordere vertikale Bogengang (< 10 %) den Ort der Störung dar[11]. Trotz der Tatsache, dass der BPLS auch ohne spezifische Therapiemaßnahmen nach Wochen spontan sistieren kann, sollen die in den letzten Jahren entwickelten Lagerungsmanöver durchgeführt werden, damit eine rasche Beschwerdefreiheit erzielt wird.
Spezifische Verfahren Die spezifischen Verfahren werden bei Erkrankungen angewendet, bei denen die Ursache bekannt ist. Die Maßnahmen sind auf diese Ursachen gerichtet und haben das Potential, diese zu beseitigen. Daher sollten spezifische Therapieverfahren das Mittel der Wahl sein. Eine typische Erkrankung zum Einsatz spezifischer Therapieverfahren stellt der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel dar, zu dessen Behandlung verschiedene Lagerungsmanöver, wie das von Brandt-Daroff[7], von Semont[43] und das von Epley[15] gehören. Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel (BPLS) stellt die häufigste Störung des
Therapie des BPLS des hinteren vertikalen Bogenganges (p-BPLS) Semont[43] entwickelte das erste Repositionsbzw. Befreiungsmanöver. Dieser Vorgang besteht aus einem raschen Schwung des Körpers und des Kopfes um 180°, wobei der Kopf um 45° in Richtung der Bewegung gedreht wird, so dass die Ebenen der Bewegung und des betroffenen Bogenganges übereinstimmen. Ein weiteres Repositionsmanöver zur Behandlung des p-BPLS stellt das Epley-Manöver[15] dar. Hierbei werden eine Serie von Kopf- und Körperdrehungen in Schritten von ca. 90° durchgeführt (Abb. 1– 5).
116
Physiotherapeutische Schwindelrehabilitation
4
1
5 2
Abb. 1– 5 Epley-Manöver bei Erkrankung des linken hinteren Bogenganges (Abb. 1 = Position 1; Abb. 2 = Position 2; Abb. 3 = Position 3; Abb. 4 = Position 4; Abb. 5 = Position 5).
3
Die Erfolgsrate der genannten Maßnahmen liegt bei 80 %[43], [19], [27]. Nach erfolgreichem Lagerungsmanöver sind für das Verhalten zu Hause folgende Hinweise bedeutend: s +EINE$URCHFàHRUNGRUCKARTIGER+OPFBEWEgungen, s +EINE%INNAHMEEINER!USLÚSEPOSITIONDES BPLS für 1 Woche, s +EINE+OPFREKLINATIONFàR7OCHEN s 3CHLAFEN MIT ERHÚHTEM +OPF MINDESTENS 30°) Ein Drittel der Patienten weisen einen erneuten BPLS-Schwindelanfall innerhalb des ersten
Jahres nach Therapie auf, 50 % der Patienten erleiden eine neuerliche BPLS-Attacke innerhalb von 5 Jahren[17], [32]. Für die Behandlung von Rezidiven kommt erneut das Semont- oder Epley-Manöver zur Anwendung. Das Epley-Manöver eignet sich auch zum selbständigen Üben für Daheim. Hierbei werden eine Woche lang jeweils 3 Übungsabläufe pro Tag vor dem Schlafengehen durchgeführt. Das entspricht einem Zeitaufwand von 3 × 2,5 min/d[34], [16]. Das Epley-Manöver scheint insbesondere bei älteren Patienten leichter durchführbar zu sein, wobei jedoch einige Übungspositionen eine ausgeprägte Kopfreklination erfordern. Auch das von Brandt und Daroff[7] entwickelte Lagerungsmanöver eignet sich für Zuhause. Neben dem gezielten Einsatz bei der Therapie des atypischen BPLS des horizontalen Bogenganges stellt es eine unspezifische physikalische Maßnahme zur Beseitigung des
Physiotherapeutische Schwindelrehabilitation
Lagerungsschwindels dar. Hierbei werden 3 × 5 Übungsabläufe pro Tag über 2 Wochen empfohlen (3 × 10 min/d)[9]. Sistiert der Lagerungsschwindel nicht, kann man das Brandt-Daroff-Manöver noch mehrfach wiederholen[2] (Abb. 6 – 8). Wenn kein typischer Lagerungsschwindel mehr besteht, die Patienten jedoch weiterhin über unspezische Schwindelbescherden, wie Gangunsicherheit u. a., klagen, besteht die Indikation zu rehabilitativen Maßnahmen. Therapie des BPLS des vorderen vertikalen Bogenganges (a-BPLS) Für die Therapie des a-BPLS eignen sich auch die für den p-BPLS bekannten Befreiungsmanöver[21]. Bei einem weiteren Lagerungsmanöver nach Rahko[35] liegt der Patient
117
zunächst für 2 Minuten auf dem Rücken mit einem um 45° zur gesunden Seite gedrehten und um 30° reklinierten Kopf. Anschließend wird der Kopf in die Horizontale gebracht und 1 Minute später setzt sich der Patient bei weiterhin um 45° gedrehtem Kopf auf. Therapie des BPLS des horizontalen Bogenganges (h-BPLS) Bei der Canalolithiasis (typischer h-BPLS) stellt eine Körperlängsachsenrotation im Liegen (Barbecue-Rotation) um 270° in Richtung des gesunden Ohres die Therapie der Wahl dar[26]. Auch ein längeres Liegen auf dem gesunden Ohr wird empfohlen[49]. Bei der Cupulolithiasis (atypischer h-BPLS) wird die bilaterale Seitwärtsneigung (90°) im Sinne des Brandt-Daroff-Manövers[7] durchgeführt.
Rehabilitative Verfahren
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7
8 Abb. 6 – 8 Brandt-Daroff Manöver (Abb. 6 = Position 1, 3; Abb. 7 = Position 2; Abb. 8 = Position 4).
Die rehabilitative Therapie ist indiziert, wenn die spezifische Ursache nicht bekannt oder nicht behandelbar oder wenn erst nach längerer Behandlungsdauer eine Verbesserung des Beschwerden zu erwarten ist. Vestibuläre Rehabilitationsprogramme werden häufig bei neurootologischen Störungen mit persistierendem Schwindelgefühl und Gangunsicherheit eingesetzt. Typische Krankheitsbilder sind die akute Neuropathia vestibularis aber auch zentral-vestibuläre Störungen. Neurophysiologischer Hintergrund Peripher- wie auch zentral-vestibuläre Störungen rufen eine tonische Imbalance hervor, die meist durch einen richtungsbestimmten Spontannystagmus, durch eine Blickabweichung und durch eine Standinstabilität bzw. Fallneigung mit bevorzugter Richtungstendenz gekennzeichnet ist. Mit dem Auftreten derartiger Funktionsverluste setzen sogleich Kompensationsvorgänge ein. Als Kompensation wird ein zentralnervöses Phänomen bezeichnet, bei dem aufgrund der
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Physiotherapeutische Schwindelrehabilitation
neuronalen Plastizität ergänzende Funktionsabläufe ausgelöst werden[30], [10], [4]. Drei Mechanismen können im Wesentlichen unterschieden werden[20]: s (ABITUATION s !DAPTATION s -ULTISENSORISCHE3UBSTITUTION Im Rahmen der Habituation kommt es durch wiederholtes Üben zur Beseitigung der Schwindelsymptome auf Basis der neuronalen Plastizität. Die Empfindlichkeit auf wiederholte Reize wird reduziert. Es tritt ein Wiederausgleich der tonischen Aktivität in den vestibulären Kernen auf. Die Adaptation verbessert die visuell-vestibuläre Interaktion durch wiederholte Augen- und Kopfbewegungen und führt zur Neueichung des vestibulo-okulären Reflexes. Die Substitution beinhaltet die Nutzung verschiedener sensorischer Afferenzen (u. a. propriozeptive, visuelle Afferenz) zum zentralen Ausgleich der Störung. Die vestibuläre Kompensation kann durch Trainingsprogramme beschleunigt werden. Hinweiskriterien für eine physiotherapeutische Schwindelrehabilitation sind[48]: s "LICKINSTABILITËTBZW/SZILLOPSIENBEI+OPFbewegungen (Bsp. beim Lesen, Fernsehen, Erkennen von Schildern während des Gehens) s 3TAND 'ANGUNSICHERHEIT BEI STATISCHEN bzw. dynamischen Aktivitäten (Bsp. beim Überqueren einer belebten Straße bei seitwärts gedrehtem Kopf unter Sichtkontrolle zum nahenden Verkehr) s 3CHLECHTEKÚRPERLICHE+ONDITION"SPBEIM Vermeiden von Schwindel auslösenden Aktivitäten) s 5NSICHERHEIT BEI SICH BEWEGENDER 5MGEbung (Bsp. beim Stehen in bzw. Gehen durch sich bewegende Menschenmengen in Einkaufszentren oder Bahnhöfen) s "EWEGUNGSBEDINGTER 3CHWINDEL BEI +OPFwendungen (Bsp. Vermeiden von Schwindel auslösenden Kopf-/Körperbewegungen)
Wichtige Voraussetzungen für eine physiotherapeutische Schwindelrehabilitation sind[38]: s )NTAKTE7AHRNEHMUNG s )NTAKTEZENTRALE6ERARBEITUNG s )NTAKTEAFFERENTE%RSATZSYSTEME [intaktes Sehvermögen, ggf. Korrektur durch Sehhilfe (keine Gleitsichtbrille), keine Doppelbilder, intaktes Hörvermögen, ggf. Korrektur durch Hörhilfe, intaktes Richtungshören, intakte periphere Sensibilität] s )NTAKTE3KELETTMUSKULATUR Trainingsprogramme 1946 stellten erstmals Cawthorne und Cooksey ein vestibuläres Trainingsprogramm mit Blick-, Kopf- und Körperbewegungen, die mit Ballübungen kombiniert wurden, vor. Diese Übungsprogramme waren noch unzureichend auf die Neuorientierung des vestibulookulären Reflexes gerichtet. In den achtziger Jahren kamen insbesondere von McCabe et al.[28], Dix[14], Pfaltz und Novak[33], Norre und de Weerdt[31] weitere Überlegungen zum vestibulären Training. Pfaltz und Novak[33] sahen ihren Schwerpunkt in der Entwicklung eines optokinetischen Trainingsprogramms. Norre und de Weerdt[31] zielten auf Methoden zur Provokation von individuellen Gleichgewichtsstörungen. Auch andere Autoren, wie Brandt et al.[8], Hamann und Bockmeyer[18], Scherer[37] und Stoll[45], wiesen auf die Notwendigkeit des aktiven Übens zur Beschleunigung der Kompensation hin und gaben gezielt Vorschläge für Trainingsprogramme des gesamten sensomotorischen Systems. Heutzutage ist die physiotherapeutische Schwindelrehabilitation auf mehrere Schwerpunkte gerichtet: s "LICKSTABILITËTUNTERSTATISCHENUNDDYNAMIschen Bedingungen s 3TAND UND'ANGSTABILITËT s +ONDITIONIERUNG
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Blickstabilität unter statischen und dynamischen Bedingungen Das Fixationstraining bezweckt eine Unterdrückung des bestehenden Spontan- oder Provokationsnystagmus durch bewusstes Fixieren (Fixationssuppression). Statische Übungen beinhalten das Fixieren verschiedener ruhender Punkte bei Änderung von Kopf- und/oder Augenposition. Bei dynamischen Übungen wird entweder ein fester oder ein sich bewegender Punkt bei oszillierenden horizontalen und vertikalen Kopfbewegungen fixiert (Abb. 9 –12). Das Verfolgen von sich bewegenden großflächigen Zielen, die von der gesamten Retina erfasst werden, gilt als bester Stimulus für die vestibuläre Adaptation. Diese Übung führt zu einer Gainsteigerung des vestibulo-okulären Reflexes (VOR) und somit zur Verbesserung der Blickstabilität. Bei einer derartigen Folgeübung schaut der Patient auf einen Fixpunkt, während er seinen Kopf nach vorn und hinten soweit kippt, bis Oszilopsien wahrgenommen werden. Eine Steigerung des Schwierigkeitsgrades erreicht man, wenn sich Blickziele entgegen der Kopfbewegung soweit bewegen, bis erneut Oszilopsien entstehen. Sowohl horizontale als auch vertikale Kopfbewegungen und Blickzielbewegungen werden dabei ausgeführt. Diese Adaptationsübungen sollen möglichst kontext- und umgebungsspezifisch sein. Sie werden so gestaltet, dass sie verschiedene Umgebungen berücksichtigen, in welchen sich der Patient im Normalfall aufhält. Außerdem kann das Übungsprogramm so gestaltet werden, dass verschiedene Kopfpositionen und Bewegungsfrequenzen integriert sind. Dies führt dazu, dass sich der VOR an die Frequenzen der Kopfrotation wieder anpasst. Die VOR-Übungen werden schließlich mit verschiedenen Balanceübungen kombiniert. Beim optokinetischen Training wird durch schnell bewegte Ziele ein optokinetischer Nystagmus ausgelöst, während langsame Blickfolgebewegungen durch das Verfolgen eines Pendels entstehen[38], [39], [48].
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12 Abb. 9 –12 Gleichgewichtsübungen im Liegen.
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Stand- und Gangstabilität Mentales Training In den letzten Jahren wird das mentale Training in die vestibuläre Rehabilitation mit einbezogen[5]. Wenn auch der Begriff mentales Training heute weiter gefasst wird, so stellt es im eigentlichen Sinne das wiederholte SichVorstellen eines Handlungsablaufes dar, ohne die Handlung aktiv auszuüben. Ein besseres Bewusstwerden von Bewegungsabläufen bewirkt eine Verbesserung des später tatsächlich auszuführenden Bewegungsablaufes. Für die vestibuläre Rehabilitation ist somit ein Wechsel zwischen mentalem Training und sensomotorischem Training wichtig, um die Handlung in der Vorstellung immer wieder mit der ausgeführten wirklichen Handlung abzugleichen. Das mentale Training verbessert die Durchführung motorischer Aufgaben[27a] (Abb. 13 –14). Posturale Kontrolle Eine wesentliche Grundlage für die physiotherapeutische Schwindelrehabilitation bildet die posturale Kontrolle. Hierbei existieren unter13
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Abb. 13 –14 Mentales Training im Liegen (Abb. 13) und im Vierfüßlerstand (Abb. 14)
schiedliche Modelle. Die Systemtheorie geht von einem posturalen Kontrollsystem aus, das dem Körper unter Einbeziehung einer Vielzahl von Systemen ermöglicht, seine posturale Orientierung und Stabilität aufgabenorientiert zu kontrollieren. Zu den Komponenten der posturalen Kontrolle gehören[22]: s +OMPONENTEN DES "EWEGUNGSSYSTEMS (Gelenkbeweglichkeit, spinale Flexibilität, muskuläre Eigenschaften, Biomechanik der Körpersegmente zueinander) s +OMPONENTENDER"EWEGUNGSKONTROLLEMO torische Vorgänge, sensorische Vorgänge des visuellen, vestibulären und propriozeptiven Systems, integrative Prozesse auf höherem Niveau) s +OMPONENTEN AUS %RLEBEN UND 6ERHALTEN (Aufmerksamkeit, Motivation) s +OMPONENTENDERINNEREN/RGANEANGEpasste Atmung, stabiler Kreislauf) Eine Basis für die posturale Kontrolle im Rahmen der statisch-motorischen Übungen bilden die im Kleinhirn verankerten Stellreflexe, die bei der Entwicklung der Körperkontrolle im Kleinkindalter eine wesentliche Rolle spielen[50]. Zur Verbesserung der vestibulo-spinalen Haltungskontrolle und Zielmotorik werden Übungen aus der Kombination visueller, vestibulärer und propriozeptiver Reize unterschiedlichen Grades im Liegen, Sitzen und Stehen durchgeführt. Sie erfolgen teils ohne oder mit Hilfsmitteln, wie Fixationsbrett, Weichmatte, Kippplatte, Drehtrommel oder Drehstuhl. Neben den Trainingsprogrammen, die unter Anleitung von Physiotherapeuten durchgeführt werden, ist es notwendig, den Patienten für Zuhause gezielte, aber leicht verständliche und einfach durchführbare Übungsabfolgen zu geben. Das Schema nach Reiß und Reiß[36] ist hierfür geeignet und beinhaltet folgende Übungen: 1. Im Bett liegend: Augenbewegungen und Kopfbewegungen in Horizontal- und Sagittalebene erst langsam, dann schnell, Blickfixation des sich bewegenden Zeigefingers
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von der ausgestreckten Armposition bis zur Nase und umgekehrt. 2. Auf dem Stuhl sitzend ohne Armlehnen: Augenbewegungen wie unter 1., Kopfbewegungen in Horizontal-, Frontal- und Sagittalebene, Blickfixation des sich bewegenden Zeigefingers wie unter 1., Beugen des Oberkörpers und Kopfes nach vorn bei offenen und geschlossenen Augen. 3. Im Stehen: wie unter 2, zusätzlich Drehen des Oberkörpers in der Horizontalebene bei offenen und geschlossenen Augen, Werfen eines Balles von einer Hand zur anderen in Augen- und Kniehöhe. 4. Gehen durch das Zimmer und Stehen auf einem Fuß jeweils bei offenen und geschlossenen Augen. Konditionierung Patienten neigen dazu, ihre Aktivitäten aus Angst vor erneuter Gang- und Standunsicherheit bzw. vor dem Sturzrisiko einzuschränken. Aus diesem Grunde ist auf regelmäßige sportliche Aktivitäten hinzuweisen. Es wird empfohlen, mindestens dreimal pro Woche für jeweils 20 Minuten eine diesbezügliche Aktivität vorzunehmen.
Symptomatische Therapie Therapie des bewegungsbedingten Schwindels Habituationsübungen reduzieren die Schwindelbeschwerden durch wiederholte Exposition mit spezifischen Bewegungen, die Schwindel provozieren. Im Rahmen der Habituation kommt es zur Verringerung der Amplitude der synaptischen Potentiale (postsynaptisches Erregungspotential) von den sensorischen Neuronen auf die Inter- und Motoneurone. Diese kurzfristige Erregungsminderung führt zu einer vorübergehenden Linderung des Schwindels. Erst langfristige strukturelle Veränderungen in den sensorischen Zellen mit Rückgang der Zahl der synaptischen Verbindungen zu
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den Inter- und Motoneuronen reduzieren den Schwindel dauerhaft. Aus diesem Grunde erfordert das Habituationstraining einen Zeitraum von mehreren Wochen bis Monaten. Zunächst ist es notwendig, die Schwindel auslösenden Bewegungen exakt zu bestimmen. Gemeinsam mit einem Physiotherapeuten wird nun ein Übungsprogramm zusammengestellt, welches derartige Bewegungen mit Schwindel auslösender Geschwindigkeit umfasst. Pro Übungseinheit sollen nicht mehr als 4 verschiedene Schwindel auslösende Bewegungen durchgeführt werden. Nach jeweils einer Pause von 30 – 60 Sekunden können die Übungseinheiten 3 – 5-mal wiederholt werden. Das gesamte Übungsprogramm soll 1 bis 2-mal täglich ausgeführt werden[48].
Neuartige Therapiekonzepte Trotz der verschiedenen Therapieformen gibt es noch keine Evidenz-basierten Rehabilitationskonzepte. Für ihre Erarbeitung ist es wichtig, dass umfangreiche und vielfältige Wahrnehmungs- und Bewegungsmuster in der Therapie von Schwindelpatienten Berücksichtigung finden. Hierbei gilt es, unterschiedlich schwierige, aber zugleich koordinativ anspruchvolle Bewegungsaufgaben zu entwickeln. Im Gegensatz zu bisher üblichen Therapien sollen derartige Übungen neu, ungewohnt und kompliziert sein. Auch ist es zweckmäßig, einfache Bewegungsabläufe durch Variationen und Kombinationen zu erschweren. Biofeedback Unter Biofeedback versteht man im klassischen Sinne eine verhaltensmedizinische Interventionstechnik, bei der Körpersignale mit technischen Hilfsmitteln unmittelbar zurückgemeldet werden. Ziel ist das Erlernen einer Kontrolle dieser Prozesse im Sinne einer aktiven Konditionierung. In den letzten Jahren hat sich der Einsatz des Biofeedback auf verschiedenen Gebieten in unterschiedlichen Formen rasch entwickelt.
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Das Neurofeedback kommt heutzutage auch in der physiotherapeutischen Schwindelrehabilitation zur Anwendung. Diese Technik hilft dem Patienten, zur Ergänzung der Therapie ein Gerät im Sinne einer zusätzlichen Informationsquelle zu nutzen. Damit soll er befähigt werden, die Rehabilitation selbst zu steuern, d. h. diese Steuerfähigkeit auch ohne Physiotherapeut und Gerät später beizubehalten. Voraussetzung für den Einsatz des Neurofeedbacks in der vestibulären Rehabilitation ist eine ausreichende Stand- und Gangstabilität. Verschiedene Formen sind bekannt: s 6ISUELLES&EEDBACK s %LEKTRISCHES&EEDBACK s !KUSTISCHES&EEDBACK s 6IBROTAKTILES&EEDBACK Visuelles Feedback Hierzu benutzt man die Posturografie, die der Registrierung von Körperschwankungen dient[1]. Es gibt verschiedene Ausführungen, die aber in ähnlicher Weise konzipiert sind und die die Projektion des Körperschwerpunktes auf eine Standfläche während des aufrechten Stehens festlegen. Hierbei wird die Position des Fußdruckzentrums gemessen, die mit der Position des Körperschwerpunktes korreliert, falls der Körper nur langsam schwankt. Das Fußdruckzentrum wird in der Regel durch 4 Kraftaufnehmer – angebracht an den 4 Eckpunkten in der Fußplatte – bestimmt. Der Patient selbst steht auf einer solchen Plattform und sieht in einem Koordinatensystem auf einem Bildschirm in Augenhöhe die unmittelbare Position des Körperschwerpunktes. Verschiedene Programme geben nun auf dem Bildschirm mittels Punkten, Kreisen oder anderen Symbolen vor, wie der Patient seinen Körperschwerpunkt verlagern soll (Abb. 15) Elektrisches Feedback Brainport® Das Brainport ® liefert Informationen über die Kopfstellung im Raum mittels elektrotaktiler Stimulation der Zunge. Auf der Zungenoberfläche des Patienten befinden sich in einer Einheit ein Beschleuni-
Abb. 15 Visuelles Neurofeedback (Luzerner Plattform® ).
gungsaufnehmer und ein Reizstrom-Elektrodenfeld mit 10 × 10 Kontakten. Der Beschleunigungsaufnehmer misst den Neigungswinkel des Kopfes gegenüber der Vertikalen und gibt diese Informationen über ein flexibles Kabel zu einem Mikrocomputer. In Abhängigkeit des Kopfneigungswinkels werden nun Schwachstromimpulse in unterschiedlichen Kontakten des Elektrodenfeldes auf der Zungenoberfläche generiert. Bei aufrechter Kopfposition befindet sich der elektrische Reiz in der Zungenmitte. Bei Kopfneigung verschiebt sich der elektrische Impuls in die gleiche Richtung, d. h. bei Rechtsneigung in Richtung des rechten Zungenrandes[44] (Abb. 16 –17). FPZ 3D: Spacecurl® Das Spacecurl wurde bisher vorwiegend in der Rehabilitation neuromuskulärer Erkrankungen eingesetzt. Auch in der physiotherapeutischen Schwindelrehabilitation findet dieses Gerät, das ein dreidimensionales Training erlaubt, jetzt Anwendung. In einer einzigartigen Konfiguration sind aktive Bewegungen mit unterschiedlichen eigengesteuerten Geschwindigkeiten in allen Ebenen des Raumes möglich. Spezifisch wird dabei das sensomotorische System mit seinen Afferenzen stimuliert und die Körperbalance und Haltung verbessert.
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Abb. 16 –17 Elektrisches Neurofeedback (Brainport ® ) (Abb. 16) und Mundstück der Brainport®-Einheit mit Reizstromelektroden.
Im Rahmen des Therapieablaufes stellt sich der Patient bei festgestellten Ringen auf die Plattform im inneren Ring und wird an den Füßen über dem Fußrücken fixiert. Bei geschlossenem Beckenring jedoch ohne Beckenfixation hat der Patient die Aufgabe, sich möglichst aufrecht zu halten sowie nach der nun folgenden Freigabe der Ringe die Plattform exakt in Mittelstellung zu bewahren und jede Abweichung anschließend auszugleichen. Aus der Mittelposition heraus wird dann der Bewegungsumfang gesteigert. Hierbei bewegt sich der Patient durch Gewichtsverlagerung in Positionen außerhalb der Lotrechten, anfangs bei langsameren Bewegungen mit kleinem Umfang sowie sauber kontrollierten Endpositionen. Zunächst wird der Patient aus der lotrechten Ausgangsposition mit dem Oberkörper zunächst 30° nach vorn geneigt. Seine Aufgabe besteht nun darin, in kürzester Zeit die lotrechte Ausgangsposition wieder zu erreichen. Das gleiche Vor-
gehen wird vom Patienten erwartet, nachdem er mit dem Oberkörper 30° nach hinten, 30° nach links und 30° nach rechts positioniert wurde (Abb. 1– 3). Mit zunehmender Körperkontrolle erweitert der Patient Geschwindigkeit und Bewegungsumfang. Mit einer eigens für dieses Gerät entwickelten Messsoftware (3D Soft Spacecurl) ist es möglich, die Lage des Patienten in Raum und Zeit genau zu erfassen und visuell darzustellen. Bei Bewegungen in der Frontalebene werden die Abweichungen nach vorne und hinten sowie in der Sagittalebene die seitlichen Abweichungen bestimmt (Variationsbreite in Grad) (Abb. 4). Als wichtigster Parameter wird die Zeitdauer zwischen der Ausgangsposition (Bsp. jeweils 30° nach vorne, nach hinten, nach links und nach rechts) und dem Erreichen der Lotrechten angegeben[41] (Abb. 18 – 20).
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19 Abb. 18 – 20 Dreidimensionales Training mit Spacecurl® (Abb. 18 – 19), Bewegungsbahn des Patienten aus der Position I (Neigung des Oberkörpers 30° nach vorn) in die Position II (Oberkörper in Lotrechte) (Abb. 20)
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Aspekte zur Entwicklung einer evidenz-basierten physiotherapeutischen Schwindelrehabilitation Um einen Vergleich zwischen den Ergebnissen verschiedener Therapieprogramme vornehmen zu können, ist ein einheitliches Messverfahren anzustreben. Außerdem setzt die Beurteilung eines Evidenz-basierten Rehabilitationskonzeptes ein Messverfahren voraus, das eine gewünschte Dimension misst, eine hohe Reliabilität, eine ausreichende Unterschiedssensitivität sowie eine einfache und
leicht verständliche Praktikabilität aufweist, möglichst weit verbreitet und zur Qualitätskontrolle wiederholt anwendbar ist[42], [25]. Bisher hat sich die Posturografie als valide und reliable Messmethode etabliert. Gerade das Interaktive Balancesystem (IBS) (Tetrax®) erzeugt kontrollierte Reiz-Antwortmessungen zur Diagnostik von Störungen des vestibulospinalen Reflexes und erfasst Kompensationsund Trainingseffekte bei peripher-vestibulären Störungen[23], [40]. Derzeit ist es aber nicht möglich, das sensomotorische System als Ganzes mit Hilfe einzelner Messverfahren zu bestimmen. Alle bekannten Messmethoden erfassen nur Teilsysteme, wie die afferenten Inputs, die zentralnervöse Reizverarbeitung oder den motorischen Output. In einer prospektiv angelegten experimentell kontrollierten Längsschnittuntersuchung bei Patienten mit akuter Neuropathia vestibularis am Institut für Sportwissenschaft der Universität Halle-Wittenberg konnte festgestellt wer-
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den, dass die Standstabilität, die Haltungsregulation und die subjektive Empfindlichkeit beim Üben unter Verwendung von Spacecurl® signifikante Verbesserungen gegenüber einer Kontrollgruppe aufwiesen[24]. Eigene Untersuchungen an der UniversitätsHNO-Klinik Innsbruck konnten ähnliche Ergebnisse aufzeigen. Während des stationären Aufenthaltes sowie in der ersten poststationären Woche führten die Patienten mit akuter Neuropathia vestibularis jeweils 3 Übungseinheiten des standardisierten sensomotorischen Trainings im Spacecurl® durch. Eine Vergleichsgruppe von Patienten gleicher Diagnose absolvierte stattdessen das bisherige Standardprogramm mit Steh- und Balanceübungen auf festem Boden und auf Schaumstoffunterlage bei offenen und geschlossenen Augen. Vor Therapiebeginn sowie nach Abschluss der Therapie wurden posturografische Messungen mittels IBS vorgenommen (Abb. 5, 6).
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Beide Patientenkollektive wiesen nach Training eine Steigerung des Stabilitätsindex gegenüber den Ausgangswerten auf. Ein Vergleich beider Gruppen untereinander erbrachte eine signifikante Verbesserung der Standstabilität nach dem Training im Spacecurl®. Durch die Anwendung der Fourier-Transformation ließen sich die Körperschwankungen in mehrere Frequenzbereiche einteilen, die für die Beurteilung der drei maßgeblichen sensorischen Systeme – visuell, vestibulär, propriozeptiv – herangezogen werden. Dabei wurde eine verbesserte Integration afferenter Informationen im Zerebellum nachgewiesen. Mit der vorgestellten Mess- und Therapieeinheit ergeben sich neue Möglichkeiten zur Erarbeitung Evidenz-basierter Therapiekonzepte.
Perspektive Neue Kenntnisse in der Erforschung des gleichgewichtserhaltenden Systems führen zu einer verbesserten Beurteilung des Funktionszustandes der einzelnen peripher-vestibulären Strukturen. Dieser Fortschritt ermöglicht auch eine zielgerichtetere physiotherapeutische Schwindelrehabilitation. Grundbausteine bleiben Übungen zur Blickstabilisierung, zur Stand- und Gangstabilisierung sowie zur Konditionierung. Jedoch in Abhängigkeit von Bogengangs- und Otolithenorganstörun-
22 Abb. 21, 22 21
Linearschlitten zur Reizung der Otolithenorgane in unterschiedlichen Kopf-Körper-Positionen
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gen sind Übungsgeräte, wie Drehstühle, rotierende Kugeln (Spacecurl®, Abb. 18, 19), Linearschlitten (Abb. 21, 22) oder Trampoline, in das Konzept mit einzubinden. Derartige Anschaffungen sind bei der größer werdenden Anzahl von Patienten mit Gleichgewichtsstörungen, insbesondere von Patienten mit erhöhtem Sturzrisiko im Alter, unumgänglich.
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Tauglichkeit zum Führen von Fahrzeugen bei Erkrankungen des Gleichgewichtssinnes W. Stoll †
Der Individual- und Berufsverkehr unterliegt europaweit ständig wachsenden, logistischen Anforderungen. Konsequenterweise bemühen sich die Gesetzgeber im Interesse der Verkehrssicherheit und Unfallbekämpfung die Mindestanforderungen hinsichtlich der körperlichen und geistigen Tauglichkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen zu regeln[1], [3 – 5].
Rechtliche Rahmenbedingungen Zum Führen eines Kraftfahrzeuges ist nach Maßgabe des Straßenverkehrsgesetzes (§ 2, Abs. 4, Satz 1 StVG) nur derjenige geeignet, der die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich und wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat. In der Fahrerlaubnisverordnung FeV wird der globale Eignungsbegriff konkretisiert, in dem in Anlage 4 und 5 häufige Erkrankungen und Mängel aufgeführt werden, durch die die Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeuges beeinträchtigt oder aufgehoben sein kann. Hierbei sind im Einzelfall Kompensationsmöglichkeiten durch besondere Veranlagung, Adaptation, technische Hilfsmittel oder aber auch medikamentöse Behandlung gesondert zu bewerten. Hervorzuheben ist, dass der Verkehrsteilnehmer selbst die Hauptver-
antwortung trägt, wenn er am Verkehr teilnimmt. Dies regelt § 2 (FeV). „ Wer sich infolge körperlicher oder geistiger Mängel nicht sicher im Verkehr bewegen kann, darf am Verkehr nur teilnehmen, wenn Vorsorge getroffen ist, dass er Andere nicht gefährdet. Die Pflicht zur Vorsorge, namentlich durch das Anbringen geeigneter Einrichtungen an Fahrzeugen, durch den Ersatz fehlender Gliedmaßen mittels künstlicher Glieder, durch Bekleidung oder durch das Tragen von Abzeichen oder Kennzeichen obliegt dem Verkehrsteilnehmer selbst oder einem für ihn Verantwortlichen.“ In den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung, herausgegeben vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen (1973, 2000) ist die Eigenverantwortung des Verkehrsteilnehmers nochmals hervorgehoben: „Für Schwächezustände durch akute, vorübergehende, sehr selten vorkommende oder nur kurzzeitig anhaltende Erkrankungen (grippale Infekte, akute infektiöse Magendarmstörungen aber auch Migräne, Heuschnupfen, Asthma etc.) ist es dem Verantwortungsbewusstsein jedes Verkehrsteilnehmers aufgegeben, durch kritische Selbstprüfung festzustellen, ob er unter den jeweils gegebenen Bedingungen noch am Straßenverkehr, insbesondere am motorisierten Straßenverkehr teilnehmen kann oder nicht (siehe § 2, Absatz 1 der FeV).“
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Tauglichkeit zum Führen von Fahrzeugen bei Erkrankungen des Gleichgewichtssinnes
Fahrerlaubnisklassen Das deutsche Fahrerlaubnisrecht folgt nach Maßgabe der Europäischen Führerscheinrichtlinie den nachstehenden Fahrerlaubnisklassen. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedsstaaten, die internationalen Fahrerlaubnisklassen A – E einzuführen. Für die Zwecke der Begutachtung werden diese Klassen in zwei Gruppen eingeteilt. Gruppe 1 Zugeordnet sind die Fahrerlaubnisklassen A, A1, B, BE, M, L, T. Die Gruppe umfasst im wesentlichen die Nutzung von Krafträdern, Personenkraftwagen und kleineren Lastkraftwagen bis 3,5 t. Gruppe 2 Zugeordnet sind die neuen Fahrerlaubnisklassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E. Die Gruppe umfasst Kraftfahrzeuge über 3,5 t und die Fahrzeuge zur Personenbeförderung ab 8 Sitzplätzen.
Aufgabe des behandelnden Arztes Bei jeder Therapie, die die Verkehrstauglichkeit beeinflusst, ist der Arzt verpflichtet, eine entsprechende Aufklärung durchzuführen. Dies betrifft insbesondere die Rezeptur von Medikamenten, die die Vigilanz beeinflussen[10], [11]. Aus besonderem Anlass kann eine Überprüfung der Eignung eines Antragsstellers oder Inhabers der Fahrerlaubnis erfolgen, wenn z. B. dem behandelnden Arzt Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche und geistige Eignung des Bewerbers oder Inhabers der Fahrerlaubnis begründen. Der Arzt darf dann auch ohne Einverständnis der Betroffenen die Straßenverkehrsbehörde über die Eignungsmängel informieren, ohne dass er wegen Verletzung der Schweigepflicht belangt werden kann. Er muss aller-
dings sorgfältig die Rechtsgüter abwägen und durch Aufklärung versuchen, von der Teilnahme am Straßenverkehr Abstand zu nehmen. Schlagen diese Versuche fehl, kann er eine Meldung machen. Es besteht aber keine Meldepflicht. Wird die Eignung zum Führen eines Fahrzeuges in Frage gestellt, so muss der Straßenverkehrsbehörde ein Gutachten vorgelegt werden[2], [5]. Die Behörde gibt die Art der Begutachtung vor (§ 11, Absatz 6 FeV). Die Auswahl der konkreten Untersuchungsstelle bleibt dem Betroffenen überlassen. Innerhalb der Begutachtungsstelle für Fahreignung soll dem Auftraggeber jedoch kein Einfluss auf die Wahl der Gutachter eingeräumt werden. Nach Möglichkeit sind alle relevanten Vorbefunde beizuziehen. Sofern ein Gericht ein Gutachten für erforderlich hält, obliegt diesem die Auswahl des für die Fragestellung geeigneten und hierfür qualifizierten Gutachters. Der ärztliche oder psychologische Gutachter muss nicht nur über spezielle Erfahrungen in der Verkehrsmedizin bzw. in der Verkehrspsychologie verfügen (praktische Tätigkeit, Fortbildung und Weiterbildung), sondern sich auch bereits über eine langfristige Tätigkeit in den entsprechenden Institutionen (Kliniken, Facharztpraxen bzw. Begutachtungsstellen für Fahreignung) qualifiziert haben (siehe hierzu §§ 65 – 67 und 72 FeV). Der klinische und praktisch tätige HNO-Arzt hat eine solche Qualifikation normalerweise nicht. Seine Begutachtung wird nur dann notwendig, wenn spezielle medizinische Fragestellungen auftreten, die nur durch eine fachärztliche Begutachtung beantwortet werden können[6], [7], [9], [11–13].
Anforderungen an den HNO-Facharzt In der Anlage 4 der Fahrerlaubnisverordnung sowie im Absatz 3.2.2 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung sind die Einschränkungen für Schwerhörigkeit und Ge-
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Tauglichkeit zum Führen von Fahrzeugen bei Erkrankungen des Gleichgewichtssinnes
Krankheiten, Mängel Eignung oder bedingte Eignung
Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung
Klassen A, A1, B, BE, M, S, L, T
Klassen A, Klassen C, C1, CE, C1E, A1, B, BE, M, S, L, T D, D1, DE, D1E, FzF
Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E, FzF
2.1 Hochgradige Schwerhörigkeit (Hörverlust von 60 % und mehr), beidseitig sowie Gehörlosigkeit, beidseitig
ja wenn nicht gleichzeitig andere schwerwiegende Mängel (z. B. Sehstörungen, Gleichgewichtsstörungen)
– ja (bei C, C1, CE, C1E) sonst nein
vorherige Bewährung von 3 Jahren Fahrpraxis auf Kfz der Klasse B
2.2 Gehörlosigkeit einseitig oder beidseitig oder hochgradige Schwerhörigkeit einseitig oder beidseitig
ja wenn nicht gleichzeitig andere schwerwiegende Mängel (z. B. Sehstörungen, Gleichgewichtsstörungen)
ja (bei C, C1, CE, C1 E) sonst nein
–
wie 2.1
nein
–
–
ja
ggf. Beschränkung auf bestimmte Fahrzeugarten oder Fahrzeuge, gegebenenfalls mit besonderen technischen Vorrichtungen gemäß ärztlichem Gutachten, evtl. zusätzlich medizinisch-psychologisches Gutachten und/oder Gutachten eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers. Auflage: regelmäßige ärztliche Kontrolluntersuchungen; können entfallen, wenn Behinderung sich stabilisiert hat.
1. Mangelndes Sehvermögen siehe Anlage 6 2. Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit
nein 2.3 Störungen des Gleichgewichts (ständig oder anfallsweise auftretend) 3. Bewegungsbehinderungen
Tabelle 1
ja
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Tauglichkeit zum Führen von Fahrzeugen bei Erkrankungen des Gleichgewichtssinnes
hörlosigkeit aufgeführt (siehe Tabelle aus der Anlage 4)[4]. Wer unter beidseitiger Gehörlosigkeit oder hochgradiger Schwerhörigkeit leidet, ist nicht in der Lage, den Anforderungen gerecht zu werden, die beim Führen eines Kraftfahrzeuges verlangt werden, das der Personenbeförderungen dient. Hochgradige Schwerhörigkeit liegt dann vor, wenn ein Hörverlust von 60 % und mehr nachgewiesen wird. Der prozentuale Hörverlust wird anhand der Tabelle von Röser (1973) aus der Luftleitungskurve des Tonaudiogrammes, ausgehend von den Hörverlusten in dB bei 1.000 und 3.000 Hz, bei Prüfung im schallisolierten Raum ermittelt. Diese Festlegung wurde damit begründet, dass die Tonschwellenaudiometrie gegenüber der Sprachaudiometrie besser die Anforderungen des Straßenverkehrs an das Hörvermögen repräsentiert. Eine besondere Problematik besteht bei Gehörlosigkeit einseitig oder beidseitig und ebenso hochgradiger Schwerhörigkeit einseitig oder beidseitig in Kombination mit anderen schwerwiegenden Mängeln, wie z. B. Sehstörungen, Störungen des Gleichgewichts oder intellektuellen Leistungseinschränkungen. In diese Rubrik gehören Patienten mit Menière-Syndrom, aber auch z. B. Cochlearimplantatträger. Für Träger von Hörgeräten ist das ohne Hörhilfen ermittelte Audiometrieergebnis maßgebend, da eine Hörverbesserung durch Hörhilfen keine ausreichende Kompensation hochgradiger Schwerhörigkeit bewirken kann, gegenüber den Anforderungen, die an Kraftfahrzeugführer der Gruppe 2 gestellt werden. Andererseits wird aber denen, die nicht berufsbedingt mit dem Auto fahren, sicherlich keine Einschränkung auferlegt. Sie können sich besonderen Prüfungen unterziehen und haben auch Anspruch auf eine Bewährung in der Fahrpraxis. Die Tatsache, dass das Hörorgan ohne Vestibularisdiagnostik und umgekehrt das Gleichgewichtsorgan nicht ohne Audiometrie beur-
teilt werden kann, belegt auch der Hinweis, dass eine in früher Kindheit erworbene Taubheit mit beidseitigem Vestibularisausfall im allgemeinen keine nachteiligen Folgen auf die Fahrtüchtigkeit hat. Dagegen wird ein beidseitiger Vestibularisausfall im höheren Alter (z. B. doppelseitiges CI) nicht mehr problemlos kompensiert, so dass die Fahrtüchtigkeit unter anderem durch das Dandy-Phänomen (verschwommenes Sehen bei raschen Körperbewegungen, wie sie z. B. beim Gehen auftreten) eingeschränkt sein kann.
Störungen des Gleichgewichts Nach Anlage 4 der FeV sind Störungen des Gleichgewichts mit der Eignung zum Führen eines Fahrzeuges nicht vereinbar. In den Leitlinien wird allerdings in Absatz 3.2.2 eine Differenzierung vorgenommen[4]. Zitat: Leitsätze „Wer unter ständigen oder anfallsweise auftretenden Störungen des Gleichgewichts leidet, ist nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen beider Gruppen gerecht zu werden. Fehlen subjektive Erscheinungen oder spontane bzw. Provokationssymptome, die auf das Vorliegen solcher Erscheinungen schließen lassen, so bedeuten positive Befunde bei der experimentellen Prüfung (rotatorische und kalorische Vestibularisprüfung) zumindest eine Störung des Gleichgewichts unter erschwerten Bedingungen (Fahren einspuriger Kraftfahrzeuge!). Begründung Eine besondere Gefahrenlage entsteht bei Störungen des Gleichgewichts, die spontan oder unter besonderen Belastungen (Provokationen) auftreten. Sie führen mit oder ohne Schwindelsymptome zu Störungen oder Ori-
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entierung über die Körperstellung bzw. Körperlage im Raum oder zu groben Störungen der Richtungskontrolle für Fremd- und Eigenbewegungen. Solche Orientierungsschwächen können bei bestimmten Leiden, die häufig oder gelegentlich mit Schwindelerscheinungen verbunden sind (Menièrsche Krankheit, chronische Otitiden mit Labyrinthfisteln, Labyrinthlues etc.), jederzeit plötzlich und für den Kranken unvorhersehbar auftreten. Es entstehen also Gefahren, die denen entsprechen, wie sie bei Erkrankungen mit plötzlich auftretenden Bewusstseinsstörungen vorkommen. Fehlen bei Störungen des Gleichgewichtssinnes subjektive Erscheinungen oder Provokationssymptome, so verringert sich die Gefahr ganz erheblich. Im gewöhnlichen Lebens- und Leistungsbereich werden Menschen mit lediglich positiven Befunden bei der experimentellen Prüfung (rotatorische und kalorische Vestibularisprüfung) im Allgemeinen unauffällig sein. Dennoch ist die Leistungsfähigkeit des Gleichgewichtssinnes herabgesetzt; wie sich unter erschwerten Bedingungen bei Gleichgewichtsuntersuchungen, z. B. mit geschlossenen Augen oder auf dem Wackelbrett, leicht nachweisen lässt. Sofern also mit erschwerten Leistungsanforderungen im Straßenverkehr zu rechnen ist, können auch Störungen des Gleichgewichts auftreten (z. B. Fahren einspuriger Fahrzeuge bei Nacht u.). Die Beurteilung wird unter Berücksichtigung der gesamten Sachlage nur im Einzelfall erfolgen können.
Kritische Bewertung der Leitlinien Bezüglich der oben genannten Leitlinien ist kritisch anzumerken, dass die Auswahl der Krankheitsbilder sehr undifferenziert vorgenommen wurde. Der Morbus Menière ist eine schwer zu definierende Krankheit, die Labyrinthfistel sicherlich ausgesprochen selten und Labyrinthlues noch seltener.
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Im zweiten Abschnitt der Begründung wird die Physiologie der neurootologischen Grundprinzipien sehr „allgemein“ wiedergegeben. Es wird behauptet, dass bei Menschen, die pathologische Befunde bei der rotatorischen und kalorischen Vestibularisprüfung haben, die Leistungsfähigkeit des Gleichgewichtssinnes herabgesetzt ist. Was pathologisch ist, ist nicht näher beschrieben. Solche Patienten sollen aber bei geschlossenen Augen oder auf dem Wackelbrett Unsicherheiten aufweisen. Daraus wird wiederum geschlossen, dass bei erschwerter Leistungsanforderung im Straßenverkehr Störungen des Gleichgewichts auftreten, wie z. B. beim Fahren einspuriger Fahrzeuge bei Nacht und u. a. Das Phänomen der Kompensation nach einseitigem oder doppelseitigem Ausfall wird in diesem Zusammenhang nicht angesprochen. Allerdings findet man in dem Kapitel 2.6 „Kompensation von Eignungsmängeln“ den Hinweis, dass die Verfügbarkeit der erforderlichen Leistungsfähigkeit keine stabile Größe ist. Sie unterliegt vorübergehenden Beeinträchtigungen, die z. B. in Folge von Ermüdungsstress, Alkohol und Drogen eintreten können, und sie kann durch chronische Beeinträchtigung vermindert oder gestört sein, z. B. in Folge von Krankheit oder Verhaltensstörungen. Die Einschränkung der Leistungsfähigkeit kann durch Kompensationsfaktoren ausgeglichen werden. Ein wichtiger Faktor ist eine trotz einzelner funktionaler Mängel insgesamt gesehen ausreichende intellektuelle Leistungsfähigkeit, die ein vorausschauendes Fahren bzw. eine Früherkennung von Gefahrensituationen ermöglicht[8]. Damit ist eigentlich eingeschlossen, dass ein Patient mit Menière-Syndrom, wenn er sein Leiden richtig einschätzen kann und z. B. eine Aura hat, nur während des Anfalles ein Fahrzeug nicht führen darf. Die Frage, wie sich CI-Träger im Straßenverkehr verhalten sollen, ist sicherlich im Einzelfall noch nicht geklärt. Jedenfalls ist diese Gruppe trotz vestibulärer Irritationen noch nicht öffentlich aufgefallen. Offensichtlich
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sind auch hier die Kompensationsmechanismen in Anspruch genommen worden, so dass nach entsprechender Aufklärung wahrscheinlich keine Einschränkung gegen den privaten Pkw-Gebrauch erhoben werden kann. Anders verhält es sich bei Bewerbern, die Fahrzeuge der Klasse B führen wollen. Der Berufskraftverkehr und die Beförderung von Personen sind an Leistungen gebunden, die nach vestibulärer Erkrankung schwer zu erbringen sind. Im Einzelfall müsste ein solcher Bewerber sicherlich einer besonderen Testung und Auswahl zugeführt werden, was auf Antrag beim Straßenverkehrsamt theoretisch möglich ist.
Beurteilung aus der Sicht des Klinikers Die Beurteilung von Schwindel und Gleichgewichtsstörungen muss individuell vorgenommen werden. Hinsichtlich der Verkehrstauglichkeit trägt der Betroffene – wie bereits eingangs dargelegt – die alleinige Verantwortung. Die Einschränkung seiner Leistungsfähigkeit, d. h. Minderung der Belastbarkeit, hängt von der Intensität seiner Störung und von der Belastbarkeit ab (siehe Abb. 1).
Abb.1
Im Gegensatz zu der gutachtlichen Abstufung in MdE-Graden, die sogar prozentual gefasst sind, gilt im Straßenverkehr eher das „Alles oder Nichts-Gesetz“, d. h. der Betroffene muss eigenverantwortlich entscheiden, ob er am Verkehr teilnimmt oder nicht. Der Arzt kann ihn diesbezüglich nur beraten.
Wer in Ruhelage oder bei geringster körperlicher Belastung unter heftigem Schwindel mit und ohne Störung des Gleichgewichts leidet, ist sicherlich nicht in der Lage, ein Fahrzeug zu führen. Eine derart intensive Störung wird z. B. durch den Anfall eines Menière-Syndroms ausgelöst, wobei der zum Anfall gehörende Hörverlust zusätzlich die Verkehrstauglichkeit einschränkt. Andererseits ist es aber so, dass der Menière-Patient im anfallsfreien Intervall den Aufgaben im Verkehr gewachsen sein kann. Auch wenn er zwischen den Intervallen keine absolut normalen Untersuchungswerte aufweist, kann er erfahrungsgemäß so gut kompensiert sein, dass er keine körperlichen Einschränkungen aufweist, die seine Verkehrstauglichkeit anzweifeln. Allerdings muss dies im Einzelfall geklärt sein. Der plötzliche Labyrinthausfall, verursacht durch Traumen, Infektionen oder ototoxische Substanzen (s. Tab. 2 u. 3), schränkt insbesondere die Verkehrstauglichkeit ein, wenn er noch von einer einseitigen Ertaubung begleitet wird. Das Krankheitsbild verläuft aber in der Regel so dramatisch, dass die Betroffenen auch freiwillig auf die Teilnahme im Verkehr verzichten. Auch die Neuropathia vestibularis, die ohne Hörstörung abläuft, verursacht Schwindel, der nicht mit der Verkehrstauglichkeit in Einklang zu bringen ist. Wie bereits angesprochen, ist beim doppelseitigen Labyrinthausfall, den man z. B. bei der beidseitigen CI-Versorgung vorfinden kann, eine besondere Problematik gegeben. Der Neurochirurg Dandy hat bereits 1924 nach doppelseitiger Durchtrennung des Nervus vestibularis folgende Symptomatik festgestellt: „Division of both vestibular nerves is attended by one surprising after effect, i. e. jumbling of objects (visual) when patient is in motion, as soon as the patient is at rest the objects are again perfectly clear.“[11] Das Dandy-Phänomen beinhaltet auch den Hinweis, dass nach doppelseitigem Laby-
Tauglichkeit zum Führen von Fahrzeugen bei Erkrankungen des Gleichgewichtssinnes
Gruppe
Substanz
Aminoglykoside Streptomycinsulfat z. B. Gentamicin Tobramycin Viomycin Zytostatika
Bleomycin Vincristin u. a.
Diuretika
Furosemid
Sonstige
Chinin
Medikamente
Salicylate Barbitursäurederivate Digitalis Kontrazeptiva Antidepressiva Sedativa
Gewerbliche Gifte z. B.
Arsen Quecksilber Bleisalze Silber Nitrobenzol Chloroform
Tabelle 2 Exogene Toxine
Fleischvergiftung Pilzvergiftung Typhus
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rinthausfall die Kompensationsmöglichkeiten eingeschränkt sind und insbesondere nachts Einschränkungen bestehen. Der behandelnde Arzt sollte dies den betroffenen Patienten mitteilen, auch wenn sie noch im Besitz des Führerscheins sind und ihre Gefahrgewohnheiten noch nicht geändert haben. Wie bereits erwähnt, wird der in der Kindheit erworbene doppelseitige Vestibularisausfall fast vollständig kompensiert. Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel (BPLS) ist die häufigste aller Schwindelerkrankungen. Der plötzliche Drehschwindel tritt bei Änderung der Kopfposition auf, z. B. Drehen im Bett, Aufstehen aus liegender Position, Kopf nach unten beugen etc. Ausgelöst wird die ca. 20 Sekunden anhaltende Symptomatik durch Otolithenpartikel, die von der Makula utriculi abbrechen und sich zu 90 % in den posterioren Bogengang und zu 10 % in den horizontalen Bogengang ablagern und bei entsprechenden Bewegungen im Endolymphstrom mitschwimmen und die Kupulae irritieren. Die Partikel lösen sich in wenigen Tagen auf, so dass die Symptomatik wieder abklingt. Den Heilungsprozess beschleunigen Lagerungsübungen. Der Betroffene ist während der Akutphase den Anforderungen im Straßenverkehr sicherlich nicht gewachsen. Auf Dauer besteht aber diese Einschränkung sicherlich nicht[10].
Diphterie Scharlach Röteln Grippe-, Masern-, Adeno-, Pocken-, Coxsackie- und Mumpsviren Stoffwechselprodukte bei Leber-, Nieren-, Schilddrüsenerkrankungen Rheumatischer Formenkreis Einige Toxine, wie z. B. das Mumpsvirus (Parotitis epidemica), haben besondere Affinität zur Kochlea Tabelle 3 Endogene Toxine
Untersuchungen des vestibulären Systems Die kalorische und rotatorische Gleichgewichtsprüfung sind explizit in den Begutachtungsleitlinien aufgeführt und somit obligat. Darüber hinaus muss eine Prüfung auf Spontanblickrichtungs-, Lage- und Lagerungsnystagmus sowie die Testung der vestibulo-spinalen Reaktionen (Geh- und Stehteste) erfolgen. Wir empfehlen zusätzlich die Computernystagmographie, die eine Registrierung der Blickfolge, der Optokinetik und die Reaktionen bei verschiedenen Dreh- und
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Tauglichkeit zum Führen von Fahrzeugen bei Erkrankungen des Gleichgewichtssinnes
Pendelprüfungen einschließt. Die kalorische Untersuchung wird mit der Videookulographie gemessen.
Kasuistik 1 Ein 44-jähriger Lkw-Fahrer wurde wegen rezidivierender Hörstürze links und rechts wiederholt behandelt. Er klagt über Hörbeeinträchtigungen, Schwankschwindel, Tinnitus und beantragt Berufsunfähigkeit. Nach Begutachtung in einer bekannten Tinnitusklinik werden ihm Hörschwankungen, Schwindelanfälle (10 mal pro Monat) mit Erholungsphasen von 2 Stunden und mehr bescheinigt, obgleich diese Anfälle niemals ärztlich dokumentiert wurden.
Abb. 2 Ton- und Sprachaudiogramm: Symmetrische Innenohrschwerhörigkeit beidseits
Untersuchungsergebnisse Es wird eine symmetrische Innenohrschwerhörigkeit beidseits gefunden (Abb. 2) und auch der Tinnitus durch Tinnitusverdeckung und Tinnitusvergleich objektiviert (Abb. 3). Die Vestibularisuntersuchung ergibt einen intakten vestibulären Apparat (Abb. 4). Thermisch waren die Labyrinthe seitengleich erregbar. Beurteilung Bei völlig unauffälliger vestibulärer Diagnostik und rein subjektiv von Schwindelbeschwerden wird die Fahrtauglichkeit für Lkw’s in Frage gestellt, da bei anderen Voruntersuchungen bereits psychodepressive Beteiligung am Gesamtgeschehen bescheinigt wurde. Aus HNO-ärztlicher Sicht war die Berufsunfähigkeit nicht nachweisbar.
Tauglichkeit zum Führen von Fahrzeugen bei Erkrankungen des Gleichgewichtssinnes
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Abb. 3 Tinnitusvergleich: Audiometrisch ist der Tinnitus mit einem Dauerton von 6.500 Hz rechts bei ca. 50 dB und links bei ca. 60 dB vergleichbar.
Kasuistik 2 Ein 46-jähriger Lkw-Fahrer fiel vor 6 Jahren von der Hebebühne seines Lkw’s. Er zog sich dabei Stauchungen, Schürfwunden und Prellungen an der Hand, im Gesicht und an der Schulter zu. Eine Commotio cerebri war fraglich. Eine Bewußtlosigkeit lag nicht vor. Die nachfolgenden Gutachten bei verschiedenen Fachdisziplinen bescheinigten unterschiedliche Befunde, wie z. B. Vestibularisausfall links, Schwindel, Gangunsicherheit, Agoraphobie
(kann nicht über Brücken fahren), phobischen Schwankschwindel und psychosomatische Störungen. Die MdE wurde von neurologischer Seite mit 40 % angegeben. Die psychosomatischen Therapien blieben ohne Erfolg. Befunde Diskrepanz zwischen Ton- und Sprachaudiogramm, wahrscheinlich an Normalhörigkeit grenzende Innenohrschwerhörigkeit beidseits, Tinnitus beidseits (Abb. 7).
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Tauglichkeit zum Führen von Fahrzeugen bei Erkrankungen des Gleichgewichtssinnes
Abb. 4 Rotatorischer Intensitäts-Dämpfungstest (RIDT): Perrotatorisch wie auch postrotatorisch kein pathologisches Richtungsüberwiegen der Nystagmen.
Vestibularisbefunde: kein Spontan-, kein Provokationsnystagmus, kein BPLS, thermische Erregbarkeit seitengleich (Abb. 5), rotatorischer Intensitätsdämpfungstest (Abb. 6) ohne pathologische Reaktion.
Beurteilung Neurootologisch unauffällige Diagnostik. Die posttraumatische Belastungs- und Anpassungsstörung hat keine organische Ursache. Die Fehldiagnosen bei der Vestibularisinterpretation sind durch die aktuelle Begutachtung korrigiert. Das Rentenbegehren besteht weiterhin.
Tauglichkeit zum Führen von Fahrzeugen bei Erkrankungen des Gleichgewichtssinnes
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Abb. 5 Vestibularisdiagnostik: Kein Spontan- bzw. Provokationsnystagmus. Die lateralen Bogengänge sind thermisch beidseits nahezu symmetrisch erregbar.
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Tauglichkeit zum Führen von Fahrzeugen bei Erkrankungen des Gleichgewichtssinnes
Abb. 6 Rotatorischer Intensitäts-Dämpfungstest (RIDT) mit nahezu seitengleichen Nystagmusantworten in der Perwie auch Postrotation.
Tauglichkeit zum Führen von Fahrzeugen bei Erkrankungen des Gleichgewichtssinnes
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Abb. 7 Im Tonaudiogramm Angabe einer besseren Luftleitungshörschwelle als Knochenleitungsschwelle. Diskrepanz zwischen Ton- und Sprachaudiogramm. Der tonale Tinnitus ist beidseits audiometrisch lokalisierbar.
Literatur [1]
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Presbyvertigo
Veränderungen des vestibulären Systems im höheren Lebensalter K.-F. Hamann
Einführung Die Alterszusammensetzung der Bevölkerung hat sich geändert und ändert sich noch weiter. Aus der Alterspyramide ist ein Alterspilz geworden (Abb. 1). Das bedeutet nicht nur, dass die Menschen älter werden, sondern auch, dass die Ältern, die über 60-Jährigen, einen größeren Anteil an der Gesamtbevölkerung ausmachen als je zuvor. Für den HNO-
Arzt ist zu erwarten, dass ihn vermehrt viele Menschen wegen altersbedingter Funktionseinbußen aufsuchen. Auch für Störungen des Gleichgewichtssystems stellt sich diese Problematik, allerdings mit speziellen Aspekten, die auf die Besonderheiten des vestibulären Systems zurückzuführen sind. Eine Übersicht älterer Daten dazu findet sich in Hamann[3]. Zunächst einmal ist zu bedenken, dass es keine Krankheitsentität „Altersschwindel“ oder
Abb. 1 Veränderung der Alterszusammensetzung der Bevölkerung in Deutschland. Im Jahr 1983 lässt sich noch eine „Alterspyramide“ erkennen. Bei einer Schätzung für das Jahr 2033 wird ein „Alterspilz“ erkennbar.
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Veränderungen des vestibulären Systems im höheren Lebensalter
Abb. 2
Abb. 3
Schematische Darstellung des Tonusgleichgewichts, das die Voraussetzung für das normale Funktionieren des vestibulären Systems bildet. Links: Tonusgleichgewicht beim jungen Gesunden. Rechts: Erhaltenes Tonusgleichgewicht auch bei reduziertem sensorischen Input.
Langsame Folgebewegungen der Augen bei einem jungen Menschen (oben) und bei einem älteren Menschen (unten). Im höheren Lebensalter treten altersphysiologisch Sakkadierungen auf.
„Presbyvertigo“ gibt, sondern nur Krankheitsbilder mit Schwindelbeschwerden, die im höheren Lebensalter häufiger auftreten. Zum anderen muss bei Überlegungen zu vestibulären Funktionsstörungen immer, also auch im Alter, berücksichtigt werden, dass die Voraussetzung für das normale Funktionieren des vestibulären Systems ein Tonusgleichgewicht in den Vestibulariskernen ist (Abb. 2, [4]). Dies hängt also primär nicht von der Funktionsfähigkeit der einzelnen vestibulären Rezeptoren oder vestibulärer Neurone ab. Daraus lässt sich folgern, dass eine, ja im allgemeinen symmetrische Alterung des peripher-vestibulären Systems nicht zwangsläufig zu vestibulären Beschwerden führt. Bedeutungsvoll ist ein weiterer Gesichtspunkt, der mit dem Bauplan des vestibulären Systems zusammenhängt. Da es nämlich keine Funktion gibt, die vom vestibulären System alleine erfüllt wird, bedeutet dies, dass zwangsläufig eine Kooperation mit anderen Sinnessystemen, hier vor allem mit den visuellen und propriozeptiven, notwendig ist. Daraus ergibt sich, dass auch Alterungsvorgänge in den erwähnten kooperierenden Systemen zumindest an Funktionsstörungen, die mit zunehmendem Lebensalter auftreten, mitbeteiligt sind. Für
den HNO-Arzt ist es wichtig zu wissen, mit welchen „altersphysiologischen Veränderungen“ er bei seinen Patienten rechnen muss.
Bewusste Orientierung im Raum Zahlreiche Publikationen, aber auch die tägliche ärztliche Erfahrung weisen darauf hin, dass generell mit einer Zunahme von Schwindelbeschwerden, also Störungen im Bereich der bewussten Raumorientierung, mit zunehmendem Lebensalter zu rechnen ist. So klagen etwa zwei Drittel der Frauen und etwa ein Drittel der Männer, die älter als 80 Jahre sind, über Schwindel[8].
Blickmotorik Das okulomotorische System selbst zeigt mit zunehmendem Lebensalter Veränderungen, die bei einem jüngeren Menschen als pathologisch eingestuft würden. Für das System der langsamen Augenbewegungen („smooth pursuit“) macht sich dies als Sakkadierung der Folgebewegungen bemerkbar (Abb. 3). Im System der schnellen Augenbewegungen lassen sich altersphysiologische
Veränderungen des vestibulären Systems im höheren Lebensalter
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Abb. 4 Veränderungen des optokinetischen Nystagmus mit zunehmendem Lebensalter. Links: Normale Auslösbarkeit des optokinetischen Nystagmus auch bei höheren Folgegeschwindigkeiten. Rechts: Gestörte Auslösbarkeit des optokinetischen Nystagmus bei einem 89-jährigen Patienten.
Beeinträchtigungen bei der Auslösung des optokinetischen Nystagmus beobachten[14]. Nicht selten kommt es zu einem Nystagmuszerfall[14], das bedeutet, dass schnellen Blickzielen nicht mehr adäquat gefolgt werden kann (Abb. 4). Auch auf verschiedene Parameter der Blicksakkaden wirken sich Alterungsvorgänge aus. So wird die Sakkadengeschwindigkeit bei voraussagbaren Blickzielen langsamer, die Latenzen verlängern sich, hypometrische Sakkaden werden häufiger, und die Sakkadengenauigkeit nimmt signifikant ab[13]. Es sei noch einmal betont, dass vestibulär ausgelöste okulomotorische Reaktionen wie bei der thermischen oder der rotatorischen Prüfung keine regelhaften altersspezifischen Besonderheiten aufweisen. Für die Beurteilung dieser beiden experimentellen Untersuchungsverfahren zählt nur der Seitenvergleich. So kann zwar die Reaktion auf thermische Reizung abgeschwächt sein, führt aber nicht zu Beschwerden, so lange dies seitengleich erfolgt. Wegen des oben dargestellten Konzepts des Tonusgleichgewichts, das entscheidend ist für das normale Funktionieren des vestibulären Systems, ist im höheren Lebensalter daher
nicht mit einem vermehrten Auftreten eines Spontannystagmus zu rechnen[9].
Körpermotorik Auch bei der Aufrechterhaltung und Regulation der Körperhaltung, der dritten Funktion, an der das vestibuläre System beteiligt ist, macht sich das zunehmende Lebensalter bemerkbar[16] (Abb. 5). Bereits beim ruhigen Stand, gemessen auf einer Posturographie-Messplattform, zeigen sich bei Älteren (> 60 Jahre) größere Körperschwankungen als bei einem Kollektiv jüngerer Menschen (< 60 Jahre) (Abb. 6). Lässt man geführte Körperbewegungen, ähnlich der Blickfolge, durchführen, so zeigt sich auch bei der Pendelkörperfolge eine unterschiedliche Reaktion in Abhängigkeit vom Lebensalter. Während es jungen Menschen gelingt, die Pendelkörperfolge bei einer vorgegebenen Frequenz glatt durchzuführen, ist dies einem Kollektiv von über Sechzigjährigen nicht mehr möglich. Es kommt zu unregelmäßigen Körperbewegungen, ähnlich den Sakkaden bei den Blickfolgebewegungen. Außerdem kommt es zu einer auffallenden Verkleinerung der Körper-
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Veränderungen des vestibulären Systems im höheren Lebensalter
Abb. 5 Yakovlev’s Konzept der Entwicklung von Stehen und Gehen von der Geburt an bis zum Tode.
schwankamplituden (Abb. 7). Dieser Befund lässt sich dadurch erklären, dass durch dieses
Abb. 6 Körperschwankamplituden im Romberg-Stehversuch bei einem jungen Menschen und größere Schwankamplituden bei einem älteren Menschen. AO = Augen offen, AZ = Augen geschlossen.
Verhalten das Risiko eines Sturzes verringert werden soll. Die Ableitung der vestibulär evozierten myogenen Potentiale (VEMP), „ein vestibulo-collic reflex“ ist letztlich ein Parameter der vestibulospinalen Reaktionen[5]. Bei dieser Methode führt eine unphysiologische akustische Reizung des Sacculus zu einer reflektorischen Antwort in der Halsmuskulatur, besonders stark ausgeprägt im Musculus sternocleidomastoideus. Sie gestattet die seitengetrennte Beurteilung der Sacculusfunktion. Mehrere Studien aus der jüngsten Zeit haben gezeigt, dass die Amplituden der VEMP bei sonst vestibulär Gesunden im höheren Lebensalter deutlich kleiner werden (Abb. 8), manchmal sogar völlig verschwinden[7]. Für die Praxis bedeutet dies, dass aus dem Fehlen der VEMP bei Patienten im höheren Lebensalter nicht zwangsläufig auf einen beidseitigen Ausfall des Sacculus geschlossen werden darf. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass mehrere Funktionen, an deren Erfüllung das vestibuläre System maßgeblich mitwirkt, altersphysiologische Veränderungen aufweisen, die nicht mit echten pathologischen Befunden verwechselt werden dürfen (Tab. 1).
Veränderungen des vestibulären Systems im höheren Lebensalter
Abb. 7 Posturographisch gemessene Pendelkörperfolge auf einen vorgegebenen Lichtreiz (Frequenz 0,2 Hz oben) bei einem jungen Menschen (Mitte) und einem alten Menschen (unten). Im höheren Lebensalter tritt eine Sakkadierung der Folgebewegungen auf sowie eine kleinere Amplitude.
Abb. 8 Vestibulär evozierte Potentiale bei einem jungen Menschen (oben) und einem älteren Menschen (unten). Bei einem jungen Menschen gute Auslösbarkeit der VEMP, bei einem älteren, sonst vestibularisgesunden Menschen eingeschränkte Auslösbarkeit der VEMP.
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Veränderungen des vestibulären Systems im höheren Lebensalter
Tabelle 2 Tabelle 1 Auswirkungen von Alterungsvorgängen auf vestibuläre Funktionen
Morphologische Korrelate Fragt man nach den morphologischen Korrelaten für Altersvorgänge im vestibulären System, so ist seit Jahren bekannt, dass sich in allen Abschnitten des vestibulären Systems alterstypische Veränderungen finden. Bereits am vestibulären Rezeptor, an den vestibulären Haarzellen[12], findet sich eine Abnahme als Ausdruck der Alterungsvorgänge, ebenso ist die Zahl der Otokonien verringert[6]. Dieser Altersprozess setzt sich fort am Nervus vestibularis in einer Reduktion der Kaliberstärke[1]. Am Ganglion des Nervus vestibularis selbst sind Einlagerungen von Lipofuscin, das als Alterspigment angesehen wird, und Amyloidkörper[2] zu finden wie auch in den Zellen der Vestibulariskerne[15]. Auch die Zahlen der Vestibulariskernneurone nimmt im höheren Lebensalter ab[2]. Diese morphologischen Korrelate für Alterungsvorgänge im vestibulären System (Tab. 2) führen von sich allein aus noch nicht zu relevanten Funktionseinschränkungen. Erst durch das Zusammenspiel des vestibulären Systems mit seinen Kooperationspartnersystemen werden Funktionsdefizite zu auch klinisch bemerkbaren Beeinträchtigungen und Beschwerden führen. Diese im Alter zunehmenden Handicaps bergen vor allem ein potentiell lebensbedrohliches Risiko in sich, nämlich das Risiko
Übersicht über morphologische Veränderungen durch Alterungsvorgänge an vestibulären Strukturen.
zu stürzen mit allen seinen denkbaren Konsequenzen. Bekanntlich nimmt die Mortalität älterer Menschen mit der Häufigkeit von Stürzen zu[17]. Es wird Aufgabe der Zukunft sein, im Sinne einer Prävention auf diese Entwicklung einzuwirken.
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Presbyvertigo – HNO-ärztliche Aspekte F. Schmäl
Einleitung Durch verbesserte medizinische Versorgung und verbesserte Ernährungsbedingungen hat sich in den letzten 100 Jahren besonders in den Industrieländern die Lebenserwartung eines Neugeborenen fast verdoppelt (siehe Abb. 1). Das Erreichen immer höherer Lebensalter führt natürlich auch zu immer häufigerem Auftreten von körperlichen Gebrechen. Hierbei ist Schwindel das am häufigsten geäußerte Symptom bei Patienten, die älter als 75 Jahre sind[12], [11].
Cochleo-vestibuläre Störungen Da das Gleichgewichtsorgan im Innenohr lokalisiert ist, kommt bei der Schwindeldiagnos-
Abb. 1 Entwicklung der Lebenserwartung Neugeborener in Deutschland im Zeitraum 1900 bis 2050 (nach Statistischem Bundesamt).
tik dem HNO-Arzt eine zentrale Bedeutung zu. Die Alterungsvorgänge im vestibulären System sind in diesem Buch bereits umfassend in einem Artikel von Herrn Prof. Dr. Hamann beschrieben worden. Zwei peripher vestibuläre Krankheitsbilder müssen bezüglich des Symptoms Schwindel im Alter jedoch besonders berücksichtigt werden: Die Neuropathia vestibularis und der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel. Neuropathia vestibularis Als zwei Hauptursachen für die Neuropathia vestibularis werden einerseits ein Virusinfekt mit Herpes simplex Viren Typ 1[1] und zum anderen eine mechanische Schädigung im Bereich der Cupula, wie z. B. die Loslösung der Cupula vom Ampullendach[5], [8] verantwortlich gemacht. Diese beiden unterschiedlichen Ätiologien erklären vermutlich auch, warum bei einigen Patienten nach Neuropathia vestibularis die Funktion des Bogengangs wiederkehrt (Ausheilung des Virusinfektes) während bei anderen der erkrankte Bogengang zeitlebens funktionsuntüchtig bleibt (mechanische Schädigung). Kehrt die Bogengangsfunktion nicht zurück, so muss das dann bestehende peripher vestibuläre Ungleichgewicht u. a. durch zentral vestibuläre Kompensationsleistungen der Vestibulariskerne im Hirnstamm ausgeglichen werden. Grundlage dieser Kompensationsleistung ist die neuronale Plastizität des Gehirns die altersabhängig ist. Sie nimmt mit steigendem Alter ab, so dass dadurch im höheren
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Presbyvertigo – HNO-ärztliche Aspekte
Lebensalter vestibuläre Kompensationsleistungen beeinträchtigt werden. Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel (BPLS) Der BPLS ist auch bei älteren Patienten eine der häufigsten Schwindelursachen[9] und tritt meist idiopathisch, aber auch gelegentlich nach Kopftraumen oder viralen Infektionen auf. Die Schwindelepisode dauert meist bis zu 30 s und tritt bei Lageänderungen, vornehmlich beim Aufstehen bzw. Hinlegen (BPLS des posterioren Bogengangs) oder beim Umdrehen im Bett (BPLS des horizontalen Bogengangs) auf[15]. Typischerweise beklagt der Patient Drehschwindel bei einer bestimmten Änderung der Körperposition, und es zeigt sich mit einigen Sekunden Latenz nach der Lagerung der typische, primär rotatorische Lagerungsnystagmus mit Crescendo-Decrescendo-Charakter[10], wobei der oberer Augenpol zum unten liegenden Ohr schlägt. Gleichzeitig hat der Nystagmus beim am häufigsten auftretenden BPLS des posterioren Bogengangs (p-BPLS) eine vertikale up-beat Komponente. Im Gegensatz zum zentral bedingten Lagenystagmus ist der Nystagmus beim BPLS ermüdbar, d. h. nach einigen Wiederholungen nicht mehr nachweisbar. In früheren Jahren wurde die sog. „Cupulolithiasis“ als Ursache des BPLS angesehen. Es wurde vermutet und teilweise auch postmortal mikroskopisch nachgewiesen, dass sich abgelöstes Otolithenmaterial an die Cupula vornehmlich des hinteren vertikalen Bogengangs anlagert und somit deren spezifisches Gewicht erhöht. Bei Änderung der Körperposition wird die nun schwerere Cupula überproportional ausgelenkt, und es entstehen Schwindel und Nystagmus. Da jedoch mit diesem Modell nicht alle Phänomene (z. B. die Latenz) des BPLS zu erklären sind, wird heute für fast alle Formen des BPLS – außer dem atypischen BPLS des horizontalen Bogengangs – die Theorie der sog. „Canalolithiasis“ angenommen[10], [9].
Hierbei wird vermutet, dass abgelöstes Otolithenmaterial, welches sich im Bogengangslumen befindet und sich zu einem Konglomerat zusammenlagert, bei Änderung der Körperposition eine überproportionale Endolymphströmung bewirkt, die dann zu der oben geschilderten Symptomatik führt. Therapeutisch kommt den sog. Befreiungsmanövern eine große Bedeutung zu, da sie den Krankheitsverlauf signifikant abkürzen. Während beim p-BPLS die Manöver nach Semont oder Epley durchgeführt werden, muss beim typischen h-BPLS die sog. barbeque rotation erfolgen. Alle Übungen müssen mehrmals täglich mehrmals hintereinander absolviert werden. Hierbei ist im Hinblick auf die älteren Patienten problematisch, dass schnelle Bewegungen notwendig sind, die manche dieser Patienten aufgrund von zusätzlichen körperlichen Gebrechen, wie z. B. Hüft- oder Wirbelsäulenerkrankungen nicht effizient genug durchführen können. Darüber hinaus spielt auch gerade bei den häufig alleine lebenden älteren Patienten die Angst vor dem Schwindel, der bis zur Beseitigung des Krankheitsbildes bei den Befreiungsmanövern auftritt, eine große Rolle. Sie trauen sich dann letztlich doch nicht, allein zu Hause die Übungen konsequent durchzuführen und Verlängern somit die Krankheitsdauer z. T. erheblich. Cochleäre Störungen Neben diesen vestibulären Störungen muss natürlich auch die im Alter zunehmende Schwerhörigkeit Beachtung finden. Besonders bei stark seitenasymmetrischen Hörminderungen ist das räumliche Hören und damit auch teilweise die räumliche Orientierung anhand von Geräuschquellen erschwert. Dieses Defizit führt natürlich wiederum zu einer zusätzlichen Verunsicherung des alten Menschen.
Presbyvertigo – HNO-ärztliche Aspekte
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Der Blick über den Tellerrand Das vestibuläre System ist ein Mosaik aus verschiedenen Einzelsystemen. Neben den vestibulären Rezeptoren liefern das visuelle und das propriozeptive System Informationen über Körperposition und Körperbewegungen. Es ist daher verständlich, dass Störungen in diesem Netzwerk, die gerade beim ältern Menschen häufig auftreten, zu Fehlinformationen und damit zu Schwindelgefühl und Gleichgewichtsstörungen führen. Für den HNO-Arzt ist daher der Blick über den Tellerrand unabdingbar, da nur so eine richtige und effiziente Einordnung des Krankheitsbildes erfolgen kann. Besondere Bedeutung kommt hierbei der Tatsache zu, dass bei älteren Patienten meist mehrer Bausteine dieses Mosaiks gleichzeitig in ihrer Funktion gestört sind und es so zu einer gegenseitigen negativen Beeinflussung im neuronalen Netzwerk des vestibulären Systems kommt. Visuelles System Es ist verständlich, dass gerade Störungen im visuellen System beim älteren Patienten, der sich unsicher auf den Beinen fühlt, zu einer Verstärkung der Schwindelbeschwerden und der Gleichgewichtsstörungen führen. Hierbei kommt folgenden ophthalmologischen Erkrankungen aufgrund ihrer Häufigkeit eine besondere Bedeutung zu: Alterskatarakt Bei über 65-jährigen Patienten lässt sich in nahezu 100 % der Fälle ein Katarakt nachweisen und ca. 50 % dieser Patienten bemerken diesen im 75. Lebensjahr. Ursache ist eine Versteifung und Trübung der Linse (siehe Abb. 2). Besonderes Merkmal ist eine Einschränkung des Kontrastsehens (Abb. 3) und eine erhöhte Blendempfindlichkeit besonders in der Dunkelheit. Diese gerade in der Dunkelheit stark beeinträchtigende Erkrankung fördert dann natürlich beim ohnehin unsicheren älteren Patienten die Möglichkeit von Stürzen, die wiederum zu langwierigen Folgeerkrankun-
Abb. 2 Linsentrübung beim Alterskatarakt.
Abb. 3 Darstellung des Effekts einer vermehrten Blendempfindlichkeit (Schleiersehen) durch beginnende Linsentrübung beim Katarakt.
gen (z. B. Oberschenkelhalsfrakturen) führen können. Therapeutische ist beim Katarakt die Implantation einer Kunstlinse anzustreben. Dieser Eingriff wird in Deutschland jährlich ca. 400.000- bis 600.000-mal durchgeführt und zählt somit zu den häufigsten operativen Eingriffen überhaupt[4]. Senile Makuladegeneration Die altersabhängige Makuladegeneration gehört zu den klassischen Alterserkrankungen des Auges. Sie betrifft das Zentrum der Netzhaut, den einzigen Ort des Auges, der ein hochauflösendes scharfes Sehen vermittelt und führt somit natürlich zu einer erheblichen Beeinträchtigung der visuellen Orientierung und damit auch der Lebensqualität.
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Presbyvertigo – HNO-ärztliche Aspekte
Man differenziert zwischen einer trockenen Form mit Ablagerung von extrazellulärem Material (sog. Drusen) (Abb. 4) und einer feuchten, exsudativen Form mit teilweiser Abhebung des Pigmentepithels (Abb. 5). Die Therapie ist rein symptomatisch, stark befundadaptiert und beinhaltet Laserbehandlungen oder chirurgische Entfernung von Membran- oder Gefäßneubildungen im Bereich der Netzhaut[4]. Propriozeptives System Ein weiterer beachtenswerter Faktor sind Störungen des propriozeptiven Systems, die ebenfalls das Körpergleichgewicht negativ beeinflussen können.
Diabetische Polyneuropathie Der Diabetes mellitus ist eine im Alter sehr weit verbreitete Erkrankung mit steigender Tendenz. Weltweit gibt es ca. 150 Mio. Diabetiker, eine Zahl, die sich bis zum Jahr 2025 möglicherweise verdoppeln wird[7]. Über 50 % der Diabetiker entwickeln eine Polyneuropathie, wenn sie länger als 10 Jahre erkrankt sind. Klassische Symptome sind Refexverlust, sensible und motorische Ausfälle sowie Muskelatrophie. Da bei der diabetischen Polyneuropathie vornehmlich die unteren Extremitäten betroffen sind, wird verständlich, dass die Standfestigkeit und das Körpergleichgewicht durch diese Erkrankung teilweise stark gestört sind[3], [6]. Muskulo-skelettale Einflüsse Neben dem mit zunehmendem Alter auftretenden Muskelabbau, kommt den Arthrosen eine sehr große Bedeutung zu. Schon ab einem Alter von 30 Jahren tritt eine symptomatische Arthrose des Kniegelenks (Abb. 6) in 6 % und des Hüftgelenks in 3 % der Fälle auf[2]. Gerade eine bewegungsabhängige Schmerzsymptomatik im Kniegelenk führt durch plötzlich einschießende Schmerzen z. B. beim Treppensteigen zu abruptem Innehalten im Bewegungsablauf.
Abb. 4 Trockene Form der altersabhängigen Makuladegeneration mit Einlagerung von sog. Drusen.
Abb. 5
Abb. 6
Feuchte Form der altersabhängigen Makuladegeneration mit Abhebung des Pigmentepithels.
MRT einer Arthrose des Kniegelenks mit Knorpeldestruktion.
Presbyvertigo – HNO-ärztliche Aspekte
Dieser unvermittelte Stopp hat zusammen mit den atrophierten Muskeln, die den aus dem Gleichgewicht geratenen Körper nicht sicher halten können, dann oftmals einen Sturz zur Folge. Zentrale Einflüsse Im Gehirn besonders im Hirnstamm laufen alle Daten über Körperstellung und Körperbewegung zusammen. Hier werden die verschiedenen Informationen von vestibulären, visuellen und propriozeptiven Rezeptoren vereint und
Abb. 7 MRT des Kopfes einer 68-jährigen Patientin mit cerebraler Mikroangiopathie bei arteriellem Hypertonus.
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miteinander abgeglichen. Passen Daten nicht zusammen, so entsteht ein Sinneskonflikt, der wiederum Schwindel auslöst. Im Alter kann es z. B. durch cerebrale mikroangiopathische Veränderungen (Abb. 7) zu Störungen im Bereich dieser zentralen Schaltstelle kommen. Häufig beobachtet man dann im Rahmen peripher vestibulärer Stimulation eine sog. petit écriture, d. h. eine niedrige Nystagmusamplitude mit hoher Frequenz (Abb. 8). Besonders fallen diese zentralen mikroangiopathischen Veränderungen dann ins Gewicht, wenn bei einer peripher vestibulären Störung (z. B. einer Neuropathia vestibularis) zentrale Kompensationsvorgänge stattfinden müssen, um dass peripher vestibuläre Defizit wieder auszugleichen. Es wird nun verständlich, warum diese Kompensationsvorgänge mit zunehmendem Alter immer längere Zeit benötigen und teilweise eine alltagstaugliche Kompensationsleistung gar nicht mehr erreicht wird. Medikamentöse Einflüsse Da gerade ältere multimorbide Patienten eine Vielzahl von mehr oder weniger indizierten Medikamenten einnehmen, ist es für den konsultierten Arzt hilfreich zu wissen, welche Medikamente als Nebenwirkung zu Schwindelbeschwerden führen können. Die wichtigsten dieser Medikamente sind in Tabelle 1 aufgeführt.
Abb. 8 Petit écriture im Rahmen der Pendelprüfung bei einer 68-jährigen Patientin mit cerebraler Mikroangiopathie.
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Presbyvertigo – HNO-ärztliche Aspekte
Organ, Indikation
Wirkstoffgruppe
ZNS und Bewegungsapparat
Antiepileptika, Analgetika, Tranquilizer, Muskelrelaxantien, Hypnotika, Antiemetika, Antidepressiva, Anticholinergika, Dopaminagonisten, Antiphlogistika, Lokalanästhetika
Infektionen
Antibiotika, Tuberkulostatika, Antimykotika, Anthelminthika
Herz und Gefäße
Betarezeptorenblocker, Antihypertonika, Vasodilatatoren, -konstriktoren
Niere und Blase
Diuretika, Spasmolytika
Sonstige
Antiallergika, Röntgenkontrastmittel, Prostaglandine
Tabelle 1 Arzneimittelgruppen, die Schwindel als Nebenwirkung auslösen können (nach [16])
Zusammenfassung
Literatur
Diese Ausführungen zeigen, dass besonders im Alter die Komplexität des vestibulären neuronalen Netzwerkes an vielen Stellen negative Einflussfaktoren erfährt. Diese führen dazu, dass besonders beim älteren multimorbiden Patienten mit cerebralen Durchblutungsstörungen, Sehminderung, Arthrose und Polyneuropathie das Körpergleichgewicht auch bei seitengleicher kalrorischer Erregbarkeit des horizontalen Bogengangs gestört sein kann und der Patient somit unter Schwindelbeschwerden leidet. Es ist daher Aufgabe des HNO-Arztes, neben einer suffizienten Schwindeldiagnostik im Rahmen der Anamnese nach o. g. Erkrankungen zu fahnden und den Patienten bei Verdacht auf eine nicht peripher vestibuläre Schwindelursache dem entsprechenden Facharzt (Neurologe, Ophthalmologe, Orthopäde oder Internist) zu überweisen. Schwindeldiagnostik im Alter ist daher eine der größten interdisziplinären Herausforderungen, deren Bedeutung in den nächsten Jahrzehnten aufgrund der Altersstruktur unserer Gesellschaft noch zunehmen wird.
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Schwindel im Alter M. Westhofen
Einleitung Schwindelbeschwerden gehören zu den häufigsten Beschwerden, die Patienten jenseits des 65. Lebensjahrs, der überwiegend im Schrifttum angenommenen Altersgrenze, zum Arztbesuch veranlassen. 10 % der Patienten in allgemeinärztlichen Praxen klagen isoliert oder in Kombination mit weiteren Beschwerden über Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. Die Beschwerden werden vielfach unterschätzt oder als altersentsprechend angesehen[32]. Die Patienten leiden unter Attackenschwindel, viele unter Unsicherheitsgefühl und dauernder Einschränkung der Blickfixierung, des Stehens und des Gehens. Unsicherheit in der räumlichen Orientierung verbunden mit reduzierter Funktion des Stützund Bewegungsapparats führen häufig zu unerwarteten Sturzereignissen. Der plötzliche Fall des älteren Patienten ist daher im Fokus der Neurootologie und Geriatrie[1]. Der hohe Anteil älterer Patienten ist vor allem durch die Zuspitzung der Alterspyramide und die höhere Mobilität der Senioren als erfreuliche Konsequenz der kardiologischen Versorgung und ihrer Fortschritte bedingt. Der internistisch angeratene und durch Lebensstil attraktive sportliche Leistungswillen im Alter stellt höhere Anforderungen an vestibuläre Funktionen mit Blickfixation und Körpergleichgewicht als dies frühere Generationen erlebten. Die Ursachenklärung und gezielte Therapie erfordern wegen der überwiegend multiplen Ursachen bei Schwindelbeschwerden im Alter umfangreiche Diagnostik und geplantes Case
Management[18], [34]. Für den Otologen stellt sich daraus eine wesentliche Aufgabe, die zukünftig weiter an Bedeutung und Häufigkeit zunehmen wird. Die Aufgabe besteht im Fallmanagement mittels Neurootologie und fachübergreifender vestibulärer Funktionsdiagnostik, in der Analyse der Neben- und Wechselwirkungen verabreichter Medikamente, der Erkennung kardiovaskulärer klärungsbedürftiger Mitursachen sowie der konservativen, der otochirurgischen und neurootochirurgischen und oft auch der rehabilitativen Therapie der Schwindelbeschwerden.
Epidemiologie Die Prävalenz von Gleichgewichtsstörungen wird für Frauen zu 36 % und für Männer zu 29 % angegeben. Im Alter von 88 – 90 Jahren sind Inzidenzen von 51– 45 % bekannt. Nach einer Evidenzanalyse des britischen National Institute of Clinical Excellence (NICE) finden sich als wesentliche Einflussfaktoren für den plötzlichen Sturz als Folge von Schwindelbeschwerden im Alter vorausgegangene Sturzereignisse und Gleichgewichtsstörungen. Plötzliche Stürze werden als erhebliches Problem für die nachfolgende Versorgung der Patienten eingeschätzt. Hieraus entstehen extreme Kosten medizinischer Leistungen, die bis zu 63 % der medizinischen Kosten für über 75-jährige Patienten in Großbritannien ausmachen. Störungen des Stehens, des Gehens und vestibuläre Funktionsstörungen werden für Patienten in einem Alter um 78 Jahre als wesentliche
162
Schwindel im Alter
Risikofaktoren angesehen[40]. Funktionsstörungen mit Beteiligung des Labyrinths sind häufiger als zentralnervöse Ursachen[58]. Die Selbsteinschätzung der Patienten ist ohne statistischen Einfluss auf Sturzereignisse[31]. Derzeit verfügbare Frageninventare sind zur Risikoabschätzung für Sturzereignisse nicht geeignet.
degeneration an menschlichen Innenohren finden sich im Tierreich z. B. bei Wüstenrennmäusen nicht in analoger Ausprägung, da dort die konstante Anzahl vestibulärer Haarzellen und Neurone bis ins hohe Alter der Tiere berichtet wird[23]. Tiermodelle sind daher nur sehr bedingt zur vergleichenden Betrachtung geeignet.
Alterung des vestibulären Systems
Vestibuläre Funktionsstörungen im Alter
Altersabhängige morphologische Alterationen werden innerhalb des sensorischen Epithels und der Sensororgane im Labyrinth, der vestibulären Neuronen, Kerngebiete und des Cortex sowie des Cerebellums beobachtet[46]. Während in humanen Felsenbeinstudien vestibuläre Typ I Haarzellen innerhalb der drei Cristae der Bogengänge mit zunehmendem Lebensalter in gleichem Maß früher degenerieren, bleiben Typ I Haarzellen der Maculae deutlich länger funktionstüchtig. Vestibuläre Typ II Haarzellen fallen mit zunehmendem Lebensalter in gleichem Ausmaß in sämtlichen fünf Sensororganen aus[46]. Bis zu einem Lebensalter von 100 Jahren wird beim Menschen ein kontinuierlicher Verlust an Haarzellen im gesamten Labyrinth gefunden. Bei Zählungen ergibt sich ein nahezu linearer Verlauf der Zählergebnisse über das Alter. Während in den Typ I Haarzellen der Cristae vor allem in deren mittlerer Position ein Verlust von 40 % bis zum 90. Lebensjahr belegt ist, sind im Utriculus nur bis zu 25 % Verlust zu bemerken. Allein zwischen dem 70. und 95. Lebensjahr gehen 20 % der vestibulären Haarzellen verloren[48], [14], [49]. Altersdegeneration setzt nicht allein im Labyrinth, sondern auch im Bereich der vestibulären Bahnen ein. Während im Alter von 18 – 20 Jahren 18.000 Fasern bilateral aktiv sind, ist deren Anzahl bei > 80 Lebensjahren auf < 1.000 Fasern reduziert[7], [8]. Das Ganglion Scarpae ist in analoger Weise betroffen[47]. Die Beobachtungen zur Alters-
Die Inzidenz für Funktionsstörungen des Gleichgewichts und Beeinträchtigung der Orientierung im Raum mit reduzierter Leistungsfähigkeit beim Gehen und Stehen ist altersabhängig erhöht. Dazu trägt bei, dass isolierte arterielle und venöse Durchblutungsstörungen und recurrierende entzündliche Prozesse die Sensorfunktion zeitabhängig beeinträchtigen. Neben altersabhängigen Funktionsstörungen des Labyrinths mindern weitere degenerative altersabhängige Erkrankungen des visuellen Systems, der Propriozeption und der Statomotorik die Funktion des trimodalen vestibulären Systems. Daher müssen vor allem bei älteren Patienten die Komponenten des gesamten vestibulären Systems für die Therapieplanung berücksichtigt werden. Dabei sind auch cerebrovaskuläre, cardiovaskuläre und metabolische Körperfunktionen zu berücksichtigen. Erkrankungen und Funktionseinschränkungen der Extremitätengelenke und durch reduzierte Motorik schwindende Muskelmasse wirken sich nachteilig auf das Körpergleichgewicht aus. Erheblichen Einfluss auf die vestibulären Reflexe haben eine Vielzahl der in höherem Alter aus diversen Indikationen verabreichten Pharmaka. Oft ist die Vielzahl der Präparate dem Patienten selbst im Anamnesegespräch nicht gegenwärtig. Für den Otologen ist daher neben der gezielten und vollständigen Anamnese die funktionsdiagnostische Abschätzung wesentlich, wie groß der Beitrag labyrinthärer Funktionsminderung zum gesamten Beschwerdebild ist. In diesem Zusam-
163
Schwindel im Alter
menhang ist entscheidend zu differenzieren, ob recurrierende Beschwerden oder permanent unveränderte Schwindelbeschwerden auftreten. Oft werden Dauerbeschwerden angenommen, obwohl der Patient episodisch akzentuierte Funktionsstörungen zu beschreiben weis. Persistierende Beschwerden werden oft als Attackenschwindel fehlgedeutet, weil die dauerhaften Funktionsstörungen unter wechselnden Belastungssituationen unterschiedlich stark wahrgenommen werden. Nicht selten treten Kombinationen persistierender und episodischer Funktionsstörungen beim gleichen Patienten nebeneinander auf.
Labyrintherkrankungen Erkrankungen des Labyrinths sind im Rahmen großer Feldstudien gut untersucht. Vielfach sind Labyrinthfunktionsstörungen nur partiell für die Symptomatik verantwortlich. Insbesondere bei bilateraler Vestibulopathie werden gehäuft cerebelläre Befunde als zusätzliche Teilursache erfasst[66]. Die Altersverteilung der Erkrankungen entspricht nicht der mit steigendem Alter zunehmenden Funktionseinschränkung des Labyrinths und der vestibulären Neurone. Ihr Maximum liegt vielmehr
zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr mit einem Altersmaximum von 68 Jahren (Abb. 1). Die Herausforderung bei der Therapie vestibulärer Funktionsstörungen im Alter besteht vielmehr in der erfolgreichen Versorgung der Patienten mit vestibulären Funktionsstörungen multipler Ätiologie. Da labyrinthäre Erkrankungen vielfach in Form kurzfristig gehäufter Attacken auftreten, behindern sie die nachhaltige vestibuläre Kompensation besonders stark. Daher kommt der otologischen Vestibularisdiagnostik und Therapie besondere Bedeutung zu. Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel (BPLS) Der BPLS wird mit einem Anteil von bis zu 50 % bei Patienten im Alter als Ursache für Schwindelbeschwerden diagnostiziert. Mit zunehmendem Alter findet sich ein linearer Anstieg der Inzidenz. Der sekundäre benigne paroxysmale Lagerungsschwindel tritt im Gefolge primärer Erkrankungen des Labyrinths auf. Dabei wird auch die Vestibularisneuropathie zu den labyrinthär lokalisierten Erkrankungen gezählt[17]. Oft tritt der BPLS dann auf, wenn die Funktion des posterioren Bogengangs unbeeinträchtigt ist und die initiale Suppression des vestibulookulären Reflexes
Abb. 1 Histogramm des Alters der Patienten mit Schwindelbeschwerden, die zum Zeitpunkt der Erstvorstellung das 65. Lebensjahr überschritten hatten und umfangreicher neurootologischer Diagnostik unterzogen wurden. Patienten aus dem Zeitraum 2006 – 2008
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Schwindel im Alter
(VOR) rückläufig ist. Dies tritt wenige Wochen bis zu viele Jahre nach der Erstmanifestation der Labyrintherkrankung auf. Bei etwa 10 % der Patienten mit BPLS treten die Beschwerden nach stumpfen Schädeltraumata auf. Männer und Frauen sind von posttraumatischem BPLS gleich häufig betroffen, während die idiopathische Form Frauen deutlich häufiger als Männer betrifft (2,3 : 1). Das mittlere Alter des posttraumatischen BPLS ist für Männer und Frauen ohne Unterschied, während die idiopathische Form bei Frauen in jüngerem Lebensalter als bei Männern auftritt[22]. Die lebenslange Prävalenz beträgt 2,4 %, die über die Dauer eines Jahres erfasste Prävalenz 1,6 %, die ein Jahres Inzidenz 0,6 %. Daraus ergibt sich, dass 0,6 % der Patienten über die Dauer eines Jahres über Beschwerden klagen[60]. Bilaterale Beteiligung ist weit überwiegend bei posttraumatischen Formen zu beobachten. Morbus Menière Im Rahmen einer finnischen Studie wurde die genetische Disposition des M. Menière beschrieben. Wenngleich eine Reihe anatomischer Kriterien als ätiopathogenetische Einflussfaktoren angesehen werden, ist die Ätiologie der idiopathischen Form der Erkrankung nicht verstanden[28]. Die Vererbung wird bei 15 % der Patienten mit M. Menière angegeben. Der Erbgang ist autosomal dominant mit geringer Penetranz. Vorwiegend sind Frauen betroffen[27]. Ungeklärt ist bisher, warum die Erkrankung bei familiärer Disposition wie auch bei nicht eindeutig genetischer Disposition erst in höherem Lebensalter symptomatisch wird und im Kindesalter nur selten beobachtet wird. Das Maximum des Auftretens wird in der vierten Lebensdekade beobachtet. Mit zunehmendem Alter der Patienten wird von einzelnen Autoren ein Rückgang der Anfallsfrequenz beobachtet[43]. In einer großen japanischen Feldstudie werden dementgegen mit dem Alter der Patienten zunehmende Inzidenzen und Prävalenzen ermittelt[53]. Für die diagnostische Klärung und Klassifikation sowie die Beurteilung von Therapieerfolgen
sollten die Leitlinien der American Academy von 1995 herangezogen werden. Neben vestibulären Leistungskriterien wird dabei das Hörvermögen bewertet. Die Therapie beginnt mit der medikamentösen Therapie durch Betahistin in on-label oder bei unzureichendem Ansprechen in off-label Dosierung. Bei Therapieversagen ist für Patienten mit erhaltenem Hörvermögen die endolymphatische Shuntoperation (Saccotomie) Verfahren der Wahl[62], [61]. Ausschaltungsoperationen durch Neurektomie bei erhaltenem Hörvermögen oder Cochleosacculotomie bei nicht nutzbarem Hörvermögen erfordern die präoperative Sicherung der vestibulären Kompensationsbereitschaft vor allem, wenn zusätzliche vestibuläre Funktionseinschränkungen erkennbar sind. Menière Syndrom Der Hydrops des Endolymphraums, der vielfach als essentieller Faktor für die Menière Symptomen-Trias angesehen wurde, ist offensichtlich Indikator der langjährigen Erkrankung, nicht aber kausales Korrelat für die periodisch auftretenden Beschwerden[35]. Eine Reihe unterschiedlicher wohl bekannter Ätiologien können daher zum Krankheitsbild beitragen. Bei bekannter Ätiologie wird daher im Schrifttum das Menière Syndrom definiert, das vom idiopathischen Morbus Menière zu unterscheiden ist. Durch Schuknecht wurde der protrahierte endolymphatische Hydrops beschrieben, der als Folge der im Kindesalter abgelaufenen Viruslabyrinthitis in höherem Lebensalter auftritt[51]. Dabei handelt es sich somit nicht um die idiopathische Form (Morbus Menière), sondern um das ätiologisch definierte Menière Syndrom. Neurovasculäre Kompression als Ursache wurde bislang vielfach überschätzt und tritt nach neueren Untersuchungen in nur 0,5 % bei Patienten mit entsprechender Symptomatik auf[2]. Die Indikationsstellung für die neurovaskuläre Dekompressionsoperation ist daher problematisch und sollte in höherem Lebensalter zurückhaltend erfolgen.
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Insbesondere bei älteren Patienten (> 65 Jahre) werden im Rahmen des Menière Syndroms plötzliche Sturzereignisse, sog. Drop Attacks beobachtet, deren otogene Ursache vielfach nicht erkannt wird[29]. Sie führen zu plötzlichen Stürzen mit Orientierungslosigkeit im Raum ohne Bewusstlosigkeit. Sie werden akut auftretenden Otolithenfunktionsstörungen zugeordnet und als Tumarkin Krise oder „otolithic crisis“ bezeichnet[37], [11]. Operative Verfahren sollten besonders streng indiziert werden[21]. Mit zunehmender Häufigkeit wird das Menière Syndrom bei chronischer Tubenventilationsstörung bei älteren Patienten diagnostiziert. Die ätiologischen Zusammenhänge sind seit langem geläufig und wurden an der Aachener Klinik genauer untersucht. Die Druckverhältnisse in der Pauke unterliegen starken Schwankungen u. a. durch Kopfhaltung und Pressen, die durch Funktion der Ductus endolymphaticus und perilymphaticus geglättet werden[63]. Daraus ergibt sich im Einzelfall die Indikation zur Therapie mittels Paukenröhrchen ab einem Impedanzmaximum des Trommelfell-Gehörknöchelchenapparats von > + 50daPa und < − 50daPa[42], [63], [36]. Vestibularisneuropathie Die Vestibularisneuropathie hat einen Altersgipfel zwischen 30. und 60. Lebensjahr. In höherem Lebensalter tritt die Vestibularisneuropathie meist als Komplikation der diabetischen Polyneuropathie oder im Rahmen anderer Neuropathien auf. Die Neuropathie ist vor allem bei Patienten mit weiteren sensorischen Defiziten in höherem Lebensalter Teilursache für Sturzereignisse[3], [54]. Zusätzlich auftretende Retinopathie oder weitere Einschränkung des visuell vestibulären Systems tragen zu gestörtem Gleichgewicht bei. Sensomotorische Funktionsstörungen wirken dabei protrahierend auf die vestibuläre Kompensation und die Rehabilitationsmaßnahmen. In der Akutphase ist daher die Corticoidtherapie unter Berücksichtigung der Kontraindikationen durch Begleiterkrankungen indiziert. Die
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Rehabilitationsmaßnahmen sollten innerhalb der ersten zehn Tage nach Auftreten der Symptome durch Habituationstraining einsetzen[41]. Entzündliche Perilymphfistel Die durch unbehandelte Cholesteatome oder zu spät erkannte Rezidivcholesteatome verursachten Perilymphfisteln betreffen überwiegend den lateralen Bogengang wegen seiner Nachbarschaft zum Attik-Antrumbereich. Während bei elektiver Operation selbst bei großen Cholesteatomen der Erhalt der sensorischen Funktion gelingt, ist bei akutem Labyrinthausfall neben der Funktion des lateralen Bogengangs, meist die gesamte Innenohrfunktion beeinträchtigt. Daher ist gerade beim älteren Patienten die frühzeitige Indikation zur operativen Therapie des Cholesteatoms anzuraten. Bei rechtzeitiger Operation ist die geschlossene Technik oder die Radikalhöhlenoperation mit einzeitiger Höhlenverkleinerung möglich (Abb. 2). Erhalt oder Restitution des Hörens und Gleichgewichts sind so möglich. Zentralnervöse Funktionsstörungen Die am häufigsten missbrauchte (Verdachts-) Diagnose bei Schwindelbeschwerden des Älteren ist die vertebrobasiläre Insuffizienz. 20 % der gesicherten ischämischen cerebralen Insulte betreffen die posterioren und vertebrobasilären Stromgebiete[9], [50]. Oft gehen Schwindelbeschwerden langfristig voraus. Umschriebene corticale Prozesse im frontalen und im parietoinsulären Cortex können vestibuläre Funktionsstörungen verursachen. Diffuse subcorticale Ischämieherde beeinträchtigen bei weiter Ausdehnung vestibuläre Bahnsysteme und die Wahrnehmung des Körpergleichgewichts sowie die visuelle Orientierung. Corticale Ischämien und Raumforderungen Die corticale Repräsentation vestibulärer Funktionen findet sich in präcentralen und inferioren sowie superioren frontalen Cortexarealen, im parieto-insulären vestibulären Cortex
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vor allem bei Inkongruenz von Beschwerden und Befunden ist die Bildgebung z. B. mittels MRT des Hirns anzuraten. Intracranielle Befunde wie Blutungen oder Ischämie erfordern ggf. interdisziplinäres Vorgehen. Sie können unbeachtet binnen kurzer Zeit zu vitaler Notfallsituation führen (Abb. 3).
a
Cerebelläre und cerebellopontine Ischämien und Raumforderungen Während cerebelläre Prozesse mit Raumforderung oder Ischämie bei Lokalisation im Stromgebiet der A. cerebellaris posterior inferior (PICA) zu meist vertikalem Nystagmus als up- oder downbeat-Nystagmus führen, ist der Umkehrschluss nicht immer zulässig. Kleinhirninfarkte haben 2,7 % Anteil an Schlaganfällen. In 75 % der Fälle tritt Schwindel als Leitsymptom auf[65]. Bisweilen werden die Zusammenhänge zwischen zentralnervöser Läsion und Störung der Blickmotorik unzuläs-
b Abb. 2 a,b Intraoperative Photos aus OP-Video bei Radikalhöhlenoperation mit Perilymphfistel des lateralen Bogengangs. Präoperativ positives Fistelsymptom, postoperativ erhaltene Bogengangsfunktion nach Abdecken mit Bindegewebspatch. a exponierte Fistel nach Entfernen des Cholesteatoms b mit Bindegewebe abgedeckte Fistel.
(PIVC) und im visuellen temporalen Gebiet der Sylvischen Furche[13]. Somit werden Gebiete der Sensorik und vestibulären trimodalen Organisation berührt sowie okulomotorische Felder im Rahmen der Blickmotorik-Steuerung geschaltet. Dadurch werden bei diffuser vaskulärer Minderperfusion vestibuläre Zentren wegen ihrer weiten Ausdehnung häufig betroffen. Selbst bei ausgedehnten Befunden treten oft nur singuläre Beschwerden auf, die nicht in allen Fällen neurologische Begleitsymptome erzeugen. Bei unklarer Befundlage und
Abb. 3 Computertomografie eines 73-jährigen Patienten mit spontan akut aufgetretenem Schwindel nach Cochlea Implantation vor 8 Jahren. Diagnose des epiduralen Hämatoms mit Kompression im Bereich des PIVC kontralateral zum Cochlea Implantat. Nach neurochirurgischer Entlastung am Folgetag beschwerdefrei. Pfeile: epidurales Hämatom.
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sig vereinfacht dargestellt[6]. Die Komplexizität der Blickmotorik und VOR-Organisation ist nur durch die bekannten Syndrome (z. B. Wallenberg) nicht vollständig abgebildet, andernorts allerdings detaillierter dargestellt[55]. Cerebelläre Befunde im Zusammenhang mit Schwindelbeschwerden werden durch die kalorische Prüfung nicht erkannt, fallen jedoch durch eine deutlich verzögerte gestörte langsame Blickfolgebewegung auf[33]. Horizontaler Nystagmus und sakkadierte langsame Blickfolge gelten als zuverlässigste klinische Hinweise[24]. Kleinhirnbrückenwinkeltumoren können abhängig von Lage und Größe isolierte vestibuläre, isolierte cochleäre und kombinierte Funktionsstörungen verursachen. Sie werden auch bei subjektiv regelrechtem Hörvermögen durch die otologische Funktionsdiagnostik, die ggf. durch die MRT ergänzt werden muss, aufgedeckt. Cerebelläre und cerebellopontine Ischämie oder Systemdegeneration wie z. B. olivopontocerebelläre Atrophie (OPCA) fallen durch Ataxie und gestörte Habituation des VOR mit Schwindelbeschwerden auf. Die seltenen Krankheitsbilder der Friedreichs-Ataxie (FA) und der cerebellopontinen Ataxie (CA) sind durch Gangataxie, gestörte Reaktionszeiten bei Sakkaden, ungestörte langsame Blickfolge und ungestörten optokinetischen Nystagmus gekennzeichnet[38]. Diffuse cerebrale Durchblutungsstörungen In einer europäischen gut dokumentierten Studie wurden 639 Patienten im Alter 65 – 84 Jahren mit diffusen subcortikalen Ischämieherden (ARWMC [age-related white matter changes]) untersucht[5]. Dabei fand sich eine deutliche Korrelation zwischen dem Ausmaß der kernspintomografisch erfassten Veränderungen und den Funktionsdefiziten des Gehens und Stehens. Deutlich bessernden Einfluss hatte das Ausmaß täglicher körperlicher Aktivität. Insbesondere bei Patienten mit höherem Lebensalter (> 80 Jahre)
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werden periventriculäre und tiefe Substanzläsionen unabhängig voneinander beobachtet[25]. Neben vestibulär sensorischen und motorischen Funktionsdefiziten sind kognitive Störungen zu beobachten. Diese beeinträchtigen z. T. die räumliche Orientierung und tragen zur Beeinträchtigung des statischen und dynamischen Gleichgewichtsempfindens bei. Besondere Bedeutung besitzen die Befunde, weil bekannt ist, dass Patienten mit subklinisch verlaufenen Schlaganfallsereignissen, die im Rahmen der Diagnostik zur Abklärung der Gleichgewichtsstörungen einem MRT unterzogen werden, ein sechsfach erhöhtes Risiko eines nachfolgenden schwerwiegenderen Insults aufweisen[59]. Ischämie im Bereich der Basalganglien ist durch verminderte Fixationssupression des kalorischen Nystagmus gekennzeichnet[39]. Dadurch ist bei Kopfbewegungen die Blickstabilisierung eingeschränkt. Diese auf die Basalganglien lokalisierten funktionellen Auswirkungen sind nicht durch die o. g. diffusen subcorticalen Ischämieherde verursacht. Im Einzelfall ist daher die Funktionsdiagnostik mit den Ergebnissen der radiologischen Diagnostik subtil abzustimmen. Fragestellungen bei Beauftragung radiologischer Leistungen verbessern die technische Lösung und die Befundung der Untersuchung. Visueller Schwindel im Alter Neben labyrinthärer und propriozeptiver sensorischer Funktion ist der Visus für das vestibuläre System funktionsbestimmend. Erkrankungen des optischen Systems sowie der Retina nehmen altersabhängig zu und sind bei einem Teil der Patienten progredient. Wegen der oft langjährig langsam entwickelten Progredienz besteht ein hohes Maß an Adaptation und daher oft eine Unterschätzung der Funktionsstörung im HNO-ärztlichen Anamnesegespräch. Sehhilfen sind vielfach nicht an die fortschreitende Visusänderung angepasst. Ältere Patienten sind oft nicht in der Lage, bi-/ trifokale oder Gleitsichtbrillen durch Kippen des Kopfs in der notwendigen Reaktionszeit auf das Blickziel auszurichten. Insbesondere
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bei dynamischer Anforderung an das vestibuläre System treten daher Schwindelbeschwerden auf. Grobe seitengetrennte Überprüfung des Visus und der visuellen Fixation mit den entsprechenden Sehhilfen ist daher obligater Bestandteil der vestibulären Diagnostik beim älteren Patienten. Ratsam sind die Prüfung der langsamen Blickfolge, der Sakkadenmotorik und des optokinetischen Nystagmus. Die optimierte Sehleistung des Patienten ist unabdingbare Voraussetzung für die vestibuläre Kompensation nach Funktionsstörungen außerhalb des visuellen vestibulären Systems. Daher kann bereits im Frühstadium nach otogener oder zentralnervöser vestibulärer Funktionsstörung die ophthalmologische Therapie und gezielte Sehhilfenanpassung notwendig sein. Nach ein- oder beidseitiger Labyrinthfunktionsstörung wird eine reduzierte Sensitivität der Patienten gegenüber visuellen Stimuli beobachtet, die als zentralnervöse Adaptation im Rahmen der vestibulären Kompensation gedeutet werden[52]. Dieser Mechanismus behindert im Einzelfall die vestibuläre Rehabilitation älterer Patienten erheblich. Schwindelbeschwerden als medikamentöse Wechsel- und Nebenwirkung Die Verabreichung zahlreicher Pharmaka beim alten Patienten ist mit einer Vielzahl von Neben- und Wechselwirkungen verbunden. Schwindelbeschwerden werden dabei unter den drei häufigsten Symptomen genannt. Antihypertensiva, Analgetica, Parkinson-Therapeutika und Antidepressiva gehören zu den häufigsten Medikamentengruppen. Eine Anpassung der Medikation erfordert stets die interdisziplinäre Abstimmung im fachärztlichen Netzwerk. Psychogene Störungen Im Alter sind die Sturzereignisse als Folge der Schwindelbeschwerden ein schwerwiegendes Problem. Furcht vor weiteren Sturzereignissen gilt als signifikanter Prediktor für weitere Sturzereignisse. Die Erfahrungen mit
bisher verfügbaren Inventarfragebögen zur Risikobeurteilung sind kontrovers[44]. Daher wurde an der Aachener Klinik ein erweiterter Inventarfragebogen entwickelt, der in einer ersten Entwicklungsstufe evaluiert vorliegt[57]. Vor allem phobische Komponenten gelten als schwer erfassbar[20], [4]. Aus dem Vergleich psychometrischer und neurootologischer Befunde ist erkennbar, dass Panik Attacken und Agoraphobie häufig die Schwindelbeschwerden im Alter begleiten, verschärfen oder als Residuum bestehen[15]. Schon früh wurde auf das gleichzeitige Auftreten psychopathologischer und neurootologischer Krankheitsbilder vor allem bei älteren Patienten hingewiesen[19]. Selbst der in früherem Lebensalter erworbene und nicht zeitnah therapierte phobische Schwankschwindel ist häufige Ursache für Akuisierung der Beschwerden in höherem Lebensalter[56]. Die Häufigkeit wird zwischen 26 % und 8 % angegeben[45], [56]. Ein beträchtlicher Anteil älterer Patienten mit somatoformem vestibulärem Schwindel reagiert mit Vermeidungsverhalten. Therapieerfolge der psychogenen Schwindelursachen durch psychosomatische und/oder psychotherapeutische Verfahren sind im Alter überzeugend positiv mit bis zu 70 % Erfolgsrate.
Vestibuläre Kompensation im Alter Die Gabe von Methylprednisolon fördert nicht in statistisch signifikantem Ausmaß die Ausheilung peripherer Labyrintherkrankungen, wenn diese gemeinsam betrachtet werden, jedoch sind die Verbesserung des Kompensationsergebnisses und das verbesserte Ergebnis der Rehabilitation zu beobachten[26]. Stabile und nicht fluktuierende vestibuläre Funktionen führen zu besseren Ergebnissen als rezidivierende oder in Attacken auftretende Krankheitsbilder dies erwarten lassen. Daher kann im Einzelfall die Ausschaltungsoperation bei den Formen des therapierefraktärem La-
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Abb. 4 Übersicht über Häufigkeit und Verteilung des Auftretens multipler Ätiologien bei Schwindelbeschwerden im Alter.
byrinthschwindels, die attackenweise auftreten, beim alten Patienten Beschwerdefreiheit herbeiführen. Die vestibuläre Kompensation ist eine Leistung des gesamten vestibulären Systems mit Labyrinthfunktionen, Visus, Propriozeption und zentralnervösen vestibulären Reflexen. Daher sind unilokuläre Ursachen leichter einer vestibulären Kompensation zugänglich als dies bei Mehrfachdiagnosen zu erwarten ist. Gerade bei älteren Patienten finden sich multilokuläre Funktionsausfälle im vestibulären System nicht selten (Abb. 4). Dabei sind zusätzliche Einschränkungen der Motorik durch Gelenkerkrankungen, Muskelschwäche oder periphere Neuropathien zu berücksichtigen und fachübergreifend mitzubehandeln. Die Individualverläufe der vestibulären Kompensation sind extrem diskrepant und nicht einfach zu prognostizieren. Selbst in Fällen, in denen zentralnervöse Substanzdefekte nachgewiesen wurden, jedoch außerhalb bekannter ZNS-Anteile mit Funktion in der vestibulären Kompensation liegen, sind Kompensationsabläufe stark einge-
schränkt[16], [30]. Aktuell werden Verfahren der artifiziellen elektrotaktilen Stimulation zur Verbesserung der vestibulären Kompensation im Rahmen einer europäischen Studie unter Leitung der Aachener Klinik untersucht.
Therapie vestibulärer Funktionsstörungen im Alter Nach Differenzierung der Diagnose(n) erfolgt in den geeigneten Fällen die Indikation zu otologischer oder otochirurgischer Therapie nach abgestuftem Konzept. Zeitgleich können im Einzelfall rehabilitative, psychosomatische oder psychotherapeutische Behandlungsmaßnahmen vorbereitet und gestartet werden. Die Behandlungsmaßnahmen werden stets fachübergreifend mit mitbehandelnden Nachbardisziplinen abgestimmt. Dies gilt vor allem für medikamentöse Therapie und körperliche Belastung durch Rehabilitation. Die Verlaufskontrolle des Therapieerfolgs hat den optimierten Visus zur Voraussetzung. Als
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qualitätssichernde Instrumente zur Beurteilung des Erfolgs eignen sich der Spontannystagmus unter Vigilanzerhöhung, die Verstärkung des vestibulookulären Reflexes bei rotatorischen Tests (vor allem in niedrigen Frequenzen < 0,05 Hz), die langsame Blickfolge sowie die Kontrolle der Sensororganfunktionen z. B. durch Kopf-Impuls-Teste und cervikale vestibulär evozierte myogene Potenziale. Wesentlicher Bestandteil ist das ausgewertete Frageninventar, z. B. der erweiterte validierte DHI[57]. Bei Versagen der konservativen Verfahren ist unter Berücksichtigung des kardiovaskulären Risikoprofils die operative Therapie indiziert. Die bekannten Erfolge der operativen Verfahren sind bei umfassender Vorbereitung unabhängig vom Alter der Patienten[42], [62 – 64]. Eine altersbedingte Einschränkung operativer Indikationen ergibt sich somit in der Regel nicht. Vor Labyrinth ausschaltenden Operationen sind Untersuchungen notwendig, die eine Vorabschätzung der vestibulären Kompensationsleistung zulassen. Hierzu ist erleichternd, wenn der Patient vergleichbare Verlaufsbefunde aufweisen kann, die im Rahmen ggf. progredienter Funktionsminderung des vestibulären Systems erstellt werden konnten. Die Rehabilitationsbehandlung des vestibulären Schwindels insbesondere im Alter wird allgemein als sinnvoll erachtet[10]. Der technische Ablauf und die Methoden der Rehabilitation gelten als nicht kritisch[12]. Erfolge der Rehabilitation mit Verbesserung der Statomotorik und der Kopf-Körper-Koordination sind auch in hohem Lebensalter unabhängig vom Alter erfolgreich und den Ergebnissen jüngerer Patienten < 65 Lebensjahre nicht unterlegen[10].
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Movement strategies after vestibular loss: aiding these with prosthetic feedback J. H. J. Allum, C. G. C. Horlings, F. Honegger, K. S. Tang, and P. Kessler
Abstract During the Romberg test, it is often assumed that the body moves as one element like an inverted pendulum. New evidence indicates that different movement strategies, other than that of a simple inverted pendulum are used to control human stance. If so, it is important in planning rehabilitation protocols to determine whether patients with vestibular loss (VL) have the same strategies during quiet stance as healthy normals. Our underlying hypothesis was that only changes in the amplitudes of upper body movements and not in the type of movement strategy would occur following peripheral VL. Therefore biofeedback would reduce pathological sway amplitudes equally well for VL and elderly healthy subjects. To measure quiet stance under different sensory conditions, in order to determine movement strategies of quiet stance used by VL subjects, angular velocity transducers were mounted at the shoulders and pelvis. Biofeedback during gait and stance tasks was provided using measurements of lower trunk rotations to drive head-band-mounted vibro-tactile, auditory,and visual actuators. We found that strategies of quiet stance were different for roll (side-to-side) and pitch (fore-back), dependent on sensory conditions, and different for low and high frequency sway. VL strategies were identical to those of controls but had greater amplitudes. Biofeedback reduced stance body sway in VL and elderly subjects in a similar manner. In conclusion, several
movement strategies underlie quiet stance. VL causes only pathological changes to the movement amplitude. Thus, pathological trunk sway with VL is easily rectified using trunk sway positional biofeedback in a manner similar to that previously used in the elderly. Key words: Balance control, movement strategies, vestibular loss, biofeedback rehabilitation of balance deficits.
Introduction Vestibular and proprioceptive sensory information is considered essential for stable balance. If one of these two motion percepts is not available, when stance suddenly becomes momentarily unstable, it is assumed that an appropriately scaled balance-correcting response will not be properly generated and a fall will occur. This assumption raises a number of questions concerning the effect of vestibular (VL) or proprioceptive loss on movement strategies. Most evidence indicates that vestibular inputs do not trigger balance corrections. Instead the role of vestibular-spinal inputs in contributing to balance corrections is to modulate the amplitude of postural muscle responses[1– 3], [20] according to the direction of the perturbation in the roll and pitch planes[12]. In contrast, lower leg proprioceptive feedback has long been considered critical for triggering and modulating balance correcting responses,[23], [23], [15 –17] although, recent evi-
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dence has indicated that proprioceptive inputs from more proximal joints (ie the hip joint) could fulfil this role too[13], [13], [4], [10].. For example, when the support surface is servoed during translation so that ankle rotations are negligible and stretch reflexes in ankle muscles are absent, balance corrections are still present and appropriately modulated to maintain stability[3], [11]. These results suggest that ankle proprioceptive inputs may be employed but are not necessary for triggering and modulating balance corrections[11]. Furthermore, if proprioceptive inputs at other joints are able to act as a substitute for the absence of ankle inputs, then movements at other joints need to have occurred, as has been verified by observations of multi-segmental movement during both translations and rotations of the support surface[13], [25]. Movements at joints other than at the ankle during quiet stance or following a perturbation to stance are essential if a distributed use of proprioceptive inputs is to contribute to balance control[3]. It has generally been assumed that the body sways during quiet stance primarily as an inverted pendulum with little movement at the knee and hip joints[24], [21]. However, the concept of movement as an inverted pendulum has recently been challenged, suggesting that more than one mode of movement, including that like an inverted pendulum, occurs simultaneously during balance corrections of quiet stance[8], [24]. Whether or not these modes of control during quiet stance are affected by VL is not known. The aim of the current study was to compare the modes of control in healthy and VL subjects during quiet stance. Once we had established that only differences in sway amplitude, but not modes of control occurred between these populations, our goal was to apply this knowledge to rehabilitation concepts using biofeedback of body sway[5].
Methods Procedure for quiet stance experiments For investigating movement strategies during quiet stance subjects included six male VL patients (mean age (range) 40.7 (21– 48) years), and twenty-eight healthy age matched controls (16 male). Criteria for subject selection are listed in previous publications[5], [11], [18].. All subjects signed informed consent as approved by the ethical committee of the University Hospital Basel. Subjects stood without shoes with feet apart at shoulder width and with their arms hanging at the sides of their body during 4 postural tasks: standing on 2 legs with eyes closed or open on a firm support or on a foam support surface. The sequence was randomized for firm and foam support surfaces, to restrict influence of a training effect. Two spotters were positioned slightly behind the subjects in case balance was lost. All tasks lasted 3 min or until balance control was lost. In this case, the task was repeated; the longest of maximum 3 trials was used for analysis. However, trials shorter than 20 seconds were excluded from the analysis. Two digital angular-rate gyroscopes (SwayStar™, Balance International Innovations GmbH, Switzerland) mounted on converted motor-cycle kidney belts, were synchronized to measure angular velocity in the roll (side-toside) and pitch (fore-aft) planes at the pelvis and at the shoulder with a rate of 100 Hz. Pelvis and shoulder velocity data was integrated to yield angular position data and the very low frequency trend was removed using wavelet analysis (see figure 1 a). The remaining sway – original data minus the low-frequency trend – was further analyzed in two separate frequency bands. The first band consisted of low pass filtered sway with a cutoff frequency of 0.7 Hz (see figure figure 1 b). The second band consisted of high pass filtered sway with a cutoff frequency of 3 Hz (see figure 1 c). Once this data was low or high pass filtered, a weighted
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total least-squares algorithm was used for fitting a regression line to the shoulder-pelvis x-y plots (see figure 2). Mean population slopes of these lines were compared between stance conditions and populations. Procedure for biofeedback experiments Patients with balance deficits were examined who had not compensated for an acute unilateral peripheral vestibular deficit 3 months after its acute onset, as documented by standard rotating chair tests of the horizontal vestibulo-ocular reflex[6]. Participants had to be between 18 and 65 years of age and free from neurological, psychological or orthopaedic problems. Standard clinical stance and gait tests were used. Tests were carried out over 6 weeks in 8 sessions and included the following test battery: 1.– 4. Stand feet together on a firm or foam support surface with eyes open or closed for 30 secs. (4 tests) 5.– 6. Stand in the tandem stance position with eyes open or closed for 30 secs. (2 tests) 7.– 8. Get up of a stool and walk 2 m on a foam or firm surface. (2 tests) 9.–10. 8 tandem gait steps with eyes open or closed. (2 tests) 11. Walk 3 m with head rotation side-toside. 12. Walk 3 m with head pitching (neck flexion and extension). 13. Stand on 1 leg with eyes open on a firm surface for 20 secs. 14. Walk 8 m with eyes open. Two spotters stood slightly behind the subject or walked with them in order to aid if balance was in danger of being lost. In this case the protocol in the test battery was terminated. After completion of the test battery the amplitudes of sway were calculated for the feedback thresholds. These were set as 40 % of the peak-to-peak amplitudes of sway in the
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pitch and roll directions for the vibro-tactile feedback, 80 % for the auditory feedback, and 150 % for the visual feedback. In the following 2 weeks on Monday, Wednesday and Friday the subjects trained with the biofeedback system as follows: 1. 3 mins. stance with feet together with eyes closed on a firm floor. 2. 3 mins. 20 secs 1-legged stance eyes open. 3. 1 min. stance with feet together eyes closed on foam. 4. 1 min. tandem stance with eyes closed. 5. 5 times 8 tandem steps with eyes closed. 6. 5 times walk 3 m with head rotation. 7. 5 times walk 8 m eyes open. On Friday of the first 2 weeks with training and then in the 3rd and 6th week the test battery of 14 protocols listed above was repeated without feedback in order to determine if a carry-over effect was present. The biofeedback equipment consisted of 2 parts. The SwayStar™ system (Balance International Innovations GmbH, Schweiz) to measure lower trunk sway and a second device to feed these signals back to the subject via transducers mounted in a head-band (BalanceFreedom system from the same firm). The later system consisted of 8 vibro-tactile vibrators mounted at equally spaced distances around the head-band. These were active when sway was in the direction of one of the vibrators. The acoustic signal was a form of two-bone conducting transducers mounted in the head-band and placed on each mastoid. The acoustic signal consisted of 4 tones, for left and right sway, active when sway was in the respective lateral direction. Both transducers were active with one tone when sway was forward and both with another tone when sway was backwards. Finally, for large sway movements, regardless of direction, the LED at the end of a bar, mounted in the subjects field of view flashed at 7/sec. Thereby, the subject received feedback about body sway over 3 sensory information channels.
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Results Movement strategies during quiet stance For control and bilateral VL subjects the low frequency movements of the shoulder and pelvis were found to be in-phase within both the pitch and roll planes, except on a firm surface in the roll plane (Figures 1– 4). When the pelvis and shoulder movements were plotted against one another (Figure 2) control and VL values for pitch slopes were approximately 52 deg, for the foam condition (Figure 3). This indicates an approximate 1 to 1 movement of shoulder and pelvis, as expected from an inverted pendulum mode of sway. In the roll plane, greater shoulder relative to pelvis movement was observed when standing on firm (79.5 ± 2.0 deg) compared to foam support surfaces (60.2 ± 1.9 deg, Figure 3). There was no difference in the pattern of low frequency displacements of the shoulder and pelvis between controls and patients with VL in either the pitch or roll planes. Although synchronization of the shoulder and pelvis movements was unaffected by VL, VL subjects had differences in the amplitude modulation of both body segments during quiet stance compared to controls. Larger amplitude lowfrequency displacements of the shoulder and pelvis were observed in VL patients compared to controls in the pitch and roll planes under eyes closed conditions, especially on a foam surface. Like low frequency displacements, high frequency displacements in the shoulder and pelvis were controlled differently in the pitch and roll planes depending on the support surface. In the pitch plane, shoulder and pelvis displacements were slightly anti-phasic during stance on both firm and foam surfaces (Figures 2 – 4) for VL and controls with most motion being at the pelvis. In the roll plane, stance on a firm surface was dominated primarily by high frequency corrections at the shoulder, with little corrective movement observed at the pelvis (Figure 2 and 3). In
contrast, stance on foam surfaces was controlled by slightly anti-phasic corrections in the roll plane at both the shoulder and pelvis (Figure 2 – 4) as observed in the pitch plane. There were no significant differences between VL patients and controls in the pattern of high frequency displacements of the shoulder and pelvis for either plane or surface type. Effect of trunk sway biofeedback on balance control Given the similarity of balance-correcting strategies between VL subjects and controls described above, it would seem logical that a biofeedback system[5] which aimed simply to reduce sway would be effective for these two populations. As Figure 5 shows, uncompensated unilateral vestibular loss (uUVL) subjects reduced their trunk sway considerably when the source of feedback measured sway at the level of the lower trunk, just as the elderly do[26]. The patient in figure 5 had a unilateral vestibular loss which had not been compensated (failure of low-frequency VOR gain to be normal) within the normal time of 3 months[6]. The improvement for the typical tests for which this type of patient is unstable[7] was clearly present after training with the vibro-tactile feedback device and when using it to control sway during the tests. The feedback provided by the device is equivalent to summed angular motion of the lower trunk and pelvis for roll and the angular motion of the lower trunk for pitch (Allum JHJ and Kueng UM, unpublished observations 2009). The sway reduction with feedback is greater than the reduction brought about by training alone in the elderly[5], [26]. Furthermore, these later reports indicated that the elderly that benefited most from the feedback most were those with the greatest sway prior to feedback use. This implies that patients with balance disorders having increased body sway due to predominantly vestibular problems will presumably benefit most from feedback use. Figure 6 provides examples of long-term improvement from ongoing trials with patients.
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Fig. 1 Modes of movement in the roll and pitch planes during quiet standing on firm with eyes closed. The original traces of roll and pitch (A) deviations of the shoulders (grey lines) and the pelvis (black lines) are shown for 50 secs of data with the trend of the drift estimated by a wavelet filter. With the trend removed, the data was then low-pass filtered (at 0.7 Hz) to reveal deviations shown in (B) for roll and pitch. A smaller section of the high pass (3 Hz) filtered data is shown in (C) for roll for pitch. (Data reproduced from [19])
Fig. 2 Movement strategy during stance eyes closed on foam as depicted by slopes of low (A) and high (B) frequency modes of pelvis and shoulder motion. Shoulder versus pelvis deviations over the complete 180 secs of each trial corresponding to the traces shown in Figure 1 are plotted as x-y plots. A regression line has been drawn through the x-y data. Note the approximate in-phase movements of shoulder and pelvis in A for low frequency roll and pitch, respectively, and the pelvis only movement for high frequencies of sway in B. (Data reproduced from [19])
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Fig. 3 Movement strategies across stance conditions. The mean and standard error of the slopes (in degs) of regressions as depicted in Figure 2 are shown by a column and vertical bar, respectively. As slopes of + 90° and – 90° deg are equal, we referred all slopes to one sign (that of the majority) for purposes of computing a mean. For roll, significant differences were noted with support surface. The high frequency pitch mode is different from the low frequency pitch mode. There were no significant differences in slope between VL and control subjects, only amplitude differences as shown in figure 2. (Data reproduced from [19])
Fig. 4 Movement strategies during stance. This figure provides an overview of the segment coordination patterns found in this study based on the regression-slopes presented in figure 3. The stick-figures indicate a schematic representation of the rotations at pelvis, or shoulders or both.
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Fig. 5 Improvements in trunk sway with biofeedback for an uncompensated unilateral peripheral vestibular loss patient. The improvements for two different tests are shown; standing on 2 legs eyes closed on foam (A and B) and walking 8 tandem steps, eyes open in C and D. On left the time traces with and without feedback are shown. On the right, angle and angular velocity plots before feedback training and with feedback (after training with it) are shown as x-y plots of roll and pitch deviations. Notice the considerable reduction with feedback. An envelope (the convex hull) has been drawn around the x-y plots.
The 4 patients whose mean values feature in the figure also had a unilateral vestibular loss which had not been compensated (failure of low-frequency VOR gain to be normal) within the normal time of 3 months[6]. Measures of sway after 2 weeks of training tests show that a carry-over effect was present at least immediately after training for the first 2 weeks and a week later in which there was no training under feedback conditions.
Discussion The aim of this paper was to compare strategies used by healthy subjects in quiet stance
to maintain a stable posture with those used by subjects with vestibular loss (VL). The strategies during quiet stance could be split into low and high frequency components[19]. The high frequency modes of movement in roll and pitch during quiet stance were multi-link. Low frequency modes in roll were also multilink with relative movements about the lumbosacral joints in addition to those about the ankle and knees. The latter we did not measure. However, we noted in-phase movements of shoulders and pelvis during low frequency pitch movements, and assumed that these were due to movements about the ankle joint. When we examined differences between healthy controls and VL patients, we found
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Fig. 6 Mean percentage improvements in trunk sway with biofeedback for 4 uncompensated unilateral peripheral vestibular loss patient. The improvements compared to pre-training test values both during and after (carryover effects) training are shown for the 90 % range of roll angle. Two different test results are shown; standing on 2 legs feet together eyes closed on foam and standing in tandem stance eyes closed. The columns represent the mean improvement values during the 3 sessions of training over 2 weeks and tests performed at various intervals after training. Note the presence of carry-over effects 2 and 6 weeks later.
that VL subjects suffer from a lack of appropriate modulation of their attempted balance corrections. As we will expand on below, this insight suggests it will be easier to rehabilitate VL patients than those with proprioceptive loss (PL) or with central vestibular deficits (CVD) using artificial feedback signals, because once the vestibular loss subjects are subconsciously informed, via feedback, of their exaggerated responses, then, presumably, they would be able to modulate their responses adequately. On the other hand, providing feedback information alone may not enable the PL or CVD subjects to change their response strategies if these are different from controls. The question arises whether in groups with presumably sub-optimally functioning sensory modalities, biofeedback of trunk sway can be effective in improving balance control. We
found that it was effective in the elderly and those with uncompensated unilateral VL. These results imply that the CNS can utilize the types of sensory information artificially provided here to optimize postural control. We have assumed that this process occurs via a direct change on the amplitudes of muscle activity. Whether or not this feedback can be used to change unstable balance-correcting strategies, as we have identified in proprioceptive loss[10], [11] and other patient groups with CVD (eg spinocerebellar ataxia, [9]), remains to be investigated. The biofeedback signals provided in our device are all facilitated by supraspinal pathways: the trigeminal nerve for vibro-tactile information, the vestibular-cochlear nerve for auditory and possibly otolithic stimulation, and at the extremes of sway for the optic-
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nerve visual information. The proximity of these supraspinal to cortical centres integrating sensory signals into balance commands may be beneficial in eliminating any errors in sensory integration that occur in spinal pathways, regardless of whether these are due to conduction delays in peripheral nerves or not. The improvement we noted with biofeedback was proportional to initial balance performance of test subjects. That is those with the largest initial balance deficits were most aided by having biofeedback of their postural sway available to them. It is possible that modality we used may have promoted this scalar improvement. The visual feedback was set only to be active at the extremes of stability for a given task and this rarely occurred, but when it did it was very obvious to the subject. The vibro-tactile feedback was set to be extremely sensitive to sway and subjects immediately felt it. Whereas the auditory feedback was by nature more complex as two signals needed to be coded into 4 directions of sway. By providing this feedback in the mid-range of sway and having its amplitude continuously increase with sway we hoped to overcome some of the processing problems that might occur if the auditory feedback was constant. It may well be worthwhile to consider replacing the auditory feedback with a graded vibrotactile feedback. As vibrotactile feedback increases with intensity it is also perceived auditorily as a bone-conducted signal. In this study we have explored differences in the balance-correcting strategies following vestibular loss. We have argued that these strategies are not changed with respect to controls change for quiet stance. The lack of adequate modulation of movement strategies of balance instability following VL or aging indicates that these are amenable to rectification using biofeedback that provides additional artificial sensory information on body sway.
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Acknowledgements The research reported here was supported by a grant from the Swiss National Research Foundation (No. 320000-117950) to JHJ Allum.
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Das Gleichgewichtssystem im Grenzbereich
Die Entstehung von Kinetosen S. Hegemann
Einleitung Die Erforschung der Bewegungskrankheit oder Kinetose ist lang, aber eine eindeutige oder nachweisbare Ursache liegt bis heute nicht vor. Schon der englische Begriff für Übelkeit, nausea, kommt vom griechischen Wort naus (= Schiff) oder vom lateinischen Wort nauta (= Seemann), bedeutet also eigentlich nichts anderes als See(manns)krankheit. Ein kurzer Hinweis, dass zur See zu fahren den Körper in Unordnung bringt findet sich bereits bei Hippokrates (Hippokrates, Aphorismen section 4; paragraph 14): „Sailing on the sea shows that motion disorders the body“, im Internet einzusehen in englischer Übersetzung unter http://classics.mit.edu/Hippocrates/aphor isms.4.iv.html) Die Seeleute hatten also offenbar schon immer mit der Seekrankheit, einer Unterform der Kinetose zu kämpfen, einer der bedeutendsten war Admiral Lord Nelson. Besondere Bedeutung hat heutzutage die Kinetose in der Raumfahrt, weil man gerne wissen möchte, welcher Astronaut zur Kinetose eher neigt und welcher nicht. Bedauerlicherweise bekommen fast alle Astronauten (73 %) in den ersten 2 – 3 Tagen des Weltraumaufenthaltes eine Kinetose[24] und es gibt bis heute weder einen geeigneten Test, dafür, wer besonders prädisponiert erscheint, noch ein Trainingsverfahren, welches der Kinetose dauerhaft vorbeugen kann oder wenigstens ein Medikament, das die Kinetose sicher verhindern kann. Natürlich gibt es Medikamente, die gegen Reisekrankheit nützlich sind, aber was genau dazu führt ist noch immer nicht sicher
bekannt und es gibt auch Übungen, die die Anfälligkeit zumindest kurzfristig reduzieren können, aber ein dauerhaftes Verfahren ist bisher nicht bekannt. Es gibt ein paar Parameter, die die Entstehung der Kinetose erleichtern und einige Hypothesen über ihre Entstehung. Der klare Beweis für den exakten Entstehungsmechanismus steht aber immer noch aus und es gibt bisher keinen Parameter von ausreichender Sensitivität oder Spezifität für die Vorhersage der individuellen Empfindlichkeit für Kinetose. Im Folgenden werden die bisherigen Hypothesen und Untersuchungsbefunde vorgestellt.
Definition und klinisches Bild der Kinetose Die Kinetose ist eine normale und physiologische Reaktion auf tatsächliche oder scheinbare Bewegung des Selbst oder der Umwelt[33]. Unterformen sind die Seekrankheit, welche allgemein als die stärkste Ausprägung gilt, etwa 25 – 30 % aller Passagiere werden in den ersten Tagen einer Atlantiküberquerung seekrank. Daneben kann es aber auch im Auto, im Flugzeug (insgesamt etwa 0,5 %, aber wenn sie in einem Flugzeug auftritt etwa 8 % aller Passagiere in diesem Flugzeug), in der Bahn (ca. 0.13 %) oder im Auto zur Kinetose kommen. Insbesondere bei den neuen Neigezügen tritt sie vermehrt (etwa in 5 – 30 %) auf[29]. Auch die visuelle Darstellung von vor allem linearer Bewegung wie in Flug- oder Fahrsimulatoren oder bei der Betrachtung virtueller Realität an
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Die Entstehung von Kinetosen
z. T. kopffixierten Displays löst häufig die Symptome einer Kinetose aus und wird dann als Simulatorkrankheit bezeichnet. Die Symptome sind zunächst zumeist leichtes Unwohlsein mit Magenbeschwerden, oft begleitet von Müdigkeit, wiederholtem Gähnen und körperlicher Blässe. Die Blässe ist wiederum oft begleitet von Kaltschweissigkeit, beides deutliche Zeichen einer Hyperaktivität des Sympathikotonus im autonomen Nervensystem. Es kommt häufig zu einer rapiden Verschlechterung mit Hypersalivation, Wärmegefühl, Schwindel, Würgreiz, wiederholtem Erbrechen und motorischen Koordinationsstörungen, Lethargie, Müdigkeit und Benommenheit. Depression und zurückgezogenes Verhalten mit verminderter kognitiver und psychomotorischer Leistungsfähigkeit können über Stunden anhalten. Letztere Symptome können auch isoliert, ohne die typischen Symptome der Reisekrankheit auftreten und werden dann als Sopite Syndrom bezeichnet. Die typischen Symptome der Kinetose hören zumeist wenige Stunden bis zu einem Tag nach Beendigung der auslösenden Ursache auf. Auch nach vollständiger Rückbildung der Symptome kann eine Sensibilisierung für auslösende Stimulationen bis zu mehreren Jahren erhalten bleiben. Im Prinzip kann jeder Mensch an einer Kinetose erkranken, aber es bleibt die Frage, warum manche insgesamt deutlich weniger anfällig sind als andere. Da die Symptome denen einer Nahrungsmittelvergiftung ähnlich sind wurde vermutet, dass es sich um einen in der Evolution entwickelten Prozess handelt, der den Körper durch Erbrechen vor dem vermeintlichen Gift schützen soll[38]. Es ist allerdings sehr fraglich, warum dann Kinder meist erst ab etwa 2 Jahren eine Kinetosebereitschaft entwickeln, welche üblicherweise etwa ab dem 12. Lebensjahr wieder deutlich rückläufig ist. Beim Fehlen der Kinetose bei Kindern unter 2 Jahren wird vermutet, dass sie die visuelle Information noch gar nicht für die Orientierung nutzen, und damit kein visuell-vestibulärer Mismatch entsteht, auf den später noch eingegangen wird.
Parameter, die eine Kinetose hervorrufen Eine Kinetose kann ausgelöst werden durch Bewegung allein oder durch unterschiedliche Informationen von verschiedenen Subsystemen, welche am Gleichgewichtsempfinden beteiligt sind, also vestibulären, visuellen und propriozeptiven Informationen. Die Art und Richtung der Bewegung und ihre Frequenz scheinen eine Rolle zu spielen wie mehrere Studien ergeben haben. Auslöser für Kinetose können sein: Lineare Bewegungen allein Eine einfache reine Vertikalbewegung kann Kinetose auslösen[1]. Mit einer Frequenz von 0.2 Hz löst sie schneller und mehr Kinetosesymptome aus als eine höher- oder niedriger frequente Oszillation[14] Auch bei einer großen (n=280) Untersuchung[30] mit rein vertikaler linearer Bewegungen bei Frequenzen zwischen 0.083 und 0.7 Hz traten die Symptome der Kinetose, gemessen an der „motion sickness incidence“ (MSI) am stärksten bei einer Frequenz von 0.167 Hz auf und waren auch abhängig von der Beschleunigung (0.0278 bis 0.55 g). Diese Ergebnisse sind in etwa ähnlich wie die Arbeit von Griffin et al, welche die Grundlage für den „British Standard 6841“ bildet[17]. In einer älteren Studie trat aber bei einer vertikalen Oszillation von 33 Zyklen/min, also 0.55 Hz keine Kinetose mehr auch auf[26]. Auch niederfrequente lineare horizontale Bewegungen können Kinetose hervorrufen[13], [15], allerdings fanden andere Forscher keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Frequenz der Oszillation (zumindest zwischen 0.3 und 0.8 Hz) und der Kinetoseentstehung, sondern eher einen Effekt der Spitzengeschwindigkeit der horizontalen Bewegung[18]. In dieser Studie spielte auch die Richtung der linearen horizontalen Bewegung – vor/zurück oder seitlich – offenbar keine wesentliche Rolle. Studien mit Parallelschaukeln haben wiederum einen Zusammenhang mit dem Radius und der Frequenz der Schau-
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Abb. 1 Aufbau einer Parallelschaukel (Beispiel aus der HNO-Klinik der Friedrich-Schiller-Universität Jena)
kelbewegung gesehen, der bei 15 Zyklen/ min (= 0.25 Hz) und 15 ft (=4.572 m) stärker ausgeprägt war als bei höheren oder niedrigeren Frequenzen. Es wurde auch auf eine Beteiligung der angulären Komponenten hingewiesen. Wie Abb. 1 zeigt, besteht ausser der leichten angulären Komponente auch eine geringe vertikale Bewegung bei einer Parallelschaukel. Insgesamt scheint also eine niedrige Frequenz um etwa 0.2 Hz sowohl bei vertikalen als auch horizontalen linearen Beschleunigungen besonders stark eine Kinetose auslösen zu können und zeitgleiche lineare und anguläre Beschleunigung scheint ebenfalls eine Rolle zu spielen. Rein rotatorische Bewegungen Auch rein rotatorische Bewegungen können Kinetose auslösen, wie z. B. rein vertikale oder horizontale Bewegungen[36], [39], [40]. Allerdings ändert sich bei Rotationen um eine horizontale Achse auch die Richtung der Erdanziehung in Bezug zum gedrehten Subjekt, was auch einer linearen Beschleunigung entspricht. Ebenso können rein torsionelle Bewegungen Symptome auslösen. Allerdings scheint dabei die Übelkeit nicht signifikant von der Frequenz der Bewegungen abhängig zu sein. Gewöhnlich ist die Kinetose bei rein torsionellen Oszillationen geringer als bei translationalen oder kombinierten
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Oszillationen[23]. Bei Astronauten können Symptome der Kinetose auch häufig durch Kopfbewegungen ausgelöst werden, bei denen ja in der Mikrogravitation keine Reizung der Bogengänge oder Otolithenorgane vorliegt und damit keine vestibuläre Stimulation besteht[34]. Möglicherweise führt eben das Fehlen der erwarteten vestibulären Stimulation zu den Symptomen. Auch die Auslösung von Kinetose bei Untersuchungen auf Drehstühlen mit umgebender optokinetischer Trommel ist möglich, allerdings selten, wenn die Bewegung keine Änderung der subjektiven Vertikalen verursacht. Corioliseffekt, oder gekoppelte Bewegung in zwei Ebenen Die Auslösung einer Kinetose durch aktives Kopfnicken oder Kopfrollen während einer Drehung um eine vertikale Achse ist seit langem bekannt[5], [20], [21], [31], [41].. Wiederholte Exposition zu solchen kombinierten Bewegungen führt auch zu einer deutlichen Gewöhnung mit nachlassender Kinetose. Ein klassischer experimenteller Aufbau ist der langsam rotierende Raum (s. Abb. 2). Als möglicher Auslöser dieser Art der Kinetose wird ein vestibulärer Missmatch vermutet, welcher vermutlich durch den Corioliseffekt ausgelöst wird. Die Corioliskraft ist eine Scheinkraft. Sie wirkt auf jeden Körper, der sich in einem rotierenden Bezugssystem bewegt. Erstmals wurde sie 1835 von Gaspard Gustave de Coriolis mathematisch beschrieben. Tatsächlich wird sie nur von einem Beobachter als Kraft empfunden, welcher die Bewegung seiner Umwelt nicht korrekt wahrnimmt, der sich also der Drehung eines Raumes wie eines Flugzeugs oder einer Eisenbahn nicht bewusst ist, sondern nur seiner eigenen Bewegung innerhalb dieses Raumes. Für einen außenstehenden Beobachter, der beide Bewegungen korrekt erkennt ist es eine normale Beschleunigungskraft und heißt auch nicht Corioliskraft. Die Richtung der Corioliskraft ist senkrecht zur Bewegungsrichtung des Körpers als auch zur
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Abb. 2 Sie zeigt eine Person, die in einem sich langsam horizontal drehenden Raum (slow rotating room, SRR) auf einer Linie geradeaus gehen möchte und den Kopf dabei senkt, um die Linie zu sehen. Sie erhält eine unerwartete Bewegungsmeldung für eine Kopfrollung zur Seite, welche durch die Corioliskraft in den Bogengängen ausgelöst wird, da der Kopf gleichzeitig zwei Rotationen in verschiedenen Achsen – horizontal und vertikal – ausgesetzt ist. Während der Kopfneigung stimmt also die von den Bogengängen gemeldete Bewegungsrichtung nicht mit der von den Otolithen gemeldeten überein und es kommt zu einem sehr unangenehmen Gefühl der Kopfrollung um die occipitonasale Achse, welche nicht durchgeführt, aber empfunden wird. Bei dieser Reizung tritt auch Augenverrollung auf. Nach einigen Tagen in einem SRR tritt eine Adaptation auf mit einer Änderung der Drehachse der Augen. Offensichtlich besteht eine gute Adaptationsfähigkeit des menschlichen Orientierungssystems. Neue, ungewohnte Situationen, welche der Erwartungshaltung nicht entsprechen lösen dementsprechend die Kinetose aus. aus [20]
Rotationsachse des Bezugssystems. Ihr Betrag ist proportional zur Masse des bewegten Körpers, zur Rotationsfrequenz und zur Projektion des Geschwindigkeitsvektors auf die Ebene senkrecht zur Rotationsachse. Sind Bewegungsrichtung und Rotationsachse parallel, ist sie null. Corioliskräfte treten im Gleichgewichtssystem auf, wenn z. B. während einer
horizontalen Drehung der Kopf vertikal bewegt wird, z. B. Kopfnicken. Solche Kräfte ändern die Richtung des Schwerkraftvektors und damit der empfundenen Vertikalen, was aber vom visuellen System nicht bestätigt werden kann, es entsteht also ein scheinbarer Widerspruch zwischen den wahrgenommenen und gesehenen Informationen. Da diese Symptome aber auch bei geschlossenen Augen auftreten, gibt es auch einen intervestibulären Missmatch (s. Abb. 1). Dieser wird als eine Folge einer Diskrepanz zwischen der von Otolithen und Halsrezeptoren gemeldeten Kopfneigung und der Richtung des angulären Beschleunigungsvektors, wie er von den Bogengängen gemeldet wird, angesehen[19]. Es gibt Hinweise, dass nicht die Kopfneigung alleine verantwortlich ist, sondern nur, wenn der Kopf aus der vertikalen Drehachse herausbewegt wird. Z. B. macht die Kopfdrehung zur Seite in aufrechter Position so gut wie keine Übelkeit. Kopfverrollung auf die Schulter oder Kopfneigung löst aber deutliche Kinetosesymptome aus bei einem Körper, der sich im Liegen um die Sehachse dreht. Rein visuelle (optokinetische) Stimulation Auch rein visuelle Stimulationen können Kinetose verursachen, sind aber keine zwingende Voraussetzung. So tritt Kinetose auch bei Blinden in etwa gleicher Häufigkeit und Stärke auf wie bei Normalsichtigen[16]. Angaben, dass ein rein horizontaler optokinetischer Reiz Kinetose auslösen kann ist beschrieben, aber nicht unbestritten[4]. Derartige optokinetische Reize können auch einen Pseudo-Corioliseffekt auslösen[11]. Wenn der optokinetische Reiz allerdings die empfundene subjektive Vertikale beeinflusst, so tritt allerdings gesichert Kinetose auf entsprechend der „subjective vertical conflict theory“[2], [3].
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Abb. 3 Sie zeigt, welche Empfindungen durch Corioliskräfte ausgelöst werden. In Seitenlage (oben links) besteht kein Bogengangssignal, aber ein Schwerkraftsignal, welches die Vertikale angibt, welche mit der Erdanziehung übereinstimmt. Bei konstanter Drehgeschwindigkeit zeigen die vertikalen Bogengänge zunächst eine Bewegung an, welche aber nach dem Erreichen der konstanten Geschwindigkeit und dem Abklingen der Verlängerung durch den Geschwindigkeitsspeicher abklingt, sodass nach etwa einer Minute kein Signal über Drehbewegung mehr vorhanden ist. Wenn nun der Stuhl erneut um die Sehachse kippt, entsteht ein Signal der vertikalen Bogengänge, aber durch die Drehung um die Senkrechte (Horizontaldrehung), welche nicht mehr von den BG gemeldet wurde, entsteht nun im horizontalen Bogengang ein Signal. Die Kombination der Bogengangssignale ergibt eine schräge Drehachse, welche aber auch der Meldung über die Vertikale aus den Otolithenorganen widerspricht. Das Subjekt kann also die gesehene Änderung der Bewegung nicht mit der vom Vestibularsystem wahrgenommenen in Übereinstimmung bringen und bei geschlossenen Augen auch nicht die Information der Bogengänge und der Otolithen, es entsteht also ein visuell-vestibulärer und intravestibulärer Missmatch, der eine Kinetose auslösen kann. Siehe dazu auch Abb. 3 Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. D. Straumann, Universität Zürich
Parameter, die mit der Kinetosebereitschaft zusammenhängen Gleichgewichtsorgane, vestibuläre Überstimulation Zunächst sollte erwähnt werden, dass die vestibulären Signale eine wesentliche Rolle bei der Entstehung einer Kinetose spielen. Sind
nämlich beide Vestibularorgane vollständig ausgefallen, so tritt auch keine Kinetose mehr auf[8], [27]. Damit sind die vestibulären Signale offensichtlich von ausschlaggebender Bedeutung. An Tieren wurde experimentell nachgewiesen, dass auch der alleinige Ausfall der Bogengänge das Auftreten einer Ki-
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netose verhindert[28]. Bedauerlicherweise wurde die isolierte Ausschaltung der Otolithenorgane noch nicht untersucht. Bisher liegen nur wenige Studien[36] zur Otolithenfunktion und Kinetoseneigung vor, z. B. konnte eine deutliche Korrelation zwischen asymmetrischer Otolithentestung und der Neigung zur Kinetose beobachtet werden[9] und dieselbe Forschergruppe stellte auch eine Instabilität der Augenverrollung bei Astronauten mit erhöhter Kinetoseneigung fest[10]. In neuerer Zeit fanden sich auch Hinweise für einen Zusammenhang von Sakkulusdysfunktion und Kinetoseneigung[36], welche allerdings noch nicht eindeutig bestätigt wurde. Bisher geht man eher davon aus, dass einseitige Otolithenläsionen zwar kurzzeitig eine Störung verursachen können, aber relativ schnell kompensiert werden. Ob diese Kompensation nur für die normalen Alltagsbewegungen ausreichend ist und eine starke vestibuläre Reizung dann doch zur Kinetose führen kann wurde vermutet, konnte aber noch nicht eindeutig nachgewiesen werden. An Fischen konnten signifikante Unterschiede in der Otolithenmasse (bis zu 75 %) zwischen rechter und linker Seite gefunden werden[22] eine direkte Korrelation zur Kinetose wurde bisher nicht veröffentlicht, besteht aber nach persönlicher Mitteilung durch Prof. Dr. H. Scherer, Berlin. Nur bei spezifischen Tests mit einseitiger Otolithenstimulation (OVAR, exzentrische Rotation) ist auch eine länger bestehende otolithäre Unterfunktion nachweisbar. Entsprechende Untersuchungen an Kinetosepatienten und Gesunden stehen aber noch aus. Die vestibuläre Überstimulation wird also weiterhin von einigen Autoren als Ursache vermutet, wurde aber bisher nicht ausreichend wissenschaftlich belegt. Migräne Migränepatienten leiden deutlich stärker und häufiger an Symptomen der Kinetose als andere Menschen[12], [25]. So sind viele Migräniker bereits als Kind und häufig lange vor
den ersten Migräneattacken von starker Bewegungsempfindlichkeit geprägt. Oft vermeiden solche Kinder Schaukeln oder Karussell fahren und auch im Auto wird ihnen schneller schlecht. Interessanterweise ist die Kinetose nicht gehäuft bei Patienten mit vestibulären Störungen wie gutartigem Lagerungsschwindel, M. Meniere oder einseitiger Vestibulopathie. Zeitkonstante des zentralen Geschwindigkeitsspeichers Vor kurzem wurde der zentrale Geschwindigkeitsspeicher mit einer erhöhten Kinetoseneigung in Verbindung gebracht. Nach Untersuchungen wurde eine deutliche Korrelation zwischen der Dauer und Stärke auftretender Kinetose und der Zeitkonstanten des zentralen Geschwindigkeitsspeichers gefunden[7]. Außerdem konnte gezeigt werden, dass wiederholte Stimulation zu einer deutlichen Abnahme der Kinetose und zu einer deutlichen Reduktion der Zeitkonstante des zentralen Geschwindigkeitsspeichers führt, dass also eine Korrelation zwischen den beiden Parametern besteht. Es ist bekannt, dass Eiskunstläufer, Tänzer und Akrobaten die Zeitkonstante des Geschwindigkeitsspeichers adaptiv verkürzen und nahezu jede Kopfbewegung machen können, während sie sich bewegen. Offensichtlich spielt der Zeitfaktor damit eine wichtige Rolle bei der Kinetoseentstehung. Da sich die Vertikale für den Geschwindigkeitsspeicher nahe der Erdvertikalen befindet, es aber bei Kopfbewegungen während Rotation (Coriolis Effekt) zu einer davon deutlichen Abweichung der Augenbewegung kommt, wurde dieser Konflikt als Ursache für die Kinetose vermutet. Parameter ohne Korrelation zur Kinetose Es wurde bereits eine Reihe von Parametern untersucht, welche keine signifikante Korrelation mit der Anfälligkeit für eine Kinetose gezeigt haben. Dazu zählen der vestibulooculäre Reflex (VOR), die Speichelsekretion, die Variation der Herzfrequenz und des Blutdrucks, hormonelle Faktoren und die myoelek-
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trische Magenaktivität sowie Änderungen der posturalen Stategie[37]. Hypothesen für Kinetoseentstehung Sensorische Rearrangementtheorie oder zentrale Missmatch Theorie Eine sehr verbreitete und allgemein anerkannte Theorie für die Entstehung der Kinetose ist die sensorische Rearrangementtheorie oder zentrale Missmatch Theorie[33], [32]. Sie besagt, dass es bei allen Situationen, welche Kinetose auslösen, zu einer Inkongruenz von aktuellen Bewegungsinformationen aus visuellem, vestibulärem und sensorischem System im Vergleich zu den erwarteten Informationen kommt, die auf gespeicherten Daten von früheren Transaktionen mit der räumlichen Umwelt (also Bewegungen) basieren. Es handelt sich also um einen ungewohnten Konflikt zwischen aktuellen und bekannten Sinneswahrnehmungen. Diese Signale treffen aufeinander in den vestibulären Kernen, dem Kleinhirn, Thalamus und parietalen Kortex und werden vom Gehirn integriert zu einem einheitlichen Signal, welches die Orientierung im Raum angibt. Von einigen Wissenschaftlern wird auch ein neuraler Speicher für erwartete Bewegungsreize vermutet[36], [35]. Nach Reason und Brand werden zwei Hauptkategorien für Bewegungsinformationen aus verschiedenen Sinnessystemen beschrieben, der visuell-vestibuläre Mismatch und der intrasensorische Mismatch z. B. bei ungleichen Informationen aus dem Otolithen und Bogengangssystem. Diese Kategorien werden weiter in zwei Typen unterteilt. Typ I ein Widerspruch zwischen zwei zeitgleichen Bewegungsmeldungen und Typ II Bewegungsmeldung aus einem Sensor ohne die zu erwartende Bewegung aus dem zweiten Sensor, wie dies z. B. bei einer einseitigen kalorischen Reizung auftritt. Auch ein Widerspruch zwischen vestibulärem und propriozeptivem System erscheint möglich.
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Sensorischer Konflikt für die subjektive Vertikale Besonderer Wert wird von einigen Forschern auf den Konflikt zwischen der aktuell wahrgenommenen Vertikalen und der subjektiven Vertikalen (SV) gelegt, welche auf der Basis früherer Erfahrungen bestimmt wurde und so gespeichert ist[3]. Demnach werden die Symptome durch alle Situationen ausgelöst, in denen die gefühlte SV, welche durch die integrierte Information aus allen Systemen gebildet wird, nicht mit der nach früherer Erfahrung erwarteten SV übereinstimmt. Dieses Model ist im Prinzip eine Erweiterung der bisherigen Modelle zur sensorischen Konflikttheorie. Was dadurch allerdings nicht erklärt werden kann sind Kinetosen bei reiner Vertikalbewegung, die ja vollkommen mit der objektiven und subjektiven Vertikalen übereinstimmen. Auch bei der Auslösung durch Bewegung allein wird ein sog. vestibulärer Mismatch vermutet wie etwa die Differenz von Informationen der Otholitenorgane und der Bogengänge. Dabei sind Corioliskräfte von besonderer Bedeutung. Eventuell liegt aber auch hier der Mismatch vorwiegend im Unterschied der Vertikalen für den Geschwindigkeitsspeicher und der aktuell empfunden Vertikalen. Insgesamt besteht also ein multimodales System, welches die Aufgabe hat, die Bewegung des Individuums gegenüber seiner Umwelt zu berechnen. Treten dabei für das Individuum nicht klar erkennbare Widersprüche auf, kommt es zur Kinetose. Zusammenfassung Trotz erheblicher wissenschaftlicher Beschäftigung mir dem Thema ist es auch in bisher etwa 100 Jahren nicht zu einer klaren und eindeutigen Ursachenbestimmung der Kinetose gekommen und es kann nicht sicher bestimmt werden, wer zur Kinetose neigt und warum und wer nicht. Sie ist zwar prinzipiell bei jedem außer den Patienten mit beidseitigem Vestibularisausfall auslösbar, und eine rasche Adaptation bei wiederholter Exposition ist ebenfalls normal, aber die genaue Erklärung
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fehlt. Die bisher am meisten anerkannte Hypothese ist die Rearrangementtheorie von Reason und Brand. Für wirklich interessant halten wir den Zusammenhang mit dem Geschwindigkeitsspeicher. Diese Theorie fasst eigentlich die Missmatchtheorie und die Bedeutung von wahrgenommener und gespeicherter Vertikalen zusammen und sie kann sogar einen Ort im Gehirn benennen, an dem die Signale verarbeitet werden, aber ob sie wirklich alle Aspekte erklären kann, ist noch unklar. Man kann die Symptome der Kinetose zwar behandeln, aber die bisher immer noch unklare Ursache natürlich nicht. Grundsätzlich ist gutes vestibuläres Training und die Gewöhnung an den Stimulus hilfreich, aber Admiral Nelson, der ja nun wirklich nicht selten auf See war, hat sich nie daran gewöhnen können. Warum bleibt eine offene Frage.
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Schwindel auf See M. Westhofen
Einleitung Definitionen und Klassifizierung Als Seekrankheit wird die Kinetose bezeichnet, die während einer Seereise auftritt und nach deren Beendigung unmittelbar rückläufig ist. In der Regel klingen die Symptome innerhalb weniger Stunden nach Anlandung ab. Die Intensität der Beschwerden ist durch eine Reihe von Faktoren beeinflusst. Die Beschwerden werden durch das Labyrinth, weit überwiegend durch Reizung der Maculaorgane vermittelt. Schiffsbewegungen sind durch die Kombination rotatorischer und linearer Beschleunigung gekennzeichnet. Abhängig von Schiffsgröße, Wasser- und Windverhältnissen sowie dem gelaufenen Kurs treten für das Labyrinth Stimuli unterschiedlicher Intensität und Frequenz auf. Abhängig von der Position des Passagiers an Bord tritt eine Diskrepanz der sensorischen Erregung im Labyrinth und der Wahrnehmung von Bewegung und Lage im Raum auf. Ursachen liegen zum geringeren Anteil in der neuralen Organisation des vestibulären Systems, weit überwiegend aber in der Komplexizität der Bewegungen des Kopfs und Körpers im Raum unter Einwirkung der Schwerkraft begründet. Die auf die Haarzellen einwirkenden Kräfte folgen physikalischen Gesetzmäßigkeiten, den Bewegungsgesetzen. Da die Erregungsschwellen des Labyrinths und des vestibulären Systems bekannt sind, kann die Entstehung der Seekrankheit anhand der Richtung und Intensität der Schiffsbewegung mittels Modellberechnungen vorausgesagt werden.
Demgegenüber ist das Mal de Debarquement Syndrom dadurch gekennzeichnet, dass Beschwerden erstmalig nach Abschluss der Seereise auftreten. Dabei handelt es sich somit um eine Erkrankung, die vestibulär gesunde Passagiere nach einer Seereise an Land befällt. Die Erkrankung tritt niemals während der Seereise auf (vergl. unten). Neben der Seekrankheit treten Kinetosen abhängig von der jeweiligen StimulationsSituation, der sie folgen, als Reisekrankheit zu Lande oder bei Flugreisen, als Raumkrankheit bei Flugreisen ohne Einwirken der vollständigen Erdschwere (g) und als Simulatorkrankheit auf. Die Entstehung der Kinetose ist an die Funktion oder zumindest Teilfunktion des Labyrinths gebunden. Patienten mit bilateralem vollständigem Labyrinthausfall können keine Kinetose erleiden. Kinetosen treten als Folge inadäquater Stimulation des vestibulären Systems unter Beteiligung aller Afferenzen auf. Dabei entsteht eine Diskongruenz der im Zentralnervensystem codierten und verarbeiteten Informationen der drei Modalitäten Labyrinthsensorik, bestehend aus Cristae und Maculae, Visus und Propriozeption.
Pathophysiologie der Seekrankheit Mismatch Konzept der Kinetosen Das historisch früher entwickelte Konzept des Mismatchs der drei sensorischen Modalitäten kann die Pathogenese der Kinetose nicht hinreichend erklären. Schließlich kann das
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Schwindel auf See
Krankheitsbild auch dann auftreten, wenn dem Individuum simultan adäquate visuelle, labyrinthäre und propriozeptive sensorische Informationen in vollem Umfang zur Verfügung stehen und diese zu einem kongruenten Sinneseindruck verarbeitet werden können. Man denke nur an die kurvenreiche Fahrt auf dem Beifahrersitz eines offenen Sportwagens. Darüberhinaus erklärt das Mismatch-Konzept nicht, dass Kinetosen während vergleichbarer Reizbedingungen unter Schwerkraft deutlichere Beschwerden verursachen als unter Schwerelosigkeit. In diesem Zusammenhang haben Erkenntnisse aus der Raumfahrt und experimentelle Untersuchungen zur Klärung der Pathogenese der Kinetosen beigetragen. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass das Zentralnervensystem zur Decodierung der vestibulären Informationen komplexe interne Modelle heranzieht, die weit über die gemeinsame und simultane Wahrnehmung visueller, labyrinthärer und propriozeptiver Sinneseindrücke hinausgehen. Die Kinetose kann experimentell sogar ausgelöst werden, indem isolierte visuelle Signale dargeboten werden und Kopf- oder Körperbewegung durch Fixierung vermieden wird[12]. Simulatorkrankheit als Modell für visuell labyrinthäre Interaktion Bei labyrinthärer Bewegungsreizung tragen visuelle Informationen nur gering zur Stabilisierung und Kompensation der Sinneswahrnehmung bei[12], [7]. Die Anfälligkeit Blinder und Individuen mit ungestörtem Visus für Kinetosen ist statistisch identisch. Die integrative Verarbeitung visueller und labyrinthärer Informationen im vestibulären System wird durch deren zeitliches Verhalten erkennbar. Während der Exposition in einem Seefahrt-Simulator bestehen innerhalb der ersten 5 min. keine Unterschiede der Kinetose-Intensität bei Probanden, die verblindet sind und solchen, die in unter-Deck-Situation visuell orientiert sind[6]. Wenn allerdings allein durch visuelle Stimulation ohne physikalische Bewegung des Kopfs und Körpers die visuelle Wahrnehmung
von Körperschwankung vermittelt wird, wird die vestibulospinale Regulation so stark beeinflusst, dass abnorm starke Körperschwankung beobachtet werden kann. Dabei wird die propriozeptiv subjektiv wahrgenommene Zone maximaler Druckeinwirkung auf den Körper in Abhängigkeit von der Kinetoseempfindlichkeit verlagert. Es kommt somit durch die visuell ausgelöste Kinetose zu der nicht adäquaten propriozeptiven Wahrnehmung des Körperschwerpunkts[2]. Das Ausmaß der so induzierten vestibulospinalen Reaktion ist mit der Anfälligkeit eines Individuums für Kinetose korreliert. Da es sich nicht um bewegungsinduzierte Kinetose handelt, wird diese Form der Bewegungskrankheit als Simulatorkrankheit bezeichnet. Corioliskräfte und „Cross Coupling“ im vestibulären System Bilaterale labyrinthäre Reizung durch galvanische Stimulation mit unregelmäßigem Muster verursacht eine Beeinträchtigung des Stehens mit Beschwerden der Bewegungskrankheit, die in ähnlicher Weise bei Astronauten nach der Landung gesehen wird. Dieser Effekt hält nur im Intervall der galvanischen Stimulation an[16]. Die Kinetose wird somit durch räumliche und zeitliche Reizbedingungen ausgelöst, die das physiologische Muster rotatorischer und linearer Bewegung sowie propriozeptiver und visueller Reizung stören. Dabei kommt es während anhaltender Rotation um die Körperlängsachse nicht allein zu Reizung des lateralen Bogengangs, sondern zu Mitreizung weiterer Bogengänge, wenn der Kopf seitlich geneigt wird. Vergleichbare Reizmuster treten durch Schiffsbewegungen auf. Ursache ist die Corioliskraft, die zu bogenförmiger Beschleunigung bei Einwirkung linearer, d. h. geradliniger Kräfte auf rotierenden Systemen führt. Der Effekt wird als Übersprechen (cross-coupling) bezeichnet. Der Beitrag, den die Corioliskraft zur Kinetose liefert, wurde in Vergangenheit vielfach überschätzt. Das cross-coupling Phänomen ist allerdings nicht in der Lage, zu erklären, warum bei jeweils gleichgerichteter
Schwindel auf See
Kopfkippung die Kinetose weitaus stärker bei simultan einwirkender rotatorischer Beschleunigung als bei Entschleunigung auftritt. Modellrechnungen labyrinthärer Reizung durch Coriolis-Kräfte Daher wurden mathematische Modelle vorgestellt, die die Wirkung von Bewegungen des Kopfs auf Linearbeschleunigungsrezeptoren und Drehbeschleunigungsrezeptoren in jeweils drei Ebenen berücksichtigen. Dabei fanden Seitwärtskippungen des Kopfs unter gleichzeitiger Rotation besondere Berücksichtigung. In dieser Situation wirken die Rotationsbeschleunigung und die lineare Erdbeschleunigung auf das Labyrinth ein. Dabei treten die Geschwindigkeit sowie nach dem Newton’schen Bewegungsgesetz für die Rotation die Zentripetalkraft auf. Zusätzlich wirkt die Schwerkraft ein. Aus dem Kräfteparallelogramm der Schwerkraft und der Zentripetalkraft resultiert ein Kraftvektor, der als gravitoinertiale Kraft bezeichnet wird. Diese Kraft wirkt effektiv auf die Maculaorgane ein, wenn der Kopf Rotationsbewegungen ausgesetzt und gleichzeitig gekippt wird, während die Schwerkraft einwirkt. Aus den simultan einwirkenden Kräften und Drehbeschleunigungen können die effektiven Kräfte berechnet werden, die auf das Labyrinth einwirken. Dabei muss zusätzlich der Einfluss der Zeitkonstanten des zentralnervösen Integrators berücksichtigt werden. Je kleiner die Zeitkonstante des Integrators eingestellt ist, umso anfälliger ist das Individuum gegenüber Beschleunigung während einer Seefahrt. Labyrintherkrankungen führen in der Akutphase zu einer deutlichen Reduzierung der Zeitkonstanten des vestibulookulären Reflexes. Im Laufe der erfolgreichen vestibulären Kompensation vergrößert sich die Zeitkonstante. Nicht in allen Fällen wird die Ausgangslage wieder erreicht. Die Zeitkonstante kann bei rotatorischen Tests bestimmt werden. Durch die gleichzeitige Einwirkung der linearen und rotatorischen Beschleunigung in den drei Raumebenen ergibt sich eine Richtungs-
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abweichung zwischen den real einwirkenden Kräften auf das Labyrinth und den propriozeptiv wahrgenommenen Kräften. Dadurch sind die vom Passagier wahrgenommenen Krafteinwirkungen und die messbar angreifenden Kraftvektoren nicht gleich ausgerichtet[15], [14]. Da die labyrinthären Sensororgane wie Messsensoren die angreifenden Kraftvektoren erfassen und an das vestibuläre System weitergeben, resultiert eine Diskrepanz der Daten zwischen labyrinthären Sensororganen (Cristae und Maculae) und der propriozeptiv dominierten Wahrnehmung der Lage der Vertikalebene. Diese Diskrepanz der Lage- und Lageänderungsinformation im Raum wird für lineare Beschleunigung als stretch-Faktor, für rotatorische Beschleunigung als twist-Faktor bezeichnet[14]. Sie ist dominierender Auslöser für die Kinetose. Habituation und Adaptation Durch Habituation und Adaptation können die Symptome der Kinetose gemindert werden. Hierzu ist bei anhaltender Reizung des vestibulären Systems ein Zeitintervall von 3 – 5 Tagen notwendig. Nach Sistieren der Bewegungsreize hält die Habituation ebenfalls für ca. 3 – 5 Tage an. Habituation ist als wesentliche Einflussgröße auf Kinetose-Beschwerden bekannt. Die Habituation ist medikamentös nicht zu beeinflussen. Habituation ist demgegenüber durch wiederholte Exposition gegenüber rotatorischen und linearen Bewegungen deutlich zu steigern, wodurch die Anfälligkeit für Kinetose deutlich abnimmt[10]. Die Habituation und verbesserte Toleranz gegenüber Bewegungsreizen gehen einher mit deutlicher Abnahme der Zeitkonstanten des velocity storage Mechanismus[10]. Die Abnahme der Zeitkonstanten führt zu einer Verschiebung des optimalen Frequenzbereichs für vestibulookuläre Reflexe hin zu höheren Frequenzen. Die Zeitkonstante kann im Rahmen rotatorischer, erschwert auch kalorischer Prüfungen aus videookulografischen Messwerten berechnet werden. Der physiologische Frequenzbereich für die Funktion des vestibulookulären Reflexes
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Schwindel auf See
wird mit 0,05 – 5 Hz angegeben. Die Anfälligkeit für Seekrankheit und andere Kinetosen ist maximal bei Stimulationsfrequenzen von 0,2 Hz (0,125 – 0,25) vor allem für lineare Beschleunigung[18], [20]. Im Regelfall stellt die Zeitkonstante des zentralnervösen Integrators die Selektion vestibulärer von vibratorischen und akustischen Erregungen des Labyrinths ein. Für das vestibuläre System ist die Abstimmung Optimumfrequenzbereiche der peripheren Sensororgane und der zentralnervösen Integratorfunktion funktionsbestimmend. Die Cristae und Maculae sind frequenzspezifisch arbeitende Sensororgane mit jeweils unterschiedlichen Frequenzbereichen. Diese sind durch die jeweiligen Zeitkonstanten der Bogengänge und der Otolithenorgane definiert, die sich von der o. g. Zeitkonstanten des zentralnervösen Integrators unterscheiden. Für die gemeinsame Funktion der Bogengänge und Otolithenorgane wurden Modelle der Canal-Otolith-Interaktion entwickelt[4]. Dabei kommt es zu Konvergenz maculärer und cristärer Neurone, wobei sowohl die räumliche Orientierung des Labyrinths als auch die Stimulationsfrequenzen linearer und rotatorischer Beschleunigung die vestibulären Reizantworten bestimmen[3].
Klinisches Bild der Seekrankheit Als Symptome der Kinetose treten Claustrophobie, Hitzegefühl, Schwitzen, Kopfschmerz, Blässe, Speichellaufen, Schwindelgefühl, Übelkeit, Erbrechen und unangehme Bewegungsempfindung auf[13]. Für die objektive Erfassung der Beschwerden wurden Inventare entwickelt, die einen intra- und interindividuellen quantitativen Vergleich der Kinetose-Beschwerden zulassen. Darüberhinaus wurden insbesondere für die Beurteilung von Seeleuten Inventare für die Anfälligkeit gegenüber der Seekrankheit entwickelt[5].
Neuropharmakologie Das zeitlich protrahierte Auftreten der Kinetose nach Bewegungsreizen wird zum einen den o. g. neuralen Mechanismen im Cerebellum und Nucleus vestibularis zum anderen der Synthese von Transmittern im vestibulären System zugeschrieben, die bis zum Erreichen der Zielkonzentration für das Auslösen der Symptome kritische Zeitintervalle benötigen. In diesem Zusammenhang werden u. a. Glutamat-, Acetylcholin- und Serotoninrezeptoren genannt[21]. Während Glutamat und Acetylcholin agonistisch, insbesondere an Neuronen des Nucleus vestibularis bei Otolithenreizung wirken, hat Serotonin über die pharmakologisch zugänglichen 5-Hydroxytryptamin (Serotonin) Rezeptoren 1A hemmenden Einfluss. Die Symptome der Seekrankheit mit Übelkeit und Erbrechen sowie Unwohlsein werden über die Area postrema am Boden des vierten Ventrikels in Nachbarschaft des Nucleus vestibularis sowie durch den Hippocampus generiert. N-Acetyl-Aspartylglutamat und Acetylcholinesterase nehmen lokal nach intensiven Bewegungsreizen ab, während Aspartat und 5-Hydroxytryptamine lokal im Nucleus vestibularis zunehmen[22]. Die geänderten Konzentrationen der Neurotransmitter im Zentralnervensystem wurden im Tierversuch nach 60minütiger Rotation beobachtet. Die Symptomatik im Tierversuch ist dem humanen Krankheitsbild vergleichbar. Die neurale Vermittlung der Transmitterfreisetzung ist das Ergebnis vestibulärer Reflexe, die innerhalb des vestibulären Systems unter physiologischen Bedingungen Blickstabilisierung, Orientierung im Raum und Statomotorik organisieren. Vestibularfunktion bei Seefahrt Anarchisis, der Bruder des Königs Cacuides von Scythien, berichtet bereits im 6. Jahrhundert a. d. seine Erfahrungen während Seereisen als Philosoph, dass es drei Gruppen von Passagieren während schwerer See gebe, die Lebenden, die Toten und die Seekranken. Seither wurde von zivilen und militärischen
Schwindel auf See
Seefahrern und Medizinern eine Vielzahl von Erklärungen zur Entstehung, Vermeidung und Behandlung mitgeteilt. Jährlich reisen nach aktuellen Schätzungen ca. 10 Mill. Passagiere pro Jahr auf ca. 230 Passagierschiffen. Seekrankheit betrifft ca. 25 – 30 % aller Passagiere innerhalb der ersten 3 – 5 Tage während einer Atlantik-Kreuzfahrt. Bei 7 % der Passagiere, die den Ärmelkanal überqueren, tritt Seekrankheit auf, 21 % geben Unwohlsein an. Das Altersmaximum der Seekrankheit liegt bei männlichen Passagieren bei 23 Jahren, bei weiblichen um das 14. Lebensjahr. Als Prädilektionsfaktoren gelten: x Individuelle Dispositon x Asiatische Abstammung x Weibliches Geschlecht x Junges Lebensalter x Kurze Bootslänge x Lange Wellendistanz x Rollen, Stampfen, Gieren des Schiffs gleichzeitig x Unruhige See mit Sturm x Motorschiff x Küstennähe. Die Wahrscheinlichkeit, durch eine Schiffsreise mit definierter Schiffsbewegung Seekrankheit auszulösen, ist anhand mathematischer Formeln zu berechnen. Zur Auswertung der Rechenergebnisse stehen Diagramme bereit, die zuverlässige Daten zur Voraussage liefern[19]. Die Überlegenheit von Segelschiffen gegenüber Motorschiffen vergleichbarer Dimension ergibt sich daraus, dass wegen des Kiels und Riggs die periodischen Schiffsbewegungen des Seglers mit längerer Periodendauer und impulsartige Bewegungen gedämpft ablaufen. Dadurch ergeben sich Frequenzen des Rollens und vor allem des Stampfens von geringerer Frequenz. Bei höherer Stimulationsfrequenz als die o. a. 0,25 Hz nimmt nämlich die Wahrscheinlichkeit Seekrankheit auszulösen deutlich zu.
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Abschätzen der Seekrankheit aus den Reisedaten Für die dataillierte Berechnung steht folgende Formel bereit: S ........ momentaner Weg des Körpers (m) So ...... Amplitude des Weges der Bewegung. Hier gilt der Spitzenwert, also vom Mittelpunkt in eine Richtung. Z. B: Eine Person welche im stampfenden Schiff eine Gesamtbewegung von 0,4 Meter macht, hat ein „So“ von 0,2 Meter vom Mittelpunkt auf und ab. t ........... Zeit (s) T .......... Periode der Bewegung, also die Zeitdauer einer Auf- und Abbewegung (s). Die Geschwindigkeit des Körpers ergibt sich durch einfaches Differenzieren von „S“ nach der Zeit: V = So u (2S/T) cos (2St/T) V .......... momentane Geschwindigkeit (m/s) Die Beschleunigung und die Veränderung der Beschleunigung des Körpers über die Zeit ergibt sich durch jeweils nochmaliges Differenzieren nach der Zeit. Jedesmal entsteht ein Faktor „2 u S/T“ vor der Winkelfunktion: R = – So (2S/T)3 cos (2St/T) = – Ro cos (2St/T) R ........... momentane Veränderung der Beschleunigung ((m/s2)/s) Ro ......... Amplitude der Veränderung der Beschleunigung ((m/s2)/s) Von diesem Wert ist wesentlich nur die Amplitude „Ro“, also der Wert vor der Winkelfunktion. Ro = So (2S/T)3 „Ro“ ist die Veränderung der Beschleunigung in der Einheit „Meter pro Sekunde2 pro Sekunde“[19]. Mittels der berechneten Werte kann der Koordinatenpunkt in der Nomogramm-Grafik (Abb. 1) gefunden werden. Dessen Wert gibt Auskunft über den Grad zu erwartender Beschwerden durch die Seefahrt[17].
200
Schwindel auf See
Training, Adaptation Habituation
Abb. 1 Diagramm zur Ermittlung der Risikolage für das Auftreten von Seekrankheit aus den Daten des Schiffs und des Seegangs. Für einen Wert von T = 2,52 ergibt sich bereits ein kritischer Wert durch die Eigenschwingung des Schiffs ohne die Bewegung durch Wellen. Wenn die Abstände der Wellen zu einer Periode von 2 – 3 sec. führen, wird die Grenze der Unbehaglichkeit überschritten. Deutlicher Unterschied zwischen den Werten für Segelschiff und Motorboot wegen der Effekte durch Rigg und Kiel beim Segelschiff.
Evaluation der Empfänglichkeit für Seekrankheit bei Gesunden und Patienten mit vestibulärer Dysfunktion Die Anfälligkeit für Seekrankheit ist abhängig von der Funktionsintegrität beider Labyrinthe. Dabei kommt den Maculaorganen besondere Bedeutung zu. Bilateraler Labyrinthausfall schützt vor Seekrankheit. Funktionseinschränkung des Labyrinths führt regelhaft zu Reduzierung der Zeitkonstanten des vestibulookulären Reflexes. Dies gilt gleichermaßen für unilaterale und bilaterale Erkrankungen. Sowohl der Bogengang-abhängige als auch der otolithen-abhängige vestibulookuläre Reflex kann betroffen sein. Labyrinthfunktionsstörungen führen stets zu einer Reduzierung der Zeitkonstanten des vestibulookulären Reflexes. Die reduzierte Zeitkonstante hat eine reduzierte Anfälligkeit für Seekrankheit zur Folge[11].
Insbesondere bei professionellen Besatzungen in der militärischen und Handels-Seefahrt kann die Manövrierfähigkeit des Schiffs bei schwerer See durch Seekrankheit der Mannschaft gefährdet sein, da im statistischen Mittel ca. 1/3 der Mannschaft betroffen ist (vergl. weiter oben). Daher werden eine Reihe von Maßnahmen zur gezielten Förderung der Habituation als Vorbereitung für professionelle Seuleute empfohlen[8]. Rotatorische Stimulation z. B. auf Drehstühlen, wie sie für die neurootologische Diagnostik verwendet werden, mit Seitwärtskippung des Kopfs während der Rotation führen zu objektivierbarer Verbesserung der Kinetose-Empfindlichkeit für Gesunde. Bei diesen Trainingsverfahren wird eine Reduzierung der Zeitkonstante des vestibulookulären Reflexes erreicht, die die Kinetose-Beschwerdeschwelle erhöhen. Dieser Effekt ist durch Untersuchung mittels Videookulografie im Laufe der Habituation zu monitoren. Vergleichbare Effekte wurden mit Exposition gegenüber optokinetischen Stimuli versucht. Dabei wurde die Anfälligkeit für primär anfällige Kandidaten verschlechtert, während gering Anfällige unverändert blieben. Verbesserte Toleranz konnte nicht erreicht werden[23]. Daher ist zur Verbesserung der Anfälligkeit gegenüber Seekrankheit für Gesunde eher ein ca. 5 Tage währendes Training geeignet, das die räumlich-zeitlichen Interaktionen zwischen Bogengängen und Otolithenorganen anspricht. Rotation um eine erdvertikale Achse mit wiederholter seitlicher Kippung des Kopfs ist ein geeignetes Reizmuster[9]. Die an der Aachener Klinik zur Diagnostik der Bogengang-Otolithenorgan Interaktion eingesetzte Schrägachsenrotation (off-vertical axis rotation) ist ebenfalls zur Verbesserung der Habituation gut geeignet. Dabei werden Bogengänge und Otolithen simultan gereizt. Aus vergleichenden Untersuchungen ist bekannt, dass visuelle Stimulation mit Mustern, die der Schrägachsenrotation
Schwindel auf See
entsprechen, nur in der Hälfte der Fälle geeignet sind, Seekrankheit zu provozieren[1]. Während des Trainings treten die Beschwerden bei richtiger stufenweise ansteigender Dosierung des Stimulus nicht auf. Medikamentöse Verbesserung der Habituation ist bislang nicht möglich.
Prävention und Therapie der Seekrankheit Die Seekrankheit kann durch fundierte Vorbereitung der Seereise selbst für Personen mit individuell hoher Anfälligkeit gemildert, bisweilen sogar durch Prävention und taktische Maßnahmen verhindert werden. Medikamentöse Verfahren haben nur Erfolg, wenn die Verabreichung zu einem Zeitpunkt vorgenommen wird, zu dem der Passagier noch keine stark beeinträchtigenden Symptome aufweist. Die Einschätzung der Schiffsbewegung allein aus den Wettermitteilungen ist nur schwer möglich. Die Laufrichtung der Wellen und die Windrichtung sind nämlich nicht ohne Ausnahme parallel. Soweit möglich ist auf kleinen Schiffen mit eigener Wahlmöglichkeit des Kurses trotz höherer Reisedauer ggf. die Kurskorrektur in eine neue Navigation einzuplanen. Darüberhinaus ist der Seegang landnah in der Regel unruhiger als auf hoher See, so dass der Beginn einer Überfahrt meist die stärksten Auslöser bietet. Die Kursplanung hat dabei die Landnähe des Kurses unter dem Aspekt der Sicherheit für Schiff und Mannschaft sowie der Anfälligkeit für Seekrankheit als praktikablen Kompromiss vorzusehen. Für den betroffenen Passagier gilt, den Standort möglichst mittschiffs zu suchen. Liegende Position mit leicht erhöhtem Kopf und geschlossenen Augen ist bei starker Betroffenheit die optimale Position. Für weniger stark ausgeprägte Zustände wirkt die visuelle Fixierung des Horizonts lindernd. Aufenthalt unter Deck sollte möglichst vermieden werden. Fixieraufgaben wie Lesen oder Navigationsaufgaben und Bewegungen des Kopfs gegenüber dem
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Körper wirken verschärfend. Schlaf und Vigilanzminderung wirken meist beschwerdelindernd. Während der Wachphase sollte aktive Beschäftigung gesucht werden. Ablenkung vom Kernproblem der Seekrankheit wirkt erleichternd. Für Seefahrer mit rezidivierender Seekrankheit ist das Training zur Adaptation kaum geeignet, Symptomfreiheit zu garantieren. Da die Adaptation an regelmäßige Exposition innerhalb weniger Tage gebunden ist, kann bei Seeleuten wegen der unregelmäßigen Wetterlage und dem inkonstanten Auftreten von Sturm keine anhaltende Adaptation aufgebaut werden. Gezielte Trainingsverfahren sind daher bislang nur für Flieger, nicht aber für Seeleute bekannt. Prävention ist durch Medikamente möglich. Symptome und ggf. selbst das Auftreten schwerwiegender Beschwerden lassen sich nicht in allen Fällen zuverlässig unterbinden. Günstig ist die Verabreichung von Pharmaka unter Berücksichtigung des Wirkungseintritts nach Tab. 1. Wegen der leichten und protrahierten Applikation transdermal ist Scopolamin für die Prävention gut geeignet. Cinnarizin ist bei rechtzeitiger Verabreichung ebenfalls, ggf. zusätzlich geeignet. Cinnarizin ist in Deutschland allerdings nicht als Monopräparat im Handel. Als fixe Kombination mit Dimenhydrinat (Arlevert®) ist eine weitere Verbesserung der Effektivität möglich. Allerdings wirkt Dimenhydrinat gering vigilanzmindernd. Bei Eintritt schwererer Symptomatik mit Erbrechen muss die Applikation als Suppositorium oder ggf. sogar intramuskulär oder intravenös erfolgen. Hierfür stehen das Dimenhydrinat oder das Promethazin zur Verfügung. Dimenhydrinat steht als Suppositorium zur Verfügung. Promethazin kann in schweren Fällen mit 25 mg intramuskulär verabreicht werden. Bei nachhaltigem Erbrechen ist die Kontrolle des Wasser- und Elektrolythaushalts zusätzlich wesentlich. Bei Beherrschen der Beschwerden kann dies oral, ansonsten ggf. intravenös erfolgen.
202
Schwindel auf See
Pharmakon
Verabreichung
Dosis f. Erwachsene
Wirkungseintritt
Scopolamin
Oral
0,3 – 0,6 mg
30 min
Scopolamin
Injektion
0,1– 0,2 mg
15 min
4h
Scopolamin (TTS)
Pflaster transdermaal 1 Stck.
6–8 h
72 h
Promethazin
Oral
25 – 50 mg
2h
15 h
Promethazin
Injektion
25 mg
15 min
15 h
Promethazin
Supp.
25 mg
1h
15 h
Dimenhydrinat
Oral
50 –100 mg
2h
8h
Dimenhydrinat
Injektion
50 mg
15 min
8h
Cinnarizin
Oral
20 – 25 mg
4h
8h
1
Wirkungsdauer 4h
in Belgien und den Niederlanden als Monopräparat zu 25 mg im Handel. In Deutschland als Kombination von 20 mg Cinnarizin mit 40 mg Dimenhydrinat unter dem Handelsnamen Arlevert ® im Handel.
1
Tab. 1 In Mitteleuropa erhältliche Pharmaka zur Prävention und Therapie der Seekrankheit
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Schwindel beim Tauchsport – Die Innenohr-Dekompressionserkrankung C. Klingmann
Schwindel im Zusammenhang mit dem Tauchen ist ein häufiges Phänomen, das sehr unterschiedliche Ursachen haben kann. Zugrunde können relativ harmlose Gründe liegen, wie beispielsweise die unterschiedliche Informationsvermittlungen aus dem vestibulären und optischen System, die zur Reisekinetose bzw. der Seekrankheit führen und in diesem Werk ausführlich abgehandelt werden, aber auch schwerwiegende Störungen des cochleo-vestibulären Systems auf dem Boden einer Überschreitung des Löslichkeitsprodukts des zur Atmung verwendeten Inertgases im Körper. Die Differenzialdiagnose von Schwindel beim Tauchen ist vielfältig und wurde im letzten Band dieser Reihe in „Klinik der menschlichen Sinne“ umfassend dargestellt[17]. Dieser Beitrag soll eine akute Erkrankung beim Tauchen gründlich beleuchten, die häufig zu schwersten Schwindelsymptomen nach dem Tauchen führt: die Dekompressionserkrankung des Innenohrs. Dieser akute Tauchunfall, der bis zu einem Drittel der Tauchunfälle ausmacht, die mittels hyperbarer Sauerstofftherapie behandelt werden müssen[5], führt leider trotz adäquater Therapie bei 80 – 90 Prozent der betroffenen Patienten zu persistierenden cochleo-vestibulären Schädigungen[18,33]. Bei der Behandlung von Tauchern handelt es sich immer noch um einen sehr spezialisierten Bereich der Medizin, jedoch werden durch die steigende Zahl an Tauchern weltweit und in Deutschland zunehmend auch Ärzte in die (Folge-)Behandlung oder die Beurteilung der Tauchtauglichkeit nach Tauchunfällen in-
volviert. Nach einer aktuellen Umfrage des Allensbacher Instituts aus dem Jahre 2008 stehen mittlerweile verlässliche Zahlen über die Anzahl an Tauchern in Deutschland zur Verfügung. So gibt es in Deutschland in der Bevölkerung ab 14 Jahren schätzungsweise 4,55 Millionen Menschen (7 % der Bevölkerung ab 14 Jahre), die „ab und zu“ tauchen und 640.000 Taucher (ein Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren), die „häufig“ tauchen. Zusammen gefasst sieht sich ein praktizierender Arzt mit mehr als 5 Millionen Tauchern konfrontiert[1].
Abb. 1 Eine aktuelle Umfrage aus dem Jahr 2008 des Allensbacher Instituts konnte zeigt, dass mehr als 5 Millionen Bundesbürger in Deutschland ab 14 Jahren „ab und zu“ oder „häufig“ tauchen. Die Abbildung zeigt eine Tauchveranstaltung in Ketsch bei Heidelberg, bei dem ein Eintrag in das Guinness Buch der Rekorde gelungen ist.
206
Schwindel beim Tauchsport – Die Innenohr-Dekompressionserkrankung
Grundlagen für die Entstehung einer Dekompressionserkrankung Ursache für die Entwicklung von Dekompressionserkrankungen ist die Atmung von Luft oder anderen Atemgasgemischen unter erhöhtem Druck. Beim Sporttauchen wird Luft als Atemgas verwendet, die zu 78 % aus Stickstoff und zu 21 % aus Sauerstoff besteht. Ein Prozent der Luft beinhaltet weitere seltene Gase wie Kohlendioxid und -monoxid, Helium, Argon, Neon und viele weitere seltene Gase. Im professionellen Tieftauchbereich, aber auch zunehmend im fortgeschrittenen Amateurbereich, dem so genannten „technical diving“ werden andere Atemgase verwendet, die meist Edelgase, aber auch Wasserstoff in verschiedenen Konzentration beinhalten. Diese Trägergase nehmen am Stoffwechsel nicht teil und werden deshalb als Inertgase bezeichnet. Sie spielen während des Tauchens eine besondere Rolle, als dass sie durch den hohen Druck beim Tauchen vermehrt in den Körpergeweben aufgenommen werden und zu einer „Sättigung“ des Körpers führen. Verschiedene Gewebe weisen unterschiedliche Sättigungskinetiken auf, die vom Löslichkeitskoeffizienten für das entsprechende Gas und der Durchblutung abhängig sind. Das schnellste Kompartiment im Körper ist das Blut, das bereits nach einer Lungenpassage komplett gesättigt ist. Knochen, Knorpel und Bindegewebe sind Beispiele für langsame Gewebe, die eine Halbwertszeit für Auf- und Entsättigung von bis zu 600 Minuten zeigen, während das Blut innerhalb 90 –180 Sekunden komplett gesättigt ist[19]. Während des Aufstiegs eines Tauchgangs verringert sich der Umgebungsdruck, so dass eine Übersättigung der Kompartimente auftreten kann, die zu einem Ausperlen des Inertgases führt. Die sich bildenden Gasblasen werden in Grenzen toleriert und treten schon nach Tauchgängen in vier Meter Wassertiefe auf[7]. Übersteigt die Menge des ausperlenden Inertgases eine individuell unterschiedliche Toleranzgrenze
können lokale Druckschädigungen oder Perfussionsstörungen auftreten oder es treten embolische Gefäßverschlüsse fernab der Gasblasenentstehung auf. Um die Menge der sich bildenden Inertgasblasen zu kontrollieren, müssen Taucher Auftauchvorschriften beachten[4]. Auf dem Boden dieser Mechanismen können Dekompressionserkrankungen auch bei Kampfpiloten[9], [27] und Astronauten[13], [35] auftreten, da in diesen beiden Einsatzgebieten ebenfalls schnelle Druckänderungen auftreten, die zu einer Überschreitung des Löslichkeitsprodukts des im Körper gelösten Stickstoffs führt.
Abb. 2 Die Dekompressionserkrankung des Innenohrs tritt auch nach Presslufttauchgängen in weniger als 20 Meter auf und ist keineswegs eine Erkrankung, die nur Berufs- und Mischgastaucher treffen kann.
Die Wahrnehmung der Innenohr-Dekompressionserkrankung in der Literatur Die Dekompressionserkrankung des Innenohrs wurde in den 1960er und 1970er Jahren vor allem bei professionellen Tauchern beobachtet und im Rahmen einer ausführlichen Fallserie im Jahr 1976 von Farmer analysiert[8]. Sie trat vor allem unter Verwendung verschiedener Atemgasgemische (vor allem bei der Anwendung von Helium) auf. Während des Aufstiegs, aber auch in stabiler Tauchtiefe kam es besonders häufig bei Atemgaswechsel von heliumhaltigen Atemgasen auf Atemgase mit
Schwindel beim Tauchsport – Die Innenohr-Dekompressionserkrankung
einem höheren Stickstoffanteil zu Symptomen einer Innenohrdekompressionserkrankung. Die betroffenen Taucher klagten über Drehschwindel mit Orientierungsverlust, Übelkeit und Erbrechen. Hörverluste traten ebenfalls auf, wurden jedoch aufgrund der starken vegetativen Beschwerden meist erst später bemerkt. Therapeutisch wurden die betroffenen Taucher, die sich meist schon während der Dekompression in einer Druckkammer befanden, rekomprimiert. Bis in die 1990er Jahre galten Symptome einer Dekompressionserkrankung des Innenohrs nach Tauchgängen in maximale Tauchtiefen von 50 m, also dem Bereich in dem sich viele Sporttaucher bewegen, als Rarität. In den 1990er Jahren wurden zahlreiche Fallberichte veröffentlicht mit Tauchern, die nur Pressluft als Atemgas verwendeten und Symptome einer Dekompressionserkrankung des Innenohrs entwickelten[2], [28], [30], [31]. 1999 beschrieben Nachum et al. einen Fall einer Dekompressionserkrankung des Innenohrs während einer hypobaren Druckexposition auf 8000 Höhenmeter[26]. Die erste Fallserie von Tauchern mit Symptomen einer Innenohr-Dekompressionserkrankung unter Verwendung von Pressluft wurde 1991 von einer israelischen Arbeitsgruppe veröffentlicht. Dort wurden zwischen 1987 und 1989 vier Fälle einer Innenohrdekompressions-Erkrankungen bei Sporttauchern behandelt[32]. Zehn Jahre später veröffentlichte dieselbe Arbeitsgruppe eine retrospektive Analyse über einen Nachverfolgungszeitraum von 12 Jahren mit 29 Fällen einer Innenohr-Dekompressionserkrankung[25]. Diese 29 Fälle stellen ein Viertel der behandelten Patienten mit Dekompressionserkrankung vom neurologischen Typ dar. Im Jahr 2003 veröffentlichte eine französische Arbeitsgruppe eine Analyse von 101 Tauchern, die wegen einer Dekompressionserkrankung mittels hyperbarer Sauerstofftherapie behandelt wurden. Vierunddreißig der 101 Taucher (34 %) wurden wegen einer Innenohr-Dekompressionserkrankung behandelt[5]. Die
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Innenohr-Dekompressionserkrankung scheint somit wesentlich häufiger aufzutreten als bisher angenommen.
Pathomechanismus für die Entstehung der InnenohrDekompressionserkrankung Entstehungsmodell für Mischgastauchen Wie oben beschrieben wurde die InnenohrDekompressionserkrankung erstmals bei professionellen Tauchern während tiefer Tauchgänge unter Verwendung von Mischgas beobachtet. Im Jahr 2003 veröffentlichte eine australische/neuseeländische Arbeitsgruppe ein Erklärungsmodell für die Entstehung der Innenohr-Dekompressionserkrankung bei Wechsel von einem heliumreichen Atemgasgemisch auf eine Gemisch mit erhöhtem Stickstoffanteil, wie es bei einem Aufstieg aus großen Tiefen der Fall ist[6]. Die Autoren berechnen hierbei anhand dreier Kompartimente des Innenohrs die Überschreitung des Löslichkeitsprodukts der Atemgase, also die Entstehung lokaler Gasblasen im Innenohr: Sie unterscheiden vaskuläres, endo- und perilymphatisches Kompartiment, wobei der vaskuläre Raum das geringste Volumen aufweist, gefolgt vom endolymphatische und dem perilymphatische Raum, der den größten Volumenanteil ausmacht. Die Inertgasdiffusion erfolgt passiv vom Ort höherer zum Ort niedrigerer Atemgaskonzentration, also vom endo- und perilymphatischen Raum in den vaskulären Raum und umgekehrt. Die Autoren können in dieser Veröffentlichung anhand eines mathematischen Modells berechnen, wie eine lokale Blasenbildung bei gleichbleibender Tiefe (!) entsteht. Diesen Prozess der lokalen Übersättigung bei konstantem Umgebungsdruck kann man wie folgt in einer Vereinfachung skizzieren: Nach Wechsel eines Atemgases mit hohem Heliumanteil auf ein Atemgasgemisch mit erhöhtem Stickstoffanteil fließt im vaskulären Kompartment Blut mit einem höheren Stick-
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Schwindel beim Tauchsport – Die Innenohr-Dekompressionserkrankung
stoffanteil als im endo- und perilymphatischen Raum vorhanden ist. Stickstoff diffundiert langsamer als Helium in die Umgebung, da Helium ein niedrigeres Molekulargewicht aufweist. In der Folge diffundiert mehr Helium aus dem endo- und perilymphatischen Raum in den vaskulären Raum, als Stickstoff gleichzeitig den vaskulären Raum verlassen kann. Hierdurch tritt eine lokale Übersättigung des vaskulären Raums auf, der eine Blasenentstehung zur Folge hat, die zum Einen Durchblutungsstörungen und zum Anderen direkte mechanische Verletzungen verursacht. Dieser Pathomechanismus erklärt jedoch nicht das Auftreten einer Innenohr-Dekompressionserkrankung für das Tauchen mit Pressluft, da hierbei kein Atemgaswechsel durchgeführt wird. Entstehungsmechanismus als Folge eines Rechts-Links Shunts Im Jahr 2002 veröffentlichte unsere Arbeitsgruppe der Universitäts-Hals-Nasen-Ohrenklinik Heidelberg einen Fall, bei dem ein Sporttaucher bei zwei unabhängigen Tauchgängen an einer Dekompressionserkrankung des Innenohrs erkrankte. Der betroffene Taucher wies einen vaskulären Rechts-Links-Shunt auf[16]. Vaskuläre Rechts-Links-Shunts ohne hämodynamische Folgen treten in der Normalbevölkerung und damit auch bei Tauchern mit einer Prävalenz von 15 – 30 %[12] auf und sind in mehr als 90 % der Fälle auf ein persistierend offenes Foramen ovale zurück zu führen. Rechts-Links-Shunts wurden erstmals von zwei Arbeitsgruppen als Risikofaktor für die Erlangung von Tauchunfällen 1989 und 1990 beschrieben[23], [36]. Mittlerweile zeigten sehr viele Studien ein erhöhtes Risiko für Taucher mit Rechts-Links-Shunt an einer Dekompressionskrankheit zu erkranken[10], [11], [14], [21], [29]. In einer Meta-Analyse wurde die Erhöhung des relativen Risikos für eine Dekompressionserkrankung bei Vorliegen eines Rechts-Links-Shunts mit dem Faktor 2,5 angegeben[3]. Zugrunde liegender Mechanismus für das erhöhte Risiko mit vaskulärem Rechts-
Links- Shunt einen Dekompressionsunfall zu erleiden beruht auf der Arterialisierung venöser Gasbläschen: Bei nahezu allen Tauchgängen entstehen kleine Inertgasbläschen. Durch einen Rechts-Links-Shunt können diese Bläschen, die normalerweise im Lungenkapillarbett gefiltert und abgeatmet werden, arterialisiert werden und stellen somit eine Gefahr für einen embolischen Verschluss kleiner Endarterien dar.
Abb. 3 Aus Klingmann/Tetzlaff. Moderne Tauchmedizin. Gentner Verlag 2007. Mit freundlicher Genehmigung des Gentner Verlags. Links: Verhalten der Mikrobläschen nach einem Tauchgang bei einer Person ohne persistierend offenem Foramen ovale. Die Bläschen bleiben im rechten Herzen und werden von dort in die Lunge transportiert. Die Lunge verfügt über eine große Toleranz gegenüber Mikrobläschen, außerdem werden die Bläschen dort abgeatmet. Rechts: Mikrobläschenverteilung bei einem Taucher mit offenem Foramen ovale. Durch den Rechts-Links-Shunt gelangen Bläschen auf die linke Herzseite (rot eingezeichnet) und werden von dort in den Körper verteilt. Dadurch können sie zu Gefäßverschlüssen (Embolien) wichtiger Arterien führen. Die Dekompressionserkrankung des Innenohrs ist besonders häufig mit einem Rechts-Links-Shunt assoziiert.
In der schon oben erwähnten französischen Arbeit veröffentlichten Cantais et al. 34 Taucher, die wegen einer Innenohr-Dekompressionserkrankung behandelt wurden. Vierundzwanzig der 34 Taucher (71 %) zeigten einen Rechts-Links-Shunt im Vergleich zu 25 von 101 (25 %) in der Kontrollgruppe (p d 0.001)[5]. Unsere Arbeitsgruppe veröffentlichte 2003
Schwindel beim Tauchsport – Die Innenohr-Dekompressionserkrankung
11 Fälle einer Dekompressionserkrankung des Innenohrs bei 9 Tauchern. Alle 9 Taucher wiesen einen vaskulären Rechts-Links-Shunt auf. Die Wahrscheinlichkeit eines zufälligen Auftreten eines Rechts-Links-Shunts bei allen 9 Tauchern wurde mit weit unter einem Prozent berechnet (p d 0,000001)[15]. Bis zum Jahr 2008 wurden 30 Taucher in Heidelberg behandelt, die unter Verwendung von Pressluft eine Innenohr-Dekompressionserkrankung erlitten. Von diesen wiesen 22 Taucher (73 %) einen Rechts-Links Shunt auf. Ein Rechts-Links-Shunt scheint somit ein wesentlicher Risikofaktor für die Entstehung einer Innenohr-Dekompressionserkrankung zu sein, die bei Verwendung von Pressluft vermutlich auf eine Kombination aus lokaler Übersättigung und einer Embolisation in das Labyrinth zurück zu führen ist.
Symptome der Innenohrdekompressionserkrankung Die isolierte Dekompressionserkrankung des Innenohrs äußert sich durch das Hauptsymptom Drehschwindel, wie man ihn in seiner ausgeprägten Form von der Neuropathia vestibularis kennt. Meist besteht ein symptomfreies Intervall von 15 – 45 Minuten nach Beendigung des Tauchgangs mit darauf folgendem schlagartig auftretenden Drehschwindel. Selten treten auch isolierte Störungen der cochleären Funktion mit Hörverlust und Tinnitus auf, jedoch steht der Drehschwindel meist deutlich im Vordergrund und erst nach Besserung der vegetativen Symptome wird der Hörverlust bemerkt. Tritt die Dekompressionserkrankung des Innenohrs nicht isoliert auf, werden weitere Symptome einer Dekompressionserkrankung bemerkt: Hautjucken, Muskel- und Gelenkschmerzen, Cutis marmorata bei kutanem Lymphöden, neurologische (Harn- und Stuhlinkontinenz, Sensibilitätsstörungen, Paresen etc.) und kardiopulmonale Beschwerden. Eine mögliche Erklärung für das symptomfreie Intervall nach dem Tauchgang stellt die nach
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einem Tauchgang innerhalb der ersten 60 Minuten beobachtete Steigerung der Anzahl venöser Inertgasblasen. Mit steigender Anzahl venöser Blasen erhöht sich das Risiko Blasen durch einen vorhanden Rechts-Links-Shunt zu arterialisieren, die in der Folge zu einer Embolisation der zuführenden Gefäße des Labyrinths führen können.
Therapie der Innenohrdekompressionserkrankung Jede Dekompressionserkrankung des Innenohrs sollte schnellstmöglich einer hyperbaren Sauerstofftherapie zugeführt werden. Unklar ist bis zu welcher Latenz nach dem Unfallereignis eine Therapie vielversprechend durchgeführt werden kann. Nachum et al. haben in ihrem Untersuchungskollektiv festgestellt, dass eine Latenz von länger als sechs Stunden bis zum Behandlungsbeginn, negativ mit einer kompletten Ausheilung korrelierte[25]. Allerdings untersuchte unsere Arbeitsgruppe einen Taucher, bei dem es zu einer Verzögerung der hyperbaren Sauerstofftherapie von mehr als 24 Stunden kam, der jedoch eine Restitutio ad integrum erfuhr[16]. Die Zeitverzögerung bis zur Durchführung einer hyperbaren Sauerstofftherapie sollte gemäß der aktuellen „Leitlinie Tauchunfall“ der Gesellschaft für Tauch- und Überdruckmedizin so kurz wie möglich gehalten werden[24]. Dies bedeutet, dass man auf aufwendige Diagnostik im Vorfeld der Behandlung verzichten und vor allem eine klinische Diagnose stellen sollte. Serologische Untersuchungen, bildgebende Verfahren und elektrophysiologische Methoden haben keinen Platz in der Diagnostik einer Dekompressionserkrankung, da jede Zeitverzögerung das Risiko bleibender Schäden erhöht. In der Leitlinie Tauchunfall wird explizit darauf hingewiesen, dass für die Behandlung von Tauchunfällen bisher keine Medikamente als spezifisch sicher wirksam belegt sind. Für eine adjuvante Therapie in Form von Rheologica
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Schwindel beim Tauchsport – Die Innenohr-Dekompressionserkrankung
und anti-inflammatorischer Therapie mittels hochdosierter Kortikoide gibt es deshalb keinen Wirksamkeitsnachweis für die InnenohrDekompressionserkrankung. Es bleibt dem behandelnden Arzt überlassen, ob eine solche Therapie adjuvant eingesetzt wird.
Behandlungsergebnisse der Innenohr-Dekompressionserkrankung Klinische Ergebnisse Bei Durchführung einer hyperbaren Sauerstofftherapie tritt gelegentlich schon bei Erreichen der Behandlungstiefe Symptomfreiheit auf. Der massive Drehschwindel verschwindet jedoch auch bei Tauchern ohne Behandlung
Abb. 4 Durch die hyperbare Sauerstofftherapie der Innenohr-Dekompressionserkrankung und einer adjuvanten Therapie mit Antivertiginosa geht es den Patienten leider nur gelegentlich wieder so gut wie auf dieser Abbildung. Die Erstbehandlung einer Dekompressionserkrankung wird mit annähernd fünf Stunden veranschlagt.
innerhalb weniger Tage bis Wochen aufgrund einer zentralen Kompensation. Aus diesem Grund berichten die betroffenen Patienten nach einer Innenohr-Dekompressionserkrankung subjektiv meist über wenig persistierende Symptome. Bei genauerer Überprüfung der Funktion des vestibulären Systems zeigt sich jedoch, dass es nach Innenohr-Dekompressionserkrankung häufig zu einer Defektheilung kommt. Bisher gibt es nur zwei retrospektive Untersuchungen von Tauchern nach Innenohr-Dekompressionserkrankung. Shupak et al. fanden bei zehn von 11 untersuchten Tauchern (91 %) nach Innenohr-Dekompressionserkrankung persistierende cochleo-vestibuläre Schädigungen[33]. Die mediane Verzögerung bis zum Beginn der Therapie lag bei fünf Stunden seit Auftreten der ersten Symptome. Ein ähnlich hoher Prozentsatz an Patienten mit Residualschäden, jedoch bei einem größeren Patientenkollektiv, wurde in unserem Heidelberger Untersuchungskollektiv festgestellt. Vierzehn von 18 Tauchern (78 %) zeigten bei der neuro-otologischen Nachuntersuchung persistierende cochleo-vestibuläre Schäden. Die mediane Latenz bis zum Beginn der Therapie betrug in unserem Kollektiv zehn Stunden[18]. Histomorphologische Ergebnisse Im Tiermodell mit Eichhörnchen führt eine sofortige Behandlung der Tiere mit Dekompressionserkrankung des Innenohrs und des ZNS nur zur Besserung der histo-morphologischen Befunde des Gehirns, nicht jedoch zu einer Reduktion der cochleo-vestibulären Schädigungen[20]. Histomorphologische Untersuchungen vom Menschen liegen bisher nur in einem Fall vor. Ein an einer Innenohr-Dekompressionskrankheit erkrankten Taucher verstarb wenige Wochen nach seinem Tauchunfall. Die patho-histologische Untersuchung deckt sich mit den auch klinisch häufig feststellbaren Funktionsverlusten des peripher vestibulären Systems. Die Aufarbeitung des betroffenen
Schwindel beim Tauchsport – Die Innenohr-Dekompressionserkrankung
Labyrinths zeigte eine komplette Ebonisierung des Gleichgewichtsorgans[22]. Dieses Phänomen lässt sich häufig bei Tauchern nach Innenohr-Dekompressionserkrankung feststellen: der Taucher erfährt subjektiv eine deutliche Besserung der Schwindelsymptome, die auf eine zentrale Kompensation zurück zu führen ist, jedoch zeigt die neurootologische Funktionsdiagnostik den Ausfall des betroffenen Bogengangsystems. Oft geben diese Patienten ein Unsicherheitsgefühl in für das Gleichgewichtssystem anspruchsvollen Situationen an, wie beispielsweise in Dunkelheit, beim Fahrradfahren, Balancieren oder beim Sport. Welche Langzeitfolgen der Ausfall des peripheren Gleichgewichtsorgans zur Folge hat, ist bisher nicht untersucht, muss jedoch bei der Beurteilung der Tauchtauglichkeit nach einer Dekompressionserkrankung berücksichtigt werden.
Tauchtauglichkeit nach stattgehabter Dekompressionserkrankung des Innenohrs Die Beurteilung der Tauchtauglichkeit nach Innenohr-Dekompressionserkrankung muss sehr sorgfältig erfolgen. Fehlen die entsprechenden tauchmedizinischen Kenntnisse bietet sich die Kooperation eines Tauchmediziner und eines HNO-Facharztes an. Während akuter Schwindelsymptome besteht keine Tauchtauglichkeit. Nach Beendigung der Akuttherapie muss die verbliebene Innenohrfunktion evaluiert werden. Liegt ein kompletter Ausfall des Vestibularorgans der betroffenen Seite vor, muss eine ausreichende zentrale Kompensation vorliegen und die vestibuläre Restfunktion abgeschätzt werden. Da Taucher häufig in dunkler und trüber Umgebung tauchen und auch die propriozeptive Wahrnehmung unter Wasser eingeschränkt ist (relative Schwerelosigkeit) kommt der Funktion des peripheren Gleichgewichtsorgans unter Wasser eine besondere Rolle zu. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass auch nach
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Abb. 5 Bei der Feststellung der Tauchtauglichkeit nach stattgehabter Dekompressionserkrankung des Innenohrs muss eine ausführliche Schwindelanamnese erfolgen. Zusätzlich muss die vestibuläre Funktion beurteilt und das Vorliegen eines vaskulären Rechts-Links Shunts überprüft werden.
komplettem Ausfall des peripheren Gleichgewichtsorgans einer Seite, bei ausreichender zentraler Kompensation (Nachweis beispielsweise durch ausgeglichene Reaktion bei der Drehstuhluntersuchung) und leerer Anamnese für weitere Schwindelereignisse, das Tauchen wieder durchgeführt werden kann.
Abb. 6 Besondern in heimischen Gefilden herrschen unter Wasser oft eingeschränkte Sichtverhältnisse, so dass Taucher besonderes auf die Funktionsfähigkeit des peripher vestibulären Systems angewiesen sind.
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Schwindel beim Tauchsport – Die Innenohr-Dekompressionserkrankung
Besondere Beachtung muss dem Vorliegen eines vaskulären Rechts-Links Shunt gewidmet werden, der wie oben erwähnt sehr häufig mit dem Auftreten einer Innenohr-Dekompressionserkrankung assoziiert ist. Bei Vorliegen eines solchen Shunts kann die Tauchtauglichkeit gänzlich eingeschränkt sein oder es müssen bestimmte Tauchregeln beachtet werden (so genanntes low-bubble diving). Die Tauchtauglichkeit sollte dann durch einen erfahrenen Tauchmediziner beurteilt werden. Im Folgenden sind die Empfehlungen der Gesellschaft für Tauch- und Überdruckmedizin wiedergegeben. Eine uneingeschränkte Tauchtauglichkeit besteht nach Innenohr-Dekompressionserkrankung ohne Residualschäden und ohne vaskulären Rechts-Links Shunt[34]. Relative Kontraindikation
Absolute Kontraindikation
Akute InnenohrInnenohr-Dekompressionserkrankung Dekompressionserkrankung mit kompensiertem Vestibularisausfall Innenohr-Dekompressionserkrankung mit vaskulärem Rechts-Links Shunt
Innenohr-Dekompressionserkrankung mit persistierenden Gleichgewichtsstörungen
Tabelle 1 Adaptiert entsprechend der Empfehlungen der Gesellschaft für Tauch- und Überdruckmedizin zur Beurteilung der Tauchtauglichkeit nach Innenohr-Dekompressionserkrankung. Aus Tetzlaff/Klingmann/ Muth/Piepho/Welslau. Checkliste Tauchmedizin. Gentner Verlag 2009.
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Schwindel beim Bergsteigen R. W. Baumgartner
Einleitung Ein beim Bergsteigen auftretender Schwindel kann verschiedenste Ursachen haben. Neben einem Infekt, einer Hypoglykämie, körperlichen Erschöpfung, Unterkühlung und Dehydratation können eine Höhenangst (Akrophobie) oder selten eine Erkrankung von vestibulären oder zerebellären Strukturen vorliegen. In dieser Arbeit wird nur Schwindel besprochen, der als Folge von Bergsteigen in der Höhe, d. h. einer Höhenexposition von über 2.500 m (High Altitude), bei nicht akklimatisierten Personen auftreten kann[17]. Zuerst werden akute Höhenkrankheiten besprochen, bei denen Schwindel auftreten kann. Danach werden Arbeiten vorgestellt, welche Standmessungen (Posturographie) bei höhenexponierten Personen durchgeführt haben, die von einer akuten Höhenkrankheit befallen wurden oder gesund geblieben sind. Schließlich werden Untersuchungen diskutiert, welche das vestibuläre System und den Stand in der Höhe untersucht und mit den unter normobarer Normoxie erhobenen Ergebnisse verglichen haben.
mindestens eines der folgenden Symptome erleidet: Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Insomnie, Abgeschlagenheit, Müdigkeit oder Schwindel[21]. Die ABK ist somit ein Syndrom, das aus unspezifischen Symptomen besteht. Für wissenschaftliche Studien wird der cerebrale ABK (c-ABK) Skore von Sampson verwendet[22]. Der c-ABK Skore wird anhand eines Fragebogens (Environmental Symptom Questionnaire, ESQ), der von der betroffenen Person auszufüllen ist, bestimmt[22]. Eine ABK wird bei einem c-ABK Skore von mehr als 0.7 Punkten diagnostiziert[22]. Die im Skore abgefragten Symptome sind neben Kopfschmerzen, Übelkeit, Krankheitsgefühl, Schwächegefühl, Benommenheit, Kraftlosigkeit und unscharfem Sehen auch Schwindel und Koordinationsprobleme[22]. Die Prävalenz der ABK und des Schwindels beim Bergsteigen hängt insbesondere von der erreichten Höhe ab: So fand Maggiorini[18] bei einer
Schwindel bei akuten Höhenkrankheiten Die weitaus häufigste akute Höhenkrankheit ist die akute Bergkrankheit (ABK; Acute Mountain Sickness, AMS). Sie kann auftreten, wenn ein nicht akklimatisierter Bergsteiger in einer Höhe von über 2.500 m Kopfschmerzen und
Abb. 1 Mehrere Seilschaften auf dem Weg zum Lyskammgrat (4.151 m) im Monte-Rosa Massiv bei Zermatt, Schweiz
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Schwindel beim Bergsteigen
an 466 in den Schweizer Alpen untersuchten Bergsteigern eine Korrelation zwischen ABK (Schwindel) und Höhe: 9 % (0 %) auf 2850 m, 13 % (1 %) auf 3050 m, 34 % (9 %) auf 3650 m und 53 % (13 %) auf 4559 m. Während die AMS in den meisten Fällen eine selbstlimitierende Erkrankung ist, kann sie bei weniger als 0.5 % der Patienten in ein potentiell letales Höhenhirnödem (High Altitude Cere- Abb. 2 bral Edema, HACE) Capanna Regina Margherita (4.554 m) auf dem Gipfel der Signalkuppe (Punta Gnifetti) in den Walliser Alpen in Italien. Die von Mitte Juni bis Mitte September übergehen[16]. Die bewirtschaftete Hütte ist auch ein internationales Zentrum für höhenphysiologiHACE-Diagnose ist sche Forschung klinisch und wird gestellt, wenn eine an einer ABK oder einem erfasst auch subklinische StandabnormitäHöhenlungenödem (High Altitude Pulmonary ten[13], [14], [23 – 26].. Die stabile PosturoEdema, HAPE) erkrankte Person zusätzlich graphie wurde bei Normalpersonen[1], [6], eine Ataxie und/oder eine Bewusstseinsmin[13], [14], [26], Patienten mit verschiedenen derung erleidet[17]. Erkrankungen[6], [7], [10 –12], [20], [27] sowie in einer eigenen Feldstudie zur Erfassung des Einflusses einer milden bis moderaten ABK auf die Pathogenese der posturalen HöPosturographische Befunde henataxie verwendet[4]. Es wurden 22 junge bei Bergsteigern mit und ohne und gesunde Personen in einer Höhe von ABK 450 m und während eines dreitägigen Aufenthaltes auf einer Höhe von 4.559 m in der Die in der Höhe abnehmende Standsicherheit Capanna Regina Margherita auf dem Gipfel wird üblicherweise mit Fragebogen[21], [22] der Signalkuppe (Punta Gnifetti) in den Walund einfachen klinischen Untersuchungen wie liser Alpen in Italien untersucht (Abbildungen dem Knie-Hacken-Versuch[2] und dem Rom2 und 3). Sie standen während 20 Sekunden bergtest[15] erfasst. Diese Art der Diagnose mit offenen Augen (EO) und während 20 Seund Quantifikation der Standsicherheit hat kunden mit geschlossenen Augen (EC) auf der Einschränkungen, da sie grob ist und von der Posturographie-Plattform. Dabei wurden die subjektiven Einschätzung des Untersuchers abSchwankgeschwindigkeit (S), die Schwankgehängt[4]. Die statische Posturographie ist eine schwindigkeit in anterio-posteriorer (SAP) und einfache Methode, welche Körperschwankungen bzw. die posturale Stabilität innert wenimedio-lateraler (SML) Richtung abgeleitet. Der ger Minuten quantifiziert[13], [14], [23 – 26]. arterielle Partialdruck für Sauerstoff (PaO2) Sie kann beliebig oft wiederholt werden und und die Sauerstoffsättigung (SaO2) wurden
Schwindel beim Bergsteigen
Abb. 3 Posturographiegerät mit Proband (Höhenforscher Prof. Dr. med. U. Scherrer) und Examinator (Autor) in der Capanna Regina Margherita
gemessen. Der Fragebogen von Sampson (ESQ) wurde zur Diagnose und Quantifikation einer ABK verwendet. Am ersten Tag erkrankten 4 Personen an einer ABK, am zweiten Tag 10 Personen, und am dritten Tag fünf Personen. Die posturographischen Befunde zeigten keinen Unterschied zwischen an einer ABK erkrankten und gesunden Personen. Außerdem fand sich keine Korrelation zwischen dem c-ABK Skore und den posturographischen Parametern. Die PaO2 und die SaO2 zeigten einen nicht signifikanten Trend, bei Personen mit ABK tiefer als bei gesunden Personen zu sein. Die posturographischen Parameter verschlechterten sich signifikant am ersten (EO-S, p < .001; EC-S, p 100 voxel).
Ergebnisse Die 15 NV Patienten zeigten initial (T1) eine schwere unilaterale peripher-vestibuläre Unterfunktion: alle hatten einen kontraläsionellen horizontalen Spontannystagmus, Kopfschüttelnystagmus, einen pathologischen ipsiläsionellen Kopfimpuls-Test und eine kalorische Untererregbarkeit von 85.3 % ± 26.5 % (100 % = no response), die sich innerhalb von 3 Monaten (T1 zu T2) auf 38.7 % ± 30.85 % besserte. Die Mehrheit zeigte jedoch noch einen Kopfschüttelnystagmus und einen pathologischen ipsiläsionellen Kopfimpuls-Test. Die Verkippung der subjektiven visuellen Vertikale (SVV) normalisierte sich binnen 3 Monaten (3.6 ± 2.7 to 1.8 ± 1.4). Die klinisch-vestibuläre Skala (CVS) verbesserte sich von 19.4 ± 3.2
277
(T1) auf 3.7 ± 3 (T2). Die Werte der Skala der subjektiven Beeinträchtigung im Alltag („Selfassessment of vestibular disability“, SVDS) verbesserten sich von 29.8 ± 8.7 auf 3.3 ± 3.7. Voxel-basierte Morphometrie: Der kategorische Vergleich zeigte – im Vergleich zu gesunden Kontrollen – globale Hirnvolumenzunahmen der grauen Substanz in retroinsulären Arealen und in der posterioren Insel, dem superioren temporalen Gyrus (STG), dem inferioren parietalen Lobulus (IPL), midcingulären Cortexarealen, Cerebellum, und der mittleren temporalen Area (MT/V5) (Abb. 1). Relative Volumenabnahmen fanden sich dorsal mittelliniennah im pontomedullären Übergang des Hirnstamms. Es fanden sich keine Altersabhängigen Effekte (letzten beiden Balken in Abb. 1). Es fanden sich ferner relative Hirnvolumenzunahmen der grauen Substanz (GMV) im STG (Abb. 2A) und im insulären und retroinsulären vestibulären Cortex (Abb. 2 B, C), die negativ mit dem CVS korrelierten: Der relative GMV Anstieg wurde geringer mit zunehmenden vestibulären Defiziten. Je besser sich die Patienten von der peripher-vestibulären Läsion erholten, desto mehr Volumenzunahme (GMV) hatten sie. Im inferioren insulären temporalen Cortex fand sich eine GMV Zunahme (MTG, Abb. 2D), die negativ mit der kalorischen Untererregbarkeit korrelierte: die GMV Zunahme war umso größer je geringer die periphere Untererregbarkeit war. Im vestibulären insulären Cortex (Abb. 2E) und dem STG (Abb. 2F) waren die relativen GMV Zunahmen mit der SVDS korreliert: die Volumenzunahme war umso größer, je weniger die NV Patienten durch die vestibuläre Läsion im Alltag beeinträchtigt waren.
Diskussion Diese Studie zeigt am Beispiel der Neuritis vestibularis, dass strukturelle Hirnveränderungen nach einer inkompletten und reversiblen sensorischen (vestibulären) Deafferentierung
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Strukturelle Hirnplastizität nach peripherer vestibulärer Läsion
Abb. 1 Regionen globaler Hirnvolumenzunahmen der Grauen Substanz (GMV) (t-test, n = 15; NV Patienten vs. Kontrollen) sind auf repräsentativen axialen und sagittalen/koronaren Schichten auf dem Standard Montreal Neurological Institute (MNI) Template von SPM2 dargestellt. Der Farbbalken zeigt die T-Statistik für die dargestellten Ergebnisse. Die Koordinaten der lokalen Maxima sind für den kategorischen Vergleich zwischen Patienten und Kontrollen auf der Ordinate angegeben (Signifikanz-Schwellenwert p < .005, Cluster Volumen > 100 voxel). Die Balken (rechts) zeigen die relativen Hirnvolumenänderungen in arbiträren Einheiten ± SE und die GMV Veränderungen, die bei beiden Gruppen jeweils nur durch Alter zu erklären sind (ganz rechts). Volumenzunahme fand sich im insulären Cortex [insula, part (A)], STG, (B)], MT, (C), IPL (D), und dem Kleinhirn [part (E)]. R=rechts (ipsiläsionell) (modifiziert nach [23]).
Strukturelle Hirnplastizität nach peripherer vestibulärer Läsion
Abb. 2 (A – C, CVS): Korrelationen zwischen Hirnvolumenzunahmen und der klinischen vestibulären Skala (CVS), (D) der kalorischen Untererregbarkeit und (E, F) der Skala der subjektiven Beeinträchtigung im Alltag (SVDS) sind auf axialen und koronaren Schichten für folgende Regionen dargestellt: (A) STG, (B, E) insulärer vestibulärer Cortex (insula), (C) retroinsulärer vestibulärer Cortex (retroinsular), (D) inferiorer insulärer Teil des mittleren temporalen Cortex (MTG) und (F) STG. Rechts sind die linearen Regressionen dargestellt (R = KorrelationsKoeffizient, R2 = coefficient of determination) (modifiziert nach [23]).
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Strukturelle Hirnplastizität nach peripherer vestibulärer Läsion
in Arealen des vestibulären Cortex auftreten. Da die Volumenzunahmen mit objektiven und subjektiven vestibulären Funktionsparametern korrelierten, sind sie möglicherweise Ausdruck von zentralen Kompensationsmechanismen. Die NV löst im akuten Stadium ein vestibuläres Innervationsungleichgewicht (vestibuläre Imbalanz) aus, nicht nur auf der Ebene der Vestibulären Kerne im Hirnstamm, sondern auch im Thalamus[14] und im primären und „sekundären“ vestibulären Cortex[12]. Der einseitige Vestibularisausfall erzeugt bei VN Patienten im akuten Stadium ein kortikales und subkortikales Aktivierungsmuster, das dem Aktivierungsmuster einer experimentellen peripher-vestibulären Stimulation auf der kontralateralen Seite bei Gesunden entspricht[4]. In der PET kommt es zu einem kontraläsionellen Anstieg des regionalen cerebralen GlucoseMetabolismus (rCGM) im posterolateralen Thalamus und dem insulären vestibulären Cortex, der wahrscheinlich diese vestibuläre Tonusimbalance wiederspiegelt[4]. Der kontraläsionelle GMV Anstieg bei unseren NV Patienten im retroinsulären und insulären vestibulären Cortex war umso größer, je geringer die Patienten betroffen waren (Skalen: CVS, SVDS). Es ist zu berücksichtigen, dass die vestibulären Projektionen zum Cortex überwiegend ipsilateral verlaufen. Daher könnte die Volumenzunahme Folge des erhöhten Metabolismus im akuten Stadium auf der nicht-betroffenen Cortexseite sein[4]. Da die periphere Regeneration des Nerven (kalorische Untererregbarkeit) ein prognostisch schlechter Indikator für die vestibuläre Funktionsrestitution ist[28] könnten strukturelle (GMV) Veränderungen verlässlichere Zeichen der vestibulären Kompensation sein und möglicherweise auch zur Erholung beitragen. Auch die zusätzlichen relativen Volumenzunahmen in Regionen des sekundären vestibulären Cortex [IPL (BA 40), STG (BA 22)] sind funktionell bedeutsam, da sie auch mit den Parametern klinisch-objektivierbarer (CVS) und funktioneller Erholung (SVDS) korrelierten. Das unterstreicht die Bedeutung des sekun-
dären vestibulären Cortex für die vestibuläre Kompensation. Die relative Volumenzunahme in visuellen Bewegungs-sensitiven Arealen (MT/V5) unserer VN Patienten könnte eine indirekte langanhaltende strukturelle Reaktion auf die vestibuläre Deafferentierung sein. Aufgrund der inhibitorischen reziproken Interaktion zwischen visuellem und vestibulären Cortex[6] führt eine vestibuläre Reizung zu einer Hemmung des visuellen Cortex: (i) eine einseitige experimentelle vestibuläre Reizung führt bei gesunden Probanden zu einer Deaktivierung des visuellen Cortex[3], und (ii) VN Patienten zeigen im akuten Stadium einen reduzierten GlukoseMetabolismus (PET) im visuellen Cortex[4]. Klinisch könnte dies einen Mechanismus reflektieren, um die störenden Oszillopsien zu unterdrücken, die durch die vestibuläre Läsion auftreten. Indirekte Hinweise für eine veränderte visuelle Empfindlichkeit in MT/V5 ergeben sich aus den o. g. fMRT-Studien bei Patienten mit unilateraler oder bilateraler peripherer Vestibulopathie[11], [10], die Folge oder Ursache die strukturellen Veränderungen in MT/V5 sind. Eine ähnliche strukturelle Volumenzunahme findet sich bei Patienten mit Akustikusneurinom nach unilateraler Neurektomie (eigene unpublizierte Daten). Schlussendlich ist es bislang jedoch ungeklärt, ob solche, mit der Voxel-basieren Morphometrie erfassbaren, strukturellen Veränderungen Folge eines veränderten Funktions- bzw. Aktivitätszustandes sind (fehlende Afferenz ipsiläsionell vs. verstärkter Aktivitätszustand auf der kontraläsionellen Seite) oder einen eigenständigen Krankheitsprozess darstellen, der für die Symptome und klinischen Zeichen verantwortlich ist. Da strukturelle Hirnveränderungen stark vom Grad abhängig sind, wie sehr ein Sinnessystem beansprucht wird[17], ist anzunehmen, dass strukturelle Veränderungen im vestibulären Cortex u. a. auch übungsabhängig sind. Es wird Aufgabe laufender und zukünftiger Studien sein, den Einfluss von Physiotherapie auf die hier beschriebenen strukturellen Hirn-
Strukturelle Hirnplastizität nach peripherer vestibulärer Läsion
veränderungen zu untersuchen, um deren klinische Relevanz zu charakterisieren.
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Klinische Aspekte der Otolithenfunktionsstörung D. Basta
Bedeutung der Otolithenfunktion für die posturale Kontrolle Der Einfluss eines Ausfalls der Otolithenfunktion auf die posturale Kontrolle ist bisher sehr wenig untersucht. Da die Rezeption der Lage im Raum eine Voraussetzung für die Ausführung von bestimmten Bewegungsabläufen ist, müsste sich eine Einschränkung dieser Wahrnehmung sehr deutlich auf die posturale Kontrolle bei Gang- und Standaufgaben auswirken[24]. Vor allem bei der zusätzlichen Deprivation sensorischer Inputs sind große Unsicherheiten zu erwarten[27]. Diese werden auch stets von den betroffenen Patienten eindeutig beschrieben. Eine Schädigung sowohl des Sacculus als auch des Utriculus bewirkt eine langfristige pathologische Zunahme der Körperschwankung infolge einer Gewichtsverteilung über die Fußflächen beim Stehen schon mit offenen Augen. Liegt ausschließlich ein Ausfall der Utriculusfunktion vor, ist die Zunahme der Körperschwankung beim Stehen nicht auf die Gewichtsverteilung über die Fußflächen, sondern auf eine erhöhte Oberkörperschwankung zurückzuführen. Eine zusätzliche Beeinträchtigung der Sacculusfunktion erhöht die Häufigkeit von pathologischen Oberkörperschwankungen bei Stehübungen unter verschiedenen sensomotorischen Konditionen[4]. Klassische vestibulospinale Tests sind bei Patienten mit Utriculus- oder Utriculus- und Sacculusfunktionsstörungen selten auffällig (bei nur ca. 40 % bzw. 46 % der Patienten). Beim Ab-
solvieren von Lauf- oder Koordinationsübungen unter sensorisch deprivierten Bedingungen (auf Schaumstoff, geschlossene Augen) zeigen 85 % der Patienten mit Utriculus- und Sacculusfunktionsstörungen pathologisch erhöhte Oberkörperschwankungen (67 % bei ausschließlicher Utriculusfunktionsstörung)[1].
Ursachen für eine Otolithenfunktionsstörung Frühere Untersuchungen zeigten bereits funktionelle Korrelationen zwischen pathophysiologischen Zuständen des Sacculus und der Genese des Morbus Meniere[9], des TullioPhänomens[35] und des Dehiszenssyndroms im oberen Bogengang[28]. Alle drei Krankheitsbilder gehen mit einer Veränderung der Druckverhältnisse im Vestibulum einher. Somit ist es wahrscheinlich, dass unphysiologische Druckveränderungen in der Endolymphe, die Funktion der Otolithenorgane beeinträchtigen können. Als häufigste Ursache dafür erwies sich das Kopfanpralltrauma. Aber auch durch die Insertion einer Cochlea-Implantat-Elektrode in die Scala tympani kann die Funktion des Sacculus nachhaltig gestört werden[6]. Eine solche Schädigung lässt sich jedoch durch die adäquate Wahl des cochleären Zugangs weitestgehend vermeiden[31]. Die Funktion der Otolithenorgane kann zudem auch durch genetisch determinierte, pathophysiologische Eigenschaftsveränderungen der zellulären Struktur der Macula modifiziert werden. Derartige Prozesse sind bereits für
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Klinische Aspekte der Otolithenfunktionsstörung
das Innenohr beschrieben worden. So kommt es bei einer Mutation des Connexin 26-Kanalproteins zu einer Leitfähigkeitsänderung der entsprechenden Gap-junctions zwischen den Stützzellen des Corti-Organs im Innenohr[13], [14]. Die Rezeptorepithelzellen der Otolithenorgane sind, wie im Corti-Organ, gut durch Gap-junctions miteinander verbunden. Im Utriculus und Sacculus ist das Connexin 26Kanalprotein dominierend vertreten[19]. Somit wird die Funktion der Otolithenorgane auch durch eine Connexin 26-Mutation beeinträchtigt. Vor allem der Sacculus ist dabei von einem Funktionsverlust betroffen[30]. Neben den rezeptorspezifischen, pathophysiologischen Veränderungen des vestibulo-collaren Reflexbogens sind auch Modifikationen des motorischen Anteils bzw. der Leitungsbahnen möglich. So beeinträchtigen Neurinome/ Schwannome oder eine mikrovaskuläre Kompression am VIII. Hirnnerven durch eine adhärente Arteria inferior cerebelli anterior den Leitungsweg erheblich[12]. Cochlea-Implantat-Systeme können jedoch auch während ihrer üblichen Anwendung in monopolarer Weise, d. h. es wird zwischen Kontakten innerhalb der Cochlea und extracochleären Referenzelektroden stimuliert, die Funktion des VCR beeinflussen[6]. Das ist insbesondere der Fall, wenn sehr hohe Stromstärken für die apikal in der Cochlea liegenden Elektroden verwendet werden müssen. Das kann jedoch intraoperativ festgestellt und durch eine Repositionierung der Elektrode ausgeschlossen werden.
Diagnostik der Otolithenfunktion Utriculus Da die Otolithenorgane maßgeblich an der Auslösung vestibulärer Reflexe (z. B. vestibulookulärer Reflex (VOR), vestibulo-collarer Reflex (VCR)) beteiligt sind, wird die Funktion dieser Reflexbögen bei der Otolithenfunktionsdiagnostik analysiert. Dabei wird die Auslösbar-
keit der beschriebenen Reflexbögen anhand der Reaktion des Effektors überprüft. Die Reflexe gewährleisten, das Gesichtsfeld stabil zu halten und so eine fortwährende Orientierung im Raum zu ermöglichen. So werden kompensatorische sowie orientierende Augenbewegungen und Kopf-/Halsmuskelkontraktionen während der Reizung der Macula utriculi oder sacculi durch lineare Beschleunigungen oder Lageveränderungen des Kopfes relativ zum Erdmittelpunkt ausgelöst[17], [23], [25]. Diagnostisch wird die Funktion des Utriculus an der Wahrnehmung horizontaler Verschiebungen geprüft. Als klinisch gut einsetzbar hat sich die Untersuchung der subjektiven, haptischen oder visuellen Vertikale erwiesen. Der Patient stellt dabei manuell eine vertikale Linie entweder mit geschlossenen Augen oder unter Blickkontrolle, aber ohne optische Bezugspunkte (abgedunkelte LCD-Brille, Blick in rotierende Halbkugel) ein. Die Prüfung kann in Ruhe, bei Körperschräglage oder während einer unilateralen Reizung (exzentrische Rotation) erfolgen. Als objektiver Parameter wird die torsionale Augenbewegung oder die Abweichung der Vertikalen (haptisch oder visuell) von der Nulllinie herangezogen. Sacculus Spezifität der vestibulär evozierten myogenen Potentiale Seit kurzem wird der VCR im Rahmen der unilateralen Diagnostik der Sacculusfunktion mit Hilfe akustischer Stimuli charakterisiert. Die verhältnismäßig hohe Empfindlichkeit des Sacculus für Tonstimulationen könnte einerseits auf den geringen Abstand zur Stapesfußplatte (ca. 1 mm) zurückzuführen sein. Andererseits ist die biomechanische Struktur des Sacculus seit seiner phylogenetisch frühen Ausbildung als Hörorgan weitestgehend konserviert worden. Wird der VCR ausgelöst, kann an der Halsmuskulatur die Inhibition der tonischen EMG-Aktivität als vestibulär evoziertes myogenes Potential (VEMP) registriert werden. Bei dieser Messung wird davon aus-
Klinische Aspekte der Otolithenfunktionsstörung
gegangen, dass durch einen tieffrequenten, lauten Ton die Macula sacculi erregt wird, was bereits tierexperimentell bestätigt werden konnte[21]. Aufgrund der afferenten Funktion der Otolithenorgane im VCR kommt es in Folge der Reizung zu einer Auslösung der motorischen Komponente des Reflexbogens an der ipsilateralen Halsmuskulatur. Nach einer Durchtrennung des Nervus vestibularis sind keine VEMPs mehr registrierbar[15]. Da VEMPs unabhängig von der cochleären Funktion auftreten, konnten sie auch bei gehörlosen Patienten nachgewiesen werden[8]. Eine eindeutige Zuordnung der Rolle der Sacculusfunktion bei der Entstehung von VEMPs beim Menschen konnte jedoch erst jetzt gezeigt werden. Da der Nervus vestibularis inferior neben dem Ductus semicircularis posterior ausschließlich den Sacculus innerviert und der Nervus vestibularis superior die Afferenzen des Ductus semicircularis anterior und -lateralis sowie des Utriculus weiterleitet, kann eine Eingrenzung der Rezeptorzuordnung mit Hilfe einer elektrischen Stimulation am inferioren Teil des Nervus vestibularis getroffen werden (Abb. 1). So wurde bei bipolarer Stimulation (0,4 –1,0 mA) des Nervus vestibularis inferior ein dem VEMP entsprechendes Potential ausschließlich am ipsilateralen Musculus sternocleidomas-
Abb. 1 Intraoperative Stimulation des Nervus vestibularis inferior oder superior mit Hilfe einer bipolaren Stimulationssonde.
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Abb. 2 Gemittelte EMG-Antwort des Musculus sternocleidomastoideus (SCM) während elektrischer Stimulation (0,8 mA) des Nervus vestibularis inferior (IVN) oder superior (SVN) (aus [2]).
toideus bzw. Musculus trapezius registriert (Abb. 2 A und C)[2]. Klinische Anwendung Reproduzierbare VEMPs können vor allem am Musculus sternocleidomastoideus abgeleitet werden (Abb. 3). Aufgrund der notwendigen tonischen Muskelaktivität setzt die Messung eine Beweglichkeit oder zumindest Belastbarkeit des Patienten im Bereich der Halswirbelsäule voraus. Alternativ kann auch am Musculus trapezius gemessen werden. Die Tonstimulation kann in Luft- oder Knochenleitung erfolgen (Abb. 3 A und B), wobei letztere bei einer Schallleitungsstörung angewendet werden sollte. Um eine maximale VEMP-Amplitude bei minimaler Stimulusstärke zu erzielen, hat sich die Tonstimulation mit 500 Hz bewährt. Für diesen Stimulus ergeben sich bei 115 dB Luftleitung bzw. 140 FL Knochenleitung obere Grenzwerte (oberer Normwertbereich) der Latenzen von 20,3 ms (P1) und 28,0 ms (N1) [3]. Verlängerte Latenzen (vor allem P1) können Hinweise für das Vorliegen einer Tumorgenese oder einer mikrovaskulären Kompression am VIII. Hirnnerven liefern. Eine besondere Aussagekraft über die Funktionalität der Macula sacculi ist von den VEMPAmplituden zu erwarten. Stellen die Latenzen der Antwort nur die Leitungsgeschwindigkeit peripherer und zentraler Bahnen dar, könnten die Amplituden qualitative und quantitative Aussagen über den Zustand des Sinnes-
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Klinische Aspekte der Otolithenfunktionsstörung
A
B
Abb. 3 Ableitung von vestibulär evozierten myogenen Potentialen am Musculus sternocleidomastoideus während Luft- (A) oder Knochenleitungsstimulation (B).
epithels zulassen. Die VEMP-Amplituden sind linear abhängig von der tonischen Aktivität des Halsmuskels. Sie sind jedoch unabhängig vom Geschlecht oder der Stimulationsart (Knochen- oder Luftleitung). Mit zunehmendem Alter nimmt jedoch die Amplitude ab, obwohl die zu erzielende tonische Aktivität der Halsmuskulatur gleich bleibt[3]. Es wird also bei älteren Patienten ein höherer Muskeltonus benötigt, um ein VEMP auslösen zu können. Mit Hilfe der unten stehenden Gleichungen lässt sich die zu erwartende VEMP-Amplitude altersspezifisch bei gegebenem Muskeltonus errechnen. Außerdem ist daraus auch ersichtlich, dass ein altersspezifischer minimaler Muskeltonus vorliegen muss um VEMPs zu erzielen[5].
nung ist es zudem möglich, quantitative Aussagen über den Zustand der Macula sacculi eines Patienten zu machen. Ist die gemessene Amplitude kleiner als der errechnete Wert, ist eine Unterfunktion der Macula sacculi anzunehmen[5]. Andererseits kann auch beim Gesunden keine VEMP-Antwort erwartet werden, wenn die tonische Aktivität der Halsmuskulatur geringere Werte als 93,5 μV (20 bis 40 Jahre), 104,8 μV (41 bis 60 Jahre) oder 110,8 μV (60 bis 76 Jahre) annimmt[5]. Liegt dieser minimale Muskeltonus nicht vor, ist eine Bewertung der VEMP-Messung nicht möglich. Um eine quantitative Aussage über den Zustand der Macula sacculi machen zu können, sollte die tonische Aktivität stets deutlich über diesen minimalen Werten liegen.
20 – 40 Jahre: y = 0,4527x – 42,318 41– 60 Jahre: y = 0,3703 x – 41,044 60 –76 Jahre: y = 0,2213 x – 23,183 y = VEMP-Amplitude, x = tonische Muskelaktivität
Einsatz eines Neurofeedbacktrainings bei Otolithenfunktionsstörungen
Die Formeln geben die untere Grenze des altersbezogenen 90 %-Konfidenzintervalls eines Normalkollektivs wieder. Durch diese Berech-
Wie in den oberen Abschnitten beschrieben, können Funktionsstörungen der Otolithenorgane durch verschiedene endogene und exogene Einflüsse auftreten.
Klinische Aspekte der Otolithenfunktionsstörung
Im Falle einer einseitigen peripher-vestibulären Läsion entsteht ein Seitenunterschied hinsichtlich der zentralen Afferenzen. Das führt zu einem Tonusungleichgewicht, welches sich klinisch als Schwindel äußert. Bei sistierender Seitendifferenz ist es oft möglich, dass sich ein neues Tonusgleichgewicht einstellt und es so zu einer mehr oder weniger kompletten Erholung der oben genannten Symptome kommt (vestibuläre Kompensation)[10], [20]. Diese Erholungsvorgänge werden meist auch durch nicht-vestibuläre, aber mit dem vestibulären System kooperierende Sinneseindrücke (z. B. visuelle oder propriozeptive) unterstützt. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen sind spezielle Behandlungsverfahren im Sinne eines vestibulären Trainings zur Förderung der zentralvestibulären Kompensation entwickelt worden. Das Grundprinzip des vestibulären Trainings besteht darin, durch gezielte wiederholte Reizungen eine Kompensation anzustreben. So gibt es z. B. Trainingsprogramme, die verschiedene Balanceaufgaben[29] oder spezielle Tai Chi-Übungen[22] verwenden. Bei anderen Methoden befindet sich der Patient in einem Simulator, mit dessen Hilfe Übungen in einer virtuellen Realität durchgeführt werden[26], [33]. Die Therapie zur Kompensation der Otolithenfunktionsstörung ist leider bei der Verwendung von konventionellen Trainingsmethoden wenig erfolgreich. Nur 35 % der Patienten geben z. B. eine geringfügige Verbesserung der Gleichgewichtskontrolle nach Absolvierung eines Trainingsprogramms auf dem Balancebrett an[11]. Aktuelle Therapieansätze verfolgen deshalb die Optimierung des Trainings durch die simultane Darbietung von nichtvestibulären Informationen über die Richtung und das Ausmaß der Körperschwankung bei bestimmten Gleichgewichtsübungen. Diese Neurofeedbacksysteme leiten ihre Informationen über taktile[18], [34], galvanische[32] oder auditorische[16] Signalwege dem Patienten zu. Ein Trainingsprogramm mit Hilfe eines auditorischen Feedbacks zeigte auch deutliche
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Erfolge bei der Rehabilitation von Patienten mit einer Otolithenfunktionsstörung[7]. Etwa 85 % der Patienten zeigen eine signifikant geringere Körperschwankung nach einem 10-tägigen Training in mindestens einer Kondition. Dabei ist die Übung „8 Tandemschritte auf Schaumstoff“ am häufigsten erfolgreich. Die größte Verringerung der Körperschwankung trat jedoch bei der Übung „Stehen auf Schaumstoff (Augen geschlossen)“ auf. Patienten mit einer Otolithenfunktionsstörung, die alle Übungen ohne Feedback absolvier-
Abb. 4 Vestibuläres Neurofeedbacktraining mit Hilfe eines vibrotaktilen Feedbacksystems. Die Feedbacksteuereinheit sowie die vier um 90° versetzten Vibrationsstimulatoren sind am Gürtel befestigt.
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Klinische Aspekte der Otolithenfunktionsstörung
ten, zeigten zu keinem Zeitpunkt des Trainings eine signifikante Verbesserung der posturalen Kontrolle. Die Ergebnisse zeigen, dass Patienten mit Otolithenfunktionsstörung die Information hinsichtlich ihrer Körperschwankung über den zusätzlichen Signalweg sinnvoll verarbeiten können und dadurch ihre posturale Kontrolle auch unter eingeschränkten sensorischen Bedingungen verbessern[7]. Das ist sehr bedeutsam, da Situationen mit depriviertem visuellen und propriozeptiven Input für das untersuchte Patientenklientel im Alltag eine besonders große Schwierigkeit darstellen. Noch erfolgversprechender scheint der Ansatz des vibrotaktilen Feedback zu sein, da diese Feedbacksignale direkt und unbewusst vom Patienten verarbeitet werden (s. Abb. 4).
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Danksagung Die in diesem Kapitel vorgestellten Arbeiten des Autors wurden mit dem Hennig-VertigoPreis 2008 ausgezeichnet. Die Planung und Durchführung der zugrundeliegenden Forschungsprojekte war jedoch nur durch die stete, unkomplizierte und umfassende Unterstützung durch Herrn Prof. Arne Ernst möglich, wofür ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bedanken möchte. Weiterhin danke ich allen Mitgliedern der Jury sowie meinen Mitautoren.
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