Rolf Reißig Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert
Rolf Reißig
GesellschaftsTransformation im 21. Jahrhunde...
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Rolf Reißig Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert
Rolf Reißig
GesellschaftsTransformation im 21. Jahrhundert Ein neues Konzept sozialen Wandels
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich / Tanja Köhler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17016-9
Inhalt
Vorwort ...............................................................................................................9
I
II
Die neue Ära der Transformation und das klassische Konzept sozialen Wandels .......................................................................................15 1
Um- und Neuorientierung des Konzepts sozialen Wandels – Pro und Contra............................................................................................15
2
Gesellschaft im Umbruch – das Erfordernis eines zeitgemäßen Konzepts sozialen Wandels .................................................................17
3
Das klassische Paradigma sozialen Wandels – Erklärungspotenziale und -grenzen......................................................20
4
Ausdifferenzierungen und neue „Anschlussstücke“ ............................23
5
Resümee: Theoretische Fundamente – notwendige Um- und Neuorientierung ...................................................................................26
„Gesellschafts-Transformation“ – Die Suche nach einem neuen Konzept sozialen Wandels........................................................................29 1
Anforderungen an ein zeitgemäßes Konzept........................................29
2
„Transformation“ als Leit- und Suchbegriff ........................................30
3
„Transformation“ als Struktur- und Entwicklungsmodell....................36
4
Gesellschafts-Transformation als theoretisches Erklärungskonzept ...............................................................................45
6
Inhalt
4.1 Gesellschaftstheoretische Makrokonzepte ...........................................46 4.2 Institutionen-, akteurs- und handlungstheoretische Ansätze ................49 4.3 Systematisierende Erklärungen............................................................58 5
Gesellschafts-Transformation als neues Konzept: Umrisse, Vergleich, Resümee .............................................................................60
III Der postsozialistische Fall einer Gesellschafts-Transformation – Herausforderung und Chance für ein zeitgemäßes Transformationsverständnis und -konzept.............................................67 1
Die ältere Transformationsforschung...................................................68
2
Die neue Herausforderung und die Forschung zur postsozialistischen Transformation – eine Bilanz ................................69
3
Gewinne und Defizite ..........................................................................80
4
Neue Einsichten und Erkenntnisse über Transformation – fehlender Paradigmenwechsel..............................................................85
IV Die „Große Transformation“ im 21. Jahrhundert – Erklärungsund Deutungsmuster.................................................................................93 1
Die erste „Große Transformation“ – Polanyis Analyse- und Deutungsmuster ...................................................................................93
2
Die „Große Transformation“ im 21. Jahrhundert.................................96
3
„Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle“ als „Einheiten“ der neuen Transformation ........................................................................102
4
Zukunftsfähige Entwicklungsmodelle – Unterschiedliche Ansätze und Konzepte .......................................................................109 „Die Pragmatiker“..............................................................................109 „Die Traditionalisten“........................................................................110 „Die Modernisierer“...........................................................................111 „Die Systemüberwinder“ ...................................................................113 „Die Transformationisten“.................................................................114
Inhalt
V
7
Der Wandel von Gesellschafts- und Entwicklungsmodellen – Eine empirische und theoretische Transformationsperspektive.........117 1
Transformation des Kapitalismus. Das Modell „Fordistische Teilhabegesellschaft“ .........................................................................117
2
Markt-liberale Transformation. Das Modell „Markt- und Konkurrenzgesellschaft“....................................................................124
2.1 Die markt-liberale Transformation ....................................................124 2.2 Das gewandelte Gesellschaftsmodell .................................................129 2.3 Modell-Krise und Entwicklungsszenarien .........................................136 3
Transformation als Paradigmenwechsel. Das Modell „Nachhaltige Solidargesellschaft“ .....................................................141
3.1 3.2 3.3 3.4
Paradigmen- und Modellwechsel.......................................................141 Gesellschaftliche Ansätze eines Modellwechsels ..............................144 „Solidargesellschaft“. Diskursive Ansätze.........................................150 Bausteine eines nachhaltigen und solidarischen Gesellschaftsund Entwicklungsmodells ..................................................................154 3.5 Alternatives Entwicklungsmodell – ein Resümee..............................167 3.6 Angelsächsische, deutsche, skandinavische Modell-Varianten – Verschiedene Transformationswege ..................................................171 3.7 „Teilhabegesellschaft“, „Markt- und Konkurrenzgesellschaft“, „Nachhaltige Solidargesellschaft“ – ein Vergleich ............................174 4
Globale Transformation. Das Modell „Nachhaltige und Solidarische Weltgesellschaft“...........................................................180
4.1 Globale Transformation und Weltgesellschaft...................................180 4.2 Gefährdungen, Herausforderungen und alternative Entwicklungsmodelle.........................................................................184 4.3 Globale Perspektiven der „Großen Transformation“ .........................191 VI Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert – Neuer Typ und neues Paradigma sozialen Wandels. Eine Zusammenfassung .....195 Literaturverzeichnis..........................................................................................201
Vorwort
Selten zuvor gab es so viel Wandel wie heute. Wandel ist zum bestimmenden Merkmal unserer Zeit geworden. Nur – ist das wirklich etwas Neues? Ist sozialer Wandel nicht vielmehr ein typisches Merkmal der Moderne? Letzteres auf jeden Fall! Doch heute handelt es sich um Wandlungsprozesse und -verläufe, die im bisherigen Wandlungsgeschehen der Moderne nicht so sehr die Regel, sondern eher die Ausnahme bildeten. Gesprochen wird deshalb auch von einer „Globalen Umbruchsituation“, die zugleich eine „Historische Zäsur der Moderne“ markiert. „Gesellschaft im Wandel“ – davon gehen die meisten aktuellen Diskurse aus. „Gesellschaft im Umbruch“ ist hingegen Gegenstand vielfältiger Fragen und Kontroversen. In diesem Kontext ist auch die vorliegende Arbeit platziert. Sie konstatiert eine historisch neuartige Umbruchsituation und thematisiert diese spezifisch als eine „Neue Ära der Transformation“. Hat Karl Polanyi einst die erste „Great Transformation“ (1944) beschrieben und erklärt, so wird das 21. Jahrhundert offensichtlich durch eine zweite „Große Transformation“ gekennzeichnet sein, die noch zu beschreiben und vor allem zu erklären ist. Ein entsprechender Versuch hierzu soll mit dieser Arbeit geleistet werden. Transformation wird hierbei als ein eigener, ein besonderer Typ sozialen Wandels bestimmt. In der Öffentlichkeit und namentlich auch in den Sozialwissenschaften wurde diese neue Ära der Transformation vor allem mit den Umbrüchen von 1989/90 identifiziert und am Fall der postsozialistischen Transformation unter dem Label „nachholende Modernisierung“, „nachholende Revolution“ reflektiert. Was 1989/90 nur Wenige vermuteten, wird inzwischen jedoch immer offensichtlicher: Nach der Transformation ist vor der Transformation, im Osten wie im Westen und vor allem auf globaler Ebene. Diese historische Zäsur und das wahrgenommene Umbruchszenario sind jedoch nicht zuerst in den Ereignissen von 1989/90 begründet. Diese selbst waren nur eine Folgewirkung der bereits Mitte der 1970er Jahre einsetzenden tief greifenden gesellschaftlichen Wandlungen in den modernen Industriegesellschaften, die die kapitalistischen des Westens ebenso trafen wie die realsozialis-
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Vorwort
tischen des Ostens. Die Krise eines spezifischen sozioökonomischen Entwicklungsmodells (fordistisches Produktions-, Sozial-, Kulturmodell) verbunden mit dem Übergang zur dritten industriellen Revolution führten im Westen zu Krisensymptomen, Konflikten, Verunsicherungen und letztlich zu neuen Anpassungskapazitäten; im Osten mit seiner bürokratischen Planwirtschaft und autoritären Einparteienherrschaft zu einer schleichenden und immer weiter fortschreitenden Erosion, die schließlich die Implosion seines Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells bewirkte. Die wirtschaftliche, politische, kulturell-geistige Überlegenheit des Westens und sein Sieg in der Systemkonkurrenz mit dem Osten waren das Eine, die verweigerte und vertagte gesellschaftliche Transformation, d. h. der notwendige Umbau und die Modernisierung des Produktions-, Sozial- und Kulturmodells und der Übergang zu einem neuen Wachstums- und Entwicklungspfad, das Andere. Die Verdrängungs-, Verzögerungs-, Abwehrstrategien gepaart mit neuen Konflikten und Herausforderungen haben die Erfordernisse der Transformation nun endgültig auf die Agenda des 21. Jahrhunderts gebracht. Im Fokus dieser neuen globalen Ära der Transformation steht dabei „GesellschaftsTransformation“. Gesellschafts-Transformation ist in unserem Verständnis eine spezifische Gestalt, Variante von Transformation und unterscheidet sich von Transformation im Sinne des Wandels von „Zivilisationstypen“ (z. B. Übergang vom traditionalen zum modernen Zivilisationstyp) oder des Wandels von „Formationstypen“ (z. B. Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus). Das Problem der Gesellschafts-Transformation als spezifischer Typ sozialen Wandels erhält in den Sozialwissenschaften bislang jedoch kaum Aufmerksamkeit. Das ist schon deshalb erstaunlich, weil rund 200 Jahre nach 1789, als die großen gesellschaftlichen Umbrüche vor allem in Form von gewaltsamen Revolutionen und Bürgerkriegen praktiziert und nicht selten exportiert wurden, hier ein neues Modell gesellschaftlichen Wandels entstanden ist. Ein Modell mit Zukunft, wie die Entwicklung gerade auch seit 1989/90 zeigt. In dieser Arbeit bildet „Gesellschafts-Transformation“ den Dreh- und Angelpunkt sowohl auf empirisch-analytischer wie theoretisch-konzeptioneller Ebene. Sie stößt damit in eine Lücke in den sozialwissenschaftlichen, medialen, öffentlichen Diskursen, die auszufüllen heute geboten ist. Dabei kann bei einer Beschreibung der neuen Wandlungsprozesse und verläufe, die den Charakter einer Gesellschafts-Transformation annehmen, nicht stehen geblieben werden. Es gilt vor allem die neuen Zusammenhänge, die gewandelten Funktions- und Entwicklungslogiken und die weit reichenden Folgewirkungen dieser Wandlungsprozesse und -verläufe zu erklären und zu deuten. Das aber erfordert ein theoretisches Konzept und entsprechende Erklärungsan-
Vorwort
11
sätze. Wie wir feststellen konnten, ist das klassische Paradigma sozialen Wandels dafür allein nicht mehr ausreichend, wenngleich es noch immer ein reichhaltiges Fundament bereit hält (Kap. I). Notwendig ist eine Um- und Neuorientierung des bisherigen Konzepts, des bisherigen Paradigmas sozialen Wandels. Diese Suche nach einem zeitgemäßen Konzept sozialen Wandels, seine Generierung aus der Empirie der Transformationsprozesse zieht sich wie ein roter Faden durch die vorliegende Arbeit. Dabei wird „Transformation“ und „Gesellschafts-Transformation“ erstmals in dieser Weise als Kern eines neuen Konzepts sozialen Wandels herausgearbeitet: als Such- und Leitbegriff im Verhältnis zu den Begriffen sozialer Wandel, Modernisierung, Evolution und Revolution; als Struktur- und Entwicklungsmodell; als Theorie-Rahmen, als Paradigma. Nicht zuletzt werden das in Umrissen entworfene neue Konzept der Gesellschafts-Transformation mit dem klassischen Konzept sozialen Wandels verglichen und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie vor allem das Neue herausgearbeitet und systematisch dargestellt (Kap. II). Dies war allein schon deshalb erforderlich, als bei den Analysen und Erklärungen neuer Gegebenheiten des postsozialistischen Falls einer GesellschaftsTransformation weiterhin vorwiegend auf die klassischen Modelle und Theorien sozialen Wandels und die bekannten Analyse- und Deutungsmuster zurück gegriffen wurde, ohne sie einem kritischen Test auszusetzen. Konnte so bereits beim postsozialistischen Transformationsfall kaum noch das über das Einzelne hinausreichende Allgemeine und Neue des Wandlungstyps „GesellschaftsTransformation“ herausgefiltert werden (Kap. III), so wird eine Um- und Neuorientierung des Paradigma sozialen Wandels für die Problematisierung und Konzeptualisierung der Gesellschafts-Transformation in den modernen westlichen Gesellschaften und der Weltgesellschaft unverzichtbar. Erst dadurch war es möglich, diesen neuen Typ sozialen Wandels im 21. Jahrhundert zu erfassen, zu erklären, zu deuten und in Umrissen zu prognostizieren (Kap. IV und V). Die Diskontinuitäten und Brüche sozialen Wandels in Gesellschaften westlichen Typs drücken sich gerade in der Entwicklung als Abfolge von Gesellschaftsmodellen, von gesellschaftlichen Entwicklungs- und kulturellen Deutungsmustern aus. „Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle“ sind die „Einheiten“ dieser neuen Transformation. Ein Umstand, der, wie eine Analyse der entsprechenden Diskurse zeigt, unterschätzt oder in den Ansätzen von „neuer Politik“ über „fortschreitender Modernisierung“ bis „Systemüberwindung“ m. E. nur einseitig reflektiert wird. Auf der Makroebene sind diese Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle durch spezifische Produktions-, Sozial- und Kulturmodelle, auf der Mikroebene
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Vorwort
durch spezifische Verfügungs- und Teilhabemöglichkeiten der Individuen charakterisiert. Diese Diskontinuitäten, Brüche und Neukonstituierungen im Transformationsgeschehen moderner bürgerlicher Gesellschaften wie der Weltgesellschaft analysieren und erklären wir speziell am Aufstieg und der Erosion des Modells der „Fordistischen Teilhabegesellschaft“ (Kap. V.1), der darauf folgenden marktliberalen Transformation mit der Herausbildung des Modells einer „Markt- und Konkurrenzgesellschaft“ (Kap. V.2), die auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung 2007/2008 in ihre tiefste Krise geriet. Verschiedene Entwicklungsperspektiven sind seitdem möglich. Als alternatives makrosoziales Modell wird in der vorliegenden Arbeit das einer „Nachhaltigen Solidargesellschaft“ (Kap. V.3) entwickelt. Abgeleitet aus der Analyse der Gegenwartsgesellschaft, den sich abzeichnenden Trendbrüchen, den neuen globalen Herausforderungen und nicht zuletzt aus den sich wandelnden gesellschaftlichen Wertestrukturen. Durch den folgenden Vergleich dieser Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle konnten ihre spezifischen Entstehungsbedingungen, ihre Funktions- und Entwicklungslogiken, aber auch ihre intern und extern bedingten Erosions- und Niedergangstendenzen genauer markiert und verallgemeinert werden (s. V.3.7). Die weitere Entwicklung ist offen. Doch wird nur ein sozioökonomisches und kulturelles Entwicklungsmodell zukunftsfähig sein und sich gegenüber anderen Modellen „durchzusetzen“ vermögen, das Nachhaltigkeit, Effizienz und soziale Kohäsion auf der Makroebene und mehr Freiheit, Gleichheit und demokratische Partizipation als Basis individueller Lebensführung verwirklicht. Das sind keine „Einheitsgesellschaften“, sondern „Bindestrichgesellschaften“ (Thomas H. Marshall), in denen verschiedene und gegensätzliche Elemente und Prinzipien sich in einer Wettbewerbssituation befinden. Entscheidend wird sein, ob es einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft gelingt, die allgemeinen Rahmenbedingungen und soziokulturellen Zielsetzungen für die Entwicklung des Gemeinwesens im 21. Jahrhundert zu bestimmen (s. V.3.5). Vor allem auf globaler Ebene werden gerade die nächsten 10 bis 15 Jahre darüber entscheiden, in welche Richtung sich die „Große Transformation“ entwickeln und ob es möglich wird, die großen Probleme des 21. Jahrhunderts – die Energie-, Ressourcen- und Klimafrage, die soziale Frage, die Frage der internationalen Sicherheit und Kooperation – zu lösen. Auch zu dieser hoch aktuellen Thematik „Globale Transformation – Weltgesellschaft – Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit, Solidarität“ kann der Leser Zusammenhänge erkennen, Einblicke gewinnen, Diskussionen verfolgen und sich seinen eigenen Standpunkt bilden (Kap. V.4). Am Ende der Arbeit wird „Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert“ sowohl als neuer Typ sozialen Wandels – bezüglich Struktur, Entwick-
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lungsweise, Formen, Akteure, Dauer, Resultate, historischer Verortung – als auch als neues Konzept, neues Paradigma sozialen Wandels – bezüglich Modell, Leitidee, Begriffe, Erklärungs- und Deutungsmuster, Gesellschaftsentwicklung und Folgewirkungen – zusammenfassend dar- und damit zur Diskussion gestellt (Kap. VI). Die hin und wieder gestellte und in aller Regel verneinte Frage, ob daraus auch eine eigene Transformationstheorie oder Theorie der GesellschaftsTransformation entstehen kann, ist heute noch nicht entschieden. Sie steht gegenwärtig aber auch nicht im Vordergrund. Wichtig ist vielmehr eine Um- und Neuorientierung der Theorie sozialen Wandels, die Suche nach einem neuen Konzept bzw. Paradigma sozialen Wandels, um die neuen und vielschichtigen Transformationsprozesse adäquat analysieren, erklären und deuten zu können. Sollte dies schließlich zu einer Theorie der Transformation führen, würde diese auf jedem Fall keine generalisierende, „abschließende“ Großtheorie sein wie es die System- und Modernisierungstheorie einerseits und die Formations- und Revolutionstheorie andererseits für sich beanspruch(t)en. Da Transformation ein komplexer, vielgestaltiger, alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens (Makro-, Meso-, Mikroebene) einbeziehender Wandlungsvorgang ist, könnte eine Theorie der Transformation diese Komplexität und Differenziertheit kaum in seiner Gesamtheit erfassen, systematisieren, verallgemeinern. Im soziologischen Verständnis wäre eine solche Transformationstheorie eine spezifische Wandlungstheorie „mittlerer Reichweite“. In diesem Sinne hat sie gehaltvolle und empirisch überprüfbare Aussagen (Hypothesen) über gesellschaftliche Wandlungsund Umbruchprozesse, deren Ursachen, Dynamik, Verläufe und Folgen zu liefern. D. h. heute vor allem über die Prozesse des Wandels und der Neukonstituierung von sozioökonomischen und soziokulturellen Gesellschafts- und Entwicklungsmodellen. Hier sind empirisch überprüfbare theoretische Aussagen möglich, wie sie von mir diskutiert werden. Es bleibt mir abschließend nur zu hoffen, mit dieser Arbeit einen Beitrag geleistet zu haben sowohl zum besseren Verständnis der sich vollziehenden, komplexen und oft unübersichtlichen Prozesse der Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert als auch zum Diskurs um ein zeitgemäßes, modernes Konzept (Paradigma) sozialen Wandels. Rolf Reißig
I
Die neue Ära der Transformation und das klassische Konzept sozialen Wandels
Selten zuvor gab es so viel Wandel wie heute. Wandel – in seinen unterschiedlichen Formen – ist zum bestimmenden Merkmal unserer Zeit geworden. Doch wir scheinen unzureichend gerüstet, ihn zu begreifen, zu erklären und zu werten. Man kann sich des Eindrucks kaum entziehen, dass gerade in den Sozialwissenschaften zur Erklärung auch der neuen Wandlungsverläufe und -prozesse im Übergang zum 21. Jahrhundert vorwiegend auf die klassischen Modelle und Theorien sozialen Wandels und die bekannten Analyse- und Deutungsmuster zurückgegriffen wird. Vielleicht sind diese aber auch weiterhin völlig ausreichend zur Erklärung der heutigen sozialen Wandlungsverläufe und die Forderungen nach neuen Erklärungsansätzen, gar nach einem „Perspektivenwechsel“ nur eine optische Täuschung.
1
Um- und Neuorientierung des Konzepts sozialen Wandels – Pro und Contra
Die Frage, ob eine theoretische Um- und Neuorientierung des klassischen Modells sozialen Wandels erforderlich ist, wird in den Sozialwissenschaften sehr unterschiedlich beantwortet. Die Befürworter einer solchen Um- und Neuorientierung verweisen vor allem auf die historisch neuartige globale Umbruchsituation, die nun gerade auch die modernen westlichen Gesellschaften voll erfasst habe sowie darauf, dass diese historische Zäsur nicht mehr allein mit den bislang dominierenden theoretischen Modellen, Konzepten, Erklärungsansätzen beschrieben, erklärt und gedeutet werden könnte. Bereits die post-sozialistische Transformation habe dies in Umrissen deutlich werden lassen. Ohne eine Um- und Neuorientierung des klassischen Konzepts, des Paradigmas sozialen Wandels bleiben auch aus meiner Sicht die Sozialwissenschaften hinter den neuen sozialen und wissenschaftstheoretischen Herausforderungen zurück.
16
Neue Ära der Transformation
Jene, die eine solche Um- und Neuorientierung eher verneinen, führen hauptsächlich zwei Argumente ins Feld: ein erstes geht davon aus, dass die modernen, westlichen Gesellschaften ein solches Ausmaß an Anpassungskapazität und Flexibilität entwickelt haben, dass sie alle auftretenden Konflikte, Spannungen, Blockaden letztlich durch „weiterführende Modernisierung“ und „Selbsttransformation“ innerhalb der gegebenen, bestimmenden gesellschaftlichen Strukturen, Mechanismen und Entwicklungsmodellen bearbeiten können und so immer wieder neue gesellschaftliche Entwicklungsperspektiven eröffnen. Alle bisherigen Thesen von „fortschreitender Krise“, von „Selbstblockade“, gar vom „Zusammenbruch des kapitalistischen Systems“ seien so nicht eingetroffen und hätten ihre Befürworter nur immer weiter in die Defensive gedrängt. (Zapf 1996: 170, 172). Ein zweites – und speziell im wissenschaftlichen Diskurs angeführtes – Argument verweist darauf, dass mit der vorhandenen Theorie sozialen Wandels und der Vielzahl Theorien mittlerer Reichweite (insbesondere Institutionen- und Handlungstheorien) und nicht zuletzt durch deren Kombination der konflikthafte gesellschaftliche Wandel auch heute und in Zukunft sehr wohl und recht genau beschrieben, erklärt und gedeutet werden könne. Und da Systemwechsel bzw. Systemtransformation letztlich immer Übergang zu und Vervollkommnung von marktwirtschaftlichen Demokratien bedeute (Bertelsmann Transformation-Index 2006), sei mit den darauf zugeschnittenen Theorien und systemtheoretischen sowie evolutionstheoretischen Konzepten ein hinreichendes Instrumentarium für die Analyse und Erklärung dieser Prozesse gegeben. (vgl. auch Merkel 1994: 303 ff.). Spezielle, darüber hinaus reichende neue theoretische Konzepte und Modelle sozialen Wandels bzw. einer GesellschaftsTransformation seien deshalb nicht erforderlich; gleich recht nicht zum Verständnis der modernen westlichen Gesellschaften und ihrer Entwicklung. Auf Versuche, neue Konzepte und Modelle sozialen Wandels bzw. eine neue Transformationstheorie zu entwickeln, sollte verzichtet werden, da sie das, was sie vorgeben, nicht zu halten vermögen. Denn die Frage, „in welcher Gesellschaft wir leben“ und „ob der Umbruch bevorsteht“, könne „die theoretische Soziologie nicht beantworten“ (Schmid/Weihreich 2001: 189). Letztlich gründet die unterschiedliche Positionierung zur Frage einer Umund Neuorientierung des klassischen Konzepts sozialen Wandels in einem unterschiedlichen Verständnis von Gesellschaft, Stabilität, Entwicklung und Umbruch.
Klassisches Konzept sozialen Wandels
2
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Gesellschaft im Umbruch – das Erfordernis eines zeitgemäßen Konzepts sozialen Wandels
Für die Um- und Neuorientierung des klassischen Konzepts sozialen Wandels und die Erarbeitung eines zeitgemäßen Wandlungsmodells sprechen aus meiner Perspektive sowohl wissenschaftsexterne wie wissenschaftsinterne Gründe. Sozialer Wandel ist bekanntlich ein typisches Kennzeichen der Moderne. Deren Stabilität wird durch eine Veränderung der inneren und äußeren Umweltbedingungen, durch neue Herausforderungen, durch zunehmende soziale und politische Konflikte immer wieder in Frage gestellt. Früher oder später erodiert das alte Gleichgewicht und stellt sich die Notwendigkeit der Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Im Prinzip ist niemals ein optimaler, ein endgültiger Gesellschaftszustand erreicht, auf den sich Gesellschaften zwangsläufig zu bewegen und der ein „Ende“ des Wandels, der gesellschaftlichen Veränderungen bedeutete. Stets gibt es mehrere Möglichkeiten, Alternativen, Optionen gesellschaftlicher Entwicklung. Sozialer Wandel, gesellschaftliche Entwicklung wird deshalb niemals zum Stillstand kommen. Dabei ist jedoch – in theoretischer Perspektive – sozialer Wandel zunächst auf zwei Ebenen zu unterscheiden: Zum einen sozialer Wandel, auch in tief greifender Form, innerhalb der gegebenen Prozess- und Ordnungsstrukturen, innerhalb des dominierenden Produktions- und Sozialmodells. Dies ist der Normalfall sozialen Wandels in der Moderne. Zum anderen sozialer Wandel, der auf eine Umwandlung dieser Prozessund Ordnungsstrukturen, des dominierenden Produktions- und Sozialmodells, der bislang gängigen Entwicklungs- und Deutungsmuster zielt und Möglichkeiten einer Gesellschafts-Transformation eröffnet. Heute befinden wir uns in einer historischen Periode, die als neue soziale Umbruchsituation bezeichnet werden kann und die durch diese zweite Ebene sozialen Wandels charakterisiert ist. „Gesellschaft(en) im Umbruch“ (vgl. auch Baethge/ Bartelheimer 2006) auf nationaler, europäischer und globaler Ebene charakterisiert diese historische Zäsur treffend. Es geht also in diesem Verständnis nicht schlechthin nur um den für die Moderne typischen sozialen Wandel, auch nicht nur um tief greifenden Wandel, sondern um einen gesellschaftlichen „Umbruch“, den ich als tief greifende „Transformation“, als „Gesellschafts-Transformation“ bezeichne. Diesen Typ sozialen Wandels gilt es neu zu betrachten – sowohl in analytisch-empirischer wie in theoretisch-konzeptioneller Hinsicht. Dass auch tief greifender Wandel zur Entwicklung moderner Gesellschaften gehört, davon gehen die meisten Diskurse aus. Nur dass es sich heute um einen historischen und globalen Umbruch im Gesellschaftsgefüge, in
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Neue Ära der Transformation
den dominierenden Entwicklungs- und Gesellschaftsmodellen handelt, ist Gegenstand von Fragen und Kontroversen. Genau genommen befinden sich die modernen westlichen Gesellschaften wie die Weltgesellschaft als Ganzes – so meine Hypothese – nach der ersten „Großen Transformation“ (Polanyi), d. h. nach Herausbildung der Moderne, des kapitalistischen Marktes und seiner Entwicklung in einer neuen, zweiten großen Ära der Transformation (s. Kap. III und bes. Kap. IV). In den Sozialwissenschaften allerdings wurde diese neue Ära der Transformation, sofern überhaupt reflektiert, mehrheitlich allein mit den Umbrüchen von 1989/90 identifiziert. Von einer Epochenzäsur war in diesem Zusammenhang die Rede. Das Koordinatensystem der Sozialwissenschaften, auf das sich ihr Denken über Stabilität und Wandel bezog, zerbrach. Die Nachkriegsordnung ging zu Ende. Der bis dahin bestimmende Ost-West-Gegensatz und die Systemkonkurrenz zwischen Sozialismus und Kapitalismus lösten sich auf. Die Transformationsproblematik der osteuropäischen Gesellschaften rückte in den Mittelpunkt der sozialwissenschaftlichen Debatten. Im ehemals geteilten Deutschland begann das „Experiment Vereinigung“ (Giesen/Leggewie 1991) mit seiner sozialwissenschaftlichen Begleitung. Die Vorschläge, um diesen Umbruch zu verstehen und zu erklären, lauteten: „nachholende Modernisierung“, „weitergehende Modernisierung“ oder es wurde mit evolutionistischen Begriffen wie „nachholende Revolution“, „nachholende Entwicklung“ versucht, sich dieser neuen Situation zu nähern. Alles in allem dominierte bei der Analyse und Entwicklung dieses Transformationsgeschehens ein Rückgriff auf die vorhandenen Konzepte und Theoriebestände (vgl. auch dazu Kap. III). Typische Reaktionen in den westlichen Sozialwissenschaften auf diese Ereignisse beschrieb Burkhart Lutz 1994 wie folgt: „Der Zusammenbruch des realen Sozialismus wird weithin als flagranter Beweis für die Richtigkeit des eigenen Weges und des eigenen Systems verstanden, so dass es für grundsätzlichere Kritik weder Ansatzpunkte noch Legitimität gebe. Wissenschaftlich schien zunächst die Modernisierungstheorie der 60er Jahre das weitaus effizienteste Instrument zur Analyse des Zusammenbruchs als Folge verspäteter und des folgenden Transformationsprozess als beschleunigter, nachholender Modernisierung zu liefern“ (Lutz 1994: 524). Was 1989/90 tatsächlich nur Wenige vermuteten, wird inzwischen jedoch immer offensichtlicher. Nach der (post-sozialistischen) Transformation ist vor der Transformation, im Osten wie im Westen, national wie global. Diese tiefe Zäsur, das damals wahrgenommene gesellschaftliche Umbruchszenario, lag nicht zuerst in den Ereignissen von 1989/90 begründet. Diese selbst waren eine Folgewirkung der bereits Mitte der 1970er Jahre einsetzenden „strukturellen
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Transformation“, der tief greifenden gesellschaftlichen Wandlungen in den modernen Industriegesellschaften, die die kapitalistischen des Westens ebenso trafen wie die realsozialistischen des Ostens. Die Krise eines spezifischen Gesellschafts- und Entwicklungsmodells, des fordistischen Produktions- und Sozialmodells, gepaart mit dem Übergang zur dritten industriellen Revolution führten im Westen zu Krisensymptomen, Konflikten, Verunsicherungen und letztlich zu neuen (marktliberal geprägten) Anpassungskapazitäten; im Osten zu einer schleichenden und immer weiter fortschreitenden Erosion, die letztlich die Implosion seines Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells bewirkte (s. dazu V.1). Inzwischen stehen aber auch die westlichen Gesellschaften vor einer tief greifenden Gesellschafts-Transformation, vor einem Umbruch ihres Produktions- und Sozialmodells, ihres bisherigen und lange Zeit recht erfolgreichen Entwicklungsmusters. Die Weigerung, sich der neuen gesellschaftlichen Umbruchsituation und vor allem den neuen Herausforderungen zu stellen, hat zu einer Kumulation der Problemlagen geführt und den grundlegenden strukturellen, systemischen Wandel, die Gesellschafts-Transformation noch zwingender auf die Agenda gesetzt. Es geht um einen prinzipiell neuen Entwicklungspfad, der im Kern durch einen sozial-ökologischen Umbau der Industriegesellschaften und einen entsprechenden Umbau der Sozialsysteme und einen Wandel der kulturellen Deutungsmuster und Lebensweise gekennzeichnet ist. Dies verlangt zugleich eine neue Teilhabe aller Individuen an Arbeit, Bildung, Wissen, Kultur sowie dem erzeugten materiellen Reichtum. Nachhaltigkeit als Zukunftsfähigkeit ist der Schlüssel zum neuen Entwicklungspfad – national und global. Das erfordert, dass nicht mehr länger ein selbstregulierter Markt und speziell der kapitalistische Finanzmarkt, sondern eine erneuerte demokratische Gesellschaft, gestützt auf eine breite demokratische Willensbildung, Dominanz im Gesamtgefüge erlangt und die Rahmenbedingungen sowie die Leitorientierung der Entwicklung vorgibt (vgl. zu dieser Gesamtproblematik Kap. IV und V). Diese neue gesellschaftliche Umbruchsituation hat Folgen für die Sozialwissenschaften. Bei weiten Teilen aber war seit längerem „das Interesse an ‚große’ Themen, an ausgreifenden Entwürfen weitgehend erlahmt (…) und die Aufmerksamkeit (richtete) sich vorwiegend auf ‚Mikrostrukturen’ oder der ‚methodischen Verfeinerung’ und formaler ‚Härtung’“ (Lutz 1994: 516). Die der historisch neuen Situation adäquate Interpretation kann jedoch nur lauten, „dass es ganz im Gegenteil zunehmend dringlicher wird, hochgradig neuartige gesellschaftliche Problemlagen zu untersuchen und zu verstehen, die sich den herkömmlichen, in den Modernisierungstheorien gewonnenen Begriffsschema entziehen, dass die Sozialwissenschaften jedoch eben deshalb weithin unfähig sind, diese Problemlage überhaupt adäquat zu perzipieren, ge-
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Neue Ära der Transformation
schweige denn in einer wie immer handlungsleitenden Weise zu analysieren“ (ebd.: 516-517). Eine theoretische Um- und Neuorientierung scheint also auch in den Sozialwissenschaften erforderlich, um die neuen gesamtgesellschaftlichen Umbruchphänomene analysieren und erklären zu können. Nicht zuletzt weil seit Mitte der 1970er Jahre eine markt-liberale Globalisierungswelle und mit ihr Konflikte und Gefährdungen weltweit zugenommen haben und zugleich sich das Streben nach Auswegen, nach Alternativen in den verschiedenen Regionen der Weltgesellschaft verstärkt (s. dazu Beck 2007; Bahr [Hg.] 2008). In dieser Scheidewegsituation lautet die Alternative: Globale Konfrontation oder globale Kooperation. Es geht letztlich um Wege zu einer sozialen und demokratischen Weltgesellschaft (Reißig 2008), zu einem neuen Modell nachhaltiger und solidarischer Entwicklung (vgl. Kap. V), was auch an die Sozialwissenschaften neue Anforderungen stellt. Diese sich abzeichnende „Große Transformation“ verändert mithin auch für die Sozialwissenschaften die externen Rahmenbedingungen. Diese gewandelten gesellschaftlichen Kontexte stellen die Frage nach Revisionen im traditionellen sozialwissenschaftlichen Denken über sozialen Wandel und seiner Neuorientierung. Vor allem hinsichtlich dessen, was heute „Gesellschaft im Umbruch“ und „Gesellschafts-Transformation“ genannt werden kann.
3
Das klassische Paradigma sozialen Wandels – Erklärungspotenziale und -grenzen
Um die Annahme einer notwendigen Um- und Neuorientierung des Konzepts sozialen Wandels weiter zu begründen, müssen wir nun einen Blick auf die wissenschaftsinterne Situation werfen, d. h. das klassische Paradigma sozialen Wandels und seine Erklärungspotenziale rekonstruieren. Dies gibt dann weiteren Aufschluss, ob und in welcher Hinsicht eine solche Um- und Neuorientierung im Denken über sozialen Wandel tatsächlich geboten erscheint (vgl. dazu bes. auch Müller/Schmid 1995: 10 ff.). Die Sozialwissenschaften entstehen im Gefolge der ersten „Großen Transformation“ und mit ihnen die Versuche, die Quelle und die Dynamik sozialen Wandels aufzudecken (Müller/Schmid 1995: 10). Rekonstruiert man das Paradigma sozialen Wandels, so können nach Müller/Schmid drei Phasen unterschieden werden, die sie als die heroische, die klassisch-soziologische und die zeitgenössische Phase nach dem zweiten Weltkrieg bezeichnen (Müller/Schmid 1995: 16).
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Die heroische Phase im 19. Jahrhundert entwickelte als paradigmatischen Kern ein komplexes Forschungsprogramm zur „Großen Transformation“ (ebd.: 16), das historisch auf den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, theoretisch auf den Umbau von der Tradition zur Moderne und normativ auf die hegemoniale Vormachtstellung des okzidentalen Europas gerichtet ist (Wallerstein 1975). Im Mittelpunkt stehen drei Revolutionen: die ökonomische Revolution und die Entstehung des Industriekapitalismus; die politische Revolution und die Etablierung der bürgerlichen Demokratie; die kulturelle Revolution und die Werte Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde sowie die Entwicklung individueller Selbstentfaltungswerte. Im Kontext dieser ersten „Großen Transformation“ entstehen verschiedene theoretische Konzepte: so die politische Theorie der Demokratie von Tocqueville (Tocqueville 1976), die evolutionstheoretischen Differenzierungs- und Entwicklungstheorien von Auguste Comte (Comte 1907, 1911) und Herbert Spencer (Spencer 1875). Einen zentralen Platz im Forschungsprogramm der „Großen Transformation“ nimmt die politökonomische Theorie des Kapitals von Karl Marx (Marx 1965) ein, in der das „ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft“ (Marx 1965: 15) aufgedeckt wird. Die klassisch-soziologische Phase setzt am Ausgang des 19. Jahrhunderts ein. In der Soziologie verflüchtigen sich der ungebremste Optimismus, der geschichtsphilosophische Fortschrittsglaube aus der Zeit der „Großen Transformation“. Gesucht wird nach empirisch tragfähigen Strukturprinzipien und Mechanismen des sozialen Wandels. Dies ist der gemeinsame Nenner von Tönnies, Durkheim, Simmel und Weber (vgl. hierzu und folg. Müller/Schmid 1995: 17 f.). Zweifelsohne gilt Max Webers „Gesellschaftsgeschichte“ als Einheit von Wirtschaftsgeschichte (Weber 1958), von politischer Gesellschaftsgeschichte (Weber 1964) und kultureller Gesellschafts- und Mentalitätsgeschichte (Weber 1920) als Höhepunkt dieser Phase. Die westliche Moderne (Okzident) ist für Weber eine einmalige Sonderentwicklung. Eine entwickelte Gesellschaftstheorie und eine systematische Theorie sozialen Wandels liegen damit trotz des umfassenden soziologischen Fundus nicht vor. Die zeitgenössisch-soziologische Phase nach dem Zweiten Weltkrieg wird zunächst und vor allem durch Talcott Parsons begründet, indem er die Beiträge der soziologischen Klassiker integriert, synthetisiert und weiterführt. Er setzt de facto historisch an der Großen Transformation und systematisch am Erkenntnisund Wissensbestand der soziologischen Klassiker an (Müller/Schmid 1995: 18). Die Fragestellungen aus der Zeit der Großen Transformation aufgreifend, er-
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neuert er diese zugleich und versucht sie mit den Erkenntnissen klassischer und neuester Theorien zu bearbeiten, zu verdichten. Theoretische Basis des Ansatzes von Parsons ist die strukturfunktionalistische nichtautopoietische Systemtheorie. In seinem Ansatz einer Symbiose von System- und Handlungstheorie begreift er Gesellschaft als ein „integratives Subsystem eines allgemeinen Handlungssystems“ (Parsons 1972: 20). Seine Gesellschaftstheorie fokussiert er als Differenzierungs- und Evolutionstheorie (Parsons 1975). Hierbei interessierte er sich besonders für die Herausbildung des Typus „moderner Gesellschaften“. Anders als Weber, dem insbesondere die historischen Konfigurationen interessierten, versucht Parsons ein allgemeines Entwicklungsmuster zu entwerfen. Sein evolutionäres Muster wird durch die Prozesse funktionaler Differenzierung charakterisiert: die industrielle Revolution führt danach zur Differenzierung zwischen Wirtschaft und politischer Herrschaft; die demokratische Revolution bringt die Differenzierung zwischen ziviler Gesellschaft, Ökonomie und politischem System mit sich; und die Bildungsrevolution mündet in die Differenzierung zwischen Kultur und gesellschaftlicher Gemeinschaft ein. Die historische Evolution zur Moderne macht diese Gesellschaften – so Parsons – nicht nur komplexer und differenzierter, sondern im Vergleich zu allen anderen Gesellschaften auch leistungsfähiger. Auch weil sie sich durch eine gesellschaftliche Anpassungskapazität auszeichneten (Parsons 1972: 41). Entwicklung vollzieht sich danach im Subsystem Wirtschaft durch Standarthebung mittels Anpassung, im Subsystem politisches Gemeinwesen durch Differenzierung, im Subsystem gesellschaftliche Gemeinschaft durch Einbeziehung und im Subsystem Kultur durch Wertverallgemeinerung. Diese Differenzierung ist die notwendige Bedingung der Höherentwicklung. Alle Gesellschaften steuern so letztlich auf ein Grundmuster hin. Es sind bestimmte evolutionäre Universalien – bürokratische Organisation, Geld- und Marktsysteme, Recht und demokratische Assoziation (Parsons 1969) – die sich stetig, wenn auch auf Umwegen, entwickeln. Krisen, Konflikte, Brüche werden dabei nicht ausgeschlossen. Krisenerscheinungen werden vor allem auf systematische Ungleichgewichte zurückgeführt. Das Gleichgewicht stellt sich dann durch die Anpassungsprozesse zwischen System und Umwelt, durch prinzipielle Eigendynamik her, wodurch Störungen letztlich überwunden werden. Gesellschaften modernisieren sich so beständig. Die komplexen (westlichen) Gesellschaften seien die Vorreiter der modernen Geschichte (Parsons 1975: 40). Parsons Ansatz repräsentiert damit das eigentliche klassische Paradigma sozialen Wandels (Müller/Schmid 1995: 18/19). Mit Hilfe dieses Konzepts – so schien es zumindest – sei es möglich, deterministische Gesetze aufzudecken und verwertbare gesellschaftliche Progno-
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sen zu liefern. Ausdruck dieser theoretischen Basis wurde die soziologische „Theorie der Modernisierung“ oder „Modernisierungstheorie“, die vor allem in den USA ausgearbeitet wurde. Sie gewann rasch Einfluss auf das soziologische Denken des Westens. „Modernisierung ist (…) ein bestimmter Typ sozialen Wandels, der im 18. Jahrhundert eingesetzt hat (…), der seinen Ursprung hat in der englischen industriellen Revolution (…) und in der politischen Französischen Revolution; er besteht im wirtschaftlichen und politischen Vorangang einiger Pioniergesellschaften und den darauf folgenden Wandlungsprozessen der Nachzügler“ (Bendix 1971: 506). Als universelle Prozesse der Modernisierung und damit Gegenstand der Modernisierungstheorie werden betrachtet: – – – – –
kulturelle Entwicklung: Universalisierung, Rationalisierung, Säkularisierung; politische Entwicklung: Staaten- und Nationenbildung, Demokratisierung, Wohlfahrtsstaat; wirtschaftliche Entwicklung: Industrialisierung, Wirtschaftswachstum, Tertiarisierung, Massenkonsum; soziale Entwicklung: Urbanisierung, Bildungsentwicklung, soziale Mobilität, soziale Arbeitsteilung; psychische Mobilisierung: Leistungsmotivation, Individualisierung (vgl. Zapf 1994: 18, Schachtschneider 2005: 73).
Den festen Rahmen von sozialen Wandel bildet danach die Moderne. Nur innerhalb dieser wird um Gestaltung und Veränderung gerungen. Die „Basisinstitutionen“ sind nach Wolfgang Zapf: Konkurrenzdemokratie, Marktwirtschaft, Wohlfahrtsstaat und Massenkonsum (Zapf 1991). Bei der Analyse der Entwicklungsrichtung westlicher Gesellschaften setzte sich im offiziellen Diskurs der Begriff der Modernisierung gegenüber den Begriffen Fortschritt, Evolution, Differenzierung, Rationalisierung u. a. durch. In mancher Hinsicht verengte die Modernisierungstheorie - wie sich bald zeigen sollte – den Blick des klassischen Paradigmas sozialen Wandels.
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Ausdifferenzierungen und neue „Anschlussstücke“
Besonders angesichts des Umstandes, dass zentrale Annahmen und vor allem Voraussagen der Modernisierungstheorie sich in der gesellschaftlichen Realität (u a. Entwicklungsprobleme der unterentwickelten Länder, Stagnations- und Krisenprozesse in entwickelten Ländern) nicht wie erhofft bestätigten, setzte Kritik ein (vgl. Müller/Schmid 1995: 21 f.). So hätte zum Beispiel die Moderni-
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sierungstheorie die vielfältigen Schwierigkeiten auf die das „westliche Vorbild“ bei der „nachholenden Modernisierung“ in der Dritten Welt stieß, unterschätzt. Das Schema einer universalen Evolution habe die Vielfalt sozialer und lebensweltlicher Kontexte, das unterschiedliche Akteurshandeln, die kontroversen Spannungslinien, die ökonomischen, politischen und militärischen Konflikte unterbewertet. Die Policy-Voraussagen (z. B. Gestaltbarkeit der Moderne) gerieten immer offensichtlicher in die Krise. Die Kritiker dieses Paradigma sozialen Wandels gingen dann verschiedene Wege. So wurde von einigen die makrosoziale Struktur- und Wandlungstheorie beiseite gelegt und stärker auf eine Mikrofundierung orientiert. Deutlich wurde das z. B. auch mit der Präferierung der Rational-Choice-Theorie. Andere verabschiedeten sich gänzlich von einer erklärenden Soziologie und der „Suche“ nach soziologischen Gesetzen und rückten an dessen Stelle eine verstehende und historische Soziologie, in dem sie verstärkt wieder an Max Weber anknüpften (ebd.: 27 f.). Aber auch jene, die die systematisierende Theorie sozialen Wandels nicht generell ablehnten, wollten sozialen Wandel nicht länger als Resultante von gesellschaftsübergreifender Modernisierung und Differenzierung verstanden wissen. Die Erklärung gesellschaftsverändernder Prozesse müsse vor allem die konkret-historischen Kontexte, die Lebenslagen und das widerspruchsvolle Handeln der beteiligten Akteure in den Blick nehmen. Die damit verbundenen institutionen-, akteurs-, handlungs- und kulturtheoretischen Ansätze, wie sie in den folgenden Jahren/Jahrzehnten u. a. von Diamond (Diamond u. a. 1988), Huntington (1991), North (1990), Offe (1994), Przeworski (1995) entwickelt und diskutiert wurden, sind bis heute für Analysen und Deutungen der sozialen Wandlungsprozesse bedeutsam (s. auch Kap. II.4 und III.1, III.2). Das klassische Paradigma sozialen Wandels geriet aber nicht nur wegen Mängel seiner deskriptiven und erklärenden Funktion in die Kritik, sondern auch wegen Verlust seiner wertenden Aussagekraft (vgl. auch Müller/Schmid 1995: 29). Die „moderne Gesellschaft“, wie sie modellhaft u. a. bei Parsons skizziert worden war, existiere zwar, aber sie sei – so wurde argumentiert – „unvollkommen“, „widerspruchsvoll“, „von Krisen und Krankheiten befallen“ (Berger 1986, Beck 1986). Die entsprechenden Diagnosen bezogen sich auch auf die Basisinstitutionen: auf Arbeit und Produktion (Lutz 1984, Beck 1986), Sozialstaat und Bürger (Habermas 1973), Gesellschaft und Natur (Luhmann 1981), Gesellschaft und Kultur sowie Wissenschaft und nicht zuletzt auf das Verhältnis von individueller Freiheit und institutioneller Abhängigkeit. Zugleich wurde verstärkt auf die globalen Risiken und Gefahren von Weltfrieden, Welthunger, Klimakatastrophe verwiesen (Beck 1986). „Krise der Arbeitsgesellschaft“, „Krise des Sozialstaa-
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tes“, „Umweltkrise“, „Grenzen des Wachstums“ (Meadows et. al.: 1973) wurden seit Mitte der 70er Jahre/Anfang der 80er Jahre zu geflügelten Begriffen im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs. Im Mainstream verband sich diese Kritik in Deutschland vor allem, aber keineswegs nur, mit den Namen Jürgen Habermas und Ulrich Beck. Habermas beschreibt die „Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch die Logik von Macht und Geld. Die symbolische Reproduktion der Lebenswelt als einer unabdingbaren Stütze sozialer Integration kann nur kommunikativ erfolgen. Im kommunikativen Handeln führen – im Unterschied zum strategischen Handeln – die Interaktionsteilnehmer ihre Handlungspläne unter den Bedingungen eines kommunikativ erzielten Einverständnisses aus (Habermas 1988a). Das strategische Handeln dagegen ist nicht verständigungs- sondern erfolgsorientiert, um mit „Waffen oder Gütern, Drohungen oder Lockungen“ auf die Entscheidungssituation des Gegenübers Einfluss zu gewinnen. Die „ungestörte Kommunikation“ kann nur durch Diskurs und Öffentlichkeit wieder hergestellt werden – Voraussetzung zugleich für Partizipation. Die Diagnose eines Bruchs in der Moderne, einer Änderung der Wegrichtung in der Modernitätsentwicklung entwickelten insbesondere auch Anthony Giddens und Ulrich Beck. Im Unterschied zu den Erklärungen einer vorwiegend unilinearen Modernisierung begründen sie eine „reflexive Modernisierung“, eine „zweite Moderne“. Reflexivität meint bei Beck (anders als bei Giddens) nicht bewusste Selbstbeobachtung der Moderne, sondern den weitgehend unbewussten Prozess der Selbstkonfrontation der Moderne mit ihren eigenen Ansprüchen (Beck 1996). Diese reflexive Phase läute eine zweite Moderne ein. Auf der Basis des Erfolgs der „ersten“ oder „halbierten“ Moderne werde diese nun in der reflexiven Phase mit der Emergenz endogener Nebenfolgen in Frage gestellt. Die „Janusköpfigkeit“ der Moderne äußere sich zum Beispiel darin, dass der Erfolg der Natur beherrschenden Technik zugleich die Nebenfolgen ökologischer Gefährdungen hervorbringt oder in der gleichzeitigen Steigerung von Sicherheit und Unsicherheit. Beck und Giddens gehen jedoch von der Herausbildung neuer Handlungsmöglichkeiten in der Moderne aus, nicht zuletzt durch ein „Zeitalter des Politischen“ (Beck 1993) und eine zunehmende „Individualisierung“. Gegen Krisentheorien wie bei marxistischen Ansätzen wendet die Theorie reflexiver Modernisierung ein, dass die aktuellen Probleme vorwiegend aus den Erfolgen der Moderne und nicht aus ihren Krisen resultieren. Im Unterschied zu postmodernen Ansätzen behaupten sie in diesem Diskurs, dass sich die Moderne erst jetzt voll herausbilde. Erst ihre Vollendung
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bringe die Möglichkeit des Handelns und des Politischen, die „Verheißungen der Moderne“ voll zur Geltung. Der Glaube an die unbegrenzte Kraft der Moderne und das immer mehr, immer schneller, immer besser schwand damit schon seit längerem. Das klassische Konzept sozialen Wandels verlor an Einfluss. „Die Versprechungen des orthodoxen Paradigmas und der Modernisierungsforschung verloren ihre Überzeugungskraft“ (Müller/Schmid 1995: 30). Die Suche nach theoretischen Alternativen stand an und setzte seit Mitte der 1970er Jahre ein. Das theoretische Konzept der „Moderne“ verlor im Mainstream an Einfluss, gleichzeitig gewann das der „Postmoderne“ an Gewicht (vgl. dazu auch von Beyme 1991: 147-200). Die Fortschritte im kritischen Denken der Postmoderne (u. a. Foucault, Lyotard) – so z. B. ihre spezifische Macht-, Technokratie- und Revolutionskritik – hatten zugleich ihre „Schattenseiten“. „Das fragmentierte Denken der Postmoderne widersetzte sich der Bildung integrierter Theorien“ (von Beyme 1991: 187). Überhaupt verloren gesamtgesellschaftliche Sichten und Deutungen in den Sozialwissenschaften, zumindest in der Bundesrepublik Deutschland, seit Mitte der 1970er Jahre zunehmend an Boden und Einfluss. Und – was in unserem Kontext besonders ins Gewicht fällt: Im postmodernen Denken „wurde die Vorstellung einer Transformation ganzer Gesellschaften eine Absurdität“ (ebd.: 197). Die Fragen gesamtgesellschaftlicher Sichtweisen und der weiteren theoretischen Um- und Neuorientierung des Konzepts sozialen Wandels blieben auf der Tagesordnung.
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Resümee: Theoretische Fundamente – notwendige Um- und Neuorientierung
Resümierend können wir hier zunächst festhalten: Das „alte“ Paradigma und Konzept sozialen Wandels, und besonders auch seine gesellschaftskritischen Weiterentwicklungen, bilden nach wie vor ein wichtiges, unverzichtbares „Referenzkonzept“ für diese Neuorientierung und die Neujustierung des Denkens über sozialen Wandel. Namen wie Durkheim, Marx, Weber oder Parsons, Habermas, Beck, Foucault, Lyotard, North verbinden sich mit theoretischen Erklärungsansätzen, auf die sich heute Sozialwissenschaftler unterschiedlicher Schulen zu Recht beziehen. Sie bieten ein umfangreiches, theoretisch gehaltvolles Fundament für das generelle Verständnis von sozialem Wandel, für die Kombination verschiedner Ansätze zur Erklärung
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auch der neuen Phänomene sozialen Wandels. Das Erklärungspotenzial klassischer Konzepte zur Analyse der heutigen Gesellschaft ist noch nicht ausgeschöpft. Doch ein modernes Konzept gesellschaftlichen Wandels muss zugleich auf neue Fragen neue Antworten finden. Die Fragen nach der historisch neuen Umbruchsituation, der zweiten „Großen Transformation“ in der Moderne, nach bislang unbekannten und alternativen Entwicklungspfaden, nach den möglichen Antriebskräften eines solchen neuen Typs sozialen Wandels und ihren Ressourcen, nach Gegenkräften und deren Machtpotenziale bleiben im klassischen Paradigma sozialen Wandels noch weitgehend ausgespart, sind zumindest nicht systematisch entwickelt, konnten nicht systematisch entwickelt werden. Oder anders, d. h. sozialwissenschaftlicher formuliert: Die Frage nach der Art und Weise dieses heute anstehenden sozialen Wandels, nach seiner Logik und Dynamik und nach der Natur, dem Typ dieser sozialen Wandlungsprozesse und ihrer historischen Verortung erfordert eine Weiterentwicklung und eine Neuausrichtung des Konzepts sozialen Wandels. Was vorliegt ist ein wichtiges theoretisches Fundament als Zugang zur Beschreibung, Erklärung und Deutung sozialen Wandels, aber kein Endprodukt. Vor allem das Phänomen „Gesellschafts-Transformation“ als neuer Typ sozialen Wandels – noch dazu bezogen auf die modernen Gesellschaften westlichen Typs – ist neu zu denken, zu erklären, zu verstehen. Dies kann nur in einem längeren Prozess interdisziplinärer Anstrengungen, ernsthafter Untersuchungen der verschiedenen Transformationsprozesse und ihrer schrittweisen theoretischen Verallgemeinerungen gelingen. In Zeiten wie den unsrigen, die durch vielfältige Ambivalenzen und Übergänge gekennzeichnet sind, ist das Nebeneinander verschiedener und konkurrierender Ansätze eine Selbstverständlichkeit und eine Voraussetzung wissenschaftlicher wie auch gesellschaftlicher Innovationen.
II „Gesellschafts-Transformation“ – Die Suche nach einem neuen Konzept sozialen Wandels
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Anforderungen an ein zeitgemäßes Konzept
Ein Konzept sozialen Wandels, das heute vor allem „Transformation“ und speziell „Gesellschafts-Transformation“ ins Zentrum rückt, muss jenen wissenschaftlichen Standards entsprechen, die für jedes Konzept, für jedes Paradigma sozialen Wandels gelten. D. h. es hat drei Funktionen zu erfüllen, die als Beschreibung, Erklärung und Bewertung bezeichnet werden können (vgl. Müller/Schmid 1995: 12): Was geschah / geschieht warum mit welcher Tendenz und was für einen Sinn? Nur in dieser Komplexität kann das Phänomen sozialen Wandels, respektive Transformation verstanden werden. Die deskriptive und erklärende Funktion sollte die Frage „Was geschieht, geschah und warum?“ beantworten, indem sie die Phänomene, Ereignisse, Fakten und Prozesse der heutigen Transformation möglichst genau identifiziert. Das Ziel solcher Beschreibungen ist ein Gesamtbild, das den zeitlichen Verlauf, Raum und Ort des untersuchten Phänomens nachzeichnet. Im Unterschied zur (Ereignis-)Geschichte muss die Sozialwissenschaft den historischen Wandel nicht nur beschreiben, sondern als „sozialen Wandel“ erklären (Wehler 1973, Müller/Schmid 1995: 12). D. h. es gilt die Ursachen, die Triebkräfte, die Mechanismen sozialen Wandels und in unserem speziellen Fall des Transformationsgeschehens zu bestimmen. Ziel ist es, die Dynamik des Transformationsgeschehens und seine Tendenz zu erfassen und zu erklären. D. h., dass es in empirisch kontrollierter Weise Wandlungs- und Entwicklungsverläufe zu rekonstruieren gilt. Doch sollte auch in bestimmter Weise versucht werden, solche Wandlungs- und Entwicklungsverläufe zu prognostizieren. Auch wenn dabei stets normative Überlegungen mit im Kalkül sind, muss sich die Prognose auf Kenntnis der Geschichte und der in ihr enthaltenen Erfahrungen, auf grundlegende Analyse der Ausgangsbedingungen und ver-
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meintlicher Trends stützen. Dazu bedarf es eines offenen Entwicklungsmodells und vor allem erklärender Theorien (ebd.: 37). Neben Beschreibung, Erklärung und Prognose sollte ein Konzept „Gesellschafts-Transformation“ auch Bewertung einschließen. Auf der Basis einer sorgfältigen Beschreibung und einer theoriegeleiteten Erklärung lässt sich auch eine Beurteilung der transformatorischen Wandlungsprozesse vornehmen. Diese evaluative Funktion sucht die Frage „Was ist der Sinn, was ist die Bedeutung?“ des Geschehens zu beantworten. Es geht hierbei um die Deutung der Transformation hinsichtlich ihrer Konsequenzen für Gesellschaft, Kultur und besonders für die individuelle Lebensführung der Menschen. Letztlich kommt eine solche Evaluierung der Transformation nicht umhin, ein Urteil zu fällen, ob dieser Wandel „gut“ oder „schlecht“, „sinnvoll“ oder „sinnlos“ ist, ob sich die Menschen auf „Fortschritt“ oder „Rückschritt“ einzustellen haben (vgl. ebd.: 13). Solche wertenden Aussagen haben stets eine stark normative Komponente. Gerade das erfordert es, die Richtung, die Resultate, die Folgewirkungen von gesellschaftlicher Transformation an objektiven Indikatoren zu messen und zu bewerten. Indikatoren, die es deutlich auszuweisen gilt, und deren Allgemeinheitsgrad zugleich ihre Spezifizierung, Konkretisierung erlauben. Transformationsgeschehen ist durch gesamtgesellschaftliche Spannungslinien und Konflikte bedingt und wird insbesondere durch das Handeln individueller und kollektiver Akteure und deren Entscheidungen bewirkt und vermittelt. Es gilt deshalb, diesen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen und zu zeigen, wie Makrovariable individuelle Motive und Entscheidungen beeinflussen und wie individuelles Handeln die Makrovariablen verändern. Ein neues, zeitgemäßes Konzept der Transformation liegt noch nicht vor. Es müsste drei Ebenen verknüpfen: 1.) Die analytische Ebene des Modells mit der 2.) theoretischen Ebene der Erklärungsansätze und der 3.) raum-zeitlichen, historischen Spezifizierung der Referenzgesellschaften als konkrete Untersuchungseinheiten (vgl. auch Müller/Schmid 1995: 7). Wir wollen im Folgenden jene Fragen und Probleme thematisieren, die für die Suche nach einem solch neuen Konzept und Modell der Transformation im Allgemeinen und der Gesellschafts-Transformation im Besonderen von Bedeutung sind.
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„Transformation“ als Leit- und Suchbegriff
Um die neuen sozialen Phänomene von Wandlungsprozessen beschreiben, erklären und deuten zu können, bedarf es zunächst der Klärung und inhaltlichen
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Bestimmung der damit verbundenen Begrifflichkeiten. Dies umso mehr, als gerade in diesem Zusammenhang von Begriffsklarheit kaum gesprochen werden kann. Der sozialwissenschaftliche Begriff der „Transformation“ ist in der Literatur unterentwickelt und auch in keinem gängigen Fachwörterbuch enthalten. Eine handhabbare, wissenschaftlichen Kriterien entsprechende Definition liegt nicht vor. Dennoch wurde bzw. wird der Begriff „Transformation“ von der Mehrheit der Sozialwissenschaftler in jüngster Zeit als Sammelbegriff verwendet. Zum einen, und vor allem, zur Charakterisierung der vielfältigen Umbruchund Wandlungsprozesse in den ehemals realsozialistischen Ländern, einschließlich der DDR (s. Kap. III). Zum anderen zur Beschreibung der Entwicklung in Ländern Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und des Nahen Ostens, die sich auf dem Weg zu „marktwirtschaftlichen Demokratien“ befänden (vgl. Bertelsmann Transformation-Index 2006). „Transformation“ ist in diesem Verständnis lediglich ein Unterbegriff des Oberbegriffs „Sozialer Wandel“ bzw. „Modernisierung“ (Zapf u. a.) und normativ an der Zielorientierung „marktwirtschaftliche Demokratie“ gebunden. Unterschiedlich bleibt hier allein die Beantwortung der Frage, ob „Transformation“ in diesem Sinne überhaupt einen eigenen sozialwissenschaftlichen Begriffs- und Analyseapparat erfordere. Jene Autoren, die dies bejahen (u. a. von Beyme, Merkel, Zapf), bestimmen ihn jedoch im Kontext der klassischen sozialwissenschaftlichen Makro- bzw. Handlungstheorien. Dabei wird an die ältere und klassische Transformations- und Transitionsforschung (Parsons, Moore, Lipset, Huntington) angeknüpft, in der mittels makrosoziologischer Parameter die „Demokratisierung politischer Systeme“ und die politischen „Wege in die Moderne“ beschrieben wurden, bzw. an die Transitionsforschung der 1980er Jahre (O` Donnell, Schmitter, Whitehead), in der das Handeln politischer Eliten in den Mittelpunkt der Analyse der Demokratisierungsprozesse in Südeuropa und Lateinamerika gerückt wurde. „Transformation“ wird hier, genau genommen, jedoch als „Transition“, als „Wandel diktatorisch verfasster politischer Regime in demokratisch verfasster“ verstanden. Für die modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften des Westens selbst wird der Begriff „Transformation“ im Zusammenhang mit gesellschaftlichem Wandel („Gesellschafts-Transformation“) in aller Regel ausgeblendet. Hier wird vornehmlich mit den Begriffen „Sozialer Wandel“ (von Parsons über Luhmann bis Bendix, Münch, Zapf), „weitergehender Modernisierung“ (Zapf), „reflexiver Modernisierung“ (Beck) und „Innovation“ (Zapf) gearbeitet. Zur Erklärung der vielfältigen und neuen gesellschaftlichen Wandlungs-, Umwandlungs- und Umbruchprozesse im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts und besonders im 21. Jahrhundert bedarf es jedoch m. E. eines dominie-
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renden, eines allgemeinen und zugleich spezifischen Leit- und Suchbegriffs. Dieser könnte und sollte aus meiner Sicht ein inhaltlich qualifizierter und gehärteter Begriff der „Transformation“ sein. Dafür sprechen sowohl wissenschaftskonzeptionelle wie auch gesellschaftspolitische Gründe. Wissenschaftskonzeptionell wird dies bereits deutlich, wenn man die in diesem Kontext zur Verfügung stehenden sozialwissenschaftlichen Grundbegriffe und ihre Aussagekraft vergleicht: d. h. „Sozialer Wandel“, „Revolution“, „Evolution“, „Transformation“. „Sozialer Wandel“ ist gewissermaßen der zentrale Begriff der Soziologie. Unter sozialem Wandel wird hier in der Regel ein solcher Prozess von Veränderungen in den Strukturen eines sozialen Systems verstanden, der typische Merkmale des Systems betrifft. Veränderungen, die Abweichungen von relativ stabilen Zuständen beinhalten (vgl. Zapf 1994: 11 ff.). Sozialer Wandel umfasst damit nicht jede Veränderung, sondern jene, die auf typische Elemente eines Sozialsystems abstellen. Es geht hierbei aber doch um Wandel im sozialen (Ordnungs-)System und nicht so sehr um Wandel des (Ordnungs-) Systems. Dabei bildet ersterer die Regel, den Normalfall sozialen Wandels. Als Auslöser sozialen Wandels werden in der klassischen Soziologie u. a. Diffusion, Imitation, Kommunikation, Modernisierung, Konflikt, Diskurs behandelt. Als Folgen sozialen Wandels werden die Anpassung der sozialen Strukturen an die neuen Gegebenheiten, die Steigerung ihres Innovations- und Kapazitätspotenzials, insgesamt die Herstellung von Gleichgewicht und Stabilität auf neuer Grundlage betrachtet. Für sozialen Wandel, der auf Umwandlung sozialer Strukturen, politischer Regeln, Ordnungsmuster und letztlich auf Bruch sowie auf neue soziale Ordnungen tendiert, reichte diese Begriffsbestimmung offensichtlich nicht aus. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts wird für eine besondere Verlaufsweise und -richtung des Wandels der Begriff „Revolution“ verwandt. Er wird im Unterschied zu dem Begriff „Sozialer Wandel“ aber auch zu dem der „Evolution“ als jäher Bruch mit der Vergangenheit erfahren, als vorbestimmter Durchbruch zu einer kommenden, neuen bzw. höheren Daseinsordnung verstanden. Im Marxismus findet sich Revolution dann als voraussagbare, gesetzmäßige „Ablösung ökonomischer Gesellschaftsformationen“, als „Umwälzungsepoche“ bzw. „Epoche sozialer Revolutionen“, die namentlich durch den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen hervorgebracht und von der zur Führung fähigen Klasse verwirklicht wird. Inzwischen wird der Begriff der Revolution in der Wissenschaft weniger normativ gehandhabt und ist zudem aus seinen geschichtsphilosophischen Konnotationen herausgelöst worden. Heute treten langfristige strukturelle evolutionäre Prozesse stärker in den Blickpunkt (vgl. Bluhm 1998: 3-13). Zwei wissen-
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schaftliche Fassungen des Revolutionsbegriffes können unterschieden werden. Zum einen (im weiteren Sinne): Revolution als Form raschen, abrupten sozialen Wandels, als Prozess gesellschaftlicher Strukturveränderungen. Zum anderen: Revolution als Form politischen Wandels im engeren Sinne, d. h. als Wandel politischer Institutionen, der politischen Ordnung. Für Hannah Arendt ist das Wesentliche einer Revolution, dass nach dem Sturz und der Entmachtung des alten Regimes in einer zweiten Phase eine neue, institutionell verankerte freiheitliche Ordnung hervorgebracht wird (Arendt 1994). Für die in unserem Kontext zur Diskussion stehenden sozialen Wandlungsprozesse und -verläufe im 21. Jahrhundert bedarf es, wie gesagt, eines neuen dominierenden Begriffs. Im Unterschied zum allgemeinen Begriff des „Sozialen Wandels“ muss er nicht nur Wandel im System, sondern Wandel des Systems – sowohl was Ursachen, Triebkräfte als auch gesellschaftliche Konsequenzen betrifft – beschreiben. Im Unterschied zum Begriff der „Revolution“ muss ein solcher Begriff mehr die Ereignisgeschichte, die Entstehung des „Neuen“ im „Alten“, die Kontingenz, die Offenheit des Prozesses, die unterschiedlichsten Formen und den Verzicht auf Mystifizierung und Heilserwartungen reflektieren können. Beiden Anforderungen kann der Begriff „Transformation“ am ehesten gerecht werden, sowohl in seiner deskriptiven wie in seiner normativen Seite. Neben wissenschaftstheoretischen Gründen sprechen auch praktische Gründe für die Verwendung des Transformationsbegriffs. Wenn nicht alles täuscht, ist für den gesellschaftlichen Veränderungsprozess im 21. Jahrhundert nicht allein sozialer Wandel innerhalb der gegebenen Strukturen und Ordnungen typisch, sondern sozialer Wandel auch als Umwandlung von Strukturen, Institutionen, Regeln, gesellschaftlichen Ordnungs- und Entwicklungsmodellen. Aber dies nicht mehr zuerst, nicht mehr vor allem in Form von Revolutionen, sondern von Transformationen. Oder anders formuliert: Revolutionen sind nicht (mehr), wie einst im Marxismus angenommen, der Normalfall, sondern der Sonderfall sozialen Wandels und gesellschaftlicher Umgestaltung. Auch – und nicht zuletzt – deshalb gewinnt der Begriff „Transformation“ neue Bedeutung, in wissenschaftlich-analytischer und in praktisch-politischer Hinsicht. Schließlich ist der Transformationsbegriff für die Erforschung und Erklärung des heutigen bzw. künftigen Gesellschaftswandels eher als die Begriffe „Sozialer Wandel“ und „Revolution“ operationalisierbar. Als Leitbegriff für inhaltliche Analysen und wertende Deutungen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse ist der Begriff „Transformation“ jedoch nur tauglich, wenn er inhaltlich bestimmt und präzisiert wird. Voraussetzung ist, die bislang dominierende und oben angeführte Engführung des Transformationsbegriffs, des Transformationsverständnisses zu überwinden. Transformation
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kann weder auf Transition (Wandel/Wechsel politischer Systeme) noch allein auf postsozialistische Transformation bzw. Übergänge zu marktwirtschaftlichen Gesellschaften reduziert werden. So berechtigt das Plädoyer gegen diese (gängige) Engführung des Transformationsbegriffs ist, so macht es zugleich wenig Sinn, den Transformationsbegriff im Prinzip (wie es oft geschieht) auf alle möglichen Wandlungsprozesse anzuwenden – etwa auf Globalisierung, Europäisierung oder Säkularisierung bzw. den demografischen Wandel. Der Begriff „Transformation“ erfüllt nur dann seinen Sinn, wenn er als Synonym für „Übergänge“, „Umformungen“, „Wechsel“, „Umgestaltung“ von Gesellschafts-, Ordnungs- und Entwicklungsmodellen, gesellschaftlichen resp. sozialen Formationen – „Trans“ und „Formation“ als die beiden Metaphern der Kategorie „Transformation“ – gedacht wird. Transformation als Umformung und Wechsel bezieht sich sowohl auf den politischen wie den wirtschaftlichen als auch den kulturellen Bereich. Der Transformationsbegriff reflektiert damit einen eigenen spezifischen, besonderen Typ sozialen (gesellschaftlichen) Wandels, eben einen Wandel, der vor allem durch einen Prozess der eingreifenden Änderungen und Umformungen wesentlicher Institutionen, Strukturen, Ordnungsmuster, gesellschaftlicher Parameter und der Neu-Konstitution und -Konstruktion von Gesellschaftsmodellen und -formen gekennzeichnet ist. Das unterscheidet ihn zugleich von Begriffen wie „Sozialer Wandel“, „Modernisierung“, „Innovation“, die zur Charakterisierung (durchaus auch tief greifender) gesellschaftlicher Wandlungsprozesse innerhalb eines Ordnungsparadigma, innerhalb gegebener Prozessstrukturen, Gesellschafts- und Entwicklungsmodellen dienen. Transformation dagegen ist Wandel der Outputstrukturen, der Parameterwerte und der Prozessstrukturen (vgl. Hernes in II.3). Der Begriff „Transformation“ unterscheidet sich auch von dem der „Evolution“, der gesellschaftlichen Wandel nicht so sehr mit einem Gestaltungswillen verbindet und stärker die Selbsttransformation des betrachteten Systems reflektiert (vgl. auch Wagener 1996: 2). Ein solcher Transformationsbegriff bezieht sich mithin auf die gesamtgesellschaftliche Ebene und betont in seiner allgemeinsten Form den prozessualen, langfristigen, sequentiellen, interdependenten (Heinemann-Grüder 1993: 3), neue Prozessstrukturen und gesellschaftliche Ordnungs- und Entwicklungsmuster hervorbringenden Charakter. Transformation ist ein intentionaler, eingreifender, gestaltender und zugleich ein eigendynamischer, organisch-evolutionärer Entwicklungsprozess. Historische Prozesse, die den Charakter von Transformation annehmen, werden in der Regel von beiden Prozessen vorangetrieben. Transformation ist Wandel, der immer auch Kontinuität einschließt.
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Transformation ist ein endlicher, aber entwicklungsoffener Prozess, der im Falle eines erfolgreichen Verlaufs zur Herausbildung neuer, funktions- und entwicklungsfähiger Prozessstrukturen, eines neuen sozioökonomischen Entwicklungsmodells und neuer kultureller Deutungsmuster führt. Einem solchen Transformationsverständnis liegt kein statisch-stabiles Gleichgewichtsmodell, sondern ein dynamisches Gesellschaftsmodell zugrunde. Transformation ist in diesem Sinne also durchaus definier-, fixier- und bestimmbar. Dies aber bedingt, dass der Begriff der Transformation nicht isoliert, sondern in Bezug gesetzt wird zu den anderen Formen des sozialen Wandels und deren Entwicklungsstadien. Als Arbeitsbegriff und Analyseinstrument muss er jedoch – gerade weil sich die Formen, Muster, Inhalte, Ziele der konkreten gesellschaftlichen Transformationsprozesse beträchtlich unterscheiden – stets weiter inhaltlich qualifiziert und präzisiert werden. Schon deshalb, weil Transformation als gesellschaftlicher Wandlungstyp verschiedene Subtypen kennt. So im 20. Jahrhundert zum Beispiel die „Staatssozialistische Transformation“ und die „Postkoloniale Transformation“, in jüngster Zeit vor allem die „Postsozialistische Transformation“ in den Ländern Mittel-Ost-Europas. Daneben gibt es stets Übergangs- und Mischformen (vgl. Kap. II.3). Viel spricht dafür, dass sich mit der Transformation der modernen bürgerlich-marktkapitalistischen Gesellschaften ein neuer historischer Subtyp herausbilden wird. Subtypen der Transformation unterscheiden sich u. a. nach Ausgangsbedingungen, historischen Kontexten, Akteurskonstellationen und nach Entwicklungsrichtungen. Klare Begriffsbestimmung ist deshalb das eine – konkrete Analysen konkreter Transformationsprozesse das andere. Letztere sind um so wichtiger als sich Transformation als realgeschichtlicher Prozess nicht als kontinuierliche Höherentwicklung auf der Grundlage eines universellen Musters (u. a. „Fortschreitende Modernisierung“; „Gesetzmäßigkeiten im Geschichtsprozess“) vollzieht, sondern ein mehrdimensionaler, diskontinuierlicher und fragiler Prozess ist, der ebenso Stagnation oder Scheitern im Sinne gesellschaftlicher Regression einschließt (vgl. auch Eisenstadt 1982). Eine erste Schlussfolgerung aus dieser Definitionsbestimmung lautet deshalb: Transformation ist künftig nach anderen als den bislang dominierenden Modellen und Konzepten sozialen Wandels zu beschreiben. Erforderlich ist ein Perspektivenwechsel, der weder auf einen wundersamen („gesetzmäßigen“) und abrupten Systemwechsel (u. a. marxistisch-leninistische Revolutionstheorie) noch auf einen konflikthaften, letztlich aber mehr oder minder kontinuierlichen Wandel innerhalb des heute bestimmenden sozioökonomischen Entwicklungsmodells (u. a. System- und Modernisierungstheorie) abzielt.
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Gesellschafts-Transformation
„Transformation“ als Struktur- und Entwicklungsmodell
Um Transformation als Wandlungsprozess, -verlauf, -resultat beschreiben, erklären und deuten zu können, reicht eine Bestimmung der Begriffe nicht aus. Erforderlich ist, Transformation als Wandlungstyp erst einmal theoretisch zu „modellieren“ und seine grundlegenden Eigenschaften sowie historischlogischen Gestalten zu bestimmen. Dabei ist Transformation als spezifischer Typ sozialen Wandels mit den verschiedenen anderen Formen sozialen Wandels zu vergleichen, denn nur dann können auch seine Besonderheiten, Spezifika und Gemeinsamkeiten erhellt werden. Werden die Ebenen und Entwicklungsstadien strukturellen Wandels zu einem theoretischen Modell verdichtet, ergibt sich nach Hernes (Hernes 1995: 102) folgendes Bild: Ausgehend von den drei Strukturebenen – Outputstruktur (Resultatsverteilung), Prozessstruktur (logische Form des Prozesses, der die Produktion und Verteilung generiert), Parameterstruktur (funktionale prozessbestimmende, -beeinflussende Faktoren) – können danach vier Typen sozialen, namentlich strukturellen Wandels unterschieden werden 1. 2. 3. 4.
einfache Reproduktion erweiterte Reproduktion Übergang Transformation.
Nach diesem Modell gibt es vier Möglichkeiten des Wandels oder der Stabilität auf drei Ebenen: Vier Möglichkeiten des Wandels oder der Stabilität auf drei Ebenen Frage
Typus 1
2
3
4
Verändert sich die Output-Struktur?
Nein
Ja
Ja
Ja
Verändern sich die Parameterwerte?
Nein
Nein
Ja
Ja
Verändert sich die Prozessstruktur?
Nein
Nein
Nein
Ja
Einfache Reproduktion
Erweiterte Reproduktion
Transition
Transformation
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Die einfache Reproduktion ist gekennzeichnet, dass das System die Voraussetzungen seines eigenen Weiterbestandes produziert. Im Kontext einfacher Reproduktion bleibt die Output-Struktur erhalten, aber auch die funktionale und logische Form seiner Struktur bleibt konstant. Erweiterte Reproduktion bedeutet, dass die Produktionsmittel und im gleichen Maße der Einsatz an Arbeit gesteigert werden. Die Output-Struktur verändert sich, die funktionale Form des den Output generierenden Prozesses bleibt unverändert, ebenso die Werte der Parameter. Anders verhält es sich beim Übergang. Dieser wird definiert als ein Wandel nicht nur der Output-Struktur, sondern auch der Parameterwerte. Von Transformation kann nach diesem Modell erst dann gesprochen werden, wenn sich alle drei Strukturebenen – und erstmals auch die Prozessstruktur – verändern. Hernes verweist in diesem Zusammenhang auch auf Marx` Analyse des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus und der Entwicklung des Kapitalismus sowie dessen prägnante Zusammenfassung seiner Analysen im „Kommunistischen Manifest“ (Hernes 1995: 118). Die Erosion und schließlich Überwindung der Prozessstruktur steht dabei im Mittelpunkt, was „dementsprechend den unintendierten Wandel durch die bewusste historische Transformation ersetzt“ (ebd.: 120). Daraus ließe sich – anknüpfend an Marx` Analyse – eine generelle theoretische Schlussfolgerung im Kontext von Transformation ableiten: „Die Gleichzeitigkeit der Zerstörung einer Prozessstruktur und die Schaffung einer anderen erfordert von konkreten Analysen den Nachweis, in welcher Weise die Destruktion einer Prozessstruktur die konstitutiven Elemente der nachfolgenden Prozessstruktur erzeugt und wie die Beziehung zwischen diesen Elementen aufgebaut werden“ (ebd.: 121). Dabei gälte es zugleich, die Vermittlung der makrosozialen Struktur auf der Mikroebene, d. h. im Handeln der Akteure aufzuspüren und die dabei sich ergebenden Opportunitäten, den die Akteure gegenüber stehen, zu erfassen. Beides gehört ins Zentrum theoretischer Transformationsanalysen. Neue, problemgenerierte Strukturen gelten nach diesem Modell als „verbessert, wenn sie zu größerer Konsistenz, größerer Effizienz, größerer Gleichheit, mehr Vorteilen, geringeren Kosten und ähnlichen führen“ (ebd.: 127). Auch wenn man diesem (Analyse-)Modell, das systemtheoretisch geprägt ist, im Einzelnen nicht in allem folgt, bieten die ihm zugrunde liegenden Annahmen wichtige Anregungen für die Entwicklung eines zeitgemäßen Wandlungsmodells der Transformation. Zunächst ist also festzuhalten: Im Vergleich zu den anderen Formen sozialen Wandels ist Transformation ein eigener, spezifischer Typ sozialen Wandels. Er ist vor allem dadurch charakterisiert, dass sich hier nicht nur die Output-
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Struktur und die Parameterwerte, sondern vor allem auch die Prozessstrukturen ändern. Dies gilt es dann auch auf die Transformation moderner bürgerlichkapitalistischer Gesellschaften und die Weltgesellschaft zu beziehen, zu konkretisieren und zu modifizieren (s. dazu Kap. IV und V). Im Kontext der hier zunächst gewählten idealtypischen Modell-Ebene heißt das: Wenn wir die Struktur bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften in der Einheit von modernen Vergesellschaftungsformen (Arbeit, Märkte, Demokratie, Öffentlichkeit), von Eigentums- und Machtverhältnissen und von Kultur- und Wertemuster fassen, so beinhaltet Gesellschafts-Transformation im Prinzip den Wandel aller drei Strukturebenen. Die spezifischen Wandlungs- und Umwandlungsformen sind, wie wir noch zeigen werden, auf den drei Ebenen jedoch sehr unterschiedlich. Theoretische Konzepte und Modelle der Transformation müssten demnach, so lässt sich vorerst schlussfolgern, gehaltvolle Auskünfte über diesen gesellschaftlichen Wandel geben. Und dabei gerade auch über den Wandel der institutionellen Prozessstrukturen, z. B. der gesellschaftlichen Steuerungsformen, der Individuen als die Subjekte der Aneignung, der kulturellen Orientierungs- und Deutungsmuster (s. Kap. II.5). Transformation als Form strukturellen Wandels muss sich dabei nicht dramatisch, nicht eruptiv vollziehen, sondern gerade auch unter Verknüpfung von Konstanz und Veränderung. Überhaupt sind heute – bezogen auf sozialen Wandel als Ganzem (also nicht auf Gesellschaftstransformation als spezifischen Transformationsfall) – verschiedene Spezialfälle von basalen Wandlungstypen zu identifizieren: Neben „Konstanz und Wandel“ auch „Chaos“, „Katastrophe“, „Implosion“. Auch kann sozialer Wandel, ohne dass er schon die Form einer Gesellschafts-Transformation (Umwandlung der grundlegenden Prozessstrukturen) annimmt, tief greifende Veränderungen der sozialen Struktur und der kulturellen Landschaft einer Gesellschaft bewirken. Das ließe sich am Beispiel der Geschichte des 20. Jahrhunderts (Hobsbawm 1998: 363-401) wie z. B. auch an der Entwicklung der Bundesrepublik in den 50er, 60er, 70er Jahren (Zapf 1994: 65110) empirisch gut belegen. Transformation als besonderer Typ sozialen Wandels kann durch exogene und endogene Faktoren bedingt bzw. hervorgerufen werden. Das Paradigma der Transformation muss diese bestimmen und definieren, will es die Ursachen von Wandlungsprozessen und schließlich die Ablösung von Gesellschaftstypen, modellen, gesellschaftlichen Entwicklungsmustern erkunden. Dabei kommt den Vermittlungsebenen und -mechanismen sowie dem Handeln der Akteure eine besondere Bedeutung zu (s. Kap. II.4). In diesem Sinne ist Transformation als spezifischer Typ sozialen Wandels auch definier-, charakterisier- und messbar.
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Ein erster Schritt dafür ist, wie gezeigt, ein Verständnis von Transformation als einem spezifischen Typ sozialen Wandels, der sich auf der Vergleichsebene in Bezug zu den anderen Formen sozialen Wandels durch Gemeinsamkeiten und Besonderheiten auszeichnet. Dann jedoch ist ein zweiter, konzeptioneller Schritt erforderlich: Transformation aus einer entwicklungstheoretischen oder formationstheoretischen Perspektive zu klassifizieren (s. dazu auch Marx in MEW Bd. 19: 587 und aus einer anderen Perspektive Weber 1964). Eine „Gesellschaftsformation“ ist aus formationstheoretischer Perspektive nach Juchler, der sich diesbezüglich kritisch an Marx anlehnt, durch eine bestimmte Form der zentralen Reproduktionsdimensionen, vor allem der materiellen und symbolischen Reproduktion, bestimmt. Jede Gesellschaftsformation realisiert sich jedoch in bestimmten, historisch-kontingenten institutionellen Strukturen, Strukturformen, die mehr oder weniger ausdifferenziert sind und einzelne oder mehrere Reproduktionsdimensionen abdecken und sich auch überschneiden können (Juchler 2001: 95/96). In diesem Sinne lassen sich Formationen inhaltlich bestimmen und abgrenzen. Auf der ersten Stufe lassen sich Grundtypen voneinander abgrenzen, die hier als Zivilisationstypen bezeichnet werden. Auf der zweiten Stufe können klassische Formationstypen unterschieden werden. Sie werden als spezifische Varianten, als Subtypen der jeweiligen übergeordneten Zivilisationstypen verstanden (ebd.: 96/97). Von diesen allgemein-theoretischen Rahmen ausgehend, können dann auch verschiedene historisch-logische Typen, Gestalten von Transformation unterschieden werden. Dies gilt es zu beachten, denn erst mit dieser Unterscheidung findet sich auch ein Zugang zu den verschiedenen und je spezifischen Transformationstypen, -prozessen und -verläufen. Dabei ist zunächst die analytische (abstrakte) von der deskriptiven (konkreten) Perspektive zu unterscheiden. Auf der analytischen, abstrakten Ebene können vier solcher grundlegenden Wandlungstypen als Transformationstypen unterschieden werden: Erstens Transformation als Wandel, Übergang, Wechsel zwischen Zivilisationstypen. Bislang lassen sich danach drei Zivilisationstypen gegeneinander abgrenzen: ein archaischer, ein traditionaler und ein moderner Typ. Zwischen ihnen bestehen beträchtliche qualitative Unterschiede im gesamten Reproduktionsprozess, nicht nur in der materiellen Produktion (Produktivkräfte, Arbeitsteilung), sondern auch in den Grundstrukturen der symbolisch-kulturellen Reproduktion sowie den wesentlichen institutionellen Strukturformen und ihren Verknüpfungen (Juchler 2001: 50, 96). Zweitens Transformation als Wandel, Übergang, Wechsel zwischen Formationstypen.
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Gesellschaftsformationen werden – wie gesagt – allgemein durch eine bestimmte Form der zentralen Reproduktion (materiell, symbolisch-kulturell) charakterisiert. In ihrer Abgrenzung aber sind spezifischere Dimensionen maßgebender als bei der Differenzierung von Zivilisationstypen. Von zentraler Bedeutung sind die Art und Weise der Verteilung von Potenzialen gesellschaftlicher Entwicklung an unterschiedliche Gruppen und Individuen, die Formen sozialer Verhältnisse wie spezifische Eigentumsverhältnisse, Klassenstrukturen, Herrschaftsverhältnisse, dominierende ideologische Muster und entsprechende institutionelle Strukturen (vgl. auch Brie 2003: 12). Transformation als Wandel von Formationstypen vollzog sich seit der Entstehung der ersten Zivilisationen. Charakteristische Merkmale für Formationsübergänge sind ihre Langfristigkeit, ihre primär endogenen Ursachen sowie ihr eher ungesteuerter („blinde Dynamik“) Verlauf. Nach Juchler können von den bisher aufgetretenen Formationstypen zwei dem archaischen Zivilisationstyp (die undifferenzierte und die differenzierte archaische Formation), drei dem traditionalen Zivilisationstyp (die asiatische, die antike und die feudale Formation) sowie zwei dem modernen Zivilisationstyp (kapitalistische und sozialistische Gesellschaftsform/-formation) zugeordnet werden (Juchler 2001: 98/99). Und Michael Brie unterscheidet – aus einer etwas anderen Perspektive – bei Marx vier Formationstypen: „(1) die archaischen oder primären Formationen, die auf unterschiedlichen Stufen des Zerfalls des Gemeineigentums beruhen; (2) sekundäre Formationen, die durch Beziehungen persönlicher Abhängigkeit und Herrschaft einerseits und die Dominanz naturalwirtschaftlicher Austauschformen andererseits charakterisiert sind; (3) die tertiären Formationen, die durch eine kapitalistische geprägte Produktionsweise und die Vorherrschaft sachlicher Austauschbeziehungen (modernisierungstheoretisch: der Ausdifferenzierung sozialer Teilsysteme) sowie die Dominanz der Kapitalverwertung über die Wirtschaft und einer solchen Wirtschaft über die Gesellschaft bestimmt sind; (4) quartäre Formationen, die Marx in den ‚Grundrissen’ (wo er die primäre und sekundäre Formation noch zusammengefasst hatte) so kennzeichnet: ‚Freie Individualität, gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität als ihres gesellschaftlichen Vermögens (…)’ [MEW, Bd. 42, S. 91]“ (Brie 2003: 12). Für Brie sind es unterschiedliche Stufen individueller Befreiung und verschiedene Typen der Regulation und Ausrichtung der gesellschaftlichen Kräfte, die aus dieser individuellen Befreiung hervor wachsen. Marx hat nicht nur Formationsanalysen betrieben, sondern insbesondere auch Formationsübergänge analysiert, hauptsächlich den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, zur „modernen bürgerlichen Gesellschaft“, der einen
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Zeitraum von über 200 Jahren umfasste. Er ist bis heute der klassische Fall von Formationsübergang. Das entsprechende Erbe von Marx ist aus heutiger Sicht allerdings differenziert zu betrachten (vgl. auch II.4). Auch der Übergang vom bürgerlichen zum realsozialistischen Gesellschaftstyp kann, jedoch nur in einzelnen Aspekten, als ein Formationswechsel verstanden werden. Der realsozialistische Gesellschaftstyp kann einerseits als eine spezifische Gesellschaftsformation begriffen werden (Eigentumsverhältnisse, Kontrollverhältnisse, symbolisch-kulturelle Reproduktionsverhältnisse, institutionelle Struktur), andererseits als eine Formationsvariante innerhalb des modernen Zivilisationstyps. Er hat deshalb auch gemeinsame Grundzüge mit der bürgerlichen Gesellschaftsform/-formation (Produktivkräfte, Grundeigenschaften des Produktions- und Sozialmodells). Die realsozialistische Transformation im 20. Jahrhundert unterschied sich aber grundlegend von vorangegangenen Formationsübergängen, namentlich vom Formationsübergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, zur „modernen bürgerlichen Gesellschaft“. Die realsozialistische Transformation war der Versuch einer gesteuerten, bewussten, radikalen politischen und gesellschaftlichen Umwälzung. Der Untergang der realsozialistischen Gesellschaft war Folge dessen, dass sie keine „höhere Ordnung“ im Sinne von Innovationsfähigkeit und individueller und gesellschaftlicher Freiheit begründete. Im Gegenteil – die weitestgehende Ausschaltung der innovativfördernden Vergesellschaftungsformen (Demokratie, kulturelle Öffentlichkeit, Märkte) ließ sie im Wettbewerb der Gesellschaftssysteme verlieren. Grundlegenden gesellschaftlichen Wandel allein oder primär auf Formationswechsel/-übergänge zu reduzieren, würde gerade heute die Transformationsperspektive verengen und die Analyse besonders zukünftiger Transformationen erschweren. Die theoretische Bezugsebene der Klassifikation von Transformation muss deshalb aus meiner Perspektive weitergeführt, präzisiert und spezifiziert werden. Drittens ist zu unterscheiden Transformation als GesellschaftsTransformation. Geschichtlich können zu diesem Transformationstyp, dem Typ von Gesellschafts-Transformation, die Herausbildung und Formierung bürgerlich-kapitalistischer Marktgesellschaften (eine Transformation, die vor allem Karl Polanyi analysierte, vgl. IV.1), die staatssozialistische Gesellschafts-Transformation im 20. Jahrhundert (erste Welle 1917 ff Jahre, zweite Welle 1947/48 ff Jahre), die post-sozialistische Transformation nach 1989/90 (s. Kap. III) gezählt werden. Obgleich im Einzelnen ganz unterschiedlich, sind es doch überall Generierungsprozesse neuer Gesellschaftsformen.
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Gesellschafts-Transformation vollzieht sich auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, wenngleich der politische Bereich zumeist eine dominierende Rolle einnimmt. Ihre Orte sind in der Regel Nationalgesellschaften, jedoch in weltgesellschaftlicher Einbettung und Abhängigkeit und mit weltregionalen Schwerpunkten. Es sind im Unterschied zu den Formationsübergängen vor allem gerichtete Prozesse, aber doch auch mit stark eigendynamischen Komponenten. Sie dauern im Gegensatz zu den klassischen Formationsübergängen nicht Jahrhunderte, sondern zumeist „nur“ mehrere Jahrzehnte. Im Vergleich zum Wandlungstyp „Formationsübergang“ sind sie durch Gemeinsamkeiten, aber auch durch erhebliche Unterschiede charakterisiert. Betrachtet man dann vor allem die modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften des Westens und ihre historische Entwicklung, so zeigen sich die Transformationsprozesse insbesondere als Wandel, Übergang, Wechsel zwischen sozioökonomischen und kulturellen Gesellschafts- und Entwicklungsmodellen. Gesellschafts-Transformation und namentlich Transformation als Wandel und Wechsel von Gesellschafts- und Entwicklungsmodellen wird m. E. heute und in Zukunft zum bestimmenden Typ gesellschaftlicher Transformation im 21. Jahrhundert (vgl. Kap. IV). Solche Entwicklungsmodelle unterscheiden sich allgemein nach dem jeweiligen, spezifischen Produktions-, Sozial- und Kulturmodell. D. h. nach der Art und Weise der volkswirtschaftlichen Produktion und der Verteilung ihrer Reichtümer, nach ihrer Regulation, nach der spezifischen Form und Struktur der Arbeit, nach der Wohlfahrtsentwicklung, der Lebensweise, der gesellschaftlichen Teilhabe der Bürger - und den damit einhergehenden spezifischen Eigentumsund Machtverhältnissen (vgl. dazu Kap. IV.3). Ein solches spezifisches sozioökonomisches Entwicklungsmodell war z. B. das nach dem Zweiten Weltkrieg sich herausgebildete marktwirtschaftlichsoziale, wohlfahrtsstaatlich-kapitalistische bzw. fordistische Wirtschafts- und Sozialmodell, das in Nordamerika, Westeuropa, Großbritannien und Nordeuropa unterschiedliche Formen und Gestalt annahm (vgl. V.1 und V.3.6). So fungierte es z. B. in der Bundesrepublik Deutschland als „Modell Deutschland“, als Modell „Rheinischer Kapitalismus“, das in der Soziologie als Modell des „Mittleren Weges“ bezeichnet und diskutiert wurde (vgl. Schmidt 2000). Das staatssozialistische Entwicklungsmodell war eine spezifische Variante des fordistischen, industriegesellschaftlichen Wirtschafts- und Sozialmodells. Viertens ist Transformation als Wandel, Übergang, Wechsel zwischen politisch-institutionellen Regimetypen zu unterscheiden. Ein solcher Übergang und Wechsel politisch-institutioneller Regimetypen vollzieht sich nicht nur innerhalb von sozialen Formationen, sondern auch in-
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nerhalb von Gesellschaftstypen, wenn man allein an die System- und Regimewechsel in Deutschland 1918, 1933, 1945/49 erinnert. Diese politisch-institutionelle Transformation ist in aller Regel von weit reichender strategischer Bedeutung für die Gesellschaft, die politische Kultur, die individuelle Lebensführung der Menschen. Für die Zeit von 1945 bis zu den 1980er Jahren wurden vor allem diese unterschiedlichen Systemübergänge analysiert und dabei verschiedene Fallgruppen gebildet (vgl. Kap. III.1). Mit der Analyse dieser Regimewechsel, die in der Literatur zumeist als Transition bezeichnet werden, entstand in den USA und Westeuropa eine breite Demokratieforschung (O`Donell, Przeworski, Cotta/Liebert, Linz, von Beyme). Die Analyse konzentrierte sich zumeist auf drei Aspekte: – die Ursachen des Zusammenbruchs autoritärer bzw. totalitärer Regime (breakdown), – die Übergänge zur Demokratie (Transition), – die Konsolidierung der Demokratie. Der Wechsel von Regierungskoalitionen in parlamentarischen Demokratien ist in aller Regel (aber nicht immer) Ausdruck sozialen und politischen Wandels in der Gesellschaft, aber nicht mit einem Wechsel politisch-institutioneller Regimetypen im o. g. Sinne gleichzusetzen und insofern nicht als „Transformation“ zu behandeln. Doch kann ein „Regierungswechsel“ auch die Form eines „Machtwechsels“ in der Gesellschaft (z. B. Deutschland 1969, 1982) annehmen, wenn dem grundlegende sozialstrukturelle Veränderungen vorausgehen und mit dem politischen Wechsel zugleich veränderte gesellschaftliche Kräfteverhältnisse entstehen. Und dass ein „normaler“ Regierungswechsel in einen Regimewechsel münden kann – z. B. auch von einem liberalen zu einem autoritären Regime – und somit unter die Kategorie „Transformation“ fällt, ist längst bekannte politische Praxis (s. u. a. die Entwicklung der letzten Jahrzehnte in Lateinamerika und Asien, tendenziell aber auch in Westeuropa). Transformation ist mithin ein spezifischer Typ sozialen Wandels, der weiter zu differenzieren und entsprechend der jeweiligen grundlegenden Eigenschaften zu klassifizieren ist. Auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen (Kap. II.1-II.3) lässt sich das folgende allgemeine Struktur- und Entwicklungsmodell der Transformation zeichnen:
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Gesellschafts-Transformation
Transformation als Modell sozialen Wandels Wesensgehalt: Spezifischer Typ sozialen Wandels; Wandel und Wechsel der grundlegenden gesellschaftlichen Prozessstrukturen, der Regelsysteme, der Entwicklungs- und Ordnungsmuster; Eingreifender, zweckgerichteter Prozess mit stark eigendynamischen Aspekten Subtypen (u. a.): Transformation zur bzw. der bürgerlichen Gesellschaft; Staatssozialistische Transformation; Postkoloniale Transformation; Postsozialistische Transformation; Transition diktatorischer, autoritärer Regime; Mischtypen Formen: Gesteuerter und ungesteuerter Wandel; Gesellschaftlicher Ablösungs- und Umwandlungsprozess von „Unten“ und „Oben“; Konstanz, Adaption und Wandel; Ursachen/Anstöße: Neue interne und externe An- und Herausforderungen, Wandlungsdruck; Systemimmanente Konflikte, Spannungslinien, Krisen; Exogene Anstöße
Historisch-logische Transformationstypen/ -gestalten: Transformation von Zivilisationstypen; Transformation von Formationstypen, Formationsübergänge; Gesellschafts-Transformation, Transformation von Gesellschafts- und Entwicklungsmodellen; Transformation von politisch-institutionellen Regimetypen
Ebenen: Gesamtgesellschaftlich; Makro- bis Mikroebene (Systemebene bis individueller Ebene); Prozessstrukturen, Institutionen; Kulturelle Deutungsmuster; Lebensweise/-führung; Handeln der Menschen Bereich: Allgemein: Gesamtgesellschaft, politischer, wirtschaftlicher, sozialer, kultureller Bereich; Speziell: Gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungsmodelle; Speziell: Politisch-institutionelle Ordnung Zeitdauer: Jahrhunderte (Formations- und Zivilisationsübergänge); Jahrzehnte (Gesellschafts-Transformation, Transformation von Gesellschafts- und Entwicklungsmodellen); Jahre (Transition politisch-institutioneller Regime)
Resultate: Neue Gesellschaftsform(ation); Ö In Einheit von Neue Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle; Ö Konstanz und Neue politisch-institutionelle Regime und Ordnungen; Ö Wandel Kontingenter Prozess, verschiedene Optionen, mögliche Kombinationen; Indikatoren „verbesserter“ Strukturen und „überlegener“ Gesellschaften: Höherer Grad individueller Freiheit und ihre Verwandlung in gesellschaftliche Entwicklung und umgekehrt; größere wirtschaftliche Effizienz (Nachhaltigkeit) und Konsistenz; höhere soziale Integration; größere Gleichheit; gesellschaftliche Legitimation.
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Gesellschafts-Transformation als theoretisches Erklärungskonzept
Gesellschafts-Transformation ist – wie gezeigt wurde – ein spezifischer Typ von Transformation. Transformation beinhaltet immer Wandel, Umformung und Neukonstituierung sozialer Strukturen und Institutionen, von Regelsystemen, kulturellen Deutungsmustern, gesellschaftlichen Ordnungs- und Entwicklungsmodellen. Ein zeitgemäßes Konzept der Gesellschafts-Transformation steht somit vor der Herausforderung, diese Wandlungsverläufe und -prozesse zu beschreiben, zu erklären, aber letztlich auch zu deuten (Tri-Funktionalität): Was sind soziale Strukturen, Regelsysteme, Ordnungsmodelle, wie wandeln sie sich, welche Entwicklungslogik und welche Dynamik liegen dem zugrunde und wie kann dieser Wandlungsprozess gemessen werden? Ist GesellschaftsTransformation als spezifischer Wandlungstyp steuer- und prognostizierbar, was sind die inneren und äußeren Wandlungskräfte? Bringt der Wandlungsverlauf Fortschritt oder Regression oder Stagnation? Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen des sozialen Wandels hat – wie wir gezeigt haben – eine lange Geschichte (s. auch Kap. I). Die Kontroversen um die „Natur“ von Ordnung und Wandel, um den Primat von Ordnung oder Wandel, um die Richtung des Wandels und um die Möglichkeit einer einheitlichen Sozialtheorie bzw. der Notwendigkeit komplementärer Erklärungsansätze begannen mit den Klassikern der Soziologie (vgl. Zapf 1994: 11). War z. B. für Emil Durkheim Ordnung die primäre soziale Tatsache und ihre Veränderung nur aufgrund spezifischer Wandlungskräfte denkbar, so rückte Karl Marx den Wandel und speziell den Formationswandel in den Mittelpunkt seiner Analyse. Ordnung oder Wandel als Einstieg in die gesellschaftliche Analyse, das wurde auch später immer wieder kontrovers diskutiert, z. B. zwischen Strukturfunktionalismus (z. B. Parsons) und Konflikttheorie (z. B. Dahrendorf). Das gilt ebenso – und bis heute – für die Frage was soziale Strukturen konstituiert (moralische Gemeinschaft, kulturelle Legitimation, ökonomischer Zwang, politische Macht) und was die Wandlungskräfte sind (Klassenkonflikt, Gegeneliten, Charisma, ökologische Herausforderungen, technologische Errungenschaften) (ebd.: 12/13). Nicht zuletzt unterschieden sich die verschiedenen Perspektiven in diesem Diskurs dadurch, dass die einen individuelles Handeln zum Ausgangspunkt für die Rekonstruktion von Strukturen und Institutionen erheben (Mikroebene), während andere eher in der Gesellschaft, in der systemischen Ebene (Makroebene) den Ausgangspunkt sozialer Phänomene, speziell des sozialen Wandels sehen. Sind in der ersten Perspektive dann Theorien sozialen Wandels vor allem Lern-, Nutzens-, Motivationstheorien, so sind in der zweiten System- und Modernisierungstheorien die Hauptbestandteile von Theorien sozialen Wandels.
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Gesellschaftstheoretische Makrokonzepte
Ein modernes Konzept der Gesellschafts-Transformation erfordert sowohl Anknüpfung an das bisher dominierende wie auch dessen Weiterentwicklung und Um- und Neuorientierung. Da es das soziale Phänomen der Transformation der Gesellschaft in den Mittelpunkt rückt, muss es sich so gut es geht auf die makround mikrosoziale Ebene beziehen. Denn Gesellschaftstransformation ist nur als Verknüpfung von Struktur- und Handlungsebene denk- und erklärbar. Ein Konzept der Transformation ist schon deshalb auf Gesellschaftstheorien angewiesen und / oder bedarf zumindest der gesellschaftstheoretischen Fundierung. In der Vergangenheit traten im Prinzip zwei sehr unterschiedliche „Großtheorien“ mit dem Anspruch auf, die Gesellschaft und ihre Entwicklung als Ganzem adäquat zu reflektieren, zu systematisieren und zu erklären: die Modernisierungstheorie einerseits und die Marxsche Formations- und Revolutionstheorie andererseits. Für die Analyse und Erklärung der Transformation der komplexen bürgerlichen Gesellschaften wie der Weltgesellschaft im 21. Jahrhundert sind m. E. beide Ansätze aus unterschiedlichen Gründen nicht (mehr) ausreichend, obgleich sie – kritisch verarbeitet – wichtiges Anregungs- und Erklärungspotenzial enthalten. Auf die Ambivalenzen der klassischen System- und Modernisierungstheorie für die Analyse und Erklärung der neuen sozialen Phänomene der GesellschaftsTransformation und ihre kritische Thematisierung im sozialwissenschaftlichen Diskurs haben wir bereits verwiesen. Dabei fällt heute ein spezifischer reduktionistischer Ansatz der System- und Modernisierungstheorie ins Gewicht, in dem sie aus der Komplexität der modernen bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Einheit von modernen Vergesellschaftungsformen, von Eigentums- und Machtverhältnissen und kulturellen Deutungs- sowie Wertemustern die Frage der Eigentumsund Herrschaftsverhältnisse in der Regel ausspart bzw. unterbelichtet. Hinzu kommt eine Interpretation sozialen Wandels als Folge vor allem von Differenzierung und Selektion sowie Innovation und die mehr oder minder ausgeprägte Annahme von der Gerichtetheit des Wandels mit der westlichen Moderne und deren Weiterentwicklung als unumstößliche Zielprojektion. Über das Für und Wider des Erklärungspotenzials der Modernisierungstheorie bei der Analyse aktueller Transformationsprozesse (!) gibt es bis heute immer wieder Kontroversen (vgl. z. B. Pollack, Hanf, Müller, Schwarz, Wagener in: Bönker/Wielgohs 2008). Wie bekannt hat sich Marx systematisch mit der Frage des Formationswechsels beschäftigt (Kritik der Politischen Ökonomie, MEW, Bd. 13: 7-9). Ihn interessierte dabei besonders die Frage, wie kommt es zur Ablösung von bestimmten Gesellschaftstypen, -formationen und was ist die ihr zugrunde liegen-
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de allgemeine Tendenz. Wichtig bis heute ist seine Annahme, dass in progressiver Abfolge gesellschaftsformierende Strukturen entstehen, die sich gegenüber vorhergehenden oder koexistierenden Verhältnissen durch zwei Eigenschaften auszeichnen: einmal durch einen höheren Grad von Freiheit und zum anderen durch einen höheren Grad der Verwandlung individueller in gesellschaftliche Entwicklung und umgekehrt. Damit sind wesentliche formationstheoretische Kriterien des gesellschaftlichen Fortschritts bestimmt, die in Teilen der späteren Marx-Rezeption oft vernachlässigt oder auch ignoriert wurden. Exemplarisch analysierte Marx diese Probleme des Formationswechsels am Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Gesellschaftsformation, Systemwechsel, Geschichte als Evolutionsprozess bildeten dabei wichtige Kategorien bzw. Leitideen. Zugleich waren die empirischen Erfahrungen bezüglich der Transformation von Gesellschaftsformationen zu dieser Zeit noch gering und die Vorstellungen von den Formen und Mechanismen des Systemwechsels vor allem durch die bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts geprägt. Transformation von Gesellschaftsformation wurde deshalb primär als Revolution konzipiert, Transformationstheorie als Revolutionstheorie. Es wurde davon ausgegangen, dass Menschheitsgeschichte als fortschreitende Entwicklung sozial-ökonomisch bestimmter Formationen zu verstehen ist (Küttler 1996: 66) und dass auch folgende Systemwechsel, so der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, ebenso eine gesetzmäßige Folge im Geschichtsprozess ist wie der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Einschneidend sich verändernden Perspektiven der Formations- und Transformationsprozesse konnte diese Annahme nicht gerecht werden. Ganz zu schweigen von der dann im Marxismus-Leninismus folgenden Verballhornung aller bei Marx enthaltenen kritisch analytischen und konzeptionellen Ansätze zur Gesellschaftstransformation. Zu dieser Verballhornung gehörte die Propagierung einer unilinearen Entwicklungsauffassung, in der der nach 1917 entstandene Sozialismus die Verkörperung des gesamten bisherigen historischen Fortschritts und die Zukunft aller modernen Gesellschaften bedeute. Diese Entwicklung vollziehe sich auf der Grundlage historischer Gesetzmäßigkeiten, sei mithin unaufhaltsam (Moskauer Beratung 1957). Eine solche ideologisch determinierte (marxistisch-leninistische) Geschichtsbetrachtung bietet keine Anknüpfungspunkte für eine moderne Theorie der Gesellschafts-Transformation. Aber auch das Erbe von Marx selbst ist in diesem Kontext differenzierter zu betrachten. Neben wichtigen Aussagen über Gesellschaftsformation und Gesellschaftsstruktur, über Klassen, soziale Revolutionen, über Fortschritts- und Entwicklungstendenzen als Abfolge von Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen, über Kriterien des Fortschritts, enthält es zugleich einseitige Aussa-
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gen und Orientierungen. So beinhaltet die Marxsche Formationstheorie reduktionistische Züge, indem sie die Eigentums- und Machtverhältnisse gegenüber den modernen Vergesellschaftungsformen (Demokratie, Märkte, Öffentlichkeit) und den kulturellen Werte- und Deutungsmustern überhöht. Im Geschichtsprozess wird eine einseitige lineare Entwicklung betont und zugleich werden spezifische Mechanismen und Formen von Systemwechseln verabsolutiert. Gerade bei der Suche nach einem modernen Verständnis von GesellschaftsTransformation wird man im Werk von Marx beachtenswertes analytisches und theoretisches Anregungspotenzial finden und sich doch zugleich kritisch zu seiner Formations- und Revolutionstheorie in Bezug setzen müssen. Eine den neuen Herausforderungen entsprechende theoretische Bearbeitung der heutigen Probleme der Gesellschaftstransformation kann mithin nicht einfach die Fortschreibung und Modifizierung einer der vorliegenden „großen“ Gesellschaftstheorien sein. Sie verlangt nicht zuletzt den Diskurs um Moderne, Gesellschaft, Fortschritt, Entwicklungspfade und Alternativen, Freiheit und Bedingtheit des Handelns kritisch aufzuarbeiten und weiter zu entwickeln (vgl. auch Küttler 1996). Hierbei ist Perspektivenpluralismus geboten und der Blick zu weiten für die Offenheit künftiger, bislang unbekannter Gesellschaftsformen. Es geht um gesellschaftsanalytische und –theoretische Arbeiten, die die gewandelte Gesamtgesellschaft als komplexes gesellschaftliches Gebilde wieder kritisch in den Blick nimmt und sich bemüht, die seit den 1970er Jahren in der bundesdeutschen sozialwissenschaftlichen Landschaft bestehenden Defizite zu überwinden. Dabei haben in dieser Zeit nicht alle Sozialwissenschaftler, gerade auch im Ausland, diese bundesdeutsche gesellschaftstheoretische Abstinenz mitgetragen und geteilt. Bei der gesellschaftstheoretischen Orientierung kann das sozialwissenschaftliche Transformations-Paradigma deshalb in dieser oder jener Weise heute anknüpfen z. B. auch an die Gesellschaftsanalysen Bourdieus, die Diskurstheorie Foucoults, die Regulationstheorie der Französischen Schule, besonders jedoch an Theorien der Nachhaltigkeit und der Weltgesellschaft. Aber auch die kritischen Reflexionen der neueren Modernisierungstheorien und deren Weiterentwicklungen haben für eine zeitgenössische Transformationsforschung ihre Bedeutung. Anknüpfen an diese verschiedenen gesellschaftstheoretischen Stränge schließt immer auch kritische Überprüfung und Verarbeitung ein. Dabei handelt es sich bei all diesen theoretischen Modellen bzw. Konzepten nicht um spezifische Transformationstheorien, aber um theoretisch-konzeptionelle Voraussetzungen für die Ausarbeitung eines zeitgemäßen Modells sozialen Wandels und speziell der Gesellschafts-Transformation. Insofern gibt es dafür durchaus wichtige gesellschaftstheoretische Anknüpfungspunkte. Diese theoretische Arbeit beginnt deshalb keineswegs beim Punkt Null.
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Das gilt gleichermaßen für verschiedene neuere Analysen des heutigen Kapitalismus, seiner gewandelten Strukturen, Formen und Entwicklungsrichtungen (u. a. Altvater/Mahnkopf 2002; Der neue Kapitalismus [Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 2008, H. 9]; Harvey 2004; Haug 2003; Krugman 2008; Reich 2008; Sennett 2005). Eine Gesellschaftsanalyse kann jedoch nicht auf eine Kapitalismusanalyse, auf eine ökonomische Dimension reduziert werden. Oder anders formuliert: Theoretische Konzepte und Modelle der Transformation können nicht ohne Kapitalismusanalysen auskommen, Kapitalismusanalysen allein generieren aber noch keine solche Modelle und Konzepte der Transformation. Ähnliches ließe sich, wenngleich anders gewichtet, für moderne Kulturtheorien formulieren. Gesellschaft ist ein komplexes, mehrdimensionales soziales Gebilde, das wir in der Einheit von modernen Vergesellschaftungsformen, von Eigentumsund Machtverhältnissen sowie kulturellen Werte- und Deutungsmustern verstehen. Eine generalisierende Gesellschaftstheorie, die diese Komplexität insgesamt erfasst und erklärt, liegt nicht vor und kann wohl auch in Zukunft nicht vorliegen. Gesellschaft wird in unserem Verständnis aber wesentlich durch das Handeln und die Interaktionsbeziehungen individueller und kollektiver Akteure konstituiert und verbunden. Eine soziologische Analyse, die diesem theoretischen Modell von Gesellschaft folgt, stellt daher gesellschaftlichen „Rahmen“, gesellschaftliche „Ordnung“ einerseits und Individuen, Handeln andererseits nicht schematisch gegenüber, sondern versucht deren innere Zusammenhänge und Wechselwirkungen aufzudecken. Deshalb kommt man auch beim Phänomen „Gesellschafts-Transformation“ nicht allein mit großen soziologischen Theoriesystemen und universalistischen Ansätzen weiter. Gesellschaftliche Institutionen und Akteure rücken dann ins Zentrum der Betrachtung. Für ein neues Konzept der Gesellschafts- Transformation ist dies geradezu der Drehund Angelpunkt inhaltlicher Analyse und Erklärung. Denn GesellschaftsTransformation als spezifischer Typ sozialen Wandels wird im Kontext gesamtgesellschaftlicher Strukturen vor allem durch individuelle und kollektive Akteure bewirkt und vermittelt.
4.2
Institutionen-, akteurs- und handlungstheoretische Ansätze
Da gesellschaftliche Transformation an das Handeln von Menschen, von individuellen und kollektiven Akteuren gebunden ist, gewinnen akteurs-, handlungs-, konflikt- und bewegungstheoretische Ansätze und ihre Verknüpfung mit strukturell-historischen Pfadabhängigkeiten (North 1990) für die Analyse der Wandlungsprozesse und schließlich für die Generierung von theoretischen Konzepten
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und Modellen der Transformation eine herausragende Bedeutung. Oder anders ausgedrückt: Diese spezifischen theoretischen Handlungs-Konzepte sind im besonderen Maße geeignet, transformationstheoretische Aussagen, Hypothesen zu „produzieren“. Akteurs- und handlungstheoretische Ansätze Auch hier kann sich auf ein reichhaltiges theoretisches Fundament gestützt werden. Gerade in den letzten beiden Jahrzehnten wurden verschiedene handlungs- und entscheidungstheoretische Ansätze weiter ausgearbeitet, kontrovers diskutiert und in gesellschaftlichen Analysen „getestet“. An dem einen Ende des Spektrums steht eine rational-choice-Richtung, am anderen Ende Konzepte, die Handeln stärker in Bezug setzen zu Werteorientierungen, zu Kreativität. Hierbei ist zu beachten: Weil wir gerade heute und in Zukunft von einer Komplexität und Vielfalt der konkreten Wandlungsverläufe auszugehen haben, bedarf es verschiedener spezifischer handlungs- und bewegungstheoretischer Ansätze. Dabei sind für ein modernes Transformationsparadigma vor allem jene von Interesse, in denen die Integration von Handlungs- und Strukturaspekten, die Interaktion von Gesellschaftsstruktur und Handeln in den Blick genommen wird. In verschiedenen Theorien sozialen Wandels ist soziales Handeln in erster Linie abhängig von der gegebenen Gesellschaftsstruktur. Spiegelverkehrt wurde/wird in der orthodox-marxistischen Geschichtsphilosophie das Agieren des Subjekts nahezu losgelöst von der realen Gesellschaftsstruktur und den institutionellen Zwängen und Gegebenheiten interpretiert. Handlungstheoretischer Pragmatismus bzw. Utopismus waren Folgen dieser theoretischen Grundannahmen. Ein modernes Transformationsparadigma muss beim heutigen Stand der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung die Dichotomie entweder System- oder Handlungstheorie und die entsprechende Spaltung im soziologischen bzw. politikwissenschaftlichen Diskurs überwinden. Es muss und wird einen akteurstheoretischen Ansatz als Ausgangspunkt wählen, der Gesellschaftsentwicklung und gestaltung aus der Perspektive der Akteure betrachtet, deren Ressourcen und Restriktionen durch die Funktionslogik der gegebenen Strukturen und durch gesellschaftliche Kräfteverhältnisse wesentlich mitbestimmt und zugleich begrenzt sind. Zu den theoretisch fortgeschrittenen Ansätzen einer Synthese von Handlungs- und Systemtheorie kann der vom akteurszentrierten Institutionalismus (Renate Mayntz, Fritz W. Scharpf) gezählt werden (Mayntz/Scharpf 1995: 3972). In diesem Ansatz werden die handlungstheoretische und die systemtheoretische Perspektive in einem komplexen Konzept eines gesellschaftlichen Akteurs miteinander in Beziehung gesetzt. Es wird gezeigt, wie System, Struktur
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und das Handeln der Akteure sich wechselseitig konditionieren, durchdringen, beeinflussen und verändern. Dabei gewinnen gerade auch für eine transformationstheoretische Betrachtung die Fragen nach den Chancen handelnder Akteure, ihren Gestaltungspotenzialen ein besonderes Gewicht. Politisch-strategisch betrachtet ist es die Frage nach Anpassung und Veränderung/Gestaltung, die – was niemanden überraschen kann – zentrale Bedeutung für das Transformationsgeschehen besitzt. Moderne Modelle der Gesellschafts-Transformation werden also – bei konsequenter Beachtung der Wechselwirkung von Struktur (System) und Handeln (Akteur) – das Handeln und nicht länger den Strukturdeterminismus zum Ausgangspunkt sowohl der empirischen Analyse als auch der Theoriekonstruktion nehmen, wie das Hans Joas umfassend beschrieben und begründet hat (vgl. Joas 1992). Ein solches Vorgehen eröffnet eher den Zugang zum Austarieren der Spielräume, zu aktivem Gestalten, zur Beschreibung und Erklärung der Vielgestaltigkeit von Entwicklungsszenarien, von transformatorischen Wandlungsverläufen, ohne systemische Zusammenhänge und Restriktionen zu unterschätzen. Handlungstheorien im Kontext von Transformation werden nicht zuerst rational-choice-Ansätzen folgen, sondern Handeln in der widerspruchsvollen Einheit von interessengeleiteten, werteorientierten und kreativen Handeln verstehen, das von Fall zu Fall sich anders gewichtet. Dabei lassen sich Klassenlagen bzw. soziale Lagen kollektivem Handeln (latent) zuordnen, aber nicht als allein oder primär konstituierendes Moment dieses Handelns. Hier wirken vielfältige und sich scheinbar widersprechende Faktoren (vgl. Vester 2006: 56-73, FES 2006). Institutionstheoretische Ansätze Transformatorischer Wandel ist letztlich immer und vor allem institutioneller Wandel. Gerade bei der Sicht auf Institutionenwandel tun sich im transformationstheoretischen Diskurs jedoch beträchtliche Lücken auf. Dabei dürfte unsere Hypothese, dass die Entstehung, die Reform, der Wandel politischer Institutionen zum großen Thema der Transformationsdebatte und zum Wesensmerkmal transformatorischer Prozesse werden wird, kaum überzogen sein. Die Bedeutsamkeit von Institutionen für soziales Handeln – in handlungsermöglichender wie -beschränkender Wirkung – ist unbestritten. Hinsichtlich der spezifischen institutionentheoretischen Programme und Konzepte gibt es jedoch eine Vielzahl von Ansätzen und Verständnissen, die sich oft kaum aufeinander beziehen (Göhler 1987, Hall et. al. 1996): Institutionen im Sinne von Beschränkungen rationaler Wahlhandlungen („institutional rational choice“); Institutionen als Kulturphänomene, die Handlungsmuster bereitstellen; und Institutionen, deren längerfristige Prägungen Weichenstellungen für politische Entwicklungen darstellen („historical institutionalism“).
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Trotz der Vielfalt von Ansätzen gibt es einen gemeinsamen Kern. Institutionen haben eine kaum zu unterschätzende, lange Zeit vernachlässigte, handlungsermöglichende und zugleich –beschränkende Wirkung im gesellschaftlichen und politischen Prozess. Nur das bringt transformationstheoretische Aussagen nicht sonderlich weiter. Hier interessiert vor allem, was institutionellen Wandel bewirkt und wie er ausgelöst wird. Dabei kann die Auffassung im „Neo-Institutionalismus“ (March 1984) weiterhelfen, wonach Institutionenwandel kein geplanter Prozess der Problemlösung, sondern ein inkrementaler Vorgang ist der tastenden Anpassung an veränderte Bedingungen, auch weil die Intentionen der Akteure unklar, meist differenziert sind, verschiedene Handlungsoptionen existieren und sich die Intentionen im Zeitverlauf verändern. Indem der Neue Institutionalismus aber das Spannungsverhältnis zwischen Praktiken und Institutionen zum Ausgangspunkt seiner Theorie gesellschaftlichen Wandels erhebt, empfiehlt er sich, so Klaus Müller, als ein realistischer Theorieansatz der Transformation (Müller 2008: 127). Der Wandel von Institutionen, auch das ist für ein Konzept der Gesellschafts-Transformation von zentraler Bedeutung, ist nicht einfach durch veränderte Umweltbedingungen determiniert, sondern folgt institutionellen Entwicklungspfaden. Dies bedeutet nicht, dass institutionelle Reformen und Wandlungen zum Scheitern verurteilt sein müssen. Es verweist aber darauf, dass bei der institutionellen Bearbeitung auftretender Probleme, Konflikte, Krisen historisch angelegte Lösungsmuster immer eine beachtliche Rolle spielen. Alternativen werden deshalb an schon bestehende institutionelle Logiken anschließen. Pfadabhängigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang ferner, dass in den Institutionen auch Verfahrensregeln zu ihrer Veränderung (Reform, Transformation) enthalten sind. Nicht zuletzt ist auch mit institutionellem Lernen im Kontext kultureller und historischer Erfahrungsräume zu rechnen (vgl. auch Kaiser 2006: 334). Aus der speziellen Sicht der institutionellen Ökonomie wurde die Frage der Pfadabhängigkeit vor allem von Douglass C. North behandelt. Ihn interessierte besonders, was die „unterschiedlichen Muster der Evolution von Gesellschaften, politischen Regime und Volkswirtschaften im Zeitverlauf“ bestimmt. Und – „wie erklären wir das Überleben von Wirtschaftssystemen, die über lange Zeiträume ständig große Leistungsdefizite aufweisen?“ (North 1990: 92). Mit der ersten Frage wird nach den Bestimmungsgründen unterschiedlicher Entwicklungspfade gesucht, mit der zweiten nach einer Erklärung, warum die evolutionäre Selektion nicht-wachstumsfähige Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme im Laufe der Zeit nicht eliminiert (vgl. auch Zapf 1996: 196/197). Beides steht im engen Zusammenhang zur Pfadabhängigkeit, wonach sich die Entwicklungsrichtung aus inkrementalen Veränderungen ergibt, die von
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einem gewissen Punkt an den weiteren Entwicklungsverlauf maßgeblich bestimmen. „Es gibt“, so North, „zwei Kräfte, die den Pfad des institutionellen Wandels bestimmen: wachsende Erträge und unvollständige Märkte mit hohen Transitionskosten“ (North 1992: 95). Steigen die Erträge können sich Organisationen und Institutionen auch dann noch behaupten, wenn es überlegene Alternativen gibt. Bei „unvollständigen Märkten“, begrenzter Informationsrückkopplung und „hohen Transaktionskosten“ wird danach eine evolutionäre Selektion verhindert, und es setzen sich die subjektiven Vorstellungen der Akteure bei ideologisch geprägten Vorentscheidungen durch. Am Beispiel der unterschiedlichen Entwicklung von Nordamerika und Südamerika zeigt North, dass die „Einführung von gleichartigen Regelsystemen in Gesellschaften“ zu „ganz verschiedenen Ergebnissen führt“, wenn sich die Institutionen grundlegend unterscheiden. Daraus wird von ihm geschlussfolgert, „Pfadabhängigkeit heißt, daß Geschichte wichtig ist. Wir können die heutigen Wahlhandlungen nicht verstehen (…), ohne die inkrementale Evolution der Institutionen zu verfolgen“ (ebd.: 100). Für unser transformationstheoretisches Verständnis ist jedoch die folgende Schlussfolgerung North’ von besonderer Bedeutung: „Wenn jedoch diese Darstellung wie der Bericht einer unvermeidlichen, vorherbestimmten Entwicklung klingt, dann ist dies falsch. Auf jeder Stufe dieses Weges gab es politische und wirtschaftliche Wahlmöglichkeiten, die wirkliche Alternativen boten. Pfadabhängigkeit ist ein Mittel, um die Menge der Wahlmöglichkeiten konzeptionell einzuschränken und Entscheidungen im Zeitverlauf zu verknüpfen. Sie ist nicht die Geschichte unvermeidlicher Entwicklungen, in der die Vergangenheit glatt die Zukunft bestimmt“ (ebd.: 98/99). Die Erkenntnis von alternativen Pfaden gesellschaftlicher Entwicklung unterscheidet sich von der Annahme linearer Progression. Sie ist bei Max Weber (Weber 1964) formuliert und begründet (okzidentieller Sonderweg), bei Norbert Elias’ Theorie der Zivilisation (Elias 1968) verhandelt wie später in Verbas „Modell der Scheidewege“ (Verba 1971) aufgegriffen. Unsere transformationstheoretischen Überlegungen basieren ganz eindeutig auf Erkenntnisse alternativer Pfade, von Wahlmöglichkeiten und einem Entwicklungsverständnis, wo die Vergangenheit nicht glatt die Zukunft bestimmt. Institutionelle Kontexte spielen dabei eine zentrale Rolle und ihre Analyse gehört zur Grundvoraussetzung für die Erklärung von Wandlungsprozessen. Transformationsgesellschaften zeichnen sich auch dadurch aus, dass in ihnen verschiedene Ordnungsmuster mit unterschiedlichen Entwicklungspotenzialen existieren, die es im Einzelnen zu analysieren gilt. Über die „Auswahl“ bestimmter, d. h. wohlfahrtsstaatlicher Institutionen, hat sich z. B. in Schweden ein spezifisches Gesellschaftsmodell herausgebildet. Dieses hat sich auch unter
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größerem Problemdruck durch weiterführende Reformen in wichtigen institutionellen Arrangements erhalten. Der einmal eingeschlagene institutionelle Pfad prägt also auch nachfolgende Entwicklungen für lange Zeit. Für transformationstheoretische Überlegungen spielt der Umstand eine zunehmende Rolle, dass Institutionen in der Gesellschaft nicht nur danach beurteilt werden können, ob sie funktionieren, sondern welche Gerechtigkeitsvorstellungen sie vermitteln und bewirken. Stabilität, aber auch Veränderbarkeit und Offenheit werden zu wichtigen Kriterien für die Beurteilung von Institutionen und ihrer Transformationsfähigkeit. Vereinfacht formuliert, heißt das: Politikprozesse und Politikergebnisse sind zeit- und ortsabhängig, also pfadabhängig (vgl. auch Scharpf 1997: 41). Dieser Ansatz des historischen Institutionalismus zeigt aber auch, dass Akteurspräferenzen nicht einfach gegeben sind, sondern in vielfältiger Weise in sich verändernden Konstellationen geprägt werden. Dabei spielen endogene, aber auch exogene Faktoren für diese Präferenzbildung eine bestimmende Rolle. Für die Erklärung von Institutionenwandel, die transformationstheoretisch von besonderem Interesse sind, sind jedoch vor allem endogene Präferenzbildungen in den Blick zu nehmen. Doch ist der institutionentheoretische Zugriff um jenen der kulturellen Dimension zu erweitern. Die „kulturelle Codierung“ der Transformation gewinnt in der Transformationsforschung gegenüber den ökonomischen Wachstumsaspekten ein zunehmendes Gewicht, da die Transformation der politischen Kultur, die spezifische Dynamik der Werteentwicklung und normative Kategorien wie Gerechtigkeit, Solidarität, Inklusion der politischen Herrschaft erst Legitimität verschaffen und soziales Handeln orientieren (Müller 2008: 128 ff.). Bewegungstheoretische Ansätze Bewegungstheoretische Ansätze gewinnen für die Analyse und Erklärung von Wandlungsprozessen und die Erarbeitung eines modernen sozialwissenschaftlichen Transformationskonzepts eine zunehmende Relevanz. Soziale Bewegungen sind „ein neuer kollektiver Akteur auf der öffentlichen Bühne“ geworden (vgl. dazu und zu folgendem Eder 1995: 270). „Soziale Bewegung“ wird hier nicht im Singular, sondern im Plural verstanden. Ihre gesellschaftspolitische Bedeutung liegt darin begründet, dass diese Bewegung in ihrer Vielfalt einen gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang und damit eine neue Form von Öffentlichkeit, von öffentlichen Räumen herstellt. Sie stößt damit ins Zentrum von Gesellschaft vor und kann so gesellschaftliche Wandlungsprozesse initiieren und vorantreiben. Diese Tatsache verlangt, im sozialwissenschaftlichen Paradigma der Gesellschafts-Transformation das Verhältnis von sozialer Bewegung und gesellschaftlicher Entwicklung neu zu denken. Gesellschaftliche Entwicklung eben als Resultante von gesellschaftlichen Aus-
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einandersetzungen zwischen kollektiven Akteuren, von Veränderungen der politischen Öffentlichkeit. Auch hier wird Entwicklung, wird Transformation nicht in einer geschichtsphilosophischen Eindeutigkeit verstanden, sondern als offener Prozess. Er korreliert mit den individuellen und kollektiven Lernprozessen der Akteure. Hegemonietheoretische Ansätze Den bewegungstheoretischen Ansätzen verbunden, doch mit einer anderen Perspektive versehen, fungieren hegemonietheoretische Ansätze. Auch sie können in einem modernen Transformationsverständnis ihren Platz finden. Hegemonie bezeichnet nach Gramsci ein Herrschaftsverhältnis, bei dem es den verschiedenen Gruppierungen der herrschenden Klasse gelingt, sich auf ein gemeinsames Konzept von Ordnung und Entwicklung zu einigen (Gramsci 1996) und dafür Zustimmung in breiten Schichten der Bevölkerung zu erlangen. Die so geschaffene Einheit von Zwang und Konsens verleiht der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung (relative) Stabilität und Dauerhaftigkeit. Diese drückt sich aus: ideologisch nicht nur in den dominierenden Diskursen, sondern auch im alltäglichen Verhalten, den subjektiven Wertvorstellungen und Verhaltensorientierungen; institutionell in Gestalt eines Systems von gesellschaftlichen Institutionen und Prozeduren, in denen Interessenkonflikte und Beteiligungsmöglichkeiten im gegebenen Ordnungsrahmen geregelt werden können; politisch in der Fähigkeit der „politischen Klasse“ durch Programm und Praxis politische Führung zu demonstrieren und Gesellschaft zu mobilisieren (Hirsch 2006). Voraussetzung für politischen Wandel seien danach, so dieser Erklärungsansatz, grundlegende Veränderungen in den gesellschaftlichen Strukturen und Kräfteverhältnissen. Dies sei ein langwieriger Prozess vielfältiger sozialer Kämpfe auf den unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft, verbunden mit Lernprozessen der Akteure. Alternative Strategie und „gegenhegemoniale“ Projekte entstehen demnach zuerst innerhalb der Zivilgesellschaft, aber nie durch die Zivilgesellschaft als Ganzes. Denn in der Zivilgesellschaft widerspiegelten sich alle Konflikte und Ungleichheitsmuster der Gesellschaft insgesamt und nicht zuletzt die „bürgerliche Hegemonie“ (Brand 2006). GegenHegemonie bilde sich deshalb zunächst nur in kleinen Bereichen der Zivilgesellschaft heraus, nicht in deren mächtigsten Apparaten (wie u. a. Medien, Verbände, Bildungsinstitutionen). Im Hegemoniekonzept werden gesellschaftliche Diskurse im öffentlichen Raum nicht als die Bedingung gesellschaftlichen Wandels angesehen. Doch
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ohne die herrschenden Diskurse auch im Alltagsverstand in Frage zu stellen, seien – so die Vertreter dieses Ansatzes – gesellschaftliche Veränderungen nicht denkbar. Auch weil die heutige bürgerliche Gesellschaft nicht mehr nur „Kontroll-“, sondern zugleich „Disziplinargesellschaft“ geworden sei. Logischerweise wird der Frage der „kulturellen Hegemonie“ entsprechende Bedeutung für gesellschaftliche Emanzipation beigemessen. Damit die auf gesellschaftliche Veränderung orientierten Gruppen kulturelle Hegemonie erlangen könnten, müssten sie überzeugende Antworten auf die neuen nationalen, europäischen und globalen Herausforderungen finden, letztlich ein zukunftsfähiges gesellschaftliches Projekt entwickeln, das die Chance auf Mehrheitsfähigkeit in der Gesellschaft besitzt. Dabei werden der Staat und seine Rolle für Stabilität und Wandel gesellschaftlicher Ordnungen keineswegs ausgeblendet. Der Staat wird in diesem Konzept nicht einfach als „Instrument der herrschenden Klasse(n)“, aber auch nicht als neutraler, von Wirtschaft und Gesellschaft unabhängiger Faktor betrachtet. Er sei vielmehr eine spezifische und „materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse“ (Poulantzas 2002). Der Staat als soziales Verhältnis ist danach Garant der Stabilität der bestehenden Ordnung, andererseits ein Terrain gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Auch hier folgt wieder der Schluss: Emanzipative gesellschaftliche Veränderungen (Transformationen) können nicht von einem steuernden Zentrum, nicht primär vom Staat ausgehen. Notwendig seien gesellschaftliche Prozesse, die auf verschiedenen Ebenen und an vielen Orten ansetzen, also gewissermaßen eine „Selbsttransformation der Gesellschaft, die von unterschiedlichen Gruppen, Initiativen und Bewegungen vorangetrieben wird“. Dies erfordere „Selbstorganisation und Interessenvertretung“, ein breites politisches Netzwerk, von Staat und Medien „unabhängige politische Öffentlichkeit“ und „Wissensproduktion“. Statt der voranschreitenden „Durchökonomisierung“ gehe es vielmehr um eine „Politisierung der zivilen Gesellschaft“. Dies könne man dann, so seine Befürworter, einen „radikalen Reformismus“ nennen. „Radikal“ – weil die „Fundamente von Macht, Herrschaft und Ausbeutung in Frage gestellt werden“; „Reformismus“ – weil es sich um „einen langwierigen, komplexen Prozess handelt“, der „äußerst konflikthaft und in seinem Verlauf und seinen Ergebnissen nicht vorausbestimmt ist“ (Hirsch 2006: 7). Auch wenn man nicht alle im hegemonietheoretischen Konzept enthaltenen Auffassungen teilen mag, so enthält dieses Konzept für ein Transformationsmodell doch Anknüpfungs- und Anregungspotenziale. Denn GesellschaftsTransformation, hier von ihrer intendierten Seite betrachtet, ist nicht schlechthin ein machtpolitisches Projekt. Sie ist vielmehr eng verbunden mit Wandel von Öffentlichkeit, politischer Kultur, gesellschaftlicher Hegemonie und der Her-
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ausbildung eines neuen und mehrheitsfähigen Gesellschaftsprojekts. Dabei können die Kategorien „Kräfteverhältnis“, „Zivilgesellschaft“, „Gesellschaftlicher Diskurs“, „Kulturelle Hegemonie“ auch für die Ausarbeitung eines neuen sozialwissenschaftlichen Paradigmas der Gesellschafts-Transformation anwendbare Analyse-Kategorien und -instrumente sein. Regulationstheoretische Ansätze Die Erarbeitung eines zeitgemäßen Transformationskonzepts sollte schließlich auch den regulationstheoretischen Ansatz nach bestimmten Anschlussstücken „abklopfen“. Entstanden ist der regulationstheoretische Ansatz in den 70er Jahren, zunächst vor allem in Frankreich. Dieser Ansatz erklärt gesellschaftliche Entwicklung als Regulation kapitalistischer Verhältnisse. Er unterscheidet verschiedene Phasen der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft, die grundlegend durch ein bestimmtes „Akkumulationsregime“ und eine spezifische „Regulationsweise“ dieses Regimes charakterisiert seien. Weitere zentrale Kategorien zur Bestimmung der Funktionsweise einer spezifischen historischen Phase kapitalistischer Entwicklung sind das „soziale Paradigma“ sowie ein „hegemonialer Block“ (vgl. u. a. Lipietz 1998). Das Akkumulationsregime sichert den Zusammenhang von Profitrealisation und materieller Reproduktion (Lipietz 1998: 161). Verschiedene Akkumulationsregime weisen unterschiedliche Technologien, Typen der Arbeitsorganisation, verschiedene Grade der kapitalistischen „Landnahme“ (Lutz) sowie eine unterschiedliche Struktur internationaler ökonomischer Beziehungen auf. Jedes Akkumulationsregime ist in den institutionell-normativen Komplex einer Regulationsweise eingebunden (ebd.: 163). Akkumulationsregime und Regulationsweise lassen sich nicht aufeinander reduzieren, sondern stehen in einem widerspruchsvollen Verhältnis zueinander. Voraussetzung für eine (relative) Stabilität einer in diesem Sinne verstandenen Formation sei die Kompatibilität von Akkumulationsregime und Regulationsweise, die sich nur als Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen herstelle. Es ist diese theoretische Interpretation von Subjekt, Reproduktion und Transformation kapitalistischer Strukturen, die es dem Regulationsansatz ermöglicht, die Konzeption einer zwar offenen, aber nicht kontingenten Abfolge von kapitalistischen Formationen, eine Geschichte spezifischer Kombination von Akkumulationsregimen und Produktionsweisen zu formulieren. Mit der Regulationstheorie können keine unilinearen, in die Zukunft verlängerbare Trends moderner Gesellschaften abgeleitet werden. Eine retrospektive Analyse von hinter dem Rücken der Akteure sich vollziehender Trends ist mit diesem Ansatz jedoch recht kompatibel (Schachtschneider 2005: 187 ff.).
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So haben verschiedene Autoren der Regulationstheorie eine komplexe und differenzierte Analyse der Formation des Fordismus vorgenommen. Konsens ist, dass etwa seit den 1970er Jahren ein Prozess der Ablösung des Fordismus stattfand (vgl. auch Kap. V.1). Die sich anschließende Phase wird zumeist als „Postfordismus“ oder auch „Neoliberalismus“ bezeichnet. Auch zu deren Analyse liegen inzwischen verschiedene Arbeiten vor (u. a. Lipietz 2000; vgl. auch Bluhm 1996). Die uns hier interessierende Frage ist die, welche Anschlussfähigkeit der regulationstheoretische Ansatz für ein modernes Transformationskonzept besitzt. Im Unterschied zum institutionen-, handlungs-, bewegungs- und hegemonietheoretischen Ansatz spielt das Handeln individueller und kollektiver Akteure im regulationstheoretischen Ansatz nicht eine solch zentrale Rolle. Die Wirksamkeit von Intentionalität, von Einfluss der Akteure, von schrittweisen partizipativen Veränderungen und transformatorischen Prozessen ist in diesem Konzept durch die engen Grenzen des Kapitals eingeschränkt. Transformation wird vor allem verstanden als Übergang zu einer neuen Regulationsweise. Diese ist gleichwohl ein Ergebnis sozialer Kämpfe, indem sich schließlich ein neuer „historischer Block“ formiert. In diesen sozialen Kämpfen sehen Autoren wie Allain Lipietz auch Chancen für ein demokratisches „alternatives Paradigma“; heute zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit dem dominierenden Paradigma des „liberalen Produktivismus“ (s. auch Schachtschneider 2005: 188). Der regulationstheoretische Ansatz begründet eine Vielfalt möglicher kapitalistischer Entwicklungswege. So wird u. a. ein „kollektiver Gesellschaftsvertrag“ (Deppe), eine ökologisch vernünftige „große Transformation“ (Lipietz), ein neues „Konzept sozialen Fortschritts“ (Aglietta) beschrieben. Dies jedoch im Rahmen der Kompatibilität von Akkumulationsregime und Regulationsweise historisch kapitalistischer Formationen. Gesellschafts-Transformationen in unserem Verständnis finden hingegen in diesem Ansatz weniger Beachtung.
4.3
Systematisierende Erklärungen
Sowohl bei der Analyse von konkreten Wandlungsprozessen als auch bei der Erarbeitung eines theoretischen Konzepts der Transformation kann man auf verschiedene klassische und neuere gesellschaftstheoretische Konzepte und spezifische Erklärungsansätze zurückgreifen. Einige davon haben wir hier beschrieben. Es sind z. T. recht unterschiedliche Konzepte und Ansätze, die bei kritischer Verarbeitung jedoch geeignet sein können, verschiedene Transformationsaussagen und -hypothesen zu formulieren. Doch auch in ihrer Summe ver-
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körpern sie kein neues Paradigma der Transformation, der GesellschaftsTransformation. Dieses zu erarbeiten – in dem von uns verstandenem Sinne – bleibt eine Herausforderung unserer Zeit. Beim heutigen Entwicklungsstand der realgesellschaftlichen Transformationsprozesse und dem heutigen Erkenntnisstand kann es sich bei einem solchen theoretischen Transformationsmodell und konzept stets nur um einen Theorie-Rahmen, um erste Aussagen, Hypothesen, Inhalte und Umrisse handeln. Zu Recht betont auch das Autorenteam um Stuart Hall, dass es nicht um eine allumfassende soziale Großtheorie geht, in der Gesellschaft vor allem als „Totalität, Fortschritt und Notwendigkeit“ identifiziert wird. Es plädiert hingegen für eine Sozialtheorie, in der Einblicke in die Gesellschaft und ihre Entwicklung gesucht werden und wo „Diskontinuität, Pluralität und Zufall“ einen gewichtigen Platz einnehmen (Hall et. al. 1996: 434/435). Ein zeitgemäßes theoretisches Transformationskonzept muss – zusammengefasst – zumindest drei Erfordernisse erfüllen: Erstens: Transformation als struktureller Wandel muss beschrieben werden unter Bezug auf Prozesse, die diesen Wandel hervorbringen. Ein modernes Konzept der Gesellschafts-Transformation muss von ein und demselben basalen Ansatz ausgehen, um die Prozesse sowohl der Stabilität wie die des Wandels zu untersuchen. Und es muss vor allem die endogenen Quellen der Transformation in den Blick nehmen. Zweitens: Transformation als struktureller Wandel wird letztlich durch das Handeln individueller und kollektiver Akteure bewirkt bzw. vermittelt. Ein modernes Konzept der Gesellschafts-Transformation muss deshalb zeigen, wie gesamtgesellschaftliche Faktoren individuelle Motive und Entscheidungen beeinflussen und wie diese Einfluss nehmen auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung und diese verändern. Drittens: Transformation als struktureller Wandel ist ein intendierter Prozess der Veränderung, der Um- und Neuformierung von Strukturen, Institutionen, Regeln, Deutungsmustern und Ordnungsmodellen mit eigendynamischen Komponenten. Ein modernes Konzept der Transformation muss diese Wandlungsprozesse in ihrer Einheit von Destabilisierung und Neukonstituierung, von „Altem“ im „Neuen“ und umgekehrt sowie Gesellschafts-Transformation als gerichteten und offenen Prozess des Wechsels vor allem von Prozessstrukturen und gesellschaftlichen Entwicklungsmodellen erfassen und erklären. Ein solches Konzept und weiterführend ein solches Paradigma sozialen Wandels können nur in einem längerfristigen, kollektiven Erkenntnis- und Diskursprozess entstehen. Dazu bedarf es unterschiedlicher theoretischer Konzepte, Erklärungsansätze, Perspektiven. Dennoch ist es heute erforderlich und auch möglich, einen theoretischen Entwurf der „Gesellschafts-Transformation“ in Umrissen zu skizzieren.
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Gesellschafts-Transformation
Gesellschafts-Transformation als neues Konzept: Umrisse, Vergleich, Resümee
Wir haben bislang Transformation als Leitbegriff und als Struktur- und Entwicklungsmodell dargestellt sowie Ansätze zur Erklärung von Transformation und Gesellschafts-Transformation diskutiert. Jetzt wollen wir Transformation und insbesondere Gesellschafts-Transformation als neues Konzept sozialen Wandels spezifizieren und verdichten. Hierbei bietet sich auch ein Vergleich zwischen dem klassischen und dem neuen Konzept sozialen Wandels im Allgemeinen und GesellschaftsTransformation im Besonderen an. So können – wenngleich in idealtypischer und damit vereinfachter Form – Gemeinsamkeiten wie vor allem die Unterschiede und das Neue sichtbar gemacht werden. Bereits beim Erklärungsmuster unterscheidet sich das neue vom klassischen Konzept sozialen Wandels. Die Leitidee des klassischen Wandlungskonzepts ist der eher kontinuierliche, geradlinige, gestaltete Wandel, selbst dort, wo das Konzept inzwischen konflikt-theoretisch gehärtet wurde. Wandel wurde bzw. wird interpretiert als „Wiederherstellung des Gleichgewichts“ (Parsons), als „Wandel durch Differenzierung“ (Luhmann), als Wandel durch „fortschreitende Modernisierung“ (Zapf). Und selbst in Becks „Risikogesellschaft“ tritt Wandel vor allem als „reflexive Modernisierung“, als „Zweite Moderne“ auf. Das neue Konzept sozialen Wandels muss realistischer Weise von einer Vielfalt sozialer Wandlungsprozesse und von sehr verschiedenartigen Prozessverläufen und -typen ausgehen: von gerichteten und ungerichteten, geordneten und chaotischen Verläufen, von Gleichgewicht und Wandel, Differenzierung und Entdifferenzierung, von Konvergenz und Zusammenbruch. Jede Verabsolutierung eines Prozessverlaufs und -typs wäre deshalb theoretisch kontraproduktiv. Allein ein kontinuierlicher und geradliniger Wandel kann heute nur noch als seltener und als wenig wahrscheinlicher „Grenzfall“ erwartet werden (vgl. auch Müller/Schmid 1995: 36). Die verschiedenen Fluktuationen, Brüche und Umbrüche, Krisen und Katastrophen sowie die nicht-lineare „Logik des Misslingens“ zeigen dies deutlich. Dies ist auch für das Verständnis von Gesellschafts-Transformation wichtig, wenngleich Gesellschafts-Transformation in Abhängigkeit vom Handeln der Akteure vor allem auch als gerichteter Prozess zu verstehen ist. Das neue Transformations-Konzept geht zugleich von der Annahme aus, dass „unüberwindbare Krisen“ (des Kapitalismus) zum „Zusammenbruch der Strukturen“ führen, ebenfalls nur noch die Ausnahme, keineswegs die Regel gesellschaftlicher Veränderungen sein wird. Ein zeitgemäßes Transformations-
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verständnis rückt deshalb weder die lineare Entwicklungsdynamik noch die einseitige Krisenperspektive ins Zentrum der Betrachtung, sondern intendierte und eigendynamische, auf Veränderungen der gegebenen Strukturen abzielende, letztlich aber offene Wandlungsprozesse. Es ist weder eine „Schönwettersoziologie“ noch eine „Krisen-, Niedergangs- und Untergangstheorie“. Das klassische Konzept sozialen Wandels und insbesondere die Modernisierungstheorie fungieren eher als eine Theorie der Systemintensivierung und -stabilisierung, das moderne Konzept, Paradigma sozialen Wandels und der Transformation versteht sich dagegen eher als eine Theorie, die neben Systemstabilität ein Systemversagen nicht ausschließt, auf jeden Fall systemischen Wandel und Gesellschafts-Transformation und damit die Entstehung von Neuem und Ungewohntem in der Gesellschaft verstärkt in den Blick nimmt. Auch die amerikanischen Soziologen um Stuart Hall konstatieren in ihrem Buch „Modernity. An Introduction to Modern Societies“ verschiedene sozialwissenschaftliche Perspektiven zur Frage der Entwicklung: Jene, für die Entwicklung zu einer „Intensivierung und Beschleunigung des Schritts und des Umfangs der Moderne“ führt. Jene, für die Entwicklung „Veränderung“ ist, Veränderung im Wesentlichen auf dem eingeschlagenen Modernisierungspfad. Und schließlich jene, für die Entwicklungen zugleich eine „neue Konstellation des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens hervorbringt“ (Hall 1996: 428). Auch hinsichtlich der Mechanismen sozialen Wandels gibt es zwischen beiden Konzepten Unterschiede. Konflikte und Spannungslinien in der Gesellschaft spielen in beiden Konzepten eine wichtige Rolle, sowohl bei der Analyse als auch bei der Erklärung sozialer Phänomene. Zugleich aber sind sie im neuen Paradigma der Transformation Ausgangspunkte gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Kämpfe, in denen in gewissen Situationen auch um die weitere Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung gestritten wird. Konflikte, gesellschaftspolitische Diskurse und Auseinandersetzungen, Kräfte- und Herrschaftsverhältnisse sind daher für das neue Paradigma von erheblicher Relevanz. Dies ist der Erkenntnis geschuldet, dass die Transformation der Gesellschaft immer auch von unterschiedlichen Gruppen, Initiativen, Bewegungen, gesellschaftspolitischen Diskursen vorangetrieben wird. Hierbei gewinnen die zivile Gesellschaft und die politische Öffentlichkeit als Zentren der komplexen Gesellschaft herausragende Bedeutung. Das neue Konzept der Gesellschafts- Transformation unterscheidet sich gerade in dieser Hinsicht vom alten Konzept sozialen Wandels, wo diese Sicht auf die Gesellschaft eine eher untergeordnete war bzw. ist und zuvörderst „systemimmanente Imperative“ bzw. Diffusion und Kommunikation als Erklärungsmuster für Triebkräfte und Mechanismen sozialen Wandels dienen.
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Das neue Konzept sozialen Wandels unterscheidet sich zugleich von der vereinfachten Sicht des Marxismus-Leninismus auf die Arbeiterklasse und den Klassenkampf als alleinige Triebkräfte sozialen Fortschritts und gesellschaftlicher Höherentwicklung. Keine Frage aber auch, dass ein neues Transformationskonzept gerade bei der Erklärung der heutigen Mechanismen von Transformationsgeschehen noch großen Nachholbedarf hat und die Kritik an ihren diesbezüglichen Erklärungsdefiziten zu Recht besteht. (vgl. Zapf 1995: 169 ff.) Das betrifft vor allem die Mechanismen institutionellen Wandels, wo die Leerstellen besonders gravierend sind. Im Grunde kann heute, gerade aus theoretischer Perspektive, von einem „Wandel des Wandels“ (Schulze 2003: 115 ff.) gesprochen werden. Deshalb bedarf es zur Erklärung der neuen Phänomene sozialen Wandels auch neuer Begriffe. Statt allein oder vorwiegend mit solchen Begriffen wie Totalität, Stabilität, Gleichgewicht, Differenzierung, Kapazitätssteigerung, Adaptionen zu arbeiten sind Begriffe wie Offenheit, Spannungslinien, Wandlungspotenziale und -barrieren, Kräfteverhältnisse, Herrschaftsstrukturen, kollektive Lernprozesse, Entscheidung statt Determination der Gesellschaft notwendig und inhaltlich zu füllen. Auch hier liegt ein weites Feld theoretischer Arbeit. Ohne klare Begrifflichkeiten sind die neuen Erscheinungen der Transformation nicht zu verstehen und nicht zu erklären. Um die Transformationsprozesse zu rekonstruieren, ihre Mechanismen aufzudecken und die Dynamik des Transformationsgeschehens zu erfassen bedarf es, wie bereits gezeigt, gerade auch der Modellbildung und der erklärenden Theorie. Die Modellbildung abstrahiert am Ende bewusst vom historischen Geschehen, um die formalen Verlaufskonturen des Wandels herauszufinden. Diese Modelle verzichten auf eine spezifische „Abbildung“ der konkreten sozialen Wirklichkeit, sondern rekonstruieren (bzw. bestimmen) die wesentlichen Struktur- und Prozessaspekte (Müller/Schmid 1995: 13). Eine solche Modellbildung ist zur Erklärung der hier zur Diskussion stehenden Transformation unverzichtbar. Mittels einer solchen sind die Ausgangsbedingungen, die Verkettung der internen und externen Parameter, die Mechanismen und die Prozessstrukturen der Gesellschafts-Transformation zu identifizieren und darzustellen. Das geht nicht ohne erklärende Theorien. Beide Paradigmen sozialen Wandels, das klassische wie das neue, greifen auf gesellschaftstheoretische Erklärungsansätze zurück, die neben Gemeinsamkeiten auch die Unterschiede im gesellschaftstheoretischen Verständnis von Ordnung, Stabilität, Wandel und Transformation verdeutlichen.
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Schließlich muss auch das neue Konzept sich der Aufgabe stellen, Wandlungs- und Entwicklungsverläufe zu prognostizieren. Es geht hierbei von einem konkret identifizierbaren Ensemble von Akteuren, Institutionen und Umwelten aus. Analysen des Vergangenen und Heutigen verbinden sich zugleich mit Aussagen über das mögliche Morgen. Dabei lässt es sich bei Aussagen über Entwicklungsrichtungen in aller Regel auch von normativen Überlegungen leiten. Das ist – wenngleich heute oft in Vergessenheit geraten – in der Geschichte sozialogischen Denkens keineswegs neu. Durkheim fahndete z. B. nach den Voraussetzungen einer „neuen Moral“ (Müller/Schmid 1995: 38), Spencers Theorie suchte nach personalen und strukturellen Bedingungen für den „Consensus“ (ebd.) einer assoziativ geordneten Gesellschaft und der historische Materialismus versuchte den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus zu modellieren und vorzuzeichnen und die jüngste Forschung zur postsozialistischen Transformation gab gleich den Ausgangs- und den Endpunkt der Entwicklung normativ vor. Das neue Konzept wird sich bei seinen Prognosen jedoch vom Anspruch verabschieden müssen, das Ziel der Entwicklung normativ (genau) vor- und beschreiben zu können, um dann lediglich noch nach den Wegen und Mitteln zu suchen, es zu erreichen. Neue Wandlungstheorien würden deshalb für sich nicht mehr den Allgemeinheitsgrad und -anspruch erheben, wie es einstmals der Marxismus, aber auch der Evolutionismus tat. Die Verteidigung des philosophischen Erbes der Dialektik muss einher gehen mit der Distanzierung von einer totalisierenden Variante von Geschichtsdialektik, die Gegensätze, Abweichungen, Besonderheiten nicht gelten lässt und „aufzulösen“ versucht. Abweichung sollte im neuen Paradigma sozialen Wandels als kreatives Prinzip gesellschaftlicher Entwicklung gelten. Bezogen auf die Moderne bedeutet dies, dass die verschiedenen „Modernitäten“ durch unterschiedliche und spezifische geschichtliche und kulturelle Traditionen geprägt sind. Und Geschichte und Gesellschaften bewegen sich nicht zielgerichtet voranschreitend, sondern in Zyklen und in einer Kombination von vor-, seit- und rückwärts. Dem neuen Paradigma sozialen Wandels sollte deshalb nicht mehr länger ein kausales Entwicklungsmodell zugrunde liegen. Denn Transformation in der sozialen Realität ist vor allem auch ein Suchprozess handelnder und widerstreitender Akteure, dessen Resultat nicht vorherbestimmt ist. Das Misslingen ist in die theoretischen Konzepte ebenso einzubeziehen wie das Gelingen. Dabei wird selbst ein Zustand des „Gelingens“ in vielem anders aussehen und abweichen vom (normativ) begründeten Zukunftsentwurf. Und – es wird immer wieder neue Konflikte und Spannungslinien geben, die auch neue Transformationsprozesse hervorrufen werden. Moderne Wandlungsmodelle wären deshalb
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unvereinbar mit der Beschreibung einer schönen, abgeschlossenen Gesellschaft als „Beste aller Welten“. (Schulze 2003). Ein zeitgemäßes Transformationsverständnis muss sich daher vom alten Fortschrittsdenken und -glauben verabschieden, um zugleich der Kategorie „Zukunft“ wieder ihren Platz im modernen Denken einzuräumen. Denn so sehr sich das Hoffen auf eine unabweisliche, gesetzmäßige Höherentwicklung im Geschichtsprozess als Trugschluss erwies, so hat sich das Denken gerade am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die Verwaltung der Vergangenheit sei die eigentliche Zukunft, als große Illusion (oder auch als konservatives Ideologiekonstrukt) entpuppt „Was wir am wenigsten haben und was wir am dringendsten bräuchten, ist der Mut, konzentriert und systematisch über die Zukunft nachzudenken“ (Lutz 2004: 48). Ein modernes Transformationskonzept schließt einerseits Aussagen über die Zukunft ein und ist andererseits eine theoretische Grundlegung für einen Zukunftsdiskurs. Dieser Zukunftsdiskurs muss sich von früheren unterscheiden. Neben den dazu schon Ausgeführten muss sich Zukunftsdenken dialektisch positionieren, wie es auch der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze formuliert: „In der Fortsetzungsvermutung, die im Lauf des Steigerungsspiels entstanden ist, verselbständigt sich die historische Passage der Linearität zu einem machtvollen Geschichtsmythos, der inzwischen das Denken auf der ganzen Welt bestimmt. Dialektik beginnt mit der Annahme, dass Fortsetzung nur eine Möglichkeit ist. Sie sucht die Vollständigkeit der Überlegung im Unterschied zum Bisherigen. Lineare Prognostik arbeitet mit der Logik der Fortschreibung, dialektische mit der Logik der Alternative. Dialektik verwendet das vorhandene Wissen auf ungewohnte Weise: nicht zusammenfügend, abkürzend, gestaltbildend, wie es der naturwissenschaftlichen Suche nach eleganten Formeln entspräche, sondern kontrastbildend und nach Auflösung forschend. Im Kern aber geht Dialektik über bloße Negation hinaus. Sie fragt immer auch bereits nach dem Neuen und geht damit zum prognostischen Verstehen über“ (Schulze 2003: 193). Das neue Konzept sozialen Wandels muss zugleich eine Antwort auf die Frage geben, was ist der „Sinn“, was ist die „Bedeutung“ von Transformation, von Gesellschafts-Transformation. Denn Transformation ist nicht nur ein deskriptiver, sondern zugleich ein normativer Begriff. D. h. welche Konsequenzen hat Transformation für die Gesellschaft, für die Menschen und ihre Lebensführung. Diese Evaluierung bedarf, soll sie nicht im Normativen allgemein verhaftet bleiben, objektiver Indikatoren. Damit sollen Richtung, Resultate, Folgewirkungen gesellschaftlicher Transformation gemessen und bewertet werden. Als allgemeine soziologische Indikatoren können für ein modernes Transformati-
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Neues Konzept sozialen Wandels
onsverständnis gelten: Nachhaltigkeit, Emanzipation und Partizipation, Exklusion-Inklusion, Gleichheit, Offenheit. Ein durch Transformation hervorgebrachtes neues gesellschaftliches Entwicklungsmodell müsste sich heute besonders dadurch auszeichnen, dass es nachhaltige Entwicklung, soziale Inklusion, demokratische Teilhabe und vor allem individuelle Emanzipation gewährleistet. (s. dazu insbesondere Kap. V). Dabei sei noch einmal darauf verwiesen, dass es nie einen gesellschaftlichen Idealzustand geben kann, sondern im besten Fall eine Annäherung an diesen, also an eine Gesellschaft, die gerade auch das ursprüngliche Anliegen der Aufklärung – Freiheit, Gleichheit, Solidarität – ernst nimmt und es einzulösen bemüht ist. Erste Ergebnisse unserer Suche nach einem neuen Konzept sozialen Wandels im Allgemeinen und von Gesellschafts-Transformation im Besonderen wollen wir nun in einer Tabelle zusammenfassen: Klassisches und neues Konzept sozialen Wandels sowie der GesellschaftsTransformation – ein tabellarischer Vergleich Klassisches Konzept sozialen Wandels Erklärungsmuster (Leitidee): Kontinuierlicher, geradliniger, gerichteter Wandel; Konflikthafte Veränderungen, Innovationen; Wiederherstellung Gleichgewicht auf neuer Grundlage
Begriffe: Moderne, Evolution; Stabilität, Gleichgewicht, Konvergenz; Differenzierung, Adaption, Kapazitätssteigerung
Neues Konzept sozialen Wandels und der Gesellschafts-Transformation Erklärungsmuster (Leitidee): Globale Umbruchsituation und neuer Entwicklungspfad, neues sozioökonomisches und kulturelles Entwicklungsmodell; Vielfalt sozialer Wandlungsprozesse: geordneter und ungeordneter Wandel, Gleichgewicht und Wandel, Konvergenz und Zusammenbruch, Krisen, Chaos und Katastrophen; Gesellschafts-Transformation als primär intendierter Prozess sozialen Wandels mit eigendynamischen Komponenten und nichtintendierten Folgewirkungen Begriffe: Transformation als neuer Leit- und Suchbegriff; Entscheidung statt Determination, Abweichung, Zyklen, offene Zukunft; kulturelle und gesellschaftliche Hegemonie, Staat als Verdichtung von Kräfteverhältnissen; Partizipation und alternatives Paradigma; Gesellschaftsbegriff: Moderne bürgerlichkapitalistische Gesellschaften, Weltgesellschaft; Widersprüche, Spannungslinien und Trendbrüche; Soziale Lagen/Schichten/Milieus, Kräfte- und Machtverhältnisse, Transformationspotenziale und -barrieren;
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Theoretische Erklärungskonzepte: System- und Modernisierungstheorien; Formations- und Revolutionstheorie; Klassische Struktur- und Handlungstheorien unterschiedlicher Ausprägung
Auslöser, Ursachen: Wandel durch Differenzierung, fortschreitende Modernisierung; Nachahmung (Adaption); Konflikte, Risiken
Mechanismen: Wandel durch Diffusion und Differenzierung, durch Kommunikation, Innovation und Konflikte; Evolutionäre Mutation von Strukturelementen
Gesellschaftsentwicklung, Richtung, Folgen: Weiterführende und fortschreitende Modernisierung, Steigerung der Kapazitätspotenziale und Innovationen; Zweite Moderne; Wandel des Wandels
Gesellschafts-Transformation Individuelle und kollektive Lernprozesse Theoretische Erklärungskonzepte: Verarbeitung der Klassiker der Soziologie und ihrer zeitgenössischen Weiterentwicklung in verschiedenartiger Prägung; Neuere gesellschaftstheoretische Konzepte, Ansätze und Diskurslinien: Kritischer Modernediskurs, moderne Kapitalismusanalysen, Nachhaltigkeitstheorien, kritische Theorien der Weltgesellschaft; Spezifische institutionen-, akteurs- und handlungstheoretische Konzepte, die die Dichotomie von System- oder Handlungstheorien überwinden Triebkräfte, Ursachen: Gesellschaftliche Herausforderungen, soziale Konflikte und Spannungslinien; Gesellschaftliche Diskurse und gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen; Handeln und Lernprozesse individueller und kollektiver Akteure; Soziale Bewegungen als kollektiver Akteur Mechanismen: Gesellschafts-Transformation als intendierter Prozess mit eigendynamischen Zügen; Wechselwirkungen (Zusammenhänge) zwischen Makrovariablen und individuellen Motiven, Entscheidungen; Neues als Kombination und Re-Kombination vorhandener und sich entwickelnder Elemente in der Gesellschaft Gesellschaftsentwicklung, Richtung, Folgen: Geschichte und Gesellschaft als dynamischer und offener Entwicklungs- und Veränderungsprozess; Transformation als Wandel von Zivilisationstypen, Formationstypen, Gesellschafts- bzw. Entwicklungsmodellen, politisch-institutioneller Regime; Mittelpunkt der GesellschaftsTransformation heute: Wandel von Gesellschafts- bzw. Entwicklungsmodellen; Gesellschaft und Fortschritt als Entscheidungsprozess, verschiedene Entwicklungsoptionen und -szenarien; Keine abgeschlossene Gesellschaft als „Beste aller Welten“; Indikatoren von Gesellschafts-Transformation als Höherentwicklung: Höherer Grad individueller Freiheit und größere Gleichheit, Nachhaltigkeit wirtschaftlicher, sozialer, kultureller Entwicklung; Offenheit für neue Entwicklungsoptionen
III Der postsozialistische Fall einer Gesellschafts-Transformation – Herausforderung und Chance für ein zeitgemäßes Transformationsverständnis und -konzept
Mit den gesellschaftlichen Umbrüchen 1989/90 bot sich für die Sozialwissenschaften die einzigartige Möglichkeit, den Untergang sozialer Strukturen, gesellschaftlicher Institutionen, politisch-administrativer Machtapparate und die Herausbildung neuer Gesellschaftsformen – mithin das bislang so seltene Phänomen Gesellschafts-Transformation – unmittelbar zu beobachten, zu analysieren und zu erklären. Es war dies zugleich eine Chance, die bisherigen Annahmen und theoretischen Prämissen des Paradigmas sozialen Wandels kritisch zu testen, diese entsprechend den neuen Bedingungen und Herausforderungen zu präzisieren, weiter zu entwickeln und u. U. zu Umrissen eines neuen Modells, eines neuen Konzepts von sozialen Wandel und gesellschaftlicher Transformation vorzustoßen. Eines Konzepts, das sich dann aber nicht allein auf die postsozialistische Transformation bezieht, sondern auch die westliche Moderne und ihre verschiedenen Entwicklungswege selbstreflexiv in den Blick nimmt und den „doppelten Umbruch“ in Ost und West als Beginn der neuen Transformation des 21. Jahrhunderts thematisiert. Wir wollen im Folgenden diesen postsozialistischen Transformationsfall aus der Perspektive vor allem seiner sozialwissenschaftlichen Analysen und Erklärungen rekonstruieren. Damit können wir prüfen, ob diese GesellschaftsTransformation als Bestandteil der neuen Transformation des 21. Jahrhunderts in den Blick genommen wurde, welche ersten Erkenntnisse über diese neue Transformation gewonnen wurden und ob die bisherigen Konzepte sozialen Wandels tatsächlich getestet, weiter entwickelt und zu neuen Ufern eines zeitgemäßen Transformationsverständnisses vorgedrungen wurde.
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Postsozialistischer Transformationsfall
Die ältere Transformationsforschung
Die theorieorientierte Transformationsforschung hat eine längere Geschichte. Bei ihrer näheren Betrachtung erweist sie sich jedoch vor allem als eine Erforschung der Demokratisierung politischer Systeme. In diesem Sinne ist diese theorieorientierte Transformationsforschung insbesondere eine Transitionsforschung, also eine Forschung, die den Wechsel politischer Regime in den Blick nimmt. In den fünfziger und sechziger Jahren folgte diese theorieorientierte Transformations- oder besser Transitionsforschung mit Parsons, Lipset, Barrinton, Moore und Huntington insbesondere makrosoziologisch-funktionalistischen oder makrosoziologisch-strukturalistischen Theoriesträngen (Merkel 1996: 30). Die Demokratisierung politischer Systeme wird bei den System- und Modernisierungstheoretikern Parsons und Lipset in Abhängigkeit von der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und universell gültigen Modernisierungsmustern von Wirtschaft und Gesellschaft betrachtet. Zeit, Ort, Kultur spielten dabei keine, zumindest keine Ausschlag gebende Rolle. Anders hingegen bei Moore, der in seinen Arbeiten in den 1960er Jahren unterschiedliche politische Wege in die Moderne zeichnet. Für ihn entscheiden nicht „evolutionäre Universalien“, sondern soziale Konflikte und die jeweilige Konfiguration von Macht- und Klassenverhältnissen (ebd.). Die Transitionsforschung der 1980er Jahre brach mit dem makrosoziologischen Paradigma, das Demokratie allein von sozioökonomischen Requisiten oder klassenspezifischen Machtstrukturen abhängig sei. Mit der großen „Transition to Democracy“-Studie von O`Donnell, Schmitter und Whitehead (1986) rückte das Handeln und dabei vor allem das Handeln von politischen Eliten in den Mittelpunkt theoretischer wie empirischer Transformationsstudien. Vor allem im Kontext der Demokratisierungsprozesse in Südeuropa und Lateinamerika der 1970er und 1980er Jahre wurden akteurstheoretische Ansätze prägend, sowohl in Form des rational-choice Ansatzes wie auch des strukturalistischdeskriptiven Akteursansatzes (Merkel 1996: 31). In diesen Studien (Reißig 1994: 328) finden sich Erklärungen über den Zerfall autoritärer Regime, über die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Demokratisierung, über Bedingungen von Demokratienetwicklungen sowie das Agieren kollektiver Akteure und der alten und neuen Eliten in den verschiedenen Phasen dieser Demokratisierungsprozesse. Dabei konnte auf verschiedene Fallgruppen Bezug genommen werden: –
Westdeutschland, Japan, Italien nach 1945 (ein zumeist von oben und außen initiierter Übergang zur Demokratie);
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Spanien, Portugal, Griechenland 1974 und folgende Jahre (Beseitigung politischer Diktaturen, u. a. als Kompromiss zwischen alten und neuen Eliten; ein politischer Transitionsprozess, der in Spanien und Portugal fast 10 Jahre dauerte); Lateinamerikanische Länder, besonders seit den 1980er Jahren (Politische Transitionsprozesse als mehrfache Wechsel zwischen Diktaturen und Demokratien sowie von Regressionen auch nach längeren wirtschaftlichen Wachstumsperioden); Asiatische Staaten Südkorea, Taiwan, Hongkong, Singapur (Wirtschaftskapitalistische Transformationen gehen hier politischen Transformationen, Entwicklung zu bürgerlichen Demokratien zumeist voraus). (vgl. dazu Reißig 1994: 190, Zapf 1994: 189).
Diese vor allem in den USA konzipierte Transitionsforschung wurde in der Bundesrepublik bis 1989 adaptiert, aber kaum grundlegend systematisiert und weiterentwickelt. Eine spezielle Transitions- oder Transformationsforschung gab es vor 1989 in der Bundesrepublik nicht. Wie reagierten nun aber die Sozialwissenschaften auf die Systemumbrüche von 1989/90? Wie entwickelte sich jetzt die Transformationsforschung? Kam es zu theoretischen Innovationen oder gar zu einer konsistenten Theorie der Gesellschaftstransformation, die mehr sein musste als eine Verallgemeinerung des Wechsels politischer Regime?
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Die neue Herausforderung und die Forschung zur postsozialistischen Transformation – eine Bilanz
Während über die „Ära der Transformation“, hier speziell bezogen auf die Umbrüche 1989/90 und ihre Folgen, viel geschrieben und auch debattiert wurde, herrschte bei der Frage nach dem erzielten wissenschaftlichen Erkenntnis- und Ertragswert lange Zeit eher Zurückhaltung. Das kann normalerweise zwei Gründe haben. Entweder hat diese Transformationsforschung noch nicht die Phase der kritischen Grundlagenreflexionen, der Theorie- und Typenbildung erreicht oder aber diese spezifische postsozialistische Systemtransformation enthält kein Anregungs- und Innovationspotential und bestätigt im Prinzip nur, was schon vor 1989 an diesbezüglichem Wissen vorhanden war. Bei denjenigen, die sich dazu äußern, gehen die Meinungen diesbezüglich weit auseinander. Das zeigen sowohl frühere als auch neuere Arbeiten, die sich mit den Ergebnissen der Forschung zur postsozialistischen Transformation beschäftigen (von Beyme 1996a, Bönker/Wielgohs 2008, Hanf 2008, Pollack 2008, Reißig 1998
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Postsozialistischer Transformationsfall
und 2000b, Waschkuhn/Thumfart 1999, Wiesenthal 1999, 2009). Während Helmut Wiesenthal z. B. (Wiesenthal 2009) im Kontext der postsozialistischen Transformation die Chance sieht, zu neuen Erkenntnissen über die Gestaltbarkeit von Gesellschaften überhaupt zu gelangen, kommt Heinz Bude mit seiner Außenperspektive zu dem Ergebnis: „Die Fülle der Beschreibungen kann über den Mangel an Einsichten nicht hinwegtäuschen... In der gedanklichen Folgenlosigkeit der Transformationsforschung reflektiert sich nur die historische Folgenlosigkeit der Revolution von 1989“ (Bude 2000: 6). Auf dem Hintergrund der Beobachtung und Analyse der postsozialistischen Transformation durch die Sozialwissenschaftler sollen hier – im Kontext unseres Anliegens – drei Fragen aufgegriffen und thematisiert werden: 1. ob, und wenn ja wo in diesem Transformationsfall weiterführendes Anregungs- und Innovationspotential lag; 2. wie es in der Transformationsforschung reflektiert wurde; 3. ob und wo über die Einzelfälle hinaus gültiges Wissen über sozialen Wandel und Transformation, das für ein zeitgemäßes Konzept der Gesellschafts-Transformation von Bedeutung sein kann, gewonnen werden konnte. Mit der Zäsur 1989/90 schien es zunächst so, dass ein „Aufbruch zu neuen (geistigen) Ufern“ möglich werde. Denn 1989/90 entstanden tatsächlich eine qualitativ neue Forschungssituation und ein ungewöhnlicher, anregender Untersuchungsgegenstand, der für die Sozialwissenschaften gleichermaßen Herausforderung und Chance wie Risiken und Fallen auf dem Weg zu einem neuen theoretischen Transformationsverständnis beinhaltete. Dafür sprachen drei Gründe: 1. der Überraschungseffekt, 2. die globale Dimension dieses Systemwechsels, 3. der Mangel an zeitgemäßen Transformationstheorien. Zum ersten Aspekt: Die Dynamik der Krise und die Richtung der Krisenauflösung, d. h. die Implosionen und Revolutionen in den sozialistischen Systemen sowjetischen Typs wurden auch in den Sozialwissenschaften nicht antizipiert. Die Rede war deshalb vom „Schwarzen Freitag“ der Sozialwissenschaften (von Beyme 1994). Obgleich diese Systemzusammenbrüche und „Fehlprognosen“ offensichtlich nicht alle Theorieansätze in gleicher Weise trafen führte dies in den Sozialwissenschaften zunächst zu bestimmten Irritationen. Genau betrachtet aber ist nicht dieses so genannte Prognoseversagen so bedeutsam (sozialwissenschaftliche Prognosefähigkeit ist stets eingeschränkt) als vielmehr die Erfahrung, dass von den Sozialwissenschaften als relativ stabil wahrgenommene, analysierte und historisch „begleitete“ Strukturen, Institutionen plötzlich implodieren und spezifische Entwicklungspfade in der Moderne blockieren können. Ulrich Beck formulierte dies 1992 noch mit den Worten: „Diese Lehre von der Zerbrechlichkeit von Sozialstrukturen und Machtapparaten, über die Geschwindigkeit von Veränderungen rührt an die Substanz der westlichen So-
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ziologie“ (Beck 1992). Verunsicherung als Anregungspotenzial für neue theoretische Suchprozesse? Zum zweiten Aspekt: Mit den zahlreichen und unterschiedlichen Fällen von Systemumbrüchen in Ostdeutschland und Mittel-Osteuropa (insgesamt 29 Länder betreffend) konnte nun aus nächster Nähe und mit größter Aufmerksamkeit der Untergang von Sozial- und Machtstrukturen, v. a. aber die Entstehung neuer Gesellschaften beobachtet und studiert werden. Sozusagen am lebenden Objekt konnten bisherige Annahmen und theoretische Prämissen überprüft und getestet werden. Denn – und das ist m. E. das eigentlich Entscheidende, aber auch Umstrittene – gestartet wurde das Projekt eines globalen, gleichzeitigen und v. a. mehrdimensionalen Systemwechsels, wofür es kein wirklich historisches Vorbild gab. Der postsozialistische Systemwechsel zeigte zwar Analogien zu den Fallgruppen politischen Regimewechsels im 20. Jahrhundert, aber die Differenz überwog. Beim Übergang vom Staatssozialismus zu den kapitalistischen Demokratien des Westens handelte es sich nämlich erstmals um einen gleichzeitigen Systemwechsel in der politischen Ordnung und in der Wirtschaft, bei den Eigentumsverhältnissen sowie den sozialen Strukturen und Wertemustern. Die Frage stellte sich: konnte trotz dieses „Dilemmas der Gleichzeitigkeit“ (Offe) ein solch holistisch angelegtes Gesellschafts- und Transformationsprojekt überhaupt gelingen und wenn ja – unter welchen Voraussetzungen, durch welche Akteure und woran wird „Gelingen“ (oder eben „Nichtgelingen“) zu messen sein? Es war zugleich anzunehmen, dass der Systembruch im Osten – wenn auch zeitversetzt – einen neuen Systemschock im Westen und neue globale Transformationsprozesse auslösen würde (Reißig 1991). Denn die Zäsur der westlichen Moderne setzte bereits in den 1970er Jahren mit der Krise der „fordistischen“ Industriegesellschaft ein (vgl. Kap. V.1). Es bot sich somit die Möglichkeit, den Rückblick auf die Moderne selbstreflexiv zu gestalten, und zwar auf beide Varianten, die östliche und die westliche(hochschule ost 1-2/2000). Gerade in dem Umstand, dass beide Gesellschaften sich in einer Umbruchsituation befinden, sollten neue Chancen für die Sozialwissenschaften liegen und von hier könnten Innovationen auch für neue sozialwissenschaftliche Wandlungstheorien ausgehen. Zum dritten Aspekt: Fundierte Erklärungen für diese neuen (Ost-West) Transformationsprozesse und gar eine spezielle Theorie der Transformation lagen nicht vor (s. Kap. I und II). Die erwähnten Erkenntnisse aus der älteren Transitionsliteratur (Linz/Stepan 1978; O`Donnell/Schmitter 1986) über den politischen Systemwechsel in Südosteuropa und Lateinamerika waren hilfreich, jedoch für diese neuen Gesellschaftstransformationen nicht ausreichend. Was ferner vorlag und zu erschließen war, war eine breite und konkurrierende Angebotspalette von Großtheorien (u. a. System- und Modernisierungstheorien, vgl.
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auch Kap. I.3) und insbesondere Theorien mittlerer Reichweite (u. a. Akteursund Handlungstheorien/Reißig 1994: 323 ff.). Die Frage war, wie würden diese Theorien bzw. Theorienansätze, die am empirischen Fall eines westlichen, ausdifferenzierten politisch-gesellschaftlichen Systems entwickelt und geschärft wurden, unter Bedingungen rasanter Systembrüche (Osten) und in „Gesellschaften im Übergang“ (Westen) greifen? Oder machte gerade die postsozialistische Transformation deutlich, dass neue Modelle und theoretische Konzepte nun endgültig erforderlich wurden? Wie auch immer die Antworten ausfallen würden, eine Chance, den seit längerem zu beobachtenden Rückzug in den westdeutschen Sozialwissenschaften von einem gesamtgesellschaftlich-kritischen Ansatz zu überwinden, war gegeben. Ein Umsteuern schien jetzt möglich. Sozialwissenschaftler, namentlich Soziologen und Politikwissenschaftler, reagierten zunächst mit Betroffenheit, aber auch bald mit Neugier und Interesse auf diese neue Forschungssituation. Sie sahen diese gesellschaftlichen Um- und Aufbrüche als „natürliche Experimente eines beschleunigten sozialen Wandels“ (Offe), als „sozialwissenschaftlichen Großversuch“ (Giesen, Leggewie). Einige plädierten nun für kritische Bestandsaufnahme und neue Standortsbestimmungen, für Revisionen, theoretische Öffnungen ihrer Disziplinen und erwarteten gar neue Theorien der Transformation (u. a. Offe, K. U. Mayer, Leggewie). Doch ein breiterer sozialwissenschaftlicher Transformationsdiskurs kam 1990/91 nur punktuell zustande. Die für Transformationsanalysen nicht unwichtige Frage nach der Ausgangsgesellschaft, darunter die alte Frage nach dem Sozialismus als einem durchgesetzten „Ideologieprojekt der Machtausweitung“ (totalitarismustheoretische Version) oder einem fehlgeschlagenen Projekt spezifischer Modernisierungsstrategie (modernisierungstheoretischer, systemimmanenter Ansatz) wurde kaum auf neue Weise diskutiert. Nicht zuletzt ob der jetzt erst einmal wieder dominierenden Polemik der Vertreter der Totalitarismustheorie. Das Nachdenken über die Erklärungsfähigkeit der traditionellen Konzepte und Theorien wurde vorerst nicht weiter vertieft. Die alten Forschungsfelder und -konzepte wurden lediglich auf den Osten übertragen. Alsbald dominierte auch in der Transformationsforschung die institutionelle und personelle Kontinuität der alten Bundesrepublik. Man sah die Situation bald nur noch als Glücksfall für die Transformationsforschung und begab sich in den Kampf um die Ressourcenverteilung. Fast nahtlos vollzog sich in Ost und West ein Paradigmenwechsel. Sozialismus nicht als Scheitern einer spezifischen (zentralistischen bzw. autoritären oder konservativen) Modernisierungsstrategie sondern als Vor-, Semi-, Nichtoder Antimoderne, mit den sich logisch daraus ergebenden Deutungsmustern postsozialistischer Transformation. Zumindest öffentlich dominierten alsbald
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die system- und modernisierungstheoretisch geprägten und „eingängigen“ Deutungen von den postsozialistischen Transformationen als den „nachholenden Modernisierungen“, den osteuropäischen Revolutionen als den „nachholenden Revolutionen“ (Habermas 1990), die 1789 beenden; vom endgültigen Sieg der liberalen Demokratie des Westens (Dahrendorf 1989) und dem Ende der großen gesellschaftlichen Entwicklungsalternativen (Bell 1989). Keine Frage, der Blick auf die Systemtransformation im Osten konnte, ja musste sich damit verengen und verstellen. Will man nun genauer erkunden, ob und wie die sozialwissenschaftliche Beobachtung und Erforschung der postsozialistischen Transformation neue Erkenntnispotentiale erschlossen hat, bietet sich m. E. an, sie in ein Phasenmodell aufzuteilen (Reißig 1998, Waschkuhn/Thumfart 1999: 12 ff.). Es lassen sich dann drei bzw. vier getrennte und sich überlappende Phasen bzw. Ebenen konstruieren, die sich durch verschiedene Sichtweisen in der Transformationsforschung, aber auch durch ein jeweils relativ dominantes und spezifisches Erklärungsmuster, durch Umorientierungen und Revisionen unterscheiden. Die erste Phase bzw. Ebene umfasst den Zeitraum von 1990 bis etwa Ende 93/Anfang 94. Die Transformationsforschung dieser Zeit kann als eine stark und oft ausschließlich empirisch orientierte Ad-hoc-Forschung, die flexibel an den Brennpunkten des Umbruchs ansetzt (vgl. auch Hradil 1996: 301), bezeichnet werden. In einer Situation, da es galt, möglichst schnell möglichst viele Daten und Informationen über ein bis dato scheinbar oder tatsächlich unbekanntes Land zu erheben, ist eine solch empirisch geprägte Transformationsforschung geradezu zwingend. Die Schwerpunkte der sich konstituierenden Transformationsforschung entsprachen etwa den Schwerpunkten der Transformationsprozesse (vgl. auch Pollack 1996: 3): Sozialstruktureller Wandel; institutioneller Wandel; kognitiv-mentaler Wandel. Diese beginnende Transformationsforschung folgte im Wesentlichen den Interessen, Perspektiven und aktuellen Schwerpunktsetzungen der Forschung, wie sie sich in der früheren Bundesrepublik herausgebildet hatten. Das zeigen u. a. die Lebensverlaufsforschungen von Karl Ulrich Mayer und Johannes Huinink, die Forschungen zu Lebenslagen und sozialer Mobilität von Stefan Hradil oder Rainer Geißler, die Arbeiten zur Dynamik der Entwicklungen an den Schnittstellen von Staat, Politik und Ökonomie wie die von Gerhard Lehmbruch und Roland Czada, die Arbeiten zur institutionellen Interessenvermittlung von Helmut Wiesenthal, die zum Verwaltungsaufbau bzw. zur Neukonstitution der Verwaltung von Hellmut Wollmann sowie die Arbeiten zum Parteiensystem von Oskar Niedermayer oder Richard Stöß; die zur Elitenrekrutierung und -zirkulation von Wilhelm Bürklin bzw. zur politischen Kulturforschung von Petra Bauer, Oscar Gabriel, Max Kaase, Helmut Klages und Bettina Westle.
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Damit einher ging der Rekurs auf bekannte und bislang in der alten Bundesrepublik bewährte Ansätze und Konzepte sowie die Neubelebung theoretischer Traditionen. Diese Konzepte konnten in einer neuen (Forschungs-)Situation und in anderen Kontexten auf ihre Analyse- und Erklärungskraft hin kritisch getestet werden. Auf makrosozialer Ebene erlangte das modernisierungstheoretische Paradigma (vgl. Kap. I.3 und Kap. I.4) neuen Aufschwung und die zeitweilige Dominanz (vgl. dazu auch Zapf 1996). Postsozialistische Transformation galt in diesem Erklärungsansatz als nach- und aufholende objektive und subjektive Modernisierung ohne wirkliche Innovation (Zapf 1994).Die Modernisierungstheorie schien optimalen Zugang zur theoretischen Deutung und Erklärung auch der Transformationsprozesse in Ostdeutschland und in den osteuropäischen Staaten zu ermöglichen. So formulierte Wolfgang Zapf, dass unter Transformation gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu verstehen seien, deren Ziel die moderne Gesellschaft mit politischer Demokratie, Marktwirtschaft und Wohlstand der breiten Bevölkerung ist und dieses den Akteuren bekannt sei (Zapf 1996: 169). Zu diesem Modell der Transformation respektive der nachholenden Modernisierung gäbe es für diese Transformationsgesellschaften keine ernsthafte Alternative. Dabei würden die Schwierigkeiten auf diesem Wege, die Konflikte in den Transformationsgesellschaften sehr wohl gesehen und könnten kein ernstzunehmender Einwand gegen die Modernisierungstheorie sein. Erkenntnistheoretisch wurden damit kaum größere Neuerungen aus der Beschäftigung mit der postsozialistischen Transformation als den „nachholenden Entwicklungen“ erwartet. Unterhalb der makrosozialen Ebene kamen institutionentheoretische und handlungstheoretische Konzepte, Konzepte sozialer Lagen und Ungleichheiten, aber auch hermeneutisch-biographische und sozialisationstheoretische Ansätze zur Anwendung. Dieses insgesamt eher traditionell-pragmatische Vorgehen in der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung war auch dem Zeitdruck geschuldet; ausschlaggebend war dies aber m. E. nicht. Die Fortsetzung und Übertragung bewährter Forschungsmethoden, -ansätze und -traditionen hat wesentlich dazu beigetragen, dass wichtige Studien aus der Transformationsforschung hervorgegangen sind und neue Erkenntnisse gewonnen wurden. Und doch scheinen gerade in diesem Umstand der Abhängigkeit der Transformationsforschung von den etablierten Interessen, Forschungsfeldern und Schwerpunktsetzungen der Sozialwissenschaften der alten Bundesrepublik und des Rekurses auf bewährte Deutungsmuster, Konzepte und Instrumentarien nicht nur die Gewinne, sondern auch die Defizite der Transformationsforschungen begründet.
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Zwei Defizite können für diese Phase m. E, konstatiert werden: zum einen die wohl eher unvermeidbare Unterbelichtung oder auch Ausblendung theoretischer Suchraster und Problemdefinitionen. Die Transformationsforschung der ersten Generation war analytisch, weniger systematisierend und synthetisierend angelegt. Zum anderen lag den Fragestellungen und Analysen fast durchgängig eine Argumentationsfigur zugrunde, die geradezu als „Paradigma der frühen Transformationsforschung“ (Lutz 1996: 1) bezeichnet werden kann: „1. Der rasche Transfer der westdeutschen Institutionen in die ostdeutsche Wirtschaft und Gesellschaft löste Anpassungsprozesse in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen aus, die früher oder später – spontan oder mit Unterstützung staatlicher Hilfsprogramme - in einer weitgehenden Angleichung an die Verhältnisse münden werden, die sich in Westdeutschland (wie in allen anderen westlichen Industrienationen) seit dem zweiten Weltkrieg herausgebildet haben. 2. Die westlichen Verhältnisse liefern demzufolge die adäquate Folie und die zu ihrer Analyse entwickelten Konzepte und Methoden das geeignete Instrumentarium zur Untersuchung der transformationsbedingten Veränderungen... Gefragt... wurde praktisch nur nach dem, was im Osten aus westlicher Sicht von Interesse war“ (Lutz 1996: 1/2.) Dies hatte, verbunden mit der Tatsache, dass es kaum zur Entwicklung kategorial neuer Fragestellungen und Konzepte kam, von vornherein die Perspektive verkürzt. Die zweite Phase/Ebene der Transformationsforschung setzte zum Teil zeitlich parallel, deutlicher dann Anfang 1993 ein. In ihr überschneiden sich verschiedene Bewegungen und Reflektionsschritte (Waschkuhn/Thumfart 1999: 13). Es mehren sich die Versuche, sich von der Ad-hoc-Forschung abzusetzen. Es kommt zu ersten Systematisierungen und theoretischen Verallgemeinerungen. Das bedeutet, dass mit dem bisherigen, relativ gesicherten und eingeübten Forschungskonzepten die spezifischen Felder untersucht und die gewonnenen Daten und Ergebnisse an diesen und mit diesen Konzepten (normativ) bewertet wurden (Rudolph 1995). Als Meßlatte, die sowohl Vorannahme als auch Bewertungsmaßstab war, fungierte in dieser Phase vor allem die Modernisierungstheorie (Hradil 1992: 3) in ihren unterschiedlichen Ausprägungen und Differenzierungen. Gesellschaftspolitisch bleibt auch jetzt die Bundesrepublik alt Folie der Analyse und Muster der Evaluierung. Spätestens dann seit Anfang 1995 nehmen selbstkritische Reflexionen und kritische Einwände zu. Es kommt zu bestimmten Revisionen und Umorientierungen. Das kennzeichnet die dritte Phase oder besser dritte Ebene der sozialwissenschaftlichen Forschungen zur postsozialistischen Transformation in der Bun-
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desrepublik. Sie bildet eine gewisse Zäsur, in der sich den Anregungspotentialen aus dieser Ära der Transformation stärker geöffnet wird. Der Hintergrund für diese oft vorsichtigen, zum Teil auch weit reichenden Umorientierungen ist im deutschen Kontext die nun deutlicher zutage tretenden Diskrepanzen zwischen sozialwissenschaftlichen Annahmen aus der Startphase und den tatsächlichen Entwicklungsproblemen und Entwicklungsrichtungen in den postsozialistischen Transformationsgesellschaften. Zugleich hatte sich der sozialwissenschaftliche Erfahrungshorizont im Zusammenhang mit den bisherigen Transformationsanalysen erweitert. Auch der Einfluss der angelsächsischen Diskussionen zu den Transitionsprozessen in Mittel-Ost-Europa (Stark, O’Donnell, Huntington, Brzezinski) wird stärker wahrgenommen. Die Revisionen und Umorientierungen erfolgen unspektakulär und immanent, ohne größere Debatten. Eine zweite Sichtweise auf die Transformation, die von Anfang an präsent war, aber nie wirklich dominierte, nahm nun deutlichere Konturen an und erhielt mehr Zuspruch. Tatsächlich kann von zwei recht unterschiedlichen Sichtweisen auf die durch den Umbruch von 1989/90 ausgelösten Transformationsprozesse gesprochen werden; Sichtweisen, die auch für das heutige Transformationsverständnis von Bedeutung sind. Zugespitzt und etwas vereinfacht: Postsozialistische Transformation als eher geschlossenes, zielgerichtetes Projekt „nachholender Modernisierung“ ohne beachtenswerte Folgen für die westlichen Gesellschaften bzw. Transformation als voraussetzungsvoller, prozessualer, eher offener, sich auch selbst organisierender Entwicklungsprozess, in dem durch das eingreifende Handeln der Akteure Eigenes und Neues entsteht und in dem sich immer stärker nichtintendierte Folgen für die kapitalistischen Gesellschaften abzeichnen. Mehr noch: Transformation Ost und West bedingen sich wechselseitig, entspringen letztlich gemeinsamen Quellen (vgl. auch Hauser [Hg.] 1996: 475). In der erstgenannten Sicht auf die Transformation sind das Modell des Übergangs und die Zielstellungen alternativlos. Sie ging insbesondere von der Konzeptualisierung der westlichen „Ankunftsgesellschaft“ aus, während die realsozialistische „Ausgangsgesellschaft“ eher als Tabula rasa abgetan wurde. Die tatsächlichen Folgewirkungen der Ausgangsgesellschaft auf den Transformationsverlauf blieben so (lange Zeit) unberücksichtigt oder einseitig, normativ festgeschrieben (Hemmnis, Blockade). Der Blick richtete sich auf die Implementation der westlichen Basisinstitutionen in der postsozialistischen Transformationsgesellschaft, die als wesentlicher Inhalt der Transformation verstanden wurde. Das normativ gezeichnete Bild vom Zweck der Transformation – Einführung des Marktes entsprechend dem neo-klassischen, ordnungspolitischem Konzept und der Parteiendemokratie – vor Augen wurden die unverzichtbaren Kontextdiskrepanzen, „Abweichungen“ und Turbulenzen unterbelichtet. Im
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deutschen Fall hatte dabei die Herstellung institutioneller Gleichheit Vorrang vor allen anderen Zielen, vor allem vor der Entwicklung der endogenen Potentiale. Die Strukturierungs- und Ordnungsleistungen der Institutionen wurden in dieser Perspektive hoch-, ihre Integrationsleistungen und ihre generelle Akteursgebundenheit eher gering bewertet. Die zweite, „offenere“, kritische Sichtweise (exemplarisch in Rudolph 1995; Kollmorgen/Reißig/Weiß 1996; Hauser et. al. 1996; Müller 1996, 2008; Offe 1994, BISS PUBLIC 1990-2000) auf den Umbruch 1989/90 und dem folgenden Transformationsverlauf geht demgegenüber davon aus, dass die Richtung der Transformation letztlich weniger von den „anonymen“ systemspezifischen Steuerungsimperativen als vielmehr vom Handeln und den Machtkalkülen der dominanten Akteure bestimmt wird. Die Steuerbarkeit der Transformation ist angesichts der Komplexität der zu transformierenden Gesellschaft eingegrenzt, aber nicht chancenlos. Der Transformationsverlauf ist trotz Intentionalität in dieser Sicht dennoch nicht „vorprogrammiert“, sondern ein konflikthafter, ambivalenter und in seinen spezifischen Resultaten ergebnisoffener Wandlungsprozess. In Abhängigkeit von alten und neu entstehenden Akteurskoalitionen können sich im Transformationsverlauf selbst unterschiedliche Entwicklungspfade konstituieren. Der sozialen und kulturellen Dimension der Transformation wird eine grundlegende Bedeutung beigemessen. Und nicht institutionelle Kontinuität bzw. Gleichheit, sondern bestmögliche Entwicklungschancen für die vorhandenen innovativen Potentiale gelten als Erfolgskriterium. Im Spannungsverhältnis von politischer Struktur und politischer Kultur, wie es für den ostdeutschen Transformationsfall besonders typisch ist, wird eine Quelle möglichen politisch-institutionellen Wandels gesehen. Während im erstgenannten Ansatz der modernisierungstheoretisch geprägte Angleichungsdiskurs dominierte so im zweiten der eher handlungs- und entscheidungstheoretisch geprägte Differenzierungsdiskurs. Dass im Vergleich zu den anderen postsozialistischen Transformationsgesellschaften der (ost-)deutsche Transformationsfall durch eine Reihe Besonderheiten charakterisiert ist, wurde in beiden Sichtweisen nicht bestritten. Auch nicht, dass mit dem Transfer von Institutionen, Personal, Wissen und Finanzen Ostdeutschland günstigere Bedingungen für seine Umstrukturierung und Modernisierung besaß und besitzt. Wurden im ersten Diskurs, bald noch verstärkt, die Erfolge der Transformation Ostdeutschlands vor allem auf dieses „einzigartige Projekt“ (Wiesenthal 1996: 147) einer „exogenen Transformation“ (Lehmbruch 1993) zurückgeführt und dann vom „privilegierten Sonderfall“ oder „Idealfall“ gesprochen, der die Garantie des Erfolgs in sich birgt, so wurden im zweiten Diskurs diesbezüglich vor allem die Ambivalenzen der Vor- und Nachteile stärker thematisiert, aber unter der Perspektive der notwendigen poli-
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tischen Korrekturen und damit der Voraussetzungen für eine am Ende doch noch „gelingende“ Transformation. Allmählich artikulierte sich darüber hinaus eine sozialwissenschaftliche Kritik, die nicht schlechthin einzelne Seiten und Fehlentscheidungen der postsozialistischen Transformation in den Blick nimmt, sondern die das zugrunde liegende Modernisierungs- und Transformationsmuster, die Transformationsresultate und ihre theoretisch-konzeptionelle Fundierung überhaupt in Frage stellte (vgl. dazu u. a. Müller 1995:1-42, Thomas 1998: 104-116). Diese Differenzierungen in der Transformationsforschung blieben bis zuletzt existent, dennoch kam es ab Mitte der 1990er Jahre zu bestimmten Revisionen auch im Mainstream-Diskurs (vgl. zu folgendem auch Waschkuhn/Thumfart 1999: 16-18). In den Analysen der Transformation spielt die Konzeptualisierung der Ausgangsgesellschaft im Vergleich zur Ankunftsgesellschaft jetzt eine größere Rolle. Transformationen wurden inzwischen weniger nur als nachholende Anpassungsprozesse beschrieben, sondern als spezifische, intendierte und eigendynamische Prozesse sozialen Wandels erkundet, in denen zugleich Neues entsteht. Institutionelle Abweichungen und Innovationen wurden nicht nur als Hindernisse oder Widerstände (contraints) disqualifiziert, sondern als eigenständige (endogene) Entwicklungspotentiale und Schnittpunkte zu alternativen Pfaden hervorgehoben (Eisen/Kaase 1996: 29). Als Erfolgskriterium der Transformation galten damit nicht mehr so sehr institutionelle Kontinuität bzw. Gleichheit, sondern zugleich bestmögliche Entwicklungschancen für die vorhandenen Potentiale. Die kulturellen Hinterlassenschaften (legacies) der Ausgangsgesellschaft wurden nicht mehr schlechthin als hinderlich oder schnellstens zu überwinden angesehen, sondern als eigenständige, wenngleich ambivalente und nicht in allem gänzlich anschlussfähige Ressourcen betrachtet. Struktur und Kultur wurden eher als gleichberechtigte Parameter angesehen. Und ganz allmählich wurde – noch vereinzelt - eine der zentralen Ausgangshypothesen von der Folgenlosigkeit der ostdeutschen Transformationsprozesse für die westdeutsche Gesellschaft relativiert: Die Wandlungen in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft lösen, so die späte Einsicht, kulturelle und institutionelle Veränderungen in der alten Bundesrepublik aus und erfordern diese geradezu. Die westdeutsche Ankunftsgesellschaft kann dann nicht mehr für das Maß aller (institutionellen) Dinge gehalten werden, das strukturellen, institutionellen, kulturellen Veränderungen und Innovationen entzogen ist. Die Sicht auf die westdeutsche Gesellschaft als immanenter Teil der GesellschaftsTransformation, des Umbruchs wurde jedoch weiterhin nicht Konsens in der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung der 1990er Jahre.
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Forschungskonzeptionell waren aber zwei Modifizierungen typisch. Zum einen schwindet die Renaissance der system- und funktionalistisch- modernisierungstheoretischen Erklärungen, weil damit die spezifischen Übergänge und neue Vielfalt der Transformationsprozesse und Resultate sowie konkreten Entwicklungsperspektiven in Ostdeutschland, besonders aber in Mittel-Ost-Europa, nicht oder nur partiell zu erklären sind. Die Vertreter des modernisierungstheoretischen Ansatzes nahmen nun selbst Korrekturen in ihrer Deutung der ostdeutschen bzw. osteuropäischen Transformationsprozesse vor und benannten deren Konflikthaftigkeit und ambivalenten Entwicklungstendenzen (Zapf 1996). Insgesamt etablierten sich stärker akteurs- und handlungstheoretische sowie kulturalistische Ansätze, die freilich oft mit strukturalistischen und modernisierungstheoretischen Erklärungsmustern koexistierten (Merkel 1996: 31). Zum anderen gewannen auch bei den Analysen zum ostdeutschen Fall die Vergleichsperspektiven an Bedeutung, blieben aber vorerst noch eine Ausnahme (Arbeitsgruppe Wiesenthal/HUB). Mit diesen Perspektivenänderungen und Neuerungen entstanden Voraussetzungen und Forschungsfelder für eine neue Ebene/Phase, für eine neue Generation der Transformationsforschung. Ihre vordergründigen Kennzeichen hätten dann u. a. sein müssen: – –
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historisch und international vergleichende Perspektive des generellen Phänomens von Gesellschaftstransformationen; die neueren Zusammenhänge von postsozialistischer Gesellschaftstransformation im Osten und postfordistischer Transformation im Westen und ihre gemeinsamen und differenzierten Entwicklungspfade; theoriezentrierte Untersuchungen mit dem Ziel der Neujustierung eines den veränderten gesellschaftlichen Kontexten und theoretischen Erkenntnissen entsprechenden gehaltvollen Konzepts der Transformation im Übergang zum 21. Jahrhundert.
Zu dieser neuen Generation von Transformationsforschung kam es jedoch vorerst nicht. Das westliche Interesse an der Transformation des Ostens versiegte. Der Sinn weiterer Transformationsforschung, der ja hierzulande primär als Ostdeutschland- und Vereinigungsforschung verstanden wurde, wurde in Frage gestellt. Die Forschungs- und Förderprogramme eingestellt (s. dazu Ziegler 2005). Dennoch entwickelte sich danach eine kleinere, spezifische Transformationsforschung weiter (SFB 580 Universitäten Jena und Halle, BISS, ThünenInstitut) und seit 2005 dann auch die in einem Netzwerk verbundene „Neue Ostdeutschlandforschung“ (vgl. Initial 3/05).
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Das Hauptverdienst der bisherigen wissenschaftlichen Beschäftigung speziell mit dem deutschen Fall der Transformation besteht darin, dass der seit der DDR-Implosion einsetzende beschleunigte soziale und politische Wandel in Ostdeutschland mit großem Aufwand forschend begleitet, dokumentiert und im einzelnen sicher auch recht genau beschrieben wurde (vgl. Reißig 1997). Ende der 1990er Jahre lagen bereits rund 5.500 Publikationen über die ostdeutschen Transformations- und die deutschen Vereinigungsprozesse vor. Wie viele davon dem speziellen Bereich „Transformationsforschung“ zuzuordnen sind, ist jedoch eine andere Frage. Doch das allgemeine Wissen über die DDR, den Umbruch und über die sozialstrukturellen, institutionellen und kognitiv-mentalen Wandlungsprozesse in den neuen Bundesländern hat sich damit beträchtlich erweitert. Dies gilt für den aktuellen Stand mehr denn je. Ende 2007 verzeichnete die von der TU Dresden gepflegte Literaturdatenbank zu DDR, Ostdeutschland, Vereinigung (www.wiedervereinigung.de) rund 53.000 Literaturnachweise. Inzwischen sind es neue Themen, die diese vorwiegend empirische Forschung ausmachen: Regionen, Demographie, Nachhaltigkeit, Innovation. Bezogen auf die Transformationsforschung bis Ende der 1990er Jahre sei hier u. a. verwiesen auf die sechs abschließenden Berichte der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in Ostdeutschland (KSPW), auf die Arbeiten der Schwerpunktprogramme der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Volkswagenstiftung zur Transformation Ostdeutschlands und der Länder Mittel-Ost-Europas, auf die speziellen Studien der Transformationsarbeitsgruppe der Max-Planck-Gesellschaft an der HumboldtUniversität, des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, des Frankfurter Instituts für Transformationsstudien und auch des Brandenburg-Berliner Instituts für Sozialwissenschaftliche Studien. Dass dabei die Erkenntnisgewinne vor allem auf Mikround Meso-Ebene und weniger auf Makroebene liegen, kann kaum überraschen. Im Zusammenhang mit der Analyse postsozialistischer Transformation erschienen auch einige umfangreiche und gehaltvolle Arbeiten, die sich mit der Makro-Ebene der Transformation, mit Problemen des Systemwechsels beschäftigten (Merkel 1996, Merkel/Sandschneider 1996). Durch ihre theoretischkonzeptionelle Analyse unterscheiden sie sich von den zumeist empirisch orientierten Transformationsstudien. Im Kern ging es jedoch hierbei um Konzepte und Theorien zur Demokratisierung autoritärer und postautoritärer politischer Systeme. Anknüpfend an die Transformations-, besser Transitionsforschung insbesondere von O`Donnell, Schmitter und Whitehead aus den 1980er Jahren wurden in diesen Arbeiten die verschiedenen Demokratisierungswellen im 19.
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und 20. Jahrhundert, Typologien politischer Systeme, Phasen politischer Demokratisierungsverläufe, unterschiedliche theoretische Ansätze behandelt. Wenngleich oft als „Transformation“ bezeichnet geht es in der Regel um „Transition“, um die Demokratisierung politischer Systeme. Für die Erforschung der Demokratisierungsprozesse postsozialistischer Gesellschaften spielen sie eine wichtige Rolle. Dabei fällt jedoch auf, dass die westlichen Demokratien, namentlich ihre Defizite, gravierenden Probleme und Wandlungen weitestgehend ausgespart werden und die westliche Demokratie nur als normative Vergleichsfolie dient. Die Übertragung dieser Modelle und Ansätze der älteren Transitionsforschung auf die Prozesse der Gesellschaftstransformation in Mittel-Ost-Europa konnte nur begrenzt neue Erkenntnisse zutage fördern (s. von Beyme 1991). Von Bedeutung sind nach wie vor die Arbeiten zu politischen Theorien der Systemtransformation, etwa aus der Feder Klaus von Beymes (von Beyme 1994) und die Darstellungen theoretischer Modelle zur Analyse des Systemwechsels (Merkel [Hg.] 1994). Ohne sie kritisch zu verarbeiten würden die Herausforderungen einer systematischen Analyse und Erklärung der heutigen Probleme von Gesellschaftstransformation noch schwieriger zu bewältigen sein. Sie allein aber sind nicht ausreichend für den Zugang zur Ausarbeitung und Formulierung einer zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Wandlungstheorie, die die Komplexität der heutigen Moderne als Ganzes und namentlich in ihrer westlichen Prägung kritisch in den Blick nimmt. Trotz dieser positiven Ergebnisse sind vor allem die Defizite dieser Transformationsforschung zu benennen. Die Desiderate dieser sozialwissenschaftlichen Beobachtung und Erforschung der postsozialistischen Transformation vor allem der 1990er Jahre können aus meiner Sicht in den Stichworten “verkürzte Perspektive“ (1.-2.), „isolierte Fallbehandlung“ (3.), ausgebliebener „Theoriesprung“ (4.-5.) beschrieben werden. Erstens: Den Fragestellungen, Analysen und Interpretationen dieser Transformationsforschung lag – wie gezeigt – nahezu durchgängig eine Argumentationsfigur zugrunde, die als Trias von „Transfer – Anpassungsprozesse - Angleichung“ beschrieben wurde. Die westliche Gesellschaft war gleichsam Folie für die Evaluierung der östlichen Wandlungsprozesse und die bislang zur Analyse der westlichen Gesellschaften entwickelten Konzepte und Methoden bildeten das Instrumentarium zur Analyse auch der Transformationsprozesse des Ostens. Das hatte aus meiner Sicht zumindest drei Folgen. Zum einen bildete die sozialwissenschaftliche Analyse und Kritik der DDR als Ausgangsgesellschaft der Transformationsprozesse in der Transformationsforschung lange Zeit eher die Ausnahme. Wird Transformation dann einseitig nur als radikaler Bruch mit
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den bisherigen gesellschaftlichen Verhältnissen und Lebenswelten verstanden, verengt das den Blick der Transformationsforschung. Zum anderen wurden die Komplexität, die Ambivalenzen und Paradoxien der Transformationsprozesse in Ostdeutschland - zugespitzt formuliert - auf Anpassungsprozesse der „westdeutschen“ Institutionen an die „ostdeutschen Umweltbedingungen“ und auf Lernprozesse der ostdeutschen Akteure im Kontext der westdeutschen Regeln, Normen, Standards reduziert. Schließlich: „Wichtige Bereiche [in der Transformationsforschung, der Verf.] sind ausgeklammert worden, wie die Institutionenbildung und die Schaffung der Randbedingung für die Wirtschaftseinheiten (...) Die verkürzte Perspektive der deutschen Transformationsforschung aufgrund der ‘geschenkten Institutionen’ könnte freilich langfristig zum Nachteil werden, weil die Pose der Selbstgerechtigkeit ungebrochen ist, in der jedes Nachdenken über institutionellen Wandel als die ‘Wiederfindung des Rades’ lächerlich gemacht wird“ (von Beyme 1996a: 314-315). Zweitens: Die Forschung zu den Transformationsprozessen Ostdeutschlands hat die Strukturbrüche im Osten in ihren Folgen für die normativen und faktischen Prämissen und Institutionen des Westens nicht ernsthaft thematisiert. Die offizielle Transformationsforschung hat hierzu nur wenige Ergebnisse vorzuweisen. Dies ist die Kehrseite der zentralen Argumentationsfigur der Transformationsforschung. Vergleichende Arbeiten zum Transformationsgeschehen in Ostdeutschland, die auch die Entwicklung in Westdeutschland analytisch einbeziehen, waren die Ausnahme. Eine Mehrheit der Sozialwissenschaftler ging wie auch die Förderinstitutionen (DFG, KSPW u. a.) davon aus, dass Transformation östlich entstanden, dort auch konzeptionell zu lokalisieren sei („nachholende Modernisierung“). Das Transformationsgeschehen wurde mehrheitlich nicht mit einem kritischen Gesellschaftsdiskurs, der Ost und West gleichermaßen einbezieht, verbunden. Drittens: Neben der „verkürzten Perspektive“ ist die „isolierte Fallbehandlung“ in der deutschen Transformationsforschung kritisch zu vermerken. Der (ost)deutsche Transformationsfall ist trotz oder ungeachtet all seiner Besonderheiten kein Einzel- oder Sonderfall, sondern anschlussfähig wie -bedürftig an das Transformationsgeschehen in den anderen postsozialistischen Gesellschaften (Wiesenthal 1996, Wielghos/Wiesenthal 1997). Im Verlauf der Transformationsforschung gewann die Einsicht nur allmählich an Boden, dass sich der ostdeutsche Transformationsfall keineswegs der komparativen Analyse entzieht. Es wäre deshalb gleichsam eine empirisch wie theoretisch interessante Frage gewesen, systematischer zu untersuchen und zu prüfen, wo die Besonderhei-
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ten des ostdeutschen Transformationsfalls liegen und vor allem wo unter der Oberfläche, der Vielfalt und der Differenz sich typische Gemeinsamkeiten postsozialistischer Transformation abzeichnen. Analysen, die den deutsch-deutschen Transformationsprozess mit dem in anderen ost- und mittel-ost-europäischen Gesellschaften vergleichen, hatten eher Seltenheitswert. Die Transformationsforschung jedoch „verlängerte die Tradition der DDRForschungen [die der Bundesrepublik, der Verf.], die dadurch glänzte, dass sie kaum je komparativ angelegt war - vielfach schlicht mangels Sprachkenntnissen östlich der Oder. Auch die KSPW hat mit ihren beträchtlichen Mitteln und Möglichkeiten die anfangs geplante komparative Perspektive nicht einbringen können“ (von Beyme 1994b: 14). Die Fragmentierung der sozialwissenschaftlichen Forschung nach alten Rastern und Disziplinen wurde auch in der zeitgenössischen Transformationsforschung fortgeführt. Und dazu gehört, dass 0steuropa-Forschung einerseits und Soziologie sowie Politikwissenschaft und ihre Teildisziplinen andererseits getrennt voneinander agierten. Auch hier war eine diskursive Isolation die Folge: Hier die Diskussion zum deutsch-deutschen Transformationsprozess und da die Debatte zur Transformation der mittel-osteuropäischen Länder. Beide sind in der zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung verwurzelt, nahmen sich aber gegenseitig kaum wahr (Bulmahn 1996: 25). Kritisch vermerkten ausländische Kollegen relativ frühzeitig, dass die deutschen Sozialwissenschaften hier Chancen vertan haben, Chancen, die so nicht wiederkehren (Nowotny 1994: 250). Dies konnte auch nicht dadurch ausgeglichen werden, dass in der angloamerikanischen Deutschlandforschung der ostdeutsche Fall von Anfang an stärker in Bezug gesetzt wurde zu den anderen postsozialistischen Fällen Mittel-Ost-Europas (z. B. Linz/Stepan 1996, Przeworski 1995). Viertens: Als (zunächst) Ad-hoc-Forschung und später sozialwissenschaftliche Begleitforschung war diese Transformationsforschung analytisch, aber weniger systematisierend und synthetisierend angelegt. Selbst wenn seit Mitte der 1990er Jahre in der Transformationsforschung Systematisierungen und Synthetisierungen in den Vordergrund traten, konnten die vordem entstandenen Lücken (weißen Flecken) nicht mehr vollends ausgeglichen (getilgt) werden. Zu viele „Bausteine“ fehlten, um ein tragfähiges und konsistentes „Gesamtgebäude“ der Gesellschaftstransformation zu errichten. Eine strategisch angesetzte und theoretisch aufeinander bezogene Forschung kam nicht zustande, obwohl KSPW und DFG über entsprechende Schwerpunktprogramme bestimmte Forschungszusammenhänge herstellten (Kaase et. al. 1996: 16/17). Ein konzeptionelles Vordenken in der institutionell geförderten Transformationsforschung (z. B. der KSPW) war nicht gefragt, entsprechende
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Initiativen wurden negiert. Der Transformationsforschung in diesem Stadium mangelte es deshalb sowohl an der Bearbeitung von quer zu den traditionellen Forschungsfeldern liegenden Themen als auch weitgehend an Längsschnittstudien (Ausnahmen u. a. zur politischen Kulturentwicklung). Fünftens: Die theoretischen Innovationen dieser Transformationsforschung blieben alles in allem bescheiden. Der singuläre ostdeutsche Transformationsfall war offensichtlich keine Basis neuer, generalisierender Theorienbildung. Doch selbst er bot, und zwar gerade in komparatistischer Perspektive, die Möglichkeit konkreter Analysen von Prozesseigenarten - eine Möglichkeit, wie sie so nur selten vorkommt. Hier wurden und werden spezifische Fragen aufgeworfen, die theoretische Debatten und Neuerungen ermöglichen. Solche „Durchbruchstellen“ lagen z. B. in der vergleichenden Rekonstruktion der Sozialordnung der DDR-Ausgangsgesellschaft; in der Analyse der Transformationspfade, den Wahlmöglichkeiten für verschiedene, alternative Pfade und deren Zusammenhang zu alten und neuen Akteurs- und Elitenkoalitionen; in der Beobachtung der Lernfähigkeit und der Selbsterneuerungspotentiale der „westlichen“ Institutionen in einem ganz neuartigen sozio-kulturellen Kontext und insbesondere in der Transformation Ost und West als ein sich wechselseitig bedingender und beeinflussender Prozess. Es konnte hierbei noch nicht um eine neue Transformationstheorie gehen, wie sie 1990/91 von mehreren Sozialwissenschaftlern gefordert wurde (u. a. Dahrendorf, Giesen und Leggewie, Mayer, Burrichter). Doch es bot sich die Chance, vorhandene theoretische Analyse- und Erklärungsansätze sowie Konzepte und sozialwissenschaftliche Theorien in einer neuen Forschungssituation kritisch zu prüfen, zu präzisieren und weiterzuentwickeln (vgl. Reißig 1994, Kollmorgen 1994). Daran sollte sich zeigen, ob allein „im Rahmen bisheriger Ansätze, kleiner Modifikationen bekannter Paradigmen“ (Mayntz 1994: 21) das praktisch und theoretisch Neue in diesen Umbrüchen und Transformationsprozessen zu erklären war. Wie sich zeigte, war allein eine Fortschreibung bisheriger Ansätze nicht ausreichend. Die gängigen theoretischen und methodischen Standards, im Kontext der tradierten westlichen Moderne entwickelt und getestet, konnten die neuen Umbrüche und Transformationsprozesse nur begrenzt erklären. Bei der Anwendung eingeübter Forschungsansätze und -weisen auf das neue Objekt „Gesellschafts-Transformation“ geht es weder um eine einfache Übertragung noch um ein Tabula rasa. Ein erster Schritt wäre ihre kritische, gegenstandsbezogene Reflexion und Umstellung gewesen, die auch neue Horizonte für Theorieentwicklungen eröffnen konnte. Dort, wo es ansatzweise geschah, waren durchaus einige externe Anstöße für eine Transformation soziologischer und politikwissenschaftlicher Theorien – so hinsichtlich der Theorien der institutionellen Ordnung und der politischen Steuerung, der verschiedenen Handlungstheorien, der Demokratietheorien (u. a. Schmidt 1996) –
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als auch für eine Weiterentwicklung der Theorie sozialen Wandels zu verzeichnen. Sie erbrachten Impulse und Erkenntnisse, an die auch heute angeknüpft werden kann. Das Erfordernis der Erarbeitung zeitgemäßer theoretischer Konzepte der Gesellschafts-Transformation bleibt jedoch bestehen – mehr und dringlicher denn je. Gerade weil die Ära der Transformation nicht beendet, sondern gerade in seiner Komplexität und Dynamik erst eröffnet wurde (s. Kap. IV).
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Neue Einsichten und Erkenntnisse über Transformation – fehlender Paradigmenwechsel
Die Frage am Ende dieser spezifischen Transformationsforschung zum postsozialistischen Fall (1989/90 bis 2005) lautet deshalb, ob neue Einsichten, neue Erkenntnisse, neue Wissensbestände oder gar Innovationen über die Analyse der Einzelfälle hinaus „produziert“ und zu Elementen eines solch neuen Konzepts von Gesellschafts-Transformation werden können. Zunächst sehen wir jedoch am Beispiel der Transformationsforschung in der Bundesrepublik, dass institutionelle- und Wissenschaftstraditionen eines Landes größeren Einfluss auf die Art und Weise der Verarbeitung neuer historisch-politischer Geschehnisse haben als das in diesen Ereignissen enthaltene Anregungspotenzial. Das heißt, die „Vorperiode“ prägt auch in der „Ära der Transformation“ die Art und Weise der Verarbeitung oder Ignorierung der Erfahrungen dieser Transformationsperiode (Schmidt 1996: 202). Und diese Traditionen üben nachhaltigere Wirkungen auch auf die Entwicklung von Theorien aus als die historischen Zäsuren selbst. Dafür ist auch die bundesdeutsche Transformationsforschung ein klassisches Beispiel. Zwei Aspekte fallen dabei besonders ins Gewicht. Zum einen hatten sich die Sozialwissenschaften der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren von einer gesamtgesellschaftlichen Forschungsperspektive, die die Fragen des Aufbaus und der Integration, der Stabilität und des Wandels komplexer gesellschaftlicher Ordnungen kritisch in den Blick nimmt, im Prinzip verabschiedet. Zum anderen erhielten die als „Ethos der Moderne“ aufgefassten Gleichheitswerte nicht mehr die ihnen einst beigemessene Aufmerksamkeit. Mehr noch, das Scheitern der sowjetischen Modernisierung wurde nicht nur als Anlass genommen, „Freiheit, Gleichheit und Solidarität zu ‚Leerformen’ der Französischen Revolution zu erklären, sondern auch die daran anknüpfende normative Programmatik der Modernisierung insgesamt zu diskreditieren. Es liegt auf der Hand, dass aus dieser Perspektive kein Beitrag zu einer Theorie der postkommunistischen Transformation geleistet werden kann“ (Müller 2001: 246).
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Dabei wurde durch diese historischen Umbrüche der Rahmen der „Normalwissenschaft“, in dem sich die Sozialwissenschaftler üblicherweise bewegen, gesprengt. Grundlagenreflexionen und kritische Diskussionen gesellschaftlicher Entwürfe sind nicht nur „zulässig“, sondern angesichts der neuen gesellschaftlichen Situation geradezu gefordert (vgl. auch Müller 1996: 449/450). Und wenn es stimmt, dass in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche gerade durch Prozessanalysen über die Einzelfälle hinaus gültiges Wissen über sozialen Wandel gewonnen werden kann (Mayntz 1996), lag hier der eigentliche Test, ob diese Chancen zur theoretischen Verallgemeinerung genutzt wurden. Die Antwort darauf fällt widersprüchlich aus. Wissen wir am Ende dieser aktuellen Forschung über Transformation und sozialen Wandel also nur, was bereits in der Startphase 1990 formuliert wurde und ansonsten lediglich das, was bei einer Transformation nicht funktioniert? Dieses veröffentlichte Urteil (Bude 2000: 6) ist m. E. eine zu einseitige Wertung. Natürlich, wesentliche und eigentlich bekannte Grundannahmen der Transformation postsozialistischer Gesellschaften wurden bestätigt. So auch die Notwendigkeit, dass die Akteure dieser Systemtransformation die vom Sozialismus aufgehobene Institutionenautonomie, zivile Gesellschaft und wirtschaftliche Wettbewerbsstruktur wieder herstellen müssen (ebd.). Andere, bislang fest gefügte Grundannahmen in den Sozialwissenschaften wurden durch den Transformationsverlauf jedoch in Frage gestellt. Das betrifft u. a. das Verständnis von Transformation als einem eher linearen Anpassungsund Angleichungsprozess an die westliche Moderne, bei dem vor allem die exogenen Potentiale eine entscheidende Rolle spielten; von der angeblich flexiblen Lernfähigkeit der westlichen Institutionenordnung und Eliten in der neuen Transformationsgesellschaft; von der eigendynamischen Herausbildung und Funktionsweise der Märkte und schließlich das von der relativen Folgenlosigkeit der Transformationen in Ost- für die Wandlungen in Westeuropa. Positiv formuliert lässt sich feststellen: Diese Transformationsforschung erbrachte sowohl einige neue Einsichten und Erkenntnisse über die Prozesse der System- und Gesellschafts-Transformation als auch einige Denkanstöße für die Präzisierung und Entwicklung zeitgemäßer Wandlungstheorien. Deutlicher konnte nun die Erkenntnis formuliert werden, dass (selbst die postsozialistische) Transformation trotz ihrer Intentionalität ein konflikthafter, zyklischer, langwieriger und letztlich ergebnisoffener Prozess ist. Gelingen und Scheitern, Progression und Regression liegen dicht beieinander und hängen vor allem vom Agieren der Akteure und den jeweiligen gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnissen ab. Auch einige weitere Einsichten über Transformation bereicherten den bisherigen Wissensbestand. Als Alternative zum Modell nachholender Modernisie-
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rung ohne Innovation wurde u. a. mit der Formel „Das Alte im Neuen“ (Stark 1995) die Vorstellung entwickelt und inzwischen bestätigt, dass es mehrere und unterschiedliche Transformationswege gibt, wo sich Altes und Neues begegnen, was zu gesellschaftlichen Lösungen und Ergebnissen führt, die sich von der westlichen Moderne und ihren immanenten Vorstellungen unterscheiden (vgl. auch Zapf 1996: 171). Ferner: Fall- und Vergleichsanalysen haben zugleich Erkenntnisse zutage gefördert, welche Regelhaftigkeiten sich hinter den extremen Unsicherheiten und Unregelmäßigkeiten der Transformation verbergen, was den Verlauf und das Funktionieren der Transformation primär beeinflusst, bestimmt. Spezifische Institutionalisierungsprozesse bilden dabei den Dreh- und Angelpunkt. Damit können einige neue Erkenntnisse auch über die Steuerungspotenziale und mechanismen von Gesellschafts-Transformationen (s. Wiesenthal 1999: 44ff.) formuliert werden. Auch die These, dass Gesellschafts-Transformation weniger von den funktionalen Imperativen und den evolutionären Universalien als vielmehr von den kontingenten Resultaten der Konfliktverläufe, von den Machtressourcen und den Situationsdeutungen, Zielorientierungen sowie Auseinandersetzungen der verschiedenen Akteur- und Elitenkonfigurationen bestimmt wird, konnte neu begründet werden und spielt für die heutige Analyse und Erklärung der Transformationsprozesse eine entscheidende Rolle. Wir wissen heute auch genauer, was postsozialistische Transformation als einen spezifischen Typ sozialen Wandels ausweist und wo die Gemeinsamkeiten und Analogien zum sozialen Wandel, zur Transformation in den kapitalistischen Demokratien des Westens liegen (s. Kap. IV und V). Nicht zuletzt sind aus dieser Ära der Transformation neue Erkenntnisse über den Zusammenhang von Transformation im Osten und Wandel im Westen gewonnen worden, die zu neuen empirischen und theoretischen Forschungen veranlassen. In der Transformationsforschung wurde diese Sichtweise nicht prägend, aber gerade ostdeutsche Sozialwissenschaftler haben frühzeitig auf diesen inneren Zusammenhang verwiesen und die westliche Gesellschaft als Teil der globalen Umbrüche betrachtet (Brie/Klein 1991, Krüger 1990). Damit wurden dann auch die theoretischen Modelle, die der Transformationsanalyse und -interpretation zugrunde lagen, von einigen Autoren kritischer ins Visier genommen. Das galt besonders für die klassische System- und Modernisierungstheorie. So hat bereits diese Diskussion dazu beitragen, die in den Sozialwissenschaften im Zuge der Verwirklichung des historischen Moderneprojekts erlahmte Gesellschaftsdebatte später neu zu beleben. Dies umso mehr, als bislang gescheiterte bzw. gelungene Transformationsprojekte sich, wie hervorgehoben wurde, mit einer neuen „Scheidewegsituation“ (Verba 1971) in den westlichen Gesellschaften und den generellen Erfordernissen eines neuen Mo-
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derneprojekts (s. Kap. IV.2) enger verbinden als zumeist angenommen werde. Soziologie und Politikwissenschaft müssten sich – das wurde in dieser speziellen „Ära der Transformation“ deutlich – auch deshalb wieder stärker der Gesellschaft als ernsthaften und kritischen Forschungsgegenstand zuwenden. Ein kritischer, gesamtgesellschaftlicher Ansatz sei – so wurde von einigen Sozialwissenschaftlern gefordert – notwendiger denn je. Gerade hier haben neben einigen westdeutschen auch ostdeutsche Sozialwissenschaftler in den letzten Jahren – mit recht unterschiedlichen Ansätzen – neue Überlegungen und Erkenntnisse eingebracht (u. a. M. Brie, BISS, Engler, Klein, Land, Mühlberg, Roesler und neuerdings das Netzwerk „Ostdeutschlandforschung“). Die Ära der postsozialistischen Transformation und ihre kritische sozialwissenschaftliche Verarbeitung vermittelten hier Denkanstöße, theoretische Öffnungen. Die osteuropäischen Transformationen seien dabei nicht mehr länger als späte Bestätigung altbewährter Theorien zu interpretieren, sondern diese Konzepte und Theorien seien anhand der neuen Befunde zu testen, zu entwickeln, zu verändern. Klaus Müller zum Beispiel, der sich mit mehreren kritischen Beiträgen zur postsozialistischen Transformation hervortat, stellte hierzu fest: „Das Dogma funktionaler Differenzierung ist mit anderen Worten ein Makrokonzept ohne Mikrofundierung durch soziale Mechanismen oder Regeln, ohne historisch lokalisierte Akteure, institutionentheoretische Operationalisierungen und ohne Zeithorizont. Es taugt daher weder als Erklärungsmodell für den Verlauf der postkommunistischen Transformation noch als normative Orientierung für eine Reformpolitik“ (Müller 1996: 239). Erforderlich sei deshalb, die vor dem Hintergrund der westlichen Nachkriegsgesellschaft entwickelten Modelle der Modernisierung und der sozialen Integration einer Revision zu unterziehen (Müller 1995) und diese selbst entsprechend den neuen Herausforderungen weiter zu entwickeln. In diesem Sinne sahen dann auch Dahrendorf, Stompka, Tiryakian die Konflikte und Ambivalenzen bei der Transformation und bei der Herausbildung eines „demokratischen Kapitalismus“ in den osteuropäischen Ländern als Aufforderung, eingeschliffene Vorstellungen von sozialem Wandel und der Modernität auch der westlichen Gesellschaft zu korrigieren. Diese Positionen einer kritischen Prüfung der Modernisierungstheorie im Kontext der neuen Transformationserfahrungen entwickelte auch der Soziologe Walter Bühl (Bühl 1996: 57-58). Diese Korrekturen verlangen offensichtlich einerseits einen verstärkten Sinn für historische Konstellationen und anderseits die Öffnung für alternative Pfade der Entwicklung (zu deren theoretischer Begründung vgl. u. a. Max Weber 1964, Esping-Andersen 1990, North 1990), die vertraute Vorstellungen von Konvergenz und Evolution verabschieden (Müller 1996: 461, 2008: 121 ff.). Die in der Transformationsliteratur enthaltenen Einsichten – so z. B. die der
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starken Abhängigkeit der Demokratiekonsolidierung von ausdifferenzierten, dezentralen Machtressourcen und direktdemokratischen Strukturen oder die, wonach Stand und Niveau der Institutionalisierungsprozesse mehr von politischkulturellen Variablen als von sozialökonomischen Voraussetzungen abhängen (Schmidt 1996) - wären dann nicht bloß als Ergänzung bisheriger Konzepte und besonders der Modernisierungstheorie wahrzunehmen, sondern als Beiträge zu einer erst noch zu entwickelnden bzw. weiter zu entwickelnden theoretischen Konzeption der gesellschaftlichen Transformation. Der mit der nach 1989/90 einsetzenden Forschung zum Systemwechsel und der Transformation von den einen erwartete, von den anderen eher skeptisch gesehene „Theoriesprung“ (Mayntz 1994) trat also nicht ein. Diejenigen Sozialwissenschaftler, die von Anfang an oder erst später kaum Neues in den Revolutionen Mittel-Ost-Europas, den Transformationsprozessen, der gewandelten historischen Situation und dem globalen Umbruchszenario vermuteten, könnten sich somit bestätigt sehen. Doch spricht m. E. mehr dafür, dass dies nicht so sehr dem Gegenstand, sondern mehr den den Gegenstand bearbeitenden Sozialwissenschaftlern und ihren Deutungsmustern sowie Analysekonzepten „geschuldet“ ist, wenn sich die Transformations- und Sozialforschung mit theoretischen Innovationen bislang schwer tut. Auch die historisch bedeutsamen transformationstheoretischen Arbeiten u. a. von Schumpeter und Polanyi spielten im Transformationsdiskurs lange Zeit kaum eine Rolle. Diese Ära der postsozialistischen Transformation hat selbst also keine neue Theorie der Transformation hervorgebracht. Angesichts der Spezifik dieses Transformationstyps war das auch kaum zu erwarten. Chancen für neue theoretische Einsichten und Erkenntnisse über die Prozesse der GesellschaftsTransformation waren auf jedem Fall größer als sie in den Sozialwissenschaften genutzt wurden. Gerade auch, weil in den gesellschaftlichen Praktiken selbst Neues zu entdecken war. Die Sozialwissenschaften verharrten noch allzu stark in ihren traditionellen Modellen, Konzepten und Erklärungsmustern und setzten diesen Theoriebestand angesichts der neuen Befunde keinen ernsthaften Test aus (Wiesenthal 1999: 50). Ignoriert wurde vor allem, dass die postsozialistische Transformation als Teil der zweiten „Großen Transformation“ (vgl. Kap. IV) bereits Fragen aufwarf, die von Relevanz sind auch für die Transformation moderner westlicher Gesellschaften im 21. Jahrhundert: So die der überragenden Bedeutung von Nachhaltigkeit und der Rolle von Demokratie, Solidarität und Partizipation für die Zukunftsfähigkeit moderner Gesellschaften. Aber auch Fragen nach dem Verhältnis von Steuerung und Eigendynamik einer Gesellschaftstransformation; nach der Bedeutung von sozialen und zivilgesellschaftlichen Strukturen zur
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Einbettung der Märkte, der Notwendigkeit einer flexiblen Regulierung für eine harmonische gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Fragen, die dann teilweise auch die neue Ostdeutschlandforschung (vgl. Land 2005, Initial 3/05, Reißig/Thomas 2006, Thomas 2008) aufgegriffen und weiterentwickelt hat, indem sie vom „doppelten (postsozialistischen und postfordistischen) Umbruch“ in den neuen Bundesländern ausgeht, hier nach neuen und zukunftsfähigen Entwicklungspfaden für ganz Deutschland sucht und Ostdeutschland so gewissermaßen zu einem Laboratorium der widerspruchsvollen Entwicklung der europäischen Moderne erklärt. Möglich und notwendig ist dabei, dass sich diese Ostdeutschlandforschung nun mit dem allgemeinen gesellschaftstheoretischen Diskurs in den Sozialwissenschaften verbindet. Auch das im „SFB 580“ (Jena/Halle) entwickelte Paradigma von der „Posttransformation“ (Holtmann 2009) scheint geeignet, die Transformationsforschung weiter voranzubringen. Wenn wir zu der am Anfang dieses Kapitels formulierten Überlegung nochmals zurückkehren, können wir jetzt festhalten: Die postsozialistische Gesellschafts-Transformation erwies sich letztlich in ihren Ursachen und ihren zu lösenden Aufgaben als immanenter Bestandteil eines globalen Umbruchszenarios, das wir als zweite „Große Transformation“ im 21. Jahrhundert bezeichnen. Aber auch in ihrer spezifischen Form haben die Umbrüche von 1989 und danach ein neues Modell hervorgebracht. Nachdem seit 1789 – also seit den letzten 200 Jahren – große gesellschaftliche Umbrüche in Form gewaltsamer Revolutionen und Bürgerkriege praktiziert und zugleich exportiert wurden, haben wir es hier mit dem neuen Modell der „friedlichen Revolution“, des „ausgehandelten Übergangs“ oder – um in unserem Bild zu bleiben – der „Gesellschafts-Transformation“ zu tun. Dieses neue Modell hat Zukunft (vgl. auch Ash 2009); trotz auch gegenläufiger Tendenzen. Denken wir nur an die nach 1989/90 erfolgten gesellschaftlichen Umgestaltungen, z. B. in Südafrika oder in zahlreichen Ländern Lateinamerikas bis in die jüngste Zeit. Ein solch neues Modell der Gesellschafts-Transformation, in dem unvermeidliche Krisen und Konflikte gewaltfrei verarbeitet werden, ist vor allem von der Transformation der politischen Kultur und der Herausbildung neuer Wertemuster in der Gesellschaft abhängig (vgl. auch Müller 2008: 132/133). Die Zusammenhänge zwischen der postsozialistischen und der neuen Transformation im 21. Jahrhundert zumeist unterschätzt, missverstanden oder auch fehlgedeutet zu haben, gehört zu den entscheidenden Defiziten der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung jener Zeit. Der damit verbundene Paradigmenwechsel hin zu einem tieferen Verständnis von heutiger und künftiger Transformation fand nicht statt. So waren es dann oft traditionelle Konzepte sozialen Wandels, mit denen die postsozialistische Transformation beschrieben
Erkenntnisgewinne und -defizite
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und erklärt wurde. Das brachte durchaus vielfältige Erkenntnisgewinne und einige Autoren sehen darin im Großen und Ganzen auch eine klare Bestätigung des überlieferten Theoriefundus (Pollack 2008, Wiesenthal 2009). Andere Autoren betonen dagegen, dass keine adäquate Interpretation und Deutung dieses Typs und Modells sozialen Wandels (vgl. Hanf 2008) und deren Bedeutung für künftige Gesellschafts-Transformationen gelang. Weitgehend verfehlt wurde, so die kritische Perspektive, der Vorstoß zu neuen Ufern, zu einem weiterentwickelten theoretischen Konzept und sozialwissenschaftlichen Paradigma der Gesellschafts-Transformation. Diese aber sind erforderlich, um die Gesellschafts-Transformation des 21. Jahrhunderts in ihrer Komplexität, Dynamik, Entwicklungslogik und Perspektive genauer erfassen, erklären und verstehen zu können.
IV Die „Große Transformation“ im 21. Jahrhundert – Erklärungs- und Deutungsmuster
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Die erste „Große Transformation“ – Polanyis Analyse- und Deutungsmuster
Mit dem Namen des Ökonomen und Sozialwissenschaftlers Karl Polanyi (geb. 1886 in Wien - gest. 1964 in Toronto) verbinden sich zahlreiche wirtschaftshistorische, -anthropologische und sozialwissenschaftliche Aufsätze und Schriften. Einen Höhepunkt seiner Arbeit bildete die erst in seinem 58. Lebensjahr veröffentlichte „The Great Transformation“ (Erstveröffentlichung 1944), sein insgesamt wohl bedeutsamstes Werk. Er untersucht darin die Herausbildung und Entwicklung eines spezifischen Wirtschaftssystems, das der Marktwirtschaft, von ihren Ursprüngen über das 19. Jahrhundert bis in das 20. Jahrhundert. Im Zentrum seiner Untersuchungen wie überhaupt seines Denkens stand dabei das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft. Sein Credo ist der Vorrang der Gesellschaft vor dem Wirtschaftssystem, die bewusste Unterordnung des Marktes unter eine demokratisch-freiheitliche Gesellschaft. Polanyi erbringt mit seinen umfangreichen historischen Untersuchungen zunächst den Nachweis, dass Märkte und ökonomische Rationalität in der Vergangenheit durchaus in Sozialsysteme und kulturelle Wertestrukturen eingebettet waren (Polanyi 1977: 75). Diese Einbindung ermöglichte überhaupt erst deren Funktionsweise. The Great Transformation – das bezeichnet den historischen Übergang von „integrierten“ Gesellschaften, in denen die wirtschaftlichen Aktivitäten der Individuen in eben einen solchen übergreifenden kulturellen Zusammenhang eingebettet waren, zur „integrierten“ Gesellschaft vom Typ der „freien Marktwirtschaft“. Während in den früheren nicht-marktwirtschaftlichen Gesellschaften die Wirtschaftsordnung bloß eine Funktion der Gesellschaftsordnung, erstere (Wirtschaft) also von zweiter (Gesellschaft) abhängig war, kehrt der Kapitalis-
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Große Transformation im 21. Jahrhundert
mus dieses Verhältnis um. Er ist damit den vorangegangenen Gesellschaftsformen durch Innovation und Effizienzsteigerung überlegen, doch wird zugleich die gesellschaftliche Kontrolle des Ökonomischen abgeschafft. Die Ökonomie herrsche nunmehr über die Menschen und nicht die Menschen über sich selbst, so Polanyi. Diese institutionelle Form der „Entbettung“ der Wirtschaft entwickelte sich nach Polanyi erst mit der Industrialisierung und dem „utopischen Bemühen des Wirtschaftsliberalismus zur Errichtung eines selbstregulierenden Marktsystems“ (Polanyi 1977: 54). Die Befreiung der Märkte aus sozialer „Einbettung“ und politischer Regulierung, die allein dem Preissystem die Koordination der sozialen Beziehungen überlässt, erschien ihm als gefährliche Utopie. Wenn ein solches selbstreguliertes Marktsystem realisiert würde, „könnte eine solche Institution über längere Zeit nicht bestehen, ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft zu zerstören“ (Polanyi 1977: 19). Mit dem Übergang zum Liberalismus im 19. Jahrhundert erlangte der Markt seine dominierende Position und löste sich aus dem Gesellschaftszusammenhang, was die bürgerliche Gesellschaft von allen anderen Gesellschaftsformationen unterscheidet. Dies war nach Polanyi Folge der institutionellen Trennung der Gesellschaft in eine wirtschaftliche und eine politische Sphäre. Vor allem aber war dies Folge der Großen Transformation, der Verwandlung von Arbeit, Boden und Geld, die einst von der Marktlogik ausgenommen bleiben sollten, in Waren (Polanyi 1977: 107 f.). Dies riss, wie Polanyi betont, die menschliche und natürliche Substanz nun in den Strudel des Marktgeschehens und führte zur Herausbildung einer „Marktgesellschaft“ (Polanyi 1977: 109) mit gefährlichen Folgen für Gesellschaft und Natur. Die problematischen und destruktiven Folgen ungebundener Märkte – Klassenpolarisation, Arbeitslosigkeit, soziale Armut, Aushöhlung der Demokratie, Zerstörung der Umwelt, wirtschaftliche und politische Krisen – veranlassen die Mitglieder der Gesellschaft jedoch, so Polanyi, früher oder später Formen des „Selbstschutzes“ zu suchen. Letzteres geschah durch Sozial-Fabrikgesetze, Gewerkschaften, Agrarzölle und Bodengesetze, Zentralbankwesen. Es gibt nach Polanyi aber auch ein über Klasseninteressen hinausreichendes allgemeines gesellschaftliches Interesse, sich von den Folgen unregulierter Märkte zu schützen, und allgemeine Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität, Gleichheit, die diesem Interesse moralisch-kulturellen Ausdruck verleihen. Die Resultate dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung sind für Polanyi nicht vorbestimmt; verschiedene Alternativen möglich, wie New Deal in den USA und die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland zeigten.
Erklärungs- und Deutungsmuster
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„Doppelbewegung“ – Entbettung des Marktgeschehens einerseits und Selbstschutz durch die Gesellschaft, die in das Funktionieren der Märkte kontrollierend und regulierend eingreift, andererseits – ist der zentrale Gedanke, die zentrale Kategorie der „Großen Transformation“. Das Verstehen dieser komplexen Doppelbewegung der Transformation ist m. E. heute sowohl für die Analyse des Geschehens in den modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften als auch für das Nachdenken über Alternativen und alternative gesellschaftspolitische Projekte von grundsätzlicher Bedeutung. Polanyis Kritik galt dabei nicht den Märkten an sich, nicht dem Umstand, dass sie auf rational-ökonomischen Prinzipien beruhen, sondern der Tendenz des kapitalistischen Marktes, die gesamte Wirtschaft und die Gesellschaft zu beherrschen. Das Wirtschaftsleben aber sollte im Gegenteil den Erfordernissen der Gesellschaft und der menschlichen Natur untergeordnet werden (Polanyi 1977: 329). Analytisch betrachtet liegen für Polanyi die Möglichkeiten und Chancen der Transformation, d. h. der Erlangung der Dominanz der demokratischen Gesellschaft über das selbst regulierte Marktsystem, im widerspruchsvollen Charakter der mit der Transformation verbundenen Doppelbewegung. Die Gesellschaft als Vielfalt widerstreitender Interessen und Tendenzen ist dem Marktliberalismus nicht bedingungslos ausgeliefert. Denn die zunehmende Zerstörung der demokratischen Gesellschaft führt – so Polanyi – auf den unterschiedlichen Ebenen zu vielfältigen Gegenreaktionen und -bewegungen. Polanyi begnügt sich jedoch nicht mit der Analyse und Kritik des laissezfaire-Kapitalismus. Er entwickelt Vorstellungen über Gesellschaften, die auf anderen Machtverteilungen und anderen Prinzipien beruhen, die auf Erhalt des sozialen und ökologischen Gleichgewichts basieren. Für die westlichen Gesellschaften hält er deshalb eine „neue Demokratie“ („neue Gesellschaftsformen“) für erforderlich, in der die Menschen rational und selbstbestimmt ihre Gesellschaft bedürfnisgerecht gestalten (vgl. FAZ-Besprechung, FAZ 30.01.06). Freiheit nicht mehr auf Kosten von Gerechtigkeit und Sicherheit, sondern Gerechtigkeit und Sicherheit als Bedingungen auch für umfassende Freiheitsrechte des Einzelnen (Polanyi 1977: 348 f.). Dies bedeutete für ihn eine „radikale Transformation“, in der „die einer industriellen Zivilisation innewohnende Tendenz über den selbstregulierenden Markt hinauszugehen, indem man ihn bewußt einer demokratischen Gesellschaft unterordnet“ (Polanyi 1977: 311), obsiegt. D. h. Primat der demokratischen Gesellschaft und damit das Ende der „Marktgesellschaft“, aber nicht der „wettbewerbsfähigen“ Märkte (Polanyi 1977: 333). Dieser Analyse- und Deutungsansatz der Großen Transformation bei Polanyi ist auch heute noch aktuell (vgl. auch Reißig 2009). Das betrifft seine kom-
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Große Transformation im 21. Jahrhundert
plexe Betrachtung der ersten „Großen Transformation“ als „Doppelbewegung“. Das gilt vor allem für seine spezifische Analyse des Verhältnisses von Markt kapitalistischer Wirtschaftsweise - Wirtschaftsliberalismus - demokratischer Gesellschaft, in der Gesellschaft für ihn zum Dreh- und Angelpunkt einer neuen Entwicklungsweise wird. Und das bezieht sich nicht zuletzt auf seine Hinweise auf die Notwendigkeit eines neuen Modells, einer „neuen Demokratie“, in der durch veränderte Machtverteilungen, Werteorientierungen und gesellschaftliche Prinzipien ein neues Verhältnis zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Natur entstehen kann, das auf sozialem und ökologischem Gleichgewicht beruht. Daran orientiert, kann auch die „Große Transformation“ im 21. Jahrhundert in ihrer gewandelten Dimension betrachtet werden. Angesichts der neuen Erfahrungen aus den letzten Jahrzehnten und der heutigen globalen Umbruchsituation erfordert dies zugleich aber eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes. Wie wird sich diese „Große Transformation“ als Doppelbewegung im 21. Jahrhundert vollziehen, welche Strukturen, Institutionen, Prozesse und Gesellschaftsformen wird sie hervorbringen? Welche werden schließlich dominieren?
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Die „Große Transformation“ im 21. Jahrhundert
Der Übergang zum 21. Jahrhundert und sein bisheriger Verlauf sind nicht einfach durch grundlegenden sozialen Wandel, sondern durch ein gesellschaftliches Umbruchszenario im globalen, europäischen und nationalen Maßstab charakterisiert. Der bisherige Pfad wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung ist seit geraumer Zeit an seine Grenzen gestoßen und könnte nur um den Preis irreversibler Schäden für Mensch und Natur, für Wirtschaft und Gesellschaft fortgeführt werden. Die einzig sinnvolle und tragfähige Alternative ist der Übergang zu einem neuen Typ wirtschaftlicher Entwicklung, sozialer Teilhabe, kultureller Werteorientierungen – und dies nicht allein im nationalstaatlichen, im europäischen, sondern im globalen Maßstab. Das bisher dominierende Wachstumsmodell mit einer ständig steigenden Belastung der Naturressourcen, des Energieund Rohstoffverbrauchs hat die Tragfähigkeitsgrenzen erreicht. Die mit diesem Typ wirtschaftlicher Entwicklung verbundenen Probleme – steigende CO2Emissionen, Klimawandel, Erderwärmung, Belastung der Weltmeere, Überlastung der Umwelt mit naturfremden Chemikalien, Eingriffe in die Ökosysteme der Erde – nehmen immer dramatischere Formen an und fressen die positiven Effekte wirtschaftlicher Entwicklung auf und führen zu einer Stagnation der Gesamteffizienz (vgl. Land 2008).
Erklärungs- und Deutungsmuster
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Die Antwort auf die seit Mitte/Ende der 1970er Jahre sichtbar werdende Krise dieses („fordistischen“) Typs wirtschaftlicher Entwicklung (s. Kap. V.1, Kap. V.2) – Umverteilung zu Lasten der Bevölkerung durch Revidierung des Teilhabeprinzips und des Sozialstaats, zu Lasten der Konkurrenten durch Übergang zum Wettbewerbsstaat und zum globalen Standortwettbewerb, zu Lasten der Gesellschaft durch umfassende Deregulierung, Privatisierung und Übergang zum finanzmarktgetriebenen Kapitalismus – hat die Probleme nicht gelöst, die Grenzen des fordistischen Typs wirtschaftlicher Entwicklung nicht wirklich überwunden (ebd.). Im Gegenteil – diese marktliberale und –radikale Transformation führte zu der gegenwärtigen weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. Was seit langem ansteht und sich nun besonders dramatisch offenbart, ist das Erfordernis einer neuen Kombination von Entwicklung und Wachstum, von Wachstum und Entwicklung durch den Übergang zu einem energie- und ressourceneffizienten sowie umweltkonsistenten Typ wirtschaftlicher Entwicklung. Dies muss mit einem neuen Modell gleichberechtigter sozialer Teilhabe der Menschen an Arbeit, Bildung, öffentlicher Daseinsvorsorge und am produzierten Reichtum verbunden sein. Dieser neue Typ wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung hat nur dann eine Realisierungschance wenn er global verfasst ist. Das ist der – zunächst allgemein formulierte – Inhalt dessen, was wir die zweite „Große Transformation“ des 21. Jahrhunderts nennen. Mit dem durch eine Transformation bewirkten politisch-institutionellen Paradigmenwechsel könnten die Voraussetzungen für diesen neuen evolutionären Pfad wirtschaftlicher, sozioökonomischer und soziokultureller Entwicklung entstehen. Dieser grundlegend gewandelte Entwicklungspfad hat im Sinne Polanyis einen tief greifenden transformatorischen Wandel im Gesamtsystem des Kapitalismus zur Voraussetzung, dass nämlich nicht mehr der selbstregulierende Markt, sondern die demokratische Gesellschaft („neue Demokratie“) die Dominanz erlangt und die Rahmenbedingungen und die Leitorientierungen der Entwicklung bestimmt. Nur durch diesen Paradigmenwechsel kann Zukunftsfähigkeit in der Moderne erreicht und verfestigt werden. Zukunftsfähigkeit bedeutet im 21. Jahrhundert also grundlegender Pfadwechsel durch Nachhaltigkeit infolge des sozial-ökologischen und partizipativen Umbaus des Produktions- und Sozialmodells. Dies ist aus unserer Perspektive der soziale Kern der Umbruchsituation, der neuen „Großen Transformation“ im 21. Jahrhundert und erfordert grundlegende systemische Korrekturen und Umgestaltungen (vgl. Kap. V.3). Diese globale Umbruchsituation markiert eine tiefe „Zäsur in der Moderne“ (Lutz 1994), denn die der Moderne zugrunde liegenden Funktions- und Ent-
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Große Transformation im 21. Jahrhundert
wicklungslogiken, die sie wesentlich prägten und stark gemacht haben, verkehren sich nun in ihr Gegenteil, wenn sie nicht neu konditioniert und justiert werden. Spätestens seit den 1970er Jahren wird dieser Erosionsprozess deutlich und das historische Projekt der Moderne verliert seine einstigen Mobilisierungsimpulse und gesellschaftlichen Legitimitätseffekte. Sich vertiefende globale Konflikte- Klimakonflikte, soziale Verwerfungen und Spaltungen, Flüchtlingsströme, Ressourcenmangel und Konflikte um Land und Wasser, Krisen der globalen Märkte und Weltfinanzmärkte – drängen auf grundlegende soziale Umgestaltungen und auf ein neues Projekt lebenswerter Zukunft. Diese These von der „Zäsur in der Moderne“ ist freilich heute mehr denn je erklärungsbedürftig, wird sie doch sehr unterschiedlich und gegensätzlich interpretiert. Es geht hierbei nicht um die Wiederbelebung der Ende der 1970er Jahre aufgekommenen Diskussion um eine „Postmoderne“. Wir verstehen „Zäsur in der Moderne“ auch nicht allein im Sinne von Ulrich Beck, der die Krisen der Moderne aus ihren Siegen ableitet und erst mit dem Projekt „Zweite Moderne“ die „Verheißungen“ der Moderne in Erfüllung gehen sieht (Beck 2007). Auch Paul Nolte spricht, aus einer allerdings anderen Perspektive als Ulrich Beck, von einem Bruch in der Moderne, den er als Übergang von der „klassischen“, der „organisierten“ Moderne (die er vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu den 1970er Jahren fasst) zur „riskanten“ Moderne bezeichnet. Die neuen Herausforderungen und Spannungslinien, die Nolte überzeugend beschreibt, bleiben jedoch weitgehend im alten Koordinatensystem und sind für ihn nur durch „mehr Markt“, „mehr Risikobereitschaft“ und „mehr Eigenverantwortung“, durch ein neues Konzept der „Bürgergesellschaft“ und das Projekt einer „Investiven Gesellschaft“ zu bewältigen (Nolte 2006). Die These von der globalen Umbruchsituation, von der „Zäsur in der Moderne“ wird von mir also weder als bloße „Fortschreibung“ der „ersten“ oder „klassischen“ Moderne unter neuen, gravierend veränderten Bedingungen und Herausforderungen verstanden noch als Endzeitdiagnose und Untergangsszenario. In der vorliegenden Interpretation bedeutet sie zweierlei: Zum einen reflektiert sie die fortschreitende „Erosion wesentlicher Stabilitäts- und Funktionsvoraussetzungen moderner Gesellschaften“ (Lutz), die die Grenzen des bisher dominierenden Entwicklungspfades sowie des Produktions- und Sozialmodells verdeutlicht. Zum anderen verweist sie auf die Notwendigkeit eines dieser neuen Umbruchsituation entsprechenden neuen gesellschaftlichen Entwicklungsmodells und -musters. Es geht um eine Entwicklungsphilosophie, in der die Prinzipien Nachhaltigkeit, Solidarität und Gleichheit zu den bestimmenden Leitideen der globalen Entwicklung werden. Die neue Transformation des 21.
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Jahrhunderts ist deshalb ihrem Wesen, ihrem Raum, ihrem Ort und ihrer historischen Dimension nach eine globale Transformation. Angesichts der konkret-historischen Konstellationen stellt sich die Frage: Gelingt der Übergang von dem heute dominierenden selbstregulierten radikalen Marktsystem mit all seinen verheerenden Folgen für Mensch und Natur zu einer nachhaltigen und demokratisch-solidarischen Gesellschaft? Das bisherige Gesellschaftsmodell als sozioökonomischer Entwicklungszusammenhang entspricht nicht mehr diesen neuen Herausforderungen und Entwicklungstrends. Deshalb sind weder Anpassung an die bislang dominierenden und inzwischen die weitere gesellschaftliche Entwicklung blockierenden Strukturen, Regeln, Ordnungsmodelle und kulturellen Deutungsmuster noch ein Bruch mit den Errungenschaften der Aufklärung und der Moderne (Demokratie, Freiheitsrechte, Öffentlichkeit, Markt, Pluralismus, Wissenschaftlichkeit und Rationalität) die Antwort auf diese Zäsur, auf diese Umbruchsituation. Es ist diese neue historische Umbruchsituation, die neue Antworten und Alternativen erfordert. Die spezifischen sozialen und ethischen Begründungen für einen solchen Paradigmenwechsel gesellschaftlicher Entwicklung und seine jeweilige Akzentuierung sind unterschiedlich. So wird der Ursprung eines zukunftsfähigen Entwicklungs- und Gesellschaftstyps gerade auch aus dem Widerspruch zwischen den durch die Aufklärung und Menschenrechtsdeklarationen proklamierten Zielen der freien Entwicklung einer und eines jeden und den gegebenen gesellschaftlichen Strukturen, die diese Ziele begrenzen, blockieren und ihrer Verwirklichung oft direkt entgegenstehen, erklärt. „Zum ersten Mal in der Weltgeschichte hat die Aufklärung das Bild der befreiten Menschheit entworfen. Was der Aufklärung Hoffnung war, das ward der sozialen Bewegung zum noch unerfüllten und doch erfüllbaren Programm“ (Hofmann 1974: 8). Von einer etwas anderen Perspektive kommt der Schweizer Soziologe Kurt Imhof zu einem ganz ähnlichem Schluss: „Die Aufklärung schuf den Bauplan der Moderne und damit das, womit sich die Sozialtheorie und die Sozialforschung beschäftigen müssen. Dieser Bauplan der Moderne ist in den Normen und Institutionen demokratischer Selbstbestimmung manifest (…) Die Geschichte zeigt jedoch, dass die Moderne ihre Ursprungsmaßstäbe nicht erfüllen konnte. Das revolutionäre Projekt der Institutionalisierung einer gesellschaftsweiten Arena, die ihren Teilnehmern die freie Verfügung über die gemeinsamen Dinge des Lebens in Permanenz sichert, in der Herrschaft durch die Macht konsensorientierten Diskurses substituiert wird, Traditionen sich reflexiv verflüssigen und die Umstände der materiellen Reproduktion der Gesellschaft als partikuläre Privatangelegenheiten keinen Einfluss haben, ließ sich nicht über die Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft hinaus entfalten (…) Die Mehrheit als
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solche wird nicht Subjekt, sondern Ziel allen politischen Handelns und damit Objekt politischer Propaganda“ (Imhof 2006: 206, 207,208). Sowohl die gesellschaftlichen Möglichkeiten (Entwicklung der Produktionsweise, der Wissenschaft und Kultur, der Kompetenzen der handelnden Subjekte) als auch die neuen sozioökonomischen und soziokulturellen Erfordernisse drängen – wie gezeigt – auf eine Neuvermessung des „Bauplans der Moderne“ oder klarer formuliert, auf den o. g. Paradigmenwechsel des bestimmenden gesellschaftlichen Entwicklungsmusters und auf ein neues Gesellschaftsprojekt. Entsprechend unseres Transformationsverständnisses und Konzepts von Transformation (vgl. Kap. II) besteht der typische Ansatz für Transformation im Wandel (Umformung, Überwindung, Neukonstitution) von „Entwicklungs- und Gesellschaftsmodellen“. Sie sind aus unserer Perspektive die „Einheiten“ der großen Transformation (s. auch Kap. IV.3). Ihre Umformung und Neukonstitution beinhaltet stets einen tief greifenden Wandel der Produktionsweise, der sozialen Verhältnisse, der Lebensweise. Das eine ist nicht ohne das andere möglich, soll eine organische und harmonische gesellschaftliche Entwicklung gewährleistet werden. Dabei geht es nicht um ein abstraktes, erdachtes „Modell“, das wie Phönix aus der Asche aufsteigt und ein neues großes utopisches Versprechen verkündet. Im Unterschied zum 20. Jahrhundert („Jahrhundert der Extreme“), wo von der Annahme ausgegangen wurde, große Utopien oder fertige Gesellschaftsmodelle („Liberalismus“, „kapitalistische Wohlstandsgesellschaft für alle“, „Nationalsozialismus“, „Dritter Weg“, „Sozialismus“, „Kommunismus“) brauchten nur noch in der Gesellschaft umgesetzt zu werden, und die schließlich allesamt mehr oder minder scheiterten, wird der gesellschaftliche Wandel im 21. Jahrhundert durch einen Transformationsprozess gekennzeichnet sein, der zugleich ein Such- und Lernprozess ist. Dass dieser zugleich enormer intellektueller „Vorleistungen“ bedarf, steht jedoch auch heute außer Frage. Das Neue in der Entwicklung entsteht im Gegenwärtigen, aus den heutigen und künftigen Herausforderungen und gesellschaftlichen Trends, aus den Diskursen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen. Die Erfordernisse eines neuen Entwicklungsmodells sind offensichtlich, die spezifischen Ergebnisse dieser Entwicklung, dieser Auseinandersetzung aber noch offen. Der Wandlungsdruck selbst ist enorm. Dieser kann im 21. Jahrhundert dennoch zu viel weniger als zu einem zukunftsfähigen Gesellschafts- und Entwicklungsmodell führen, ja auch zum direkten Gegenteil; aber eben auch zu viel mehr (vgl. Kap. V.3.4). Es geht bei diesen gesellschaftlichen Transformationsprozessen m. E. nicht um einen Formationsübergang im o. g. Verständnis (s. Kap. II.3), auch nicht um einen klassischen Systemwechsel, um eine Ordnung im Sinne eines völlig ande-
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ren Systems. Es geht um eine tief greifende Gesellschafts-Transformation, die grundlegenden systemischen Wandel bedeutet und in der aber zugleich Bewahren, Fortentwicklung und Neukonstitution eng zusammenhängen und schließlich über vielfältige Auseinandersetzungen das Neue, Innovative, Emanzipative dominiert. Dass das bezüglich der ökonomischen Struktur nicht mehr der Kapitalismus wäre, wie wir ihn heute kennen, dürfte ebenso zutreffen, wie es ohne die Potenziale der modernen Vergesellschaftungsformen Arbeit, Demokratie, Markt, Öffentlichkeit keine gesellschaftliche „Höherentwicklung“ geben wird. Es gibt deshalb m. E. keinen Grund, die Frage der Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle als sekundär gegenüber den angeblich großen Fragen des Formationswechsels oder auch der Frage Kapitalismus oder Sozialismus zu betrachten. Die Suche nach einem neuen, zukunftsträchtigen Entwicklungspfad ist gerade die konstruktive Antwort auf diese kontrovers diskutierten (und oft noch ideologisch geprägten) Fragen, die Antwort vor allem auf die brennenden Fragen des Lebens der Menschen und des Überlebens der Menschheit. Es geht bei diesem Transformationstyp nicht um die Beseitigung der Institutionen moderner Gesellschaften und des Marktes sondern um Wandlungen, Weiterentwicklungen und Neukonstitutionen (s. Kap. V.3.4). Ein solcher Paradigmenwechsel erfordert einen politischen und gesellschaftlichen Richtungswechsel, die Wiedergewinnung der „Macht“ durch die demokratische Gesellschaft und den Übergang von der seit den 1970er Jahren sich vollziehenden marktliberalen, -radikalen Transformation (vgl. Kap. V.2) zur sozial-ökologischen und konsequent demokratisch-partizipativen Transformation (vgl. Kap. V.3). Dies ist für uns – wie gesagt – der Inhalt und der Sinn der „Zweiten Großen Transformation“ des 21. Jahrhunderts. Damit rückt m. E. die Frage nach den Entwicklungs- und Gesellschaftsmodellen in den Mittelpunkt der strukturellen Transformation, vor allem in den nächsten 10 bis 15 Jahre. Denn in diesem Zeitrahmen müsste die gesellschaftliche Wende eingeleitet werden, soll sich tatsächlich der neue globale Pfad nachhaltiger und solidarischer Entwicklung heraus bilden. Das Einzigartige der gesellschaftlichen Situation im Übergang zum 21. Jahrhundert besteht also darin, dass eine neue Umbruchsituation entstanden ist, in der eine tiefe „Zäsur in der Moderne“ mit dem notwendigen Wechsel des bislang dominierenden Entwicklungs- und Gesellschaftsmodells und der Suche nach neuen, nachhaltigen und damit zukunftsfähigen Entwicklungspfaden zusammenfällt. Was vielleicht als „normaler“ Modellwechsel gedeutet werden kann ist in Wahrheit Ausdruck einer historischen Zäsur, die über die weitere Zukunft der Menschheit entscheidet. Deshalb ist es durchaus möglich, dass dieser „Modellwechsel“ als gesellschaftlicher Umbruch auch den Weg zu einem neuen Typ „Sozialer Formation“ (verstanden als Gemeinwesen mit spezifischen
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wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Strukturen und gesellschaftlichen Beziehungen) und einem weiterentwickelten „Zivilisationstyp“ öffnen kann (s. Kap. V.4). Diese zunächst noch etwas allgemein formulierten Annahmen und Überlegungen zur Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert sollen nun in den folgenden Abschnitten systematisch behandelt, ge- und überprüft, präzisiert und weiterentwickelt werden.
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„Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle“ als „Einheiten“ der neuen Transformation
Um Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle als Einheiten der Transformation weiter zu bestimmen, müssen wir zunächst den Begriff und den Inhalt von „Gesellschaft“ klären. Der Begriff „Gesellschaft“ wird mehrdeutig gebraucht. So fungieren als Bezeichnungen der Gegenwartsgesellschaft die vielschichtigsten Begriffsdefinitionen: z. B. „Moderne Gesellschaft“, „Postmoderne Gesellschaft“, „Risikogesellschaft“, „Kapitalistische Gesellschaft“, „Gespaltene Gesellschaft“, „Wissensgesellschaft“, „Informationsgesellschaft“, „Verantwortungsgesellschaft“, „Flexible Gesellschaft“. Die verschiedenen Deutungen lassen vermuten, dass Gesellschaft ein monolither Block sei. In Wirklichkeit handelt es sich bei Gesellschaft um komplexe, mit einander verbundene, sich wiederholende und wandelnde Beziehungsgeflechte. Ganz allgemein ist Gesellschaft ein zusammenfassender Begriff für eine Vielzahl räumlicher, zeitlich oder sozial begrenzter und zugleich geordneter Prozesse des Zusammenlebens von Menschen, die in direkten und indirekten Wechselbeziehungen miteinander verbunden sind. In diesem Sinne wird Gesellschaft als soziale Realität, als Form der Vergesellschaftung handelnder Personen gesehen. Individuen als Handelnde, deren Agieren zugleich bestimmte Regelmäßigkeiten zugrunde liegen und die in ihren Wechselbeziehungen soziale Aggregate, Zusammenschlüsse, Gruppierungen, Ordnungen bilden. Eine solche theoretische Annahme ermöglicht die Analyse sowohl handelnder Individuen, Akteure, deren Interaktionsbeziehungen als auch der institutionellen Bedingungen und damit des so genannten gesellschaftlichen Rahmens. Nach dem historischen Entwicklungsstand werden in der Regel drei Typen von Gesellschaften unterschieden: Primitive (einfache) Gesellschaften, Gesellschaften der Hochkultur und komplexe bzw. moderne (industrielle) Gesellschaften (vgl. u. a. Tenbruck 1981).
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Als Kriterien werden meist der Grad der Arbeitsteilung, der Stand der Technologie, die soziale Differenzierung, die Lebenswelten und gesellschaftliche Kultur herangezogen. Es handelt sich dabei jeweils um strukturell gebildete Typen von Gesellschaften. Komplexe bzw. moderne Gesellschaften haben eine lange, komplizierte und äußerst widerspruchsvolle Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte. Sie haben sich in Europa seit dem 15. Jahrhundert entwickelt, doch erst seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert wurde die Idee des „Modernen“ zu einer entscheidenden Formulierung in den Diskursen. Charakteristisch für diese Entwicklung waren: politisch – der Aufstieg des säkularen Staats und der Politik (polity); ökonomisch – der Aufstieg der globalen kapitalistischen Wirtschaft; sozial – die Bildung von Klassen und die soziale Teilung der Arbeit; kulturell – der Übergang von einer religiösen zu einer säkularen Kultur. Nur als Summe dieser unterschiedlichen Kräfte und Prozesse konnte die „Moderne“ sich herausbilden (Hall et. al. 1996: 426). Ihre unverwechselbare Ausprägung und Form machen sie – so Stuart Hall – „nicht einfach zu Gesellschaften (ein loses Ensemble sozialer Aktivitäten), sondern zu sozialen Formationen (Gesellschaften mit einer klaren Struktur und einem klaren Bestand sozialer Beziehungen). Ein besonderes Merkmal moderner sozialer Formationen ist, dass sie sich entwickeln zu eigenständigen, klar abgegrenzten Zonen der Aktivität und sozialen Praxis. Wir nennen diese Bereiche – entsprechend der Prozesse, die sie produzieren – das Politische (polity), das Ökonomische, die soziale Struktur und die kulturelle Sphäre. Diese Sphären sind die ‚Formations’ moderner Gesellschaften. ‚Formations’ in unserem Titel bezieht sich demnach auf beides, die Aktivität der Entstehung und deren Folgen oder Resultate: beides, Prozess und Struktur“ (Hall et. al.: 9 [Hv. vom Autor]). Die Hervorhebung des Gesellschaftstyps, die wie jede Typenbildung durch Abstraktion versucht, eine systematische Ordnung von Objekten anhand der Zusammenfassung ihrer Merkmale herzustellen, ist ein heuristisches Mittel und eine Voraussetzung der realen Analyse komplexer Gesellschaften. Dabei fällt jedem Betrachter „moderner Gesellschaften“ sogleich auf, dass trotz dieser gemeinsamen Strukturelemente diese sich ganz wesentlich voneinander unterscheiden. Das betrifft bereits ihren Weg hin zur „Moderne“, aber auch ihre spezifische strukturelle Ausprägung, d. h. ihren sozioökonomischen Entwicklungszusammenhang, ihre Entwicklungslogik, ihre Form und Gestalt und ihren weiteren „Modernisierungspfad“. Wir wollen diese funktional-logischen Gestalten von Gesellschaften sowie ihre Eigenschaften und die Differenziertheit ihrer politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Entwicklung hier und im folgendem mit dem Begriff „Ge-
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sellschafts- und Entwicklungsmodell(e)“ zusammenfassen und systematisieren. „Gesellschafts- und Entwicklungsmodell“ verstehen wir dann als einen vom übergreifenden Begriff „Gesellschaftstyp“ abgeleiteten Begriff, der soziale Realität einer spezifischen Qualität, einer spezifischen strukturellen Ebene dieses Gesellschaftstyps, dieser „Sozialen Formation“ abbildet. Im Prinzip sollen mit „Gesellschafts- und Entwicklungsmodell“ das spezifische gesellschaftliche Entwicklungs- und Kulturmuster, das spezifische Herrschafts-, Wirtschafts(bzw. Produktions-) und Sozialmodell, die typische individuelle Lebensführung und –weise reflektiert und verallgemeinert werden. Oder „soziologischer“ formuliert: Gesellschaftsmodell ist ein sozioökonomischer Entwicklungszusammenhang, der sowohl die Makro- wie die Mikroebene umfasst. Auf der Makrooder Systemebene umfasst es das Wirtschafts-, Produktions- und Sozialmodell mit den damit verbundenen Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Auf der Mikroebene, d. h. der individuellen Ebene, geht es um die individuellen Verfügungs- und Teilhabemöglichkeiten. Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle prägen die modernen Gesellschaften, ihre Funktions- und Entwicklungslogik über lange historische Zeiträume. Dabei setzten sich in bestimmten historischen Zeiträumen jeweils dominierende Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle durch. Neben ihren allgemeinen Merkmalen weisen sie von Land zu Land zugleich vielfältige Besonderheiten, Spezifika, „Abweichungen“ (Varianten, Variationen) auf. Ein Umstand, der sozialwissenschaftlich bisher noch wenig untersucht wurde. Sozialer Wandel, auch tief greifender Natur, ist – wie begründet – ein immanenter Bestandteil der Moderne, nicht zuletzt der Entwicklung moderner bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften (MBKG). Es ist ein Wandel innerhalb gegebener Prozessstrukturen, innerhalb eines gesellschaftlichen und sozioökonomischen Entwicklungsmodells sowie dominanter gesellschaftlicher Entwicklungs- und kultureller Deutungsmuster. Dies ist die Regel, der Normalfall sozialen Wandels. Sozialer Wandel als Umwandlung und Neukonstituierung der Prozessstrukturen, des gesellschaftlichen und sozioökonomischen Entwicklungsmodells, der gesellschaftlichen Entwicklungs- und kulturellen Deutungsmuster ist hingegen eher die Ausnahme sozialen Wandels. Es spricht nun viel dafür, dass diese Ausnahme sozialen Wandels im 21. Jahrhundert zur Regel, zumindest zu einem typischen Entwicklungstrend wird. Nach unserer oben vorgenommenen Klassifikation (vgl. Kap. II.3) handelte es sich hierbei um den dritten Transformationstyp: Gesellschafts-Transformation – in Form des Wandels, des Übergangs, des Wechsels zwischen Gesellschaftsund Entwicklungsmodellen. Wenngleich dies kein Wandel, kein Wechsel des Zivilisationstyps (Transformationstyp Eins) und auch kein Formationswechsel
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(Transformationstyp Zwei) im klassischen Sinne wäre (wie etwa der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus) würde dieser Transformationstyp dennoch durch tief greifende Veränderungen und Umwandlungen gekennzeichnet sein. Er beträfe die typischen gesellschaftlichen Entwicklungs- und Deutungsmuster, die spezifische Art und Weise der volkswirtschaftlichen Produktion und Reproduktion, die spezifischen Formen und Strukturen der Arbeit, aber auch die Wohlfahrtsentwicklung und insbesondere die gesellschaftliche Teilhabe der Bürger. Wenn wir von dieser Annahme ausgehen – Transformation im 21. Jahrhundert vor allem als Wandel, als Umformung und Neukonstitution von Gesellschafts- und Entwicklungsmodellen – liegt ihr sowohl eine theoretische wie zeitgeschichtlich-empirische Perspektive zugrunde. Zur theoretischen Perspektive: Wir versuchen die Gesellschaften westlichen Typs in ihrer Komplexität, in ihrer inneren differenzierten Struktur und Entwicklungslogik und ihrer Janusköpfigkeit bereits begrifflich zu fassen, indem wir sie als „Moderne Bürgerlich-Kapitalistische Gesellschaften“ (MBKGesellschaften) bezeichnen. Dies ist gegen eine zweifache reduktionistische Betrachtungsweise gerichtet: Sowohl gegen jene, die diese Gesellschaften allein (oder bestimmend) als „Moderne Gesellschaften“ (und deren Ableitungen) verstehen und ihre kapitalistische Produktionsweise sowie ihre spezifischen Konflikt-, Herrschafts- und Machtstrukturen mehr oder weniger ausklammern, auf jeden Fall stark relativieren. Als auch gegen jene Betrachtungsweise, die diese Gesellschaften allein (oder bestimmend) als „Kapitalistische Gesellschaft“ bezeichnen und ihre modernen Vergesellschaftungsformen, ihre Eigenschaften, ihre zivilisatorischen Errungenschaften wie Freiheitsrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Markt, politische Öffentlichkeit, Pluralismus von Wissenschaft und Kultur ausklammern oder in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung negieren bzw. gering schätzen. Entwicklung, sozialer Wandel, Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert kann angesichts der „Janusköpfigkeit der Moderne“ (Hall et. al.: 3/4) weder als Intensivierung und Beschleunigung der Modernisierung entlang des bisher eingeschlagenen Weges (spezifische Varianten der Modernisierungstheorie) gedacht werden, noch als radikaler Bruch mit der Moderne und ihren Errungenschaften und ihren Entwicklungspotenzialen (Theorie der „Systemüberwindung“), sondern als eine neue Konstellation des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens entsprechend den neuen Herausforderungen und bei Erhalt, Fortführung, Qualifizierung spezifischer Moderne- und Entwicklungspotenziale. Die unterschiedliche theoretische Sicht auf die Gesellschaft im Allgemeinen und die Gegenwartsgesellschaft im Besonderen beinhaltet eine unterschied-
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liche Sicht auf ihre Entwicklung, ihren Wandel und ihre Transformation. Der alte Streit zwischen struktur-funktionalistischer und konflikttheoretisch orientierter Soziologie (Parsons; Dahrendorf) ist neu entbrannt, aber nun in erweiterter und vertiefter Dimension (s. dazu auch folgende Abschnitte). Sozialer Wandel, gesellschaftliche Transformation nahm und nimmt – wie gesagt – unterschiedliche Formen und Gestalten an. Sozialer Wandel war und ist in den Gesellschaften westlichen Typs eben nicht zuletzt durch die Herausbildung, die Konstitution und zu bestimmten Zeiten dann aber auch durch die Disfunktionalität, die Krisensymptome, die Delegitimierung spezifischer Gesellschafts- und sozioökonomischer Entwicklungsmodelle, gesellschaftlicher Entwicklungs- und kultureller Deutungsmuster gekennzeichnet, die schließlich in deren Zerfall, Wandel und in der Konstitution neuer spezifischer gesellschaftlicher Entwicklungsmodelle und -muster münden. Diese Diskontinuität und diese Brüche des sozialen Wandels in Gesellschaften westlichen Typs drücken sich gerade auch in der Entwicklung als Abfolge von Gesellschaftsmodellen, von gesellschaftlichen Entwicklungs- und kulturellen Deutungsmustern aus. In dieser theoretischen Perspektive werden „Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle“ von uns als die heutigen Einheiten sozialen Wandels im Allgemeinen und von Transformation im Besonderen begriffen. Gesellschaftsmodelle verstehen wir hierbei als Sozial- und Kulturprodukte. Der Schweizer Soziologe Bornschier sieht in der Entwicklung der westlichen Gesellschaft, unter besonderer Berücksichtigung von Gesellschaftsmodellen als Kulturprodukte, die „Formierung, Entfaltung, Sättigung, Auflösung und Zersetzung“ dreier solcher jeweils dominanter „Gesellschaftsmodelle“ (Bornschier 1988: 25): „Das liberale Gesellschaftsmodell der Gründerära“, das sich im Anschluss an die liberalen Revolutionen 1830/48 formiert habe und sich seit den frühen 60er Jahren des 19. Jahrhunderts zersetzte. Dann bildete sich „das klassenpolarisierte Gesellschaftsmodell der Nachgründerära“ heraus, dem das „sozialmarktwirtschaftliche Gesellschaftsmodell“ folgte, welches „von Vorreitern (Schweden, USA, Schweiz) in den frühen 30er Jahren dieses Jahrhunderts [20. Jahrhundert, d. Verf.] formiert“ wurde und “sich generalisierte im Westen nach dem Krieg“. Und, so Bornschier: „Seit den späten 60er Jahren begann es sich aufzulösen und trat zu Beginn der 80er Jahre in einigen Fällen (Großbritannien und USA) in eine eigentliche Zersetzungsphase ein“ (Bornschier 1990: 25). Diese Gesellschaftsmodelle unterschieden sich nach Bornschier besonders im Verhältnis von Konflikt und Konsens, von sozialer Integration und Desintegration, von Macht und Legitimation als spezifisches Verhältnis von Zustimmung und Zwang sowie Unterwerfung. Auch wenn Bornschier die sozioökonomi-
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schen Zusammenhänge von Gesellschaftsmodellen weitestgehend ausspart, den sozialen Wandel der Moderne allein auf den Wechsel von Gesellschaftsmodellen reduziert und damit einengt, ist der Blick auf sozialen Wandel in westlichen Gesellschaften gerade auch als ein Wandel von Gesellschaftsmodellen und kulturellen Deutungsmustern innovativ. Nicht zuletzt, weil er sich vom strukturfunktionalistischen Ansatz und dem Konzept vom Wandel als nur fortschreitender, geradliniger Modernisierung abhebt. Der ebenfalls in der Schweiz (Universität Zürich) lehrende Soziologe Imhof hat diesen Ansatz unter kommunikationstheoretischem Fokus weiterentwickelt und präzisiert. Auch für Imhof ist sozialer Wandel in der Moderne vor allem zu beschreiben als ein Prozess der „Abfolge von Gesellschaftsmodellen (…), in denen Erwartungs-, Aufmerksamkeits- und Gesellschaftsstrukturen auf Zeit verknüpft werden“ (Imhof 2006: 189). Im Ergebnis seiner theoretischen Abhandlungen zur Diskontinuität des sozialen Wandels kommt er zu dem Schluss: „Mit dieser Perspektive auf die kommunikativen Infrastrukturen und die Formen, Flüsse und Inhalte öffentlicher Kommunikation, in der die normativen Maßstäbe der Moderne an sich selbst manifest sind und in der sich die Abfolge von Gesellschaftsmodellen beobachten lässt, verlässt man die latente Kontingenzblindheit einer Sozialtheorie, die den sozialen Wandel als evolutionäre Mutation von Strukturelementen missversteht und der Evolutions-, Modernisierungs- und Trendperspektive auf Kosten der Einsicht in die mäandrierende Entfaltung der Moderne eine viel zu hohe Bedeutung beimisst. Im Kontrast zur ausgeprägten Modernisierungs- und Evolutionsaxiomatik der soziologischen Makrotheorie gewinnt dagegen ein Pfad sozialtheoretischen Denkens an Plausibilität, auf den schon Hannah Arendt hingewiesen hat. Im Bewusstsein sozialer Bewegungen, die sich im Zeichen ihrer Interpretation der Welt aufmachen, die Welt zu verändern oder Veränderungen Einhalt zu gebieten, im Bewusstsein von Krisen- und Umbruchphasen, die der Moderne seit ihrem Beginn eigen sind und die Richtung ihrer Entwicklung immer wieder maßgebend bestimmen, öffnet sich ein Horizont der Theoriebildung, in dem sozialer Wandel als Abfolge von Gesellschaftsmodellen thematisiert werden kann, an deren Beginn und an deren Ende Krisenphasen hoher Kontingenz stehen, die das jeweils bestehende geschaffen haben und das neue schaffen werden. Zumindest in diesen Phasen der Vergesellschaftung lässt sich die Öffentlichkeit entfernt mit jener Utopie vergleichen, in deren Erwartung die Aufklärer einst auszogen, um die Geschichte und die Menschheit zu ihrer Selbst-, Vernunft- und Tugendbestimmung zu führen“ (Imhof 2006: 211). Wenn wir hier und im folgenden den idealtypischen Begriff „Modell“ verwenden, dann verstehen wir darunter nichts Statisches, sondern eine äußerst dynamische und zugleich vielgestaltige Entwicklungsform und –weise, die nicht
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den gegebenen (alten) gesellschaftlichen Zustand reproduziert, sondern neue Prozessstrukturen als Voraussetzung und Bestandteil sozialen Wandels generiert. Dieser Wandel wird heute und künftig im Sinne nachhaltiger wirtschaftlicher, sozialer, kultureller Entwicklung, im Sinne des sozialökologischen Umbaus der Gesellschaft zu verstehen sein. Dies ist – wie gesagt – der soziale Kern der neuen Umbruchsituation. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit zeichnen sich solche Umbrüche in der Regel mit beginnenden Trendbrüchen ab (bezüglich Wirtschaftsentwicklung, Einkommensentwicklung, soziale Kohäsion, politischer Legitimation). Doch gibt es zumeist keine scharfe Trennung zwischen dem vorangegangenen und dem neuen Entwicklungsmodell, -muster. In Zeiten des Übergangs existieren sowohl Elemente des einen wie des anderen neben einander. Der Maßstab für die Umwandlung von Entwicklungsmodellen liegt sowohl auf der systemischen wie auf der individuellen Ebene. Ob ein Gesellschafts- und Entwicklungsmodell, ein sozioökonomischer Entwicklungszusammenhang also „gut“ oder „schlecht“ zu bewerten ist, entscheidet sich primär auf der individuellen Ebene der Teilhabemöglichkeiten: Teilhabe an Erwerbsarbeit, Bildung, Kultur, an den sozialen Nahbeziehungen und der demokratischen Willensbildung, an politischer Partizipation; Verfügung über wirtschaftliche und soziale Rechte und letztlich freie Verfügung über die gemeinsamen Dinge des Lebens. Ob ein Gesellschafts- und Entwicklungsmodell sich aber im Geschichtsprozess durchzusetzen und sich als überlegen zu erweisen vermag hängt davon ab, ob es gesellschaftliche Verhältnisse schafft, die einen höheren Grad von Freiheit und Emanzipation ermöglichen und einen höheren Grad der Verwandlung von individueller Freiheit in gesellschaftliche Entwicklung und umgekehrt. In diesem Sinne wird gesellschaftliche Innovationsfähigkeit zur Bedingung von Zukunftsfähigkeit und Überlebensfähigkeit. Unserer Hypothese von der Transformation im 21. Jahrhundert als Wandel, als Umformung und Neukonstitution von Gesellschafts- und Entwicklungsmodellen liegt neben der beschriebenen theoretischen Perspektive zum anderen eine zeitgeschichtlich-empirische Perspektive zugrunde: Unter der Oberfläche der vielgestaltigen gesellschaftlichen Debatten und Auseinandersetzungen um „Reform“ und „Stagnation“, um „Sozialabbau“ und „Modernisierung“ geht es spätestens seit den 1970er Jahren – bewusst oder unbewusst – in der westlichen Welt und nicht zuletzt auch in Deutschland um die tiefer liegende Frage eines neuen Gesellschafts- und Entwicklungsmodells, nachdem das alte in die Krise geraten ist und seine einstigen Innovationspotenziale und soziale Ausstrahlungen eingebüsst hat (s. Kap. V.1). Die Frage des Entwicklungs- und Gesellschaftsmodells gewinnt seit langem jedoch eine internationale Dimension, denn die Umbruchsituation ist eine globa-
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le. Sie kulminiert deshalb in der Frage nach einem neuen globalen Entwicklungsmodell für die Weltgesellschaft, das eine strategische Antwort auf die sich weltweit verschärfenden Konflikte, zunehmenden Ungleichheiten und Gefährdungen der Zivilisation verkörpert. Im Kern geht es dabei sowohl auf nationaler wie auf europäischer als auch auf globaler Ebene um einen zukunftsfähigen Pfad nachhaltiger wirtschaftlicher, sozialer, kultureller Entwicklung. Letzteres könnte unter gewissen Voraussetzungen zu formationellen Transformationen führen, die schließlich in die Herausbildung einer weiterführenden neuen „Sozialen Formation“ und „Zivilisation“ münden können (vgl. Kap. V.4).
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Zukunftsfähige Entwicklungsmodelle – Unterschiedliche Ansätze und Konzepte
Die Frage der Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert ist endgültig auf die politische Agenda gerückt. Der Bogen zu den 1970er Jahren schließt sich. Doch die Reaktionen der einzelnen Akteure auf die Umbruchsituation sind sehr unterschiedlich. Wie den Herausforderungen begegnet werden kann und wie sie bearbeitet werden können, ist umstritten. Das gilt vor allem auch für die zentrale Frage der Transformation, d. h. was „Gesellschafts-Transformation“ im 21. Jahrhundert bedeutet, welche gesellschaftlichen Alternativen und welche Entwicklungsmodelle und -muster sowie Entwicklungspfade denkbar sind und praktisch auch beschritten werden können. Idealtypisch verallgemeinert können m. E. diesbezüglich fünf verschiedene Ansätze und Konzepte herausgefiltert werden: „Die Pragmatiker“ Die seit langem bestehenden ökonomischen und sozialen Probleme in Deutschland, die sehr kritisch beleuchtet werden, seien ein Resultat der fortschreitenden Globalisierung und des verschärften internationalen Wettbewerbs (Miegel 2005, Steingart 2004).
Die folgenden Begriffsbildungen dienen der (idealtypischen) Markierung von Denkrichtungen mit ihren typischen Ansätzen, geben aber nicht die Vielfalt der jeweiligen Ideen und Prognosen wider. Diese Denkrichtungen haben sich zudem lange vor der 2007/2008 aufbrechenden weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise herausgebildet. Unabhängig davon, ob man sich dadurch eher bestätigt oder widerlegt bzw. korrigiert fühlt, bleiben die Grundkoordinaten der jeweiligen Denkrichtung und der darin konzipierten Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle (bislang zumindest) relativ konstant.
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Das eigentliche Problem bestehe jedoch darin, dass die Politik lange Zeit die neuen Herausforderungen „verschlafen“ und sich nicht rechtzeitig auf die gewandelte internationale Wettbewerbssituation eingestellt hätte (Politikerversagen). Zudem seien die Menschen hierzulande, im Unterschied z. B. zu China und Indien, zu unflexibel und zu sehr im alten Anspruchs- und Wohlstandsdenken verhaftet (mentales Versagen). Auf jeden Fall würden in Deutschland die Risiken über-, die großen Chancen der globalisierten Zukunft unterschätzt. Notwendig sei, dass die erst zu spät eingeleiteten Reformen im Sinne von Liberalisierung, Entbürokratisierung und Privatisierung unabhängig von Rückschlägen und Krisen in unterschiedlichen, modifizierten Formen fortgeführt werden. Denn: will der Westen die Zukunft gewinnen und seine alte Erfolgsstory wieder neu beleben, dann muss er sich auf die Logik der Globalisierung voll einlassen und zu erhöhter Kraftanstrengung, größerer Leistungsbereitschaft der Menschen, einer Rückkehr zu traditionellen Werteorientierungen und zu mehr Optimismus bereit sein (vgl. dazu auch Hauchler 2007: 246). In diesem Sinne müssten auch die institutionellen und gesellschaftlichen Entwicklungsmuster verändert werden. Die Frage der Gesellschafts-Transformation als eines strukturell gewandelten Entwicklungsmodells, das Nachhaltigkeit als Zukunftsfähigkeit auf nationalstaatlicher, europäischer und globaler Ebene und zugleich ein solidarisches Gemeinwesen ermöglichen könnte, wird in dieser Denkrichtung nicht wirklich thematisiert. „Die Traditionalisten“ Im Mittelpunkt der Analyse und Kritik stehen bei dieser Denkrichtung zumeist die Wirtschafts- und Sozialpolitik und das politische Management. Sie verweisen seit langem (lange vor der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise) und zu Recht auf funktionale Schwächen der herrschenden Wirtschaftspolitik (Müller 2003, vgl. dazu auch Hauchler: 245/246), der es an ausreichender Analyse, klarer Fundierung und längerfristiger Ausrichtung mangele. Die Ergebnisse widersprächen in aller Regel den Annahmen und postulierten Zielen bezüglich Wirtschaftswachstum, Beschäftigungsentwicklung und sozialen Ausgleich. Vor allen die neue Schere zwischen Arm und Reich wird heftig kritisiert. Letztlich sei dies alles verursacht durch ein Einschwenken der Politik auf einen neoliberalen Kurs und den Übergang von einer eher nachfrageorientierten zu einer vor allem angebotsorientierten Wirtschaftspolitik (Müller 2003). Hier setzten dann auch die Alternativen ein: Mehr Keynes denn Milton Friedman und die Chicago Boys, wieder mehr nachfrage- denn angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, eine Kombination verschiedener politischer Instrumentarien – dann könnten die meisten Probleme auch noch im nationalstaatlichen Rahmen gelöst werden.
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Trotz der zutreffenden Kritik am jahrzehntelang dominierenden wirtschaftspolitischen Denken und Handeln, die in der 2007/2008 aufbrechenden globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ihre Bestätigung fand, richtet sich der Blick weniger auf die Strukturen, Institutionen, auf das sozioökonomische Gesellschafts- und Entwicklungsmodell. Das Globalisierungsphänomen mit seinen Folgen für die nationalstaatliche Wirtschaftspolitik spielt eine zu untergeordnete Rolle. Die Vergleichsebene ist vor allem das „Goldene Zeitalter“, der einst erfolgreiche fordistische Entwicklungspfad, besonders das alte Wachstumsmodell. Die neuen Herausforderungen mit den Erfordernissen eines Übergangs zu einem anderen Typ wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung und einer tief greifenden strukturellen GesellschaftsTransformation sind weniger Gegenstand der Betrachtungen und Überlegungen. „Die Modernisierer“ Die Vertreter der Modernisierungstheorie leugnen die vielfältigen Probleme, Konflikte, Ambivalenzen und Auseinandersetzungen in modernen Gesellschaften keineswegs, verordnen sie aber in ihr allgemeines theoretisches Erklärungsmodell. Im Unterschied zu manch älteren Modernisierungstheorien werden diese Problemkonstellationen thematisiert und frühere Annahmen von der Geradlinigkeit und Zwangsläufigkeit der Modernisierung oder von der Kontinuität von Entwicklungspfaden revidiert. Fortschreitende Modernisierung sei eben zugleich eine konflikthafte und umkämpfte. Doch der feste Rahmen, innerhalb dessen um Gestaltung gerungen werde, bilde stets die Moderne mit ihren „evolutionären Universalien“ (Parsons). Für Wolfgang Zapf sind das vor allem die Basisinstitutionen Konkurrenzdemokratie, Marktwirtschaft, Wohlfahrtsstaat und Massenkonsum (Zapf 1996: 62), die heute und in Zukunft Grundlage und Richtschnur gesellschaftlicher Entwicklung seien, soll diese nicht im Stillstand verharren. Sozialer Wandel, auch der jetzt erforderliche, entwickle die Moderne weiter, vervollkommne sie und widerlege so alle anderen entwicklungstheoretischen Annahmen und Ansätze. Es geht in dieser Perspektive um eine zwar diskontinuierliche, letztlich aber doch ungebrochene Modernisierung, die immer wieder zu Stabilität und Gleichgewicht führe. Das Projekt Moderne sei das Zukunftsprojekt auch für das 21. Jahrhundert. Die Frage nach den grundlegenden Strukturen der Ökonomie und ihren Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Institutionen, der inneren Logik von Kapitalverwertung und ihrer sozioökonomischen Folgen, die Frage alternativer gesellschaftlicher Entwicklungsmodelle bleibt in diesem modernisierungstheoretischen Ansatz zumindest unterbelichtet oder oft auch ausgespart. Für andere modernisierungstheoretisch orientierte Autoren bedeuten die tief greifenden gesellschaftlichen Konflikte jedoch eher Risiken („Risikogesell-
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schaft“), die sie zur Diagnose eines „Bruchs“ der Moderne verdichten, der eine veränderte Wegrichtung der Modernitätsentwicklung erfordere. Dieses bereits früher gefällte Urteil werde durch die neuen und zugespitzten Konfliktstoffe – ökologische Krisen, globale Finanzkrisen, terroristische Gefahren – noch erhärtet (Beck 2007: 34).Die „Risikogesellschaft“ habe sich zu einer „Weltrisikogesellschaft“ verwandelt, denn alle „wesentliche Gefahren seien inzwischen Weltgefahren“ geworden (ebd.: 47). Vor allem die nach dem Ende der Systemkonkurrenz „ungezügelte freie Marktwirtschaft, die ihre Verantwortung für die Demokratie und für die Gesellschaft abgestreift hat und ausschließlich nach der Maxime kurzfristiger Gewinnmaximierung handelt“ sei zum internationalen Problem geworden (ebd.: 357). Mit diesem Ansatz einer gebrochenen Entwicklung der Moderne und ihren Auswirkungen auf die (Welt-)Gesellschaft heben sie sich vom zuvor genannten klassischen modernisierungstheoretischen Ansatz ab, plädieren aber weiter für eine reflexiv gebrochene, „zweite Moderne“ (Beck, Giddens). Erst diese zweite Moderne, so die alte und neue Maxime, die weiterführende Handlungsmöglichkeiten schaffe, könne die „Verheißungen der Moderne“ voll zur Geltung bringen. Die Politik sei aufgefordert, diese neuen Handlungsmöglichkeiten zu erkennen, zu nutzen und in neue strategische Konzepte umzusetzen (Beck 2007: 368 ff.). Und die Sozialwissenschaft müsse endlich wieder die Gesamtgesellschaft kritisch in den Blick nehmen, den Wandlungsprozessen der modernen Gesellschaft (Kontinuität der BasisprinzipienDiskontinuität der Basisinstitutionen) genauer auf die Spur kommen und diese theoretisch präzise erklären. Dabei zeigten jedoch „alle Krisenphänomene des Westens“, (…) „dass sich trotz der Ambivalenzen der Moderne“ die Modernisierungsprinzipien weiter durchsetzten (ebd.: 408). Aus einer sowohl historisch wie zeitdiagnostisch geprägten Sichtweise hat in jüngster Zeit vor allem Paul Nolte wesentlich zur Diskussion der Fragen der Entwicklung der Moderne und der Gegenwartsgesellschaft beigetragen (Nolte 2006). Nach der Beschreibung der Vielfalt der gegenwärtigen gesellschaftlichen Spannungslinien entwickelt er seine Vorstellung von einem künftigen Modell gesellschaftlicher Entwicklung, das er „Investive Gesellschaft“ oder auch „Bürgergesellschaft“ nennt. Das strukturelle und mentale Versagen in Deutschland könne überwunden werden: durch Ökonomie und Werte. D. h. bei ihm – ein konsequenteres Einlassen auf die Logik des Marktes und seiner Risiken, gepaart mit der Neujustierung guter alter bürgerlicher Tugenden und Werte. Statt des weit verbreiteten Pessimismus gelte es zudem, neuen Optimismus zu verbreiten. Nur wer sich der ungewissen Zukunft hoffnungsvoll stelle, habe auch eine. Erforderlich seien weniger Anspruchsdenken und mehr Verantwortungsbewusstsein, individuelle Selbstverantwortung, eine Stärkung des Patriotismus und
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ein neuer Republikanismus. Modellwechsel ja – aber inhaltlich trotz vieler zutreffender Aussagen und Ansatzpunkte doch eher neo-konservativ bestimmt. „Die Systemüberwinder“ Das „System“ wird in dieser Denkrichtung vor allem als Kapitalismus analysiert und thematisiert. Dadurch unterscheiden sich diese Autoren (u. a. Haug 2007) von den meisten anderen, die diese zentrale Kategorie (Kapitalverwertung) und damit die Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse in ihrer Analyse zumeist ausklammern oder lediglich deren politische, kulturelle, psychische Folgewirkungen berücksichtigen. Die aktuelle, tief greifende Finanz- und Wirtschaftskrise hat diesen Analyseansatz – vor allem wo er auf Marx zurückgreift – wieder stärker in den Blick auch der Öffentlichkeit gerückt und ihn zu mehr Akzeptanz verholfen. Auch die Notwendigkeit systemischer Veränderungen wird nun wieder stärker diskutiert. Der Kapitalismus stoße, so der Ansatz dieser Denkrichtung, entweder durch seine Produktivkraft-Revolution und seine damit einhergehende neue Produktionsweise (High-Tech-Kapitalismus) oder durch die Endlichkeit der Naturressourcen schließlich an die Grenzen seiner Entwicklung bzw. seines Wachstums. Früher oder später erfordere dies einen grundlegenden gesellschaftlichen Formationswechsel, die Überwindung des gesamten kapitalistischen Systems. Auf das Weltsystem als Ganzes bezogen, zeige sich, dass die globale kapitalistische Ökonomie nicht – wie die System- und Modernisierungstheoretiker annehmen würden – zur Angleichung, sondern zur Verstärkung der strukturellen Differenzierung in zentrale, semiperiphere und periphere Weltregionen (Wallerstein 1979) führe. Auch hierin können sich diese Annahmen durch die Praxis gesellschaftlicher Entwicklung bestätigt sehen. Das System sei letztlich aber nicht in der Lage, seine inneren Konflikte zu eliminieren. Das 21. Jahrhundert werde deshalb endgültig von der Ablösung des kapitalistischen Weltsystems geprägt sein (Wallerstein 2002). Die Vision des Sozialismus oder wie auch immer die neue Gesellschaftsformation zu bezeichnen sein werde, sei die unumstößliche historische Alternative, die auf jedem Fall über den Kapitalismus hinausführe („revolutionärer Systembruch“) und eine neue Wirtschafts- und Sozialordnung begründe. Sozialismus – verstanden nicht in der Form des untergegangenen Staatssozialismus – sondern als Emanzipationsbewegung oder als Trias von „Nachhaltigkeit, Solidarität, globaler Gerechtigkeit“. Die Differenz zwischen Kapitalismus – Gesellschaft – Moderne wird dabei weniger analysiert, oder anders formuliert: Die dem Kapitalismus innewohnenden Logiken und die damit begründeten Folgewirkungen bilden den zentralen Bezugspunkt der Analyse, die Moderne-Potenziale (z. B. Vergesellschaftungs-
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formen, Recht, Demokratie, Öffentlichkeit, demokratische Gesellschaft) werden eher vernachlässigt, unterschätzt oder als integrierter Teil der kapitalistischen Formation und seiner Funktionslogik gesehen. Dass eine demokratische Gesellschaft ohne grundlegende Systemüberwindung, aber durch systemische Veränderungen und durch eine tief greifende Transformation, wieder einmal die Dominanz über die kapitalistische Ökonomie erlangen und diese den Bedürfnissen von Natur und Gesellschaft unterordnen könne (Polanyi), gilt als eher unwahrscheinlich. Es gehe im Transformationsprozess nicht so sehr „nur“ um einen Wandel von Gesellschafts- und sozioökonomischen Entwicklungsmodellen, sondern letztlich um eine Ablösung der kapitalistischen durch die sozialistische bzw. kommunistische Produktionsweise. „Die Transformationisten“ Ausgangspunkt der Transformationisten ist die Annahme, dass im historischen Kontext verschiedene Transformationstypen zu unterscheiden sind: Transformation von Zivilisationstypen, von Formationstypen, von Gesellschaftstypen bzw. -modellen und von politisch-institutionellen Regimetypen (vgl. II.3). Alle diese Transformationstypen konnten im historischen Prozess in dieser oder jener Form bislang wahrgenommen werden. Gesellschafts-Transformation, vor allem auch als Umwandlung und Neukonstituierung spezifischer Gesellschafts- und sozioökonomischer Entwicklungsmodelle, erlangt – nach diesem konzeptionellen Ansatz – im Transformationsprozess der Gegenwart und Zukunft ein zunehmendes Gewicht. Solche Gesellschaftsmodelle prägen die Entwicklung auf lange Zeit. Für diese Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle werden typische Konstellationen der Herrschafts-, Wirtschafts- und Sozialordnung ausgemacht, die nationalstaatlich vielfältige Ausprägungen erfahren. Transformationstheoretische Ansätze dieser Art stellen dabei weder Ökonomie noch Politik und Gesellschaft, weder die lineare Entwicklungsdynamik noch die einseitige Krisendynamik, weder gesellschaftliche Kontinuität noch gesellschaftlichen Bruch einseitig ins Zentrum ihrer Analysen und Deutungen der Gegenwartsgesellschaft. Sie versuchen deren Wechselwirkungen und, davon ausgehend, prioritäre Tendenzen zu erfassen. Sie gehen zugleich von einer Vielfalt sozialer Wandlungsprozesse (gerichtete und weniger gerichtete, geordnete und chaotische, allmähliche Übergänge und Krisen, Katastrophen, Brüche, Umwälzungen) aus. Diese können aus soziologischer Perspektive durch sehr verschiedenartige Ursachen hervorgerufen werden – durch neue Umbruchsituationen und damit verbundene Trendbrüche, durch soziale und politische Konflikte, durch neue Herausforderungen und Möglichkeiten, durch gesellschaftli-
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che Diskurse und veränderte politische Öffentlichkeiten. Stets aber sind das Handeln von Akteuren und die individuellen und kollektiven Lernprozesse entscheidend. Transformation wird als ein besonderer Typ sozialen Wandels und als primär intendierter Prozess gesellschaftlicher Veränderungen gedeutet. Transformationisten lassen sich von der Erkenntnis leiten, dass gesellschaftlicher Wandel sich als Re- und Neukombination von vorhandenen und neu entstehenden Elementen in der Gesellschaft vollzieht. Dabei messen sie Zeiten der Transition, d. h. Zeiten von Übergängen, in denen sich verschiedene und widersprechende Tendenzen überlagern und die weitere Entwicklungsrichtung noch sehr unklar ist, große Bedeutung bei. Hier ist entscheidend, welche Trendbrüche sich tatsächlich abzeichnen und so Keimformen von Transformation „vorweg nehmen“. Für sie reflektiert der Begriff der „Transformation“ am ehesten die aktuellen und sich abzeichnenden sozialen Wandlungsprozesse sowohl in den MBKGesellschaften als auch in der Weltgesellschaft. Denn mit Transformation wird jener spezifische Typ sozialen Wandels markiert, der offensichtlich im 21. Jahrhundert zum bestimmenden Typ sozialen Wandels werden könnte: ein Wandel nicht so sehr innerhalb der gegebenen Struktur- und Ordnungsmodelle, sondern ein Wandel, eine Umwandlung von wesentlichen Prozessstrukturen, Regeln, kulturellen Ordnungs- und Deutungsmustern. Und dies nicht zuerst in Form von Evolution oder Revolution, sondern eben von Transformation in einer Einheit von Kontinuität und Diskontinuität, von Ordnung, Bruch und Wandel. „Transformation im 21. Jahrhundert“ – nicht verstanden als kontinuierliche Höherentwicklung auf der Grundlage eines universellen Musters wie es in den Konzepten von der „fortschreitenden Modernisierung“ oder von den „Gesetzmäßigkeiten im Geschichtsprozess“ anklingt, sondern als ein vielschichtiger, diskontinuierlicher und fragiler Prozess, der ebenso Stagnation oder Scheitern im Sinne gesellschaftlicher Regression einschließen kann. Transformation wird somit als spezifischer sozioökonomischer und politisch-institutioneller Wandlungsprozess verstanden und nicht auf eine „neue Politik“ und kurzfristige Lösungen reduziert, nicht auf die Alternative „fortschreitende“ oder „reflexive“ bzw. „gebrochene“ Moderne beschränkt und auch nicht auf einen traditionell verstandenen Formationswechsel (FeudalismusKapitalismus), auf einen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus im klassischen Sinne reduziert. Transformationisten gehen davon aus, dass es im 21. Jahrhundert am ehesten um einen Wandel, um eine Transformation von Gesellschafts- bzw. sozioökonomischen Entwicklungsmodellen (-typen) gehen wird, d. h. um einen neuen Typ nachhaltiger und solidarischer Entwicklung weltweit. Transformation
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wird jedoch nicht allein auf diesen Wandlungstyp (Entwicklungsmodelle) beschränkt. Schon deshalb nicht, weil sich in diesem Transformationsprozess letztlich auch neue Typen „Sozialer Formationen“ und „Zivilisationen“ herausbilden können.
V Der Wandel von Gesellschafts- und Entwicklungsmodellen – Eine empirische und theoretische Transformationsperspektive
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Transformation des Kapitalismus. Das Modell „Fordistische Teilhabegesellschaft“
Ausgehend vom Struktur- und Entwicklungsmodell der GesellschaftsTransformation, von den theoretischen Erklärungsansätzen und der Bestimmung von Gesellschafts- und Entwicklungsmodellen als Einheiten der heutigen Transformation können nun auch die neueren Transformationsprozesse und ihre Dynamik sowie Entwicklungslogik rekonstruiert, erklärt und gedeutet werden. Dabei wollen wir unseren konzeptionellen „Modell-Ansatz“, wie er auch bei Polanyi zu finden ist, am realen Transformationsgeschehen explizieren. Die gegenwärtig so heftig diskutierten gesellschaftlichen Probleme haben ihren zentralen Ausgangspunkt in den 1970er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Was in den 70er Jahren zunächst nur verschwommen, später aber immer deutlicher sichtbar wurde, war der Beginn einer „systemübergreifenden Krise europäischer Industriegesellschaften“ (A. Steiner 2006: 1), eines „fundamentalen gesellschaftlichen Strukturwandels“ und einer „strukturellen Transformation“ (Jarausch 2006: 4). Die Folgen dieser in den 1970er Jahren einsetzenden historischen Zäsur reichen bis heute und kumulieren mit neuen wirtschafts-, sozial- und kulturpolitischen Problemen und Herausforderungen, die in ihrer Wechselwirkung das 21. Jahrhundert nachhaltig prägen dürften. Nachdem das bis etwa Mitte der 1970er Jahre erfolgreich funktionierende sozioökonomische Entwicklungsmodell in die Krise geriet, geht es im Kern um die Frage nach einem neuen zukunftsfähigen sozioökonomischen und kulturellen Entwicklungsmodell, um die Frage also nach den Perspektiven der Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert.
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Wandel von Gesellschaftsmodellen
Das bis in den 1970er Jahren des vorigen Jahrhunderts auch in (West-) Deutschland dominierende Gesellschafts- und Entwicklungsmodell war das – wie es auch genannt wird – eines „Wohlfahrtskapitalismus“, eines „Teilhabekapitalismus“ oder eines „Fordistischen Entwicklungsmodells“. Seinen Ursprung hatte das „Fordistische Entwicklungsmodell“ vor allem in den USA der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Anders als in Deutschland, wo die tiefe Krise in die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur führte, bildete sich in den USA unter dem Druck der Krisenerfahrungen und der Kämpfe der Arbeiterbewegung die Politik des „New Deal“ heraus. Sie wurde namentlich vom damaligen Präsidenten der USA Franklin D. Roosevelt repräsentiert und initiiert. Nach Paul Krugman, dem bekannten amerikanischen Ökonomen und Nobelpreisträger, bestand dieses Entwicklungsmodell im großen und ganzen mehrere Jahrzehnte fort, bis in die 70er Jahre (Krugman 2008: 14). Es löste in den USA ein Entwicklungsmodell ab, das vom Ende der Rekonstruktion in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts bis eben zum Beginn der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts währte und durch starke Klassenpolarisation, enorme Einkommensungleichheit, soziale Ungleichheit, das Fehlen grundlegender sozialer und demokratischer Rechte für die abhängig Beschäftigten gekennzeichnet war. Die mit Roosevelt eingeleitete Politik des „New Deal“ zielte nun auf eine wohlfahrtsstaatliche Regulierung des Kapitalismus, auf eine Kopplung des Lohnes an die Steigerungsraten der Arbeitsproduktivität, auf ein allgemeines System der Gesundheitsversorgung und der Sozialversicherung, auf mehr soziale Gleichheit und die Herausbildung und Stärkung einer „Mittelschichtengesellschaft“ (ebd.). Im Prinzip ging es nach Krugman um eine Teilhabe der Mehrheit der Bevölkerung an einer sich entwickelnden sozialen und demokratischen Gesellschaft. Auch der Ökonom und ehemalige Arbeitsminister der ClintonAdministration (1993-96) Robert Reich spricht in seinem Buch „Superkapitalismus. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie untergräbt“ – bezogen auf das 20. Jahrhundert – von zwei historischen Phasen der Entwicklung des Kapitalismus in den USA: Die erste Phase dauerte danach von den 30er Jahren bis Anfang der 70er Jahre. Den mächtigen Großunternehmen (Oligopole) stand – so Reich – ein Staat gegenüber, der über eine Vielzahl von Eingriffsmöglichkeiten (Steuern, Subventionen, Gebote und Verbote) verfügte, um – wenn erforderlich – Machtmissbrauch dieser Großunternehmen Einhalt zu gebieten. Zugleich standen den Großkonzernen starke Gewerkschaften gegenüber. In einem austariertem Verhältnis gab es berechenbare Zustände für die Unternehmer und soziale Sicherheit für die Bürger. Das gesellschaftliche Mehrprodukt wurde „relativ gerecht verteilt“. Reich nennt das den „demokratischen Kapitalismus“, der zum „Modell für die Welt und zum Gegenentwurf zum Sowjetkommunismus“ wurde. Diese
Teilhabe-, Konkurrenz-, Solidargesellschaft
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Situation änderte sich mit den 1970er Jahren, als sich der Übergang zu einem entfesselten Kapitalismus vollzog (Reich 2008). Aus der konkret-historischen Herausbildung und Entwicklung von New Deal als Entwicklungsmodell können bereits erste Schlussfolgerungen für die Präzisierung eines zeitgemäßen Transformationsverständnisses abgeleitet werden. Zum einen: Die historischen Pfade und Etappen kapitalistischer Entwicklung unterscheiden sich tatsächlich maßgeblich nach dem jeweils dominierenden, sehr verschiedenartigen sozioökonomischen und soziokulturellen Gesellschafts- und Entwicklungsmodellen. Zum anderen: Diesen Entwicklungen liegen zuerst politische Veränderungen, Wandlungen der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zugrunde und diese Transformationen des Kapitalismus, der spezifischen Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle sind Resultate vor allem zielgerichteten politischen Handelns. So spricht Krugman permanent davon, dass New Deal geschaffen wurde und nicht Folge anonymer Marktkräfte war. Schließlich: Im Mittelpunkt dieser Transformationsprozesse steht ein Wandel von Institutionen, Regeln, Normen. Für New Deal waren solche neuen Institutionen, Regeln, Normen wie der „Wohlfahrtsstaat“, der „Lohn-Vertrag“ von Detroit aus dem Jahre 1949 (Bindung der Lohnentwicklung an die Steigerung der Arbeitsproduktivität), neue soziale und demokratische Rechte (u. a. Gewerkschaftsrechte, gerechteres Steuersystem, Gesundheitsvorsorge und Krankenversicherung, Altersversorgung, Wahlrechtsreform) charakteristisch. Nach dem zweiten Weltkrieg verbreitete sich das „Fordistische Entwicklungsmodell“ in den entwickelten kapitalistischen Industrieländern, nicht zuletzt in Westdeutschland. Dabei konnte es sich in Europa, namentlich auch in Deutschland, auf einzelne Elemente wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung der Vergangenheit stützen. Dazu sind z. B. in Deutschland die einst von Bismarck eingeführten Gesetze der Kranken-, Sozial- und Rentenversicherung zu zählen. Aber auch in der traditionellen deutschen Industrie-, Unternehmens- und Forschungsstruktur gab es materielle „Vorläufer“ eines solchen Wirtschaftsmodells. Doch als spezifisches sozioökonomisches und kulturelles Entwicklungsmodell etablierte es sich erst nach dem zweiten Weltkrieg mit der Eingliederung Westdeutschlands in das sich unter Hegemonie der USA ausbreitende fordistische Weltwirtschaftsmodell mit seinen Vernetzungen und allgemein gültigen Regeln, Organisationen und Institutionen wie dem Weltwährungs- und Kreditsystem (Bretton Woods, IWF, Weltbank) und dem Welthandelssystem (GATT). In Westdeutschland bildete dieses Modell in den 1950er und 1960er Jahren eine Grundlage des viel zitierten „Wirtschaftswunders“. Dieses im Prozess der Transformation des Kapitalismus herausgebildete fordistisch-wohlfahrtsstaatliche Entwicklungsmodell war durch eine Reihe allgemeiner Merkmale und institutioneller Bausteine gekennzeichnet: verstärkte
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Wandel von Gesellschaftsmodellen
staatliche Regulierung, ein größeres Gewicht staatlichen Eigentums, den Aufund Ausbau eines Wohlfahrts- und Sozialstaats, Stärkung der Gewerkschaften, Einführung eines Systems der Sozialpartnerschaft, Installierung neuer Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten und Gewerkschaften. In den einzelnen Ländern nahmen diese institutionellen Bausteine jeweils unterschiedliche Gestalt und Formen an. Was sich damit in den USA und in Europa vollzogen hatte war eine Transformation des Kapitalismus. Wie immer es begrifflich auch bestimmt wird, entstanden war in diesem Transformationsprozess ein in sich konsistentes und funktionierendes neues Gesellschafts- und sozioökonomisches Entwicklungsmodell, das eine neue Entwicklungsweise generierte. Dieses Entwicklungsmodell basierte auf der Kombination von drei zentralen Komponenten: a) der fordistischen Massenproduktion, b) einer produktivitätsorientierten Lohnentwicklung und einem Ausbau staatlicher Sozialleistungen und Transfereinkommen sowie c) einem Weltmarkt der komparativen Vorteile im Austausch von industriellen Massenprodukten (Land 2008: 2). Das fordistische Modell des Kapitalismus ist durch eine spezifische Art und Weise wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung charakterisiert, die sich zugleich auf die gesamte Gesellschaft auswirkte. Es zeichnete sich durch wirtschaftliche Dynamik, soziale Sicherheit und eine allgemeine politische Stabilität aus. Gesellschaftliche Leitorientierungen waren die „Soziale Marktwirtschaft“, ungebremster Technik- und Fortschrittsoptimismus, das Wohlstandsdenken und das Modell des männlichen Familienernährers. Wenn dieses Modell „Teilhabegesellschaft“ oder „Teilhabekapitalismus“ genannt wird, so wird damit ein zentrales, ein charakteristisches Merkmal dieses Entwicklungsmodells hervorgehoben: die Teilhabe großer Teile der Bevölkerung und nicht zuletzt der Lohnarbeiter an der materiellen Reichtumsproduktion. Letzteres geschieht – wie gesagt – durch die Bindung der Lohnentwicklung an die Steigerung der Arbeitsproduktivität, wie es erstmals im New Deal (Krugman) erfolgte. Die beständige Erhöhung der Arbeitsproduktivität führte so zur Dynamisierung der Löhne und zur kontinuierlichen Steigerung der Reallöhne. Die Arbeitszeit wird nicht nur verkürzt, sondern die Arbeit selbst wird teilweise humanisiert (neue Arbeitsinhalte, neue Schutzrechte). Zugleich verändert sich die Konsumtions- und Lebensweise der abhängig Beschäftigten. Konsum und Leben sind nicht mehr auf die Reproduktion der Arbeitskraft, die im Kapitalismus natürlich zentral bleibt, beschränkt. „Teilhabekapitalismus“ unterscheidet sich insofern vom „Subsumtionskapitalismus“ (Land 2008: 8), wo Lohn allein durch die Reproduktionskosten der Arbeitskraft reguliert wird. Die abhängig Beschäftigten erwerben Konsumgegenstände, entfalten vielfältige und
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selbst bestimmte Freizeitaktivitäten, bilden spezifische Lebensstile und –weisen aus. Sie haben in einer dynamisch sich entwickelnden Produktionsweise neue Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs („Fahrstuhleffekt“/Beck). Doch dieses Entwicklungsmodell war auch charakterisiert durch Rekonstruktion alter Eigentumsverhältnisse; durch die trotz neuer betrieblicher Mitbestimmungsrechte fehlenden Mitentscheidungsrechte über langfristige inhaltliche Entwicklungsrichtungen der Technik, der Infrastrukturen, der Lebensweisen; durch fortschreitende Naturzerstörung; soziale Ungleichheit; sich verstärkende globale Disparitäten und geringe demokratisch-emanzipative Potenziale. Eine Teilhabegesellschaft im Sinne der gleichberechtigten Teilhabe aller am Sagen und Haben der Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Bildung und Kultur und ihrer rechtlichen und institutionellen Absicherung war das fordistische Modell nicht. Dennoch – die Progressivität des Modells gerade im Vergleich zu früheren war gegeben und in der skandinavischen ModellVariante (s. u.) am ausgeprägtesten vorhanden. Die staatssozialistische Variante dieses sozioökonomischen Entwicklungsmodells hatte ihren Ausgangspunkt in der stalinistischen Industrialisierung und Kollektivierung der 1930er und 1940er Jahre in der Sowjetunion. Der Versuch einer zentralen, planwirtschaftlichen Steuerung einer auf der fordistischen Massenproduktion basierenden Industrieentwicklung bestimmte nach dem Zweiten Weltkrieg die wirtschaftliche Entwicklung in der SU, den mittel- und osteuropäischen Ländern des RGW (Comecon) und eben auch der DDR (Land 2006: 134/135). Mitte der 1970er Jahre setzte die Krise und Erosion dieses fordistisch geprägten sozioökonomischen Entwicklungsmodells ein. Diese „systemübergreifende Krise europäischer Industriegesellschaften“ und beginnende „strukturelle Transformation“, deren Ausmaße sich den Blicken der damaligen Akteure zunächst entzogen, markierten verschiedene Erscheinungsformen: Der erste Ölpreisschock (1973) löste eine scharfe Rezession aus. Der Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods (1973) mit seinen feststehenden, aber anpassbaren Wechselkursen führte zum Kollaps des internationalen Währungssystems und zu einer Phase von permanenten Währungsschwankungen. Infolge u. a. einer zunehmenden internationalen Konkurrenzsituation kam es zur Krise traditionaler Industriezweige (u. a. Textilindustrie) und zu regionalen Entindustrialisierungen. Vor allem aber wurden die Produktivitätssteigerungen deutlich geringer und die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) fielen, die Investitionen ließen nach. Die Freisetzung von Arbeit war höher als ihre Nachfrage. Die Löhne blieben hinter der Produktivität zurück. Der bisherige Teilhabemodus wird partiell aufgehoben. Das Bild ist durch ein Nachlassen der Dynamik fordistischer Entwicklung, durch Wachs-
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tumsschwankungen, Rezessionen und erstmals wieder durch Verfestigung einer Sockelarbeitslosigkeit gekennzeichnet. Diese Symptome zeugten von Funktionsdefiziten der bisherigen sozialökonomischen Regulation und einer zunehmenden Strukturkrise. Sie bestimmten das Bild für lange Zeit. Eric Hobsbawm spricht – wie auch Charles Meier – vom Ende des „Goldenen Zeitalters“(Hobsbawm 1994). Der Historiker Konrad Jarausch nennt es das „Zerbrechen der hochindustriellen Ordnung“, die „fast ein Jahrhundert für europäische Verhältnisse prägend war und sich nun aufzulösen begann“ (Jarausch 2007: 19). Im Kern ging es jedoch um die Krise und Erosion einer spezifischen Wirtschafts- und Sozialordnung, eines sozioökonomischen Entwicklungsmodells, das lange funktionierte und scheinbar immer währen konnte und sollte. Was damit in den 1970er Jahren einsetzte erwies sich (später) als historische Umbruchsituation, als Übergangsepoche, deren Charakter und Folgen erst im weiteren historischen Verlauf deutlich wurden. Auch die damaligen sozialwissenschaftlichen Reaktionen waren eher „kontextbedingte Reflexionsversuche“ (Jarausch), denn tiefer greifende Erklärungen und Deutungen. Die Rede war vom Übergang zum „Postindustriellen Zeitalter“ (Daniel Bell), von „Postmoderne“ (Jaen-Francois Lyotard), von „Wertewandel“ (Ronald Inglehart). Wurde damit das Auslaufen eines bestimmten Entwicklungsmodells nur sehr allgemein thematisiert, so (noch) nicht deren tiefer liegende Ursachen, langfristige Folgewirkungen und gesellschaftspolitische Konsequenzen. Der Club of Rome (1972) sprach von der fortschreitenden Gefährdung und Zerstörung der ökologischen Kreisläufe und von Grenzen des Wachstums. Wie sich erst später deutlich zeigte, lagen die letztendlich entscheidenden Gründe und Ursachen des globalen Umbruchs darin begründet, dass der bisherige Entwicklungspfad an systemimmanente Grenzen stieß und so nicht fortzusetzen war. Sinkende Ressourcen- und Energieeffizienz führten zu einem Rückgang der Produktivitätssteigerungsraten und der Wachstumsraten des BIP (Land 2008: 12). Oder anders formuliert: Die Preise für Rohstoffe und Energie steigen schneller als die Ressourceneffizienz währt. Das untergrub die Logik der fordistischen Produktionsweise. Der fordistische Kreis – Produktivität, Löhne, Konsum, Wachstum – bleibt verschlossen. Der Umbruch erfasste alle Ebenen und Bereiche des bisherigen Entwicklungsmodells, die wirtschaftliche und sozialstaatliche Makro-Ebene; die MesoEbene der Institutionen, Unternehmen, Verbände und die Mikro-Ebene der Haushalte, der Einkommen, der Lebensführung der Individuen. Das fordistische Modell war im umfassenden Sinne infrage gestellt. Die Krise betraf nicht nur die Wirtschaft, sondern ebenso den Konsum, die Bildung,
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die Kultur, die gesamte Produktions- und Lebensweise; und es war zugleich eine globale Krise. Seit Mitte der 1970er Jahre beginnt die Phase des Niedergangs des fordistischen Entwicklungsmodells. Dabei verläuft die gesamte Umbruchphase ungleichzeitig, vielgestaltig und ist durch Stagnationen und partielle Innovationen gekennzeichnet. Doch insgesamt lässt die wirtschaftliche Dynamik nach, die soziale Sicherheit erodiert und immer größere Teile der Gesellschaft werden von einer Unsicherheit erfasst, die bisherige Stabilität verbindet sich mit zunehmender Instabilität. Was historisch seit dem ansteht ist eine tief greifende Transformation zu einem neuen, nachhaltigen, ökoeffizienten Entwicklungspfad und seine institutionelle Verankerung. Voraussetzung und Bestandteil dieser Transformation ist ein neues sozioökonomisches und soziokulturelles Gesellschafts- und Entwicklungsmodell – und dies zugleich auch auf globaler Ebene. Die Logik des fordistischen Entwicklungsmodells greift immer weniger, ein neues aber ist (noch) nicht in Sicht. Die gesellschaftlichen Antworten auf diese historische Umbruchsituation in West und Ost waren insgesamt widersprüchlich und gingen zunächst am Kern der Umbrucherfordernisse vorbei. Im Einzelnen betrachtet sind die damaligen Reaktionen der verschiedenen Akteure durch Gemeinsamkeiten und grundlegende Differenzen charakterisiert. Der Übergang zur dritten industriellen Revolution mit ihrer Flexibilisierung der Technik und der Wirtschaft, der Übergang von der klassischen Industrie- zur „Informations-„ und „High-Tech-Gesellschaft“, verbunden mit einer neuen Welle der Globalisierung war gleichermaßen durch Risiken und neue Chancen gekennzeichnet. Zunehmende Krisengefühle – wie sie sich in den Diskussionen um die „Krise der Arbeitsgesellschaft“ bzw. um die „Risikogesellschaft“ äußerten – und eine Aufbruchstimmung – neue soziale und ökologische Bewegungen, Wertewandel hin zu stärkeren Orientierung an postmateriellen Werten, Pluralisierung und Individualisierung der Lebensstile – verbreiteten sich gleichzeitig. Verschiedene Entwicklungsoptionen schienen in dieser Umbruchsituation denkbar und real möglich. Doch vermochten sich alternative Konzepte gesamtgesellschaftlich nicht durchzusetzen. Die Pfadabhängigkeit wirkte unter den gegebenen Bedingungen als strategische Orientierungsebene und Integrationspotenzial. Zudem lagen auch keine überzeugende oder gar zukunftsfähige Konzepte und Lösungen für die strukturellen Transformationsprobleme der Wirtschaft, des Sozialstaates, der politischen Kultur vor. Und dort, wo die Linke zeitweilig Regierungsmacht gewann (u. a. Frankreich, Portugal, Spanien), konnte sie keinen neuen, tragfähigen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Entwicklungsweg einleiten.
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Der alte, fordistische Entwicklungspfad mit seiner Kompatibilität von Produktivität, Wachstum, Löhne, Konsum, Lebensweise bleibt mehr und mehr verschlossen. Seine Entwicklungspotenziale versiegen allmählich, seine Grenzen werden immer deutlicher. Doch eine Alternative in Gestalt eines neuen sozioökonomischen Entwicklungsmodells scheint nicht in Sicht. Eine lange Periode des Umbruchs beginnt.
2
Markt-liberale Transformation. Das Modell „Markt- und Konkurrenzgesellschaft“
2.1
Die markt-liberale Transformation
Die traditionellen Eliten in West und Ost versuchten nach dem „Goldenen Zeitalter“ zunächst die Auswirkungen des mit der dritten industriellen Revolution verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandels zu bewältigen, auf unterschiedlichem Wege und letztlich mit recht unterschiedlichen Ergebnissen. Bald wurde jedoch offensichtlich, dass der Krise der 1970er Jahre angesichts der historischen Umbruchsituation nicht mehr mit den Theorien und Strategien der zurückliegenden Jahrzehnte zu begegnen war. Ratlosigkeit, Aktionismus und Krisenmanagement bestimmten erst einmal die Wirtschaftspolitik der westlichen Eliten. Neues im Sinne der Suche nach einem zukunftsfähigen Entwicklungspfad, der dieser Umbruchsituation entsprechen konnte, wurde kaum sichtbar. Es wurde allmählich Abschied genommen von „Globalsteuerung“, „konzertierter Aktion“, von keynesianisch inspirierter Nachfragepolitik – hin zu monetaristisch inspirierter Angebotspolitik. Staatseingriffe wurden zurückgedrängt, die Marktkräfte gestärkt, der Sozialstaat eingeschränkt, das Teilhabekonzept ausgehöhlt. Dass in dieser Zeit die neoliberalen Wirtschaftstheorien von Friedrich von Hayek und Milton Friedman und die entsprechenden Think Tanks die Dominanz erlangten (vgl. Krugman 2008: 128 ff.), war ein Indiz für die Vorbereitung einer konservativen, und wie es sich im Rückblick zeigt, markt-liberalen Wende. Zuerst in den USA (Reagan), dann in Großbritannien (Thatcher) vollzog sich Ende der 1970er Jahre der endgültige Übergang zu einem markt-liberal geprägten Entwicklungsweg, -modell. High-Tech-Kapitalismus, Globalisierung, Deregulierung, das Verschwinden des „sozialistischen Weltsystems“, so Reich in seinem schon erwähnten Buch „Superkapitalismus“, führten zur allmählichen Sprengung jener „goldenen Fesseln“, die dem Kapitalismus angelegt wurden. Die verschärfte Konkurrenz der Großunternehmen untereinander bei schwindender Wirtschaftsmacht des Staates
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und des zurück gehenden Einflusses der Gewerkschaften führten dazu, dass das gesellschaftliche Interesse an auskömmlichen Löhnen, schonenden Umgang mit der Natur, sozialer Sicherheit in der Unternehmenspolitik immer weniger Berücksichtigung findet. Mehr noch – der Staat wird gedrängt, Regeln zu entwerfen, die immer direkter dem Verwertungsinteresse des Kapitals dienen. Reich belegt dies ausgiebig mit Fakten, Zahlen, Beispielen besonders aus den USA. Appelle an die Unternehmer, sich gegenüber der Gesellschaft verantwortlich zu verhalten, freiwillig den Hebel wieder umzulegen, würden nicht fruchten (Reich 2008, Roesler 2008 [ND 13.-16.3: 14], Reich 2008 [Berliner Zeitung 2./3.2.2008]). Konzeptionen und Denkrichtungen, in denen es um Individualisierung, Freiheit, Freizügigkeit im Gegensatz zur „Macht der Gewerkschaften“ und der „bürokratischen Unfähigkeit des Staates“ ging, gewannen an Resonanz, so der amerikanische Soziologe Harvey (Harvey 2005: 15). New Deal bzw. das sozialdemokratische Modell des Klassenkompromisses und die ihnen zugrunde liegende Politik wurden weitgehend aufgegeben. Stattdessen folgten vor allem in den USA und bald auch in Großbritannien Deregulierung, Steuersenkung für die großen Unternehmen, Haushaltskürzungen, Angriffe auf die Gewerkschaften und die Berufsorganisationen. Damit sollten die Probleme gelöst, Wirtschaftswachstum und Innovationen wieder zur bestimmenden Entwicklungstendenz werden. Auch im IWF und der Weltbank vollzog sich eine Wende von einem keynesianistischen zu einem monetaristischen Denken, denn die angestrebte (neoliberale) Wende verlangte auch die Liberalisierung der internationalen Kredit- und Finanzmärkte. Und der „neoliberale Staat“ sollte vor allem für ein „gutes Wirtschaftsklima“ sorgen, während der „sozialdemokratische Staat“ im Fordismus dem Anliegen von Vollbeschäftigung und sozialem Ausgleich bei stabilen Raten der Kapitalakkumulation zentrale Bedeutung beimaß. Es waren vor allem zwei strategische Entwicklungen und Entscheidungen, die diesen sich vollziehenden Modellwechsel charakterisierten. Zum einen die Aufkündigung des „Klassenkompromisses“, des „Sozialstaatskompromisses“ und zum anderen der Übergang von der internationalen Arbeitsteilung zum bedingungslosen Standortwettbewerb. Diese Wende begann in der Bundesrepublik in ersten Ansätzen bereits unter der sozial-liberalen Koalition, und setzte sich dann nach der konservativen Regierungsübernahme im Verlauf der 1980er Jahre verstärkt fort (vgl. auch A. Steiner 2006: 6). Doch erlangte der Markt- bzw. Neoliberalismus in der Bundesrepublik lange Zeit nicht das Ausmaß wie in den USA und Großbritannien. Wichtige Schritte auf diesem Weg wurden dann 2003 mit der „Agenda-Politik“ unter Kanzler Gerhard Schröder eingeleitet.
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Wandel von Gesellschaftsmodellen
Der Neoliberalismus als gesellschaftspolitisches Projekt hat sich zeitlich und geographisch-räumlich ungleich herausgebildet (Harvey 2005: 34) und stets auch verschiedene Formen angenommen. Er wurde in den kapitalistischen Industrieländern – im Unterschied zu vielen Schwellen- und Entwicklungsländern – nicht zuerst von außen oktroyiert bzw. exportiert, sondern als evolutionärer Prozess von innen stimuliert. Mitte der 90er Jahre, als der so genannte Washington-Konsens dominierte, wurden die Gesellschaftsmodelle der USA und Großbritanniens als Antwort auf die globalen Probleme hingestellt. Mit dem Papier („Weg nach vorn“, 13. Juni 1999) von Tony Blair und Gerhard Schröder sollte dieser Weg auch für das übrige Europa und nicht zuletzt für Deutschland als Alternative zu den bestehenden Blockaden gepriesen werden. Das „Modell Deutschland“ und die Politik des „mittleren Weges“ (Schmidt 2000) wurden unterhöhlt, aber nicht gänzlich preisgegeben. Die mit dieser Wende einher gehenden neuen Innovationsprozesse führten zur wirtschaftlichen und sozialen Stabilisierung und führten doch zugleich zur Anhäufung alter und zur Entstehung neuer wirtschaftlicher, sozialer, kultureller Spannungen und Konflikte. Die staatssozialistischen Länder erwiesen sich als „schwächste Glieder“ innerhalb des fordistischen sozioökonomischen Entwicklungsmodells. Sie waren unfähig, sich auf die neue Produktivkraft-Revolution und die gesellschaftliche Umbruchsituation einzustellen oder sich zumindest anzupassen. Frühere Reformversuche wie in der DDR (NÖSPL) wurden wieder zurück genommen, das Erproben neuer Gesellschaftsmodelle wie in der CSSR 1968 (demokratischer Sozialismus) militärisch niedergeschlagen. Die notwendige Modernisierung und gesellschaftliche Transformation wurden verhindert. Das starre Planungs- und Leitungssystem war mit den neuen, flexiblen Herausforderungen der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Entwicklung überfordert. Stagnation und zunehmende Widersprüche kennzeichneten die Lage in den RGW-Ländern seit den 1970er Jahren. Der mit der marxistisch-leninistischen These von einer „verschärften Krise des Kapitalismus“ prognostizierte Untergang des Kapitalismus blieb aus, während gerade die real-sozialistischen Systeme zerbrachen (s. auch Kap. III). „In den Ländern des Ostblocks“ – so resümiert Andre Steiner die Entwicklung zwischen den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts – „haben sie (die Eliten) sich in eine Sozialstaatsfalle begeben und somit dringend notwendige politische und wirtschaftliche Reformen, kurz: eine tief greifende Modernisierung und Gesellschaftstransformation verhindert. Infolge starren Festhaltens an den alten Regeln, als das Vertrauen zu ihnen längst verloren war, lag die ‚Alternative’ für die Ostblockländer schließlich im Aufgeben des bisherigen Systems, in der Transformation vom sozialistischen zum marktwirtschaftlichen System.
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Insoweit erlebte der Ostblock in den 1970er Jahren zweifellos den Beginn seiner finalen Krise“ (A. Steiner 2006: 11). Im Westen, in der Bundesrepublik gelang eine begrenzte Anpassung an den Strukturwandel. Die Wandlungsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Systems durchbrach partiell Stagnationen und Krisen. Doch „für die grundsätzlichen strukturellen Probleme in der Wirtschaft und im Sozialstaat (ist) bis heute keine überzeugende Lösung gefunden worden, die die Arbeitslosigkeit abbauen und den Sozialstaat hinreichend zukunftsfähig machen würden“ (ebd.). Die grundlegenden Problemlagen sind geblieben, haben sich verschärft und global weiter ausgebreitet. Die auch in den MBK-Gesellschaften erforderliche sozialökologische Gesellschafts-Transformation wurde „vertagt“. Das marktliberale und –radikale Entwicklungsmodell erhielt nur durch die Implosion der scheinbaren Alternative, des staatssozialistisch-bürokratischen Entwicklungsmodells, zeitweilig den Nimbus von Dauerhaftigkeit und Zukunftsfähigkeit. Das Beispiel des deutschen Falls ist für diese Paradoxie besonders aussagekräftig (vgl. auch Reißig 2000 und 2005). Die deutsche Vereinigung verstärkte noch die rückwärtsgewandte Strategie, die bereits seit Mitte der 70er Jahre zu beobachten war. An der Art und Weise des deutschen Vereinigungsprozesses und seiner Folgen kann das Problem der Transformation als Wandel von Gesellschafts- und sozioökonomischen Entwicklungsmodellen nachgezeichnet werden: Der ostdeutsche Transformationsfall galt als ein privilegierter Fall postsozialistischer Transformation. Denn alles was dafür gebraucht werde sei – so die strategische Konzeption – schon da und erprobt, in Westdeutschland. Transformation als Beitritt zu einem „Fertigstaat“, als Adaption des bundesdeutschen wirtschaftlichen und politischen Gesellschafts- und Entwicklungsmodells, als Transfer der Institutionen, Ressourcen, Eliten von West- nach Ostdeutschland. Institutionelle Gleichheit galt als oberstes Ziel der Transformation und hatte Vorrang vor allen anderen Zielen. Das bedeutete Verzicht auf die Konstituierung eines spezifischen Modells einer ostdeutschen Transformationsgesellschaft, deren Institutionen, Akteure und Ressourcen primär auf die Lösung spezifischer Transformationsprobleme gerichtet sind. Besondere gesetzliche, institutionelle (Übergangs-)Regeln, Normen, Experimentierklauseln wurden demnach nicht erforderlich. Kontinuität und Stabilität des „alten“ Modells der Bundesrepublik hatten Vorrang vor möglichen Neuerungen, Wandlungen und Reformen in der sich formierenden gesamtdeutschen Bundesrepublik, die nur die Risiken und Kosten der Transformation und Einheit erhöhen würden. Die Folgen des durch Modellübertragung und Adaption bestimmten Transformations- und Einheitsmuster sind inzwischen nicht zu übersehen: die Sicherung der (scheinbaren) Stabilität der „alten“ Bundesrepublik hat die „neue“ geschwächt – strukturell und mental. Die schnelle organisatorisch-technische Konsolidierung des Ostens hat nicht gleichzeitig den Weg zu einer innovativen, selbst tragenden Entwicklung geöffnet. Die institutionelle Einheit wurde nicht zum Katalysator der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Einheit. Die Chance gar, gemeinsam eine Art von Neuanfang zu wagen, wur-
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Wandel von Gesellschaftsmodellen
de damit verpasst. Das Transformations- und Vereinigungsprojekt führte so zu Folgen, die seine Grundlagen in Frage stellten und zum Umsteuern zwingen. Die tieferen Ursachen für diese Entwicklung liegen im Folgenden: Die Übertragung des Wirtschafts-, Wachstums- und Sozialmodells von West- nach Ostdeutschland mit all seinen Strukturen, Institutionen, Regeln und Normen erfolgte zu einem Zeitpunkt, wo dessen Erfolgsgeschichte schon Vergangenheit war und sich sein Reformbedarf in Westdeutschland längst abgezeichnet hatte. Diese rigide Modell- und Institutionenübertragung mochte dem damaligen Zeit- und Problemdruck entsprechen, eine adäquate Antwort auf die neuen Herausforderungen der Gesellschaftstransformation im Osten und Westen war sie schon nicht mehr. Die Übernahme des Modells erfolgte, als die Grundlagen seines Funktionierens bereits erodiert waren. Oder anders formuliert: der deutsche Vereinigungsprozess ist weitgehend nach den Mustern und den Instrumenten organisiert worden, die sich in der alten Bundesrepublik seit den 1950er Jahren bewährt hatten, seit den 1970er Jahren aber in der Krise waren – mit fatalen Folgen, zumal was die westlichen Bundesländer und ihre Selbsttäuschung betrifft. Der Zusammenbruch des Staatssozialismus und die Vereinigung haben dieses Erfordernis gemeinsamer Reformen zeitweilig überlagert, verdeckt. Tatsächlich jedoch wurden im deutschen Vereinigungsfall de facto zwei unterschiedliche Modernisierungsexperimente mit ungleichzeitigen Entwicklungsstufen zusammengebündelt. Das eine, das autoritär-staatssozialistische, war am Ende und nicht mehr reformierbar; das andere, überlegene fordistisch-kapitalistische, befand sich jedoch zum Zeitpunkt der Vereinigung auch in einer grundlegenden Entwicklungskrise, global und als Typ westlicher Industriegesellschaft. Der Systembruch im Osten und die Krise des Fordismus, die einen „Systemschock“ im Westen hervorriefen, haben beide ihren Ausgangspunkt in den Ereignissen der 1970er Jahre. In Verkennung dieser Zusammenhänge wurde jedes kritische Nachdenken über die eigene Gesellschaft verbannt. Die Furcht vor Reformen und sozialen Experimenten, vor möglichen Rückwirkungen des Ostens auf den Westen der Bundesrepublik dominierte das Handeln der politischen Klasse. Die Art und Weise der Systemtransformation und des Vereinigungsprozesses haben so die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Probleme im Osten und Westen der Republik weiter potenziert. Die alten Probleme des Westens – Selbstblockaden der Institutionen, defizitärer Wachstumspfad, Krise des Wohlfahrtsstaates, Staatsverschuldung – potenzierten sich im Osten und umgekehrt. Das Festhalten am angeblich entscheidenden Ziel der Einheit, der Herstellung der institutionellen Gleichheit, und die ungebrochene Gläubigkeit in die Lösungskompetenz der westdeutschen Institutionen verhinderten dann auch Konzepte zur bestmöglichen Entwicklung bestehender und zur gezielten Förderung neuer endogener Potenziale in Ostdeutschland. Der privilegierte Transformations- und Vereinigungsfall wurde so zu einem prekären Reformfall; das „Modell Deutschland“ zu einer „blockierten Moderne“, die immer mehr in die Krise geriet. Schuld daran ist nicht zuerst der Osten, ist nicht zuerst die Vereinigung, wie wir es heute oft hören, sondern der seit den 1970er/1980er Jahren verzögerte Umbau der reformbedürftigen Industrie-, Beschäftigungs- und Sozialstaatsmodelle. Das bisherige „Modell Deutschland“ verlor so seinen früheren Glanz, gerade auch unter den Ostdeutschen. Mehr noch – mit dem Ende des Ost-West-Systemgegensatzes und dem Ende der DDR wurde auch das Ende der alten Bundesrepublik eingeleitet: Die vereinte Bundesrepublik erweist sich nun noch eindeutiger als Gesellschaft im Umbruch, als Übergangs- und Transformationsgesellschaft, deren weiterer Weg hart umstritten und umkämpft ist.
Ost und West stehen heute, bei allen Unterschieden wirtschaftlicher, sozialer, kultureller Entwicklung, gemeinsam vor der Herausforderung, die Umbruchsi-
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tuation zu meistern und einen neuen Entwicklungspfad zu finden. Nach der Transformation ist vor der Transformation. Dies gilt nicht nur für das vereinte Deutschland, sondern auch für die postsozialistischen Transformationsstaaten Mittel-Ost-Europas, die die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise besonders hart trifft und ihre frühzeitig ausgerufene Erfolgsgeschichte mehr als relativiert. „Daraus folgt, dass die neueste Zeitgeschichte als Geschichte der Gegenwart nicht erst mit dem Kollaps des Kommunismus, sondern schon eineinhalb Jahrzehnte vorher mit dem sozioökonomischen Strukturwandel einsetzte, der Ost und West vor ähnliche Strukturprobleme stellte, die sich 1989 dramatisch entladen sollten“ (Jarausch 2007: 18). Die heutige Problemsituation hat ihren ersten Ausgangspunkt mithin in der Krise des fordistischen Entwicklungsmodells und den ungelösten bzw. einseitig bearbeiteten Problemen dieses globalen Umbruchs durch die herrschenden Eliten oder genauer noch in der ungelösten Frage nach einem zukunftsfähigen Entwicklungspfad, nach einem sozialökologischen und soziokulturellen Gesellschafts- und Entwicklungsmodell. Tatsächlich kam es seit Ende der 1970er Jahre und besonders seit den 1990er Jahren in den westlich-kapitalistischen Ländern zu sozioökonomischen und gesellschaftspolitischen Veränderungen, die jedoch letztlich den Charakter eines restaurativen Modellwechsels annahmen. Was sich de facto vollzog, war eine markt-liberale/-radikale Transformation. Sie trug typische Kennzeichen einer gesellschaftlichen Transformation. War sie doch zum einen das Ergebnis komplexen, ambivalenten, aber eben zugleich intendierten Handelns zentraler Akteure. Sie führte zum anderen zur allmählichen Aufhebung des vormals dominierenden Gesellschafts- und Entwicklungsmodells auf nationaler und globaler Ebene. Sie veränderte die diesem Modell wesenseigenen Institutionen, Regeln, Normen und kulturellen Deutungsmuster. Hierbei verknüpften und überlagerten sich auch in diesen Transformationsprozessen Altes und Neues. Schließlich hatte diese Transformation weit reichende Folgen für die individuelle Lebensführung und –weise der Menschen. Makro-, Meso- und Mikroebene waren in diesem Transformationsprozess gleichermaßen erfasst. Eine Analyse des generierten markt-liberalen/-radikalen Gesellschaftsmodells macht dies offensichtlich.
2.2
Das gewandelte Gesellschaftsmodell
Die seit Mitte der 1970er Jahre bis in die jüngste Gegenwart sich vollzogene markt-liberale Transformation führte zur Herausbildung eines neuen Gesell-
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Wandel von Gesellschaftsmodellen
schafts- und Entwicklungsmodells. Dieses ist durch folgende gesellschaftspolitische, sozioökonomische und soziokulturelle Strukturmerkmale gekennzeichnet: Erstens: Gesellschaftspolitisch ist diese Periode eine der Erosion und Zersetzung des sozial-marktwirtschaftlichen Gesellschaftsmodells, der grundlegenden Revision der fordistisch geprägten Teilhabegesellschaft und der Herausbildung eines neuen, eines marktliberalen Gesellschafts- und Entwicklungsmodells. Hinsichtlich der Regulationsweise ist es der Übergang von einer stärker sozialstaatlich geprägten Regulation zu einer stärker marktinduzierten Regulation. Die Umbrucherfordernisse, die anstehenden wirtschaftlichen, sozialen, demografischen, ökologischen und kulturellen Probleme sollten vor allem marktförmig gelöst werden, und wurden es tatsächlich in immer stärkerem Maße. D. h. Forcierung der angebotsorientierten Politik, weitere Liberalisierung der Märkte und insbesondere weiterer Vormarsch der Finanz- und Weltmärkte, weitere Privatisierung und Stärkung vor allem der neuen Unternehmensfigur, der Multis bzw. Global Player in ihrem Konkurrenzkampf um Standortvorteile (niedrige Unternehmenssteuern, Senkung der Sozialstandards, Niedriglöhne). Ein Kennzeichen auf diesem Weg zu einer Markt- und Konkurrenzgesellschaft war ein neuer Schub der „Ökonomie der Enteignung“ (Harvey 2007: 332). Seitdem der sozial geprägte, fordistische Verteilungskompromiss aufgekündigt wurde, kam es zu einer stärkeren Verteilung von unten nach oben, vor allem aber zu einer Privatisierung des Öffentlichen, die letztlich einer Enteignung der Gesellschaft gleichkommt. Das betrifft öffentliche Güter, öffentliche Daseinsfürsorge, öffentliches Eigentum an Wirtschaftsressourcen (u. a. Verkehrsbetriebe, Wasser –und Energieversorgung, Müllentsorgung, Krankenhäuser, Bildungseinrichtungen, kommunale Wohnungsbestände), öffentliche Räume und öffentliche Entscheidungen. Die demokratische Gesellschaft verlor damit eine ihrer wichtigsten Substanzen. Inzwischen hat die Privatisierung auch die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger, die ein wesentliches öffentliches Gut darstellt, erreicht (Eppler 2005). Und nicht zuletzt betrifft es die zentralen Ressourcen des 21. Jahrhunderts – Wissen und Informationen. Verschiedene Autoren nennen das kapitalistische „Landnahme“ nach innen; ein seit der Krise des Fordismus fortschreitender Prozess. Gestärkt wird in diesem Modell die kapitalistische Ökonomie, geschwächt werden die Gesellschaft, die Öffentlichkeit, die Demokratie, das Gestaltungspotenzial der Politik und des Staates. Der Staat entwickelt sich unter diesen neuen Marktverhältnissen vom Wohlfahrts- und Sozialstaat zum Wettbewerbsstaat, der die Rahmenbedingungen für die Standortkonkurrenz der Multis und Finanzmarktinstitutionen schaffen soll. Gleichzeitig verstärken sich seine autoritären Züge und die Tendenzen der Herausbildung eines „Sicherheits- und Ordnungsstaates“.
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Zweitens: Ökonomisch betrachtet hat in diesem Zeitraum der „Finanzmarktgetriebene Kapitalismus“ den „Fordistischen Kapitalismus“ abgelöst. D. h., dass sich das kapitalistische Verwertungssystem grundlegend wandelte: von der Dominanz der Kapitalverwertung in der Produktion zur Dominanz der Kapitalanleger. Es entstand ein Verwertungsmodell, das Gewinne vor allem außerhalb der realen wirtschaftlichen Entwicklung sucht. Es vollzog sich mithin die Umkehrung des Verhältnisses von Produktions- und Finanzkapital. Das Finanzkapital wurde zum bestimmenden Strukturelement des Kapitalismus national und global. Der Finanzmarktkapitalismus verändert die Entwicklung der Gesellschaft als Ganzes, von den Unternehmen über die Einkommensverteilung, den Sozialstaat bis zur Lebensweise. Eingeleitet wurde dies alles durch politische Entscheidungen: Der Wechselkurs des Dollar wurde freigegeben, das Währungssystem von Bretton Woods außer Kraft gesetzt, der internationale Kapital- und Devisenverkehr dereguliert. Wirtschaftstheoretisch war es eine Zeit, da sich der Neo-Liberalismus als bestimmende Lehre gegenüber dem Keynesianismus, der einst die Klassik ablöste, durchsetzte. Drittens: Dieses neue Entwicklungsmodell ist gesellschaftlich und sozial durch eine sukzessive Aufhebung und Revidierung der „Fordistischen Teilhabegesellschaft“ und die Herausbildung einer allgegenwärtigen „Konkurrenzgesellschaft“ gekennzeichnet. Dieser sich allmählich vollzogene Modellwechsel geht mit neuen sozialen Problemlagen einher, die sich allgemein aus der Umbruchsituation und im Besonderen aus den gewählten Lösungswegen ergeben. Dieser neue Typ sozialer Probleme, der sich von den Problemlagen der fordistischen Teilhabeentwicklung unterscheidet, ist charakterisiert durch die Vielfalt unterbrochener Erwerbsverläufe, durch Arbeitslosigkeit, durch Einschränkungen im Einkommen, im Konsum und der Lebensführung, in der Teilhabe an Bildung, Kultur, sozialen Kontakten. Es betrifft keineswegs alle Schichten der Bevölkerung, aber zunehmend immer mehr. Als den entscheidenden Unterschied, als die Grenzlinie zwischen beiden Modellen sieht Paul Krugman für die USA das Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit. „New Deal“ sei durch ein hohes Maß an sozialer Gleichheit, Sicherheit und Teilhabe auch der abhängig Beschäftigten am sozialen Fortschritt gekennzeichnet gewesen. Die darauf folgende „neokonservative Wende“ (im amerikanischen Sprachgebrauch steht „neokonservative Wende“ für das, was in Europa als „neoliberale Wende“ bezeichnet wird) sei vor allem durch eine zunehmende und sich immer weiter vertiefende soziale Ungleichheit und soziale Verunsicherung charakterisiert (Krugman 2008: 138 ff.). Letzteres habe die gesamte Gesellschaft, so Krugman, nachträglich verändert, ihren sozialen Zu-
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Wandel von Gesellschaftsmodellen
sammenhalt ausgehöhlt und traditionelle Werte der Gerechtigkeit und Solidarität verdrängt. Die modernen Produktivkräfte eröffneten eigentlich nie zuvor erreichte Möglichkeiten des Wohlstands und der Verhinderung der tiefen sozialen Spaltungen in den MBK-Gesellschaften und im globalen Maßstab. Tatsächlich aber partizipierten an dieser Produktivkraft-Revolution in den letzten drei Jahrzehnten nur wenige – zuerst die Global Player, die Multis, vor allem die Träger des Finanzmarkt-Kapitalismus wie die wenigen Superbanken, die großen Anlegefonds, die Hedge-Fonds. Aber auch Teile der Oberschichten und einige Segmente der Mittelschichten konnten daraus bislang Nutzen ziehen. Doch die immer weiter zunehmende globale Markt- und Verdrängungskonkurrenz verschärfte den Druck auf die abhängig Beschäftigten, nicht zuletzt auf den größten Teil der Mittelschichten und vertiefte weltweit die sozialen Gegensätze und Gräben. Die kleine globale Geldmachtelite verfügte 2007 über ein reines Finanzvermögen von 42,2 Billionen Dollar. Auf dem anderen Pol der gespaltenen Weltgesellschaft befinden sich die Lohnabhängigen, die prekär Beschäftigten, vor allem die ohne Arbeit und die ganz Armen. 1,4 Mrd. Menschen gelten heute als working poor (vgl. Klein 2008: 137). Und über 1,2 Mrd. Menschen kämpften zur Jahrtausendwende mit weniger als 1 US-Dollar Tageseinnahmen ums Überleben, und 2,8 Mrd. leben von weniger als 2 Dollar am Tag (UNDP 2003: 51). 800 Millionen Menschen hungern, weit über 30 Millionen Menschen sterben jährlich weltweit durch Hunger und Krankheiten im Gefolge von Mangelernährung (Ziegler 2005: 102 f.). Die Zahl der Hungernden ist durch die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise allein 2007/2008 um 100 Millionen gestiegen (Sachs, Berliner Zeitung v. 28.2./1.3.2008: 6). Die Globalisierung hat die Welt nicht sozialer, harmonischer, friedlicher gemacht. Im Gegenteil – die Konflikte und Spaltungen nehmen zu, die Sozialität der Weltgesellschaft schwindet, die Risiken und Gefährdungen der menschlichen Zivilisation häufen sich (siehe auch Kap. V.4). Aber auch in den MBK-Gesellschaften vertiefen sich – natürlich auf einer anderen Ausgangsbasis – mit dem Fortschreiten dieses Gesellschaftsmodells die Ungleichheiten. Vor allem ist der „Fahrstuhleffekt“ (Beck) des fordistischen Entwicklungsmodells Geschichte geworden. D. h. die Chance des sozialen Aufstiegs in Abhängigkeit von Leistung, Bildung und Qualifikation. Heute gelingt nur noch wenigen, gerade auch aus den Mittelschichten, dieser Aufstieg. Immer mehr Menschen sind hingegen von sozialem Abstieg bedroht (u. a. Dörre 2008: 3-6, Burzan 2008: 6-12). Im Goldenen Zeitalter des Kapitalismus – in den 1950er bis 1970er Jahren – war ein spezifisches soziales (Selbst-)Bild der westlichen Industrienationen
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mit der Bundesrepublik an ihrer Spitze prägend: „Konfliktenthobene Mittelschichtsgesellschaften“, in denen „Arbeitsplätze und auskömmliches Einkommen für ‚alle’ vorhanden waren, in denen Wohlstandssteigerung und beruflicher Aufstieg für breite Bevölkerungsschichten die zentrale Orientierung bildeten und die – ungeachtet verbliebener Vermögens- und Einkommensunterschiede – über ein hohes Maß an sozialer Kohäsion verfügten, also kaum mehr (oder jedenfalls immer weniger) von Phänomenen der Armut, Marginalisierung und Ausgrenzung betroffen waren“ (Lessenich/Nullmeier 2006: 10). In der markt-liberalen Konkurrenzgesellschaft nehmen hingegen die Tendenzen sozialer Desintegration und Polarisation zu und prägen auch ein neues Bild von der Gegenwartsgesellschaft. Von „nivellierter Mittelstandsgesellschaft“, wie Helmut Schelsky die deutsche Nachkriegsgesellschaft in ihrem sozialstaatlichen Entwicklungsstadium beschrieb, mag heute kaum noch jemand sprechen. Die Studie „Gesellschaft im Reformprozess“, die die Friedrich-EbertStiftung in Auftrag gab und 2006 veröffentlichte, macht vielfältige soziale Milieus und eine weit differenzierte und polarisierte Sozialstruktur in der Bundesrepublik Deutschland aus. Drei der charakterisierten Milieus – „selbstgenügsame Traditionalisten“ (11 Prozent der Gesamtbevölkerung), „autoritätsorientierte Geringqualifizierte“ (7 Prozent) und „abgehängtes Prekariat“ (8 Prozent) – bilden heute das „Unten“ der Gesellschaft. Und 16 Prozent der Bevölkerung zählt die Studie zu der „bedrohten Arbeitnehmer-Mitte“. D. h. insgesamt 42 Prozent der Bevölkerung leben von einem weit unterdurchschnittlichen Einkommen, sind von Arbeitslosigkeit betroffen, z. T. bereits ins soziale Abseits gedrängt oder fühlen sich in ihrem sozialen Status verunsichert (vgl. FES 2006). Diese soziale Spaltung der Gesellschaft ist jedoch nur ein, wenngleich wesentlicher Aspekt dieses zeitgenössischen Gesellschaftsgefüges. Im Buch „Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft“ beschreiben Soziologen 17 verschiedene Konflikt- und Spaltungslinien, darunter die zwischen „Arm-Reich“, „Beschäftigt-Arbeitslos“, „Sicher-Prekär“, „Kapital-Arbeit“, „Frauen-Männer“, „Elite-Masse“, „Ost-West“, „Deutsche-Ausländer“, „Links-Rechts“, „Gewinner-Verlierer“ (Lessenich/ Nullmeier 2006). Die Diagnose bloß nebeneinander existierender Spaltungen, die nicht kumulieren und sich nur überlagern und in ihrer politischen und sozialen Sprengkraft sich eher gegenseitig neutralisieren (Nolte 2006), unterschätzt, so die Autoren, die potenziellen Wirkungen wachsender sozialer Ungleichheit (Lessenich/Nullmeier 2006: 16). Diese zunehmende gravierende Ungleichheit ist mit einer demokratisch verfassten Gesellschaft, ist mit Teilhabe und den kulturellen Wertorientierungen der klassischen Moderne von Freiheit und Gleichheit, Leistung und Solidarität nicht vereinbar.
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Die Marktradikalisierung und die damit verbundenen vielfältigen Spaltungen der Gesellschaft führen zu einer schleichenden Zerstörung der Solidarbeziehungen, dem Fundament eines integrierten sozialen Gemeinwesens. Bestimmend wird die Allgegenwart einer Konkurrenz (Rosa 2006), die sich nicht mehr nur auf die Privatwirtschaft und die durch sie bestimmten Einkommenslagen erstreckt. Sie bezieht sich heute im Prinzip auf alle Felder, auf das Wirtschaftliche, Politische, Soziale, Kulturelle. „Deutschland ist auf dem Weg zu einer Konkurrenzgesellschaft“, schreiben Lessenich/Nullmeier, „- einer Gesellschaft, die noch den Sicherungsformen der berufsständischen Privilegierungen und korporatistischen Schließungen nachtrauert, sich ansonsten aber auf den Marktkampf in all seinen Varianten einzustellen begonnen hat“ (Lessenich/Nullmeier 2006: 19). Bezeichnungen der sich verändernden Gesellschaft als Informations-, Dienstleistungs- oder Wissensgesellschaft helfen nicht weiter, weil sie lediglich die technisch-ökonomische Basis gesellschaftlicher Entwicklungen hervorheben, die soziale und politische Ungleichheit außer Acht lassen. Das Typische der Entwicklung in der Gesellschaft sei hingegen, so Lessenich/Nullmeier, die allseitige Dominanz von Konkurrenz. Deshalb sprechen sie von der Existenz vielschichtiger „Konkurrenzgesellschaften“ innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft. Sie grenzen diese von einer „Klassengesellschaft“ ab und betrachten sie als „Spaltprodukt der Krise der Lohnarbeitsgesellschaft“ der 1970er Jahre, wo sich inzwischen die „Integrations- und Sicherheitsstrukturen dieser Vergesellschaftungsformen (auf-)lösen“ (ebd.: 21). Konkurrenz im sozialen Verhalten wie im Denken, in öffentlichen Diskussionen wie in privaten Gesprächen sei die Folge. Das ist kaum zu bestreiten. Doch führt die Durchkapitalisierung der Gesellschaft neben der Vervielfältigung der Konfliktlinien zugleich zu Tendenzen gewisser Vereinheitlichung. Soziale Differenzierung geht mit sozialer Polarisierung und mit Vereinheitlichungstendenzen in den Konfliktsichten und –mustern einher. Beide Seiten bilden in den MBK-Gesellschaften eine widerspruchsvolle Gemengelage und unterscheiden sie vom vorangegangenem (fordistischen) Gesellschafts- und sozioökonomischen Entwicklungsmodell. Viertens: Der Weg zur und die weitere Beförderung einer „Markt- und Konkurrenzgesellschaft“ ist soziopolitisch mit der Erosion der Demokratie und ihrer institutionellen wie ihrer normativen Grundlagen verbunden. Stärkung der Marktgesellschaft konnte schwerlich ein höheres Maß an gesellschaftlichem Wohlstand, gesellschaftlichem Wohlbefinden, gesellschaftlicher Partizipation hervorbringen, wenn Konkurrenz, Ungleichheit, soziale Desintegration zunehmen. Unten führte dies zur tendenziellen Abwendung von der Demokratie und ihren klassischen Repräsentationsformen; Oben zu Appellen an mehr „Wir-Gefühl“ und „Gemeinschaftlichkeit“, mehr „Disziplin“ und „An-
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stand“. Und, wenn diese Appelle nicht fruchten, schon weil die Folgen der Politik das Gegenteil (mehr Konkurrenz, Ungleichheit, soziale Desintegration) bewirken, zu verstärkter Kontrolle, zu Zwang bis hin zu Elementen der Repression. Markt- und Konkurrenzgesellschaft verändert das Gemeinwesen substantiell. Der Staat wandelt sich tendenziell zu einem hierarchischen Ordnungsstaat. Legitimation und Zustimmung sollten nun (gerade in der Bush-Ära) erreicht werden durch die Überzeugung von den Gefahren des Terrorismus und die Propagierung neuer, konservativer Werte in Bezug auf Nation, Geschichte, Religion, Tradition (Harvey 2007: 64). Das soziale Selbst-Bild vom gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft wandelt sich in der Bevölkerung. So halten z. B. drei Viertel aller Deutschen die wirtschaftliche und soziale Situation in der Bundesrepublik für ungerecht. Die soziale Marktwirtschaft befindet sich seit längerem in einer schweren Legitimationskrise. Und auch die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in der Bundesrepublik ist seit Jahren rückläufig und bewegt sich bei knapp über 50 Prozent in West- und rund 30 Prozent in Ostdeutschland (vgl. Allbus 2002, 2006; Datenreport 2006; Falter et. al. 2006: 57 ff.). Fünftens: Der Modellwechsel war soziokulturell zugleich gekennzeichnet durch einen Wandel der die Gesellschaft prägenden Deutungsmuster. Statt Leitbilder wie „Wohlstand für alle“, „Sicherheit“, „Vollbeschäftigung“, „Aufstieg durch Leistung“, „Teilhabe“ dominierten nunmehr solche wie „Unsicherheit“ als positiver Wert, „fairer Chancenwettbewerb“, „Individualisierung“, „Liberalisierung“, „Freizügigkeit“; kurzum der „flexible Mensch“ (Sennett), der sich dem marktgesteuerten Wandel permanent anpasst und als „Unternehmer seiner Arbeitskraft“ fungiert. Im Vergleich zum sozialen Selbst-Bild des Goldenen Zeitalters des Kapitalismus der 1950er bis 1970er Jahre hat sich auch in der Bevölkerung selbst das soziale Bild der Gegenwartsgesellschaft beträchtlich verändert. Anstelle der „Teilhabegesellschaft“, der „konfliktenthobenen Mittelschichtgesellschaft“ mit ihrer bestimmenden Tendenz der Wohlfahrtssteigerung, des sozialen Aufstiegs für breite Bevölkerungsschichten und der sozialen Kohäsion tritt das Bild einer tief „gespaltenen Gesellschaft“ mit wirkungsmächtigen sozialen und politischen Konfliktlinien, einer Gesellschaft sozialer Ungleichheiten, sozialen Ausschlusses und zunehmender sozialer Ungerechtigkeit (vgl. u. a. Datenreport 2006; Falter et. al. 2006). Gerade an diesem Wandel der gesellschaftlichen Leitbilder und kulturellen Deutungsmuster wird die tief greifende Transformation des Gesellschafts- und Entwicklungsmodells seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts deutlich;
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vielleicht noch mehr als an den ökonomischen, gesellschaftspolitischen, sozialstrukturellen Wandlungsprozessen. Diese Entwicklung, hier idealtypisch verallgemeinert, vollzog sich zuerst in den USA, in Großbritannien, dann aber auch in ganz Westeuropa. Das geschah jedoch nicht nur ungleichzeitig, sondern auch ungleichmäßig. In Deutschland zum Beispiel setzte dieser Wandel – im Vergleich zu den USA und Großbritannien – nicht nur später ein, er hat auch das alte „Modell Deutschland“ nicht völlig umgestülpt. Und gerade die skandinavischen Länder haben sich nach unterschiedlichen markt-liberalen Anpassungsprozessen als spezifische Modellvariante eines wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus herausgebildet (s. Kap. V.3.6). Doch insgesamt entstand im Anschluss an die Krise und Erosion des Modells einer fordistischen Teilhabegesellschaft in den USA, Kanada, Australien, Großbritannien und den verschiedenen westeuropäischen Ländern ein gesellschaftliches Modell, das m. E. als „Markt- und Konkurrenzgesellschaft“ verallgemeinert werden kann. Dieses gesellschaftliche Entwicklungsmodell ist bei allen Ambivalenzen, Unterschieden, spezifischen Formen und Varianten durch einige konsistente Strukturmerkmale gekennzeichnet. Das betrifft – wie gesagt – die Wirtschaftsweise, das Regulationssystem, die sozialen Integrationsmechanismen und die soziokulturellen Deutungsmuster. Diese verschiedenen Strukturelemente stehen nicht lose nebeneinander, sondern sind als spezifische Prozessstrukturen miteinander verbunden und bedingen sich wechselseitig. Sie kreieren eine spezifische Entwicklungsweise und -richtung auf nationaler, europäischer und globaler Ebene.
2.3
Modell-Krise und Entwicklungsszenarien
Die Stärken des markt-liberalen/-radikalen Modells – eine lange währende Reproduktionsfähigkeit durch Entfaltung von Evolutions- und Innovationspotenzialen, politische Stabilisierung durch soziale Bindungen von Ober- und Teilen der Mittelschichten, Wandel der Lebensweisen durch neoliberale Individualisierung und Selbstentfaltung – erwiesen sich zugleich als seine Schwächen. Evolutionspotenziale verwandelten sich in Destruktiv- und Zerstörungspotenziale, politische Stabilität in zunehmende Instabilität, Individualisierung in Auflösung des sozialen Zusammenhalts und des sozialen Gemeinwesens. Die großen Versprechen des Neoliberalismus – durch Privatisierung, Liberalisierung, Deregulierung und Individualisierung ungebrochenes Wirtschaftswachstum, Wohl-
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standsschübe, soziale Stabilität, Entfaltung aller kreativen Potenziale der Menschen zu induzieren – erfüllten sich nicht. Auf dem Höhepunkt der marktradikalen Entwicklung geriet diese seit 2007 in ihre bislang größte Krise. Im Herbst 2008 trat der plötzliche Bruch zutage. Was nun als internationale Finanzmarktkrise aufbrach, erweist sich immer mehr als eine Krise des sich seit Mitte der 1970er Jahre herausgebildeten und schließlich international dominierenden Gesellschafts- und Entwicklungsmodells. Ein immer geringerer Teil des Kapitals wurde in neue Produktionskapazitäten eingesetzt, ein immer größerer in Finanzanlagen. Die Verwertungsinteressen des bestimmenden Finanzkapitals gerieten in einen fundamentalen Gegensatz zu den realen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsnotwendigkeiten. Die Finanzwirtschaft wurde zur Bedrohung der Realwirtschaft, wofür das Platzen der Blasen in der so genannten New Economy, im Immobilienbereich, im Sektor der Lebensversicherung und vor allem in der Finanzwirtschaft selbst sprechen. Zugleich bleiben die Investitionen in die Infrastrukturen der Bildung, in das Gesundheitssystem, in die Kultur immer weiter zurück. Die Folge dieser Widersprüche ist eine neue Überakkumulationskrise einerseits und eine Unterakkumulation bei der Entwicklung und Erneuerung der wichtigsten Felder sozialer Reproduktion andererseits. Die ökonomische Basis des marktradikalen Gesellschafts- und Entwicklungsmodells begann zu wanken. Vor allem aber konnten die Grenzen des fordistischen Entwicklungsmodells im entscheidenden Bereich der Reproduktion nicht wirklich überwunden werden. Die Expansion des Ressourcen- und Energieverbrauchs hat sich weiter beschleunigt. Damit verschärfte sich die ökologische Reproduktionskrise, die bereits im Fordismus heraufbeschworen wurde. Verbesserungen der Gewinnraten durch Druck auf Löhne und Sozialausgaben und durch Nutzung der Arbeitslosigkeit, Minimierung der sozialen Leistungen des Staates auch durch Ausschluss „überflüssiger“ Bevölkerungsteile bei gleichzeitigen Steuersenkungen für die großen Unternehmen haben die soziale Frage in neuer Form wieder auf die Agenda gebracht, neue soziale Spaltungen der Gesellschaft national und global produziert und zu einer Krise der sozialen Integration geführt. Die verstärkte globale Ausbreitung der liberalen Demokratie – ein Kennzeichen gesellschaftlichen Wandels – führte jedoch in der Regel nicht zu mehr sozialer, politischer und wirtschaftlicher Teilhabe der Mehrheit der Bevölkerung, zu mehr Wohlstands- und Sicherheitsgewinnen. Enttäuschte Erwartungen in eine friedvolle, wirtschaftliche und soziale Entwicklung haben die Legitimität auch der politischen Ordnungen untergraben und zugleich zum Ausbau des Sicherheitsstaates geführt, der mit dem „Kampf (Krieg) gegen den Terrorismus“ eine neue Stufe erfuhr. Zugleich werden Rohstoffe, Wasser, Zugang zum Meer,
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Wandel von Gesellschaftsmodellen
kulturelle Identität nicht nur zu Waren degradiert, sondern zugleich zum Gegenstand gewaltförmiger Auseinandersetzungen. Die Mitte der 1970er Jahre eingeleitete Umbruchperiode war eben im Kern durch eine markt-liberale/-radikale Transformation gekennzeichnet. Trotz einzelner innovativer Entwicklungsmomente ist sie in ihrem Wesen eine regressive Reaktion auf die neuen Umbruchherausforderungen. Sie vermochte nicht zu lösen, was historisch anstand: einen neuen sozial-ökologischen und solidarischen Entwicklungspfad einzuleiten. Die neuen, modernen Technologien erlaubten den Einstieg in eine nachhaltige, sozial-ökologische Entwicklung. Tatsächlich führen sie unter Bedingungen ungezügelter globaler Marktkonkurrenz zu einer schweren Belastung des Verhältnisses von Gesellschaft und Natur. Die Natur ist durch den Menschen immer stärker beeinflusst, verändert, beherrscht worden. Die Gleichgewichte zwischen Gesellschaft und Natur werden untergraben, die Reproduktionslogik und der Eigensinn der Natur der Verwertungslogik des Kapitals untergeordnet. Dies hat die ökologischen Kreisläufe gefährdet und oft zusammenbrechen lassen und zu Umweltkrisen immer größeren Ausmaßes geführt. Die Natur „schlägt“ auf die Gesellschaft und Wirtschaft zurück. Inzwischen ist eindeutig belegt, dass nur noch eine kleine Zeitspanne bleibt, um eine Umkehr einzuleiten. Ansonsten sind mit der Zerstörung der Natur zugleich soziale Krisen und Katastrophen verbunden (vgl. dazu N. Stern 2006). Die latente Krise des marktliberalen Modells wurde seit längerem offensichtlich. Die Heftigkeit der 2007/2008 aufbrechenden Krise überraschte dann doch allgemein. Entsetzen und verbreitete Ratlosigkeit herrschten in den USA, aber auch in den anderen Zentren der kapitalistischen Welt. Fieberhaft wurde und wird nach Auswegen gesucht. Vor allem der Jahrzehnte lang geschmähte Staat wird zur Hilfe gerufen. Die FAZ titelte: „Der Staat rettet den Kapitalismus“ (FAZ v. 05.10.2008: 38). Freilich nicht ganz freiwillig, eher gezwungener Maßen durch den Druck der Märkte, der Finanzwirtschaft und aus Angst vor den Legitimitätsverlusten des „Systems“. In der Tat – die Krise bringt mit Macht die Frage nach der Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft in die Debatte zurück. Auch für die herrschenden Eliten, denn gegenwärtig ist die Funktionsweise der Märkte an sich gefährdet. Dieser neue Staatsinterventionismus funktioniert nicht mehr im Sinne der bisherigen liberalen Staatseingriffe zur Dynamisierung der Märkte. Das Krisenmanagement und die Ansätze einer Re-Regulierung verweisen eher in die Richtung einer stärkeren staatlichen Kontrolle. Alte neoliberale Glaubenssätze werden deshalb über Bord geworfen und die Notwendigkeit einer politischen Regulierung für funktionierende Märkte wird wieder stärker unterstrichen.
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Die Erschütterungen des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, verbunden mit anderen Krisenelementen (ökologische Krise, soziale Desintegration, Legitimationskrise) einerseits und der neue Staatsinterventionismus andererseits werfen die Frage nach den künftigen Entwicklungsrichtungen auf. Zunächst ist zu betonen, dass es auch und gerade auch in einer Krisensituation verschiedene Entwicklungswege gibt. Welcher künftig tatsächlich zum dominierenden wird, hängt sowohl von den internationalen Rahmenbedingungen ab als auch davon, welche Akteure sich formieren, wie die Kräfteverhältnisse sich verändern und wer den entscheidenden Einfluss auf die grundlegenden gesellschaftspolitischen Entscheidungen gewinnt. Das gilt für die globale Welt, für Europa genauso wie für Deutschland. Gesellschaftliche Transformationen – das lehrt ihre Geschichte – sind eng mit dem eingreifenden Handeln der Akteure und ihren Such- und Lernprozessen verknüpft. Das belegt – wie wir gezeigt haben – sowohl die Entwicklung zum „New Deal“ in den USA und zum sozial- und wohlfahrtsstaatlichen „Teilhabekapitalismus“ in der Nachkriegszeit in Europa wie auch der Übergang zur marktliberalen Transformation und der Herausbildung des Modells der „Markt- und Konkurrenzgesellschaft“. Die Auseinandersetzung um postliberale Entwicklungswege und -formen wird heftig und sie wird eine längere Periode von wahrscheinlich ein bis zwei Dekaden umfassen. Die Institutionen des bislang dominierenden Markt- und Konkurrenzmodells werden offensichtlich noch längere Zeit fortwirken, ähnlich wie nach dem Ende des fordistischen Teilhabemodells. Das Alte stirbt zwar, aber das Neue kann sich noch nicht durchsetzen. In dieser Situation geht es weder heute noch morgen um das „Ende des Kapitalismus“, sondern um Formen, Varianten seiner Gestaltung. Dabei sind gerade in Zeiten zugespitzter Krisensituationen des Kapitalismus immer auch rechtspopulistische, autoritäre „Auswege“ möglich. Die Frage nach dem künftig dominierenden sozioökonomischen und soziokulturellen Gesellschafts- und Entwicklungsmodell rückt in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Gegenwärtig können auf analytischer Ebene m. E. vor allem drei mögliche Entwicklungsperspektiven und -szenarien unterschieden werden: Erstens: „Regulierte Markt- und Konkurrenzgesellschaft“ Das Zusammenfallen einer dramatischen globalen Krisensituation mit den Herausforderungen der neuen Transformation im 21. Jahrhundert hat die historische Situation grundlegend verändert. Das „Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Marktes“ ist tief erschüttert. Auf diese allein zu hoffen, hätte „sehr wahrscheinlich in eine Katastrophe geführt“ (FAZ v. 22.10.2008). Für viele, auch kritische Gesellschaftsanalytiker ist diese neue Ära mit dem Ende des Neoliberalismus gleichzusetzen (Stiglitz, Krugman u. a.).
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Doch ist es in Abhängigkeit von der weiteren Entwicklung und von den künftigen gesellschaftspolitischen nationalen und globalen Kräftekonstellationen durchaus möglich, dass die dominierenden Institutionen und grundlegenden Prozessstrukturen dieses Entwicklungsmodells nur modifiziert und verändert werden, um mit geschmeidigeren und flexibleren Mitteln und Methoden ein gezähmtes marktliberales Modell neu aufzustellen. So könnte eine neokonservative Strategie versucht sein, eine Balance zwischen den „Errungenschaften“ des selbstregulierten, marktliberalen Entwicklungsmodells und den Bedrohungen aus der Krisensituation herzustellen. Auch Neoliberale und Neokonservative setzen, wie gesagt, nun wieder auf den Staat. Nur zu wessen Zweck? Durch aktive staatliche Förderungen sollen die liberalen „Marktchancen“ wieder erhöht und durch eine Sozialstaatspolitik der Einzelne zum „Unternehmer der eigenen Arbeitskraft und Daseinsvorsorge“ veranlasst werden. „Überflüssige“ bleiben weiter ausgeschlossen und werden gerade auch durch repressive Mittel ausgegrenzt. Im Grunde ginge es hier um eine neo-konservative und autoritäre Gestaltung einer Markt- und Konkurrenzgesellschaft, in der der überbordende Neoliberalismus eingeschränkt, vor allem die Angebotspolitik und Renditeerwartungen des großen Kapitals und somit des Finanzmarktkapitalismus auf neue Weise jedoch weiter gestärkt werden und die Politik dafür ein modifiziertes, stabiles Regelwerk auf nationalstaatlicher, europäischer und globaler Ebene schaffen sollte. Durch staatlichen Interventionismus – auch in autoritärer Gestalt – sollen so neue Akkumulationsmöglichkeiten und gesellschaftliche Konsenspotenziale produziert werden. Zweitens: Sozial-Liberales Entwicklungsmodell Sozialliberale Eliten, breite Teile des unternehmerischen Mittelstandes und der sozialen und politischen Mittelschichten, bei Integration eines Teils der Unterschichten, treten für Wachstum, verstärkt auch durch eine sozial-ökologische Entwicklung ein. Dem soll auch ein neuer Mix von Marktregulierung und staatlicher Intervention dienen. Mit diesem Entwicklungsmodell wird eine „angemessene“ soziale Teilhabe der Beschäftigten angestrebt, wobei der Sozialstaat jedoch in einen vorsorgenden und „aktivierenden Sozialstaat“ umgewandelt werden soll. Gleichzeitig wird für den Ausbau des Wettbewerbstaates plädiert, damit im internationalen Standortwettbewerb mitgehalten werden kann. Dieses Entwicklungsmodell setzt auf eine stärkere Förderung des Mittelstandes, ohne größere Belastung der Multis und Global Players. Die soziale Desintegration der Gesellschaft soll eingeschränkt und möglichst eine soziale Kohäsion – auch
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durch neue Formen der Teilhabe – erreicht werden. Die Globalisierung soll sozialer gestaltet werden. Im günstigsten Fall könnte hieraus ein sozialökologisch regulierter „grüner Kapitalismus“ („Green New Deal“) entstehen. Zweifellos bestehen zwischen beiden politischen Gestaltungsoptionen beachtliche Unterschiede, die für die Frage nach dem künftigen Modell gesellschaftlicher Entwicklung, nach dem zukünftigen Entwicklungspfad von nicht zu unterschätzender Relevanz sind. Dabei bietet die sozial-liberale Gestaltungsoption Ansatzpunkte und Übergänge zu einem neuen Entwicklungspfad, zu einem Entwicklungsmodell, das wir aus guten Gründen als Modell „Nachhaltige Solidargesellschaft“ (vgl. Kap. V.3) bezeichnen wollen. Dabei sei hier noch einmal betont: Die Auseinandersetzung um die postneoliberalen Entwicklungswege wird eine längere Zeit andauern, in der sich vielfältige und zunächst noch unscharfe Übergänge abzeichnen und ein neues Entwicklungsmodell sich weder in reiner Form noch in allen kapitalistischen Industrieländern – und schon gar nicht gleichzeitig – durchsetzen werden. Für letzteres spricht schon die – trotz Globalisierung und marktliberaler Transformation – historisch entstandenen und auch heute weiterwirkenden ModellVarianten angelsächsischer, kontinental-europäischer und skandinavischer Prägung (s. dazu Kap. V.3.6). Auch wenn wir die möglichen künftigen Entwicklungsmodelle hier in idealtypischer Form zuspitzen, korrespondieren sie dennoch mit der Komplexität und Ambivalenz der gesellschaftlichen Realitäten des beginnenden Jahrhunderts. Die beschriebenen unterschiedlichen Entwicklungstendenzen und -szenarien sind in dieser komplexen gesellschaftlichen Realität des Übergangs angelegt. Und es ist die Frage, welches Modell eine breite gesellschaftliche Unterstützung findet. Das ist heute nicht eindeutig zu prognostizieren.
3
Transformation als Paradigmenwechsel. Das Modell „Nachhaltige Solidargesellschaft“
3.1
Paradigmen- und Modellwechsel
Die Analysen des bisherigen Transformationsgeschehens seit Mitte der 70er Jahre zeigen, dass die Transformations-Frage gerade im 21. Jahrhunderts längst nicht mehr eine des abstrakten theoretischen Denkens ist, sondern vor allem eine der gesellschaftlichen Praxis: Welches Modell, welcher Pfad gesellschaftlicher Entwicklung wird sich längerfristig durchsetzen?
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Auf der Agenda des 21. Jahrhunderts steht ein neuer Entwicklungspfad, dessen Gesellschaftsmodell wir als „Nachhaltige Solidargesellschaft“ bezeichnen. Der historische Hintergrund dieses Pfades und sein sozialer Ursprung ist ein doppelter. Zum einen: Hat bereits die im 19. Jahrhundert einsetzende erste „Große Transformation“ offenbart, dass ein selbstreguliertes Marktsystem sich schließlich Mensch und Natur unterordnet und damit die demokratische Gesellschaft aushöhlt bzw. im Extremfall sogar zerstört (Polanyi), so geht es nun in einer zweiten „Großen Transformation“ des 21. Jahrhunderts darum, solche gesellschaftlichen Bedingungen zu schaffen, wo das Marktsystem den Bedürfnissen von Mensch und Natur untergeordnet wird und ein neuer sozial-ökologischer und solidarischer Entwicklungspfad beschritten werden kann. Zum anderen: Die Erfordernisse eines neuen, durch Nachhaltigkeit und Solidarbeziehungen geprägten Entwicklungspfades sind speziell in der Krise und Erosion des fordistisch-wohlfahrtsstaatlichen Pfades und vor allem in der regressiven Antwort darauf durch die folgende marktliberale und –radikale Transformation begründet. Denn wie wir sehen konnten, hat diese Mitte/Ende der 1970er Jahre einsetzende marktliberale Transformation die historische Herausforderung, steigende Arbeitsproduktivität durch sinkende Ressourceneffizienz zu erzielen, nicht gelöst. Im Gegenteil – die Expansion des Ressourcen- und Energieeinsatzes nahm in einem Maße zu, dass sich die Menschheit einer zugespitzten ökologischen und sozialen Krise ausgesetzt sieht. Es ist mithin diese globale Umbruchsituation, die die Frage eines neuen Entwicklungspfades als praktisch-politische Frage auf die Agenda des 21. Jahrhunderts gesetzt hat. Dies erfordert nicht nur Modifikationen am bisherigen Weg, sondern letztlich einen grundlegenden Modell- und Paradigmenwechsel. Es geht nicht um ein Zurück zur fordistisch-industriellen „Teilhabegesellschaft“, sondern um den Übergang vom Modell der „Markt- und Konkurrenzgesellschaft“ zum Modell einer „Nachhaltigen Solidargesellschaft“. Zukunftsfähigkeit durch Nachhaltigkeit ist das allgemeine Charakteristikum dieses neuen Entwicklungspfades. Sein wesentlicher Inhalt ist der soziale, ökologische, ökonomische und institutionelle Umbau der Gesellschaft (vgl. Spangenberg 2003, 2005), oft auch als „sozial-ökologische Wende“ bezeichnet. Die bislang praktizierte Art und Weise des Ressourceneinsatzes, insbesondere von Energie und Rohstoffen, untergräbt die Bedingungen der Existenz der Menschheit und die Bedingungen weiterer wirtschaftlicher Entwicklung. Der notwendige und mögliche Ausweg ist eine solche Wirtschaft, bei der die Senkung des Ressourceneinsatzes Prinzip wirtschaftlicher Entwicklung und Inhalt wirtschaftlichen Wachstums wird.
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Notwendig ist der Übergang zu einer neuen Wirtschaftsweise, bei der die Effizienzsteigerung des Ressourceneinsatzes mindestens der Größenordnung des wirtschaftlichen Wachstums entspricht und langfristig eine nachhaltige Art der Kopplung von Natur- und Wirtschaftskreisläufen erreicht wird (Land 2008). Es geht damit um einen neuen Typ wirtschaftlicher Entwicklung, im nationalen, europäischen und globalen Maßstab. Dies ist nicht ohne Reform und Neukonstitution des Regulationssystems und der gesellschaftlichen Institutionen möglich. Deshalb bedarf es eines gesellschaftlichen demokratischen Verständigungsprozesses über diese anstehenden Reformen und bewussten, die Transformation befördernden politischen Handelns der Akteure auf den verschiedenen Ebenen. Sozialökologischer Umbau, nachhaltige Entwicklung können deshalb einerseits nur als Projekt demokratischer Partizipation und gesellschaftlicher Teilhabe erfolgreich sein, und andererseits bedarf dieser neue Wachstums- und Entwicklungspfad ein neues Teilhabemodell. „Nachhaltigkeit“ und „Solidarische Entwicklung“ bedingen und durchdringen sich in diesem Ansatz wechselseitig. Eine sozialökologische Reform (z. B. als „Grüner Kapitalismus“, „Ökokapitalismus“) – wie es auch bestimmten neokonservativen Eliten vorschwebt – von Oben zu diktieren und mittels autoritärer Politiken durchzusetzen, kann partielle Erfolge erzielen, entspricht jedoch nicht den globalen Herausforderungen. Eine nachhaltige und solidarische Entwicklung auf der Grundlage eines neuen sozioökonomischen und soziokulturellen Gesellschafts- und Entwicklungsmodells würde weder nur eine Einhegung noch einen radikalen Bruch mit der Moderne bedeuten, sondern ihre kritische Weiterentwicklung, ihre Neujustierung und ihren sozialen und demokratischen Umbau. Letztlich geht es um Transformation als tief greifenden gesellschaftlichen Umbau im globalen Maßstab. Zäsur in der Moderne („Erste Große Transformation“/„Zweite Große Transformation“) und Zäsur im konkret-historischen sozioökonomischen und soziokulturellen Wirtschafts- und Sozialmodell fallen jetzt erstmals zusammen. Das bestimmt die Tragweite des globalen Umbruchs, der globalen Transformation. Der Ausgang einer solchen sozial-ökologischen und demokratischen „Großen Transformation“ im 21. Jahrhundert bleibt dennoch ungewiss. Denn eine solche Transformation ist kein Naturprozess, keine Gesetzmäßigkeit, sondern vor allem abhängig vom Handeln und den Entscheidungen der Menschen, der unterschiedlichen und widerstreitenden Akteure. So, wie diese Gesellschafts-Transformation in ihrem Verlauf und ihren Ergebnissen einerseits als offen zu bezeichnen ist, so sind andererseits heute mit Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit Alternativen zu erkennen und in Umrissen auch zu beschreiben (vgl. Kap. V.3.4). Dass dabei auch ein normati-
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Wandel von Gesellschaftsmodellen
ves Urteil enthalten ist, gehört seit jeher zu den guten Traditionen sozialwissenschaftlichen Denkens. Doch zunächst stellt sich die Frage, wo mögliche Ansätze und mögliche Chancen für einen solchen Paradigmen- und Modellwechsel liegen.
3.2
Gesellschaftliche Ansätze eines Modellwechsels
Analytisch betrachtet liegen die Möglichkeiten und Chancen einer solchen Großen Transformation vor allem im widerspruchsvollen Charakter der – wie es Polanyi beobachtete – mit ihr verbundenen „Doppelbewegung“ begründet (vgl. Kap. IV.1). Marktradikalität ruft früher oder später die Gegenwehr der Gesellschaft hervor. Diese „Gegenbewegung“ der Gesellschaft, in das Marktsystem regulierend und kontrollierend einzugreifen, war bislang nicht dominant, im Gegenteil. Sie hat gerade in jüngster Zeit zugenommen, sowohl institutionellstrukturell als auch in Form öffentlicher Diskurse und sozialer (Gegen-) Bewegungen. Die Ansätze einer alternativen Zukunft können nur in der Gegenwart liegen. Es gilt deshalb – auf praktischer und analytischer Ebene – innerhalb dieser Gegenwart nach einer alternativen Zukunft zu suchen. Zugleich wird die Dynamik der Doppelbewegung in der Marktgesellschaft Ansätze und Keimformen alternativer institutioneller und sozialer Strukturen, Regeln, Prozesse hervorbringen, die auf den Übergang zu einem anderen, neuen Modell gesellschaftlicher Entwicklung drängen. Ohne das eingreifende Wirken von gesellschaftlichen Akteuren können sich diese aber nicht etablieren. Die potenzielle Möglichkeit verschiedener Wege gesellschaftlicher Entwicklung liegt aus unserer Perspektive zunächst in der institutionellstrukturellen Differenz moderner bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften. Hierbei folgen wir dem dargelegten theoretisch-konzeptionellen Ansatz, dass spezifische Gesellschaftsmodelle gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungsmuster sind, die die Funktionalität und Richtung der sozioökonomischen Entwicklung maßgeblich beeinflussen. Wir blenden dabei in keinster Weise die überragende Rolle der kapitalistischen Verwertungsbedingungen für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung aus, sehen in diesen aber auch nicht von vornherein die alleinige bzw. die a priori dominante Struktur, die die gesamte Entwicklungsrichtung der MBK-Gesellschaften bestimmen muss. Anstelle einer monolithischen Perspektive auf die komplexe bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft bietet sich mit der Differenzierung von Kapitalismus und Moderne, von Wirtschaft-Staat-Gesellschaft-Kultur und Natur ein Konzept an, das Gesellschaft als Vielfalt widerstreitender Sektoren, Interessen und Tendenzen sieht.
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MBK-Gesellschaften sind in ihrer Wechselwirkung und Auseinandersetzung von kapitalistischem Markt, Herrschaftsverhältnissen und Vergesellschaftungsformen, von Staat, Demokratie, Öffentlichkeit und ziviler Gesellschaft zu betrachten und zu analysieren. Seit langem kann jedoch von einem Kompromiss, von einer Balance zwischen kapitalistischen Markt, demokratisch legitimierter politischer Gestaltungskraft des Staates und einer starken demokratischen Gesellschaft keine Rede sein. Der sich radikalisierende Markt hat seit Mitte der 1970er Jahre auf nationaler, europäischer und globaler Ebene allmählich die Dominanz erlangt. Tendenziell wird damit das Moderne–Projekt, wenn dieser Entwicklung nicht Einhalt geboten und sie letztlich nicht umgekehrt wird, auf den Kapitalismus reduziert: Durchkapitalisierung der gesamten Gesellschaft, deren Abhängigkeit von den Verwertungsbedingungen der Ökonomie statt Dominanz der Gesellschaft, der Demokratie, der Menschenrechte und Selbstbestimmung der Bürger. Die Gesellschaft als Vielfalt gegensätzlicher und widerstreitender Interessen und Tendenzen ist dem Marktradikalismus jedoch nicht bedingungslos ausgesetzt. Die zunehmende Zerstörung der funktionalen und sozialen Balancen, die damit einhergehenden Gefährdungen der Systemstabilität, der Gesellschaft als Ganzem, führte und führt inzwischen verstärkt zu endogenen und exogenen Gegenbewegungen. Diese tendieren sowohl zur Wiederherstellung des alten Gleichgewichts mit bestimmten Modifikationen wie auch zur Neukonstruierung der Prozessstrukturen, d. h. zum Wandel des Verhältnisses von Wirtschaft, Gesellschaft, Natur und Kultur. Soziopolitischer Ausgangs- und Bezugspunkt eines solch tief greifenden Wandels ist, dass die zivile Gesellschaft sich auf ihre freiheitlich-demokratische Ursprungsidee und Konstitution besinnt und die Rahmenbedingungen für die Entwicklung, für die allgemein verpflichtenden Ziele und damit für die gesellschaftliche Partizipation schafft. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Gesellschaft von ihren Mitgliedern selbst gestaltet und somit befähigt wird, die anderen verselbstständigenden Mächte (Finanz- und Geldmacht, administrative Staatsmacht) demokratisch zu dominieren und sozial zu regulieren sowie das Verhältnis zur Natur neu zu gestalten. Wir nennen das Emanzipation der Gesellschaft durch Emanzipation, durch Selbstbestimmung ihrer Bürger als Gegenmodell zur marktliberalen und -radikalen Konkurrenzgesellschaft mit ihrer Unterordnung von Gesellschaft und Natur unter das Rendite-Prinzip und ihrem Hang zum Autoritären. Das dies alles ein langwieriger und konflikthafter Prozess sein wird, steht außer Frage. Ein neues Entwicklungsmodell ist jedoch nicht nur ein normatives Ziel, sondern entspricht letztlich den inneren Bedürfnissen der sozioökonomischen und -kulturellen Entwicklung einer zukunftsfähigen Gesellschaft.
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Wandel von Gesellschaftsmodellen
Im marktliberalen Entwicklungsmodell wird die Gesellschaft zum Anhängsel des kapitalistischen (Finanz-)Marktes und damit führen letztlich ökonomische Innovationen zu gesellschaftlichen und kulturellen Stagnationen, was die gesamtgesellschaftliche Entwicklung blockiert. Wenn wir hier Gesellschaft vor Staat setzen, dann, um die Prioritäten des Wandels zu verdeutlichen, nicht um einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen beiden – wie so oft im sozialwissenschaftlichen Diskurs – zu konstruieren. Konflikte, Akteure und Gegenbewegungen beider Subsysteme werden das Transformationsgeschehen bestimmen. Denn eine Transformation ist z. B. nicht ohne neue Institutionen, soziale Regeln, nicht ohne demokratisch legitimiertes Eingreifen des Staates denkbar. Aber nur wenn die demokratische Gesellschaft ihre Macht zurück gewinnt, die rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen und die zivilgesellschaftlichen Strukturen gegenüber den administrativen und exekutiven dominieren, die politische Repräsentation sich auf der Höhe der realen gesellschaftlichen Gegensätze befindet, sich also die Prozessstrukturen selbst grundlegend wandeln, hat diese Transformation von der „Marktliberalen Konkurrenzgesellschaft“ zur „Nachhaltigen Solidargesellschaft“ Aussicht auf Erfolg. In einem solchen gesellschaftlichen Prozess kann dann auch der sich verändernde Staat eine progressive Rolle im Transformationsgeschehen spielen. Dabei ist Gesellschaft selbst ein widerspruchsvolles Wechselspiel von „bürgerlicher“ und „ziviler“ Gesellschaft, von unterschiedlichen und gegensätzlichen Interessen. Von einer etwas anderen, damit aber eng verbundenen Perspektive betrachtet, kann dieser Transformationsansatz auch als eine Umkehr der Prioritätenliste der Rechte verstanden werden. Wenn es gelänge, die so genannten „abgeleiteten Rechte“ – wie sie auch in der UN-Charta niedergelegt sind – also die Freiheitsrechte, die Rechte von Ausbildung, Erziehung, von wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit, des gleichberechtigten Zugangs zu den globalen öffentlichen Gütern, zu den „primären Rechten“ und die primären Rechte des Privateigentums und der Profitrate zu abgeleiteten umzudefinieren und praktisch zu handhaben, stellte dies die bisherigen hegemonialen Praktiken des Neoliberalismus infrage und „würde dies auf eine Revolution politisch-ökonomischer Praktiken von großer Bedeutung hinaus laufen“ (Harvey 2007: 60). Für die Wege zu dieser Transformation ist wichtig, dass ihre Erfordernisse in den sich wandelnden gesellschaftlichen Stimmungslagen durchaus eine Entsprechung finden. Nicht nur im globalen Maßstab, sondern auch in der westlichen Welt und in Deutschland selbst. Nach dem Fortschreiten eines wirtschaftsliberalen Modells in den letzten Jahrzehnten und der Erosion des solidarischen Sozialmodells der alten Bundesrepublik zeigen sowohl repräsentative Umfragen (im Längsschnittverfahren) sowie Analysen der werteorientierten Konfliktstruk-
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turen veränderte gesellschaftspolitische Präferenzen in der Bevölkerung. Der Wert „Marktfreiheit“ geht zurück, die Werte „Sicherheit“ und „Gerechtigkeit“ gewinnen zunehmend an Bedeutung. „Die Zeit“ betitelte ihre große Umfrage gar mit „Deutschland rückt nach links“ (Die Zeit, 9. August 2007). Mit diesen Veränderungen in den gesellschaftlichen Stimmungslagen entsteht der Boden für eine Öffentlichkeit, die soziale und ökologische Transformation nun eher einfordert und auch eher ermöglicht. Nur noch ein kleiner Teil der Deutschen hält die wirtschaftlichen Verhältnisse im Lande für gerecht. Zwei Drittel erwarten, dass der Staat mehr für soziale Gerechtigkeit tut, stärker eingreift und umverteilt. Mehr als 80 Prozent sehen in zukunftssichernden Reformen der sozialen Sicherungssysteme den Schlüssel für Generationengerechtigkeit – und dies noch vor der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise (Die Zeit, 9. August 2007; FAZ, 18. Juli 2007 und 11. Dezember 2007). Andererseits besteht in Zeiten akuter Krisensituationen immer eine Tendenz, dass die Orientierung an „Sicherheit“ die nach „Gerechtigkeit“ überlagert, zeitweilig auch verdrängt. Doch auch auf der Ebene der werteorientierten Konfliktlinien – Marktliberalismus vs. Sozialstaatlichkeit/soziale Gerechtigkeit, Autoritarismus vs. Libertarismus – verordnete sich in den letzten Jahren eine Mehrheit in Deutschland auf der Ebene Soziale Gerechtigkeit, Sozialstaatlichkeit und Libertarismus. Dies differenziert sich nach den einzelnen sozialpolitischen Milieus (FES 2006, Neugebauer 2006). Wie diese Studie der FES über die soziopolitischen Milieus belegt, tendieren die gesellschaftlichen Einstellungen einer Mehrheit in Deutschland – bestehend aus Teilen der Ober-, Mittel- und Unterschichten – zu einem solidarischen, sozialen und freiheitlichen Modell gesellschaftlicher Entwicklung. Das belegen auch andere sozialwissenschaftliche Untersuchungen über die Präferenzen verschiedener Ordnungsmodelle in der deutschen Bevölkerung (Vester 2005: 67). Damit ist noch kein einheitliches Konzept einer nachhaltigen und solidarischen sozialen Gesellschaft (Leit- bzw. Ordnungsmodell) vorgezeichnet. Dies muss erst in der Gesellschaft – und in akuten Krisenzeiten um so mehr – ausgekämpft und ausgehandelt werden, denn die mehrheitliche Befürwortung eines sozialen und solidarischen Modells verteilt sich dann auf verschiedene Varianten seiner spezifischen Gestaltung (ebd.: 66/67). Dabei ist bemerkenswert, dass im Grundverständnis der meisten Milieus das Sozialmodell nach dem Prinzip von Leistung, Eigenverantwortung und sozialer Teilhabe, Absicherung, Solidarität verstanden wird. Es geht hierbei stets um Gegenseitigkeit und soziale Balance. Kulturell-mental und damit in der öffentlichen Meinung – im Unterschied zur veröffentlichten – gibt es mithin ebenfalls bemerkenswerte Wandlungen. Wenn solche Grundüberzeugungen in der Bevölkerung sich verfestigen, weiter
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ausprägen und vor allem öffentlich manifestieren, können wohl auch die politischen Eliten in ihrem Handeln sich langfristig nicht ungestraft von diesen lösen. Wandlungen in der zivilen Gesellschaft und in der politischen Öffentlichkeit waren z. B. auch in den USA Voraussetzung für die politisch-administrative Entmachtung der Neokonservativen und den Wahlsieg Obamas. Neben strukturell-institutionellen und kulturell-mentalen Faktoren gewinnt weltweit auch eine soziale Gegenbewegung zur Eindämmung des marktradikalen Systems und des Übergangs zu progressiven Transformationen an Konturen. Sie war bereits vor Ausbruch der Krise 2007/2008 existent. Charakteristisch für diese soziale Gegenbewegung ist ihre Breite, Vielfalt und unterschiedliche politische Ausrichtung. Das marktradikale System hat auf nationaler und globaler Ebene seit längerem den Boden für eine Fülle von oppositionellen Bewegungen bereitet, in denen sich Arbeitnehmer, Kleinunternehmer, Bauern, Studenten, Intellektuelle zusammenschließen. Viele von diesen Bewegungen unterscheiden sich von den arbeitnehmerorientierten Bewegungen der Vergangenheit, in denen es vorrangig um Lohn- und Arbeitszeitfragen ging. Letztere spielen mit der Revitalisierung der sozialen Frage auch heute wieder eine bedeutende Rolle, aber die Art und Weise der Globalisierung, die Ökonomie der Enteignung, die neue Umweltzerstörung haben den Fokus in diesen neuen Bewegungen zugleich verbreitert und verändert. Diese neuen Bewegungen bezogen und beziehen ihre Stärke aus der Einbettung in die Konflikte des Alltagslebens und der „Nahwelt“, die im Zeitalter der Globalisierung jedoch immer enger mit der „Fernwelt“ zusammenrücken. Es sind Protestbewegungen, die doch zugleich auch Alternativund im gewissen Sinne Zukunftsbewegungen („Eine andere Welt ist möglich“) sind. Wir nehmen sie unter anderem wahr als „Globalisierungskritische Bewegungen“, als „Umweltschutzbewegungen“, als „Bewegung landloser Bauern“, „Antiprivatisierungsbewegungen“, und „Bewegungen zum Erhalt der öffentlichen Güter“. Auch ihre Forderungen sind vielschichtig: Soziale und demokratische Globalisierung von unten, soziale Gerechtigkeit durch grundlegende Reformen der mächtigen Institutionen wie des IWF, der WTO und der Weltbank, fairer Welthandel, Schaffung angemessener und gesunder Umweltbedingungen, gleichberechtigter Zugang zu den gemeinschaftlichen Ressourcen und deren demokratische Kontrolle, Kooperation statt Konfrontation, politischer Dialog und Abrüstung statt Kriegsrhetorik und Inszenierung „alter“ und „neuer“ Kriege. Viele dieser Bewegungen konzentrieren sich vorwiegend auch auf lokale und regionale Räume und beginnen Experimente mit neuen Produktions- und Konsumweisen. Vorrangig entstehen diese Bewegungen aus und in der zivilen Gesellschaft – sowohl auf nationaler wie globaler Ebene. Sie bedienen sich – wenn überhaupt – einer Vielzahl von Theorien, wie die der „Zivilgesellschaft“,
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des „Anarchismus“ und „Syndikalismus“, des „Neo-Marxismus“, des „Ökologismus“ und der „Nachhaltigkeit“, des „Regionalismus“ (vgl. Adyin 2004: 860). Ihr gemeinsamer Nenner ist die Ablehnung des marktradikalen Systems, die Kritik am finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, der politische und moralische Protest gegen die damit verbundenen wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen Gefährdungen und die Suche nach Alternativen, nach einer „guten“ Gesellschaft, in der alle Menschen gleiche Lebenschancen haben. Weltweit sind Gruppen und soziale Bewegungen tätig, die nicht die Rückkehr zu einer goldenen Vergangenheit anstreben, sondern sich für demokratische Reformen in der sich verändernden globalen Welt einsetzen und Werte einer offenen Demokratie, sozialer Gleichheit und politischer, wirtschaftlicher und kultureller Gerechtigkeit verfechten. Ihr Handeln, so unterschiedlich und widersprüchlich es auch ist, ist von grundlegender Bedeutung für die Änderung der Kräfteverhältnisse, für die Herausbildung einer neuen kulturell-politischen Hegemonie und damit für die Chance, dass eine demokratische (Welt-) Gesellschaft die Rahmenbedingungen und Zielsetzungen der weiteren Entwicklung dominiert und den Weg zur „Großen Transformation“ im 21. Jahrhundert öffnet. Doch auch bei diesen sozialen Bewegungen gibt es keine nur aufsteigende Linie, kommt es immer wieder zu inneren Widersprüchen und kontroversen Debatten. Doch der sich vollziehende Wandel in der Öffentlichkeit, auch in den gesellschaftlichen Diskursen, ist nicht mehr zu übersehen. Die notwendige Ablösung des bislang dominierenden Modells gesellschaftlicher Entwicklung und die Frage eines zukunftsfähigen sozialen, ökologischen und libertären Modells werden auf allen Ebenen (national, regional, global) debattiert. Denn, so die wachsende Erkenntnis, ohne diese große Transformation können die globalen Megatrends – Verhältnis Gesellschaft-Natur, Ökonomie der Enteignung, Soziale Exklusion, Erosion der Demokratie, Krieg und Terrorismus – nicht bewältigt werden. Es sind dies Reaktionen auf die Entwicklungstrends der letzten Jahrzehnte, auf die immer mehr auch renommierte Wissenschaftler, Intellektuelle, ehemalige einflussreiche Politiker und selbst bekannte Banker und Finanzgewaltige des In- und Auslands besorgt verweisen. So in jüngster Zeit die bekannten Soziologen Zygmunt Bauman und Norman Birnbaum, der jüngst mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Ökonom Paul Krugmann, der führende Wirtschaftsexperte und frühere Chefökonom der Weltbank und Träger des Wirtschaftsnobelpreises Joseph Stiglitz, der Publizist, Hochschullehrer und ehemalige Arbeitsminister in der Clinton-Regierung Robert Reich, der renommierte Friedensforscher Johan Galtung und der UN-Sonderbeauftragte der Menschenrechtskommission Jean Ziegler.
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Wenngleich keineswegs schon dominant, die gesellschaftlichen Ansätze für einen möglichen Modellwechsel im 21. Jahrhundert sind heute zumindest ausgeprägter als noch zu Beginn des Jahrhunderts. Das betrifft vor allem sozialökologische Aspekte des Wechsels.
3.3
„Solidargesellschaft“. Diskursive Ansätze
Wenn auch nicht in dem Maße wie die Frage der sozialökologischen Entwicklung, so rücken doch auch die Probleme einer solidarischen Entwicklung als immanenter Bestandteil eines neuen gesellschaftlichen Modells stärker in den Blick. Sowohl auf der diskursiven wie auf der Ebene gesellschaftlichen Handelns unterschiedlicher Akteure. Die Mitte der 1970er Jahre allmählich einsetzende marktliberale Transformation war und ist, wie wir gesehen haben, im Kern auf die Aushöhlung und letztlich die Aufhebung des Sozialstaatsmodells und Solidarprinzips in der Gesellschaft gerichtet. Diese Entwicklung stieß und stößt zugleich auf Kritik und auf gesellschaftliche Gegenbewegungen sowie der dort formulierten Alternativen. Die Idee des Sozialstaats und des Solidarprinzips haben gerade auch in Deutschland eine lange Geschichte und Tradition. Ein zeitgemäßes Konzept der „Nachhaltigen Solidargesellschaft“ kann sowohl an diese Traditionen sozialen Denkens wie vor allem an neue gesellschaftstheoretische Vorstellungen, in denen „Gemeinsinn“ und „Soziale Kohäsion“ (Etzioni 2000: 29 ff.) bzw. „Soziale Anerkennung“ (Honneth 2002: 79 ff.) zentrale Bezugspunkte und Kategorien bilden, anknüpfen. Letztlich verbirgt sich hinter diesen unterschiedlichen, ja entgegen gesetzten Gesellschaftsmodellen – „Konkurrenzgesellschaft“, „Solidargesellschaft“ – insbesondere auch ein unterschiedliches, ja entgegen gesetztes Menschenbild. „Der Neoliberalismus denkt vom Markt her und wertet alles nach seiner Funktion für den Markt. Er ist marktradikal.“ (Eppler 2005: 30) Der Mensch ist in diesem Konzept allein „Marktwesen“, aber nicht „Sozialwesen“ (ebd.: 33). Das Konzept einer „Nachhaltigen Solidargesellschaft“ geht vom Menschen als Sozialwesen aus, von der Sehnsucht der Menschen nach einem humanen, gerechten und solidarischen Gemeinwesen. Die Übertragung des Begriffs der Solidarität auf das Gebiet der Politik, Gesellschaft und Moral findet gegen Ende des 18. Jahrhunderts statt. Im nachrevolutionären Frankreich ersetzte der Begriff der Solidarität zunehmend den der „Brüderlichkeit“. Im soziologischen Denken gewann der Terminus der Solidarität im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den Stellenwert eines politisch-
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sozialen Grundbegriffs (Radtke 2008: 28). Klassiker der Soziologie wie Emile Durkheim verstanden Solidarität als „Maß“ für die „noch zusammenhaltbare Verschiedenheit“ der Gesellschaft (Durkheim 1988). Comte bezeichnet den Begriff Solidarität als „Zement“, der die Gesellschaft zusammenhält oder – noch deutlicher – ein gesellschaftliches Prinzip, das aus dem Gesellschaftsorganismus „mehr als die Summe seiner Teile macht“ (zitiert in: Radtke 2008: 29). Im Kern wurde mit dem Begriff der Solidarität die Vorstellung einer spezifischen Beziehung zwischen den Mitgliedern einer Gruppe von Menschen verbunden, die durch „Gemeinsinn“, „wechselseitige Verbundenheit“, „Loyalität“, „Respekt vor der Verschiedenheit“ gekennzeichnet ist. „Soziale Solidarität“ als ein moralisch-politisches Phänomen entzieht sich jedoch der exakten Beobachtung und Messung. Nach Durkheim ist sie deshalb durch eine „äußere Tatsache“ zu ersetzen, die sie symbolisiert. Für Durkheim war das sichtbarste Symbol dafür das Recht, die Zahl der Rechtsregeln, die solidarisches Handeln ausdrücken, leiten, regulieren (Durkheim 1988: 111 ff.). Zum anderen kann soziale Solidarität am Verhalten der Menschen, d. h. am „Handeln in Verbundenheit“ (Braun 2003: 15, Radtke 2008: 29) beobachtet und analysiert werden. Solidarität ist auf jedem Fall für die Integration von modernen, hoch differenzierten Gesellschaften, für ihren Zusammenhalt zentral. Dabei geht es nicht und kann es auch gar nicht gehen um die „Aufhebung“ der Heterogenität, der sozialen und politischen Ausdifferenzierung, der Widersprüche und Konflikte in der Gesellschaft und um die Propagierung einer imaginären Homogenität. Im Gegenteil – wie die Geschichte belegt: Nicht relativ homogene, sondern heterogene Gesellschaften waren nicht nur leistungsstärker sondern letztlich auch stabiler. Der Flensburger Soziologe Brunkhorst unterscheidet deshalb mit Rückgriff auf Spencer und Durkheim, Karl Marx und Hannah Arendt sowie zeitgenössische Soziologen drei Formen von Solidarität: Zum einen die „organische Solidarität“, die das Funktionieren der modernen Gesellschaft durch das Zusammenspiel ihrer Funktionssysteme und Spezialeinrichtungen (mehr oder weniger) sichert. Zum anderen die „praktische Solidarität“, die in Reaktion auf Zustände empörenden Unrechts entsteht. Auch hier ist nicht die Einheit, sondern der soziale Konflikt und Widerspruch die Quelle der Solidarität. Und schließlich die „demokratische Solidarität“. „Demokratische Solidarität kann nun als komplexe Verbindung der organischen mit der praktischen Solidarität verstanden werden… Während die organische Solidarität also ihr Maß an noch zusammenhaltbarer Verschiedenheit hat, ist das Maß praktisch-revolutionärer Solidarität die Aufhebung unerträglicher und unzumutbarer Unterschiede und Ungleichbehandlungen, und demokratische Solidarität verbindet durch ein ‚Recht, das de-
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mokratische Politik ermöglicht’, das eine mit dem anderen, die Gleichheit mit der Verschiedenheit, oder anders formuliert: den Kampf gegen die Ungleichheit mit der Anerkennung der Verschiedenheit“ (Brunkhorst 2008: 4). Immer dann und überall dort, wo dieser Zusammenhang zwischen praktischer und organischer Solidarität, zwischen Gleichheit und Verschiedenheit zerrissen wurde, kam es zu „Legitimationskrisen“. Deren Folge waren gewaltsame Ausbrüche, soziale Brüche und gesellschaftliche Umbrüche. Die Konsequenz daraus sei die Ausbreitung der Demokratie, die Realisierung von Verfassungen, die „zumindest auf dem Papier gebieten, bestehende Herrschaft nicht mehr zu begrenzen, sondern als Herrschaft Beherrschter demokratisch neu zu begründen. Demokratische Solidarität ist, so scheint es, on the road zu einem universellen Völkerrechtsprinzip“ (ebd.: 4). Das marktliberale und –radikale Konkurrenzprinzip läuft darauf hinaus, sowohl die „organische“ als auch die „praktische“ und vor allem die „demokratische“ Solidarität zu unterlaufen, auszuhöhlen, letztlich außer Kraft zu setzen. Nicht organisches Zusammenwirken der verschiedenen Funktions- und Regulationssysteme der Gesellschaft, sondern absolute Dominanz des kapitalistischen Marktes und seiner Funktionslogiken. Nicht praktische Solidarität zur Begrenzung und Überwindung der größten sozialen Ungleichheiten, sondern Allgegenwart einer bedingungslosen Konkurrenz im Denken und Verhalten, in der Wirtschaft, im Politischen, in der Gesellschaft, der Kultur, im Öffentlichen und Privaten. Und schon gar nicht demokratische Solidarität, demokratische Herrschaft des Volkssouveräns, sondern Herrschaft marktliberaler Eliten und Abhängigkeit der demokratischen Gesellschaft vom unkontrollierten Finanzmarktgeschehen. Diese Entwicklung war und ist verbunden mit der Erodierung der institutionellen und kulturellen Solidarzusammenhänge wie sie noch im nationalstaatlichen Wohlfahrtskapitalismus, der „Fordistischen Teilhabegesellschaft“ stark verbreitet waren. Der Begriff „Solidargesellschaft“ dient uns in diesem Kontext als Leitbild für die Kennzeichnung einer Gesellschaftsverfassung, eines Gesellschaftsmodells –
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in der Nachhaltigkeit, Demokratie und Gerechtigkeit zur regulierenden, integrierenden und orientierenden Grundidee für alle Bereiche der Gesellschaft werden; in der die universellen individuellen, sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte und die darauf basierenden Pflichten nicht nur normativen Geltungsanspruch beanspruchen, sondern Realwirkungen erlangen; in der Gleichheit und Freiheit gesellschaftliche Wirklichkeiten werden.
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Das Leitbild einer „Solidargesellschaft“ ergibt sich letztlich aus der Vorstellung vom Menschen als einem Sozialwesen und dem normativen Geltungsanspruch der ihm eigenen Grundrechte. Solidaritätsbeziehungen in modernen Gesellschaften sind weitgehend zu verrechtlichen und zu entpersonalisieren. In institutionell vermittelten Rechten und Pflichten leiten sie das Handeln an. Solidarische Beziehungen bedingen zugleich eine politische Kultur, in der ein Mindestmaß an politischen Grundwerten – Freiheit, Gleichheit, Pluralismus, wechselseitige Anerkennung, Toleranz – geteilt werden. Eine solche Leitbildkonstruktion und Zielorientierung beinhalten selbstverständlich die Erkenntnis, dass es nie die eine, vollkommene oder gar harmonische Gesellschaft gibt, sondern stets eine Vielfalt von konkreten Modellen, Formen, Strukturen. Gesellschafts- und Lebensmodell gibt es nur im Plural. Dabei spielen geschichtliche Prägungen, kulturelle Traditionen eine nicht unwesentliche Rolle. So entspräche zum Beispiel die in Skandinavien ausgeprägte politische „Kultur der Solidarität“ einem solchen Leitbild vielmehr als z. B. die „Wettbewerbskultur“ in den USA. Und Deutschland läge mit seiner „Konsenskultur“ auch hier eher dazwischen. Da es in diesem Kontext nicht um die Entgegenstellung der einen politischen Norm (Wettbewerb/Freiheit vs. Solidarität/Gleichheit) gegen die andere geht, ist eine Vielfalt von spezifischen Kombinationen denkbar, bei der jedoch Demokratie und Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit die gesellschaftliche Grundidee und das angestrebte Ziel bilden. Gesellschafts- und Lebensmodelle sind in der Realität stets nur als Einheit von Gegensätzen, von Konflikten und Kämpfen, von Wettbewerb und Wandel möglich. Auch hier gilt die Frage, was erlangt auf Dauer die Dominanz, den Primat: ein selbstreguliertes Marktsystem, das Wirtschaft, Gesellschaft, Natur und Mensch beherrscht oder eine demokratisch-solidarische Gesellschaft, die auch den Rahmen und die politisch-kulturelle Wert- und Leitorientierung für die Wirtschaft und für die Märkte vorgibt? Die in den Sozialwissenschaften geführten Diskussionen, die sich ausschließlich auf die Zukunft der Solidarität beziehen, thematisieren vor allem die Zerfallsprozesse. (Beckert/Eckert/Steek/Kohli 2004). Diese werden im Zusammenhang mit der fortschreitenden Globalisierung und der Abnahme staatlicher Steuerungsfähigkeit gesehen. Solidaritätspotenziale seien nur noch in kleineren (Schutz-) Gemeinschaften zu vermuten. Jedoch gibt es auch Auffassungen, die von einer Vergrößerung von Solidaritätspotenzialen in der (Welt-)Gesellschaft ausgehen (Hondrich/Koch-Anberger 1992; Radtke 2008: 28). Wie dies im Einzelnen im Diskurs auch gesehen und bewertet wird, von einer Dominanz des Solidaritätspotenzials kann heute keine Rede sein. Die marktradikale Transformation hat das historisch gewachsene Solidaritätspotenzial
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beträchtlich ausgehöhlt und das Konkurrenzprinzip in der Gesellschaft weit vorangetrieben (vgl. Kap. V.2). Aber was heute die Gesellschaft prägt, muss es in Zukunft nicht mehr sein, so der bekannte amerikanische Soziologe Richard Sennett. „Und dann müssen wir ganz neu nachdenken, denn dann werden sich die Strukturen unserer Gesellschaft radikal verändern“ (Sennett 2000: 276). Ansätze dafür sind heute schon zu erkennen. Dem Doppelcharakter der Transformation entsprechend hat die marktradikale Transformation – wie gezeigt – gesellschaftliche Gegenbewegungen und partielle Alternativen hervorgebracht. Auch in den neueren öffentlichen Debatten wird das die gesamte Gesellschaft ergriffene marktliberale Konkurrenzprinzip wieder kritischer thematisiert und die Frage des Sozialstaatsprinzips und der gesellschaftlichen Solidaritätspotenziale erheischt neue Aufmerksamkeit. Der Übergang zu einem Pfad nachhaltiger wirtschaftlicher, sozialer, kultureller Entwicklung erfordert zugleich ein solidarisches Verhältnis von MenschGesellschaft-Natur und neue solidarische Strukturen, Steuerungsformen und Verhaltensweisen.
3.4
Bausteine eines nachhaltigen und solidarischen Gesellschafts- und Entwicklungsmodells
Die Zäsur in der Moderneentwicklung, die Krise des fordistischen Entwicklungsmodells und besonders der neoliberalen Antwort darauf sowie die neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts drängen auf neue Antworten im gesellschaftlichen Transformations- und Suchprozess. Denn die Alternative kann weder „Weiter so“ noch ein „Zurück zum Modell der alten Industrie-, Wachstums-, Arbeits- und Konsumgesellschaft“ des vorigen Jahrhunderts lauten. Da auch ein Masterplan für die neue große Transformation des 21. Jahrhunderts – trotz gegenteiliger Behauptungen mancher Autoren – nicht wirklich vorliegt und es nicht die eine Antwort auf die Vielfalt der neuen Probleme und Herausforderungen gibt, bleibt nur ein innovativer Such-, Lern- und Experimentierprozess entlang des Konzepts einer nachhaltigen Entwicklung, einer sozialen, ökologischen und demokratischen Umgestaltung. Und dieser Weg muss in den einzelnen Ländern, Regionen, Kontinenten – in Abhängigkeit von den jeweiligen historischen, gesellschaftlichen, kulturellen Gegebenheiten – gesucht, gefunden und beschritten werden. Dass es dabei aufgrund der globalen Herausforderungen und aufgrund der bisherigen Dominanz des marktliberalen Modells viele Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten gibt, ist ebenso unbestritten wie die vielfältigen Unterschiede und Differenzen im Transformationsgeschehen. Nie-
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mand kann heute das Geschehen von morgen genau voraussagen. Das gilt insbesondere für das, was wir „Große Transformation“ oder „Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert“ nennen. Was sich jedoch deutlich abzeichnet, ist dies: Die Lösung der drängensten Probleme unserer Zeit – der Ressourcen-, der Energie-, Klima-, Ernährungs-, Finanz- und Sicherheitsfrage – erfordert eine strukturelle Wende und eine grundlegende Demokratisierung anstelle von „Weiter-so“ und Renditeorientierung als Maß der Entwicklung. Aufgrund der Krise des alten Entwicklungsmodells, der sich abzeichnenden Trendbrüche und der zu bearbeitenden Herausforderungen sowie der in der Gesellschaft entstehenden alternativen Keimformen lassen sich auch heute bereits einige allgemeine Aussagen über diese Gesellschafts-Transformation treffen und ein Transformationsprojekt umreißen, das auf ein zukunftsfähiges gesellschaftliches Entwicklungsmodell gerichtet ist. Auch das muss ein sozialwissenschaftliches Paradigma der Gesellschafts-Transformation leisten können. Sich diesbezüglich strategisch auch auf Polanyi zu beziehen ist sinnvoll, da er zu seiner Zeit bereits die Krisenhaftigkeit und Widersprüchlichkeit des marktliberalen Gesellschaftsprojekts sowie seine Unvereinbarkeit mit der Demokratie soziologisch begründete (Aydin 2004: 864) und auf die Notwendigkeit einer „neuen Demokratie“, neuen Gesellschaftsform verwies. Voraussetzung, Bestandteil und Ziel eines solchen „Modellwechsels“ ist es, dass eine demokratisch-freiheitliche Gesellschaft entsteht und sich emanzipiert („demokratische Solidarität“) und wieder die kulturellen und sozialen Ziele der gesamtgesellschaftlichen und damit vor allem auch der wirtschaftlichen Entwicklung dominiert. Dabei geht es nicht um Etatismus, um neue bürokratische Planwirtschaften, um damit die Autonomie der verschiedenen Subsysteme moderner Gesellschaften aufzuheben und Innovationen zu blockieren. Im Gegenteil - die orientierende, regulierende und integrierende Grundidee eines solchen neuen Gesellschafts- und Entwicklungsmodells wären dann für alle Teilsysteme, für alle Bereiche Nachhaltigkeit, Demokratie, Teilhabe und Partizipation, Gerechtigkeit und Gleichheit. Vorrang also der Gesellschaft und der Natur und – davon abgeleitet – der Politik vor der Ökonomie im Allgemeinen und dem Marktgeschehen im Besonderen; Vorrang der kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Ziele vor der Kapitalrendite. Dies läge im Interesse nicht nur der Gesellschaft, sondern auch einer gedeihlichen Entwicklung der Wirtschaft selbst. Nachhaltigkeit durch sozial-ökologischen Umbau ist der Kern des neuen Entwicklungspfades. Dieser ist in unserem Verständnis jedoch nur dann erfolgreich, wenn er sich auf Teilhabe der Menschen und solidarische Entwicklung stützt, also die wissenschaftlich-technische, wirtschaftliche, sozioökonomische Transformation mit einer tief greifenden gesellschaftlichen und kulturellen
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Transformation verbunden ist. Denn zukunftsfähig ist letztlich nur eine solidarische Gesellschaft mit vielfältigen Formen gleichberechtigter Teilhabe und individueller Freiheit der Menschen, einer Balance von Wettbewerb und Kooperation. Das Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt, Energie hebt aus seiner Sicht diesen Zusammenhang wie folgt hervor: „Viele ahnen, aber wenige sagen es: Der Klimawandel ruft nach einem Zivilisationswandel. Der Übergang zu einer postfossilen Zivilisation wird das bestimmende Vorhaben dieses Jahrhunderts sein – vor allem für die Industriegesellschaften. Er umfasst erstens ein technologisches Projekt, nämlich die Umgestaltung der gesellschaftlichen Hardware – von Gebäuden über Kraftwerke zu Textilien – zu ressourcenleichten und naturverträglichen Systemen. Das ist im Kern die Herausforderung für die Ingenieurs-, Verfahrens- und Designwissenschaften sowie für Planer und Manager. Zu ihm gehört zweitens ein Institutionenprojekt, nämlich der Aufbau von Regelwerken und Einrichtungen, welche die Achtung der Menschenrechte gewährleisten und die Entwicklungsdynamik der Wirtschaft innerhalb der Regenerationsgrenzen der Biosphäre halten. Das sind die Baustellen der Wirtschaftswissenschaft und der Politologie, vor allem ein Großthema für Konfrontation, Disput und Entscheidung in der politischen Öffentlichkeit und den Parlamenten. Und drittens umgreift ein solcher Wandel die Leitbilder für Handeln und Sein, von der persönlichen Lebensführung über das professionelle Ethos zu den Prioritäten des Gemeinwesens“ (Zukunftsfähiges Deutschland – in einer globalisierten Welt. 2008: 17). Dieser gesamtgesellschaftliche Wandlungsansatz unterscheidet sich von anderen Ansätzen, die ebenfalls sozial-ökologischen Umbau präferieren, diesen aber nicht als grundlegenden gesellschaftspolitischen Wandel verstehen und ihn allein oder doch primär an systemspezifische Mittel binden oder von solchen, die ihn überhaupt nur als technisch-organisatorisches oder gar als autoritäres Projekt interpretieren (vgl. dazu auch Schachtschneider 2006). Nachhaltiger Wirtschaftspfad Ein neuer Pfad nachhaltiger Entwicklung erfordert zunächst und primär einen neuen Typ wirtschaftlicher Entwicklung und eine neue politische Ökonomie. Für die kommenden Jahrzehnte ist eine grundlegende industrielle Revolution zu erwarten, die in ihrer Bedeutung und Veränderungsdynamik nur mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts und der wissenschaftlichtechnischen Revolution des 20. Jahrhunderts zu vergleichen ist. Die bislang praktizierte Art und Weise des Ressourceneinsatzes, insbesondere von Energie und Rohstoffen, untergräbt die Bedingungen weiterer wirtschaftlicher Entwicklung. Notwendiger und möglicher Ausweg ist eine solche
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Wirtschaft, bei der die Senkung des Ressourceneinsatzes Prinzip wirtschaftlicher Entwicklung und Inhalt wirtschaftlichen Wachstums wird. Bei der globalen Energie-, Rohstoff- und Emissionswende handelt es sich um den Hauptstrom wirtschaftlicher Entwicklung, um einen Paradigmenwechsel der Industriegesellschaft (Land 2008). Es geht damit nicht um Verzicht auf wirtschaftliches Wachstum, sondern um einen neuen Typ wirtschaftlicher Entwicklung im nationalen, europäischen und globalen Maßstab. Dieser Pfadwechsel ist nicht ohne Reform und Neukonstitution des Regulationssystems der Wirtschaft und der gesellschaftlichen Institutionen möglich. Dazu bedarf es eines demokratischen Verständigungsprozesses in der Gesellschaft. Eine politische Ökonomie, die diesem Ansatz nachhaltiger Entwicklung folgt, muss prinzipiell zwischen Zielen und Mitteln der Volkswirtschaft unterscheiden. Denn selbstregulierende Märkte, das erwiesen die bisherigen Erfahrungen und Forschungen, verletzen nicht nur die Grundrechte der Bürger, sondern sind auch in ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit hochgradig problembehaftet und entfalten selbstdestruktive Dynamiken. Die jüngste weltweite Finanzkrise mit ihren schwerwiegenden und langfristigen Folgewirkungen für Wirtschaft und Gesellschaft ist dafür ein erneuter, schlagartiger Beweis. Dies ist in den Systembedingungen ihrer eigenen Funktionslogik begründet. Die politische Regulation von Marktwirtschaften wird auch zu einer Voraussetzung ihrer ökonomischen Funktionstauglichkeit. Märkte können „nicht a priori wegen ihrer immanenten Defizite und Risiken als ökonomisch-institutionelle Äquivalente der rechtsstaatlichen Demokratie interpretiert werden“ (Meyer 2008: 126). Nur innerhalb des politisch gesetzten Rahmens von Vorgaben, Kontrollen und Steuerungsleistungen können Märkte eine sinnvolle Rolle bei der Wohlfahrtsproduktion spielen. Und Eigentumsrechte an Produktionsmitteln müssen sozial begrenzt werden, wenn deren Ausübung die Menschrechte Dritter – z. B. durch enorme Machtkonzentration, durch überhöhte Preise, Verletzung politischer Gleichheit, Gefährdungen demokratischer Handlungsabläufe – berührt. Denn auch das Grundgesetz der Bundesrepublik konstatiert, das Eigentum sozial verpflichtet (ebd.: 126/127). Die globale Finanzkrise und die Spekulationsgeschäfte des Managements, die die Realwirtschaft enorm belasten und dem Steuerzahler immense Kosten verursachen, haben deutlicher denn je gezeigt, dass hier staatliche Eingriffe und auch Formen von Vergesellschaftung erforderlich sind. Erforderlich im Interesse auch funktionierender wirtschaftlicher Abläufe. Dem sozialen Wesen nach geht es in dem von uns charakterisierten Wandlungsprozessen um eine sozio-ökologische Gesellschaftstransformation, die eine zukunftsfähige, d. h. vor allem nachhaltige (dauerhafte/durchhaltbare) wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung initiiert und eine Partizipation
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der Bürgerinnen und Bürger ermöglicht. Das gegenwärtig dominierende Modell gesellschaftlicher Entwicklung kann gerade nicht für durchhaltbar, nicht für zukunftsfähig erachtet werden – sozial, ökologisch, ökonomisch nicht. Notwendig wird dem gegenüber ein Entwicklungsmodell, das Ökonomie, Soziales und Ökologisches auf neue Art eng miteinander verbindet. Auch eine solche andersgeartete, nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft bedarf natürlich einer effizienten, wettbewerbsfähigen Wirtschaft als Voraussetzung einer sinnerfüllten, selbstbestimmten individuellen Lebensführung der Menschen. Doch in diesem Entwicklungsmodell wird eine Einheit von Wettbewerb, sozialem Zusammenhalt und gesunder Umwelt angestrebt. Nicht aus ideologischen, sondern aus ganz praktischen Gründen einer künftigen harmonischeren Entwicklung von Gesellschaft und Individuum. Das erfordert einen gesellschaftlichen Diskurs um die Frage „ Wie wollen und wie können wir heute und künftig leben?“. Die Schaffung einer neuen kritischen Öffentlichkeit ist dabei wesentlicher Impulsgeber für einen solchen transformatorischen Wandel. Ein Wandel des Typs wirtschaftlicher Entwicklung ist nicht ohne tief greifende Reformen und Umgestaltungen möglich. Das bedingt u. a.: –
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eine erweiterte gesellschaftliche Regulierung und eine flexible, kontrollierte Wirtschaftssteuerung (Finanz-, Steuer-, Kredit-, Investitions-, Regionalpolitik), den Übergang zu einer Wirtschaftsweise, bei der die Effizienzsteigerung des Ressourceneinsatzes mindestens der Größenordnung des Wirtschaftswachstums entspricht und langfristig eine nachhaltige Art der Kopplung von Natur- und Wirtschaftskreisläufen erreicht wird, den zügigen Ausbau von regenerativen Energien, neue Investitionen in Bildung, Wissenschaft und nachhaltige Technologien, eine Wiedergewinnung und Stärkung der öffentlichen Räume, der öffentlichen Daseinfürsorge (Bildung, Kultur, Gesundheitsfürsorge und Pflege als Kernaufgaben eines lebendigen Gemeinwesens), die Orientierung auf eine neue Art von Vollbeschäftigung, die u. a. verschiedene Formen öffentlicher Beschäftigung einschließt.
Es kann im 21. Jahrhundert also nicht nur darum gehen, die Folgen des marktradikalen Modells abzumildern. Schon gar nicht durch Mittel, die genau zu diesem Desaster geführt haben. Vielmehr ist durch weitgehende Reformen eine neue wirtschaftliche Entwicklungsrichtung einzuleiten. Dies ist nicht zuerst nur eine Frage des Neuaustarierens von Markt und Staat, von Ökonomie und Politik, sondern zuerst eine gesamtgesellschaftliche Frage der Demokratie, d. h. ob die
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Gesellschaft als Volkssouverän die „Macht“ zurück gewinnt und die Rahmenbedingungen und die Zielsetzungen der Entwicklung, gerade auch der wirtschaftlichen, neu zu bestimmen und institutionell abzusichern vermag. Das heißt: „Mit anderen Worten: wir brauchen eine Neue Ökonomie. Wir brauchen eine Ökonomie, die als ganze wieder institutionell an übergeordnete gesellschaftliche Entscheidungen zurück gebunden wird, in einer Demokratie jedenfalls gesellschaftlich kontrollierbar ist. Auch wenn die Ökonomie einer eigenen funktionalen Logik folgt, in deren Mittelpunkt Effizienz, also die Optimierung von Aufwand und Ertrag steht, so darf die Gesellschaft nicht erlauben, dass sie sich ausschließlich unter dieser Logik begibt. Sie muss sich entscheiden, welchen Stellenwert sie den spezifischen ökonomischen Prinzipien gegenüber anderen menschlichen und gesellschaftlichen Werten einräumen will. Ohne diese Wahlmöglichkeiten stirbt die Demokratie“ (Hauchler 2008: 254). Markt, wirtschaftlicher Wettbewerb und Wachstum, Freisetzung der Produktivitätspotenziale des Privateigentums in soweit wie sie zugleich auch dem übergreifenden menschlichen und gesellschaftlichen Zielen und Werten sowie den ökologischen Erfordernissen entsprechen. Dort, wo das nicht gewährleistet wird, ergänzen gemeinwirtschaftliche Institutionen die private Wirtschaft. Das sollte insbesondere betreffen die Versorgung mit öffentlichen Gütern (wie die Grundversorgung im Bereich Gesundheit, Verkehr, Energie, Bildung, Medien. Kultur), die Gewährleistung eines Basiseinkommens und eines Arbeitsplatzes für jeden sowie die Begrenzung des Natur- und Ressourcenverbrauchs auf ein Niveau, das eine langfristige nachhaltige Wirtschaftsweise garantiert (ebd.). Dass dies keine Einführung einer staatlich-zentralistischen Verwaltungs- und Planwirtschaft durch die „Hintertür“ bedeutet, gilt als selbstverständlich. Denn gerade diese hat sowohl die Funktionslogik der Wirtschaft missachtet und die demokratische Gesellschaft zugunsten der Partei- und Planungsbürokratie entmachtet. Es geht bei all diesen Überlegungen stets um das Ziel der Schaffung bzw. Erweiterung von Bedingungen für ein selbstbestimmtes Leben in einer freiheitlichen, demokratischen und sozialen Gesellschaft. Dafür sind auch – jenseits der alten Dichotomie von Privat- vs. Staatswirtschaft – verschiedene Wirtschafts- und Eigentumsformen erforderlich, die die Grundlagen einer nachhaltigen und solidarischen Entwicklung legen können. Der moderne Sozial- und Rechtsstaat, der durch die markt-liberale Transformation ausgehöhlt wurde, ist zu erneuern und sollte das Rückgrad der verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren sein: der individuellen, privaten, gemeinschaftlichen, öffentlichen. In diesem Sinne sind gemischte Wirtschafts- und Eigentumsformen eine Grundlage der „Nachhaltigen Solidargesellschaft“.
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Neuer Wirtschaftspfad – neue Wege für Arbeit und Beschäftigung Eine strukturelle Transformation mit der Orientierung auf ein zukunftsfähiges Entwicklungsmodell erschließt auf der Grundlage eines anderen Wachstumspfades auch neue Arbeits- und Beschäftigungsfelder. Ein komplexer sozialökologischer Umbau bietet dafür bislang ungeahnte Möglichkeiten. Im fordistischen Modell war ungebrochene männliche Erwerbsarbeit das zentrale Leitbild. Mit dem Übergang zum markt-liberalen Modell änderten sich die Arbeitsverhältnisse grundlegend. Die Revolution der Produktivkräfte hat die für moderne Gesellschaften typischen Individualisierungsprozesse (Beck 1986) weiter vorangetrieben. Zugleich haben sich der Normalarbeitstag und die für den Fordismus charakteristischen Formen der Erwerbsbiographie aufgelöst. Neben hoch qualifizierten Tätigkeiten, Angestellten, Dienstleistern in relativ gesicherten Beschäftigungsverhältnissen treten in immer stärkerem Maße prekäre Beschäftigungsverhältnisse – befristete Arbeitsverträge, Minijobs, Zeit- und Leiharbeit, Heimarbeit, Niedriglohnarbeit, Arbeit auf Telefonabruf. Ein Teil wird ganz und auf Dauer aus dem Arbeitsprozess verdrängt und lebt allein von sozialen Transfers. Die heutige Arbeitswelt unterscheidet sich damit fundamental von der der 1960er und 1970er Jahre. Und diese Entwicklung hält unvermindert an. Vollbeschäftigung allein durch traditionell-quantitatives Wirtschaftswachstum zu erreichen ist Geschichte. Die früher gegebene Chance der Beschäftigten, durch Arbeit, Bildung und Qualifikation sozialen Aufstieg zu erlangen, ist weitgehend außer Kraft gesetzt. Eine Folge ist die Verstetigung der sozialen Klüfte und Brüche in der heutigen Arbeitswelt. Ein gewandeltes Modell nachhaltiger gesellschaftlicher Entwicklung kann und wird die Revolution der Produktivkraft-Entwicklung, den Übergang zu neuen hochmodernen Technologien und die damit einhergehende Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse nicht aufheben, diesen Modernisierungsschub aber auch hinsichtlich der Beschäftigungsverhältnisse in eine andere Richtung zu drängen versuchen. Die Bedingungen, um allen den Zugang zu Arbeit und Beschäftigung zu ermöglichen, sind zuerst und vor allem – – –
der sozial-ökologische Umbau, der zur entscheidenden Quelle für Millionen neuer Arbeitsplätze werden kann; darüber hinaus Investitionen vor allem in Bildung und Qualifizierung für die künftigen Generationen; die Erneuerung der öffentlichen und die Erweiterung und Erneuerung besonders der sozialen Dienstleistungen (u. a. im Gesundheitssektor, der Pflege und den öffentlichen Infrastrukturen);
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aber auch der Ausbau und die Förderung von Beschäftigungsverhältnissen zwischen Markt und Staat u. a. in Bildung, Kultur, Wissenschaft; und nicht zuletzt eine gerechte Verteilung von Arbeit.
Für diejenigen, die dennoch (zeitweilig oder längerfristig) keinen Zugang zur Erwerbsarbeit finden, ist ein bedarfsgerechtes, solidarisches Grundeinkommen unabdingbar. Nicht zuletzt erfordert das ein Mindestmaß an regulierten Arbeitsmärkten per starken Tarifsystem und flächendeckenden Mindestlohn. Das hohe Niveau der Arbeitsproduktivität, der Produktion materiellen Reichtums in den MBK-Gesellschaften ermöglicht (und erfordert) es zugleich, neben der Erwerbsarbeit auch die anderen Formen von Arbeit und Beschäftigung (Hausarbeit, Erziehungsarbeit, Sozialarbeit, Ehrenamt) Wert zu setzen. Unter den Bedingungen einer solidarischen Gesellschaft würden sich mithin ganz neue Möglichkeiten und Effekte für Arbeit und Beschäftigung ergeben. Auch würden sich Charakter, Sinn und Ziel der Arbeit unter den Bedingungen eines solchen von der demokratischen Gesellschaft inspirierten Entwicklungsmodells von dem des heutigen Konkurrenzmodells beträchtlich unterscheiden. Statt Arbeit als Verwertungsfaktor und Arbeit um jeden Preis geht es um Arbeit, die Sinn macht, angemessen und Existenz sichernd entlohnt wird und Voraussetzungen schafft für Mitbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe, ohne dass dadurch „paradiesische Verhältnisse“ in der Arbeits- und Berufswelt entstünden. Arbeit wird immer auch mit Anstrengungen, Mühen, Belastungen, Sorgen, mit unterschiedlicher Entlohnung entsprechend unterschiedlicher Leistungen und Qualifikationen verbunden sein. Nur würden die zunehmende soziale Verunsicherung, die gravierenden Ängste um einen Arbeitsplatz und die Tatsache, dass für viele Arbeit nicht ausreicht, um davon auch leben zu können, schrittweise überwunden werden. Die beginnenden Diskussionen um „Gute Arbeit“, um „Humane Arbeitsbedingungen“, um ein „Solidarisches Grundeinkommen“, um das Recht auf Arbeit und auf Anteile an disponibler Zeit, auf attraktive Teilhabe und Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeits- und Lebenswelt zielen in die Richtung eines Umbaus der gesamten Arbeits- und Lebenswelt, die wesentlicher Inhalt eines neuen Entwicklungspfades ist. Dies ist der Gegenentwurf zu fremdbestimmter „Aktivierung“ in einer industriegesellschaftlichen Arbeitswelt, deren Fundament zerbröckelt. Neues Sozial- und Teilhabemodell Die anstehende grundlegende Gesellschafts-Transformation und speziell der sozial-ökologische Umbau erfordern nicht nur den Wandel des Produktionsmodells, der Art und Weise des Wirtschaftens und Arbeitens, sondern auch den Wandel des Sozialmodells. Produktionsweise - Soziale Verhältnisse - Lebens-
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weise stehen in jedem sozioökonomischen Entwicklungsmodell in einem engen Zusammenhang. Wie bereits nachgewiesen, ist das für das „Goldene Zeitalter“ (Fordismus) charakteristische Produktionsmodell als Grundlage eines funktionierenden Sozialmodells – Kopplung von Massenproduktion und Massenkonsum, sozialstaatliche Risikoabsicherung, Mitbestimmungsformen und in sofern Teilhabe der Lohnarbeit am wachsenden gesellschaftlichen (Waren-)Reichtum – Vergangenheit geworden. Ein neues, konsistentes Sozialmodell, das den gewandelten sozioökonomischen und demographischen Verhältnissen entspricht und zukunftsfähig gestaltet wird, das seitdem auf der Tagesordnung steht, ist bis heute nicht entstanden. Dafür aber erodierte der Sozial- und Wohlfahrtsstaat in den meisten MBK-Gesellschaften, wenngleich in den einzelnen Ländern doch sehr unterschiedlich (s. Kap. V.3.6). Das Solidaritätspotenzial wurde zumeist beträchtlich eingeschränkt, der Sozialstaat abgebaut, der im fordistischen System angestrebte Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit wieder rückgängig gemacht (Reagan, Thatcher, Agenda 2020). Eine Umverteilung erfolgte nun zugunsten parasitärer Kapitalverwertung. Die Krise der fordistischen Produktionsweise und Sozialökonomie wurde damit jedoch nicht überwunden. Im Gegenteil – das neue neoliberale Modell hat sie weltweit vertieft und zugespitzt. Die Konstitution eines neuen Zusammenhangs von nachhaltiger Wirtschaftsweise und sozialer Teilhabe bleibt deshalb eine der großen Herausforderungen der gesellschaftlichen Transformation des 21. Jahrhunderts. Ziel, Instrumente und mögliche Effekte eines solchen Umbaus sind umstritten. Geht man von der Logik eines Modells nachhaltiger und solidarischer Entwicklung aus, dann heißt das Ziel eines reformierten und neu begründeten Sozialmodells: – – – –
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Schwächung des Konkurrenzprinzips in der Gesellschaft und Stärkung des Solidaritätspotenzials in seinen verschiedenen Formen; neuer sozialer Ausgleich (soziale Balance); Stärkung der sozialen Integration und Inklusion vs. der sich ausbreitenden Exklusion; gleichberechtigte Entwicklungschancen und selbstbestimmte Teilhabemöglichkeiten für alle an der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion, an Beschäftigung, Bildung, demokratischer Gestaltung; neue individuelle Freiheitsrechte sowie neue wirtschaftliche und soziale Rechte unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe.
Der solidarische Umbau des Sozialmodells verlangt zugleich neue Instrumente einer Sozialpolitik. Neben den klassischen Instrumenten „Versorgung“ und
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„Umverteilung“, die auch in Zukunft ihre Bedeutung besitzen, gewinnen „Vorsorge“, „Regulierung“ und „Steuerung“ (Koordination) zunehmendes Gewicht. Statt nachsorgender Sozialpolitik muss es um vorsorgende Gesellschaftspolitik gehen. Das unterscheidet ein neues Sozialstaatsmodell auch vom klassischen Sozialstaat Bismarckscher Prägung. Eine Erfolg versprechende Strategie, die diesem neuen Entwicklungspfad gerecht werden will, wird zuerst auf infrastrukturelle Leistungen setzen. D. h. vor allem auf neue soziale Infrastrukturen, die allen gleichermaßen zugänglich sind – im Gesundheits-, Erziehungs- und Bildungswesen, in der Pflege, in der Renten- und Altersversorgung. Das Konzept eines „infrastrukturellen Sozialstaats“ ist ein Weg, den Anforderungen einer veränderten Sozialstaatspolitik zu entsprechen. Das erfordert jedoch, sich an solchen Grundsätzen zu orientieren wie Universalismus, Staatsbürgerprinzip, neuer Mix zwischen Beiträgen und Steuern als Basis der Finanzierung, Partizipation: Inklusion statt Exklusion, Stärkung des Individuums in einer solidarischen Gesellschaft, Soziale Sicherheit als Basis für Leistungsfähigkeit (vgl. Schröder/Weinert 2006: 204/205). Dabei wird zwischen Ökonomie und Sozialstaat immer ein Spannungsverhältnis bleiben. Ein sich neu konstituierendes Sozialmodell bedingt eine innovative Wirtschaft, denn alles, was verteilt wird, muss zunächst erwirtschaftet werden. Der zeitgemäße Wandel des Produktions-, Technik- und Innovationsmodells durch sozial-ökologischen Umbau ist deshalb Voraussetzung und Bestandteil des Wandels des Sozialmodells. Und der erneuerte Sozialstaat als ein Kernelement des Sozialmodells ist Voraussetzung für eine funktionierende Wirtschaftsweise. Zugleich hat er die Pflicht, die mit der kapitalistischen Wirtschaft verbundenen sozialen und politischen Auswirkungen wie Machtursurpation, Machtmissbrauch, Ausgrenzungen, ökonomische Ungleichheiten, Korruptionen zu begrenzen. Folgt man dem Modell Esping-Andersen (1990), dann muss Wohlfahrtsstaatlichkeit vor allem die Marktabhängigkeit der Arbeitskraft mindern und deren warenförmige Verausgabung durch staatliche Sozialpolitik institutionelle Grenzen setzen. Für ein Modell nachhaltiger und solidarischer Entwicklung ist dies zentral. In den einzelnen Ländern werden die Wege der Transformation des Sozialmodells entsprechend den jeweiligen spezifischen Bedingungen und Traditionen sehr unterschiedlich sein. Die Traditionen des „Sozialliberalismus“ in den USA oder der „Status- und Lebensstandardsicherung“ auf der Grundlage paritätischer, erwerbsarbeitsbezogener Beiträge in Deutschland sowie die des steuerfinanzierten „Gleichheitskonzepts“ in Skandinavien spielen da eine große Rolle. Die zentrale, regulierende Idee der nachhaltigen Transformation des Sozialmodells sollte aber im neuen Gesellschaftsmodell die der sozialen Gerechtig-
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keit sein. Gerechtigkeit bezieht sich hierbei sowohl auf das Ziel als auch auf die Kriterien und das Verfahren. Gerechtigkeit ist insofern umfassend zu verstehen. Sie sollte sich auf die gleiche Verteilung der Lebenschancen während der gesamten Lebenszeit, auf gleiche Teilhabe- und Mitentscheidungsrechte in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft und immer wieder auch auf die Ebene der materiellsozialen Verteilung beziehen. Dabei bedingt dies ein Mindestmaß gemeinsam geteilter politischer Grundwerte, das im öffentlichen Diskurs erzeugt wird (s. auch Meyer 2008: 124). Der bekannte Theoretiker der Gerechtigkeit, John Rawls, formuliert hierzu die folgende These: „Soziale und ökonomische Ungleichheiten (…) müssen (…) sich zum größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder auswirken“ (Rawls 1998: 69 f.). Die spezifischen und aktuellen Bausteine auf dem Weg zu einem neuen Sozial- und Teilhabemodell sind von Land zu Land unterschiedlich. Sie werden auf jedem Fall am neuen Wirtschaftspfad orientiert und mit den Vorstellungen und Wünschen der Bevölkerung übereinstimmen müssen und in diesem Sinne praktikabel sein. In Deutschland z. B. werden heute diesbezüglich diskutiert und gefordert: Zum einen öffentliche Kinderbetreuungseinrichtungen (Krippen-, Kindergartenund Hortplätze) und Ganztagsschulen, die flächendeckend und möglichst kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Zum anderen, um Bildung stärker von der sozialen Herkunft zu entkoppeln, eine Strukturreform, die die hierarchische Gliederung des Schulsystems überwindet und in eine „Schule für alle“ nach skandinavischem Vorbild mündet und damit die frühzeitig einsetzende soziale Desintegration und dem Zerfall der Gesellschaft entgegenwirkt. Dabei ist individuelle Förderung ein Grundprinzip der „Schule für alle“. Schließlich eine Solidarische Bürgerversicherung, die die berufsständische Gliederung des Bismarckschen Sozialstaates beendet und seine Basis verbreitert, auch in dem alle Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Einkommen und ihren Einkunftsarten zur Finanzierung der nötigen Leistungen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich heran gezogen werden. Ergänzend zu einer solchen Bürgerversicherung sollte es eine soziale Grundsicherung geben, die allen Familien das soziokulturelle Existenzminimum ohne entwürdigende Zumutungen garantiert (vgl. auch Butterwegge 2005). Die Weiterentwicklung bzw. der Umbau des Sozialmodells setzt vor allem auch eine gerechte Steuerpolitik voraus. Denn Steuern sind eben nicht nur eine von vielen volkswirtschaftlichen Größen oder ein betriebswirtschaftlicher Kostenfaktor, sondern wichtige materielle Machtressource der Demokratie, eine entscheidende Basis zur Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse (Wahl 2008: 6).
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Trotz der Erosion der Steuerbasis des Nationalstaates, der Möglichkeiten und Praktiken der transnationalen Unternehmen Steuern zu vermeiden oder zu hinterziehen, bleibt die nationalstaatliche Steuerbasis noch immer ein Ort gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Solange es noch keine Angleichung der Sozialstandards auf globaler Ebene (besonders auch der OECDStaaten) gibt, solange muss die national-staatliche Ebene soweit wie möglich zur Gestaltung solidarischer Verhältnisse genutzt werden. Gerechte Steuer, d. h. Steuern auf entsprechende Einkommen, Gewinne, Rendite, Finanztransaktionen, Veräußerungen, Vermögen sowie Bekämpfung der Steuerflucht und der Korruption sind dafür wichtige Voraussetzungen. Gerechte Steuern – wie z. B. die skandinavischen Länder zeigen – öffnen Wege zur Begrenzung sozialer Ungleichheit und ermöglichen ein anspruchsvolles Bildungsniveau für breite Bevölkerungsschichten, hohe Gesundheitsstandards und Stärkung der Gemeinschaftsaufgaben. Wie unterschiedlich die Wege der Transformation sein mögen, ein verändertes Sozialmodell muss mit dem veränderten Produktionsmodell kompatibel sein. Das Wesentliche dieses Zusammenhangs ist die Teilhabe der Menschen am sozial-ökologischen Umbau und seinen produktiven Ergebnissen – von guter und sinnvoller Arbeit über Reallohnentwicklung bis zu einem Mehr an sozialer Sicherheit und Freizeit für Muße, Selbstentfaltung und öffentliches Engagement. Erneuerung der Demokratie Eine solche grundlegende Gesellschaftstransformation, ein solch neuer Entwicklungspfad sind nicht ohne Weiterentwicklung und Erneuerung der Demokratie möglich. Denn ein Umsteuern von einem Modell gesellschaftlicher Entwicklung zu einem anderen, das eh schon ein schwieriges Unterfangen ist (Pfadabhängigkeit), vollzieht sich – gerade beim Übergang zu einem nachhaltigen und solidarischen Entwicklungsmodell – weder automatisch (etwa durch Anordnung oder guten Willen) noch durch Gewalt, Umsturz, Systembruch. Es ist vielmehr eine Frage demokratischer Willensbildung und demokratischer Entscheidungen, die freilich gegen vielfältige Widerstände durchzusetzen sind. Letztlich geht es dabei um einen neuen Gesellschaftsvertrag, den die Gesellschaft als demokratischer Volkssouverän mit seinen unterschiedlichen Interessen und Wertvorstellungen im demokratischen Verfahren aushandelt und mehrheitlich sanktioniert. Deshalb bedarf eine zukunftsfähige Entwicklung vor allem einer Erneuerung der Demokratie. Demokratisierung der Demokratie zielt darauf ab, dass das Projekt der Moderne mit seinem eigentlichen Anspruch als Menschenrechtsprojekt, als Ordnung der Freiheit und Gleichheit wieder ernst genommen wird und unter den
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neuen Herausforderungen eingelöst wird. D. h., dass das ursprüngliche Menschenrechtsprojekt sich als Organisationsform einer emanzipatorischen, zivilgesellschaftlichen Entwicklung des 21. Jahrhunderts verwirklicht und etabliert. Neben der Stärkung und Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie (z. B. Parlaments- und Wahlrechtsreform, Demokratisierung des Parteiensystems) geht es vor allem auch um mehr gesellschaftliche Demokratie, um mehr politische Öffentlichkeit, mehr gesellschaftlichen Diskurs gerade auch über die verschiedenen möglichen Entwicklungswege, um mehr „geschärftes Bewusstsein für die Gefahr versäumter Entscheidungen und unterlassener Eingriffe“ (Habermas 1988: 72). Vor allem Öffentlichkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für die Partizipation der Bürger, die in ihrer Lebenswelt, in ihrer Nahwelt beginnen sollte: mehr unmittelbaren Einfluss und Mitentscheidung durch lokale Bürgerinitiativen, Volksbegehren, Volksentscheide, Bürgerhaushalte. Das erfordert zugleich die Stärkung der individuellen und kollektiven Rechte zur Überprüfbarkeit staatlichen Handelns, unabhängige demokratische Kontrollinstanzen gegenüber den exekutiven Institutionen, nicht zuletzt auch den staatlichen Sicherheitsorganen. Erneuerung der Demokratie erfordert ferner Mitbestimmung der Beschäftigten und Kommunen in der Wirtschaft wie auch verschiedene Formen einer Wirtschaftsdemokratie: Demokratischer Einfluss auf Gestaltung, Ausrichtung, Zielsetzung der Produktion sowie auf die Arbeitsbedingungen und das Arbeitsregime ist ein ganz wesentlicher Gradmesser einer Solidargesellschaft. Dies schwächt die demokratische Ordnung nicht, sondern würde ihr neue Legitimation und Stabilität verschaffen. Dass in diesem Prozess gesellschaftlichen Wandels und gesellschaftlichen Lernens sich zugleich neue, demokratisch begründete Regeln, Normen, Institutionen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft herausbilden werden und müssen, ist gewiss, nur können sie heute nicht alle vorausbestimmt werden. Es ist bedeutsam, dass gerade mit der globalen Finanzkrise und der Krise des neoliberalen Projekts die Diskussion um solche demokratische Regeln, Normen, Verfahren wieder belebt wurde. Diese Transformation muss auf alle Fälle zugleich auch als eine Selbsttransformation der Gesellschaft verstanden werden. In diesem Sinne geht es bei Transformation nicht um „Machtergreifung“ dieser oder jener politischen Partei oder sozialen Gruppe, sondern um die Rückgewinnung demokratischer Macht durch eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft, durch eine „neue Demokratie“ (Polanyi). Diese muss sich auf eine breite Mehrheit der Bevölkerung stützen können.
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Ziel und Mittel dieser Selbsttransformation der Gesellschaft werden durch die demokratische Selbstbestimmung der Bürger, durch die von ihnen bestimmten demokratischen Spielregeln geprägt. Wandel der Lebensweise Ein Modell nachhaltiger und solidarischer Entwicklung wäre verbunden und zielte vor allem ab auf Chancen einer neuen individuellen und gemeinschaftlichen Lebensführung und –weise. Statt der Individualisierung als Konkurrenz aller gegen alle wie im Modell der „Markt- und Konkurrenzgesellschaft“ setzt das Modell der „Nachhaltigen Solidargesellschaft“ auf Individualität aller durch Teilhabe am Öffentlichen für alle. Und statt der primären Orientierung an Profit und Macht und der Dominanz der Psychologie des ausschließlichen HabenWollens könnten Sein, Teilen, Verstehen (Erich Fromm) und Eigenverantwortung in einem solidarischen Gemeinwesen Motivationen und Impulse für eine Neuorientierung von Lebensführung werden. Dies ist jedoch nur möglich, wenn dafür die materiellen und sozialen Grundlagen geschaffen werden: gleiche Zugangschancen aller zu Beschäftigung, Bildung, Kultur und gleiche Teilhabemöglichkeiten an gesellschaftlichem Reichtum, an den grundlegenden politischen Entscheidungen und an der demokratischen Gestaltung der Gesellschaft für alle Bürgerinnen und Bürger.
3.5
Alternatives Entwicklungsmodell – ein Resümee
Ein Modell „Nachhaltiger Solidargesellschaft“ ist der Schlüssel zum neuen Entwicklungspfad des 21. Jahrhunderts. In diesem Sinne ist Transformation Voraussetzung für Evolution, für einen neuen evolutionären Pfad der Entwicklung. Dieser Modellwechsel beinhaltet einen demokratischen Wandel von politischen, wirtschaftlichen, sozialen Prozessstrukturen, Institutionen, Regeln und Normen. Seinem Wesen nach ist dieser Modellwechsel das, was wir als Gesellschafts-Transformation gekennzeichnet haben (vgl. Kap. II). Eine solche Transformation ist in ihrer Entwicklungslogik und Dynamik letztlich immer ein gesamtgesellschaftlicher Wandel. Ausgangspunkt eines solchen Modellwechsels ist ein grundlegender Wandel und Umbau der Art und Weise der Produktion. Dieser ist, wie wir gezeigt haben, zugleich nicht denkbar ohne weitergehende Reformen der sozialen Verhältnisse. Wirtschaftliche und soziale Entwicklungen sind nach dem Ende des Fordismus (Kopplung von Massenproduktion und Massenkonsum, ergänzt durch Formen sozialstaatlicher Risikoabsicherung) und der folgenden Umvertei-
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lung zugunsten von parasitärer Kapitalverwertung und zu Lasten der abhängig Beschäftigten, auf neue Weise zu verknüpfen. Und die für diese Transformation typische Wende im GesellschaftNaturverhältnis muss mit einer progressiven Gestaltung der sozialen Entwicklung und mit Progressivität im Sinne der Freiheitsgewinne und der Teilhabemöglichkeiten für die Bevölkerungsmehrheit verbunden werden. Nichttechnische Nachhaltigkeitsansätze, gleich ob sie egalitärer, suffizienter, partizipatorischer oder kommunitärer Art sind, verlangen aus dieser Perspektive einen gesamtgesellschaftlichen Wandel (Schachtschneider 2005: 299/300), eben ein neues Gesellschafts- und Entwicklungsmodell. Und vor allem muss die sozialökologische Umgestaltung im globalen Rahmen Bedingungen für die Überwindung der Unterentwicklung in der „Dritten Welt“ und für ihre wirtschaftliche und soziale Transformation schaffen. Sozial-ökologischer Umbau ist in diesem Verständnis also nur als ein umfassendes wirtschaftliches, soziales, ökologisches, kulturelles Transformationsprojekt zu verstehen. Es handelt sich um einen komplexen und integrierten Entwicklungsansatz. Das unterscheidet diesen Transformationsansatz grundlegend von anderen Nachhaltigkeitsansätzen. Das Gesellschaftskonzept der Nachhaltigkeit, des sozial-ökologischen Umbaus und der solidarischen Entwicklung wird hier als der gesellschaftspolitische Gegenentwurf zur marktradikalen Transformation (s. Kap. V.2) und der heutigen Weltordnung (s. Kap. V.4) verstanden. Dies ist auch deshalb wichtig, weil der normative Maßstab von gesellschaftlicher Transformation die individuelle Ebene ist. Denn hier entscheidet sich, ob es sich um ein „gutes“ oder „schlechtes“ Modell („System“, „Gesellschaftsordnung“) handelt, ob es durch die Bürger tatsächlich akzeptiert wird. Und dies ist vor allem eine Frage ihrer garantierten Teilhabe am sozialen Eigentum, an Arbeit, Bildung, Wohlfahrt und an den gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Wenngleich es sich hierbei auch um einen offenen Such- und Lernprozess handelt, sind diesem Gesellschaftskonzept und -modell zugleich normative Ziele immanent: eine Antwort auf die Wünsche und das Verlangen der Menschen nach einem solidarischen, gerechten und humanen Gemeinwesen, nach Lösungswegen mit maximalen Nutzen für das Gemeinwohl. Das Gesellschafts- und Entwicklungsmodell „Nachhaltige Solidargesellschaft“ wäre in seiner inneren Struktur gekennzeichnet durch die Kombination verschiedener Sektoren und Elemente mit ihren unterschiedlichen und auch gegensätzlichen Institutionen, Prinzipien und Werten. Dies ist m. E. von genereller Bedeutung für zukunftsfähige Modelle gesellschaftlicher Entwicklung. In einer „Nachhaltigen Solidargesellschaft“ sollten „partizipative Demokratie“, „gemischte Wirtschaftsformen“ und spezifische „solidarische Regeln und Insti-
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tutionen“ einen wichtigen Platz einnehmen. Der Kapitalismus in Form von Marktwirtschaft wäre auch bei einem solch nachhaltigen und sozialen Entwicklungspfad nicht abgeschafft, aber in ein solidarisches Gemeinwesen eingeordnet. Thomas H. Marshall (1893-1982), ehemals Professor für Soziologie an der berühmten London School of Economics und Direktor der Sozialwissenschaftlichen Abteilung der UNESCO in Paris (1956-1960), hatte bereits in seiner berühmten Vorlesung „Staatsbürgerrechte und soziale Klassen“ im Jahre 1949 darauf verwiesen, dass der Markt funktionieren solle, aber innerhalb sozial gezogener Grenzen. Die offene Konfrontation, ja der Krieg zwischen dem Staatsbürgerrecht auf ein zivilisiertes Leben in Wohlstand und Sicherheit und dem kapitalistischen System müsse durch das Primat der sozialen Rechte beendet werden. (Marshall 1992: 33 ff.). Was nach 1945 im Fordismus als Kompromiss gelang, wurde im nachfolgenden Neoliberalismus wieder aufgehoben. Marshalls Idee war die einer individuell rechtlich garantierten sozialen Bürgerschaft, die institutionell verankert werden und kulturell dominieren sollte. Um dies zu sichern müssen nach Marshall nicht die verschiedenen Sektoren - Demokratie, kapitalistischer Markt und Mischwirtschaft, Wohlfahrtsstaat - mit ihren unterschiedlichen und gegensätzlichen Prinzipien aufgehoben werden. Im Gegenteil. Das 20. Jahrhundert belegte, dass „Einheitsgesellschaften“ mit nur einem System, einer Leitidee, einem Prinzip den „Bindestrichgesellschaften“, wie sie Marshall nannte, letztlich unterlegen bleiben. Doch die verschiedenen Sektoren und Prinzipien müssen anders strukturiert werden als es eine kapitalistische Marktwirtschaft spontan erzeugt. „Im Unterschied zum Wirtschaftsprozess ist es ein fundamentaler Grundsatz des Wohlfahrtsstaates, daß der Marktwert eines Individuums nicht der Maßstab seines Rechts auf Wohlfahrt sein kann. Tatsächlich besteht die zentrale Funktion der Wohlfahrt darin, den Markt dadurch aufzuheben, daß Güter und Dienstleistungen aus ihm herausgenommen werden oder auf eine bestimmte Art und Weise seine Wirkungen zu kontrollieren und zu modifizieren, um dadurch ein Ergebnis zu erzielen, welches er selbst nicht produziert hätte“ (ebd.: 114). In diesem Sinne forderte er, dass „öffentliche, nicht gewinnorientierte, nicht-kommerzielle Einrichtungen allen, unabhängig von ihren Mitteln, auf einheitliche Weise zur Verfügung stehen müssen wie das Gesundheits- und das Bildungswesen und die sozialen Dienstleistungen“. Dies als Ausdruck der Wohlfahrt, die von der „Marktwirtschaft abgegrenzt sein müsse“. Genau das ist auch heute ein wesentlicher institutionell-struktureller Zusammenhang für das Funktionieren einer „Nachhaltigen Solidargesellschaft“. Schon Karl Polanyi hatte hervorgehoben, dass ein neues soziales und humanes Gesellschaftsmodell nicht ohne nachhaltige Eingriffe der demokratischen Gesellschaft in das kapitalistische Marktgeschehen auskommen könne und nicht
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alle Bereiche den Verwertungsbedingungen des Kapitals ausgeliefert sein dürften. Wohlstand, Gleichheit, Gerechtigkeit bedürfen einerseits der wirtschaftlichmateriellen Grundlage und sind andererseits ohne eingreifende solidarische Regulierung und Institutionalisierung nicht erreichbar. Dies hat die Geschichte kapitalistischer Entwicklung bis in die jüngste Zeit nachdrücklich bestätigt. Die Grundrechte und ihre Einheit von individuellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechten bilden Ausgangspunkt und Grundlage gerade für einen nachhaltigen und solidarischen Entwicklungspfad. Denn diese Rechte orientieren in ihrer Gesamtheit auf Nachhaltigkeit der Entwicklung durch entsprechende Beschäftigungspolitik, soziale Sicherung, gleiche Zugangschancen für alle, gesellschaftliche Mitbestimmung – eben auf Teilhabe aller am Sagen und Haben der Gesellschaft. Sie ernsthaft einzulösen bedeutet in der Konsequenz, dass die Bürger nicht nur Teilnehmer und Teilhaber, sondern gemeinsame Eigentümer ihres Gemeinwesens werden, eben als Inhaber sozialer und wirtschaftlicher Rechte – als Sozialbürger (vgl. auch Meyer 2006: 154). Dies setzt voraus, dass die Verfügung über materielle Handlungsressourcen mit der Teilhabe an den grundlegenden Entscheidungen in Gesellschaft und Politik und der daraus resultierenden Identifikation der Individuen mit dem solidarischen Gemeinwesen sich verknüpfen. Ein solches Gesellschafts- und Entwicklungsmodell – basierend auf demokratischer Legitimation, Nachhaltigkeit, Effizienz und Partizipation – wäre eine realistische Alternative zur „Fordistischen Teilhabegesellschaft“, vor allem aber zur „Markt- und Konkurrenzgesellschaft“. Eine „Nachhaltige Solidargesellschaft“ wäre keine „Einheitsgesellschaft“, sondern im Sinne Marshalls eine „Bindestrichgesellschaft“, weil in ihr unterschiedliche und gegensätzliche Institutionen, Prinzipien, Werte koexistieren und im Wettbewerb stehen. Welches Modell gesellschaftlicher Entwicklung, welcher Entwicklungspfad sich künftig jedoch tatsächlich durchsetzen wird, ist heute nicht entschieden. Es ist letztlich davon abhängig, wie sich die internationalen Rahmenbedingungen weiter gestalten und welches gesellschaftliche Interesse sich als allgemeines gesellschaftliches Interesse artikuliert, institutionalisiert und schließlich kulturell dominiert. Ein neues Modell hat reale Durchsetzungschancen, insofern es historischen Entwicklungstrends entspricht und wenn es von gesellschaftlichen Mehrheiten gewollt und getragen wird. Dies freilich wird immer wieder auch verbunden sein mit interessenbestimmten Gegensätzen, mit Widerständen restaurativer Kräfte, mit tief greifenden gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen. Anders haben sich bislang nie gesellschaftliche Innovationen oder gar neue gesellschaftliche Entwick-
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lungsmodelle durchgesetzt. Solche Auseinandersetzungen sollten im 21. Jahrhundert aber nicht mehr länger durch Gewalt, Unterdrückung, Fremdbestimmung oder gar durch kriegerische Mittel entschieden werden. Demokratie sollte sich gerade auch darin bewähren, dass sie grundlegende Entscheidungen über alternative Entwicklungsperspektiven durch offene Diskussion, Wettstreit der Ideen und Konzepte, Mehrheitssuche, konsensorientierte Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse ermöglicht, akzeptiert und garantiert. Das dies gewandelte gesellschaftspolitische Kräfte- und Machtverhältnisse bedingt, sollte angesichts der historischen und aktuellen Erfahrungen mit sozialen Wandlungsprozessen nicht umstritten sein.
3.6
Angelsächsische, deutsche, skandinavische Modell-Varianten – Verschiedene Transformationswege
Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle, die einen solchen neuen Pfad nachhaltiger und solidarischer Entwicklung ermöglichen und initiieren, sind heute noch nirgendwo gesellschaftliche Realität. Doch trotz voranschreitender Globalisierung und einer fast drei Jahrzehnte währenden markt-liberalen und -radikalen Transformation ist die globale Welt, und hier namentlich auch die westliche Welt, nicht nach einem einheitlichen Muster „gestrickt“. Anders formuliert: Das „Modell Deutschland“ z. B. unterscheidet sich auch heute noch vom angelsächsischen Modell und beide unterscheiden sich vom skandinavischen Modell. Wir haben darauf bereits an verschiedenen Eckpunkten verwiesen. Diese Modellunterschiede sind schon dadurch bedingt, dass jedes Wirtschaftssystem von historisch verankerten Sozialund Kulturbeziehungen geprägt ist, die von Land zu Land stark variieren. Und spezifische polit-ökonomische Entwicklungspfade sind nicht einfach von einem Land auf das andere übertragbar. Die Ausgangsbedingungen und die spezifischen Erfordernisse der Transformation sind auf nationalstaatlicher, europäischer und globaler Ebene deshalb noch immer unterschiedlich. Trotz der Vereinheitlichungstendenzen in den letzten Jahrzehnten bleiben die Differenzen zwischen diesen historisch heraus gebildeten Modellen und Entwicklungswegen auch weiterhin relevant. Das marktliberale, angelsächsische Modell (vor allem USA, aber mit verschiedenen Abweichungen auch Großbritannien, Irland) beruht auf weit reichende Privatisierung und einen sehr kleinen Staatssektor, niedrige Abgaben und Steuern, deregulierte Arbeitsmärkte und auf großer sozialer Ungleichheit.
172
Wandel von Gesellschaftsmodellen
Das skandinavische Modell verfügt über eine hohe Staatsquote, einen ausgeprägten öffentlichen Sektor, eine aktive Arbeitsmarktpolitik und umfangreiche sozialpolitische Leistungen des Staates an die Bürger. Deutschland lag seit langem und liegt auch heute noch zwischen diesen beiden Polen des marktliberalen Kapitalismus und den nordeuropäischen „Wohlfahrtskapitalismus“ und kombiniert verschiedene Elemente der beiden Modelle. Typisch für den früh eingeschlagenen „mittleren Weg“, wie der Heidelberger Politikwissenschaftler Manfred G. Schmidt das deutsche Modell nennt (Schmidt 2000: 491-513), waren nach Auffassung der Berliner Sozialwissenschaftlerin Anke Hassel eine restriktive Wirtschaftspolitik, eine strenge Ordnungspolitik und eine starke außenwirtschaftliche Öffnung mit relativ großzügigen Sozialleistungen, die sich am Status der Beschäftigten orientieren (Hassel 2006: 36). Charakteristisch auch die korporatistischen Elemente, die nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführte Mitbestimmung, die überbetrieblichen Tarifverträge, das Kündigungsschutzrecht, das duale Ausbildungssystem, die Orientierung an einer betrieblichen Sozialpartnerschaft (Kocka 2005: 6). Wie wir bereits nachwiesen, ist dieses nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland etablierte und bis in die 1970er Jahre erfolgreich funktionierende Modell inzwischen erodiert (vgl. Kap. V.1, Kap. V.2). Deregulierung, Flexibilisierung, rückläufige Tarifbindung, Abbau des Kündigungsschutzes, Zunahme der unsicheren Beschäftigungsverhältnisse zeugen von diesem Aushöhlungsprozess. Im „Rheinischen Kapitalismus“ vollzog bzw. vollzieht sich diese Entwicklung – anders als in den angelsächsischen Ländern – schleichend innerhalb der bestehenden Institutionen, so Jürgen Kocka (vgl. Kocka 2005: 7). Der notwendige Umbau des „Modell Deutschland“, der den neuen Herausforderungen entspricht, kann kein Zurück in die Vergangenheit der alten Industriegesellschaft mit ungebremstem Wirtschaftswachstum, klassischer Vollbeschäftigung, ungebrochenen (Männer-)Erwerbsverläufen und einer diskriminierenden Grundhaltung gegenüber Frauen, Älteren und Nichtdeutschen bedeuten. Die Lösung liegt aber schon recht nicht in der einseitigen Orientierung an oder gar der Übernahme des alten angelsächsischen und speziell des nordamerikanischen Modells. Zukunftsfähigkeit des Landes – so betonen auch diese Sozialwissenschaftler – verlangt einen sozial-ökologischen Umbau, eine flexible Kombination von wirtschaftlicher Modernisierung, sozialstaatlicher Regulierung und Teilhabemöglichkeiten der Bevölkerung, von Zukunftsinvestitionen in Bildung und Wissenschaft, Partizipation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, gepaart nicht zuletzt mit starken Gewerkschaften und umfassenden demokratischen Mitentscheidungsrechten der Produzenten und Konsumenten. Wenn, dann bietet das skandinavische Modell am ehesten noch Zugangsmöglichkeiten zur sozial und demokratisch gestalteten Transformation hin zu
Teilhabe-, Konkurrenz-, Solidargesellschaft
173
einem zukunftsfähigen sozioökonomischen Entwicklungsmodell des 21. Jahrhundert. Nicht zuletzt diese Entwicklung der skandinavischen Staaten im letzten Jahrzehnt lässt den Schluss zu, dass künftig ein Solidargesellschafts-Modell dem einer Marktliberalen Konkurrenzgesellschaft sozial, kulturell und auch wirtschaftlich überlegen sein dürfte. Die eher sozialstaatlich orientierten Gesellschaften, in denen Arbeit, Bildung, Qualifizierung, Gesundheit, Alterseinkommen, soziale Sicherungssysteme auf Leistung und Solidarität beruhen, sind trotz der globalen Verdrängungskonkurrenz jenen Gesellschaften mit geringen Sozial- und Umweltstandards überlegen. Und dies nicht „nur“ hinsichtlich sozialer Kohäsion, sondern auch hinsichtlich gesamtwirtschaftlicher und vor allem gesamtgesellschaftlicher Entwicklung. In den skandinavischen Ländern korrespondierten in den letzten zehn Jahren wirtschaftliches Wachstum mit relativ niedriger Arbeitslosenquote, geringer Armutsquote, hohem Bildungsstandard, gesichertem Alterseinkommen, Geschlechtergleichstellung und einem alles in allem hohen Niveau sozialer Integration (vgl. Heintze 2005: 51 ff.). Deutschland nimmt hier im Vergleich der OECD-Länder nur einen mittleren Platz zwischen den skandinavischen Staaten und den USA ein. Daraus lässt sich verallgemeinern: Bildung, Qualifizierung, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, ein solides Gesundheitswesen und überhaupt ein gut funktionierendes soziales Gemeinwesen sind Voraussetzung nicht nur für ökonomischen Erfolg, sondern überhaupt für eine zukunftsfähige Entwicklung. Doch auch im „Modell Deutschland“ liegen – im Vergleich zum klassischangelsächsischen – noch immer Anknüpfungspunkte für dessen Umbau entsprechend den neuen Herausforderungen. Trotz der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, Anschlussstellen, Entwicklungspotenziale entspricht genau genommen keines der hier genannten real konkurrierenden Modelle gesellschaftlicher Entwicklung – angelsächsisches, deutsches, skandinavisches – den neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Oder anders formuliert: Ein „Referenzmodell“ für diese GesellschaftsTransformation gibt es nicht. Doch die Bedingungen und Möglichkeiten für eine Wende zu einem sozial-ökologischen und solidarischen Entwicklungspfad im 21. Jahrhundert sind durchaus sehr unterschiedlich. Dies zu ignorieren, wäre sowohl auf theoretischer wie vor allem auf strategisch-politischer Ebene ein Fehler.
174 3.7
Wandel von Gesellschaftsmodellen
„Teilhabegesellschaft“, „Markt- und Konkurrenzgesellschaft“, „Nachhaltige Solidargesellschaft“ – ein Vergleich
Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle – das belegen unsere Untersuchungen – erweisen sich tatsächlich als die neuen „Einheiten“ im realen Transformationsgeschehen der vergangenen Jahrzehnte. Auch für die Gegenwart und Zukunft spricht fast alles dafür, dass die Frage nach neuen, tragfähigen Gesellschafts- und Entwicklungsmodellen in den Mittelpunkt der Transformation rückt – praktisch-politisch und theoretisch-konzeptionell. Auf der Basis unserer entsprechenden Darstellungen dreier unterschiedlicher Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle wollen und können wir diese nun in Form einer Tabelle miteinander in Bezug setzen und vergleichen – was sie auszeichnet, wie sie funktionieren, weshalb sie erodierten und schließlich untergingen und welche neuen Optionen und Alternativen sich herausbildeten bzw. bilden. Vergleich der Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle Teilhabegesellschaft Gesellschaftsbild
„Soziale Marktwirtschaft“, „Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, „Teilhabegesellschaft“; Ungebremster Technikund Fortschrittsoptimismus; Modell des männlichen Familienernährers
Markt- und Konkurrenzgesellschaft Zersetzung des sozialmarktwirtschaftlichen Gesellschaftsmodells und Auflösung des „Klassenkompromisses“ (Sozialkompromiss); Übergang von der „Teilhabegesellschaft“ zur „Konkurrenzgesellschaft“ im umfassenden Sinne (sozial, kulturell, mental, privat); Der „flexible Mensch“, der als „Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge“ sich dem marktgesteuerten Wandel permanent anpasst und so am Wohlstand partizipieren könne; Übergang zum internationalen Standortwettbewerb
Nachhaltige Solidargesellschaft „Solidargesellschaft“ als Alternative zur „Konkurrenzgesellschaft“, in der Demokratie, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit zur regulierenden, integrierenden und orientierenden Grundidee für alle Bereiche der Gesellschaft werden; Ein Gesellschaftsmodell, das vom Menschen als Sozialwesen und dessen Bedürfnisse und Wünsche nach einem humanen, gerechten und solidarischen Gemeinwesen ausgeht; Anknüpfend an Traditionen sozialen Denkens, in denen „Gemeinsinn“, „Soziale Kohäsion“, „Soziale Anerkennung“ zentrale Bezugspunkte und Kategorien bilden;
Teilhabe-, Konkurrenz-, Solidargesellschaft
Wirtschaftsweise/ Produktionsmodell
Neuer Pfad wirtschaftlicher Entwicklung: Fordistische Massenproduktion und Massenkonsum/ produktivitätsorientierte Lohnentwicklung und Ausbau staatlicher Sozialleistungen/ Weltmarkt der komparativen Vorteile im Austausch industrieller Massenprodukte
Übergang vom „Fordistischen Teilhabekapitalismus“ zum „Finanzmarktgetriebenen Kapitalismus“, von der Dominanz der Kapitalverwertung in der Produktion zur Dominanz der Kapitalanleger (Umkehrung des Verhältnisses von Produktions- und Finanzkapital); Verwertung des Gesamtkapitals nicht mehr durch steigende Gesamteffizienz der ind. Produktion, sondern verstärkt durch Umverteilung zu Lasten der Bevölkerung (Revidierung der produktivitätsorientierten Lohnpolitik und der Sozialleistungen), zu Lasten der Konkurrenten (globaler Standortwettbewerb) und zu Lasten der Allgemeinheit (Umverteilung BIP)
Regulationsweise/ -modell
Nationalstaatliche Wirtschaftsregulation; Wohlfahrtsstaatliche Regulierung des Kapitalismus; Neben Dominanz privatkapitalistischen Eigentums größeres Gewicht staatlichen und öffentlichen Eigentums; Korporatistische Regulation der Arbeitsbeziehungen bei starkem
Übergang von einer stärker sozialstaatlich geprägten Regulation zu einer stärker marktinduzierten Regulation („Selbstregulierter Markt); Deregulierung, Privatisierung, „Entbettung“ des Marktes; Staatsentwicklung: Vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat;
175 Solidarität und Heterogenität, Differenziertheit, Konflikte und Wettbewerb als widerspruchsvolle Einheit Paradigmenwechsel der Industriegesellschaft: Globale Energie-, Rohstoff- und Emissionswende als Voraussetzung des Überlebens der Menschheit; Neuer Typ wirtschaftlicher Entwicklung: Übergang zu einer Wirtschaftsweise, bei der die Effizienzsteigerung des Ressourceneinsatzes mindestens der Größenordnung wirtschaftlichen Wachstums entspricht und langfristig eine nachhaltige Kopplung von Natur- und Wirtschaftskreisläufen garantiert; Produktions- und Entwicklungsmodell, das Ökonomie, Soziales und Ökologie auf das engste miteinander verbindet; Verschiedene Eigentumsformen: Privates, Individuelles, Öffentliches, Gemeinschaftliches Primat der freiheitlichdemokratischen Gesellschaft, der „neuen Demokratie“ (Polanyi) und ihrer sozio-kulturellen Zielsetzungen; Reform und Neukonstitution des Regulationssystems: Gesellschaftliche Regulierung und flexible Wirtschaftssteuerung, Bindung der Ökonomie, die ihrer
176
Wandel von Gesellschaftsmodellen
Gewicht der Gewerkschaften
Sozialmodell
Auf- und Ausbau eines Sozialstaates; Sozialpartnerschaft
Wirtschaftstheoretisch setzt sich der NeoLiberalismus als bestimmende Lehre gegenüber dem Keynesianismus, der einst die Klassik ablöste, durch Rücknahme des Sozialstaatsmodells und des (fordistischen) Teilhabemodells; Ökonomie der Enteignung, insbesondere durch Privatisierung des Öffentlichen, d. h. öffentlicher Güter, öffentlicher Daseinsfürsorge, öffentlichen Eigentums, öffentlicher Räume und öffentlicher Entscheidungen; Öffnung der Lohnentwicklung nach unten; Zunahme der sozialen Exklusion und sozialen Polarisation
Teilhabemodell
Teilhabe breiter Schichten der Bevölkerung und der Lohnarbeiter an der materiellen Reichtumsproduktion, insbesondere durch Bindung der Lohnentwicklung an Steigerungen der Arbeitsproduktivität, Dynamik der Löhne und Steigerung der Reallöhne;
Erosion und Aufhebung des fordistischen Verteilungskompromisses; Der „flexible Mensch“, der sich dem marktgesteuerten Wandel permanent anpasst und so am Wohlstand partizipieren soll; Materielle Bindung von Teilen der Ober- und Mittelschicht an das
Eigenlogik folgt, an übergeordnete gesellschaftlich-kulturelle Ziele; Weltweite Formen der Zusammenarbeit, der Kooperation Erneuertes Sozialmodell in dem Versorgung, Umverteilung und Vorsorge eine Einheit bilden; Infrastruktureller Sozialstaat; Partizipation, Inklusion vs. Exklusion; Wiedergewinnung und Stärkung der öffentlichen Daseinsvorsorge (Bildung, Kultur, Gesundheitsfürsorge, Pflege) und der öffentlichen Räume; Bedarfsgerechtes, solidarisches Grundeinkommen für jene, die keinen Zugang zu Erwerbsarbeit finden, soziale Grundsicherung für alle; Solidarische Bürgerversicherung; „Schule und Bildung für alle“, die die hierarchische Gliederung des Schulsystems überwindet und in der individuelle Förderung Grundprinzip wird Zielorientierung ist die gleichberechtigte Teilhabe aller am Sagen und Haben ihres Gemeinwesens (Politik, Wirtschaft, Soziales, Bildung, Kultur); Einheit von liberaler und neuer partizipativer Demokratie, neue individuelle Freiheitsrechte sowie neue wirtschaftli-
177
Teilhabe-, Konkurrenz-, Solidargesellschaft „Fahrstuhleffekt“: Möglichkeiten sozialen Aufstiegs infolge Arbeit, Qualifikation, Bildung; Formen der Mitbestimmung durch Gewerkschaften und Betriebsräte
neue Entwicklungsmodell
Individuelle Lebensführung
Allgemeine Entwicklungsweise
Steigende Reallohnentwicklung als Grundlage des Erwerbs von Konsumgegenständen; Vielfältige und selbstbestimmte Freizeitaktivitäten; Ausprägung spezifischer Lebensstile und – weisen oft unabhängig vom sozialen Status
Wirtschaftliche Dynamik, relative soziale Sicherheit, politische Stabilität auf Grundlage ind. Massenproduktion, Konsumtion, Teilhabeformen großer Teile der Bevölkerung
Individualisierung als zunehmende Konkurrenz und soziale Verunsicherung; Neuer Typ sozialer Problemlagen, charakterisiert durch Vielfalt unterbrochener Erwerbsverläufe, durch Arbeitslosigkeit, durch Einschränkungen im Konsum, der Lebensführung, der Teilhabe; Vertiefung der sozialen Spaltungen Die Stärken des Modells – Entfaltung von Evolutions- und Innovationspotenzialen, politische Stabilisierung durch soziale Bindungen von Ober- und Teilen der Mittelschichten, Wandel der Lebensweisen durch neoliberale Individualisierung und Selbstentfaltung – erwiesen sich zugleich als seine Schwächen; Evolutionspotenziale verwandelten sich in Destruktiv- und Zerstö-
che und soziale Rechte unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe; Statt Arbeit als Verwertungsfaktor und Arbeit um jeden Preis Arbeit, die Sinn macht, angemessen und Existenz sichernd entlohnt wird und Voraussetzungen schafft für Mitbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe; Mitbestimmung der Beschäftigten und Kommunen in der Wirtschaft, Wirtschaftsdemokratie Statt Konkurrenz aller gegen alle Entfaltung der Individualität aller durch Teilhabe am Öffentlichen für alle; Selbstbestimmte individuelle Lebensführung und Freizeit für Muße und öffentliches Engagement; Eigenverantwortung in einem solidarischen Gemeinwesen
Neues, das aus Re- und Neukombination vorhandener und neu entstehender Elemente in der Gesellschaft entsteht; Kombination und Wettbewerb verschiedener Sektoren und Elemente mit ihren unterschiedlichen und auch gegensätzlichen Institutionen, Prinzipien und Werten – bei Primat der freiheitlichdemokratischen Gesellschaft und ihrer sozio-
178
Wandel von Gesellschaftsmodellen
rungspotenziale, politische Stabilität in Instabilität, Individualisierung in Auflösung des sozialen Zusammenhalts und des sozialen Gemeinwesens Erosion/ Niedergang
Allgemeine Spannungslinien und Konfliktpotenziale: Keine wirklich gleichberechtigte Teilhabe aller am Sagen und Haben der Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft, Bildung und Kultur; Soziale Ungleichheit; Konservatives Familienbild, fehlende Gleichstellung der Frau; Geringe Ausprägung von demokratischemanzipatorischen Potenzialen; Fortschreitende Naturzerstörung; Sich verstärkende globale Disparitäten (bes. Nord-SüdKonflikt). Ursachen der Erosion und des Niedergangs: Der bisherige Entwicklungspfad stößt an systemimmanente Grenzen und ist so nicht fortzusetzen: Sinkende Ressourcen – und Energieeffizienz führen zu Rückgang der Produktivitätssteigerungsraten und der Wachstumsraten des BIP; Die Logik der fordistischen PW – Produktivität, Löhne, Konsum, Wachstum – wird untergraben und bleibt verschlossen;
Die großen Versprechen – durch Privatisierung, Liberalisierung und Individualisierung ungebrochenes Wirtschaftswachstum, Wohlstandsschübe, soziale Stabilität, Entfaltung aller kreativen Potenziale der Menschen zu induzieren – erfüllten sich nicht; Im Gegenteil: Die Stärken des neuen Modells schlugen in seine Schwächen um; Vor allem: Der notwendige Übergang zu einem neuen Wachstums- und Entwicklungspfad – einem ressourceneffizienten und umweltkonsistenten Typ wirtschaftlicher Entwicklung – wird nicht vollzogen, die Grenzen des fordistischen Systems in diesem zentralen Punkt zukunftsfähiger Entwicklung nicht aufgehoben
kulturellen Zielsetzung; „BindestrichGesellschaften“ als Gegenstück zu „Einheitsgesellschaften“ und als Grundlage von gesellschaftlicher Höherentwicklung
Teilhabe-, Konkurrenz-, Solidargesellschaft
Historische Einordnung
Die Folgen: Sinkende Wachstumsraten, nachlassende Investitionen, Zurückbleiben der Löhne hinter der Produktivität, partielle Aufhebung des bisherigen Teilhabemodus, Entwicklung einer Sockelarbeitslosigkeit; International: Ölpreisschock, Rezension, Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods Neues Gesellschaftsund Entwicklungsmodell kapitalistischer Entwicklung, das mit New Deal in den USA eingeleitet wurde und sich nach dem 2. Weltkrieg in den entw. Industrieländern durchsetzte und deren Funktions- und Entwicklungslogik für lange Zeit prägte; Auflösung dieses spezifischen Gesellschafts- und Entwicklungsmodells und sein Niedergang infolge systemimmanenter Grenzen; Ende des „Goldenen Zeitalters“; Beginn einer historischen Umbruchsituation, einer Übergangsepoche, in der verschiedene Entwicklungsoptionen möglich wurden
Das marktliberale Gesellschafts- und Entwicklungsmodell als regressive Antwort auf die Krise des fordistischen Teilhabekapitalismus und die neuen Herausforderungen vermochte nicht zu lösen, was historisch anstand: ein neuer Pfad nachhaltiger und solidarischer Entwicklung weltweit; Die aufbrechende Krise und Auflösung dieses spezifischen Gesellschafts- und Entwicklungsmodells, das sich über 30 Jahre weltweit durchsetzte, hat eine offenere Situation (Übergangszeiten) entstehen lassen, in der verschiedene Entwicklungsszenarien möglich sind: Regulierte Marktund Konkurrenzgesellschaft, Sozial-liberales Entwicklungsmodell, Allmählicher Übergang zu einem neuen Typ von Wachstum und Entwicklung, zu einem Modell „Nachhaltiger Solidargesellschaft“
179
Neues Gesellschaftsund Entwicklungsmodell, das den grundlegenden Herausforderungen des 21. Jh. entspräche und die Lehren des 20. Jh. berücksichtigte; Ein Modell, das durch Nachhaltigkeit, Effizienz und soziale Kohäsion auf der Makroebene und durch Freiheit, Gleichheit, demokratische Partizipation als Basis selbstbestimmter individueller Lebensführung gekennzeichnet ist; Statt „Beste aller Welten“ konfliktreicher Such- und Lernprozess, der nie abgeschlossen ist und immer wieder vor neuen Herausforderungen und Entscheidungen steht, Offenheit für weiterführende neue Wandlungs- und Transformationsprozesse
180 4
Wandel von Gesellschaftsmodellen
Globale Transformation. Das Modell „Nachhaltige und Solidarische Weltgesellschaft“
Die zweite, große Transformation ist, wie wir bereits nachgewiesen haben (vgl. Kap. IV, bes. Kap. IV.2), ihrem Wesen, ihrem Ort, ihrem Raum und ihrer historischen Dimension sowie ihren Folgewirkungen nach eine typisch globale Transformation. Denn es handelt sich heute nicht mehr um einen nationalstaatlichen, auch nicht nur europäischen, sondern um einen globalen Umbruch. Leben und Überleben der Menschheit erfordern im 21. Jahrhundert deshalb einen globalen Paradigmenwechsel, ein neues globales Entwicklungsmodell. Entwicklung ist im 21. Jahrhundert mehr denn je neu und vor allem auch global zu denken. Ein zukunftsfähiges globales Modell gesellschaftlicher Entwicklung muss auf einer veränderten Entwicklungsphilosophie basieren, in der Nachhaltigkeit, Solidarität und globale Gerechtigkeit eine widerspruchsvolle Einheit bilden. Ohne nachhaltige und solidarische Gestaltung der globalen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung lässt sich keines der weltweiten Probleme heute mehr lösen. Dies setzt eine grundlegende Demokratisierung der Globalisierung und die Kooperation und strategische Partnerschaft zwischen den verschiedenen Wirtschafts-, Sozial- und Kulturräumen voraus, sind diese doch heute wie nie zuvor wechselseitig aufeinander angewiesen. Ohne Übertreibung lässt sich feststellen: „Die Menschheit steht am Scheideweg. Die Alternativen lauten: Globale Kooperation oder globale Katastrophen. Und nach heutigem Wissensstand bleiben nur 10, vielleicht gerade noch 15 Jahre, um die entscheidenden Weichen zu stellen“ (Schumann/Grefe 2008: 62). Aber wie stehen die Chancen für diese notwendige Weichenstellung in der Weltgesellschaft von heute?
4.1
Globale Transformation und Weltgesellschaft
Auf der Grundlage umwälzender technologischer Innovationen hat die kommunikative, ökonomische und kulturelle Integration unseres Planeten eine völlig neue Dichte und Intensität erlangt. Die Art und Weise des Zusammenlebens der Menschen verändert sich grundlegend. Von der Horde, dem Stamm, dem Staat, dem Nationalstaat – nun der Weg zu einer Weltgesellschaft? Der Begriff „Weltgesellschaft“ ist der Versuch, das Ganze der Weltzusammenhänge zusammenzufassen und -zudenken.
Teilhabe-, Konkurrenz-, Solidargesellschaft
181
Weltgesellschaft ist eine Idee des europäischen 18. Jahrhunderts. Sie reflektiert die Herausbildung eines europäischen Staatensystems in der frühen Neuzeit. Dieses Staatensystem ist erstmals seit der städtischen Welt der griechischen Antike ein System sich wechselseitig anerkennender Staaten, die miteinander geregelte Beziehungen unterhalten, ungeachtet fortdauernder kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen ihnen (Stichweh 2000: 7). Der moderne Begriff „Weltgesellschaft“ entsteht jedoch erst später, als an die Stelle „Europa“ der Weltbegriff und an die Stelle der Idee einer „Republik“ der Begriff „Gesellschaft“ trat (ebenda: 9). Kant prägte allerdings schon im ausgehenden 18. Jahrhundert den Begriff der „Weltbürgergesellschaft“ (Kant 1784: 55/56). Doch blieb der Begriff „Weltgesellschaft“ umstritten und wurde nie zum Leitbegriff theoretischen Denkens und praktischen Handelns. Innerhalb der Soziologie kam der Begriff „Weltgesellschaft“ an drei Orten – wohl eher unabhängig voneinander – auf den Weg: in Stanford mit dem World-Society-Konzept der Gruppe um John W. Meyer, in Zürich bei Peter Heintz und bei Niklas Luhmann in Bielefeld. Ihnen ging es darum, den soziologischen Gesellschaftsbegriff ins Weltweite zu übertragen und von der heutigen, modernen Gesellschaft als Weltgesellschaft auszugehen. Die politische Botschaft von der „Einen Welt“ wird soziologisch gefasst als „Eine Gesellschaft“. Sie wird in diesem soziologischen Kontext jedoch als gegeben angenommen und stellt keinen Erwartungsbegriff dar (vgl. Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft“ 2005: 6/7). Genau hier setzt – und m. E. zu Recht – die Kritik ein. Den globalen Verhältnissen könne man den Titel „Weltgesellschaft“ noch nicht zuerkennen, da die Ungleichzeitigkeiten und Tempodifferenzen zwischen System- und Sozialintegration in der Weltgesellschaft nicht zu übersehen seien (Münch, ebd.: 7). Den Weltsozialverhältnissen mangele es gerade an „Gesellschaftlichkeit“ (Altvater/Mahnkopf, ebd.: 7). Verwiesen wird auf die krassen Unterschiede im Entwicklungsstand der einzelnen Regionen, auf die Entwicklung der Welt in Zentren und Peripherien. Fundamental ist die Kritik Immanuel Wallersteins, der alternativ zur Theorie der Weltgesellschaft die Weltsystemtheorie begründete. Konsequent ist sein Wechsel von der nationalen zur globalen Ebene. Sein analytischer Ausgangspunkt ist die Ökonomie im globalen Zusammenhang. Er geht davon aus, dass die gegenwärtige Welt als globale kapitalistische Weltökonomie verstanden werden müsse. Die Außenwelt wird bei Wallerstein zur Innenwelt. Und die globale kapitalistische Ökonomie führe nicht – wie die System- und Modernisierungstheoretiker annehmen – zur Angleichung, sondern zur Verstärkung der strukturellen Differenzierung in zentrale, semiperiphere und periphere Weltregionen (Wallerstein 1979). Das System sei letztlich nicht in der Lage, seine inneren Konflikte
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Wandel von Gesellschaftsmodellen
zu eliminieren. Das 21. Jahrhundert werde – so Wallerstein – deshalb endgültig von der Ablösung des kapitalistischen Weltsystems geprägt sein (Wallerstein 2002). Wallersteins Modell reduziert die Welt im Prinzip jedoch zu sehr auf eine (ökonomische) Dimension, statt sie als komplexes, mehrdimensionales ökonomisches, politisches, soziales und kulturelles Gefüge zu verstehen. Der Begriff und das Konzept der „Weltgesellschaft“ werden hier von mir in einer doppelten Perspektive verstanden. Zum einen „Weltgesellschaft“ als Begriff zur Bezeichnung einer globalen empirischen Realität, der die immer enger werdenden ökonomischen, sozialen, kulturellen, kommunikativen Weltzusammenhänge reflektiert und zugleich ihre Differenzen und Konflikte mitdenkt und klar benennt. Zum anderen „Weltgesellschaft“ als Begriff im Sinne eines Leitbildes, einer Vision, eines globalen Transformations- und Entwicklungsmodells; kurzum als eine normative Beschreibung für etwas, das zu realisieren noch ansteht und dessen Resultat nicht feststeht. Nur wenn eine Weltgesellschaft durch Transformation reale Gestalt annimmt, wenn sie schneller wächst als die anstehenden globalen Konflikte um Energie, Nahrung, Wasser, einen Platz zum Leben, kann der Countdown vermieden und ein neuer Entwicklungspfad beschritten werden. Transformation wird somit zur Voraussetzung für eine Weltgesellschaft, in der Nachhaltigkeit, Solidarität und globale Gerechtigkeit zu Leitlinien globaler Entwicklung werden. Verspielte Chance, neue Gefährdung Einen Ausgangspunkt dieser Transformations-Überlegung bildet die Erkenntnis: Das „zivilisatorische Projekt der Moderne“ (D. S. Lutz), den Krieg als Institution abzuschaffen, die Gewalt als gesellschaftliche und zwischenstaatliche Verkehrsform zu eliminieren, globale Probleme gemeinsam anzugehen und schrittweise eine solidarische und demokratische Weltgesellschaft zu gestalten, ist auch nach 200 Jahren nicht Wirklichkeit geworden. Wenngleich wir inzwischen wissen, dass es nie den idealen (End-)Zustand einer harmonischen Weltgesellschaft geben kann, und dass „zivilisatorische Projekt der Moderne“ immer nur als Prozess der Annäherung an ein Ideal verstanden werden kann, ist die heutige Realität mit ihren komplexen Spannungen, Konflikten, Spaltungen, militärischen, ökologischen und sozialen Gefährdungen ernüchternd. Das Bemerkenswerteste: Dieses „zivilisatorische Projekt der Moderne“ geriet in dem Moment in die Defensive oder gar in Vergessenheit, als sich das Fenster zu seiner schrittweisen Verwirklichung öffnete. Mit dem Ende des kalten Krieges, dem Zusammenbruch der alten, bipolaren Weltordnung, der Eliminierung der gefährlichsten Seiten des Ost-West-Konflikts im Übergang zu den
Teilhabe-, Konkurrenz-, Solidargesellschaft
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1990er Jahren boten sich für die allmähliche Schaffung einer friedvollen und demokratischen Weltgesellschaft, die zugleich den Weg zu einem sozialökologischen Entwicklungspfad öffnet, neue Chancen. Die Vertreter der soziologischen Modernisierungstheorie wie auch die der Theorie der Weltgesellschaft sahen nun gar die Zeit gekommen, wo die „Konvergenz“ endgültig über die „Divergenz“ dominieren, die globale „Kommunikation“ zum Scharnier der sich formierenden Weltgesellschaft werde und die „gemeinsamen (westlichen) Werte und Normen“ sich weltweit institutionalisieren und zur „normativen Grundlage“ einer einheitlichen Weltgesellschaft würden. Zwei Jahrzehnte später sieht die Welt jedoch anders aus. Die Chancen zur politischen Gestaltung einer neuen Weltgesellschaft, die sich mit dem Ende des „Zeitalters der Extreme“ (Hobsbawm 1998) ergaben, wurden nicht genutzt, ja sogar verspielt. Zum Ausgangspunkt des Ringens um eine neue, zivile und demokratische Weltgesellschaft wurde nicht das in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts mit entwickelte Konzept gemeinsamer Sicherheit und Rüstungskontrolle, friedlicher Konfliktregulierung, politischen Dialogs und Zusammenarbeit sowie von Nachhaltigkeit der Entwicklung. Vielmehr wurden die ungezügelte Globalisierung, das Modell des Gleichgewichts des Schreckens, der Politik militärischer Stärke, des Strebens nach globaler Hegemonie in der Welt, wie es vor allem einflussreiche Kreise in den USA präferierten, fortgeführt und zur Grundlage des Strebens nach einer einseitig dominierten Weltordnung. Die Folgen sind allenthalben spürbar: Die Differenzen und Spaltungen in der globalisierten Welt nahmen zu, die Sozialität der Weltgesellschaft schwand weiter, die Risiken und Gefährdungen der menschlichen Zivilisation häuften sich. Und die Erfordernisse eines neuen, nachhaltigen Entwicklungspfades wurden erst einmal völlig verdrängt. Die Ursachen dieser Entwicklung nach 1989/90 sind vielgestaltig. Doch lagen sie bereits im spezifischen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster dieser historischen Zäsur durch die nun einseitig dominierenden staatlich-politischen Akteure begründet. Das eine, östliche System – wirtschaftlich abgehängt, politisch gescheitert, ideologisch ausgezehrt – implodierte. Das andere, westliche System, sah sich als Sieger einer Jahrzehnte langen Auseinandersetzung. Die neuen Leitbilder waren – genau betrachtet – die alten. Kritisches Denken wurde erst einmal in Ost und West verdrängt. Die Implosion der staatssozialistischen Industriegesellschaften wurde im Westen nicht als Warnsignal für die Reformierung der eigenen, kapitalistischen Industriegesellschaften, für den sozial-ökologischen Umbau gedeutet. Im Gegenteil. Als Antwort auf die seit den 1970er Jahren sich abzeichnende Krise des
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Wandel von Gesellschaftsmodellen
Fordismus (vgl. Kap. V.1) und den Wegfall der Systemkonkurrenz kam es zur globalen Offensive des Marktliberalismus (vgl. Kap. V.2). Marktradikale Weltökonomie, nicht nachhaltige Weltgesellschaft wurde zum Schlüsselbegriff. Die auf die Tagesordnung gerückte Gesellschafts-Transformation, insbesondere der sozial-ökologische Umbau wurden verdrängt, missachtet, verzögert.
4.2
Gefährdungen, Herausforderungen und alternative Entwicklungsmodelle
Die ungelösten Probleme der Vergangenheit korrespondieren nun mit globalen Herausforderungen neuer Art. Zusammen bilden sie ein Knäuel von Konflikten und Gefahren, die den Weg zur zweiten großen Transformation und zu einer solidarischen, friedlichen und demokratischen Weltgesellschaft einerseits mehr denn je erfordern, andererseits erschweren. Erstens hat sich der Klimawandel – wie auch der Umweltbericht der UN aus dem Jahre 2007 nachdrücklich hervorhebt – zu einer Klimakrise zugespitzt, die, sofern nicht in den nächsten zehn Jahren grundlegend gegengesteuert wird, irreversible Schäden für Mensch und Natur, Wirtschaft und Gesellschaft hervorbringen wird. Die Klimakrise ist längst zur ökologischen Krise geworden, die mit Nachdruck und ohne Zeitverzug einen neuen wirtschaftlichen Wachstumspfad, der auf Ressourcen- und Energieeffizienz und auf eine neue Art der Kopplung von Natur- und Wirtschaftskreisläufen basiert und Nachhaltigkeit zum obersten Prinzip erhebt, verlangt. Zweitens haben die sozialen Verwerfungen und sozialen Spaltungen in der Welt dramatisch zugenommen. Seit den 1970er Jahren wurden die Märkte rabiat für Kapital und Waren geöffnet. Ein bedingungsloser Standortwettbewerb löste das internationale Welthandelssystem ab. Der Finanzmarktkapitalismus nahm globale Gestalt an und dominierte die wirtschaftliche und soziale Entwicklung weltweit, ohne dass ihm Zügel angelegt wurden. Sozialrechte und Umweltstandards wurden bislang nicht global verwirklicht. In einer Welt, die so reich ist wie nie zuvor, verbreitet und verfestigt sich die Armut. Fast die Hälfte aller Bewohner/innen des Südens, ca. 2,6 Mrd. Menschen, leben nach Weltbank-Angaben von weniger als 2 US-Dollar pro Tag und beinahe ein Fünftel, ca. 985 Mio. Menschen, gar von weniger als 1 Dollar pro Tag. Drittens hat die Krieg-Friedens-Frage seit den 1990er Jahren eine neue Dimension erlangt. Herkömmliche und neue Kriege, darunter völkerrechtswidrige Präventivkriege, prägen bislang das Bild unserer Zeit. Zugleich droht ein neues
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Atomzeitalter (Bahr [Hg.] 2007: 261). Die Rüstungsspirale dreht sich immer weiter. Die Rüstungsausgaben lagen im Jahr 2006 bei 1,204 Billionen Dollar (USA allein 528 Milliarden Dollar) und erreichten damit einen Stand wie im kalten Krieg. Die globale Welt ist – entgegen allen Hoffnungen – heute sozial zerklüfteter, unübersichtlicher und gefahrvoller geworden. „Absehbar ist, dass Klimawandel und Flüchtlingsströme, die Instabilität der Weltfinanzmärkte, der Ressourcenmangel und Konflikte um Land und Wasser schon im kommenden Jahrzehnt die zentralen Themen aller Politik werden. Und keines dieser Probleme duldet Aufschub. Ihre Bewältigung wird unweigerlich zur Existenzfrage für große Teile der Menschheit. Die Intensität der Bedrohung kann jedoch auch eine politische Dynamik entfalten, die alle traditionellen Grenzen sprengt“ (Schumann/Grefe 2008: 65). Der Ausbruch der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 verdeutlicht diese Gefahren wie aber auch die notwendige strategische Kurskorrektur mit allem Nachdruck. Neue Herausforderungen Einen neuen Typ nachhaltiger wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung, eine solidarische, friedvolle und demokratische Weltgesellschaft zu gestalten werden zur größten Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Diese unsere bereits früh geäußerte Annahme gewinnt im aktuellen globalen Kontext unserer Zeit ihre besondere Relevanz. Ein Masterplan liegt dafür nicht vor und kann nicht vorliegen. Es geht auch im globalen Maßstab um einen gemeinsamen, pluralen Such- und Lernprozess der unterschiedlichen Akteure, in dem nicht das „Ende der Geschichte“ sondern „Nachhaltigkeit, Solidarität, Gerechtigkeit“ in der „Weltgesellschaft“ die neue Leitorientierung bilden müssen. Denn die globale Umbruchsituation hat neue Erfordernisse und neue Gestaltungsherausforderungen auf die politische Agenda gesetzt. Wandel ist dabei nicht mehr wie in der Zeit der bipolaren Spaltung der Welt als Wandel des Anderen (Systems, Modells, Lebensweise), sondern zuerst als Wandel des Eigenen zu verstehen. Das „Eigene“ ist mit dem „Anderen“ heute enger denn je verbunden. Hierbei wird der Wandel entsprechend der Vielfalt der globalen Welt in den verschiedenen Ländern und Regionen durchaus unterschiedlichste Formen annehmen, aber eben zugleich gemeinsame Lösungsansätze bei den Fragen der Energiewende, der Ressourceneffizienz, der nachhaltigen Art der Kopplung von Natur- und Wirtschaftskreisläufen beinhalten. Die Idee von einer unilinearen Entwicklung, die von einem Akteur verkörpert wird, ist endgültig passé. Unter-
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schiedliche und alternative Entwicklungspfade bilden in „Einer Welt“ nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel. Trotz der marktliberalen Globalisierung, die seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die gesamte Weltgesellschaft erfasst und verändert hat, existieren auch heute unterschiedliche Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle mit unterschiedlichen Traditionen, Kulturen, Zukunftsimplikationen. So das angelsächsische, das kontinental-europäische, das skandinavische oder das chinesische Modell bzw. die sich jetzt in Lateinamerika herausbildenden Entwicklungsvarianten. Vorbei ist die Zeit, wo man glauben konnte, die Welt nach einem (entweder „westlichen“ oder „östlichen“) Entwicklungsmodell formen zu können. Mehr noch: Der Wandel der westlichen Moderne wird, nachdem sein traditionelles industrielles Wachstumsmodell seit den 1970er Jahren selbst in die Krise geraten ist und die marktradikale Antwort darauf gegenwärtig dasselbe Schicksal ereilt, nun selbst zur Voraussetzung des globalen Wandels, der globalen Transformation. Sonst könnten die „Vorreiter“ einmal zu „Nachzüglern“ werden. Die typische Form von Wandel im 21. Jahrhundert wird dennoch auch auf globaler Ebene die der „Gesellschafts-Transformation“ sein, d. h. Wandel überholter gesellschaftlicher Prozessstrukturen und Entwicklungsmodelle sowie Schaffung neuer Modelle zukunftsfähiger wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Entwicklung. Dies allerdings wird sich in unterschiedlichster Gestalt und in vielfältigsten Formen vollziehen. Doch gerade auf globaler Ebene fällt die „Zäsur der Moderne“ mit der Notwendigkeit eines neuen Entwicklungs- und Gesellschaftsmodells aufs engste zusammen. Dabei hat die Globalisierung die Ebenen des Wandels, der Transformation überall grundlegend verändert. Früher galt der Nationalstaat als entscheidende Ebene sozialen und politischen Wandels. Der Staat – zumal in den MBKGesellschaften – verfügte über mächtige Instrumentarien, um den kapitalistischen Markt einer demokratischen Regulierung zu unterwerfen und ihn sozial zu flankieren. Im Maße des Voranschreitens der Globalisierung und der Entgrenzung der Märkte vor allem seit dem 1970er Jahren verloren und verlieren die Regierungen der Nationalstaaten die wichtigen Instrumente zur Regulierung des Kapitalismus, zur Kontrolle der ökonomischen Außenbeziehungen. An deren Stelle tritt der Markt, namentlich der Weltmarkt. Die Kongruenz der sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Räume, die im Nationalstaat noch gegeben war, löste sich auf. Die Integrationskraft des Nationalstaates und seine Problemlösungskapazitäten sanken. Die Liberalisierung und Deregulierung des Kapitalverkehrs haben diese Entwicklung zusätzlich noch verstärkt, so dass Kapitalströme und Informationsflüsse nationale Grenzen überschritten, ohne dass Regierungen diese noch effektiv kontrollieren konnten. Es entstanden transnationale Räume (wie gerade die Finanzmärkte), die sich dem regulatori-
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schen Zugriff einzelner Nationalstaaten immer weiter entzogen (s. auch Wahl 2008: 3; Meyer 2008: 101). Gesellschafts-Transformation wird unausweichlich ein globales Projekt. Heute aber fehlen noch die institutionellen und verfahrensmäßigen Instrumente, um die globalen Probleme zu bearbeiten, oder die z. T. vorhandenen multilateralen Wirtschaftsorganisationen wie IWF, Weltbank und WTO unterliegen keiner demokratischen Kontrolle und fungierten bislang selbst als Organe einer marktliberalen Globalisierung. Die Transnationalisierung der Ökonomie war bislang nicht nur jedem demokratischen Zugriff entzogen, sondern beeinflusste umgekehrt die Entscheidungen demokratisch gewählter Regierungen immer nachhaltiger. Und dies, obgleich davon das Leben Millionen von Menschen und oft das Schicksal ganzer Volkswirtschaften betroffen sind. Die „Einbettung“ der globalen Märkte, ihre demokratische Regulierung und Kontrolle wird heute zur Grundbedingung „normaler“ wirtschaftlicher Entwicklung, vor allem aber für eine sozial-ökologische und demokratisch gesteuerte Transformation in den einzelnen Ländern und für die Herausbildung eines zukunftsfähigen Entwicklungsmodells für die Weltgesellschaft als Ganzem. Die weltweite Finanzkrise ist dafür nicht die Ursache, sondern nur der markante Beleg. Alternative Konzepte und Entwicklungsmodelle Die Reaktionen auf diese marktliberale Globalisierung und auf die Notwendigkeit eines neuen Entwicklungspfades sind vielgestaltig. Viele sprachen bislang vom Ende einer sozialen, demokratischen Gestaltungspolitik und präferierten in der Praxis allein Anpassung. In der hier thematisierten Perspektive wird ganz im Gegenteil von einer Gestaltbarkeit der Globalisierung, einer sozioökonomischen und demokratischen Transformation ausgegangen. Nur dann kann der globale Markt den Bedürfnissen von Mensch und Natur untergeordnet und global der Weg zu einem sozial und ökologisch geprägten Entwicklungspfad geöffnet werden. Dies ist eine auf längere Sicht angelegte Transformationsperspektive. Transformation ist dann mit dem Anspruch konfrontiert, die heutigen globalen Trends zu analysieren und zu bestimmen sowie die Zusammenhänge und Übergänge zwischen dieser globalisierten Welt und einem zukünftigen sozialökologischen und solidarischen Entwicklungspfad aufzuzeigen. Heute dominieren in der Analyse und Beschreibung dieser „Großen Transformation“ noch viele Leerstellen. Ein überzeugendes alternatives makrosoziales Konzept gibt es bislang nicht. Dennoch sind verschiedene Ansätze alternativer Konzepte und Entwicklungsmodelle in der Diskussion (vgl. zu Folgendem auch Meyer 2005: 413-429 und 2008: 101-112; Wahl 2008):
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Wandel von Gesellschaftsmodellen
Da ist zum einen das Konzept „Weltstaat und Weltregierung“. Es geht davon aus, das Modell des Nationalstaates auf die internationale Ebene zu übertragen und einen Weltstaat oder eine Weltrepublik zu schaffen. Die schon früher, z. B. bei Kant entwickelte Idee einer Weltrepublik, wurde im Zuge der Globalisierungsdebatte wieder aufgegriffen und neu begründet. Der Nationalstaat soll nicht verschwinden, sondern durch eine übergeordnete Ebene ergänzt werden (vgl. z. B. Höffe 1999). Die Welt de facto als Bundesstaat, wo die Probleme bearbeitet werden, die die nationalstaatliche Kompetenz überschreiten – wie Umwelt-, Sicherheits-, Entwicklungsfragen. Dabei soll dem Prinzip der Subsidarität große Bedeutung beigemessen werden. Weltstaat bzw. Weltrepublik verlangt danach zugleich Weltparlament, globales Gewaltmonopol und globale Judikativen. Unter Umständen könnte die EU – so die Überlegung – dafür eine Vorstufe bilden, wo die Möglichkeiten und Grenzen von Staatlichkeit jenseits des Nationalstaates genauer studiert werden könnten. Da ist zum anderen das Konzept der so genannten „Deglobalisierung“, das u. a. in der globalisierungskritischen Bewegung diskutiert wird (vgl. z. B. Bello 2005). Es ist vor allem darauf gerichtet, die Ökonomie der Entwicklungsländer vom gegenwärtigen Globalisierungsdruck zu entlasten und für sie Möglichkeiten zu schaffen, dass sie dem Leitbild eines sozial gerechten und ökologisch tragfähigen Wirtschaftens folgen können. Deshalb sollen die ungebremste ökonomische Integration der Entwicklungsländer in den Weltmarkt gestoppt und stattdessen insbesondere die lokalen, regionalen und nationalen Märkte gestärkt werden. Die Einwirkungsmöglichkeiten von WTO, Weltbank und IWF sollen grundlegend zurückgeschraubt werden. Überdies werden in diesem Konzept gerade soziale und gesellschaftliche Gegenbewegungen als entscheidender Ausgangspunkt für die Schaffung einer neuen Weltordnung angesehen. Der in den letzten Jahren am meisten diskutierte Ansatz zur Gestaltung der Globalisierung und der künftigen weltweiten Entwicklung ist der der „Global Governance“. Global Governance wird in aller Regel als globale Ordnungspolitik oder Weltordnungspolitik übersetzt bzw. interpretiert. Es wird davon ausgegangen, dass die ökonomische Globalisierung der politischen Regulierung entglitten ist und es dringend notwendig sei, politische Reglungskompetenz zurück zu gewinnen. Durch institutionelle Mittel und Wege sollen die Weltprobleme kooperativ bearbeitet und die Globalisierung neu gestaltet werden (Stiftung Entwicklung und Frieden 2006: 18). Dies verlange eine Reform der bestehenden Institutionen (u. a. IWF, WTO, Weltbank), die Schaffung neuer Institutionen, z. B.
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eines wirtschaftlichen Weltsicherheitsrates oder einer internationalen Finanzund Steuerbehörde, sowie ein Geflecht formeller, völkerrechtsverbindlicher und informeller Abkommen. Das Konzept zielt somit auf einen neuen Typus von Zusammenarbeit der Akteure in der Weltpolitik, d. h. von nationalen politischen Institutionen und multilateralen regionalen und globalen Institutionen (wie Weltbank, Weltwährungsfonds, Welthandelsabkommen GATT, WTO) mit der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft. Vor allem auch die NGOs und ihre Netzwerke sollen ein stärkeres Gewicht in den Entscheidungsprozessen zur Globalisierung erlangen. Global Governance ist in diesem Sinne ein neokorporatistisches Konzept (Wahl 2008: 10). Durch ein komplexes System der Steuerung soll es zugleich zu Vereinbarungen kommen, die in verschiedenen Politikbereichen zu „Weltordnungen“ – Weltumweltordnungen, Weltsozialordnungen, Welthandelsordnungen, Weltfriedensordnungen (Stiftung Entwicklung und Frieden 2006: 219) – oder internationalen Regime (z. B. Klimaregime) führen. Wichtig ist hierbei, dass die grundlegenden Bereiche von Weltökonomie und Weltgesellschaft und ihre Regularien – Handel, Arbeit, Umwelt, Gesundheit, Sicherheit – demokratisiert werden. „Weltgesellschaft“ ist jedoch nicht als Summe allein verschiedener Ordnungen zu verstehen, wie sie andererseits nicht ohne Ordnungen, d. h. Institutionen, Regeln, Normen entstehen kann. Gerade soziale, ökologische, demokratische Rechte für alle Menschen, gleich wo sie leben, werden zu einem Dreh- und Angelpunkt auf dem Weg zur Weltgesellschaft. Es geht um Weltbürgerrechte, die für alle Menschen gelten und einen sozialen und demokratischen Mindeststandard gesetzlich garantieren. Gleiche Bürgerschaft und gleiche Grundrechte und –pflichten erfordern eine Politik der Anerkennung der unterschiedlichen kulturellen Identitäten, Anerkennung gleichberechtigter Teilhabe aller Individuen und Gruppen an den sozialen und ökonomischen Ressourcen und Chancen der Gesellschaft und Anerkennung des verpflichtenden Rahmens der rechtstaatlichen Demokratie und der universellen Grundrechte aller (vgl. auch Meyer 2008: 133). Weltweit stellt sich hier genau so das Problem der „Sozialen Bürgerschaft“ wie wir es am Beispiel der westlichen Gesellschaften begründet haben (vgl. Kap. V.3.4). Zugleich geht es um neue Regeln eines welt-gesellschaftlichen Zusammenlebens. Diese entstehen in Keimformen heute bereits in sozialen Bewegungen, Netzwerken und Kampagnen und können künftig zu veränderten oder auch neuen Institutionen führen. Im Global Governance-Konzept sind diese demokratischen Aspekte unter-, die technokratische Steuerung überrepräsentiert. Ebenso
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Wandel von Gesellschaftsmodellen
finden die unterschiedlichen Interessenlagen der verschiedenen Akteure der Weltpolitik eine zu geringe Beachtung. Entwicklungsleitbild des Global Governance-Konzepts ist das – bei allen seinen Schwächen – Paradigma der nachhaltigen Entwicklung. Hier sind die Berührungspunkte zu dem mit dem gesellschaftlichen Umbruch erforderlichen neuen Modell sozioökonomischer und kultureller Entwicklung am ausgeprägtesten. Die geforderte „Soziale Globalisierung“ könnte zu einem wesentlichen Baustein der sozial-ökologischen Umgestaltung mit dem Ziel einer nachhaltigen Entwicklung werden. Entsprechende Untersuchungen belegen, dass sie trotz mancher Ansätze – bezüglich Ideen, Akteuren, Instrumenten – noch keine bestimmende Tendenz der Globalisierung geworden ist (Leisering 2008). Es wäre schon ein Fortschritt, wenn die entsprechenden internationalen Abkommen – Charta der Vereinten Nationen von 1945, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, die Beschlüsse der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), und besonders der Internationale Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen von 1966 („Sozialpakt“) – Richtschnur des Handelns der internationalen Gemeinschaft würden. Denn sie zielen im Grunde auf nachhaltige Entwicklung und Teilhabe aller am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fortschritt. Dabei geht es heute insbesondere um das Ringen für die Überwindung von Hunger, Analphabetentum, um den Zugang der Menschen zu den globalen kollektiven Gütern wie Wasser, gesundheitliche Versorgung, Arbeit, Bildung und Ausbildung als Mindestbedingungen eines menschenwürdigen Lebens überall auf der Erde. Ein neues Produktionsmodell bildet auch auf globaler Ebene die Grundlage eines neuen Sozialmodells. Das historisch herausgebildete „Europäische Sozialmodell“, das es in diesem wortwörtlichen Sinne so nicht gibt , könnte, wenn es entsprechend reformiert und transformiert würde, dabei noch immer eine beachtliche Rolle spielen. Doch viele Autoren bescheinigen Europa heute einen grundlegenden Mangel an Solidarität (zu dieser Diskussion s. Beckert/Eckert/Streeck/Kohli [Hg.] 2004). Will die EU eine solche neue Rolle wahrnehmen, bedingte dies, dass in ihr end-
Zum einen gibt es zwischen den europäischen Ländern große Unterschiede hinsichtlich ihrer Sozialsysteme, ihrer Ungleichheitsverhältnisse und zum anderen sind einige Industriestaaten außerhalb Europas bezüglich effektiver sozialstaatlicher Institutionen europäischer als manches europäische Land. Den Sozialstaat haben die einzelnen Nationen jeweils für sich geschaffen, er ist nicht durch internationale Kooperationen zustande gekommen. (Giddens 2000: 20, 22)
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lich auch dem Sozialstaat und einer progressiven Sozialpolitik größere Bedeutung beigemessen wird. D. h. Durchsetzung der Nachhaltigkeit sozioökonomischer Entwicklung durch eine integrierte Sozial-, Umwelt- und Wirtschaftspolitik. Die Reformen des Sozial- und Wohlfahrtstaates müssen in einem solchen Kontext darauf zielen, sozialen Zusammenhalt und soziale Sicherheit zu erhalten und zu stärken. Dies verlangt von der EU die Förderung einer nachhaltigen, wettbewerbsfähigen Wirtschaft, die soziale Regulierung des Marktes, den Verzicht auf Steuerdumping und die schrittweise Vereinheitlichung der Sozialstandards – nicht auf dem niedrigsten, sondern auf dem den materiellen Entwicklungsbedingungen entsprechenden (hohen) Niveau. Eine Europäische SozialUnion bedingt auch den Erhalt und den Ausbau des öffentlichen Sektors und der öffentlichen Güter, die Stärkung der sozialen und wirtschaftlichen Bürgerrechte, die Partizipation der Bürger an den Entscheidungen nach dem Subsidaritätsprinzip. Global muss die Europäische Union mit dem Ziel agieren, weltweit die Märkte und gerade auch die Finanzmärkte wieder gesellschaftlich einzubetten, zu regulieren und verbindliche Sozial- und Umweltregularien durchzusetzen sowie ein System von Kooperations- denn Konfrontationsbeziehungen aufzubauen. Diese Anforderungen an eine zukunftsfähige EU haben durch die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise nur noch an Dringlichkeit gewonnen. Einem solchen „Europäischen Sozialmodell“ müssen zugleich zentrale Werte zugrunde liegen wie soziale Gerechtigkeit und Gleichheit, Solidarität, individuelle Freiheits- und Bürgerrechte, Kooperation und Dialog. Angesichts der globalen ökologischen, sozialen, menschlichen Erfordernisse ist der Übergang zu einer solchen nachhaltigen Entwicklungsrichtung in der EU nicht einfach wünschenswert, sondern letztlich überlebensnotwendig. Sie könnte damit einen wesentlichen Beitrag für den Modellwechsel von einer „Markt- und Konkurrenzgesellschaft“ zu einer „Nachhaltigen Solidargesellschaft“ in ihren unterschiedlichen Variationen erbringen. Voraussetzung ist, dass sie selbst diesen historisch notwendigen Entwicklungspfad ansteuert.
4.3
Globale Perspektiven der „Großen Transformation“
Trotz verschiedener konzeptioneller und gesellschaftspolitischer Ansätze – ein tragfähiges Konzept zur sozialen und demokratischen Gestaltung der Globalisierung und vor allem des Übergangs zu einem neuen globalen Modell nachhaltiger und solidarischer Entwicklung liegt bis heute nicht vor. Die Kreierung eines solch neuen globalen Entwicklungsmodells bleibt jedoch zentrales Anliegen der globalen Transformation. Es wird ein Modell sein müssen, das nachhaltige Entwicklung durch sozial-ökologische Umgestaltung, globale Solidarität und
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Wandel von Gesellschaftsmodellen
internationale Sicherheit miteinander verbindet und allen Menschen schrittweise ein menschenwürdiges Leben garantiert. Ein solches Modell nachhaltiger gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, kultureller Entwicklung auf globaler Ebene wird von den Realitäten der globalen kapitalistischen Welt, deren spezifischen Strukturen und typischen Ungleichheiten ausgehen und die gewonnenen praktischen Erfahrungen verallgemeinern müssen. Dafür gibt es in den genannten (unterschiedlichen) konzeptionellen Ansätzen von „Weltrepublik“, „Weltföderalismus“, „Deglobalisierung“, „Global Governance“ verschiedene Ansatz- und Anknüpfungspunkte. Doch gleichzeitig müssen sie um demokratisch-emanzipative, soziale und kulturelle Aspekte sowie um Fragen der Regulierung, besonders der Finanzmärkte, und den Fragen neuer globaler Akteurs-Allianzen angereichert und weiterentwickelt und vor allem zum Konzept eines neuen globalen sozial-ökologischen Entwicklungspfades verdichtet werden. Im 21. Jahrhundert liegt die Wahl letztlich zwischen einem politischautoritären und sozial-polarisierten, also höchst ungleichen Weg oder einem demokratisch und sozial ausgewogenen, relativ egalitären Weg. Die Gefahr, dass die Fortführung des gegenwärtig dominierenden Entwicklungsweges ob der damit verbundenen weiteren sozialen und regionalen Polarisierung, dramatischen Klimaveränderungen, extremen Verknappung von Öl, Wasser, Rohstoffen aller Art, einhergehend mit der Akkumulation militärischer Konflikte, zu Schocks und Katastrophen führen kann, ist real. Die Überlegenheit nachhaltiger Entwicklung und sozialer Integration wird allein schon dadurch offensichtlich, dass die sozialen Kosten des heutigen ressourcenintensiven Wirtschaftens nach Berechnungen des früheren Chefökonoms der Weltbank Nicolas Stern die Wachstumsgewinne immer weiter einschränken und schließlich auffressen wird (N. Stern 2006). Der grundlegende Inhalt der „Großen Transformation“ ist deshalb gerade auch auf globaler Ebene der sozialökologische Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft. Auch der Ausgang der globalen „Großen Transformation“ hin zu einer „Nachhaltigen und solidarischen Weltgesellschaft“ bleibt ungewiss. Denn auch diese Transformation ist kein Naturprozess, sondern abhängig vom Handeln und den Entscheidungen der widerstreitenden Akteure (zu den möglichen Entwicklungsperspektiven und -szenarien (s. auch Kap. V.2.3). Gleichwohl ist die Herausbildung eines neuen Entwicklungsmodells der Weltgesellschaft im 21. Jahrhundert nicht nur ein dringendes Erfordernis, sondern hat auch reale Chancen. Chancen, die sich gegenwärtig verstärken. Dafür spricht, dass das marktradikale Modell in seine bislang tiefste Krise geraten ist, der neoliberale Konsens vom Glauben an die Allmacht des Marktes rasant zerbricht, die weltpolitische Vormachtstellung der USA erodiert (vgl. auch Stiglitz 2008). Dafür spricht, dass
Teilhabe-, Konkurrenz-, Solidargesellschaft
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weltweit Parteien, Gewerkschaften und insbesondere soziale Bewegungen und Nicht-Regierungsorganisationen unter dem Label „Eine andere Welt ist möglich“ agieren und eine Gerechtigkeitsbewegung an Kraft gewinnt. Angesichts dieser Umstände und Veränderungen hat ein globales Umdenken eingesetzt und auch etablierte staatlich-politische Akteure weltweit erfasst, die sich für eine Demokratisierung der Globalisierung und eine Wende in der Ressourcen-, Energie- und Klimafrage aussprechen. Es steigen damit die Chancen für neue politische Allianzen. Vor allem das Problem der Nachhaltigkeit und hierbei insbesondere das der Energiewende, der Ressourceneffizienz, der Neugestaltung des Verhältnisses von Gesellschaft und Natur rückt nun (mit mindestens 30jähriger Verzögerung) allmählich ins Zentrum längerfristiger Überlegungen und Strategien; in der EU, in Indien, China und gerade auch in den USA. In der politischen Agenda von Barack Obama z. B. ist dies sichtbar. Die Auseinandersetzungen um diese globale Transformation gerade in den nächsten 10 bis 15 Jahren werden maßgeblich über die langfristigen Entwicklungstrends des 21. Jahrhunderts und ihrer Folgewirkungen entscheiden. Wir sind Zeugen und Akteure wahrhaft weltgeschichtlicher Veränderungen. Resümee Wenn Karl Polanyi bei seinen Analysen der ersten „Großen Transformation“ nachdrücklich auf die Gefahren eines selbstregulierenden Marktes für Mensch und Natur hinwies, so geht es unter den neuen Bedingungen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts um eine zweite „Große Transformation“, in der schließlich die Bedürfnisse des Menschen und der Natur wieder Ausgangs- und Zielpunkt der Entwicklung bilden. Das erfordert grundlegende systemische Korrekturen und Umgestaltungen, ein neues Verhältnis zwischen Gesellschaft, Natur und Wirtschaft. In einem ersten Schritt geht es um eine schnellere Globalisierung demokratischer Politik gegenüber der Wirtschaft, um eine soziale Regulierung der Weltwirtschaft und besonders der Finanzmärkte; weitergehend um eine grundlegende Demokratisierung der vorhandenen und Schaffung neuer globaler Institutionen und Regelwerke. Letztlich müsste eine solidarisch-demokratische Welt-Gesellschaft entstehen, die im Ergebnis demokratischer Willensbildung die Rahmenbedingungen setzt und die sozialen und kulturellen Ziele nachhaltiger Entwicklung, auch die der wirtschaftlichen, vorgibt. Ein solch tief greifender gesellschaftlicher Wandel bedingt vor allem die Abkehr von den alten, überholten gesellschaftlichen Doktrinen und Modellen. Denn die letztendlich entscheidende Ursache der globalen Fehlentwicklung und Krise liegt in den markt-liberalen und -radikalen Ideen und Konzepten, die sich als Antwort auf die Krise des sozial regulierten Kapitalismus der 1970er Jahre
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Wandel von Gesellschaftsmodellen
in den vergangenen 30 Jahren durchsetzten und eine wirtschafts- und gesellschaftspolitische Wende einleiteten: dass De-Regulierung ungebremst „Freiheit“ bedeutet und Prosperität nach sich ziehe, dass ein regulierender Staat ein bürokratisches Monster sei und nur Schaden anrichte: dass allein der „flexible Mensch“ (Sennett) als „Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinvorsorge“ Zukunft habe und am Wohlstand partizipieren könne. Notwendig ist deshalb, diese strukturellen gesellschaftspolitischen Hindernisse für eine neue Entwicklungsweise zu überwinden, also den Übergang zu neuen gesellschaftlichen Doktrinen und Modellen zu vollziehen. Nur so kann auch die Suche nach einem zukunftsfähigen, d. h. nachhaltigen Entwicklungspfad gelingen. Eine solche sozial-ökologische und demokratisch-partizipative „Große Transformation“ steht auf der Tagesordnung des 21. Jahrhunderts. Obgleich diese globale Transformation ein dringendes Erfordernis ist und ihre Chancen sich gegenwärtig verstärken, ist aber auch ihr Scheitern möglich wie auch eine einseitig begrenzte ökologische Transformation ohne soziale und demokratische Dimension. Möglich ist im 21. Jahrhundert jedoch auch eine sich dynamisch weiterentwickelnde, über ihre ursprünglichen Ziele hinaus reichende Gesellschafts-Transformation; eine Gesellschafts-Transformation, die zu neuen „Sozialen Formationen“ führt und schließlich den Weg zu einem neuen „Zivilisationstyp“ auf der Grundlage eines neuen Typs nachhaltiger wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Entwicklung öffnet. Diese verschiedenen Entwicklungsvarianten der Transformation im 21. Jahrhundert sind in der komplexen gesellschaftlichen Realität selbst angelegt. Welche sich letztlich in welcher Form und wie realisieren wird, hängt – wir wiederholen es abschließend noch einmal – vor allem von der weiteren Gestaltung der globalen Rahmenbedingungen und vom Agieren der unterschiedlichen Akteure, den künftigen gesellschaftspolitischen Kräftekonstellationen ab. Diese globale Umbruchsituation ist deshalb eine einmalige praktischpolitische Gestaltungsherausforderung für die handelnden Akteure und zugleich auch eine intellektuelle Herausforderung, nicht zuletzt für die theoretischkonzeptionelle Begründung dieses Umbruchs und seiner sozial-ökologischen und demokratisch-solidarischen Entwicklungsalternativen als Kern der „Großen Transformation“ des 21. Jahrhunderts.
VI Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert – Neuer Typ und neues Paradigma sozialen Wandels. Eine Zusammenfassung
Der Übergang zum und der bisherige Verlauf des 21. Jahrhunderts zeugen von einer beachtlichen Dynamik und Vielfalt sozialer Wandlungsprozesse in der Welt. Sozialer Wandel ist nicht nur hypothetisch, sondern in einer globalen Umbruchsituation tatsächlich zum bestimmenden Merkmal unserer Zeit geworden. Solche Zeiten der Übergänge, da Altes fortbesteht und Neues entsteht und sich unterschiedliche bzw. gegensätzliche Tendenzen überlagern, sind durch Unübersichtlichkeiten und die Herausbildung verschiedener Optionen der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung gekennzeichnet. Das trifft gerade auf die gegenwärtige Situation zu. Nur haben unsere Untersuchungen auch gezeigt, dass GesellschaftsTransformation in dieser oder jener Form und Variation zu einer bestimmenden Entwicklungstendenz des 21. Jahrhunderts wird und in mancherlei Hinsicht bereits geworden ist. Diese Transformation vollzieht sich vor dem Hintergrund des Suchens und Ringens um einen qualitativ neuen Entwicklungspfad. Dieser kann sich als evolutionärer Prozess nur vollziehen, wenn es zu einem Wandel, zu einer Umformung und Neukonstituierung des sozioökonomischen Entwicklungsmodells kommt. Auf der Grundlage des hier gewählten Ansatzes, ein zeitgemäßes Konzept (Modell) der Transformation und namentlich der Gesellschafts-Transformation im Kontext des realen Transformationsgeschehens („Neue Ära der Transformation“) zu generieren und zu diskutieren, soll dies abschließend nun auch in Tabellenform zusammengefasst und systematisiert werden. Zum einen geht es um die Charakterisierung von GesellschaftsTransformation als einem neuen Typ sozialen Wandels im 21. Jahrhundert. Zum anderen um die Reflexion und Verallgemeinerung dieses Wandlungstyps in einem neuen theoretischen Konzept (Paradigma).
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Neues Paradigma der Transformation
Mit einem solchen Vorgehen kann – abstrahiert vom historisch-konkreten Geschehen – sowohl das Charakteristische wie das Besondere, das Konstante wie das Neue dieses Typs sozialen Wandels im 21. Jahrhundert als auch des darauf bezogenen Konzepts (Paradigmas) in idealtypischer Form dargestellt werden. „Gesellschafts-Transformation“ als neuer Typ sozialen Wandels im 21. Jahrhundert“. Eine Zusammenfassung Inhalt
Bereich / Ebenen Orte
Ursachen
Akteure
Form
Neuer Typ sozialen Wandels als systemische Umformung und Neukonstituierung von Prozessstrukturen, Institutionen, Regeln, Entwicklungs-, Ordnungsund Deutungsmustern; Neuer Entwicklungspfad: sozial-ökologischer und demokratischpartizipativer Umbau; Paradigmenwechsel im Verhältnis von Wachstum und Entwicklung, von Entwicklung und Wachstum; „Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle“ als spezifische „Einheiten“ dieser Transformation, d. h. Wandel der Wirtschaftsweise, der sozialen Verhältnisse, der Lebensweise (Produktions-, Sozial-, Kulturmodell) Gesamtgesellschaftliche Ebene (Makro-, Meso-, Mikroebene), systemische Ebene – individuelle Ebene; Politischer, wirtschaftlicher, sozialer, kultureller Bereich Bestimmte Umkehrung der traditionellen Reihenfolge: Global; Weltgesellschaft bei unterschiedlichen weltregionalen Schwerpunkten, die sich zur Zeit weiter verlagern; Europäische Union; Nationalstaaten (u. a. MBK-Gesellschaften) Neue globale und innergesellschaftliche Umbruchsituation, die sowohl eine historische „Zäsur der Moderne“ markiert als auch einen notwendigen Wechsel im bislang dominierenden Produktions-, Sozial- und Kulturmodell anzeigt (Ende des „Goldenen Zeitalters“) und auf einen zukunftsfähigen Entwicklungspfad drängt; Neue Herausforderungen: nachhaltige Kopplung von Natur- und Wirtschaftskreisläufen, Solidarität und globale Gerechtigkeit, neues internationales Sicherheitssystem; Alte und neue wirtschaftliche, soziale, kulturelle Spannungslinien und Konflikte Transformation als widerspruchsvolle „Doppelbewegung“ (Polanyi) zwischen Marktradikalismus und Gegenwehr der Gesellschaft; Zivilgesellschaftliche Kräfte, soziale Bewegungen, kritische Eliten und aufgeklärte staatlich-politische Akteure, die im spezifischen Transformationsgeschehen unterschiedliche Koalitionen mit unterschiedlichen Führungspersonal bilden Gesellschafts-Transformation als gerichteter (intendierter) Prozess mit eigendynamischen Komponenten und nichtintendierten Folgen; Such-, Lern- und Experimentierprozess aktiv handelnder individueller und kollektiver Akteure mit variierenden Zielorientierungen statt „Umsetzung“ fertiger, abgeschlossener, verordneter Gesellschaftsmodelle (20. Jh.);
Resümee
Dauer Resultate
Historische Verortung
197 Vielgestaltige Wandlungsformen: Wechselwirkung von Stabilität, Trendbrüchen und Umwandlung sowie Neukonstituierung; Neues, das zugleich aus Re- und Neukombination vorhandener und sich neu entwickelnder Elemente in der Gesellschaft entsteht; Widerstände, Auseinandersetzungen und Orientierung der Transformationsakteure auf einen demokratischen Verständigungsprozess in der Gesellschaft über gemeinsam getragene Entwicklungsziele und -alternativen Längerfristig, in der Regel mehrere Jahrzehnte andauernd; Zeitgeschichtlich: seit Mitte der 1970er Jahre Keine „gesetzmäßige“ Höherentwicklung auf der Grundlage eines vorbestimmten, universellen Musters; Vielschichtiger, diskontinuierlicher, letztlich offener Prozess; Aktualität heute: „Markt- und Konkurrenzgesellschaft“ oder „Nachhaltige Solidargesellschaft“, verschiedene Übergangsformen und Varianten; Bei „gelingender“ sozial-ökologischer und demokratischer Transformation: Herausbildung eines neuen, zukunftsfähigen Typs gesellschaftlicher und kultureller Entwicklung, der durch den Primat einer demokratischen Gesellschaft und deren kulturellen Werte sowie insbesondere durch Nachhaltigkeit, Effizienz und soziale Kohäsion auf der Makroebene und durch Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und demokratische Partizipation als Basis der individuellen Lebensführung gekennzeichnet ist; Entstehung einer Weltgesellschaft auf Grundlage von Nachhaltigkeit, Solidarität und internationaler Sicherheit Zweite „Große Transformation“ nach Herausbildung der Moderne und des kapitalistischen Marktes, die die Errungenschaften von Aufklärung und Moderne (Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Markt, Pluralismus der Wissenschaft und Kultur) nicht abschafft, sondern verteidigt und weiter entwickelt, wobei zugleich neue Formen und Institutionen entstehen wie z. B. „partizipative Demokratie“ (u. a. universelle Öffentlichkeit, Mitbestimmung, direkte Demokratie, Wirtschaftsdemokratie), „gemischte Wirtschafts- und Eigentumsformen“(u. a. privates, individuelles, öffentliches, gemeinschaftliches Eigentum) sowie Regeln eines freien, selbstbestimmten und solidarischen Zusammenlebens in der Gesellschaft; Herausbildung (Kontinuität und Wandel) eines neuen sozial-ökologischen und demokratischen Gesellschafts- und Entwicklungsmodells als Voraussetzung und Bestandteil eines evolutionären Pfades nachhaltiger Entwicklung; Weder Formationswechsel und Revolution im klassischen Verständnis noch Prozess alleiniger Adaption durch Evolution und Reform; Mögliche Entstehung einer neuen „Sozialen Formation“ und eines „Neuen Zivilisationstyps“ im längerfristigen evolutionären Prozess gesellschaftlichen Wandels
Die Untersuchungen zum Transformationsgeschehen haben zugleich offenbart und damit unsere eingangs formulierte Annahme (Hypothese) bestätigt: Diese seit dem Ausgang des 20. Jahrhunderts einsetzenden Transformationsprozesse sind nicht mehr primär mit dem klassischen Paradigma sozialen Wandels zu begreifen, zu erklären und zu deuten. Was sich bereits bei der postsozialistischen Transformation abzeichnete, ist bei der neuen Transformation im 21. Jahrhundert nicht mehr zu übersehen. Um die Komplexität, Dynamik, Entwick-
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Neues Paradigma der Transformation
lungslogik und Folgen dieser Gesellschafts-Transformation zu erfassen, bedarf es einer Um- und Neuorientierung der Theorie sozialen Wandels, eines neuen theoretischen Konzepts und Modells sozialen Wandels, neuer theoretischer Erklärungsansätze, neuer Begriffe und Deutungsmuster. Ob am Ende daraus eine neue Theorie der Gesellschafts-Transformation als eine spezifische Wandlungstheorie entsteht, ist noch nicht entschieden, ist aber gegenwärtig auch nicht die entscheidende Frage. Wichtig ist, dass es ohne Umrisse eines neuen Konzepts, eines neuen Paradigma sozialen Wandels im allgemeinen und der Gesellschafts-Transformation im besonderen unmöglich wird, die neuen, vielschichtigen Transformationsprozesse adäquat zu analysieren, zu erklären und zu deuten. Sollte dies schließlich zu einer neuen Theorie sozialen Wandels und besonders der Gesellschafts-Transformation führen, würde diese auf jeden Fall keine generalisierende, „abschließende“ Großtheorie sein. Da Transformation ein komplexer, vielgestaltiger, alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens einbeziehender Wandlungsvorgang ist, könnte eine Theorie der Transformation kaum diese gesellschaftliche Komplexität in ihrer Gesamtheit adäquat erfassen, systematisieren, verallgemeinern. Im soziologischen Verständnis wäre eine solche moderne Transformationstheorie eher eine spezifische Theorie sozialen Wandels, eine „Theorie mittlerer Reichweite“. Entsprechend der Dreifachfunktion jeder Theorie – Beschreibung/Erklärung, Prognose, Bewertung – müsste sie vor allem spezifische, zeitgemäße Antworten auf grundlegende Fragen der Gesellschafts-Transformation geben: Was geschieht warum mit welcher Tendenz und was für einen Sinn? Oder anders formuliert: Als spezifische Wandlungstheorie hat sie vor allem gehaltvolle und empirisch überprüfbare Aussagen (Hypothesen) über gesellschaftliche Wandlungs- und Umbruchprozesse, deren Ursachen, Dynamik, Verlauf und Folgen zu liefern. D. h. heute vor allem die Wandlungsprozesse der Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle in den Blick zu nehmen, diese zu erklären und zu deuten. Hier sind dann, wie wir gezeigt haben, empirisch überprüfbare theoretische Aussagen heute schon möglich. Und zugleich bedürfte es auf dem Weg zu einer solchen Theorie der Transformation weiterer Rekonstruktionen abgelaufener Wandlungsprozesse und ihrer theoretisch-konzeptionellen Verarbeitung sowie eines weiterführenden offenen und interdisziplinären Diskurses. Im Mittelpunkt heute steht jedoch erst einmal die Frage eines neuen Konzepts und Paradigmas sozialen Wandels im Allgemeinen und der GesellschaftsTransformation im Besonderen. Nachdem wir ein neues Konzept von „Sozialem Wandel“ im Allgemeinen entworfen haben (vgl. Kap. II), können wir es nun – angereichert durch die
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Resümee
gewonnenen Erkenntnisse (Kap. III-V) – als ein neues Konzept (Paradigma) von „Gesellschafts-Transformation“ im Besonderen in idealtypischer Form weiterentwickeln und systematisieren: „Gesellschafts-Transformation“ als neues Konzept (Paradigma). Eine tabellarische Zusammenfassung Erklärungsmuster (Leitidee)
Theoretische Erklärungskonzepte
Inhalt
Form
Ebene
Triebkräfte und Mechanismen
Konflikthaftes und dynamisches Gesellschaftsmodell; Umformung, Übergang, Wechsel sozioökonomischer und kultureller Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle in längeren Zeitabläufen Gesellschaftstheoretische Makrokonzepte, die versuchen, die o. g. Vermittlung makrosozialer Strukturen auf der Mikroebene, d. h. im Handeln der Akteure, aufzuspüren und die entsprechenden Opportunitäten zu erfassen; Spezifische akteurs-, institutionen-, handlungs-, und entscheidungstheoretische Konzepte als besonders geeignete Konzepte zur Analyse und Erklärung von Wandlungsprozessen in Gestalt einer Gesellschafts-Transformation; Mögliche Herausbildung neuer Theorien (mittlerer Reichweite) der Gesellschafts-Transformation Transformation als Wandel der Output-Strukturen, der Parameterwerte und der Prozessstrukturen; Destruktion alter und Konstitution neuer Strukturen, Institutionen, Regeln, Orientierungs- und Deutungsmuster Prozessualer, längerfristiger, vor allem eingreifender, zweckgerichteter Wandlungsprozess, jedoch mit stark eigendynamischen Komponenten und offener Perspektive; „Gesellschafts-Transformation“ als komplexer, gesamtgesellschaftlicher Wandlungs- und Umwandlungsprozess, Unterschied zu „Revolution“ als zumeist „gewaltsamer und abrupter Umsturz“, „gesetzmäßiger Systemwechsel“ sowie zu „Reform“ in Gestalt von „Anpassung“ an das bestehende sozioökonomische und kulturelle Entwicklungsmodell bzw. dessen Wandlung oder von Umwandlungen einzelner gesellschaftlicher Bereiche (z. B. Gesundheitswesen, Bildung, Rentensystem) Gesamtgesellschaftliche Ebene einschließlich politischer, wirtschaftlicher, sozialer, kultureller Bereiche, wobei der politische besonders bei Gesellschafts-Transformation oft (vor allem anfangs) eine dominierende Rolle spielt; wachsendes Gewicht der zivilgesellschaftlichen Ebene; Vermittlung von Makrosozialer -, Meso- und Mikroebene, von systemischer und individueller Ebene Endogene und exogene Faktoren, wobei erstere bei GesellschaftsTransformation Primat besitzen; Gesellschafts-Transformation als Wechselwirkung von objektiven sozialen und politischen Wandlungsprozessen sowie interessen-, wertegeleiteten und kreativen Handeln und Auseinandersetzungen von Akteuren;
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Zeitdauer
Orte
Gesellschaftsentwicklung, Richtung, Folgen
Neues Paradigma der Transformation Lern- und Suchprozesse individueller und kollektiver Akteure; Wandel politischer Öffentlichkeit, Kräfteverhältnisse, kultureller Muster und der Regulations- sowie Machtverhältnisse Im Unterschied zu klassischen Formationsübergängen (einige hundert Jahre) dauern Gesellschafts-Transformationen in der Regel „nur“ mehrere Jahrzehnte Nationalgesellschaften, in weltgesellschaftlicher Einbettung und Abhängigkeit, mit weltregionalen Schwerpunkten, die sich verlagern; Weltgesellschaft als komplexer und bedeutungsvoller Ort von Transformation Neue sozioökonomische und kulturelle Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle, die als „verbessert“, „vorteilhaft“, „überlegen“ gelten, wenn sie die Voraussetzungen für eine nachhaltige wirtschaftliche, soziale, kulturelle Entwicklungsweise und eine solidarische Gesellschaft erzeugen und damit zugleich zu gleichberechtigter Teilhabe und zu größerer individueller Freiheit und sozialer Gleichheit führen; Offenheit für weiterführende Transformationsprozesse und neue gesellschaftliche Entwicklungsoptionen; Korrekturen und Weiterentwicklungen des sozialwissenschaftlichen Konzepts und Paradigmas der „GesellschaftsTransformation“
Wie immer man zu den hier erfolgten Analysen und Überlegungen sowie den unterbreiteten Konzepten und Vorschlägen stehen mag, „Transformation“ und besonders „Gesellschafts-Transformation“ sollten endlich sowohl als Gegenstand zeitgeschichtlicher Analysen wie auch theoretischer Konzeptualisierung die ihr gebührende Aufmerksamkeit erlangen. Dazu einen Beitrag zu leisten, ist der eigentliche Sinn dieser Arbeit.
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