Kristina Köhler Gerechtigkeit als Gleichheit?
Kristina Köhler
Gerechtigkeit als Gleichheit? Eine empirische Analyse ...
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Kristina Köhler Gerechtigkeit als Gleichheit?
Kristina Köhler
Gerechtigkeit als Gleichheit? Eine empirische Analyse der objektiven und subjektiven Responsivität von Bundestagsabgeordneten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 02 (Sozialwissenschaften, Medien und Sport) der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz im Jahr 2009 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.
Für diese Arbeit wurden das Statistikprogramm SPSS in den Versionen 15.0 und 16.0 verwendet. Die Syntax der statistischen Analyse kann unter http://www.gerechtigkeit-als-gleichheit.de nachvollzogen werden.
. 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17053-4
Meinen Eltern
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverze Vorwort
........................................................................................................... 13
1
Einleitung.......................................................................................... 15
1.1 1.2 1.3
Problembeschreibung......................................................................... 16 Untersuchungsdesign ......................................................................... 27 Aufbau der Arbeit .............................................................................. 28
2
Forschungsstand .............................................................................. 31
2.1 2.1.1 2.1.1.1 2.1.1.2 2.1.1.3 2.1.1.4 2.1.1.5 2.1.1.6 2.1.2 2.1.2.1 2.1.2.2 2.1.2.3 2.1.2.4 2.1.3
Egalitarismus und Nonegalitarismus ................................................. 32 Egalitarismus und Nonegalitarismus als normative Konzepte ........... 33 Definitionen und Abgrenzungen ........................................................ 36 Der gemäßigte Egalitarismus: John Rawls ........................................ 40 Der strenge Egalitarismus: Stefan Gosepath ...................................... 44 Kritik am Egalitarismus ..................................................................... 47 Der Nonegalitarismus: Harry Frankfurt ............................................. 51 Kritik am Nonegalitarismus ............................................................... 54 Egalitäre und nonegalitäre Einstellungen in Deutschland.................. 55 Einstellungen der Bevölkerung .......................................................... 56 Einstellungen der CDU-Anhänger ..................................................... 71 Einstellungen der CDU-Mitglieder – eine erste Forschungslücke ..... 72 Einstellungen der CDU-Abgeordneten .............................................. 79 Zusammenfassung des Forschungsstandes und Konsequenzen für die eigene Arbeit .......................................................................... 88
2.2 2.2.1 2.2.1.1 2.2.1.2 2.2.1.3 2.2.1.4
Responsivität...................................................................................... 90 Responsivität als theoretisches Konzept ............................................ 90 Definition…..…. ................................................................................ 91 Das Pionierwerk: Das Kongruenz-Modell von Miller/Stokes ........... 96 Miller/Stokes im westeuropäischen Kontext ................................... 101 Responsivität von Abgeordneten gegenüber Parteimitgliedern – eine zweite Forschungslücke ........................................................... 108
8 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.2.3 2.2.2.4 2.2.2.5 2.2.3
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen Inhaltsverzeichnis
Empirische Ergebnisse der Responsivitätsforschung ....................... 109 Die objektive Responsivität deutscher Abgeordneter ...................... 110 Die Güte der Perzeptionen ............................................................... 119 Die subjektive Responsivität von Abgeordneten – eine dritte Forschungslücke .............................................................................. 125 Objektive Responsivität, Güte der Perzeptionen und der subjektive Glaube des Abgeordneten: Eine Typologie ..................................... 130 Einflussfaktoren auf objektive Responsivität, Güte der Perzeptionen und subjektive Responsivität ...................................... 133 Zusammenfassung des Forschungsstandes und Konsequenzen für die eigene Arbeit .............................................................................. 153
3
Empirischer Teil ............................................................................ 157
3.1
Operationalisierung des Themas und Durchführung der Untersuchung .................................................................................. 157
3.2
Beschreibung der Datensätze ........................................................... 166
3.3
Analysestrategie ............................................................................... 170
3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4
Hypothesenprüfung .......................................................................... 175 Einstellungen der CDU-Mitglieder .................................................. 175 Einstellungen der CDU-Bundestagsabgeordneten ........................... 193 Objektive Responsivität, Güte der Perzeptionen und subjektive Responsivität der CDU-Bundestagsabgeordneten ........................... 203 Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................... 244
4
Resümee .......................................................................................... 255
5
Literaturverzeichnis ...................................................................... 269
Anhang – Fragebogen..................................................................................... 283 Anhang 1 – Fragebogen der Abgeordnetenbefragung ...................................... 284 Anhang 2 – Fragebogen der Mitgliederbefragung ............................................ 296
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung 1:
Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18:
Abbildung 19:
Connections between a constituencys attitude and its Representatives roll call behaviour (Miller/Stokes 1963: 50) .................................................... 99 Modell des Repräsentationsprozesses ............................. 130 Modell des Repräsentationsprozesses inkl. Einflussfaktoren und Abgeordnetentypen ............................ 155 Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit (Mitglieder) ..176 Bewertung soziale Gerechtigkeit der Marktwirtschaft (Mitglieder)……………….…………………………..…...177 Bewertung soziale Gegebenheiten in Deutschland (Mitglieder) ..................................................................... 178 Nivellierungstypen (Mitglieder)...................................... 181 Zusammengefasste Nivellierungstypen (Mitglieder) ...... 182 Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit (Abgeordnete) ................................................................. 193 Bewertung soziale Gerechtigkeit der Marktwirtschaft (Abgeordnete) ................................................................. 194 Bewertung der sozialen Gegebenheiten in Deutschland (Abgeordnete) ................................................................. 195 Nivellierungstypen (Abgeordnete) .................................. 196 Zusammengefasste Nivellierungstypen (Abgeordnete) ………………………………...…………..197 Mittelwerte der Zustimmung der Mitglieder und Abgeordneten zu den egalitären Items ............................ 208 Mittelwerte der Zustimmung der Mitglieder und Abgeordneten zu den nonegalitären Items ...................... 210 Mittlere objektive Responsivität der CDUAbgeordneten des 16. Deutschen Bundestags................. 211 Mittelwerte der Zustimmung der Mitglieder und der Perzeptionen der Abgeordneten zu den egalitären Items 215 Mittelwerte der Zustimmung der Mitglieder und der Perzeptionen der Abgeordneten zu den nonegalitären Items……………………………………………... ……..216 Mittlere Güte der Perzeptionen der CDU-Abgeordneten des 16. Deutschen Bundestages ...................................... 220
10 Abbildung 20:
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Mittlere subjektive Responsivität der CDUAbgeordneten des 16. Deutschen Bundestages .............. 225
Verzeichnis der Tabellen
Tabelle 1:
Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5:
Tabelle 6: Tabelle 7:
Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13:
Tabelle 14: Tabelle 15: Tabelle 16:
Typen von Abgeordneten hinsichtlich objektiver Responsivität, Güte der Perzeptionen und subjektiver Responsivität ................................................................... 132 Ausschöpfung Befragung CDU-Mitglieder .................... 166 Repräsentativität Befragung CDU-Mitglieder nach Geschlecht und Alter....................................................... 167 Ausschöpfung Befragung CDUBundestagsabgeordnete................................................... 168 Repräsentativität Befragung CDUBundestagsabgeordnete nach Geschlecht, Alter, Wahlperiode und Region ................................................ 169 Bewertung soziale Gegebenheiten in Deutschland nach Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit (Mitglieder) ..179 Bewertung soziale Gegebenheiten in Deutschland nach Bewertung soziale Gerechtigkeit der Marktwirtschaft (Mitglieder) ..................................................................... 180 Faktorenanalyse der Likertskala: Rotierte Komponentenmatrix (Mitglieder) ................................... 184 Durchschnittliche Zustimmung zu egalitären Items (Mitglieder) ..................................................................... 186 Durchschnittliche Zustimmung zu nonegalitären Items (Mitglieder) ..................................................................... 186 Einflussfaktoren auf egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen (Mitglieder) ............................................ 188 Faktorenanalyse der Likertskala: Rotierte Komponentenmatrix (Abgeordnete) ............................... 198 Durchschnittliche Zustimmung zu egalitären und nonegalitären Items der Gerechtigkeitsskala (Abgeordnete)………………………………………….. 199 Einflussfaktoren auf egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen (Abgeordnete) ......................................... 201 Objektive Responsivität bei Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit ................................................................. 205 Objektive Responsivität bei Bewertung soziale Gerechtigkeit der Marktwirtschaft .................................. 206
12 Tabelle 17: Tabelle 18: Tabelle 19: Tabelle 20: Tabelle 21: Tabelle 22: Tabelle 23: Tabelle 24: Tabelle 25: Tabelle 26: Tabelle 27: Tabelle 28: Tabelle 29: Tabelle 30: Tabelle 31: Tabelle 32: Tabelle 33: Tabelle 34: Tabelle 35: Tabelle 36: Tabelle 37: Tabelle 38: Tabelle 39: Tabelle 40: Tabelle 41: Tabelle 42:
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Objektive Responsivität bei Nivellierungstypen ............. 206 Objektive Responsivität bei egalitären Items .................. 209 Objektive Responsivität bei nonegalitären Items ............ 210 Güte der Perzeptionen bei Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit ................................................................. 213 Güte der Perzeptionen bei Bewertung soziale Gerechtigkeit der Marktwirtschaft .................................. 213 Güte der Perzeptionen bei den Nivellierungstypen ......... 214 Güte der Perzeptionen bei egalitären Items..................... 217 Güte der Perzeptionen bei nonegalitären Items ............... 218 Differenz zwischen objektiver Responsivität und Güte der Perzeptionen ..................................................... 220 Subjektive Responsivität bei Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit.................................................... 222 Subjektive Responsivität bei Bewertung soziale Gerechtigkeit der Marktwirtschaft .................................. 223 Subjektive Responsivität bei Nivellierungstypen............ 223 Subjektive Responsivität bei egalitären Items ................ 224 Subjektive Responsivität bei nonegalitären Items........... 225 Abgeordnetentypen bei Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit ................................................................. 227 Abgeordnetentypen bei Bewertung soziale Gerechtigkeit der Marktwirtschaft .................................. 227 Abgeordnetentypen bei den Nivellierungstypen ............. 228 Abgeordnetentypen bei egalitären Items ......................... 229 Abgeordnetentypen bei nonegalitären Items ................... 229 Einflussfaktoren auf objektive Responsivität, Güte der Perzeptionen und subjektive Responsivität ..................... 231 Abgeordnetentypen bei egalitären Items nach Wohnregion .................................................................... 234 Fokus der Abgeordneten ................................................. 238 Abgeordnetentypen bei nonegalitären Items nach Fokus 240 Abgeordnetentypen bei nonegalitären Items nach formaler Bildung .................................................... 242 Zusammenfassung der Ergebnisse der Überprüfung der Thesen ............................................................................. 245 Durchschnittliche Zustimmung zu den egalitären und nonegalitären Items nach formaler Bildung (Mitglieder) 259
Vorwort Vorwort Meinem Doktorvater Prof. Dr. Jürgen W. Falter gilt mein erster Dank. Er hat diese Arbeit immer aufmerksam begleitet. Nicht nur, dass empirische Analysen auch eines gewissen Pragmatismus’ bedürfen habe ich von ihm gelernt. Ich hätte mir keinen besseren Doktorvater wünschen können! Hon.-Prof. Dr. Gerd Mielke danke ich für das Verfassen des Zweitgutachtens. Ohne Ronald Pofalla wäre diese Studie nicht entstanden. Ich danke ihm, dass er ermöglichte, dass für die Befragung eine repräsentative Stichprobe aus allen Mitgliedern der CDU Deutschland gezogen wurde – ein Privileg, das Parteien nicht oft gestatten. Dr. Stefan Hennewig von der CDU-Bundesgeschäftsstelle und der Union-Betriebs GmbH danke ich für die professionelle Durchführung der Ziehung der Stichprobe und des Versands der Fragebögen. Allen Fraktionskollegen, die sich an der Befragung beteiligt haben, verdanke ich nicht nur die meisten empirischen Erkenntnisse dieser Arbeit, sondern auch eine bemerkenswert hohe Rücklaufquote. Auch allen CDU-Mitgliedern aus ganz Deutschland, die an der Erhebung teilnahmen, bin ich zu Dank verpflichtet. Siegfried Bühler hat die Fragebögen für diese Arbeit optisch gestaltet, den Datensatz erstellt, mich bei Problemen mit SPSS unterstützt und diese Arbeit komplett layoutet und formatiert. Mein Büroleiter Eike Alexander Letocha hat ebenfalls einen besonderen Anteil am Gelingen dieser Arbeit: Er hat über Jahre hinweg mein Büro so organisiert, dass mir Zeit zur Arbeit an dieser Dissertation blieb. Meiner Familie verdanke ich ohnehin so vieles. Meine Eltern haben maßgeblich mein Studium finanziert und mich auch sonst in jeder Weise unterstützt. Hätten sie mir in den vergangenen Jahren nicht so viele Pflichten des Alltags abgenommen, läge diese Dissertation jetzt noch nicht vor. Zusammen mit meinem Bruder haben sie mich durch ihr Interesse an meinen Ergebnissen immer wieder angespornt. Meine Eltern haben diese Arbeit von der ersten bis zur letzten Seite gelesen und ihre Rechtschreibung überprüft. Ihnen ist diese Dissertation gewidmet. Ole Schröder hat diese Arbeit von Anfang an begleitet. Jede wichtige Aussage dieser Arbeit habe ich mit ihm diskutiert. Das Resümee sähe ohne ihn anders aus. Ihm verdankt diese Dissertation sehr viel.
1 Einleitung 1 Einleitung Einleitung Der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Harald Ringstorff, beschrieb im Sommer 2004 laut SPIEGEL die Seelenlage der Ostdeutschen folgendermaßen: Die Ostdeutschen haben eine große Sehnsucht nach Gleichheit. (…) Wenn man einen Ostdeutschen frage: Wollt Ihr, dass alle Menschen nur trockenes Brot bekommen, oder wollt ihr, dass alle Brot mit Margarine bekommen und einige sich zusätzlich Kaviar draufschmieren können?, sei die Antwort klar: Die Ostdeutschen seien dann für Trockenbrot für alle (Der Spiegel, 30. 8. 2004: 23).
Sollte diese Aussage des sozialdemokratischen Landesvaters, die er auf dem Höhepunkt der Demonstrationen gegen die Einführung von „Hartz IV“ machte, zutreffen, dann widerspräche die Haltung der Ostdeutschen einem wichtigen Grundsatz des amerikanischen Philosophen John Rawls’. Rawls formuliert nämlich als bedeutende sozialphilosophische Maxime, dass Ungleichheit immer dann gerechtfertigt sei, wenn der in einer Gesellschaft am schlechtesten Gestellte davon profitiert (Rawls 1979: 336). Wenn es den Ärmsten also in einer Gesellschaft, in der die Güter ungleich verteilt sind, absolut besser geht als in einer Gesellschaft mit einer gleichen Verteilung, dann ist nach Rawls die Formation der ersten Gesellschaft die gerechtere. Rawls wäre also für Brot mit Margarine für alle, zusätzlichen Kaviar für einige. Damit vertritt Rawls einen gemäßigten Egalitarismus, Ringstorff glaubt, dass die Ostdeutschen zu einem strengen Egalitarismus neigen. Die Nonegalitaristen hingegen bestreiten, dass Gerechtigkeit überhaupt etwas mit Gleichheit zu tun hat. In dieser Arbeit soll empirisch die Verbreitung dieser normativen Positionen untersucht werden. Dabei geht es um die empirische Geltung von Werturteilen über Gerechtigkeit, nicht um ihre wie auch immer geartete wissenschaftliche Begründung. Eine solche hält die Autorin als Anhängerin des Postulats Max Webers zur Werturteilsfreiheit der Wissenschaften für gar nicht möglich.
16
1 Einleitung
Die Verbreitung von egalitären und nonegalitären Einstellungen soll im Rahmen der Responsivitätstheorie bei CDU-Bundestagsabgeordneten und CDU-Mitgliedern untersucht werden. Hierbei stehen drei Fragen im Zentrum:
Sind die CDU-Abgeordneten gegenüber ihren Mitgliedern objektiv responsiv, vertreten sie also dieselben Einstellungen wie ihre Mitglieder? Liegen die Abgeordneten mit ihren Perzeptionen der Einstellungen der Mitglieder richtig, nehmen sie also richtig wahr, welche Einstellungen ihre Mitglieder vertreten? Fühlen sich die Abgeordneten gegenüber ihren Mitgliedern subjektiv responsiv, glauben sie also, dieselben Einstellungen zu vertreten wie ihre Mitglieder?
Hierfür wurde eine Vollerhebung unter allen CDU-Abgeordneten des 16. Deutschen Bundestages und eine Befragung von 1000 repräsentativ ausgewählten CDU-Mitgliedern aus ganz Deutschland durchgeführt. Dass beide Erhebungen sehr hohe Rücklaufquoten verzeichnen konnten – die Mitgliederbefragung 48,4%, die Befragung der Abgeordneten nach Wissen der Autorin in einer Befragung von Bundestagsabgeordneten bisher unübertroffene 75,4% – hat sicher damit zu tun, dass die Autorin selbst Mitglied der CDU-Bundestagsfraktion ist. Dies ändert jedoch nichts daran, dass auf Grund des guten Rücklaufs von einer hohen Aussagekraft der Daten ausgegangen werden kann.
1.1 Problembeschreibung Debatten über soziale Gerechtigkeit sind meistens Debatten über Verteilung. Nach welchen Prinzipien sollen Güter – seien es Einkommen, Bildungschancen, Positionen oder andere erstrebenswerte Güter – verteilt werden? Das ist die Gretchenfrage der sozialen Gerechtigkeit. Ein mögliches Verteilungsprinzip ist das Prinzip der Gleichheit, das in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen soll. Dessen Anhänger, die Egalitaristen, sehen in Gleichheit das wichtigste oder zumindest ein sehr wichtiges Prinzip sozialer Gerechtigkeit. Nonegalitaristen hingegen bestreiten den Wert der Gleichheit. Harald Ringstorff beschreibt in seiner eingangs zitierten Aussage eine streng egalitäre Position. Wenn Ringstorff Recht hat, dann ziehen die Ostdeutschen also auch dann Gleichheit der Ungleichheit vor, wenn dieses Mehr an Gleichheit eine Nivellierung nach unten bedeutet. In dem Ringstorffschen Bild: „Trockenes Brot für alle“ bedeutet zwar völlige Gleichheit, es geht aber auch
1 Einleitung
17
allen schlechter, denn in der anderen Variante hätten alle neben dem Brot zumindest noch Margarine, einige sogar Kaviar. Eine solche Wertentscheidung der Ostdeutschen widerspräche diametral der von John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit propagierten. Rawls sieht nämlich soziale Gleichheit als Norm an, zieht aber dann Ungleichheit vor, wenn diese Ungleichheiten den am wenigsten Begünstigten die bestmöglichen Aussichten bringen (Rawls 1979: 104).1 Rawls hätte in dem Ringstorffschen Bild also für Brot mit Margarine für alle, Kaviar für einige plädiert, weil von dieser Ungleichheit alle, auch die am wenigsten Begünstigten einer Gesellschaft profitieren. Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit ist eines der bedeutendsten Werke der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, sie wird als grundlegende Verteidigung des wohlfahrtstaatlichen Kapitalismus und seiner rechtlichen und politischen Institutionen betrachtet (Höffe 1998: 3; Kersting 1993: 21). Doch der Nonegalitarismus kritisiert alle Egalitaristen, und zählt zu diesen auch den gemäßigten Egalitarismus John Rawls` (Krebs 2000: 12f). Denn der Nonegalitarismus argumentiert, dass der Vergleich zwischen zwei Menschen prinzipiell moralisch irrelevant sei: „Es kommt darauf an, ob Menschen ein gutes Leben führen, und nicht, wie deren Leben relativ zu dem Leben anderer steht.“ (Frankfurt 2000: 41).
Gleichheit ist aus nonegalitärer Sicht also kein Wert an sich. Die rein relative Schlechterstellung eines Menschen im Vergleich mit einem anderen sieht der moderne Nonegalitarismus nicht als Übel an, so lange es dem Menschen in der relativ schlechteren Position nicht absolut schlecht geht. Der Nonegalitarismus versucht also absolute Standards für ein menschenwürdiges Leben zu formulieren, die ohne den Vergleich zwischen Menschen auskommen (Krebs 2004: 121). Entsprechend kritisiert der Nonegalitarismus mit der levelling down objection, dem Einwand der Angleichung nach unten, dass reine Gleichheitsprinzipien prinzipiell nicht unterscheiden könnten, ob einem Besitzlosen etwas gegeben oder einem Besitzenden etwas genommen wird. Beides führe zu mehr Gleichheit und sei daher zumindest aus Sicht des strengen Egalitarismus gleich erstrebenswert (Raz 2000: 65). Auch Rawls ist von diesem Einwand insofern betroffen, da auch er trockenes Brot für alle dann vorziehen muss, wenn die Alternative darin besteht, dass alle ebenfalls nur trockenes Brot, einige zusätzlich Kaviar bekämen. In diesem Fall würden die am wenigsten Begünstigten von der
1
Kursivdruck kennzeichnet in dieser Arbeit immer wörtliches Zitat. Hervorhebungen der Verfasserin innerhalb und außerhalb wörtlicher Zitate sind ausschließlich durch Unterstreichung kenntlich gemacht.
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1 Einleitung
größeren Ungleichheit nicht profitieren, das Rawlssche Unterschiedsprinzip verlangt in diesem Fall daher eine Nivellierung nach unten.2 Meines Erachtens sind diese beiden skizzierten Gerechtigkeitsvorstellungen – der Nonegalitarismus und die verschiedenen Varianten des Egalitarismus’ – im Weberschen Sinne letzte Wertaxiome bei der Begründung unterschiedlicher ökonomischer Kulturen (vgl. Weber 1968: 510). Zwar fordern nicht nur die Egalitaristen, sondern auch die meisten modernen Nonegalitaristen die Sicherung eines Existenzminimums und befürworten hierfür eine Umverteilung von oben nach unten. Der Egalitarist wird dies zwar mit relationalen, der Nonegalitarist mit absoluten Maßstäben begründen, dennoch ist dem Philosoph Harry Frankfurt in dieser Hinsicht recht zu geben, wenn er betont, dass seine nonegalitäre Position nichts Substantielles zur Lösung der Frage beiträgt, welche Sozialpolitik befolgt oder vermieden werden sollte (Frankfurt 2000: 38). Oberhalb dieses Existenzminimums zeigt sich allerdings nach Überzeugung der Autorin entgegen Frankfurts Aussage auch in der politischen Praxis ein deutlicher Unterschied zwischen einer egalitaristischen und einer nonegalitaristischen Position. Hier sieht ein Nonegalitarist keinerlei Notwendigkeit zur Umverteilung, da seine absoluten Standards ja erfüllt sind. Ein Egalitarist hingegen plädiert auch hier für eine Angleichung der Positionen – je nachdem, ob er gemäßigt oder streng argumentiert, unter unterschiedlichen Voraussetzungen -, da für ihn auch oberhalb des Existenzminimums relationale Standards gelten, Ungleichheiten also auch hier prinzipiell einen Nachteil darstellen. Ein Egalitarist muss also einen anderen Wohlfahrtsstaat wollen als ein Nonegalitarist. Die Bedeutung egalitärer oder nonegalitärer Wertentscheidungen ist also von hoher politischer Relevanz – wenn auch nicht immer offenkundig. Beispielsweise lässt die Tatsache, dass die Bundesregierung seit dem Jahr 2000 regelmäßig einen „Armuts- und Reichtumsbericht“ vorlegt, auf eine egalitaristische Sichtweise schließen. Denn nur aus egalitaristischer Sicht kann Armut und Reichtum als etwas gleichermaßen Kritikwürdiges betrachtet werden, ein Nonegalitarist hält nur (absolute) Armut für etwas Schlechtes, nicht aber Reichtum. Die damalige Regierungskoalition aus SPD und Grünen argumentiert also egalitär, wenn sie in ihrem Antrag für diese regelmäßige Berichterstattung der schwarz-gelben Vorgängerregierung vorwirft, für Armut und Reichtum in Deutschland verantwortlich zu sein:
2
In seiner lexikalischen Variante verlangt das Unterschiedsprinzip allerdings keine Nivellierung nach unten. Diese Fassung wird aber von Rawls selbst nicht konsequent verwendet, schon ihre Formulierung ist widersprüchlich (vgl. Kapital 2.1.1.2. dieser Arbeit, insb. Fußnote 13).
1 Einleitung
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Armut und Reichtum in der Bundesrepublik Deutschland werden durch wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Prozesse verursacht, die die abgewählte Bundesregierung eingeleitet hat (Bundestagsdrucksache 14/999 vom 5. 5. 1999).
Auch dem Armutsbegriff dieses Berichts liegt ein egalitäres Werturteil zu Grunde. So wird im 2008 veröffentlichen Dritten Armuts- und Reichtumsbericht die Armutsrisikoschwelle bei 60% des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens festlegt. Nach einem solchen Begriff, auf den sich die Länder der Europäischen Union geeinigt haben, definiert sich Armut also rein relativ, sie besteht unabhängig davon, auf welchem absoluten Wohlstandsniveau die vergleichsweise Ärmsten leben (Bundestagsdrucksache 16/9915 vom 30. 6. 2008: 17). Würden sich in einem Land über Nacht alle Einkommen verdoppeln, gäbe es am nächsten Morgen immer noch genau so viele Arme wie am Abend zuvor, weil sie immer noch lediglich über 60% des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens verfügten. Würden sich die Einkommen über Nacht halbieren, gäbe es nach dieser Armutsdefinition am nächsten Morgen dennoch nicht mehr Arme (vgl. hierzu auch Berger/Schmidt 2004: 15). Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung muss mit diesem Armutsbegriff also immer dann Armut feststellen, wenn es ein gewisses Maß an Ungleichheit gibt. Um Armut zu bekämpfen, muss die Bundesregierung immer auch Ungleichheit bekämpfen. Damit basiert der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der in der Öffentlichkeit sehr breit und wirkmächtig diskutiert wurde (vgl. etwa „Die soziale Kluft wächst“, ZEIT online 2008; „Armut in Deutschland“, Süddeutsche.de 2008), auf einer egalitären Werthaltung.3 Eng verwoben mit egalitären und nonegalitären Werthaltungen ist auch die Diskussion um sehr hohe Einkommen, etwa Managergehälter, und spezielle Steuern für besonders Wohlhabende, beispielsweise eine sog. Reichen- oder die Vermögenssteuer. Aus egalitärer Sicht bringt eine Kürzung oder Deckelung solcher Einkommen oder eine besondere Steuer für solche Einkommen auch dann einen Vorteil, wenn das so gewonnene Geld zur Umverteilung nicht zur Verfügung steht – etwa, weil mit einer Kürzung von Managergehältern keine Erhöhung der Gehälter schlechter verdienender Mitarbeiter einhergeht oder weil der administrative Aufwand zur Eintreibung einer Steuer für solche Gehälter ihren Ertrag bereits wieder aufbraucht. Denn, so die idealtypische Argumentation des Egalitaristen, auch wenn das Geld nicht bei den Bedürftigen ankomme, ihnen also keine absolute Besserstellung bringe, so bringe eine solche Steuer doch eine relative Verbesserung, da sie den relationalen Nachteil des Schlechtergestellten vermindere: Der Abstand zwischen dem Besser- und dem Schlechtergestellten 3
Zur Konzeption der Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung vgl. auch: Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik 2007.
20
1 Einleitung
werde kleiner. Ein gemäßigter Egalitarist Rawlsscher Prägung kann sich zwar dennoch gegen solche Maßnahmen entscheiden, etwa, weil er fürchtet, dass sie den Leistungsanreiz und dadurch das Steueraufkommen verringern würden und so weniger Mittel für sozialstaatliche Leistungen vorhanden wäre, aber zumindest die Verkleinerung der Ungleichheit durch eine solche Steuer sähe er an sich als positiv an. Ein Nonegalitarist hingegen sähe keinerlei Vorteil in solchen Maßnahmen. Allein davon, dass der Bessergestellte weniger hat, hat der Schlechtergestellte nichts, würde der Nonegalitarist argumentieren. Viele Äußerungen von Politikern aller Parteien – mit Ausnahme der FDP – zu diesem Thema lassen indirekt auf egalitäre Werthaltungen schließen. So heißt es in einem Beschluss des SPD-Bundesvorstands zur Einsetzung einer Arbeitsgruppe Angemessenheit und Transparenz von Manager-Vergütungen: Unverhältnismäßig hohe Managerbezahlungen sind ein gesellschaftliches und politisches Problem, da sie mit guten Gründen als ungerecht empfunden werden (SPD 2007: o. S.).
Renate Künast von Bündnis 90/Grüne sagt: Die Millionenbezüge und Abfindungen in Vorstandsetagen sind unmoralisch. Auch der saarländische Ministerpräsident Peter Müller von der CDU fordert die Wirtschaft auf, gegen zu hohe Managergehälter vorzugehen („Was darf ein Manager verdienen?“, FAZ.net 2007). Im Mai 2008 diskutieren die Finanzminister der EU, ob und wie sich Managergehälter auch europaweit begrenzen lassen („Finanzminister nehmen Managergehälter aufs Korn“, FAZ 2008: 11). Und Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) erweitert die Diskussion um die Bezahlung von Profisportlern und gibt an, sich erheblich über die Gehaltsexzesse, die wir seit Jahren im Sport - insbesondere im Fußball - erleben, zu ärgern („Lammert attackiert Gehälter beim FC Bayern“, Spiegel online: 2007). Diesen – lediglich exemplarisch ausgewählten – Aussagen liegt offenkundig die egalitäre Annahme zu Grunde, dass die relationale Besserstellung von Managern und anderen Spitzenverdienern bereits per se als ungerecht zu bewerten sei und daher eine Schlechterstellung von Managern einen moralischen Vorteil brächte, unabhängig davon, ob davon die Schlechtergestellten auch absolut profitierten. Dabei können die zitierten Politiker von einer breiten Unterstützung der Bevölkerung für diese Position ausgehen: Reichtum wird kaum weniger als Armut als Übel angesehen, das es zu bekämpfen gilt, schreibt Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach (Petersen 2008: 5). Egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen spielen auch in der innerparteilichen Debatte der CDU eine wichtige Rolle – zumindest spätestens seit dem Bundestagswahlkampf 2005. In der Forschung besteht weitgehend Einigkeit, dass die CDU/CSU, die als haushoher Favorit in diese Bundestagswahl ging,
1 Einleitung
21
deshalb mit 35,2 % weit unter ihren Erwartungen zurückblieb, weil ihre Programmatik als ungerecht wahrgenommen wurde (Jung/Wolf 2005: 5f; Korte 2005: 16). Insbesondere die Nominierung von Paul Kirchhof erwies sich für die CDU/CSU als nachteilig: Die steuerpolitischen Vorstellungen von Paul Kirchhof entwickelten sich zu dem ‚Killer-Thema‘ des Wahlkampfes (Brettschneider 2005: 24).
Paul Kirchhof stand steuerpolitisch für eine sog. „Flat Tax“, einen einheitlichen 25%igen Steuersatz für alle Einkommensgruppen.4 Eine solche Einheitssteuer, die auf den ersten Blick dazu führt, dass bestehende Einkommensungleichheiten weniger stark ausgeglichen werden als bei einem progressiven Tarif, berührt die skizzierten egalitären bzw. nonegalitären Einstellungen: Aus Sicht des strengen Egalitaristen ist das Modell Kirchhof nicht akzeptabel, denn es führt dazu, dass sich Einkommensungleichheiten vergrößern. Aus Rawlsscher Sicht wäre Kirchhof dann akzeptabel, wenn sein Steuermodell zu mehr Wirtschaftswachstum beitrüge, es so zu mehr staatlichen Einnahmen käme und so via Sozialleistungen die am schlechtesten Gestellten von der größeren Ungleichheit profitieren würden. Ein Nonegalitarist hingegen könnte schon dann keine Einwände gegen Kirchhof erheben, wenn durch sein Modell niemand unterhalb des Existenzminimums rutscht. Nach der Bundestagswahl 2005 wurde in der CDU daher mit besonderer Intensität über Gerechtigkeitsvorstellungen debattiert. Insbesondere im Rahmen der Debatte um ein neues Grundsatzprogramm, das im Dezember 2007 verabschiedet wurde, spielte dieses Thema eine große Rolle. In ihrem Grundsatzprogramm von 1994 hatte die CDU die Begriffe Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit als gleichberechtigte Grundwerte definiert (CDU Grundsatzprogramm 1994: 6). Das Grundsatzprogramm 2007 trug den Arbeitstitel Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit. Wenn man annimmt, dass mehr Freiheit in der christdemokratischen Programmatik auch für weniger Steuern und Abgaben, für weniger staatliche Umverteilung steht, dann kann man diesen Arbeitstitel im Sinne des Rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsatzes interpretieren: Wenn mehr Ungleichheit (Mehr Freiheit) zugelassen wird, profitieren davon alle (Neue Gerechtigkeit). In diesem Sinne argumentiert auch der Generalsekretär der CDU und Vorsitzende der Grundsatzkommission, Ronald Pofalla:
4
Dass die CDU/CSU zum Ende des Wahlkampfes permanent beteuerte, dieses Modell stünde gar nicht zur Wahl, ist dabei irrelevant. Auch, dass das Modell bei näherer Betrachtung doch ein Stufenmodell ist, ist irrelevant. Aus Sicht der Wähler stand es zur Wahl und aus Sicht der Wähler ging es dabei um eine Einheitssteuer.
22
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Wir brauchen mehr wirtschaftliche Freiheit, damit sich Leistungsträger entfalten können und so mehr Arbeitsplätze entstehen. (…) Es ist deshalb gerade die Kraft der Freiheit, die neu erkannt, belebt und genutzt werden muss – um mehr Solidarität und Gerechtigkeit zu schaffen (Pofalla 2006: 6f).
Dieser Arbeitstitel wurde innerparteilich heftig kritisiert. So forderte der nordrheinwestfälische Ministerpräsident Rüttgers im Sommer 2006, die soziale Gerechtigkeit stärker zu betonen, während der hessische Ministerpräsident Roland Koch und der brandenburgische CDU-Vorsitzende Schönbohm mahnten, die Freiheit in den Mittelpunkt der christdemokratischen Programmatik zu stellen („Rüttgers legt im Streit um CDU-Kurs nach“, Handelsblatt 2006: 4; „Schönbohm: CDU muss Freiheit stärker betonen“, Die Welt 2006: 2). Auf Regionalkonferenzen forderten Mitglieder, den Arbeitstitel zu ergänzen: Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit und Solidarität solle er lauten („Merkel verstört die Unions-Familie“, die tageszeitung 2006: 6). Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller betonte hingegen, dass man die Schwachen nicht stark mache, indem man die Starken schwäche. Ergebnisgleichheit lehne er daher ab, der Begriff Gerechtigkeit dürfe nicht auf Verteilungsfragen reduziert werden (Müller 2006: 68). Nach dem Schock der für die Partei enttäuschenden Bundestagswahl 2005, in der die CDU eher nonegalitär oder egalitär im Rawlsschen Sinne argumentiert hat, drehen sich also viele grundsätzliche Diskussionen in der CDU um das Verhältnis von Gerechtigkeit und Gleichheit. Gerechtigkeit zu wollen dürfte jede Partei dieser Welt für sich reklamieren, aber welche Rolle spielt dabei die Gleichheit – ein Wert, den die Bürger traditionell eher den Parteien links der Mitte, der SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Linkspartei, nicht aber der CDU zuordnen (Neu 2005: 8-12)? Stellt die Gleichheit im christdemokratischen Gerechtigkeitsverständnis überhaupt einen Wert dar? Wenn Gleichheit als Wert bejaht wird, wird dann ein strenger Egalitarismus vertreten oder der gemäßigte Egalitarismus John Rawls’? Oder wird nonegalitär argumentiert? Wird eine Nivellierung nach unten gefordert und falls ja, in welchen Fällen? Gibt es Unterschiede in diesen grundsätzlichen Werthaltungen zwischen Bundestagsabgeordneten und Mitgliedern? Und was glauben die Bundestagsabgeordneten, wie die Mitglieder mehrheitlich diese Fragen sehen? Welche Unterschiede zeigen sich zwischen Ost- und Westdeutschland, welche Rolle spielen andere Einflussfaktoren? Diese Fragen sollen in dieser Arbeit beantwortet werden. Während die Einstellungen von CDU-Abgeordneten im Rahmen von Elitestudien immer wieder erfasst wurden (vgl. etwa TRI [2008]; Allensbach et al. 2007; Weßels 2005; Best et al. [2004a, b]; sowie die aktuelle Potsdamer Elitestudie: Bürklin/Rebenstorf 1997), sind die Einstellungen von CDU-Mitgliedern bislang relativ wenig erforscht. 1971 ließ die CDU als erste deutsche Partei eine
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repräsentative Mitgliederstudie durchführen, deren Ergebnisse 1982 publiziert wurden.5 In dieser ersten Mitgliederstudie der CDU wurden allerdings keine politischen Einstellungen erhoben, sondern es stand die Frage im Mittelpunkt, wie leistungsfähig die Strukturen und Institutionen der CDU sind (Falke 1982: 29f; 43-46). Für das Thema dieser Arbeit liefert diese Studie daher nur einzelne Erkenntnisse über Kommunikationsstrukturen innerhalb der Partei. 1993 hat die CDU eine zweite repräsentative Mitgliederstudie durchgeführt, indem die Konrad-Adenauer-Stiftung ca. 3500 repräsentativ ausgewählte CDU Mitglieder befragt hat (Bürklin/Neu/Veen 1997: 12). In dieser Studie lag der Fokus auf dem politischen Selbstverständnis und den Anforderungen der Mitglieder an das innerparteiliche Leben. Politische Einstellungen der Mitglieder wurden auch erhoben, aus einigen Items lassen sich Schlüsse über Gerechtigkeitseinstellungen der CDU-Mitglieder ziehen. Die Frage des Wertes von Gleichheit wurde in dieser Studie nicht thematisiert. 2007 veröffentlichte die Konrad-Adenauer Stiftung eine dritte Mitgliederstudie, für die 25.000 zufällig ausgewählte Mitglieder aus ganz Deutschland zu ihrer innerparteilichen Partizipation und zu ihren Einstellungen zu einigen politischen Themen befragt wurden. Aus dieser Studie lässt sich zumindest entnehmen, inwieweit CDU-Mitglieder ihre Partei mit dem Begriff der Gleichheit, aber auch mit den Begriffen Freiheit und Leistungsgerechtigkeit in Verbindung bringen (Neu 2007: 34). Nach diesen drei Mitgliederstudien ist also die vorliegende Arbeit die vierte repräsentative Studie, in der die Mitglieder der CDU Deutschlands befragt wurden. Ferner liegen einige Studien vor, in denen einzelne Werthaltungen von bestimmten Gruppen von CDU-Mitgliedern erhoben wurden, so z. B. der CDUMitglieder Sachsen-Anhalts (Boll 1999, 2001). In keiner dieser Untersuchungen werden aber Einstellungen erhoben, die im Zentrum dieser Arbeit stehen. Diese werden zwar in einer Studie Michael Grevens aus dem Jahr 1982 untersucht, die sich mit der Bewertung sozialer und politischer Ungleichheit bei Mitgliedern der CDU, der SPD und der Grünen befasst. Die Studie erhebt allerdings nicht den Anspruch der Repräsentativität für die Gesamtpartei und bezieht, da in den 80er Jahren entstanden, die neuen Bundesländer nicht ein (Greven 1987b: 14). Insgesamt gibt es also bisher kaum Erhebungen über die Gerechtigkeitseinstellungen und keine repräsentative Studie über egalitäre oder nonegalitäre Einstellungen von CDU-Mitgliedern. Der theoretische Bezugsrahmen der Untersuchung egalitärer und nonegalitärer Einstellungen bei CDU-Bundestagsabgeordneten und CDU-Mitglie5
Die SPD hat im Rahmen der Debatte um ihr aktuelles Grundsatzprogramm eine Mitgliederbefragung durchgeführt, deren zentrales Ergebnis es ist, dass die SPD-Mitglieder dem Wert der Gerechtigkeit das größte Gewicht beimessen (Sozialdemokratische Partei Deutschland 2007: 7).
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dern soll die Responsivitätstheorie sein. Responsivität ist ein verhältnismäßig neuer Begriff für ein altes Problem: Inwieweit sind Abgeordnete in einer Demokratie an die Wünsche und Forderungen ihrer Wähler gebunden? Inwieweit orientieren sich Abgeordnete de facto am Willen ihrer Wähler, inwieweit sollen sie sich daran orientieren? Fast alle Versuche einer Antwort auf diese für eine Demokratie fundamentale Frage beginnen mit einem Rekurs auf Edmund Burke. Edmund Burke führte in seiner berühmten Rede, die er 1774 vor den Wählern von Bristol hielt, aus: Parliament is not a congress of ambassadors from different and hostile interests; which interests each must maintain, as an agent and advocate, against other agents and advocates; but parliament is a deliberative assembly of one nation, with one interest, that of the whole; where, not local purposes, not local prejudices, ought to guide, but the general good, resulting from the general reason of the whole (Burke 1956: 73; H. i. O.).
Nach Burke ist das Parlament also keine Versammlung von Botschaftern oder Anwälten unterschiedlicher, feindlicher Interessen, sondern ist dem Gemeinwohl, dem einen nationalen Interesse verpflichtet, unabhängig von regionalen Zielen. In dieser Position Burkes werden zwei Dimensionen der Rolle des Abgeordneten angesprochen, die von Heinz Eulau et al. 1978 als Style und Focus der Abgeordnetenrolle bezeichnet werden (Eulau et al. 1978: 113). Der Style eines Abgeordneten unterscheidet sich danach, wie der Abgeordnete seine Entscheidungen fällt, ob er sich an Weisungen gebunden oder nur seinem eigenen Gewissens verpflichtet fühlt. Der Fokus benennt die Perspektive des Abgeordneten: Fühlt er sich als Repräsentant einer bestimmten Gruppe, etwa seiner Wähler oder der Bürger seines Wahlkreises, oder sieht er sich als Vertreter der gesamten Nation? Auf den Punkt gebracht: Der Style gibt an, wie der Abgeordnete repräsentiert, der Fokus, was der Abgeordnete repräsentiert (Weßels 1991: 328). Insbesondere die Frage des Styles des Abgeordneten beschäftigt viele Responsivitätstheorien. Dabei werden die beiden Idealtypen, die jeweils die Enden eines Kontinuums bilden, als Delegate und Trustee bezeichnet. Ein Delegierter setzt die Forderungen seiner Wähler ohne Abstriche um, ist also im Grunde nur ein Überbringer der Entscheidungen seiner Wähler; ein Treuhänder fühlt sich nur seinem Gewissen verpflichtet und trifft seine Entscheidungen eigenverantwortlich (Eulau et al. 1978: 118). Burke ist ein Anhänger des TrusteeStyles mit dem Fokus Nation, er sieht den Abgeordneten als Treuhänder an, der eigenverantwortlich im Sinne des Wohls der gesamten Nation entscheidet. Auf diese Trustee-Delegate-Kontroverse rekurrieren fast alle Autoren, die sich mit Responsivität auseinandersetzen. Responsivität meint nach Walter die
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Aufnahmebereitschaft und Sensibilität der Repräsentanten für die Wünsche und Interessen der Repräsentierten und das entsprechende Handeln bei der Gesetzgebung (Walter 1997: 1). Völlige Responsivität bedeutet mithin eine völlige Übereinstimmung der Wünsche und Interessen der Repräsentanten mit denen der Repräsentierten und ist somit innerhalb des Trustee-Delegate-Kontinuums am Delegate-Pol anzusiedeln. Die meisten Responsivitätsforscher vertreten allerdings die Position, dass Responsivität und treuhänderische, eigenverantwortliche Entscheidungen des Abgeordneten einander ergänzen sollten, somit das optimale Verhalten eines Abgeordneten zwischen den beiden Polen des Trustee-DelegateKontinuums anzusiedeln sei. Bei solchen Aussagen, welche Position innerhalb des Trustee-DelegateKontinuums einzunehmen sei, welches Maß an Übereinstimmung und Dissens zwischen Wählern und Gewählten richtig sei, wird allerdings nicht zwischen den unterschiedlichen Ebenen politischer Einstellungen unterschieden. Hier plädiert Dietrich Herzog für einen anderen Ansatz. Er vertritt die Auffassung, dass möglichst hohe Kongruenz von Einstellungen lediglich auf der Ebene der Grundwerte sinnvoll sei, denn hier sei ein Dissens fundamental und könne so die Steuerungsfähigkeit des politischen Systems beeinträchtigen (Herzog 1989: 325). An diesen Ansatz Herzogs soll in dieser Arbeit angeknüpft werden. Wie Herzog geht die Autorin davon aus, dass eine möglichst hohe Kongruenz der Einstellungen von Wählern und Gewählten nur auf der Ebene der grundlegenden Wertvorstellungen, also der Weberschen letzten Wertaxiome, ein sinnvolles Ideal der Responsivitätsforschung darstellt. Einstellungen zu Verteilungsprinzipien im Wohlfahrtsstaat, zu egalitären und nonegalitären Prinzipien, die in dieser Arbeit untersucht werden sollen, gehören offenkundig zu der Ebene der Grundwerte. Denn diese Einstellungen sagen aus, welche Verteilung von Gütern als gerecht empfunden wird. Was Gerechtigkeit ist, ist aber mit Sicherheit eine der grundlegendsten Fragen der Menschheit überhaupt und beschäftigt die abendländische Philosophie spätestens seit Platon. Eine Kongruenz der Einstellungen in dieser Frage von Repräsentanten und Repräsentierten ist daher für die Stabilität des politischen Systems von besonderer Wichtigkeit. Daher soll in dieser Arbeit Responsivität auf dieser Ebene untersucht werden. Dabei soll es nicht nur darum gehen, ob eine Kongruenz zwischen den Einstellungen der CDU-Mitglieder und der CDU-Bundestagsabgeordneten besteht, ob diese also objektiv responsiv sind. Sondern es soll auch erhoben werden, ob die Abgeordneten die Einstellungen der Mitglieder richtig wahrnehmen, wie hoch also die Güte ihrer Perzeptionen ist. Und es soll untersucht werden, ob die Abgeordneten sich subjektiv responsiv fühlen, ob sie also glauben, dass die Mitglieder dieselben Einstellungen vertreten wie sie selbst. Ein solcher Vergleich
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zwischen den eigenen Einstellungen der Abgeordneten und ihren Perzeptionen wurde in der bisherigen Responsivitätsforschung nur selten vorgenommen und wenn, dann unter dem Fokus betrachtet, ob und inwiefern sich Einstellungen der Abgeordneten und ihre Perzeptionen gegenseitig beeinflussen. Keine unter den der Autorin vorliegenden deutschen und amerikanischen Studien hat bisher die Tatsache thematisiert, dass der Korrelationskoeffizient zwischen Einstellungen und Perzeptionen von Abgeordneten auch ein Bewusstsein ausdrückt, nämlich das Bewusstsein, responsiv oder nicht responsiv zu sein. Dieses Bewusstsein wird in dieser Arbeit subjektive Responsivität genannt. Es liegt nahe, dass die subjektive Responsivität auch Auswirkungen auf das Verhalten von Abgeordneten hat. Dennoch wurde nach Kenntnis der Autorin dieses Bewusstsein in deutschen und amerikanischen Studien bisher weder im Hinblick auf seine Einflussfaktoren, also als abhängige Variable, noch in Hinblick auf seine Auswirkungen, also als unabhängige Variable, genauer untersucht. Die vorliegende Arbeit soll hier einen Anfang machen. Ein zentrales Ergebnis wird dabei lauten: Eine nennenswerte Zahl an CDU-Bundestagsabgeordneten hält sich subjektiv gegenüber den CDU-Mitgliedern für nicht responsiv, obwohl sie es objektiv ist. Als Pionierwerk des Responsivitätsforschung gilt das sog. CongruenceKonzept der amerikanischen Forscher Warren E. Miller und Donald E. Stokes. Miller/Stokes analysierten die Zusammenhänge zwischen den Einstellungen der Wähler, den Wahrnehmungen des Abgeordneten über diese Einstellungen der Wähler (Perzeptionen) und dem Abstimmungsverhalten der Abgeordneten und unterscheiden dabei in Anknüpfung an Edmund Burke drei Konzepte von Repräsentation: Es gibt die Abgeordneten, die als Instructed Delegates, also als weisungsgebundene Delegierte ihres Wahlkreises, agieren. Trustees hingegen verhalten sich als weisungsungebundene Delegierte, sie vertrauen unabhängig von den perzipierten Einstellungen der Wähler ihrem eigenen Gewissen. Im Modell Responsible Party Government schließlich geschieht Repräsentation nicht durch Abgeordnete, sondern durch Parteien. Miller/Stokes kommen zu dem Schluss, dass in den Vereinigten Staaten kein Modell in Reinform dominiert, sondern dass es mit den politischen Themen variiert. Während beispielsweise bei Fragen des Wohlfahrtsstaates am ehesten das Responsible-Party-Modell vorherrscht, entscheiden die Abgeordneten bei Fragen der Bürgerrechte am ehesten als Instructed Delegates (Miller/Stokes 1963: 56). Allerdings ist sich die Forschung weitgehend einig, dass sich dieses Modell nicht unmodifiziert auf westeuropäische parlamentarische Regierungssysteme übertragen lässt – allein deshalb schon nicht, da es die herausragende Rolle der Parteien in Westeuropa nicht berücksichtigt, insofern dort per se nur das Responsible-Party-Modell in Frage kommt (Walter 2002: 11f; Walter 1997: 108; Thomassen 1991: 266; Hoffmann-Lange 1991: 276). Dieses Modell geht davon
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aus, dass die Bürger nicht direkt durch Abgeordnete repräsentiert werden, sondern durch Parteien, die durch Wahlen zur Responsivität gezwungen werden. Sind die Parteien nicht ausreichend responsiv, werden sie nicht gewählt. Dieses Modell funktioniert aber nur, wenn die Abgeordneten wiederum gegenüber den Parteien responsiv sind, denn nur dann können Parteien als Mittler die Einstellungen der Bürger mit denen der Abgeordneten verknüpfen. Genau dieser Zusammenhang, die Responsivität der Abgeordneten gegenüber ihrer eigenen Parteibasis, ist in der bisherigen deutschen Responsivitätsforschung bisher allerdings nicht untersucht worden. Während die Responsivität von Politikern gegenüber der Bevölkerungsmeinung relativ häufig Gegenstand von Untersuchungen ist, gibt es nach Kenntnis der Autorin bisher keine Studie, die die für das Responsible-Party-Modell notwendige Responsivität von Angeordneten gegenüber ihren Parteimitgliedern untersucht. Neben den Forschungsdesideraten, dass es keine systematischen Untersuchungen über die Gerechtigkeitseinstellungen und insbesondere nicht über die egalitären bzw. nonegalitären Werthaltungen von CDU-Mitgliedern gibt und dass keine eingehende Untersuchung des Bewusstseins von Abgeordneten, responsiv oder nicht responsiv zu sein, vorliegt, ist dies also eine dritte Forschungslücke, die diese Arbeit helfen soll zu schließen. Damit lässt sich also das Thema dieser Arbeit folgendermaßen zusammenfassen: Es geht im Rahmen des Responsible-Party-Modells um die objektive und subjektive Responsivität und die Güte der Perzeptionen von CDU-Bundestagsabgeordneten des 16. Deutschen Bundestages gegenüber CDU-Mitgliedern in Bezug auf egalitäre bzw. nonegalitäre Gerechtigkeitseinstellungen.
1.2 Untersuchungsdesign Zur Untersuchung egalitärer bzw. nonegalitärer Einstellungen bei CDUBundestagsabgeordneten und -Mitgliedern wurde ein Fragebogen entwickelt, der in zwei Pretests getestet wurde. Alle 180 CDU-Bundestagsabgeordneten des 16. Deutschen Bundestages – mit Ausnahme der Autorin selbst – erhielten im Sommer 2006 in einer Vollerhebung diesen Fragebogen. Unter den nach Auskunft der CDU-Bundesgeschäftsstelle per 31. Mai 2006 566.254 CDU-Mitgliedern wurde im Juni 2006 eine nach Ost/West geschichtete repräsentative Zufallsstichprobe im Umfang von 1000 gezogen. 500 Fragebögen wurden an derart ausgewählte ostdeutsche, 480 an westdeutsche und 20 an Berliner CDUMitglieder verschickt. Der Rücklauf betrug nach einer nach der Total-DesignMethode durchgeführten Erinnerung bei den Abgeordneten 75,4%, bei den Mitgliedern 48,4%.
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Der Fragebogen bestand aus vom Institut für Demoskopie Allensbach übernommenen Fragen, die das Spannungsverhältnis Freiheit/Gleichheit und den Zusammenhang zwischen Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit erfassen sollen. Zur Erfassung der drei skizzierten Werthaltungen – strenger Egalitarismus, gemäßigter Egalitarismus und Nonegalitarismus - wurde eine neue Frage entworfen und getestet, die die Bereitschaft, für mehr Gleichheit Nivellierung nach unten in Kauf zu nehmen, erfassen soll. Schließlich wurde eine Likert-Skala entwickelt, für die teilweise aus dem ALLBUS, dem SOEP und von Allensbach Items übernommen, teilweise Items neu entwickelt und in Pretests getestet wurden. Mit dieser Skala soll insgesamt der Grad der egalitären und nonegalitären Orientierung gemessen werden. Die Fragen an Abgeordnete und Mitglieder waren identisch, lediglich bei den soziodemographischen Merkmalen gab es einige Unterschiede. So wurden beispielsweise die Mitglieder naturgemäß nicht nach der Anzahl ihrer Legislaturperioden im Bundestag befragt, bei den Abgeordneten wurde das Einkommen nicht erfasst, da es bei allen mindestens in der Höhe der aktuellen Bundestagsdiäten lag und somit generell als „hoch“ betrachtet werden konnte. Die Abgeordneten wurden gebeten, die Fragen sowohl gemäß ihrer eigenen Einstellungen zu beantworten als auch anzugeben, welche Einstellungen ihrer Parteimitglieder im Wahlkreis sie bei den einzelnen Fragen vermuten. So kann sowohl die Übereinstimmung zwischen den Einstellungen der Abgeordneten und den Einstellungen der Mitglieder (objektive Resposivität), die Übereinstimmung zwischen den Perzeptionen der Abgeordneten und den Einstellungen der Mitglieder (Güte der Perzeptionen) als auch die Übereinstimmung zwischen den Einstellungen und den Perzeptionen der Abgeordneten (subjektive Resposivität) gemessen werden.
1.3 Aufbau der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in einen theoretischen, einen empirischen und einen interpretatorischen Teil. Im theoretischen Teil wird der aktuelle Forschungs- und Diskussionsstand der beiden Bereiche der politischen Theorie zusammengefasst, die in dieser Arbeit miteinander verknüpft werden: Die Gerechtigkeitsphilosophie und die Responsivitätsforschung. Im ersten Abschnitt des theoretischen Teils soll die philosophische Debatte über unterschiedliche egalitäre oder nonegalitäre Gerechtigkeitskonzeptionen dargestellt werden. Nach einer begrifflichen Klärung und Abgrenzung werden der strenge Egalitarismus, der gemäßigte Egalitarismus und der Nonegalitarismus
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zusammenfassend dargestellt, indem jeweils die typischen Argumente der unterschiedlichen Schulen an Hand der Konzeption eines wichtigen Vertreters dargestellt werden. Im Anschluss wird jeweils die Kritik an dieser Theorie skizziert. In einem nächsten Schritt sollen Ergebnisse über die empirische Geltung dieser normativen Aussagen zusammengefasst werden. Dabei wird auf das Konzept der ökonomischen Kultur zurückgegriffen. Es wird dargestellt, welche Erkenntnisse über die Verbreitung von egalitären und nonegalitären Einstellungen bei CDU-Bundestagsabgeordneten und CDU-Mitgliedern vorliegen und durch welche Faktoren diese beeinflusst werden. Da insbesondere bei letzterer Gruppe auf fast keine entsprechenden Untersuchungen zurückgegriffen werden kann, werden auch Erkenntnisse über das Vorliegen derartiger Einstellungen bei der Bevölkerung und bei CDU-Sympathisanten zusammengetragen, um diese ebenfalls bei der Hypothesengenerierung zu nutzen. Am Ende dieses Abschnitts werden so Thesen formuliert, die im empirischen Teil der Arbeit überprüft werden sollen. Im zweiten Abschnitt des theoretischen Teils wird zunächst die Pionierstudie der Responsivitätsforschung, „Constituency Influence in Congress“ von Warren E. Miller und Donald E. Stokes, vorgestellt. Insbesondere soll auch auf die im Modell Miller/Stokes’ zentrale Rolle der Perzeptionen eingegangen werden. Dieses Modell bildet den Ausgangspunkt. Es muss jedoch modifiziert werden, um auf europäische Regierungssysteme anwendbar zu sein. Welche Modifikationen hier nötig sind, um insbesondere die Rolle der Parteien angemessen zu berücksichtigen, soll in einem zweiten Schritt gezeigt werden. Dabei wird die These vertreten, dass die Responsivität der Abgeordneten gegenüber den Parteimitgliedern innerhalb des Responsible-Party-Modells eine entscheidende und bisher zu wenig beachtete Größe darstellt. In einem weiteren Schritt werden bisherige empirische Ergebnisse der Responsivitätsforschung zusammenfassend dargestellt. Hier geht es vor allem darum, unterschiedliche in bisherigen empirischen Untersuchungen bewährte Einflussfaktoren auf die objektive Responsivität von Abgeordneten und deren Perzeptionen aufzuzeigen. Am Ende jedes Abschnitts werden auf dieser Basis Thesen formuliert, die dann im empirischen Teil überprüft werden sollen. Ebenfalls wird in diesem Abschnitt ausgeführt, dass der Zusammenhang zwischen den Einstellungen der Abgeordneten und ihren Perzeptionen, also die subjektive Responsivität, bisher nur unzureichend untersucht wurde. Daher liegen der Autorin auch keine Erkenntnisse über Einflussfaktoren auf die subjektive Responsivität vor. Die Thesen, die in dieser Arbeit hierzu formuliert werden, stützen sich daher entweder auf Ergebnisse zur objektiven Responsivität oder zur Güte der Perzeptionen der Abgeordneten oder werden aus anderen Annahmen über das Wirken dieser Einflussfaktoren abgeleitet.
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Nach diesem theoretischen folgt der empirische Teil. Zuerst soll die Analysestrategie erläutert werden. Dabei soll insbesondere die Frage diskutiert werden, welches statistische Modell zur Messung von objektiver Responsivität und Güte der Perzeptionen auf Basis des vorliegenden Fragebogens geeignet ist. Nach der Beschreibung der Durchführung der Untersuchung und der Datensätze werden dann schließlich die im ersten Teil gewonnenen Thesen überprüft. Im letzten Teil werden die Ergebnisse interpretiert. Hier sollen bemerkenswerte Ergebnisse dieser Untersuchung erörtert und Konsequenzen für die weitere Forschung gezogen werden. Überlegungen zur weiteren Untersuchung der subjektiven Responsivität von Abgeordneten stehen dabei im Zentrum.
2 Forschungsstand 2 Forschungsstand 2 Forschungsstand In dieser Arbeit werden zwei Bereiche der Politischen Theorie miteinander verknüpft: Die Gerechtigkeitsphilosophie und die Responsivitätsforschung. Die Responsivitätsforschung ist Teil der Demokratietheorie (Walter 1997: 1). Wie die Demokratietheorie kann auch Responsivität sowohl als empirisches als auch als normatives Konzept angewendet werden (Schmidt 2000: 27): Responsivität kann empirisch gemessen oder als Norm einer funktionierenden Demokratie postuliert werden. In vielen Forschungsansätzen werden auch beide Konzepte verfolgt: Ein möglichst hohes Maß an Responsivität wird normativ postuliert und dann die Erfüllung dieser Norm in bestehenden demokratischen Systemen empirisch überprüft. Während die Responsivitätsforschung also sowohl eine empirische als auch eine normative Komponente hat, gehört die Gerechtigkeitsphilosophie zunächst zur normativen Politischen Philosophie. Innerhalb der Gerechtigkeitsphilosophie spielt die Frage der gerechten Verteilung von Ressourcen unter Individuen oder in einer Gesellschaft eine wichtige Rolle. Mit John Rawls rückte diese Diskussion wieder in das Zentrum der politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung. In der Gerechtigkeitsphilosophie werden also Werturteile darüber gefällt, was unter Gerechtigkeit zu verstehen ist. Wie jedes Werturteil können Aussagen über eine gerechte Verteilung von Ressourcen aber auch auf der Objektebene untersucht werden, sie sind dann „seiend“, nicht „gültig“ (Weber 1968: 531). So kann prinzipiell immer empirisch erforscht werden, welche Werturteile eine bestimmte Gruppe von Personen – in dieser Arbeit: CDU-Bundestagsabgeordnete und CDU-Mitglieder – vertritt, ohne dass damit eine Aussage über die „Gültigkeit“ der Werturteile verknüpft ist.6 In dieser Arbeit soll also im Rahmen der empirischen Responsivitätstheorie untersucht werden, inwiefern die CDU-Abgeordneten mit ihren Mitgliedern in ihren Werturteilen über Gleichheit bzw. Ungleichheit übereinstimmen und somit 6
Ob Werturteile selbst wissenschaftlich begründet werden können, ist seit Max Webers Postulat der Werturteilsfreiheit und der Auseinandersetzung darüber im Positivismusstreit der deutschen Sozialwissenschaften heftig umstritten. Während Max Weber und seine Anhänger davon ausgehen, dass die Wissenschaft prinzipiell nur Aussagen über das Seiende, niemals über das Seinsollende treffen könne, lehnen die Kritiker Webers diesen Dualismus zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen ab (Weber1968: 148). In bestimmten geschichtlichen Konstellationen gäbe es normative Probleme, die von sich aus ihre Änderung stumm, ‚objektiv’ verlangen (Adorno 1989: 74).
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responsiv sind. Daher sollen im Folgenden theoretisch und empirisch die philosophische Debatte über Gleichheit und Ungleichheit und der aktuelle Forschungsstand der Responsivitätsforschung dargestellt werden. 2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus In diesem Abschnitt geht es um normative Konzepte, in denen Gleichheit als ein Wert angesehen wird und um solche, in denen dieser Wert von Gleichheit bestritten wird, sowie um die empirische Verbreitung dieser Einstellungen in Deutschland. Aus diesen empirischen Erkenntnissen sollen dann Hypothesen generiert, die im empirischen Teil der Arbeit im theoretischen Rahmen des in Abschnitt 2.2. entwickelten Repräsentationsmodells überprüft werden sollen. Im Zentrum dieses Abschnitts steht also der Begriff der Gleichheit, der von Otto Dann wie folgt definiert wird: Gleichheit (…) bedeutet Übereinstimmung einer Mehrzahl von Gegenständen, Personen oder Sachverhalten in einem bestimmten Merkmal, bei Verschiedenheit in anderen Merkmalen (Dann 1975: 997).
Etwas als gleich zu bezeichnen, setzt nach dieser Definition also zweierlei voraus: Zum einen ist Gleichheit niemals Merkmal eines einzelnen Objektes, sondern beschreibt eine Beziehung zwischen zwei oder mehr Objekten. Es ist sinnlos, eine einzelne Person als gleich zu bezeichnen, gleich können nur mindestens zwei Personen sein. Gleichheit ist also ein Verhältnisbegriff (Dann 1975: 997). Zum anderen ist Gleichheit immer Gleichheit in Hinblick auf ein bestimmtes Merkmal. Zwei Menschen können also etwa gleich sein in Hinblick auf ihr Einkommen oder auf ihre Bildungschancen. In allen Merkmalen kann etwas nur mit sich selbst übereinstimmen, dies ist dann nicht Gleichheit, sondern Identität. Eine Aussage über Gleichheit setzt also die Verschiedenheit des Verglichenen voraus (Dann 1975: 997). Im Hinblick auf welche Merkmale Menschen gleich sind oder gleich sein sollen, diese Frage beschäftigt den Egalitarismus. Der Nonegalitarismus hingegen bestreitet prinzipiell, dass Gleichheit ein an sich erstrebenswertes Ziel darstellt. Diese Debatte findet in aller Regel im Kontext einer Debatte über Gerechtigkeit statt, es geht also um die Frage, ob und inwiefern Gleichheit etwas mit Gerechtigkeit zu tun hat. Damit gehört die Egalitarismus-NonegalitarismusAuseinandersetzung zur politischen Sozialphilosophie, in der die Frage nach den Maßstäben einer gerechten Verteilung von Ressourcen eine zentrale Rolle spielt. Diese Debatte ist offenkundig anfällig für einen verdeckten Normativismus
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
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(Schmidt 2004: 88), also die Verschleierung von Werturteilen als Tatsachenaussagen oder den naturalistischen Fehlschluss. Die Autorin bemüht sich, in diesem Kapitel jeglichen verdeckten Normativismus zu vermeiden.
2.1.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus als normative Konzepte …every normative theory of social arrangement that has at all stood the test of time seems to demand equality of something... (Sen 1992: 12; H. i. O.)
Diese These Amartya Sens entspricht der Intuition der meisten Menschen. Das Nachdenken über Gerechtigkeit, über den gerechten Aufbau einer Gesellschaft führt meist in irgendeiner Weise zu einem Rekurs auf den Begriff der Gleichheit - sei es in der Philosophie, der Politik oder im Alltag. Folgerichtig kann die philosophische Fragestellung dann nur noch lauten: Equality of what?, so die Überschrift von Sens erstem Kapitel (Sen 1992: 12). Die entsprechende Debatte, welche Dinge gleich zu verteilen sind, ob beispielsweise Wohlfahrt, die Gelegenheit zur Erlangung von Wohlfahrt, Einkommen, Güter, Chancen oder Fähigkeiten, wird in der politischen Gegenwartsphilosophie mit Leidenschaft geführt (für einen Überblick über die „Equality of what? – Debatte“ vgl. etwa Cohen 1993; Roemer 1996). Auch historisch ist das Schlagwort der Gleichheit eine der wirkmächtigsten politischen Ideen überhaupt. Von Platon und Aristoteles in ihren Verfassungslehren noch eher abwertend als Merkmal der Demokratie als einer extremen Verfassung identifiziert, wurde Gleichheit in der römischen Kaiserzeit bereits mit naturrechtlichen Anschauungen verbunden. Im Christentum entstand die Idee der Gleichheit der Menschen vor Gott, mit der Martin Luther in der Reformation gegen Vorrechte des Klerus argumentierte. In der Französischen Revolution war der Schlachtruf nach „égalité“ zunächst im Sinne einer Gleichheit vor dem Recht und politischer Gleichheit gemeint, wurde dann später von radikalen Gruppen als Eigentumsgleichheit interpretiert. Während die Forderung nach Gleichheit in der deutschen Revolution von 1848 dann wieder auf die Forderung nach gleichem Wahlrecht und Gleichheit vor dem Gesetz beschränkt war, kritisierte Karl Marx zeitgleich diesen bürgerlichen Gleichheitsbegriff, der die wahren Ungleichheiten des Eigentums und der Bildung nur verschleiere und damit letztlich den Klasseninteressen der Bourgeoisie diene. Entsprechend fordert Lenin 1917, dass aus der formalen eine tatsächliche Gleichheit werden müsse, ein Projekt, dem sich im 20. Jahrhundert der real existierende Sozialismus, wenn auch – je nach Betrachter „leider“ oder „zum Glück“ – erfolglos, angenommen hat (Dann 1979: 1000-1041).
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Angesichts dieser philosophischen und historischen Bedeutung der Idee der Gleichheit erscheint es erst einmal absurd, den Wert von Gleichheit per se in Frage zu stellen. Genau dies tut aber eine Gruppe von Gegenwartsphilosophen, die als Egalitarismuskritiker oder Nonegalitaristen bezeichnet werden und schlicht fragen: Warum überhaupt Gleichheit (Krebs 2002: 119)?
Auf diese Frage haben die Egalitaristen aus Sicht der Nonegalitaristen keine überzeugende Antwort. Egalitaristen postulierten einfach, dass Gleichheit ein intrinsischer Wert zukomme, dass sie also als Selbstzweck angestrebt werden müsse. Gleichheit sei aus dieser Sicht die Norm, Ungleichheit die rechtfertigungsbedürftige Abweichung, ohne dass die Egalitaristen dies weiter begründeten, so die Kritik (Schramme 1999: 174-178). Damit beziehen sich die Egalitarismuskritiker beispielsweise auf das berühmte Tortenbeispiel des egalitär argumentierenden Philosophen Ernst Tugendhats: Eine Torte, die eine Mutter unter Kindern verteilen wolle, sei prinzipiell gleich zu verteilen. Nur wenn Gründe für eine Ungleichverteilung als relevant anerkannt worden seien, etwa das Bedürfnisargument – ein Kind hat besonders großen Hunger – oder das Leistungsargument – ein Kind hat zuvor der Mutter geholfen –, dann sei es gerechtfertigt, diesen Kindern größere Stücke zu geben. Kann jedoch kein relevanter Grund für eine nonegalitäre Verteilung der Torte angeführt werden, dann bleibt nur die egalitäre Teilung übrig, so Tugendhat in seinem klassischen Argument (Tugendhat 1997a: 374). Die Nonegalitaristen hingegen bestreiten prinzipiell, dass es moralisch relevant sei, wie es einem Menschen im Vergleich zu einem anderen geht: Es kommt darauf an, ob Menschen ein gutes Leben führen, und nicht, wie deren Leben relativ zu dem Leben anderer steht (Frankfurt 2000: 41).
Dem Vergleich mit anderen, den Egalitaristen wie Frank Nullmeier als Sozialkomparatives Handeln (Nullmeier 2000: 12) bezeichnen und so neben zweckund wertrationalem Handeln sogar einen weiteren Handlungstyp einführen, wird von den Nonegalitaristen also moralische Relevanz abgesprochen. Nach relationalen, also vergleichenden, Standards sei es nur wichtig, wie viel jemand im Vergleich zu anderen, nicht wie viel er absolut bekomme. Damit verfehle der Egalitarismus elementare Gerechtigkeitsansprüche, denn Menschenwürde sei ein absoluter Standard (Krebs 2002: 121). Ein wichtiger Streitpunkt zwischen Egalitarismus und Nonegalitarismus ist auch die Frage der Nivellierung nach unten. Da ein Egalitarist Gleichheit für
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einen wichtigen oder den wichtigsten Wert hält und sich die Lage der Schlechtergestellten manchmal nicht verbessern lässt, plädieren die meisten Egalitaristen in bestimmten Situation explizit oder implizit auch dafür, die Lage der Bessergestellten zu verschlechtern, um so mehr Gleichheit zu erzielen. Nonegalitaristen halten dies für absurd und versuchen dies mit extremen Beispielen zu zeigen. So müsse ein konsequenter Egalitarist eine Naturkatastrophe, bei der die Bessergestellten alle ihre Besitztümer verlieren und dadurch in eine genau so schlechte Situation geraten wie alle anderen, als eine Verbesserung der Lage bewerten. Ebenso sei es zumindest in Hinblick auf die Gleichheit ein Fortschritt, Sehenden die Augen zu ruinieren um sie so mit den Blinden gleichzustellen, so die Nonegalitaristen (Parfit 2002: 93). Dieser Einwand der Angleichung nach unten (Levelling down Objection) – der scharfe Egalitarismuskritiker Wolfgang Kersting spricht in diesem Zusammenhang gar düster von der dunklen Metaphysik des Egalitarismus (Kersting 2002: 81) – ist eines der wichtigsten Argumente der Nonegalitaristen gegen den Egalitarismus. Im Folgenden geht es nach einer Definition der entscheidenden Begriffe um die Darstellung dieser wichtigsten Argumente des Egalitarismus’ und des Nonegalitarismus’. Das Ziel dieser Zusammenfassung ist es, grundlegende Aussagen dieser philosophischen Schulen beispielhaft zu skizzieren, um anschließend – sofern vorhanden – empirische Erkenntnisse über die Verbreitung derartiger Wertvorstellungen in Deutschland zusammenzutragen und so Hypothesen für den empirischen Teil dieser Arbeit zu generieren.7 Das heißt: Es geht in diesem Abschnitt nicht um einen umfassenden Überblick über die philosophische Egalitarismus-Debatte in all ihren Finessen und Verästelungen, sondern es geht um die Darstellung typischer Argumente. Daher wird für jede Denkschule ein Autor ausgewählt, der nach Meinung der Autorin idealtypisch für seine philosophische Richtung argumentiert. Für den strengen Egalitarismus ist dies Stefan Gosepath, für den gemäßigten Egalitarismus John Rawls und für den Non-egalitarismus Harry Frankfurt. Auch die wichtigsten Kritikpunkte am Egalitarismus und am Nonegalitarismus sollen jeweils aufgezeigt werden, wobei es 7
Dabei liegen allerdings weder empirische Kenntnisse vor, noch können sie im empirischen Teil dieser Arbeit gewonnen werden, ob die Bevölkerung Deutschlands, CDU-Mitglieder oder CDU-Abgeordnete konkret diesen in dieser Arbeit vorgestellten sozialphilosophischen Konzepten in all ihren Annahmen zustimmen. Erkenntnisse hierüber könnten nur sehr umfangreiche und tiefgehende Erhebungen liefern, in denen die Verbreitung jeder einzelnen normativen Annahme empirisch getestet werden müsste – bei allen Problemen, die eine solche Befragung von Personen, die derartige abstrakte philosophische Argumente nicht gewohnt sind, mit sich brächte. Solche Studien existieren meines Wissens nicht. In dieser Arbeit können nur empirische Erkenntnisse darüber wiedergegeben werden, ob Bevölkerung, CDU-Mitglieder und -MdBs eher egalitär oder eher nonegalitär argumentieren und ggf., ob sie dabei eher strenge oder gemäßigte Positionen vertreten.
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2 Forschungsstand
auch hier um typische und prinzipielle, nicht um die Darstellung aller Gegenargumente geht. Dabei stehen zwar Fragen der materiellen Gleichheit jeweils im Mittelpunkt, aber bzgl. ihrer prinzipiellen normativen Argumente behandeln die meisten Autoren die unterschiedlichen „Gleichheiten“ gleich (vgl. etwa Rawls 1979: 83). Wer also eine rein relationale Schlechterstellung eines Menschen mit Gütern für einen Nachteil hält, wird dies in Bezug auf Chancen ähnlich sehen. Und wer eine Nivellierung des Besitzes nach unten ablehnt, wird auch einer Nivellierung der Bildung nach unten kritisch gegenüber stehen. Daher wird im Folgenden, sofern nicht erforderlich, nicht zwischen den verschiedenen Arten von Gleichheit unterschieden, da sich die Argumente prinzipiell gleichen.
2.1.1.1 Definitionen und Abgrenzungen Ich unterscheide in dieser Arbeit zwischen strengem und gemäßigtem Egalitarismus sowie dem Nonegalitarismus8. Der entscheidende Unterschied zwischen Egalitarismus und Nonegalitarismus besteht darin, dass ein Egalitarist Gleichheit als einen Wert betrachtet, Ungleichheit als ein Übel. Ungleichheit ist aus Sicht des Egalitaristen immer zumindest mit einem relationalen Nachteil für den Schlechtergestellten verbunden: Der Schlechtergestellte erfährt dadurch ein Übel, dass es anderen besser geht als ihm. Diesen relationalen Nachteil konstatiert der Egalitarist auch dann, wenn es dem Schlechtergestellten absolut gut geht oder es ihm durch eine ungleichere Verteilung absolut nicht schlechter geht als in einer gleicheren Verteilung. Die strenge und gemäßigte Variante des Egalitarismus’ unterscheiden sich danach, ob die Ablehnung von Ungleichheit dominant ist oder ob neben diesem Prinzip noch jeweils andere Prinzipien, etwa das Prinzip der Maximierung der Summe der Wohlfahrt, akzeptiert werden. Der Nonegalitarist hingegen sieht in Gleichheit keinen Wert, in Ungleichheit kein Übel. Entsprechend bewertet er auch die rein relationale Schlechterstellung eines Menschen oder einer Gruppe nicht als Nachteil. Aus seiner Sicht ist es
8
Meine Unterscheidungen knüpfen an verschiedene Autoren an, übernehmen jedoch keine Kategorisierung völlig. So habe ich mich in der prinzipiellen Unterscheidung zwischen Egalitarismus und Nonegalitarismus an Krebs orientiert (Krebs 2002: 96). Die Abgrenzung zwischen strengem und gemäßigten Egalitarismus knüpft an Parfits Unterscheidung zwischen moderatem und starkem Egalitarismus, an Raz’ Definition des rhetorischen und des strengen Egalitarismus’, an Krebs’ Unterscheidung des reinen und des pluralistischen Egalitarismus’ und an Wildts Abgrenzung zwischen starkem und schwachem Egalitarismus an (Parfit 2000: 102; Raz 2000: 62-68; Krebs 2002: 112; Wildt 2006: 71).
37
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
völlig unerheblich, wie sich die Lage eines Menschen relativ zu der eines anderen verhält, entscheidend ist, wie es dem Menschen absolut geht. Die Abgrenzung zwischen diesen Schulen kann an Hand des Ringstorffschen Beispiels gezeigt werden. So sieht ein strenger Egalitarist Ungleichheit als ein so großes Übel an, dass er die Veränderung eines Zustands zu deutlich mehr Ungleichheit auch dann als Verschlechterung bewertet, wenn es in diesem neuen Zustand absolut allen Personen besser geht. Dies ist die Konstellation, die Ringstorff beschrieb: Beispiel A: Variante 1: Variante 2:
100%: trockenes Brot 90%: 10%:
Brot mit Margarine Brot mit Margarine und Kaviar
Der strenge Egalitarist würde die Ungleichheit, die in Variante 2 entsteht, als ein so großes Übel bewerten, dass sie in seinen Augen den zusätzlichen Nutzen für alle überwiegt. Daher würde er sich für Variante 1 entscheiden. Der gemäßigte Egalitarist hingegen vertritt neben dem Prinzip der Gleichheit auch das Prinzip der Maximierung der Wohlfahrt. Daher würde er sich für Variante 2 entscheiden. Zwar ist in seinen Augen Variante 2 in einer Hinsicht schlechter als Variante 1, denn die größere Ungleichheit stellt aus seiner Sicht ein Übel dar. In einer anderen Hinsicht sieht der gemäßigte Egalitarist aber auch Vorteile: Die Wohlfahrt aller ist größer. Diese Vorteile würden für den gemäßigten Egalitaristen die Kosten der erhöhten Ungleichheit überwiegen. Anders sieht es für den gemäßigten Egalitaristen jedoch aus, wenn die Alternative lautet: Beispiel B: Variante 1: Variante 2:
100%: trockenes Brot 90%: 10%:
trockenes Brot Brot mit Margarine und Kaviar
Hier bedeutet Variante 2 einen noch größeren relationalen Nachteil für die Mehrheit – der Unterschied zwischen Schlechter- und Bessergestellten ist noch größer als in Beispiel A –, ohne, dass es der Mehrheit absolut besser geht. Eine Wohlfahrtssteigerung erreicht nur eine kleine Minderheit. Der gemäßigte Egalitarist würde sich hier auch für Variante 1 entscheiden.9 9
vgl. hierzu Abschnitt 2.1.1.2. dieser Arbeit, insb. Fußnote 13.
38
2 Forschungsstand
Für einen Nonegalitaristen hingegen wäre die Sache klar: Er würde sich sowohl bei Beispiel A als auch bei Beispiel B für Variante 2 entscheiden. Da für ihn ein rein relationaler Nachteil nicht existiert, wären für ihn die beiden Varianten 2 jeweils in keiner Hinsicht schlechter als die Varianten 1, da es dort jeweils niemandem absolut schlechter geht.10 Anders sähe es bei folgendem Beispiel aus: Beispiel C: Variante 1: Variante 2:
100%: Brot mit Margarine 10%: 80%: 10%:
trockenes Brot Brot mit Margarine und Marmelade Brot mit Margarine und Kaviar
Hier geht es in Variante 2 einer Minderheit von zehn Prozent auch absolut schlechter als in Variante 1, während es einer großen Mehrheit von 80% absolut etwas besser (Marmelade) und zehn Prozent absolut deutlich besser (Kaviar) geht. Wie sich ein Nonegalitarist hier verhält, hängt von seiner Beachtung anderer Prinzipien ab. Beispielsweise könnte er wie die meisten modernen Nonegalitaristen nach dem Prinzip der Achtung argumentieren, nach dem man dem, der am weitesten von einem (absoluten) Standard eines menschenwürdigen Lebens entfernt ist, zuerst helfen muss und dafür auch Nachteile für die besser gestellte Mehrheit hinzunehmen sind. Kommt der Nonegalitarist, der diesem Prinzip anhängt, zu dem Schluss, dass trockenes Brot allein kein menschenwürdiges Leben ermöglicht, würde er sich für Variante 1 entscheiden. Vertritt er allerdings die Auffassung, dass trockenes Brot für ein menschenwürdiges Leben ausreicht, sich somit alle Gruppen in Beispiel C im Surplus-Bereich (Krebs 2004: 122), also oberhalb des Standards für ein menschenwürdiges Leben, befinden, würde er jede Umverteilung ablehnen und daher für Variante 2 plädieren. Ein Nonegalitarist könnte aber auch rein nach dem Prinzip der Wohlfahrtsmaximierung argumentieren. In Beispiel C verschlechtert sich bei Entscheidung für Variante 1 die Position von 80%, bei Entscheidung für Variante 2 die von 10%, daher kann ein Nonegalitarist in diesem Beispiel auch rein auf die Wohlfahrtssumme achten und daher für Variante 2 plädieren.
10
Hier unterscheidet sich der gemäßigte Nonegalitarist vom gemäßigten Egalitaristen in Beispiel A. Auch wenn beide Variante 2 wählen, so ist für den gemäßigten Egalitaristen Variante 2 doch auf Grund des relationalen Nachteils in einer Hinsicht schlechter als Variante 1, während für einen Nonegalitaristen Variante 2 in keiner Hinsicht schlechter ist als Variante 1.
39
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
Anders sähe es auch für den Nonegalitaristen, der nur auf die Wohlfahrtssumme achtet, in Beispiel D aus: Beispiel D: Variante 1: Variante 2:
100%: Brot mit Margarine 20%: 70%: 10%:
trockenes Brot Brot mit Margarine Brot mit Margarine und Kaviar
Hier ginge es in Variante 2 einer Mehrheit von 70% genau so wie in Variante 1, einer größeren Minderheit von 20% ginge es schlechter, einer kleineren von zehn Prozent besser. Hier ist die Wohlfahrtssumme in Variante 2 kleiner als in Variante 1, hier würde sich auch der Nonegalitarist, der nach dem Prinzip der Wohlfahrtsmaximierung agiert, für Variante 1 entscheiden. Diese Abgrenzungen verdeutlichen eines: Vor allem unterscheiden sich die unterschiedlichen Varianten des Egalitarismus’ und des Nonegalitarismus’ durch ihren Umgang mit der Frage der Nivellierung nach unten. Egalitaristen und Nonegalitaristen sind entweder überhaupt nicht oder in sehr unterschiedlichem Maß bereit, die Verschlechterung von Positionen zu Gunsten von mehr Gleichheit in Kauf zu nehmen. Diese Problematik ist meines Erachtens eine der praktischen Fragen der Egalitarismus–Nonegalitarismus–Debatte, diese Problematik zeigt auch die sozialpolitische Brisanz dieser philosophischen Debatte. Daher wird für diese Arbeit eine Frage entwickelt, mit der die gemessen werden soll, ob und inwieweit CDU-Mitglieder und CDU-Abgeordnete eine solche Nivellierung nach unten befürworten (vgl. Abschnitt 3.1. dieser Arbeit). Zunächst sollen aber beispielhaft die Konzepte von Philosophen skizziert werden, die für die einzelnen bisher lediglich definierten Denkschulen inhaltlich plädieren. Dabei soll mit der „Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls begonnen werden, da ohne einen Rekurs auf dieses wichtigste Werk der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts kein Vertreter der anderen Denkschulen auskommt, wie etwa Rawls’ scharfer Kritiker Robert Nozick formulierte: Sein [Rawls’; KK] Buch ‚A Theory of Justice’ ist ein gehaltvolles, tiefes, feinsinniges, weitgespanntes, systematisches Werk der Philosophie der Politik und der Moralphilosophie, das seit John Stuart Mill – diesen womöglich eingeschlossen – seinesgleichen sucht. (…) Die Philosophie der Politik muss von nun an im Rahmen der Rawlsschen Theorie arbeiten oder aber erklären, warum sie es nicht tut (Nozick 2006: 243).
40
2 Forschungsstand
2.1.1.2 Der gemäßigte Egalitarismus: John Rawls Für John Rawls ist Gerechtigkeit die erste Tugend sozialer Institutionen (Rawls 1979: 19). Eine Gesellschaft ist dann wohlgeordnet, wenn jedes Mitglied die gleichen Gerechtigkeitsgrundsätze anerkennt und sich darauf verlassen kann, dass auch andere dies tun, und wenn die wichtigen gesellschaftlichen Institutionen im Einklang mit diesen Gerechtigkeitsgrundsätzen stehen (Rawls 1979: 21). Dabei sei es die Funktion dieser Gerechtigkeitsgrundsätze, in einer Gesellschaft Grundrechte und -pflichten sowie die Art, wie die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilt werden, festzulegen (Rawls 1979: 23). Hierbei müssen auch die langfristigen Folgen dieser Grundsätze beachtet werden, also vor allem ihre Effizienz: Wenn Gerechtigkeit gewährleistet ist, ist eine Gerechtigkeitsvorstellung dann besser als eine andere, wenn ihre weitläufigeren Folgen besser sind (Rawls 1979: 23). Um diese Gerechtigkeitsgrundsätze zu finden, bedient Rawls sich eines an klassische Vertragstheorien anknüpfenden Gedankenexperiments: Er konstruiert einen sog. Urzustand, in dem rational kalkulierende Menschen sich auf Grundsätze ihres künftigen Zusammenlebens einigen müssen (Rawls 1979: 140f). Dabei setzt Rawls voraus, dass sich die Beteiligten hinter einem Schleier des Nichtswissens befinden, dass sie weder ihren Status, auch nicht ihr Alter kennen, noch wissen, über welche Fähigkeiten, wie Intelligenz oder Körperkraft, sie verfügen. Auch ihre eigenen Interessen und Wertvorstellungen sowie die wirtschaftliche und politische Lage ihrer Gesellschaft sind ihnen unbekannt. Hingegen verfügen sie über grundlegende Kenntnisse der Wirtschaftstheorie, der Soziologie und der Psychologie (Rawls 1979: 159 - 161). Außerdem sind sie vernunftbegabt, sie wollen also lieber mehr als weniger Güter haben. Dennoch kennen sie keinen Neid, es ist ihnen also nicht unerträglich, wenn andere mehr haben als sie, solange diese Ungleichheiten nicht auf Ungerechtigkeiten beruhen (Rawls 1979: 166f). Dieser so modellierte Urzustand führe dann dazu, dass die Beteiligten versuchen, Grundsätze aufzustellen, durch die sie das größtmögliche Maß an Grundgütern erlangen, die sie in die Lage versetzen, ihre Ziele und Interessen – die sie nicht kennen – bestmöglich zu verwirklichen (Rawls 1979: 168). Unter diesen Umständen würden sich die Menschen im Urzustand nach Rawls auf die beiden folgenden Grundsätze einigen: Erster Grundsatz: Jeder hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist. Zweiter Grundsatz: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein:
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
41
a.
sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und
b.
sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen (Rawls 1979: 336).11
Der erste Grundsatz regelt die grundlegenden Rechte und Freiheiten des Menschen, also die politische und persönliche Freiheit sowie die Gewissensfreiheit, das Recht auf Eigentum und den Schutz vor staatlicher Willkür. Diese Rechte und Freiheiten sollen für alle Menschen gleich sein (Rawls 1979: 82). Grundsatz 2 b) verknüpft die Forderung nach prinzipiell offenen Laufbahnen mit der Forderung, dass jeder auch eine faire Chance haben soll, diese Positionen zu erlangen. Menschen mit gleichen Fähigkeiten und gleicher Leistungsbereitschaft sollen unabhängig von ihrer Herkunft die gleichen Chancen haben (Rawls 1979: 93). Sowohl der erste, als auch der zweite Teil des zweiten Grundsatzes sind sowohl in der politischen Philosophie, als auch in der politischen Praxis im wesentlichen anerkannt – wenn auch die Nonegalitaristen darauf beharren, dass die im ersten Grundsatz und in Grundsatz 2b) genannte Gleichheit redundant sei, dieses Prinzip also auch ohne den Begriff der Gleichheit auskomme (vgl. Abschnitt 2.1.1.4 dieser Arbeit), so sind doch beide Forderungen im Ergebnis relativ unumstritten. Anders verhält es sich mit Grundsatz 2 a), den Rawls das Unterschiedsprinzip nennt (Rawls 1979: 96). Dieses Prinzip legt eine grundsätzliche Präsumtion der Gleichheit fest – wenn auch Rawls diesen Grundsatz so nicht nennt: Alle Güter sind prinzipiell gleich zu verteilen, sofern nicht eine ungleiche Verteilung dem genannten Kriterium genügt und damit gerechtfertigt ist (Rawls 1979: 83). Gleichheit ist bei Rawls also die Norm, die keiner Rechtfertigung bedarf, Ungleichheit die Ausnahme, die begründet werden muss. Die Beweislast liegt also bei denen, die eine ungleiche Verteilung wollen. Diese müssen zeigen, dass die ungleiche Verteilung auch die Aussichten der am wenigsten Begünstigten verbessert. Rawls begründet dieses Prinzip mit dem intuitiven Gedanken, dass eine Gesellschaft nur dann die Vorteile der Bessergestellten hinnehmen darf, wenn davon auch die weniger Begünstigten profitieren (Rawls 1979: 96). Profitieren in zwei möglichen Verteilungen nicht auch die Schlechtergestellten, dann ist die egalitärere Verteilung vorzuziehen. Zur Veranschaulichung, so Rawls, möge man sich zwei gesellschaftliche Klassen vorstellen, die jeweils durch eine Person repräsentiert werden: Einen 11
In einer seiner späteren Schriften revidiert Rawls diese Prinzipien teilweise, indem er auch absolute soziale Standards, etwa die Garantie eines Existenzminimums, formuliert (Rawls 2003: 200f).
42
2 Forschungsstand
Unternehmer und einen ungelernten Arbeiter. Der Unternehmer, der gegebenenfalls auch Privateigentum geerbt habe, habe mit Sicherheit bessere Aussichten als der ungelernte Arbeiter. Diese Ungleichheit ließe sich nach dem Unterschiedsprinzip nur dann rechtfertigen, wenn von diesen besseren Aussichten des Unternehmers auch der Arbeiter profitiere, etwa, weil der Unternehmer sich auf Grund seiner besseren Aussichten so verhalte, dass er zu Wirtschaftswachstum beitrage oder technische Innovationen fördere.12 Hierdurch verbesserten sich auch die Aussichten des Arbeiters, eine Schlechterstellung des Unternehmers würde also dazu führen, dass sich auch der Arbeiter absolut noch schlechter stellen würde. Dass dieser ökonomische Zusammenhang, die Verkettung der Aussichten der Schwächeren mit denen der Stärkeren, regelmäßig auftritt, hält Rawls zwar für wahrscheinlich, ist für seine Argumentation aber letztlich nicht entscheidend. Ihm kommt es darauf an, dass derartige Argumente vorgebracht werden müssen, wenn die Ungleichheiten dem Unterschiedsprinzip genügen sollen (Rawls 1979: 99; 101). Das Unterschiedsprinzip fordert also in bestimmten Fällen auch eine Nivellierung nach unten: Ungleichheiten sind nur dann zulässig, wenn sie dem am wenigsten Begünstigten einen Vorteil bringen. Geht es in zwei möglichen alternativen Verteilungen den am schlechtesten Gestellten absolut gleich schlecht, in der einen Verteilung aber den am besten Gestellten noch besser, so ist die gleichere Verteilung, also die Verschlechterung der Position des Bessergestellten, vorzuziehen (vgl. Beispiel B in Abschnitt 2.1.1.1. dieser Arbeit). Rawls hält eine solche Situation auf Grund der von ihm empirisch angenommenen Verkettung der gesellschaftlichen Positionen zwar für unwahrscheinlich, dennoch fordert sein Unterschiedsprinzip prinzipiell dieses Vorgehen.13 12
13
Die Möglichkeit, dass der Unternehmer schlicht höhere Steuern zahlt und so via staatlicher Umverteilung zu den besseren Aussichten des Arbeiters beiträgt, erwähnt Rawls an dieser Stelle nicht, vermutlich deswegen nicht, da er sich generell nicht auf ein Wirtschaftssystem – und damit auch auf keinen Typ von Wohlfahrtsstaat – festlegen will (Rawls 1979: 315). In einer Sozialen Marktwirtschaft wie Deutschland mit seinem progressiven Steuersystem dürfte aber diese staatliche Umverteilung eine wichtige Ausgestaltung der Forderung des Unterschiedsprinzips sein. Vgl. zur Ökonomie des Sozialstaats auch Breyer/Buchholz 2007, insbesondere S. 13-53. Für diesen Fall formuliert Rawls allerdings auch folgendes lexikalisches Unterschiedsprinzip: In einer Grundstruktur mit n wesentlichen repräsentativen Personen maximiere man zuerst das Wohl der am schlechtesten gestellten; dann, mit diesem festgehalten, das der am zweitschlechtesten gestellten; und so weiter, bis zur bestgestellten repräsentativen Person, deren Wohl unter Festhaltung des bereits maximierten Wohls aller übrigen zu maximieren ist (Rawls 1979: 103). Diese in der Literatur relativ unbeachtete lexikalische Variante des Unterschiedsprinzips fordert keine Nivellierung nach unten, sie erlaubt auch dann, wenn die Aussichten der am schlechtesten Gestellten gleich bleiben, eine ungleichere Verteilung, sofern die Aussichten der am schlechtesten Gestellten zuvor maximiert wurden. Nach dem Wortlaut des Prinzips gilt das auch für den Extremfall, dass nur die am besten Gestellten von einer ungleicheren Verteilung
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
43
Dass es in einer Gesellschaft überhaupt „Besser-“ und „Schlechtergestellte“ gibt, liegt nach Rawls zum einen daran, dass Menschen durch ihren familiären Hintergrund bereits bei ihrer Geburt unterschiedlich privilegiert, zum anderen, dass auch die Fähigkeiten der Menschen ungleich verteilt seien. Doch diese Ausstattungen des Menschen seien willkürlich: Niemand hat seine besseren natürlichen Fähigkeiten oder einen besseren Startplatz in der Gesellschaft verdient (Rawls 1979: 122).
Dass die Ressourcen eines Menschen dennoch von diesen Umständen, für die der Mensch nicht verantwortlich sei, abhingen, sei eine krasse Ungerechtigkeit (Rawls 1979: 93). Die Vorteile einer größeren Begabung seien daher möglichst auszugleichen; Rawls nennt diesen Grundsatz Ausgleichsprinzip (Rawls 1979: 121). Dieses Ausgleichsprinzip sei ein wichtiges Element des Unterschiedsprinzips, wenn die beiden Prinzipien auch nicht identisch seien. Denn das Unterschiedsprinzip erlaube es, den Bessergestellten ihre Vorteile zumindest zum Teil zu lassen, sie also nicht auszugleichen, sofern die Schlechtergestellten profitieprofitieren. Denn auch in diesem Fall ist es nur wichtig, dass zuvor das Wohl aller Schlechtergestellten maximiert wurde. Ergab sich hierbei jeweils, dass keine Möglichkeit der Verbesserung besteht, deren Wohl also bereits maximiert war, ist es erlaubt, schließlich allein das Wohl der am besten Gestellten zu vergrößern. In seiner Begründung für das lexikalische Unterschiedsprinzip formuliert Rawls allerdings in einem entscheidenden Punkt anders: Nun ist es ohne Zweifel denkbar (…), dass gewisse Änderungen der Aussichten der Bevorzugten in keiner Weise die der am wenigsten Begünstigten, wohl aber die anderer beeinflussen. (…) Um diese Situation zu erfassen, können wir folgenden allgemeineren Grundsatz aussprechen … (Rawls 1979: 103; Herv. KK). Auch im englischen Original heisst es: It is clearly conceivable (…) that the least advantaged are not affected one way or the other by some changes in expectations of the best off although these changes benefit others (Rawls 1999: 72). Diese Passage klingt so, als sei Rawls doch nur dann bereit, die besseren Aussichten der am besten Gestellten hinzunehmen, wenn dadurch andere, also Personen in mittleren Positionen, profitierten. Wenn keine anderen, sondern nur die am besten Gestellten selbst profitieren, dann sind deren bessere Aussichten ungerecht und müssen daher entzogen werden, so lässt sich Rawls an dieser Stelle meines Erachtens nur interpretieren. Diese Aussage steht aber im Widerspruch zum Wortlaut des lexikalischen Unterschiedsprinzips. Auch in einem anderen Zusammenhang betont Rawls, dass Menschen mit größeren Fähigkeiten kein Recht auf gesellschaftliche Zusammenarbeit hätten, von der nicht auch andere profitieren (Rawls 1979: 125). Demnach träfe Rawls also doch die Levelling-Down-Objection und er wäre nicht immun gegen diesen Einwand, wie Angelika Krebs in Bezug auf das lexikalische Unterschiedsprinzip meint (Krebs 2002: 113). Wie Rawls die lexikalische Variante des Unterschiedsprinzips tatsächlich gemeint hat, kann in dieser Arbeit nicht geklärt werden. Wegen dieser offenen Frage und da Rawls selbst im Anschluss das lexikalische Unterschiedsprinzip nicht weiter verwendet, schließt die Autorin sich dieser Praxis an und verwendet lediglich die Endfassung des Unterschiedsprinzips, die eine Nivellierung nach unten in den beschriebenen Fällen fordert.
44
2 Forschungsstand
ren. Dennoch wirkten Ausgleichs- und Unterschiedsprinzip in dieselbe Richtung, beide träten der Willkür des Schicksals entgegen (Rawls 1979: 123).
2.1.1.3 Der strenge Egalitarismus: Stefan Gosepath Für Stefan Gosepath hat Gleichheit bei der Definition von Gerechtigkeit eine herausragende Stellung: Gleichheit ist der Inbegriff von Gerechtigkeit (Gosepath 2004: 11).
Eine Theorie über Gerechtigkeit müsse immer auch wesentlich komparative Elemente enthalten, Gleichheit sei somit der Prüfstein der Gerechtigkeit und damit wichtiger als alle anderen möglichen Ideale innerhalb einer Theorie der Gerechtigkeit, so Gosepath (Gosepath 2004: 210). Um diese Auszeichnung der Gleichheit zu begründen, unterscheidet Gosepath zwei Ebenen, auf der die Debatte um egalitäre und nonegalitäre Gerechtigkeitstheorien angesiedelt sei: Auf der ersten Ebene gehe es um die allgemeinen Inhalte unserer Moral, hier schlägt Gosepath das Konzept der moralischen Gleichheit vor. Auf der zweiten Ebene gehe es um distributive Gerechtigkeit, hier gelangt Gosepath mittels des Prinzips der Präsumtion der Gleichheit zu einer Theorie egalitärer Verteilungsgerechtigkeit (Gosepath 2003: 275f; 288; 295). Moralische Gleichheit, so Gosepath, sei das Ergebnis der konsequenten Anwendung des Rechtfertigungsgedankens: Moralische Urteile bedürften prinzipiell der Rechtfertigung, dabei habe jede Person, für die die Moral gelten solle, ein Recht darauf, dass ihr gegenüber moralische Urteile begründet, also rechtfertigt würden. Da es in der Moderne keine unumstrittenen Instanzen für moralische Rechtfertigungen mehr gebe, müssten letztlich die Betroffenen selbst die Begründungen für moralische Urteile liefern. Das heißt in der Konsequenz: Jeder muss der grundlegenden Struktur einer Gesellschaft zustimmen können, die Gründe hierfür müssen für alle gleichermaßen akzeptabel sein14. Und da sich gegenüber allen keine Unterschiede in der Würde oder dem Wert von Menschen begründen ließen, müssten alle in dieser Hinsicht als Gleiche behandelt werden. Moralische Gleichheit sei also das alternativlose Resultat des Scheiterns aller Versuche, primäre Wertunterschiede zwischen Personen zu begründen (Gosepath 2003: 288).
14
Gosepaths Rechtfertigungsgedanke stellt meines Erachtens eine abstraktere Form der Rawlsschen Idee des Urzustandes dar. Bei beiden kommt es letztlich darauf an, ob sich über moralische Prinzipien unter gleichberechtigten Menschen ein Konsens herstellen lässt.
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
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Zu diesem Prinzip komme das Prinzip der Präsumtion der Gleichheit hinzu. Auch diesen Grundsatz begründet Gosepath mit dem Rechtfertigungsgedanken: Jede Person müsse den Besitz aller Güter rechtfertigen können. Eine ungleiche Verteilung ließe sich nur auf Grund verteilungsrelevanter Unterschiede der Personen rechtfertigen, sonst wäre sie willkürlich. Könnten solche Gründe nicht benannt werden oder wären alle berechtigten Ansprüche bereits erfüllt, so bleibe nur die gleiche Zuteilung an alle. Diese Präsumtion der Gleichheit kann nach Gosepath sehr weit reichende Folgen haben: Wenn keiner der Betroffenen einen relevanten Unterschied für sich reklamieren kann, dann sind die Fälle insofern prima facie gleich und müssen, um angemessen und gerecht behandelt zu werden, gleich behandelt werden. Die Gesellschaft darf deshalb Personen ihren nicht gerechtfertigten Vorteil oder Besitz nehmen und ihn gleich verteilen (Gosepath 2003: 295).
Prinzipiell mögliche Rechtfertigungen für Vorteile oder Besitz seien Bedürfnis, Verdienst, Verantwortung und Effizienz. Das Kriterium der Verantwortung ist dabei für Gosepath der wichtigste Grund für Ausnahmen von der Gleichverteilung, hinzu komme das Kriterium des Bedürfnisses und das der Effizienz als zulässiger Nebengrund (Gosepath 2004: 351). Bezüglich des Kriteriums der Verantwortung stellt Gosepath ähnlich wie Rawls den Grundsatz auf, dass Umstände, für die eine Person nichts kann, wie etwa ihre natürliche Ausstattung oder soziale Umstände, auch keine relevanten Kriterien bei der Verteilung von Ressourcen sein dürften (Gosepath 2004: 365). Jegliche Nachteile, aber auch jegliche Vorteile auf Grund solcher unverantworteter Umstände seien zu egalisieren. Erleide eine Person jedoch Vor- oder Nachteile auf Grund ihrer eigenen Entscheidungen, dann sei diese Ungleichheit gerechtfertigt, im Fall von Nachteilen stehe ihr, außer einer Mindestversorgung im Notfall, keine Entschädigung zu (Gosepath 2004: 365). Verdienst hingegen sei in aller Regel kein relevantes Verteilungskriterium, da auch dieser nur sehr eingeschränkt von dem Individuum verantwortet werde, so Gosepath. Denn die gängige Annahme, dass produktive Beiträge zum Wohle der Gesellschaft einem Individuum verantwortlich zugerechnet werden könnten, sei aus mehreren Gründen unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit nicht haltbar. Zum einen werde der Wert von produktiven Leistungen durch das Marktgeschehen bestimmt, dieses aber sei moralisch irrelevant (Gosepath 2004: 390392). Vor allem aber hinge die Produktivität eines Menschen auch von seinen Eigenschaften ab, von seinem Intellekt, seiner Willenskraft, seiner Motivation, seinem Ehrgeiz oder seiner Fähigkeit, etwas zu initiieren, zu schaffen und zu tun (Gosepath 2004: 395). Für diese Faktoren trage die Person keine Verantwortung, daher rechtfertige Verdienst – außer in dem hypothetischen Fall, dass man be-
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2 Forschungsstand
weisen könne, dass bestimmte Talente für einen produktiven Beitrag keine Rolle gespielt haben – keine bessere Ausstattung mit Ressourcen (Gosepath 2004: 395). Die Radikalität Gosepaths, die die Einordnung als strenger Egalitarist begründet, zeigt sich in der Kombination dieser Annahme, dass Verdienst als ein Rechtfertigungskriterium für eine bessere Ausstattung mit Ressourcen ausscheidet, mit seiner zuvor zitierten Forderung, dass jeder nicht rechtfertigte Besitz umverteilt werden muss. Wenn jeder Mensch die Beweislast trägt, dass er auf die Güter und Vorteile, die er besitzt, auch einen gerechtfertigten Anspruch hat und das Kriterium des Verdienstes dabei nicht zählt, dann ist das Spektrum gerechtfertigter Ungleichheiten sehr klein, wie es auch Gosepath selbst bemerkt (Gosepath 2004: 425-433). Dennoch, so Gosepath, sei eine solche Gesellschaft durchaus mit einem System des freien Marktes und dem Prinzip von Angebot und Nachfrage vereinbar. Ein effizienteres System sei einem weniger effizienten vorzuziehen, schon allein, weil es in ersterem mehr zu verteilen gebe. Allerdings dürften dabei die moralischen Kosten, die durch die Ungleichheiten entstünden, nicht übersehen werden (Gosepath 2004: 360-362). In diesem Zusammenhang argumentiert Gosepath streng egalitär, er hält prinzipiell auch eine Nivellierung nach unten für rechtfertigbar und geht dabei deutlich weiter als Rawls. So warnt er davor, dass Rawlssche Unterschiedsprinzip zu missverstehen: Man darf das Differenzprinzip nicht so missverstehen, dass es den Bessergestellten von ihrer sowieso schon höheren Einkommenswarte aus erlaubt, höhere Einkommen zu rechtfertigen, insofern die Schlechtergestellten nur davon profitieren (Gosepath 2004: 429).
Eine solche Interpretation werde zwar von Rawls nahe gelegt, verkenne aber, dass Gerechtigkeit immer auch relational sei. Personen verglichen ihre Stellung immer mit der anderer, Neid könne dabei auf Gerechtigkeitsdefizite aufmerksam machen (Gosepath 2004: 429).15 So könne etwa jede Schlechterstellung eine Beeinträchtigung der Selbstachtung darstellen, zu große Unterschiede könnten zudem das faire Miteinander untergraben (Gosepath 2004: 431). Daher schlägt Gosepath ein Begrenzungsprinzip sozio-ökonomischer Ungleichheiten vor: …die Nachteile, die Personen durch ihre ökonomische Schlechterstellung erleiden, [müssen] durch die Vorteile, die sie aus den Ungleichheiten ziehen, soweit wie möglich überwogen werden (Gosepath 2004: 432).
15
Gosepath lehnt die Rawlssche Annahme, dass Neid gerechtigkeitstheoretisch irrelevant sei, ab. Neid könne durchaus rational und gerechtigkeitsorientierend sein (Gosepath 2004: 429).
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
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Gosepath fordert also, dass der absolute Vorteil, den die Schlechtergestellten durch die Ungleichheit haben, größer ist als der relationale Nachteil, den sie durch die relative Schlechterstellung erfahren. Hypothetisch könne man sich dies als eine Art Verhandlung zwischen Besser- und Schlechtergestellten vorstellen, in der die Schlechtergestellten ein Vetorecht erhielten. Sie könnten dann also entscheiden, ob sie bereit sind, das Angebot der Bessergestellten auf einen für alle höheren Wohlstand, der aber die Ungleichheit vergrößert, anzunehmen, oder ob aus ihrer Sicht die Nachteile der relativen Schlechterstellung überwiegen (Gosepath 2004: 432). In diesem Fall könnten die Schlechtergestellten eine solche Verteilung ablehnen, alle hätten dann zwar absolut weniger, aber aus Sicht des strengen Egalitarismus’ hätten die Schlechtergestellten so ein größeren relativen Nachteil abgewendet (Gosepath 2004: 432f; vgl. Beispiel A in Abschnitt 2.1.1.1. dieser Arbeit).16
2.1.1.4 Kritik am Egalitarismus Der wichtigste Einwand, den die Nonegalitaristen gegen den Egalitarismus vorbringen, ist der Vorwurf der Verwechslung von Allgemeinheit und Gleichheit. Nach diesem Argument spiele zumindest auf der Ebene der grundlegenden Bedürfnisse und Rechte des Menschen Gleichheit keine Rolle, sondern hier gehe es um die Erfüllung absoluter Standards, die für jeden gälten. Mit den Egalitaristen stimmen die meisten Nonegalitaristen also überein, dass jedem Menschen menschenwürdige Lebensbedingungen, Nahrung, Obdach und Medizin sowie politische Freiheiten und auch die Möglichkeit der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft zu garantieren seien. Die Erfüllung dieser Standards führe auch in der Tat zu einer in dieser Hinsicht gleichen Verteilung. Dennoch, so das Argument der Nonegalitaristen, sei Gleichheit hier nicht das Ziel, auch wenn es auf den ersten Blick so scheine. Denn auch wenn in der Aussage Alle Menschen sollen gleichermaßen genug zu essen haben der Begriff „gleich“ vorkomme, könne man doch auch ebenso gut sagen: Alle Menschen sollen genug zu essen haben (Krebs 2003: 241). Die Gleichheitsterminologie sei in diesem Fall also redundant, Gleichheit lediglich ein Nebenprodukt der Erfüllung allgemeiner, absoluter Gerechtigkeitsstandards für alle (Krebs 2003: 240f). Diese Redundanz liege daran, dass es bei der Erfüllung absoluter Standards darum gehe, inwiefern eine Person diesen Standard erfülle. Zwei Personen können 16
In einigen Fällen lehnt Gosepath jedoch auch eine Nivellierung nach unten ab. So sei es moralisch pervers, Sehende blind zu machen, um Gleichheit mit den Blinden zu erreichen. Egalitaristen sollten moderat genug sein, um im Konfliktfall Gleichheit versus Wohlfahrt oder Effizienz nicht immer Gleichheit siegen zu lassen (Gosepath 2004: 450).
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sich darin gleichen, diesen Standard zu erfüllen, aber um festzustellen, ob eine Person diesen Standard erfüllt, bedarf es keines Vergleichs (Schramme 2003: 256). Bei relationalen Standards hingegen sei die Gleichheitsterminologie nicht redundant, bei der Aussage Alle Kinder sollen ein gleich großes Stück Kuchen erhalten könne man auf den Begriff „gleich“ nicht verzichten (Krebs 2004: 123). Dies liege daran, dass in diesem Fall der Maßstab selbst relational sei, ob er erfüllt ist, ist nur feststellbar, wenn man die Kuchenstücke der Kinder miteinander vergleicht (Schramme 2003: 256). Die meisten Egalitaristen, so die Nonegalitaristen, argumentierten mit Ungerechtigkeiten im Bereich elementarer Menschenrechte, sie fragten, wie es gerecht sein könne, dass die einen Champagner trinken und die anderen verhungern. An der Tatsache, dass Menschen verhungerten, sei es aber nicht das Problem, dass es anderen besser gehe, sondern das Übel sei, dass hier absolute humanitäre Standards verletzt würden. Der elementare Bereich, in dem es um die grundlegenden Bedingungen eines menschenwürdigen Lebens gehe, komme also ohne relationale Standards, ohne Gleichheit als Ziel aus. Krebs fasst diese Kritik an Egalitarismus zusammen: Indem der Egalitarismus Gerechtigkeit wesentlich relational, als Gleichheit in unverdienten Lebensaussichten, begreift, verfehlt er die Natur elementarer Gerechtigkeitsansprüche. Menschenwürde ist ein absoluter Begriff (Krebs 2004: 121).
Oberhalb dieses elementaren Bereichs, im sog. Surplus-Bereich (Krebs 2004: 122) sei dann der Wert von Gleichheit ebenfalls fraglich. Denn wenn alle Menschen oberhalb dieser absoluten Standards lägen, also ein gutes Leben führten, sei es moralisch unerheblich, ob andere ein noch besseres Leben führten (Frankfurt 1987: 35f). In diesem Zusammenhang weisen Nonegalitaristen auch die Annahme der Präsumtion der Gleichheit zurück. Denn, so argumentiert etwa Schramme, diese basiere auch bei Rawls und Gosepath auf der Annahme, dass alle Menschen einen möglichst großen Anteil haben wollen. Dann sei eine Gleichverteilung die einzige Verteilung, die gegenüber allen Beteiligten rechtfertigbar sei. Schramme fragt nun, warum ein bloßer Wunsch nach einem größtmöglichen Anteil, danach, nicht schlechter da zu stehen als andere zu einem gerechtigkeitsrelevanten Faktor aufgewertet werden solle, warum eine Gerechtigkeitstheorie vor Maximalforderungen einknicken solle (Schramme 2003: 266). Vielmehr fordere die Gerechtigkeit, jedem genug zukommen zu lassen, also einem absoluten, keinem relationalen Standard zu genügen (Schramme 2003: 266f). Dazu bedürfe es keiner Präsumtion der Gleichheit, da bei absoluten Standards Relationen zwischen Personen gar keine Rolle spielten (Schramme 2003: 267).
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49
Eine weitere wichtige Gruppe von Einwänden der Kritiker des Egalitarismus’ beschäftigt sich mit der Rechtfertigbarkeit einer egalitären Konzeption von Gerechtigkeit gegenüber den sog. Bessergestellten, insbesondere mit der Levellingdown-objection. Eine solche Nivellierung nach unten sei prinzipiell abzulehnen. Nozick führt die Tatsache, dass auch Rawls’ Unterschiedsprinzip eine solche Nivellierung gestattet, schlicht auf Neid zurück. Denn der Neidische, der etwas nicht besitzen kann, ziehe es vor, dass auch der andere es nicht hat (Nozick 2006: 302f; 314). Raz betont die Verschwendung von Ressourcen, zu der eine Angleichung nach unten führe (Raz 2000: 61). Parfit kritisiert die egalitäre Sichtweise, dass eine absolute Schlechterstellung zu einer relationalen Besserstellung führen könne. So entschieden sich zwar auch manche Egalitaristen im Endeffekt auf Grund weiterer Prinzipien gegen eine Nivellierung nach unten, aber zumindest in Hinblick auf das Ideal der Gleichheit hielten sie eine solche absolute Verschlechterung doch für eine relative Verbesserung, wenn in ihren Augen auch letztlich die Nachteile, etwa der Verlust von Effizienz, überwögen. Dem müsse man entgegenhalten: Wenn wir Gleichheit durch eine Angleichung nach unten erhalten, ist nichts gut an dem, was wir getan haben (Parfit 2000: 93; H. i. O.).
Nozick hingegen stellt generell in Frage, ob es legitim sei, wie in Rawls’ Unterschiedsprinzip den Nutzen der Schlechtergestellten auf Kosten der Bessergestellten zu maximieren. Schließlich profitierten beide Gruppen von der gesellschaftlichen Zusammenarbeit, und zwar die Schlechtergestellten vermutlich noch weit mehr als die Bessergestellten, da die Bessergestellten auf Grund ihrer besonderen Fähigkeiten in der Lage seien, etwas ökonomisch für alle Wertvolles herzustellen, etwa neue Produkte und Produktionsverfahren zu entwickeln usw.. Nozick drückt daher seine Skepsis gegenüber der Asymmetrie des Unterschiedsprinzips aus, nachdem die, die von der Zusammenarbeit ohnehin die größten Vorteile hätten, noch weiter begünstigt werden sollten (Nozick 2006: 256f). Frankfurt weist schließlich darauf hin, dass die strikte Befolgung egalitärer Standards auch dazu führen könne, dass am Ende keiner überlebe. Man stelle sich zehn Personen vor, die täglich zum Überleben jeweils fünf Einheiten Nahrung benötigten, und es seien nur 40 Einheiten vorhanden. Gebe man jeder Person streng egalitär vier Einheiten, stürben letztlich alle. Hier auf Gleichheit zu bestehen, sei morally grotesque, auch das Rawlssche Unterschiedsprinzip helfe hier nicht weiter (Frankfurt 1987: 30). Ein weiterer Gegenstand nonegalitärer Kritik ist die Annahme vieler Egalitaristen, dass die Fähigkeiten und Begabungen des Menschen zufällig seien, und ihre Vor- und Nachteile daher kompensiert werden müssten. Diese Annahme
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führe zu einer Zerstörung der Person, so Kersting in seiner scharfen Kritik an diesem Argument, denn sie zwinge uns, alle unsere Eigenschaften, unseren Körper, unsere Begabungen, Fähigkeiten und Charaktereigenschaften als kontingent zu betrachten (Kersting 2002: 64). Eine solche Sichtweise bedeute die Dekonstruktion der Person, da es gerade diese Eigenschaften seien, die die Identität eines Menschen ausmachten (Kersting 2002: 66; 72). Damit müsse aber auch das Prinzip der Verantwortung des Menschen für seine Handlungen und Urteile aufgegeben werden, denn der Mensch sei nach dieser Sichtweise nie in einem Zustand gesicherter Autorschaft, also [in] ein[em] Zustand, der dem gleichen würde, in dem sich Gott bei der Erschaffung der Welt befunden hat (Kersting 2002: 71). Mit der Aufgabe des Prinzips der Verantwortung zerfielen aber auch alle normativen Praktiken einer Gesellschaft, etwa auch das Prinzip, für Verbrechen bestraft zu werden, und damit letztlich auch die Gesellschaft selbst. Rawls, so meint Kersting, seien diese Konsequenzen seines Ansatzes nicht bewusst gewesen, er habe die Reichweite seines Kontingenzarguments gewaltig unterschätzt (Kersting 2002: 72). Einen weiteren Kritikpunkt am Egalitarismus formuliert Nozick. Er erachtet es für völlig sinnlos, überhaupt sog. Endzustands-Grundsätze aufzustellen, also Prinzipien, wie etwa das Rawlssche Unterschiedsprinzip, zu formulieren, wann das Ergebnis einer Verteilung als gerecht oder ungerecht zu bewerten sei. Denn solche Grundsätze ignorierten die Frage, wie es zu dieser Verteilung gekommen sei (Nozick 2006: 209; 267). Da aber in einem freien System keine Verteilung ein anhaltender Zustand sei, sondern durch Transaktionen ständig verändert werde, erfordere die Erfüllung eines Endzustands-Grundsatzes den ständigen Eingriff in das Leben der Menschen (Nozick 2006: 218). Nozick illustriert diesen Einwand durch ein einfaches Beispiel: Angenommen, es sei eine Verteilung (V1) gegeben, die einem Endzustands-Grundsatz, etwa dem Rawlsschen Unterschiedsprinzip, genügt. Ein erfolgreicher Basketballspieler, Nozick tauft ihn Wilt Chamberlain, unterschreibt in dieser Situation einen Vertrag, nach dem er 25 Cent von jeder Eintrittskarte, die zu einem seiner Spiele gekauft wird, erhält. Die Zuschauer sind begeistert, am Ende der Saison besitzt Chamberlain 250 000 Dollar, deutlich mehr als der Durchschnitt der Bevölkerung. Es ist also eine neue Verteilung (V2) entstanden. Nozick fragt nun: Wenn V1 eine gerechte Verteilung war und die Menschen freiwillig zu V2 übergingen, indem sie einen Teil ihrer Besitztümer unter V2 hergaben (…), ist dann nicht auch V2 gerecht? (…) Kann irgendein Dritter sich über eine Ungerechtigkeit beklagen? (Nozick 2006: 216).
Nozick verneint dies und führt aus, dass man, wolle man V1 dauerhaft erhalten, entweder Menschen permanent davon abhalten müsse, Güter nach ihrem eigenen
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
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Willen zu übertragen oder man denen, die diese Güter übertragen bekommen haben, diese ständig wegnehmen müsse (Nozick 2006: 218). Schließlich ist ein weiterer Vorwurf an den Egalitarismus der der Inhumanität. Nach diesem Kritikpunkt sei die Unterscheidung der Egalitaristen zwischen Menschen, die für ihre Nachteile auf Grund falscher Entscheidungen selbst verantwortlich seien und daher keinen Anspruch auf Kompensation hätten, und solchen Menschen, die Opfer reinen Pechs oder einer willkürlichen Natur seien und daher einen Anspruch auf Hilfe hätten, eine Missachtung des Gebots der Achtung für jeden Menschen. So müsse ein Egalitarist, der konsequent das Prinzip der Verantwortlichkeit anwende, jede Hilfe für Menschen, die bestimmte riskante Berufe gewählt oder die sich der Betreuung von Angehörigen widmeten, ablehnen. Auch Bürger, die wissentlich in ein Erdbebengebiet ziehen, hätten demnach kein Recht auf Katastrophenhilfe. Und man müsse zwischen solchen Behinderten unterscheiden, deren Behinderung angeboren und solchen, deren Behinderung etwa bei einem selbstverschuldeten Autounfall entstanden sei. Ersteren müsse nach diesem Prinzip geholfen werden, letzteren nicht (Anderson 2000: 128-136). Zwar versuchten manche Egalitaristen, diesen drastischen Konsequenzen zu entgehen und im elementaren Bereich absolute Standards für alle einzuführen. Damit aber verletzte der Egalitarismus seine eigenen Prinzipien und stehe schon mit einem Fuß in der Tür zum Nonegalitarismus (Krebs 2000: 22).
2.1.1.5 Der Nonegalitarismus: Harry Frankfurt Der Nonegalitarismus lehnt es also generell ab, Gerechtigkeit relational zu bestimmen und bestreitet daher prinzipiell den moralischen Wert von Gleichheit. Stattdessen versuchen die meisten modernen Vertreter des Nonegalitarismus, einen absoluten Standard für ein gutes Leben zu formulieren17. Harry Frankfurt, einer der einflussreichsten Denker des Nonegalitarismus’, bringt diesen Gedanken auf den Punkt:
17
Auch libertäre Denker wie etwa Nozick, der Steuern lediglich zur Finanzierung eines Minimalstaates für rechtfertigbar hält und jegliche darüber hinaus gehende Besteuerung, etwa zur Finanzierung eines Sozialstaates, als Zwangsarbeit bezeichnet, da man so Menschen zwinge, einen Teil ihrer Arbeit unentgeltlich zu Gunsten anderer zu leisten (Nozick 2006: 158f; 225), kann man dem Nonegalitarismus zurechnen. Allerdings grenzt sich der zeitgenössische Nonegalitarismus vom Libertarianismus Nozickscher Prägung ab und bezeichnet sich daher selbst als neuen Nonegalitarismus oder auch als nonegalitaristischen Humanismus (Krebs 2000: 31; vgl. hierzu auch: Kersting 2000: 318; 329f). Mit Frankfurt soll ein typischer und einflussreicher Vertreter dieser Richtung vorgestellt werden.
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„…what is important from the point of view of morality is not that everyone should have the same but that each should have enough (Frankfurt 1987: 21; H. i. O.).
Für die Frage, ob eine Person genug hat, sei es dabei völlig unerheblich, wie es ihr im Vergleich zu anderen Menschen geht (Frankfurt 1987: 34). Entscheidend sei vielmehr, dass mehr Güter diese Person nicht mehr signifikant glücklicher oder zufriedener mit ihren Leben machten. Dies bedeute nicht, dass diese Person nicht erfreut sei, mehr Geld zu haben und nicht auch bereit sei, dafür Opfer zu bringen. Sondern es bedeute, dass es für die Lebenszufriedenheit dieser Person nicht mehr essentiell sei, mehr Geld zu haben, Geld sie nicht mehr mit einem ruhelosen Verlangen erfülle (Frankfurt 1987: 39). Sie müsse genug Ressourcen haben, um ihre Bedürfnisse und Interessen befriedigen, um ein gutes Leben führen zu können (Frankfurt 2000: 39; 42). Umstände, die eine solche Person, die genug hat, prinzipiell unglücklich mit ihrem Leben machten, könnten dann nur noch solche sein, die man mit Geld nicht ändern kann, also etwa eine unerfüllte Liebe oder ein fehlender Lebenssinn (Frankfurt 1987: 38).18 Wenn eine Person genug hat, dann bestehe kein Handlungsbedarf, dann müsse an einer Verteilung nichts geändert werden, auch wenn andere Personen mehr als genug haben. Auch in sehr ungleichen Verteilungen könne es den am schlechtesten Gestellten immer noch sehr gut gehen. Gehe es ihnen aber schlecht, so sei dies das Übel und nicht die Ungleichheit, so Frankfurts Kernthese: Das Übel, [dass manche Menschen ein schlechtes Leben führen, K. K.], liegt nicht in dem Umstand, dass die minderwertigeren Leben zufällig in einem Verhältnis der Ungleichheit zu anderen Leben stehen. Das Übel (…) entsteht nicht dadurch, dass andere Menschen ein besseres Leben führen. Das Übel liegt einfach in der unverkennbaren Tatsache, dass schlechte Leben schlecht sind (Frankfurt 2000: 41).
Im Gegensatz zum Egalitarismus bestreitet Frankfurt also prinzipiell, dass allein die relative Schlechterstellung eines Menschen schon ein Nachteil sei. Sofern es dem Menschen dennoch nach absoluten Standards gut genug gehe, erfährt er aus Sicht des Nonegalitarismus auch dann, wenn es anderen erheblich besser geht, keinerlei Nachteil. Gehe es einem Menschen aber nach absoluten Standards schlecht, so müsse man ihm helfen, ggf. auch, indem man sich der Ressourcen derer bedient, die ein besseres Leben führen (Frankfurt 2000: 41). Daher könne eine nonegalitäre Kon18
Elizabeth Anderson setzt an die Stelle des Frankfurtschen genug ein staatlich garantiertes Niveau an Fähigkeiten, die jeder Bürger erreichen können muss. Anders als Frankfurt füllt sie diese Forderung auch inhaltlich, sie stellt eine Liste dieser Fähigkeiten auf, zu denen etwa Ernährung, Unterkunft, Kleidung, medizinische Versorgung, Ausbildung, freie Berufswahl, politische Rechte und die Verfügbarkeit über öffentliche Güter gehören (Anderson 2000: 156-158).
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zeption, die statt relativer absolute Standards formuliere, im Endeffekt sogar zu mehr Gleichheit führen als ein egalitärer Ansatz. (Frankfurt 1987: 22). Diese Gleichheit sei dann aber nicht das Ziel dieser Handlung, sondern das Nebenprodukt der Beachtung absoluter Standards (Frankfurt 2000: 46f).19 Diese absoluten Standards definiert Frankfurt als den moralischen Imperativ der Achtung (Frankfurt 2000: 47). Einer Person mit Achtung zu begegnen heiße, sie so zu behandeln, wie es ihr als Individuum angemessen sei, und zwar ausschließlich auf Grundlage solcher Eigenschaften der Person, die in der spezifischen Situation relevant seien. Daher schließe Achtung Unparteilichkeit ein und verbiete Willkür, denn man dürfe niemandem auf Grund irrelevanter Kriterien Vor- oder Nachteile zukommen lassen (Frankfurt 2000: 44f). In bestimmten Fällen führe dieses Gebot der Unparteilichkeit dazu, dass die Forderung nach Achtung zu dem gleichen Ergebnis führe wie die Forderung nach Gleichheit, nämlich zu einer gleichen Verteilung. Dies sei etwa bei dem berühmten Tortenbeispiel der Fall, hier plädiert auch Frankfurt für eine egalitäre Verteilung der Torte. Aber nicht, weil er die These der Präsumtion von Gleichheit bejaht, sondern weil das Gebot der Unparteilichkeit dies verlange. Der Mutter mit der Torte lägen in dem Beispiel keine Informationen darüber vor, dass eines der Kinder einen besonderen Grund habe, Anspruch auf ein größeres Stück zu erheben. Sie habe also zunächst weder einen Grund für eine Ungleichverteilung, noch für eine Gleichverteilung, ihre Informationen über die Kinder, die die Torte verlangen, seien in jedem Fall dieselben, nämlich exakt Null. Wenn aber die relevanten Informationen über eine Person identisch seien mit denen über eine andere Person, dann gebiete es die Achtung und das daraus resultierende Prinzip der Unparteilichkeit, diese Personen gleich zu behandeln. Die Mutter habe also entgegen der Behauptung der Egalitaristen sehr wohl einen Grund, die Kinder gleich zu behandeln, nämlich das Gebot der Unparteilichkeit, und sei auf keine Annahme der Präsumtion von Gleichheit angewiesen (Frankfurt 2000: 45f). Entsprechend könne es bestimmte Dinge geben, auf die ein Mensch schon deshalb ein Recht habe, weil er ein Mensch sei. Die Eigenschaft „Mensch-Sein“ sei hier also das einzig relevante Kriterium, also werde es automatisch zu einer gleichen Verteilung kommen, weil alle Menschen notwendig das relevante Kriterium erfüllten und andere Differenzen irrelevant seien. Aber auch diese im Endeffekt gleiche Verteilung beruhe nicht auf der Anerkennung des moralischen Werts von Gleichheit, sondern allein auf dem Gebot der Achtung und der Unparteilichkeit (Frankfurt 2000: 46f).
19
Der Begriff des Nebenprodukts in diesem Zusammenhang stammt nicht von Frankfurt, sondern von Krebs, die sich dabei aber inhaltlich auf Frankfurt beruft (Krebs 2000: 17-21).
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2.1.1.6 Kritik am Nonegalitarismus Am zeitgenössischen Nonegalitarismus wird vor allem seine Annahme kritisiert, es gebe absolute Standards eines „guten Lebens“, die ohne Relationen auskämen. Die Definitionen, die Nonegalitaristen hier vorschlügen, seien bisher vage und unplausibel geblieben (Wildt 2006: 74). Auch die Frankfurtsche Schwelle, dass Menschen dann genug hätten, wenn sie nicht mehr aktiv nach mehr strebten, werde in der Realität so gut wie nie erreicht (Gosepath 2003: 282). Wenn man aber, wie viele Nonegalitaristen, diese absoluten Gerechtigkeitsstandards als Recht auf soziale Zugehörigkeit konkretisiere, sei es fraglich, ob deren Präzisierung tatsächlich ohne komparative Maßstäbe auskomme. So könne man zwar etwa das preußische Dreiklassenwahlrecht mit einem Verweis auf die Verletzung des absoluten Standards der Menschenwürde ablehnen. Aber gegen einen gefahrenunabhängig prinzipiell höheren polizeilichen Schutz für Reiche – bei einem ausreichenden Polizeischutz für die weniger Reichen – spreche nichts außer dem normativen Standard der Gleichheit. Auch die Forderung nach Chancengleichheit sei nicht redundant, sie komme nicht ohne komparative Maßstäbe aus, da hier noch weniger als bei der Forderung nach einem guten Leben objektivierbare absolute Standards angebbar seien, so der egalitäre Einwand Wildts (Wildt 2006: 74-78). Ebenso beharrt Gosepath auch gegenüber nonegalitaristischen Argumenten darauf, dass Gerechtigkeit immer auch relational sei. Nicht nur bei der Rechtfertigung von moralischen Urteilen müssten alle Beteiligten notwendig als Gleiche behandelt werden, sondern auch bei der Verteilung von knappen Ressourcen sei der Vergleich unverzichtbar. Auf wie viele Ressourcen eine Person Anspruch habe, hänge nicht nur von ihren Bedürfnissen ab, sondern auch davon, wie viele andere Personen in welchem Maß Anspruch auf das begehrte Gut hätten (Gosepath 2003: 282f). Auch Tugendhat argumentiert, dass Gleichheit auch dem Inegalitarismus zugrunde liegt (Tugendhat 1997b: 69). Dies zeige sich beispielsweise auch daran, dass, wenn sich Gründe für eine ungleiche Verteilung angeben ließen, die Personen, für die dies zuträfe, wiederum gleich behandelt werden müssten. In dem berühmten Tortenbeispiel ließe sich etwa die ungleiche Verteilung der Stücke damit rechtfertigen, dass einige Kinder hungrig seien. Diese hungrigen Kinder müssten jedoch wiederum gleich behandelt werden, es sei denn, sie unterschieden sich nach dem Grad ihres Hungers, dann müssten aber wieder die besonders hungrigen Kinder gleich behandelt werden usw.. Tugendhats Fazit: Die Gleichheit setzt also der Ungleichverteilung, sofern sie einen Gerechtigkeitsanspruch erhebt, immer nach, man wird sie nicht los (Tugendhat 1997b: 69f).
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Ein weiterer Einwand gegen den Nonegalitarismus beschäftigt sich theoretisch, ideengeschichtlich und empirisch mit der Rolle des Neides. Neid, so Nullmeier, sei einerseits ein Kampfbegriff, mit dem Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit diskreditiert werden sollten (Nullmeier 2000: 14). Andererseits sei Neid ebenso wie Wettbewerb aber auch objektiv eine wichtige Form sozialkomparativen Handelns, das in allen Gesellschaften weit verbreitet sei und daher in einer politischen Theorie des Sozialstaats in Rechnung gestellt werden müsse (Nullmeier 2000: 12).20 Es sei also falsch, sozialen Vergleich als Übel zu betrachten und zu delegitimieren (Nullmeier 2000: 68). Sondern man müsse mit Rousseau anerkennen, dass jede Vergesellschaftung den sozialen Vergleich in allem Denken, Handeln und Wahrnehmen implementiere (Nullmeier 2000: 24). Sozialstaatlichkeit müsse komparativem Handeln daher zwar einerseits Grenzen setzen, es aber andererseits auch als Bestandteil subjektiver Freiheit aktiv ermöglichen (Nullmeier 2000: 18; 421).
2.1.2 Egalitäre und nonegalitäre Einstellungen in Deutschland Demokratien bedürfen eines bestimmen Maßes an wohlfahrtsstaatlicher Absicherung, um die Akzeptanz ihrer Bürger zu sichern. Die Frage, ob die Bürger die sozialpolitischen Leistungen eines Staates als positiv bewerten, ist daher eine Existenzvoraussetzung für liberale Demokratien und Basis für ihre Legitimität (Kaase 1989: 210). Dieser Gedanke findet sich auch bei Edeltraud Roller, die daraus an das Konzept der Politischen Kultur von Almond und Verba anknüpfend die These entwickelt, dass nicht nur das politische System auf das Vorhandensein komplementärer Wert- und Überzeugungssysteme in der Bevölkerung, die politische Kultur, angewiesen ist, sondern ebenso das ökonomische System auf einer entsprechenden ökonomischen Kultur basiert (Roller 1994: 105; vgl. auch Almond/Verba 1973: 14f, 21f). Zentrale Elemente dieser ökonomischen Kultur sind Einstellungen zu Verteilungsprinzipien und zur Rolle des Staates. Eine marktwirtschaftliche ökonomische Kultur unterscheide sich dabei von einer planwirtschaftlichen ökonomischen Kultur vor allem durch die unterschiedliche Bewertung von Gleichheit und Ungleichheit: If the central idea of a planned economy is equality, inequality can be suggested as a fundamental principle of the market economy at the most abstract level of values (Roller 1994: 108). 20
Für eine umfassende kritische Auseinandersetzung mit der Rolle des Neides vgl. Schoeck 1968.
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Diese unterschiedlichen Wertvorstellungen in plan- und marktwirtschaftlichen ökonomischen Kulturen korrespondierten mit entsprechenden Verteilungsprinzipien: Das Leistungsprinzip sei das zentrale Prinzip der Marktwirtschaft, das Prinzip der Einkommensgleichheit dominiere in der Planwirtschaft. Das Prinzip der Verteilung nach Bedürftigkeit hingegen sei nicht nur mit planwirtschaftlichen Systemen vereinbar, sondern auch mit marktwirtschaftlichen, insbesondere in ihrer deutschen Variante, der sozialen Marktwirtschaft. Das Prinzip der Chancengleichheit schließlich lasse Ungleichheit im Ergebnis zu und sei daher ein marktwirtschaftliches Prinzip. Die unterschiedliche Zustimmung zu diesen Prinzipien und ihre Gewichtung untereinander seien wichtige Indikatoren für die jeweilige ökonomische Kultur eines Landes und gäben somit Auskunft darüber, ob die ökonomischen Wert- und Überzeugungssysteme hinreichend mit dem jeweiligen Wirtschaftssystem übereinstimmen (Roller 1994: 109). Da politisches und ökonomisches System wiederum eng zusammenhängen, ist die Kongruenz von ökonomischem System und ökonomischer Kultur auch für die Stabilität eines Staates insgesamt von entscheidender Bedeutung. Sozialpolitische Wertvorstellungen besitzen also eine legitimatorische Bedeutung für demokratische politische Systeme (Roller 1997: 116). Insbesondere bei der Transformation der ehemals sozialistischen DDR sei es entscheidend, ob und inwiefern eine neue marktwirtschaftliche ökonomische Kultur seit der Wiedervereinigung entstanden sei und damit zur Legitimität des demokratischen Systems des vereinigten Deutschlands beitrage (Roller 1997: 115f). Nach den Thesen Rollers sind also die Einstellungen zu Gleichheit und Ungleichheit ein entscheidender Faktor für die ökonomische Kultur und damit für die politische Stabilität eines Landes. Die im letzten Kapitel skizzierten theoretischen Konzepte finden hier also ihre praktische politische Relevanz. Im Folgenden sollen empirische Ergebnisse über die ökonomische Kultur der Bundesrepublik Deutschland zusammengetragen werden. An Roller anknüpfend und dem Thema dieser Arbeit folgend soll sich dabei auf die Verbreitung von egalitären und nonegalitären Einstellungen und den jeweiligen Einflussfaktoren bei Bundestagsabgeordneten und CDU-Mitgliedern konzentriert werden. Da aber insbesondere die Werthaltungen von CDU-Mitgliedern kaum erforscht sind, werden auch Ergebnisse über Einstellungen in der Bevölkerung und bei CDU-Anhängern skizziert, um sie zur Hypothesengenerierung zu nutzen.
2.1.2.1 Einstellungen der Bevölkerung In Deutschland geht es eher ungerecht zu – dies findet eine immer größer werdende Mehrheit der Deutschen (Infratest Dimap 2007: 16; Vehrkamp/Kleinsteuber
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2007: 286; Neu 2005: 15). Doch was verbirgt sich hinter dieser Aussage, welcher Maßstab für Gerechtigkeit wird hier zu Grunde gelegt? Prinzipiell kann man soziale Gegebenheiten sowohl auf Grund egalitärer als auch auf Grund nonegalitärer Werthaltungen für ungerecht halten. Man kann also beispielsweise die Auffassung vertreten, dass die relationalen Unterschiede in Deutschland zu groß und damit ungerecht seien. Möglich ist aber auch eine nonegalitär motivierte Argumentation, dass in Deutschland der Staat Unterschiede zu stark nivelliere und daher etwa das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit verletzt sei. Um festzustellen, welche Wertmaßstäbe der Aussage, dass es in Deutschland eher ungerecht zugehe, zugrunde liegen, bedarf es also Erhebungen, die nach egalitären und nonegalitären Einstellungen fragen.21 Solche Einstellungen erforscht das Institut für Demoskopie Allensbach seit Jahrzehnten intensiv. So fragt das Institut seit Mitte der 70er Jahre, was den Befragten wichtiger wäre, müssten sie sich zwischen Freiheit und Gleichheit entscheiden. Es zeigt sich, dass sich die Zahl der Anhänger der Freiheit und die der Anhänger der Gleichheit immer mehr annähert. Plädierten 1976 noch fast zwei Drittel der Westdeutschen für die Freiheit und mit 30% nur ein knappes Drittel für die Gleichheit, so lagen diese Positionen im vereinigten Deutschland 2001 eng beieinander: 43% der Befragten entschieden sich für die Freiheit, 37% für die Gleichheit. 2002 lagen Gleichheits- und Freiheitsbefürworter sogar gleichauf, 2003 entwickelte sich dann wieder ein Vorsprung der Freiheit von zehn Prozentpunkten: 50% plädierten für die Freiheit, 40% für die Gleichheit (Noelle-Neumann/Köcher 2002: 602; Allensbach 2003: 54f, 60). Noch wird gesamtdeutsch die Freiheit also für wichtiger gehalten als die Gleichheit, aber die beiden Blöcke haben sich stark angenähert. Hierzu passen die Antworten auf die Frage, welche Maßnahmen für mehr Gerechtigkeit befürwortet werden. Neben Regelungen, die primär die Situation der Schlechtergestellten und Schwächeren verbessern (etwa, dass die Arbeitgeber ihre Mitarbeiter nicht so leicht entlassen dürfen, der 50% der Befragten zustimmen), werden auch solche Maßnahmen von einer knappen Hälfte der Bevölkerung unterstützt, die die Situation der Bessergestellten fokussieren und bei denen zumindest offen bleibt, ob von dieser Maßnahme die Schlechtergestellten absolut profitieren würden. So unterstützen 49%, dass es nicht so viel Ungleich-
21
Nicht weiter berücksichtigt werden Erkenntnisse der Verhaltensforschung, die beispielsweise auf dem Feld der evolutionären Anthropologie durch Studien mit Schimpansen die Existenz biologischer Ursachen der Abneigung gegen Ungleichheit erforschen (vgl. hierzu etwa Jensen et al. 2006). Auch auf Ergebnisse der empirischen Ökonomie, die beispielsweise durch Experimente untersucht, inwiefern Menschen eine rein relationale Schlechterstellung als Übel empfinden und daher eine egalitärere, nicht nutzenmaximierende Verteilung bevorzugen, kann hier nicht weiter eingegangen werden (vgl. hierzu etwa Fehr/Naef/Schmidt 2006 und Piazolo 2007).
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heit in den Krankenhäusern gibt, dass die Ärzte keine Privatpatienten haben dürfen, 40% plädieren dafür, dass die Reichen sich vor Gericht nicht einfach den besten Anwalt nehmen dürfen, dass die Anwälte vor Gericht vom Staat zugeteilt werden. Der Vorschlag, dass es nicht so viele Feinschmeckerlokale geben darf, in denen der Reichtum ganz ungeniert zur Schau gestellt wird, wird allerdings nur von neun Prozent der Bevölkerung befürwortet (Noelle-Neumann/Köcher 2002: 616). Bei aller Vorsicht können diese Ergebnisse als Hinweis interpretiert werden, dass eine knappe Hälfte der Bevölkerung bereit ist, für mehr Gerechtigkeit in manchen Situationen auch eine Nivellierung nach unten in Kauf zu nehmen.22 Allerdings ist für eine Mehrheit Gerechtigkeit nicht mit Gleichheit identisch. So stimmen nur 30% der Aussage zu, dass Gerechtigkeit bedeute, dass alle Menschen ähnlich viel verdienen und besitzen, während 50% Gleichheit für ungerecht halten, denn die Menschen und das, was sie leisten, sind nicht gleich (Noelle-Neumann/Köcher 2002: 614). Dennoch würden 51% der Deutschen gern in einem Land leben, in dem es keine Reichen und keine Armen gibt, sondern alle möglichst gleich viel haben“, 31% möchten nicht gerne in einem solchen Land leben (Köcher 2004: 14). Ein gutes Drittel der Bevölkerung, nämlich 36%, hält den Sozialismus für eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde. Die Ablehnung dieser These beträgt mit 34% auch nur ein Drittel, 30% sind in dieser Frage unentschieden (Noelle-Neumann/Köcher 2002: 623). Insgesamt lassen sich die Ergebnisse des Instituts für Demoskopie Allensbach so zusammenfassen, dass offenbar eine knappe Hälfte der Bevölkerung Gerechtigkeit auch als Gleichheit interpretiert, daher eine Verringerung der Ungleichheit fordert und unter Umständen auch bereit ist, eine Nivellierung nach unten in Kauf zu nehmen. Ein Drittel scheint streng egalitären Positionen anzuhängen, also Gleichheit eine Priorität vor anderen Werten einzuräumen. Weitere Studien des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigen, dass insbesondere der Staat und das marktwirtschaftliche System dafür verantwortlich gemacht werden, dass es trotz dieser verbreiteten egalitären Werthaltungen in Deutschland soziale Ungleichheit gibt. So vertraten 2004 82% der Befragten die Ansicht, dass die Politik dazu beitrage, dass die Unterschiede zwischen Arm und 22
Vorsicht ist meines Erachtens vor allem deshalb angebracht, da die Frageformulierung von Allensbach bereits diese Interpretation von Gerechtigkeit nahe legt. So fragt das Institut: Einmal angenommen, es gäbe einen Weg, um mehr Gerechtigkeit herzustellen, dass es weniger Arm und Reich gibt. Wenn Sie nur einmal an sich selbst denken: Mit welchen Maßnahmen für mehr Gerechtigkeit wären Sie persönlich einverstanden, was würden Sie alles nennen (NoelleNeumann/Köcher 2002: 616). Gerechtigkeit wird in dieser Formulierung also bereits egalitär definiert, dass es weniger Arm und Reich gibt, und nicht etwa nonegalitär, beispielsweise durch die Formulierung, „dass es weniger Armut gibt“. Es erscheint plausibel, dass diese Frageformulierung dazu beigetragen hat, dass die Zustimmung zu den zitierten „Levelling-DownMaßnahmen“ so hoch ausgefallen ist.
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Reich größer werden, nur vier Prozent meinten, dass die Politik für mehr soziale Gleichheit sorge (Köcher 2004: 16). Mag bei dieser Frage noch unklar sein, welcher Vergleichsmaßstab angenommen wird, ob also der Politik attestiert wird, durch Reformen wie die Agenda 2010 im Vergleich zu der Politik der letzten Jahrzehnte mehr Ungleichheit zuzulassen, oder ob davon ausgegangen wird, dass die Politik generell die Ungleichheit zwischen den Menschen, etwa im Vergleich zu einem „Naturzustand“, vergrößert, so zeigt die Tatsache, dass 73% der Deutschen glauben, den größten Beitrag zum Einkommenssteueraufkommen lieferten die Normalverdiener, nur 15% die – faktisch richtige – Auffassung vertreten, dass die Vielverdiener am meisten zum Einkommenssteueraufkommen beitragen, dass die Bevölkerung in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht davon ausgeht, dass der Staat durch sein Steuersystem zu einer Umverteilung von oben nach unten beiträgt (Noelle/Petersen 2006: 5; zur Frage der Umverteilungswirkung der Einkommenssteuer vgl.: Statistisches Bundesamt 2006: 605). Auch die soziale Marktwirtschaft wird zunehmend als ungleichheitsverstärkend wahrgenommen. Stimmten 2003 noch 50% der Deutschen der These zu, dass Marktwirtschaft soziale Gerechtigkeit erst ermögliche, da nur so das Geld zur Unterstützung der sozial Schwachen erwirtschaftet werde, während 32% die Auffassung vertraten, dass Marktwirtschaft automatisch zu Ungerechtigkeit führe, da sie Reiche immer reicher und Arme immer ärmer mache , hatten sich 2005 nach den Ergebnissen von Allensbach die Verhältnisse fast komplett umgedreht: Jetzt glaubten 49%, die Marktwirtschaft vergrößere den Abstand zwischen Arm und Reich, 34% vertraten die gegenteilige Position (Allensbach 2003: 71; Piel 2005: 21). Im Kontext dieser Arbeit lassen sich diese Ergebnisse so auf den Punkt bringen, dass mindestens die Hälfte der Bevölkerung davon ausgeht, dass in Deutschland die Rawlssche Forderung, dass Ungleichheit immer die Position der am schlechtesten Gestellten verbessern muss, nicht erfüllt ist. Auch in der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) werden regelmäßig Einstellungen zu sozialer Ungleichheit erhoben. 2004 wurden die Befragten nach ihrer Meinung zu folgender Aussage gefragt: Die Wirtschaft funktioniert nur, wenn die Unternehmer gute Gewinne machen. Und das kommt letzten Endes allen zugute. Dieser These, die im Grunde eine vereinfachte Form des Rawlsschen Unterschiedsprinzips darstellt, stimmen 73% der Befragten voll oder eher zu, nur 27% stimmen eher nicht oder überhaupt nicht zu (ALLBUS 2004: 102). Auch der eher nonegalitären Aussage Wenn die Leistungen der sozialen Sicherung, wie Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall, Arbeitslosenunterstützung und Frührenten so hoch sind wie jetzt, führt dies nur dazu, dass die Leute nicht mehr arbeiten wollen stimmt eine knappe Mehrheit von 52% voll oder eher zu, 46% stimmen eher nicht oder überhaupt nicht zu (ALLBUS 2004: 103). Der Aussage Das Einkommen sollte sich nicht allein nach
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der Leistung des Einzelnen richten. Vielmehr sollte jeder das haben, was er mit seiner Familie für ein anständiges Leben braucht stimmen fast genau 50% der Befragten voll oder eher zu, die andere Hälfte stimmt eher nicht oder überhaupt nicht zu (ALLBUS 2000: 114). Im Allbus 2000 wurde auch nach der Zustimmung zu der ebenfalls eher nonegalitären These gefragt: Die Rangunterschiede zwischen den Menschen sind akzeptabel, weil sie im wesentlichen ausdrücken, was man aus den Chancen, die man hatte, gemacht hat. Auch hier stimmen 55% der Befragten voll oder eher zu, 45% lehnen diese Auffassung ab (ALLBUS 2000: 115). Insgesamt scheinen die Ergebnisse des ALLBUS’ aus den letzten Jahren also im Gegensatz zu den Ergebnissen von Allensbach auf eine größere Verbreitung nonegalitärer als egalitärer Auffassungen in Deutschland hinzudeuten. Eine Studie im Rahmen des International Social Survey Programme (ISSP) aus dem Jahr 1987, in der Einstellungen zu Gleichheit und Ungleichheit in sechs europäischen Ländern erhoben wurden, wertet Roller 1995 nochmals aus. Sie unterscheidet dabei zwischen drei Arten von Gleichheit: Chancengleichheit misst sie an Hand der Zustimmung zu dem Item, dass Kinder aus armen Familien mehr Chancen zum Besuch einer Universität haben sollten. Ergebnisgleichheit, die sich auf ein gleiches Existenzminimum bezieht, macht sie an der Unterstützung für die Forderungen fest, dass die Regierung einen Arbeitsplatz oder ein Grundeinkommen für jeden garantieren sollte. Ergebnisgleichheit, die prinzipiell Umverteilung fordert, misst sie an der Zustimmung zu der Aussage, dass die Regierung die Unterschiede zwischen Arm und Reich reduzieren und Reiche verpflichten solle, höhere Steuern als Arme zu zahlen. Diese Unterscheidung Rollers zwischen zwei Arten von Ergebnisgleichheit geht in eine ähnliche Richtung wie die Unterscheidung zwischen strengem und gemäßigtem Egalitarismus. So schreibt auch Roller: …policies for redistribution have more radical consequences than national minima because they aim at overall equalization, whereas national minima are confined to equalizing minimal starting points (Roller 1995: 173).
Roller kommt zu dem Ergebnis, dass, ihren Erwartungen entsprechend, die Zustimmung zur Chancengleichheit in allen sechs untersuchten Ländern am höchsten ist – im Schnitt stimmen 85% aller Befragten diesem Ziel zu, in Deutschland sind es 87%. Entgegen Rollers Erwartungen stellt sich aber heraus, dass die Zustimmung zur prinzipiellen Umverteilung im Schnitt höher ist als zur Sicherung gleicher Existenzminima. In Deutschland stimmen etwa 61% der Forderung, die Ungleichheit zwischen Arm und Reich zu reduzieren, und 80% der Forderung nach höheren Steuern für Reiche zu, aber nur 77% und 56% den Forderungen
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
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nach garantiertem Arbeitsplatz und garantiertem Grundeinkommen. In den anderen Ländern ist die Tendenz ähnlich (Roller 1995: 175). Insgesamt liegt Deutschland im Mittelfeld der sechs untersuchten Länder bei der Zustimmung zu egalitären Forderungen. Ein Zusammenhang mit dem Gini-Koeffizient zur Messung sozialer Ungleichheit ist nicht signifikant, eine Korrelation mit dem Bruttoinlandprodukt lässt sich hingegen nachweisen: Je höher das BIP, umso geringer die Zustimmung zu egalitären Forderungen. Eine Studie des Eurobarometers aus den 70er Jahren weist auch auf einen Einfluss des Gini-Koeffizienten hin, je höher die soziale Ungleichheit, um so höher die Zustimmung zu Forderungen nach mehr Umverteilung (Roller 1995: 176-182). Alles in allem, so Roller, zeige sich aber in allen untersuchten Ländern eine höhere Unterstützung für egalitäre Forderungen als erwartet (Roller 1995: 196). Im Rahmen des International Social Justice Projekts (ISJP) werden seit 1991 Gerechtigkeitseinstellungen in zwölf Ländern erhoben. Für Deutschland hat Stefan Liebig auf der Basis von Erhebungen aus den Jahren 1991, 1996 und 2000 die Entwicklung nachgezeichnet. Zusätzlich hat er noch Ergebnisse des vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung jährlich durchgeführten Sozioökonomischen Panels (SOEP) aus den Jahren 2004 und 2005 herangezogen (Liebig 2006: 31). Liebig unterscheidet vier Grundorientierungen zur sozialen Gerechtigkeit, darunter Egalitarismus, der Umverteilung und staatliche soziale Sicherung fordert, und Individualismus, der die Verteilung des Wohlstands nach Marktmechanismen und Leistung für gerecht erachtet und daher Ungleichheit akzeptiert. Egalitarismus genießt in Deutschland seit 1991 die höchste Zustimmung, wenn diese auch leicht rückläufig ist, Individualismus hingegen war 1991 sehr unpopulär, legt seitdem kontinuierlich zu, ist aber nach wie vor weit weniger verbreitet als Egalitarismus. Insgesamt, so Liebig, hätten sich in Deutschland keine dramatischen Veränderungen vollzogen (Liebig 2006: 36-40). Zusammenfassend kann man also feststellen, dass die Mehrheit der Studien, mit Ausnahme der Ergebnisse des ALLBUS’, eine stärkere Verbreitung egalitärer als nonegalitärer Werthaltungen in der deutschen Bevölkerung feststellt. Inwiefern diese egalitären Einstellungen auch mit einer Bereitschaft zum Levelling Down einhergehen, bleibt in den meisten Untersuchungen allerdings offen, lediglich die Ergebnisse von Allensbach liefern hier einige Hinweise. Betrachtet man die möglichen Einflussfaktoren auf die Gerechtigkeitseinstellungen der Deutschen, so ist die Bedeutung der Herkunft aus Ost- oder Westdeutschland sowohl theoretisch als auch empirisch am besten erforscht. Fast alle Studien stellen übereinstimmend fest, dass egalitäre Werthaltungen in Ostdeutschland wesentlich verbreiteter sind als in Westdeutschland. Die meisten Autoren führen dies auf eine fortwirkende Prägung durch das sozialistische System der DDR zurück.
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2 Forschungsstand
Diese stärkere Neigung zu egalitären Werthaltungen wurde bereits kurz nach der Wiedervereinigung festgestellt. So zeigte Bürklin 1993, dass zwar das Leistungsprinzip in den neuen eine etwa so hohe Akzeptanz wie in den alten Bundesländern erfährt, dass aber die Akzeptanz sozialer Ungleichheit in Ostdeutschland signifikant schwächer ausgeprägt ist als in Westdeutschland (Bürklin 1993: 145148). Egalitäre Grundwerte des sozialistischen Systems seien also auch nach der Wiedervereinigung in den fünf neuen Bundesländern weit verbreitet und stünden im deutlichen Gegensatz zur ökonomischen Kultur Westdeutschlands (Bürklin 1993: 152f). Dieses Ergebnis bestätigt 1994 auch Roller. Meritokratische Verteilungsprinzipien seien in Ost- und Westdeutschland akzeptiert, in Ostdeutschland erwarte die Bevölkerung aber gleichzeitig ein starkes Eingreifen des Staates, etwa um Einkommensunterschiede zu verringern (Roller 1994: 111). Roller kommt daher zu dem Schluss: Accordingly, the economic culture in East Germany appears to be a ‚mixed culture, simultaneously including elements of the market and the planned economies (Roller 1994: 115).
Diese Einstellungen der Ostdeutschen seien vor allem durch sozialisatorische Einflussfaktoren bestimmt, weniger durch ökonomische, das sozialistische Erbe wirke also fort, so Roller in einer anderen Studie zu diesem Thema (Roller 1997: 137-139; 145). Bettina Westle zeigte, dass für große Teile der Bevölkerung Ostdeutschlands soziale Gleichheit ein wichtiges Element einer idealen politischen Ordnung sei (Westle 1994: 593). Entsprechend vertreten 78% der Ostdeutschen die Auffassung, dass es in sozialistischen Systemen mehr soziale Gerechtigkeit gebe als in anderen Systemen, 61% der Westdeutschen lehnen diese These ab (Westle 1994: 583). Hierzu passt, dass 1993 42% der Ostdeutschen die Realität in der DDR im Rückblick als eher positiv beurteilen, während dies nur neun Prozent der Westdeutschen so sehen (Westle 1994: 581). Das Ideal eines demokratischen Sozialismus’ lebe also in den Köpfen der Ostdeutschen weiter und werde auf die Idealvorstellung einer Demokratie übertragen und als Meßlatte ihrer Realisierung angelegt, so Westle zusammenfassend (Westle 1994: 571). Dabei seien sich die Ostdeutschen in ihrer Ablehnung der Ungleichheit auch untereinander einiger, so Eva Wagner in ihrer Analyse der Ergebnisse des ALLBUS’ 1994. Der Sozialismus wirke also auch bezüglich der Streuung der Einstellungen zu sozialer Ungleichheit nach, die im Osten nicht nur deutlich kritischer, sondern in dieser Kritik auch deutlich homogener seien als im Westen (Wagner 1997: 164). Auch aktuellere Studien weisen auf unterschiedliche ökonomische Kulturen in Ost- und Westdeutschland hin, viele Autoren können sogar eine wachsende
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
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Kluft zwischen den alten und den neuen Bundesländern belegen. So zeigt etwa Heiner Meulemann auf Basis der Daten des European Social Surveys (ESS), dass in den neuen Bundesländern die Zustimmung zum Leistungsprinzip, die in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung noch sehr stark, 1990 sogar stärker als im Westen, ausgeprägt war, bis 2002 deutlich zugunsten einer wachsenden Präferenz für das Prinzip der Ergebnisgleichheit sank und damit signifikant höher liegt als in Westdeutschland. Dabei zeigt sich eine Korrelation zwischen der Verbundenheit mit der Ideologie der DDR, die Meulemann unter anderem durch die Zustimmung zu der Aussage Der Sozialismus ist eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde misst, und der Ablehnung des Leistungsprinzips (Meulemann 2004: 159f; 163-165). Dieser These über den Sozialismus stimmten nach den Ergebnissen von Allensbach 2000 57% der Ostdeutschen, aber nur 30% der Westdeutschen zu (Noelle-Neumann/Köcher 2002: 623). Auch bei der Frage nach der Priorität von Freiheit oder Gleichheit kann Allensbach nach wie vor eine große Ost- WestDiskrepanz nachweisen: In Westdeutschland plädierten 2003 53% der Befragten für die Freiheit, 37% für die Gleichheit. In Ostdeutschland ist die Lage genau umgekehrt: 51% ziehen hier die Gleichheit vor, 36% die Freiheit. Bei der Frage nach den Auswirkungen der sozialen Marktwirtschaft auf die Gerechtigkeit zeigt sich ebenfalls ein deutlicher Ost-West-Einfluss: 55% der Westdeutschen, aber nur 28% der Ostdeutschen meinen, dass Marktwirtschaft soziale Gerechtigkeit erst ermögliche, 28% der Westdeutschen, aber 50% der Ostdeutschen sagen, dass Marktwirtschaft automatisch zu sozialer Ungerechtigkeit führe. Im Jahr 2005 betrug dieser Anteil der Ostdeutschen sogar 65% (Allensbach 2003: 55-57; 71; Piel 2005: 21). Auch Roller bestätigt in neueren Untersuchungen die von ihr in den 90er Jahren festgestellten unterschiedlichen Einstellungen in West- und Ostdeutschland. Während es im Westen eine starke Tendenz zum Erhalt des Status quo gebe, forderten die Menschen in Ostdeutschland mehrheitlich einen Ausbau des Sozialstaates in Richtung eines sozialistischen Wohlfahrtsstaates (Roller 2002: o. S.). Eine stabile oder auch wachsende Kluft der Einstellungen zu sozialer Gerechtigkeit zwischen Ost und West auf der Aggregatsebene ermöglicht aber noch keine Aussagen über die Individualebene. Solche Erkenntnisse liefert nur das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Projekt Politische Einstellungen, politische Partizipation und Wählerverhalten im vereinigten Deutschland, in dessen Rahmen 1994, 1998 und 2002 eine Panelbefragung derselben Personen aus Ost- und Westdeutschland zu ihren politischen Orientierungen und Verhaltensweisen durchgeführt wurde (Falter et al. 2006: 11). In dieser Panelbefragung wurde zwar nicht direkt nach egalitären oder nonegalitären Einstellungen, aber nach der Bewertung der Gesellschaftsordnung im vereinigten
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Deutschland, der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik als gerecht oder ungerecht gefragt. Die Auswertung zeigt, dass sich hinter der auf der Aggregatsebene seit 1994 stabilen Bewertung der Gesellschaftsordnung in Ostdeutschland als eher ungerecht, in Westdeutschland als weder gerecht, noch ungerecht, deutliche Schwankungen auf der Individualebene verbergen. So behielt sowohl im Osten als auch im Westen nur etwa ein Viertel der Bevölkerung von 1994 bis 2002 seine Einschätzung der Gerechtigkeit in Deutschland bei, 32% der Westdeutschen und 27% der Ostdeutschen vertrat im Laufe der Jahre eine positivere, ein Viertel der Befragten in Ost und West eine negativere Einschätzung. Die Bewertungen der Gerechtigkeit der Gesellschaftsordnung in Deutschland sind auf der Individualebene also weder stabil, noch folgen sie einem Trend (Abold/ Wenzel 2005: 235-237). Auf der Aggregatsebene hingegen hält sich in Ostdeutschland eine stabile Mehrheit, die die Verhältnisse als ungerecht empfindet. Hinter dieser Perzeption der Ungerechtigkeit scheinen sich mehrheitlich egalitäre Einstellungen, nicht, was ja prinzipiell auch möglich ist, nonegalitäre Einstellungen zu verbergen. Denn 2002 meinen 51% der Ostdeutschen retrospektiv, dass in der DDR die Einkommensverteilung gerechter gewesen sei als heute in Ostdeutschland, nur 23 % erachten die damalige Einkommensverteilung als ungerechter. 2004 betrugen diese Werte sogar 61% und 16%. 2002 sagten darüber hinaus 75% der Ostdeutschen, die soziale Sicherheit in der DDR sei besser gewesen, 83% sahen dies 2004 so (Neller 2005: 351).23 Zumindest in Ostdeutschland wird also eine egalitärere Verteilung mit deutlich geringerem Wohlstandsniveau wie in der DDR als gerechter empfunden und damit der gemäßigt egalitäre Gerechtigkeitsbegriff John Rawls’ abgelehnt, so lassen sich im Hinblick auf den Fokus dieser Arbeit die Ergebnisse des Projekts Politische Einstellungen, politische Partizipation und Wählerverhalten im vereinigten Deutschland zusammenfassen. Hingegen gibt es auch einige Studien, nach denen nur ein geringer oder fast kein Unterschied zwischen Ost und West hinsichtlich der Einstellungen zu sozialer Gerechtigkeit besteht. So kann nach den Daten des ALLBUS, der ja bereits für Gesamtdeutschland einen größeren Anteil nonegalitärer Orientierungen als andere Studien ausgewiesen hat, auch die besonders starke egalitäre Orientierung der Ostdeutschen nicht bestätigt werden. Zwar pflichten die Ostdeutschen nach den Ergebnissen des ALLBUS nonegalitären etwas weniger, egalitären Wertaussagen etwas stärker zu als Westdeutsche, aber der Unterschied ist relativ gering. So stimmen der Aussage Das Einkommen sollte sich nicht allein nach der Leistung des Einzelnen richten. Vielmehr sollte jeder das haben, was er mit seiner Familie für ein anständiges Leben braucht 56% der Ostdeutschen und 47% der 23
Die Zahlen aus dem Jahr 2004 stammen aus der Studie des ESS.
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
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Westdeutschen voll oder eher zu (ALLBUS 2000: 114). 66% im Osten und 75% im Westen bejahen die Aussage Die Wirtschaft funktioniert nur, wenn die Unternehmer gute Gewinne machen. Und das kommt letzten Endes allen zugute und lehnen damit zumindest einen strengen Egalitarismus ab (ALLBUS 2004: 102). Auch dem nonegalitären Credo Die Rangunterschiede zwischen den Menschen sind akzeptabel, weil sie im wesentlichen ausdrücken, was man aus den Chancen, die man hatte, gemacht hat stimmen 45% der Ostdeutschen und 59% der Westdeutschen voll oder eher zu (ALLBUS 2000: 115). Lediglich bei der nonegalitären These Wenn die Leistungen der sozialen Sicherung, wie Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall, Arbeitslosenunterstützung und Frührenten so hoch sind wie jetzt, führt dies nur dazu, dass die Leute nicht mehr arbeiten wollen zeigt sich mit 34% Zustimmung im Osten und 56% im Westen ein größerer OstWest-Unterschied (ALLBUS 2004: 103). Insgesamt ist der Ost-West-Einfluss nach den Ergebnissen des ALLBUS aber geringer als nach anderen Untersuchungen. Auch Wolfram Brunner und Viola Neu kommen zu dem Ergebnis, dass es in Ostdeutschland kein ausgeprägtes Bedürfnis nach Ergebnisgleichheit gebe. In einer Studie, die die Konrad-Adenauer-Stiftung 1999 zusammen mit Infratest dimap ausschließlich in Ostdeutschland durchgeführt hat, bekundeten die Ostdeutschen sowohl zu dem Prinzip der Selbstverantwortung, als auch zu dem Prinzip, dass es allen durch staatliche Absicherung möglichst gleich gut geht, sehr hohe Zustimmung (Brunner/Neu 1999: 2). Gleichheits- und Freiheitsprinzipien bildeten für die Ostdeutschen also keinen Gegensatz. Dies ließe sich damit erklären, dass die Ostdeutschen Gleichheit vor allem als Rechts-, Chancen- und Geschlechtergleichheit verstünden, Prinzipien der materiellen Gleichheit nur mittlere Zustimmung erhielten (Brunner/Neu 1999: S. 6f). Brunner/Neu folgern: …Gleichheit kam nicht mit materieller Gleichheit übersetzt werden. In Ostdeutschland genießt die soziale Gleichheit zwar eine große Unterstützung. Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einem Bedürfnis nach einer Umverteilungspolitik, die zu Einkommensnivellierung führt (Brunner/Neu 1999: S. 7f).
Dieses Ergebnis bestätigt Neu 2005 in einer Studie, für die die Forschungsgruppe Wahlen rund 2500 Ost- und diesmal auch Westdeutsche befragt hat. Das gängige Vorurteil, dass die Ostdeutschen Gleichheitswerte für wichtiger als Freiheitswerte erachteten, könne in der Studie nicht bestätigt werden (Neu 2005: 2). Die Zustimmung zu den Forderungen, soziale und Einkommensunterschiede möglichst gering zu halten, sei in den neuen Bundesländern zwischen 1999 und 2005 sogar gesunken und nur etwas höher als in den alten Bundesländern (Neu 2005: 4). Auch der Anteil der Ostdeutschen, die die Gesellschaftsordnung in
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2 Forschungsstand
Deutschland als ungerecht empfinden, ist mit 68% gegenüber 59% in Westdeutschland nicht dramatisch höher (Neu 2005: 16). Fasst man den aktuellen Stand der Forschung über den Einfluss der Herkunft aus den alten oder neuen Bundesländern auf egalitäre oder nonegalitäre Gerechtigkeitseinstellungen zusammen, so ist festzustellen, dass die Mehrheit der Studien einen Zusammenhang zwischen stärkeren egalitären Orientierungen und ostdeutscher Herkunft ausweist. Diese ausgeprägteren egalitären Einstellungen gehen in der Regel mit einer Wahrnehmung der Gesellschaftsordnung in Deutschland als ungerecht einher, Gerechtigkeit wird hier also mit Gleichheit identifiziert. Die Ergebnisse des ALLBUS und von Brunner und Neu weisen hingegen auf nur geringe Ost- West-Unterschiede und im Vergleich zu anderen Studien weniger starke egalitäre Orientierungen der Ostdeutschen hin. Umstritten ist in der Forschung der Einfluss des Alters auf die Einstellungen zu sozialer Gerechtigkeit. Prinzipiell lässt ein Zusammenhang zwischen Lebensalter und Werthaltungen auf die Wirksamkeit biographischer Ereignisse schließen. Dabei können idealtypisch ein Lebenszyklus- und ein Kohorteneffekt unterschieden werden. Beim Lebenszykluseffekt verändern sich Einstellungen mit den Lebensphasen, Churchills Sentenz Wer mit 20 kein Sozialist ist, hat kein Herz, wer es mit 40 immer noch ist, keinen Verstand bringt diesen Effekt auf den Punkt. Ein Kohorteneffekt liegt hingegen dann vor, wenn bestimmte Ereignisse in der Kindheit und Jugend Menschen so stark prägen, dass dadurch Einstellungen entstehen, die bei dieser Generation lebenslang stabil bleiben. Bestimmte Einstellungen, die überproportional häufig von der Generation der 68er vertreten werden, sind ein Beispiel für diesen Kohorteneffekt. Lebenszyklus- und Kohorteneffekt lassen sich sicher nur durch Panelerhebungen unterscheiden, bei denen über Jahre hinweg immer wieder dieselben Personen befragt und so festgestellt werden kann, ob die gemessenen Einstellungen stabil bleiben oder mit der Lebensphase variieren. Dennoch liefern die in den meisten Studien festgestellten starken Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen bezüglich ihrer Einstellungen zu sozialer Gerechtigkeit einen deutlichen Hinweis, dass es sich hierbei auch um durch Sozialisation geprägte Kohorteneffekte handeln muss, da sich die Unterschiede sonst auf eine in Ost und West stark abweichende Verteilung der Bürger auf unterschiedliche Lebensphasen zurückführen lassen müssten. Zwar gibt es in Ostdeutschland mehr (Früh)Rentner und mehr erwerbstätige Frauen, dennoch reichen diese Unterschiede nicht aus, um die Varianz der Einstellungen zwischen den alten und den neuen Bundesländern zu erklären. Daher ist das Vorliegen von Kohorteneffekten auf Grund der unterschiedlichen Sozialisation in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland wahrscheinlich (Arzheimer 2006: 215-219).
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
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Diese These stellt auch Bürklin auf, der die Akzeptanz sozialer Ungleichheit in Ostdeutschland untersucht. Er unterscheidet in seiner Untersuchung aus dem Jahr 1993 vier Generationentypen: Die Weimarer Generation, die vor 1933 sozialisiert wurde, die Übergangs-Generation, die im nationalsozialistischen Deutschland aufgewachsen ist, die Ulbricht-Generation, die in der frühen DDR und die Honecker-Generation, die in der Phase der etablierten DDR sozialisiert wurde. Es zeigt sich, dass sich in Kenntnis des Generationenzusammenhangs die Akzeptanz von sozialer Ungleichheit zwar nicht hinreichend genau vorhersagen lässt, dass es aber doch ein generationenspezifisches Muster gibt: Bei der Übergangsund der Honecker-Generation ist die Akzeptanz sozialer Ungleichheit deutlich geringer ausgeprägt als bei der Weimarer- und der Ulbricht-Generation. Letzteres führt Bürklin auf die Politik Ulbrichts zurück, in Konkurrenz zur Bundesrepublik eine sozialistische Industriegesellschaft aufzubauen. Auch die höhere Akzeptanz sozialer Ungleichheit bei der Weimarer Generation unterstützt die Sozialisationsthese, weist also auf einen Kohorteneffekt in Ostdeutschland hin. Im Westen hingegen herrsche ein Lebenszykluseffekt vor. Im Sinne der Generationentypologie Karl Mannheims gebe es hier unterdrückte und führende Generationstypen, entsprechend werde in jungen Jahren und im Alter soziale Ungleichheit eher abgelehnt, im mittleren, meist von beruflicher Etablierung geprägten Alter sei die Akzeptanz hingegen höher (Bürklin 1993: 148-152). Eine entgegengesetzte Auffassung vertritt Wagner, sie vermutet im Gegensatz zu Bürklin im Westen einen Kohorten-, im Osten einen Lebenszykluseffekt. So werde im Westen mit wachsendem Alter Ungleichheit zunehmend als gerecht empfunden. Wagner nimmt an, dass dieser Effekt darauf zurückzuführen sei, dass ältere Jahrgänge vor dem Hintergrund schwieriger ökonomischer Bedingungen in ihrer Jugend und eines anschließenden ökonomischen Aufstiegs die heutigen Gegebenheiten unkritischer sähen. Im Osten hingegen seien vor allem die mittleren Jahrgänge sehr kritisch gegenüber Ungleichheit eingestellt, Befragte über 66 hingegen bewerteten die Ungleichheit als weniger ungerecht. Wagner sieht hier einen Lebenszykluseffekt, die mittlere Generation sei besonders stark von Arbeitslosigkeit bedroht, die ältere Generation hingegen, bei Bürklin die Weimarer Generation, profitiere stark von den höheren Renten nach der Wiedervereinigung (Wagner 1997: 157-159). Wiederum eine andere Tendenz stellen Brunner/Neu für Ostdeutschland fest, nach ihren Ergebnissen nehmen mit zunehmenden Alter egalitäre Einstellungen zu, insbesondere bei Rentnern sind sie ausgeprägt (Brunner/Neu 1999: 2f). Arzheimer hingegen kann keinen Einfluss des Alters feststellen, nach seinen Ergebnissen werden insbesondere die in Ostdeutschland weitverbreiteten positiven Einstellungen über den Sozialismus und die Gerechtigkeit des Systems der
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DDR auch von den jungen Ostdeutschen, die zum Zeitpunkt der Wende zwischen acht und vierzehn Jahren alt waren, geteilt (Arzheimer 2006: 227). Zusammenfassend ist der Stand der Forschung über den Einfluss des Alters auf egalitäre oder nonegalitäre Einstellungen also ausgesprochen widersprüchlich. Nicht nur die Frage, ob diese Einstellungen auf Grund eines Lebenszyklusoder eines Kohorteneffekts variieren, ist umstritten, auch zu der Richtung des Einflusses des Alters und ob überhaupt ein derartiger Zusammenhang besteht, finden sich sehr unterschiedliche Erkenntnisse. Während die Frage, ob ein Lebenszyklus- oder Kohorteneffekt vorliegt, auf Grund des Designs auch in dieser Arbeit nicht abschließend geklärt werden kann, soll aber zumindest für CDUMitglieder und CDU-Bundestagsabgeordnete eine Antwort gegeben werden, ob und in welche Richtung das Alter bei Gerechtigkeitseinstellungen wirkt. Der Einfluss des Einkommens auf die Bewertung von sozialer Ungleichheit ist hingegen relativ unumstritten. Zahlreiche Studien zeigen, dass mit wachsendem Einkommen zunehmend nonegalitärere Einstellungen vertreten werden. So kann Roller bereits für die 80er Jahre einen derartigen signifikanten Effekt feststellen (Roller 1995: 193). Diesen Zusammenhang kann sie in den 90er Jahren auch für die alten Bundesländer nachweisen, in den neuen Bundesländer wirken sich wirtschaftliche Lage und Abhängigkeit von Sozialleistungen zumindest auf das geforderte Ausmaß sozialpolitischer Maßnahmen in der erwarteten Richtung aus. Allerdings, so Roller, seien in Ostdeutschland Sozialisationsfaktoren, die sie etwa durch die Zustimmung zum Sozialismus misst, stärkere und umfassendere Determinanten der sozialpolitischen Orientierung als ökonomische (Roller 1997: 138f). Brunner/Neu zeigen auch für die neuen Bundesländer einen linearen Einfluss des Haushaltsnettoeinkommens, je geringer es ist, um so stärker fällt die Zustimmung zu der Forderung nach umfassenden sozialer Absicherung und um so schwächer nach Selbstverantwortung aus (Brunner/Neu 1999: 2).24 Nach Liebigs Ergebnissen wurde seit 1991 die Zustimmung unterschiedlicher Berufsgruppen zu egalitären Werten immer unterschiedlicher: Während Arbeitslose zwischen 1991 und 2004 gleich bleibend hohe Zustimmungsraten zu egalitären Einstellungen aufweisen, hat die ohnehin geringere Zustimmung der einfachen Arbeiter und Angestellten etwas, die der höheren Angestellten und Beamten stark nachgelassen, so dass im Jahr 2004 eine deutlich geringere Befürwortung egalitärer Werte bei besserverdienenden Berufsgruppen festzustellen ist (Liebig 2006: 39). In einem Punkt sind sich jedoch alle einig: Die Einkommen der Ma24
2005 findet sich bei Neu hingegen ein etwas anderes Ergebnis, demnach die Zunahme der wahrgenommenen Ungerechtigkeit auf der individuellen Ebene nicht mit einer Verschlechterung der eignen Lage korreliert, diese sei stabil. Das zunehmende Gefühl der Ungerechtigkeit sei also nicht individuell gestützt, so Neu (Neu 2005: 16).
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nager werden als deutlich zu hoch empfunden, über alle Einkommensquintile hinweg gelten sie als ungerechtfertigt (Liebig/Schupp 2004: 727). Auch Abold und Wenzel können einen Zusammenhang zwischen der Bewertung der Gesellschaftsordnung in Deutschland als ungerecht, was ja, wie bereits ausgeführt, in der Regel mit egalitären Orientierungen einhergeht, und dem Gefühl, zu einer benachteiligten gesellschaftlichen Gruppe zu gehören, zeigen. Je größer das Gefühl, benachteiligt zu sein, um so eher wird die gesellschaftliche Ordnung in Deutschland als ungerecht empfunden. (Abold/Wenzel 2005: 240f; Wenzel 2006: 43; 51f). Insgesamt besteht in der Literatur also relativ große Einigkeit, dass egalitäre Einstellungen mit einer – tatsächlichen oder wahrgenommenen – schlechteren ökonomischen Situation korrelieren. Allerdings, so Roller, ist dieser Einfluss in den neuen Bundesländern schwächer ausgeprägt, hier dominierten ideologische Faktoren. Der Einfluss der Bildung auf die Gerechtigkeitseinstellungen ist wieder umstrittener. Die meisten Autoren stellen einen positiven Zusammenhang zwischen höherer Bildung und nonegalitären Einstellungen fest. So zeigt etwa Roller für die 80er Jahre für die damalige Bundesrepublik einen entsprechenden signifikanten Einfluss, den sie später auch für die neuen Bundesländer bestätigen kann (Roller 1995: 193; Roller 1997: 139). Auch Allenbach stellt gesamtdeutsch mit steigender Schulbildung eine geringere Zustimmung zu der Aussage fest, Gerechtigkeit bestehe darin, dass alle Menschen etwa das gleiche verdienen und besitzen (Noelle-Neumann/Köcher 2002: 614). Für Westdeutschland bestätigt dies auch Wenzel, hier gehe ein höherer Bildungsabschluss mit einer positiveren Bewertung der Gerechtigkeit der Gesellschaftsordnung einher (Wenzel 2006: 51). Neu zeigt ebenso für Ostdeutschland, dass mit steigender Bildung die Zustimmung zum Prinzip der Selbstverantwortung zunimmt, zur staatlichen Absicherung abnimmt (Neu 1999: 2). Allerdings kommen für Ostdeutschland auch einige Autoren zu dem entgegengesetzten Ergebnis: Hier führe ein höherer Bildungsabschluss dazu, dass für mehr Umverteilung und damit eine stärkere Berücksichtigung egalitärer Prinzipien plädiert werde (Wenzel 2006: 51). Dies stellt auch Bürklin fest, es zeige sich ein deutlicher Unterschied zwischen Ostdeutschen, die niedrigere Schulabschlüsse als den der Erweiterten Oberschule (EOS) und Ostdeutschen, die über einen Abschluss der EOS oder eines Studiums verfügten. Letztere seien gegenüber sozialer Ungleichheit deutlich kritischer. Bürklin begründet dies damit, dass in den höheren Schulen der DDR die effektive Sozialisation sozialistischer Grundwerte stattgefunden habe, während die Schulbildung darunter eher berufsbezogen und damit weniger ideologisch gewesen sei (Bürklin 1993: 150f). Wagner hingegen stellt auf Basis des ALLBUS’ 1994 fest, dass nicht nur in Ost-, sondern auch in Westdeutschland egalitäre Einstellungen mit steigender
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Bildung zunähmen. Dieser Zusammenhang sei sogar stärker als in Ostdeutschland (Wagner 1997: 157). Einen eher geringen Einfluss der Bildung zumindest auf die Bewertung des Sozialismus und der DDR zeigen hingegen Arzheimer/ Klein. So ergebe sich bei der Bewertung des Sozialismus fast kein Einfluss des Bildungsstands, bei der Bewertung der DDR äußerten sich in Ost und West die Niedrigergebildeten etwas positiver, aber ein deutlicher Zusammenhang sei nur bei den jungen hochgebildeten Ostdeutschen zu erkennen, die die DDR deutlich negativer bewerteten als ihre geringer gebildeten Altersgenossen (Arzheimer/ Klein 2000: 386f). Alles in allem ist also der Einfluss der Bildung umstritten, weder besteht Einigkeit, ob mit wachsender Bildung egalitäre Einstellungen zu- oder abnehmen, noch, ob und wie dieser Effekt mit der Herkunft aus Ost- oder Westdeutschland zusammenhängt. Einen Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und Gerechtigkeitseinstellungen stellen hingegen einige Studien fest, und zwar in die Richtung, dass Frauen stärker egalitären Werten zuneigen als Männer. Diese Beziehung findet sich etwa bei Roller, die gesamtdeutsch eine signifikant höhere Zustimmung von weiblichen Befragten zu Erhöhungen der sozialpolitischen Leistungen des Staates feststellt (Roller 1997: 139). Auch bei Wagner findet sich dieser Zusammenhang, wenn er auch nur im Westen signifikant ist (Wagner 1997: 157). Nach den Ergebnissen von Neu legen Frauen ebenfalls mehr Wert auf staatliche Absicherung als Männer (Neu 1999: 2f). Auch nach den Ergebnissen von Allensbach entscheiden sich Frauen bei der Wahl zwischen Freiheit und Gleichheit mit 55% häufiger für Gleichheit, während Männer mit 52% für die Freiheit plädieren (Allensbach 2003: o. S., Tabelle A 23). Keinen signifikanten Einfluss des Geschlechts auf die Bewertung der DDR stellt hingegen Neller fest (Neller 2005: 364; 367). Der Einfluss des Geschlechts ist also auch nicht unumstritten, wenn er aber festgestellt wird, dann in die Richtung, dass Frauen egalitärer orientiert sind also Männer. Keine Untersuchungen finden sich in der mir vorliegenden Literatur zum Einfluss der Religiosität auf egalitäre oder nonegalitäre Werthaltungen. Dabei erscheint gerade für die neuen Bundesländer ein Zusammenhang plausibel, betrachtet man die ausgesprochen wichtige Bedeutung der Kirche für oppositionelle Gruppen in der ehemaligen DDR: Zum einen bot die Kirche dem demokratischen Widerstand in der DDR eine Plattform zur Verbreitung politischer Ziele, zum anderen ein gewisses Maß an Schutz vor staatlicher Verfolgung (Pollack 2000: 197). Insofern ist es nahe liegend, dass zumindest in den neuen Bundesländern kirchliche Bindung und antisozialistische, also nonegalitäre Haltungen korrelieren. Ob dies tatsächlich so ist, wird für CDU-Mitglieder und Abgeordnete der empirische Teil dieser Arbeit zeigen.
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
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2.1.2.2 Einstellungen der CDU-Anhänger Relativ wenige Erkenntnisse liegen zu den egalitären und nonegalitären Werthaltungen bei den Anhängern der unterschiedlichen Parteien vor, entsprechend finden sich auch nur vereinzelt Daten, wie CDU-Anhänger diese Thematik sehen; Studien, die Auskunft zu Einflussfaktoren auf diese Gruppe geben, liegen der Autorin nicht vor. Allensbach hat die Anhänger der Parteien gefragt, welche Maßnahmen sie befürworten, um mehr Gerechtigkeit zu erreichen. Es zeigt sich, dass Forderungen, die besonders egalitäre Werthaltungen ausdrücken, bei den Sympathisanten der CDU zwar durchweg geringere Unterstützung finden als bei den Anhängern von SPD, Grünen und PDS, dass diese Forderungen aber dennoch auch unter CDU-Anhängern eine nennenswerte Zustimmung erfahren. So unterstützen 51% der SPD-, 55% der Grünen- und 71% der PDS-Sympathisanten, aber auch 43% der CDU-Anhänger die Forderung, dass die Reichen mehr von ihrem Reichtum abgeben müssen, in ähnlichen Größenräumen bewegen sich die Zustimmungsraten zu der Forderung, dass es nicht so viel Ungleichheit in den Krankenhäusern gibt, dass die Ärzte keine Privatpatienten haben dürfen (Noelle-Neumann/Köcher 2002: 616). Auch der Forderung, dass die Reichen sich vor Gericht nicht einfach den besten Anwalt nehmen dürfen, dass die Anwälte vor Gericht vom Staat zugeteilt werden, stimmen 41% der SPD-, 59% der PDS- aber auch 34% der CDUAnhänger zu (Noelle-Neumann/Köcher 2002: 616). Auch bei der Frage nach Freiheit oder Gleichheit zeigt sich ein deutlicher Einfluss der politischen Haltung. So wird im linken politischen Spektrum der Gleichheit der Vorzug gegeben, während Befragte, die mäßig rechts oder rechts stehen, sich mehrheitlich für die Freiheit entscheiden. Allerdings plädieren auch in diesen Gruppen 37% bzw. 35 % für die Gleichheit. Ähnlich das Bild bei der Frage nach den Auswirkungen der Marktwirtschaft auf die Gerechtigkeit, 56% der CDU/CSU-Anhänger meinen, dass die Marktwirtschaft Gerechtigkeit erst ermöglicht, 24% sagen, dass die Marktwirtschaft automatisch zu sozialer Ungerechtigkeit führt. Verglichen mit anderen Parteien nehmen die Unions-Anhänger damit allerdings keine außerordentlich marktwirtschaftsfreundliche Position ein, denn sowohl bei den Anhängern der FDP, aber auch bei denen der SPD und der Grünen meint jeweils eine Mehrheit, dass Marktwirtschaft Gerechtigkeit erst ermöglicht, lediglich die Anhänger der PDS teilen diese Auffassung nicht (Allensbach 2003: 43; 73). Insgesamt scheinen nach diesen Ergebnissen also egalitäre Werthaltungen, die teilweise auch als Forderung nach einer Nivellierung nach unten verstanden werden können, auch von einem Viertel bis zu zwei Fünftel der CDU-Anhänger unterstützt zu werden. Die Mehrheit unterstützt allerdings nonegalitäre Positionen.
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2 Forschungsstand
In diese Richtung wies bereits ein Ergebnis Weßels aus dem Jahr 1991, nach dem CDU-Wähler zwar am stärksten von allen Wählergruppen Ziele der alten Politik unterstützen, gleichzeitig aber auch Zielen der neuen Politik, die eher wachstumskritisch und staatsinterventionistisch sind, gegenüber aufgeschlossen sind (Weßels 1991: 343f). Für Ostdeutschland stellen 1999 auch Brunner/Neu fest, dass unter CDU-Anhängern sowohl das Prinzip der Selbstverantwortung mit 82%, aber auch das Prinzip staatlicher sozialer Absicherung mit 68% von jeweils großen Mehrheiten unterstützt wird (Brunner/Neu 1999: 2). Insgesamt scheint nach diesen wenigen Ergebnissen eine starke Minderheit der CDU-Anhänger also egalitären Werthaltungen gegenüber relativ aufgeschlossen zu sein und diese Einstellungen auch in keinem Widerspruch zu anderen von ihnen vertretenen politischen Zielvorstellungen, wie etwa der Stärkung der Eigenverantwortung, zu sehen.
2.1.2.3 Einstellungen der CDU-Mitglieder – eine erste Forschungslücke Für die CDU liegen zwar einige umfassende Untersuchungen über organisatorischen Aufbau, programmatische Entwicklung, innerparteiliche Partizipation und sozio-demographische Merkmale der Mitglieder der Partei vor (Falke 1982; Schönbohm 1985; Schmidt 1986; Schmid 1990; Lange 1993; Haungs 1994; Grabow 2000; Zolleis 2008).25 Die politischen Einstellungen der CDU-Mitglieder werden jedoch in keiner dieser Studien untersucht. Dies leisten nur die Studien von Greven 1987a,b, Bürklin/Neu/Veen 1997, Neu 2007 und mit Einschränkungen Boll et al. 1999, Boll 2001 sowie die Erhebung des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart aus dem Jahr 2001, wobei die Studien von Bürklin/Neu/Veen und Neu die einzigen sind, die den Anspruch erheben können, für alle CDU-Mitglieder Deutschlands repräsentative Aussagen treffen zu können. Bürklin/Neu/Veen schreiben daher auch, dass repräsentative empirische Untersuchungen bei Parteimitgliedern mehr als rar seien (Bürklin/ Neu/Veen 1997: 13). Diese raren Erkenntnisse sollen im Folgenden kurz zusammengefasst werden: Michael Th. Greven befragte 1983 Mitglieder der SPD, der CDU und der Grünen zu ihrem Engagement in ihrer Partei und ihren politischen Einstellungen. Dabei geht er auch insbesondere auf die Frage der Bewertung von Ungleichheit ein, insofern sind die Arbeiten Grevens von allen vorliegenden Studien am nächsten am Thema dieser Arbeit. Allerdings kann Greven keinen Anspruch auf
25
Für die SPD vgl. etwa die Studien von Niedermayer 1989; Schmitt 1990; Gebauer 2005. Für einen Überblick über deutsche Parteimitgliederstudien vgl. Walter-Rogg 2004.
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
73
Repräsentativität erheben, da er lediglich die Mitglieder einiger SPD-Orts- und Kreisverbände und eines Unterbezirks, die Mitglieder zweier CDU-Kreisverbände und eines Kreisverbandes der Grünen befragen konnte (Greven 1987b: 14f). Die Studie entstand zudem sieben Jahre vor der Wiedervereinigung, die neuen Bundesländer sind somit naturgemäß nicht berücksichtigt. Auch auf die spezielle Frage der „Nivellierung nach unten“ wird nicht eingegangen. Hinzu kommt, dass Grevens Fragen zur Bewertung von Ungleichheit und Gleichheit und seine Analyse der Ergebnisse deutlich von der Auseinandersetzung mit der marxistischen Theorie geprägt und daher für nicht diesem Paradigma verpflichtete Arbeiten nur bedingt verwendbar sind. So fragt er die Parteimitglieder beispielsweise, ob es in der Bundesrepublik Deutschland zwei Klassen, die im Gegensatz zueinander stehen gebe (Greven 1987b: 103). Es zeigt sich erwartungsgemäß, dass die CDU-Mitglieder fast ausschließlich in nicht marxistischen Kategorien denken, sie gehen mit knapp 60% davon aus, dass es in Deutschland eher verschiedene sich ergänzende Gruppen und mit knapp 40 %, dass es eine breite Mittelschicht gebe. Diese beiden Beschreibungen finden auch unter den SPD-Mitgliedern die meisten Anhänger, lediglich 16% entscheiden sich für den Klassenbegriff (Greven 1987b: 104). In der Tendenz sind sich die Mitglieder der beiden großen Volksparteien in der Beschreibung der Sozialstruktur der Bundesrepublik also relativ einig. Fragt man allerdings, ob es gerecht sei, wenn der Eigentümer einer Fabrik mehr verdiene als die Angestellten und Arbeiter der Fabrik, obwohl er gar nicht selbst in der Unternehmensleitung mitarbeitet, zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen CDU- und SPD-Mitgliedern: Fast 90% der CDU-Mitglieder finden dies in Ordnung, da dem Eigentümer die Fabrik gehöre und er das Risiko trage. Rund 70% der SPD-Mitglieder hingegen halten dies für ungerecht, da der Eigentümer selbst nicht arbeite und sich das aneignet, was andere erarbeitet haben (Greven 1987b: 108). Greven spricht in diesem Zusammenhang von einer ‚Risiko-Ideologie des freien Unternehmertums, der die CDU-Mitglieder anhingen, während SPD-Mitglieder einer Haltung zuneigten, die die Aneignungsstruktur des Kapitalismus für ungerecht halte (Greven 1987a: 271). Auch zu der Forderung, dass die kapitalistischen Konzerne vergesellschaftet werden, damit die wirtschaftliche Entwicklung im Sinne der Arbeitnehmer geplant werden kann, variiert die Zustimmung deutlich nach Parteien, die CDUMitglieder stimmen nur zu fünf Prozent voll oder weitgehend zu, während 64% der SPD Mitglieder diese Forderung voll oder weitgehend unterstützen (Greven 1987b: 112). Greven attestiert in diesem Zusammenhang den befragten CDUMitgliedern ein konsistent prokapitalistisches Bewusstsein, während er aus der Tatsache, dass auch SPD-Mitglieder mehrheitlich die Forderung unterstützen, dass kleine Unternehmen mehr gefördert werden sollten, damit sie Arbeitsplätze
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2 Forschungsstand
schüfen, folgert, dass bei der SPD eine ideologische Verwirrung vorliege, da diese Aussagen nicht mit der Vorstellung einer traditionellen sozialistischen Gesellschaft ohne Privateigentum an Produktionsmitteln übereinstimmten (Greven 1987b: 114). Bei allen Vorbehalten gegen diese marxistisch beeinflusste Terminologie und Kategorienbildung Grevens lässt sich aus seinen Ergebnissen für diese Arbeit zumindest entnehmen, dass die von ihm befragten CDUMitglieder offenkundig eindeutig nonegalitär eingestellt sind. Für die Mitglieder des Kreisverbandes der Stuttgarter CDU bestätigen dies auch S. Isabell Thaidigsmann und Katja Neller, die eine Befragung des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart aus dem Jahr 2001 auswerten, in deren Rahmen knapp 6500 Mitglieder aller Stuttgarter Parteien bei einer Rücklaufquote von knapp 20% befragt wurden. Dabei wurden die Parteimitglieder auch gefragt, ob sie in einer Gesellschaft leben möchten, in der man es durch Leistung zu etwas bringen kann. Bei diesem Item, das als eher nonegalitäre Wertung interpretiert werden kann, zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den Mitgliedern von CDU und FDP, die dies sehr wichtig finden, und den Mitgliedern von SPD und Grünen, die dies deutlich weniger wichtig finden (Thaidigsmann/Neller 2004: 109). Insgesamt weisen die Stuttgarter CDUMitglieder eine deutlich marktliberale Orientierung auf, die nur noch von den Stuttgarter FDP-Mitgliedern übertroffen wird, so Jochen Welter und Michael Lateier auf der Basis derselben Studie (Welter/Lateier 2004: 217). Die Mitglieder der CDU Deutschlands untersuchen Wilhelm Bürklin, Viola Neu und Hans-Joachim Veen 1997 in einer zweiten repräsentativen Mitgliederstudie. Sie knüpfen damit an die erste 1982 publizierte Mitgliederstudie der CDU von Wolfgang Falke an, in der allerdings keine Einstellungen der Mitglieder erhoben wurden. Bürklin/Neu/Veen ließen im Auftrag der Konrad-AdenauerStiftung 2500 CDU-Mitglieder aus den alten und 1000 CDU-Mitglieder aus den neuen Bundesländern mündlich befragen. Im Zentrum standen dabei das politische Selbstverständnis der Mitglieder, ihr politisches Informations- und Kommunikationsverhalten, ihre politischen Prioritäten und Vorstellungen zu einer Parteireform (Bürklin/Neu/Veen 1997: 12). Politische Einstellungen wurden diesmal auch erhoben, allerdings nur in wenigen Fragen, die spezielle Thematik der Gleichheit bzw. Ungleichheit wird nicht behandelt. Aus der Frage jedoch, welche politischen Aufgaben die CDU-Mitglieder für sehr wichtig halten, lässt sich zumindest entnehmen, dass die Mitglieder sozialpolitische Aufgaben (Wohnungsbau fördern, soziale Sicherheit gewährleisten, Mieten niedrig halten) durchweg seltener für sehr wichtig halten als die Bevölkerung, während die Mitglieder die Sicherung einer guten Wirtschaftslage für geringfügig wichtiger erachten als die Bevölkerung. Auch wenn diese Unterschiede recht klein sind,
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
75
könnte dies als ein Hinweis auf eher nonegalitäre Einstellungen der CDUMitglieder interpretiert werden (Bürklin/Neu/Veen 1997: 65). Ein etwas differenzierteres Bild ermöglichen die Ergebnisse der dritten CDU-Mitgliederstudie aus dem Jahr 2007. Hierfür hat die Parteienforscherin der Konrad-Adenauer-Stiftung Viola Neu 2006 25 000 CDU-Mitglieder schriftlichstandardisiert befragen lassen. Um auch repräsentative Aussagen über die neuen Länder treffen zu können, war die Stichprobe disproportional angelegt; 20% der Fragebögen gingen an Mitglieder in den neuen Bundesländern, obwohl ihr Anteil an den Mitgliedern lediglich knapp 10% beträgt. Die Rücklaufquote lag insgesamt bei 29, 9%. Die Mitglieder wurden nach ihrer innerparteilichen Partizipation und in einigen wenigen Fragen auch nach ihren politischen Einstellungen befragt (Neu 2007: 5-8). Hierfür mussten die Mitglieder bei 20 Begriffen und Werten angeben, ob diese die CDU gut beschreiben, ob die CDU darauf mehr Wert legen sollte oder ob sie für die CDU unwichtig sind. Auf den ersten Blick scheinen die CDUMitglieder eindeutig nonegalitäre Überzeugungen zu vertreten. So beschreibt aus ihrer Sicht der Begriff der Freiheit mit Abstand die CDU am besten, 73% geben dies an, 21% finden, darauf sollte die CDU mehr Wert legen, nur zwei Prozent halten diesen Begriff für unwichtig für die CDU. Leistungsgerechtigkeit, in der Regel eher als nonegalitäres Prinzip interpretiert, würde eine Mehrheit der CDUMitglieder sogar gerne stärker betont sehen: 36% der Mitglieder sagen, dieser Terminus beschreibe die CDU gut, aber 55% wünschen sich, dass die CDU darauf mehr Wert legen sollte, nur vier Prozent halten dies für die CDU für unwichtig. Ähnlich das Bild bei dem Begriff Wettbewerb. 48% sehen damit die CDU sehr gut beschrieben, 41% sagen, darauf sollte die CDU mehr Wert legen, nur fünf Prozent finden dies unwichtig. Hingegen ist der Begriff der Gleichheit vergleichsweise abgeschlagen, nur 31% der CDU-Mitglieder sagen, dass dieser Terminus die CDU gut beschreibe, dies ist die zweitniedrigste Prozentzahl aller 20 Begriffe. Allerdings meinen 39%, dass die Partei darauf mehr Wert legen sollte. Damit liegt die Gleichheit bei der Frage, worauf die CDU mehr Wert legen sollte, auf dem zehnten Rang und erfährt so immerhin eine mittlere Unterstützung. Zugleich erreicht die Gleichheit aber auch den zweithöchsten Wert bei der Frage, was für die CDU unwichtig ist: 23% der Mitglieder sagen dies bei der Gleichheit, übertroffen nur noch von 38% der Mitglieder, die dies bei dem Begriff Kapitalismus meinen. Bei allen anderen Begriffen ist der Anteil der Mitglieder, die diese für unwichtig halten, sehr niedrig, liegt fast durchgängig unter zehn Prozent. Die Bewertung von Gleichheit scheint die CDU-Mitglieder also eher zu polarisieren: Relativ einig sind sie sich noch in der Tatsachenaussage, dass der Begriff der Gleichheit die CDU eher nicht beschreibt. Knapp 40% der Mitglieder würde dies aber gerne
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2 Forschungsstand
ändern und befürworten einen höheren Stellenwert der Gleichheit in der CDU, während gleichzeitig ein Viertel der Mitglieder entschieden sagt, dass dieser Begriff für die CDU unwichtig sei. Trotz der hohen Zustimmung zu nonegalitären Begriffen sind also knapp 40% für Gleichheit empfänglich, während dieser Begriff für ein Viertel der Mitlieder ein negatives Reizwort darzustellen scheint (Neu 2007: 34). Diese eher polarisierte Haltung der CDU-Mitglieder bei der Bewertung der Gleichheit lässt sich offensichtlich nur teilweise auf die Herkunft aus Ost- oder Westdeutschland zurückführen, denn deren Einfluss scheint in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen zu sein. So zeigte sich noch 1993 bei der Zustimmung zu der Aussage, die sich am ehesten als Hinweis auf eine egalitäre Orientierung deuten lässt, „Der Staat sollte jedem das Recht auf einen Arbeitsplatz garantieren“, eine deutliche Ost-West-Differenz: 35% der westdeutschen CDU-Mitglieder, aber beachtliche 71% der ostdeutschen CDU-Mitglieder stimmen hier zu. Damit lagen die ostdeutschen CDU-Mitglieder zwar immer noch unter den 86% der ostdeutschen Bevölkerung, die hier 1993 zustimmten. Dennoch zeigte sich bei dieser Frage eine bemerkenswerte Einstellungsdifferenz zwischen westund ostdeutschen CDU-Mitgliedern, die bei keiner der anderen abgefragten Meinungen so hoch ausfiel (Bürklin/Neu/Veen 1997: 67). Hierzu passte auch, dass sich die ostdeutschen CDU-Mitglieder bei der politischen Selbsteinstufung deutlich häufiger in der Mitte oder im linken Bereich einstuften als die westdeutschen CDU-Mitglieder (Bürklin/Neu/Veen 1997: 70). 2006 war diese Differenz deutlich geschmolzen, jetzt forderten nur noch 34% der westdeutschen und 46% der ostdeutschen CDU-Mitglieder, dass der Staat jedem das Recht auf einen Arbeitsplatz garantieren solle (Neu 2007: 35). Ost- und westdeutsche CDUMitglieder unterscheiden sich 16 Jahre nach der Wiedervereinigung also auch in dieser Frage nach den Ergebnissen Neus nur noch in Nuancen, in beiden Landesteilen scheinen nonegalitäre Positionen zu überwiegen (Neu 2007: 47). Anhaltspunkte für eine Erklärung für diese Tendenz liefern Bernhard Boll et al., die 1998 Sozialprofil und Einstellungen der Mitglieder der Landesparteien Sachsen-Anhalts untersuchten. Die Forscher zogen hierfür eine geschichtete Zufallsstichprobe im Umfang von jeweils 1000 Mitgliedern aus den Mitgliederdateien der Parteien Sachsen-Anhalts26. Während die ostdeutschen Parteien nach Boll et al. generell jünger, weniger in gewachsenen Traditionsmilieus verankert und säkularer sind als die westdeutschen Landesverbände, lässt sich dieser Befund für die ostdeutsche CDU so nicht aufrechterhalten. Ähnlich wie die Mitglieder der westdeutschen CDU gehören auch die Mitglieder der CDU SachsenAnhalts zu 85% einer Konfession an, auch der Anteil der regelmäßigen Kirchen26
Bei Bündnis 90/Die Grünen nahm Boll eine Vollerhebung (494 Fälle) vor (Boll et al. 1999: 35).
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
77
gänger unter den konfessionell gebundenen CDU-Mitgliedern liegt mit fast 40% relativ hoch, nur 0,4 % geben an, nie in die Kirche zu gehen.. Die ostdeutsche CDU knüpft also hier an eine klassische Traditionslinie im bundesdeutschen Parteiensystem an, nämlich an eine christlich geprägte Kerngefolgschaft der Unionsparteien (Boll et al. 1999: 39). Da eine starke Kirchenbindung gerade in der ehemaligen DDR ein deutlicher Hinweis auf eine antisozialistische Einstellung war (Welzel 1997: 229; Krieger 1998: 82), könnte dieser Befund Bolls et al. ein Hinweis darauf sein, dass es im Hinblick auf egalitäre bzw. nonegalitäre Einstellungen bei CDU-Mitgliedern keinen großen Unterschied zwischen Ost und West gibt, da sie sich bezüglich ihrer Kirchenbindung nicht unterscheiden. Denkbar ist auch, dass die ostdeutschen CDU-Mitglieder sogar nonegalitärer eingestellt sind als ihre westdeutschen Parteifreunde, da die kirchliche Bindung unter einer atheistischen Staatsdoktrin eine bewusstere Entscheidung voraussetzt als in der ehemaligen Bundesrepublik. Dem widerspricht allerdings auf den ersten Blick, dass sich nach den Ergebnissen von Boll et al. auch die CDU-Mitglieder Sachsen-Anhalts etwas linker einstufen als westdeutsche CDU-Mitglieder (Bürklin/Neu/Veen 1997: 70). Zwar ordnen sich 46, 6% der sachsen-anhaltinischen CDU-Mitglieder dem gemäßigten rechten Bereich des Parteienspektrums zu, aber 44,3% ordnen sich der Mitte, 9,1% sogar dem linken Spektrum zu. Bei einer Unterscheidung nach Altmitgliedern, die noch vor der Wende, und Neumitgliedern, die nach 1989 der CDU beigetreten sind, zeigt sich allerdings, dass sich die Neumitglieder häufiger gemäßigt rechts positionieren und nur noch zu 5,4% links der Mitte (Boll et al. 1999: 40-45). Dies deutet wie die Ergebnisse Neus darauf hin, dass sich die Mitglieder der ostdeutschen CDU im Zeitablauf der politischen Positionierung der westdeutschen CDU annähern. Über die Einstellungen von CDU-Mitgliedern zu egalitären und nonegalitären Positionen, insbesondere über Einflussfaktoren liegen also nur wenige empirische Erkenntnisse vor. Zur Hypothesengenerierung wird daher auf die Forschungsergebnisse zur Verbreitung derartiger Werthaltungen unter CDUAnhängern und in der Bevölkerung zurückgegriffen. Dabei werden jeweils nicht alle theoretisch möglichen Thesen formuliert, sondern nur solche, für die es empirisch gestützte Hinweise gibt. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, dass auch diese Thesen im empirischen Teil der Arbeit falsifiziert werden und somit die entgegengesetzte, empirisch bisher nicht belegte Aussage bestätigt oder – bei den Einflussfaktoren – kein Zusammenhang festgestellt wird. Bezüglich der egalitären und nonegalitären Einstellungen von CDUMitgliedern lässt sich im Rahmen dieser Arbeit folgende These überprüfen:
78 1.
2 Forschungsstand
CDU-Mitglieder vertreten häufiger nonegalitäre Einstellungen als egalitäre.
Der Einfluss der Herkunft aus Ost- oder Westdeutschland ist umstritten. Die Mehrheit der Studien stellt für die Bevölkerung eine starke Korrelation zwischen ostdeutscher Herkunft und egalitären Einstellungen fest, bei CDU-Mitgliedern gibt es jedoch Hinweise, dass dieser Zusammenhang deutlich schwächer ausfällt oder sogar umgekehrt besteht. Als These soll dennoch folgende Annahme formuliert werden: 2.
CDU-Mitglieder aus Ostdeutschland vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als CDU-Mitglieder aus Westdeutschland.
Bezüglich des Einflusses des Alters liegen nur Ergebnisse für die gesamte Bevölkerung vor, die zudem umstritten sind. Für CDU-Mitglieder soll folgende These überprüft werden: 3.
Ältere CDU-Mitglieder vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als jüngere.
Zum Einfluss des Einkommens liegen für die Bevölkerung eindeutige Ergebnisse vor, die auch für die CDU-Mitglieder angenommen werden: 4.
CDU-Mitglieder mit niedrigerem Einkommen vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als CDU-Mitglieder mit höherem Einkommen.
Der Einfluss der Bildung ist hingegen wieder umstritten. Für die CDUMitglieder soll folgende These überprüft werden: 5.
CDU-Mitglieder mit niedrigerer formaler Bildung vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als CDU-Mitglieder mit höherer formaler Bildung.
Die Studien, die bei der Bevölkerung auch den Einfluss des Geschlechts messen, stellen stärkere egalitäre Werthaltungen bei Frauen fest. Daher soll die These aufgestellt werden: 6.
Weibliche CDU-Mitglieder vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als männliche.
Zum Einfluss der Religiosität liegen keine Ergebnisse vor, dennoch soll auf Grund der besonderen Bedeutung der christlichen Kirchen für die oppositionelle Bewegung der DDR folgende These formuliert werden:
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
7.
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Weniger religiöse CDU-Mitglieder vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als stark religiöse.
2.1.2.4 Einstellungen der CDU-Abgeordneten Politische Einstellungen von Abgeordneten sind immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Studien. Schindlers Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages verzeichnet zwischen 1949 und 1999 insgesamt 16 wissenschaftliche Umfragen unter Bundestagsabgeordneten (Schindler 1999: 529-546). Darunter befinden sich fünf Studien, in denen auch die Einstellungen von Abgeordneten erhoben wurden (Schmölders 1959; Badura/Reese 1976; Rose/Hofmann-Göttig 1982; Derlien/Mayntz 1988; Herzog et al. 1990). 2003 und 2004 haben darüber hinaus Best et al. und Weßels größere Abgeordnetenbefragungen durchgeführt, in denen auch Einstellungen erhoben wurden, von denen allerdings bisher nur Zwischenauswertungen vorliegen. 2006 hat die Bertelsmann-Stiftung in Zusammenarbeit mit Allensbach die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu ihren Einstellungen zu sozialer Gerechtigkeit befragt (Vehrkamp 2007; Allensbach 2007). 2007 hat die Transformation Research Initiative (TRI) Wertorientierungen und Einstellungen von Parlamentariern, Journalisten und Mitgliedern der Ministerialbürokratie in sieben Demokratien untersucht. Für Deutschland liegt, unter der Federführung von Hoffmann-Lange, inzwischen der Tabellenband mit ersten Ergebnissen vor (TRI [2008]). Hinzu kommen die Mannheimer und Potsdamer Elitestudien, in denen allerdings innerhalb der Bundestagsfraktionen nur die Inhaber von Führungspositionen befragt wurden, die zuletzt und erstmals gesamtdeutsch 1997 durchgeführt wurde (Bürklin/Rebenstorf 1997). Timo Grunden hingegen hat keine Abgeordneten befragt, sondern ähnlich wie Brettschneider das Regierungshandeln in Hinblick auf egalitäre Inhalte untersucht (Grunden 2004). Keine dieser Studien widmet sich ausschließlich CDU-Abgeordneten, aber zumindest teilweise werden die Ergebnisse nach der Parteizugehörigkeit differenziert. Günter Schmölders untersuchte die Einstellungen der Abgeordneten des Dritten Deutschen Bundestages zu Fragen der Währungs- und Finanzpolitik. Die Fragen spiegeln deutlich die finanzpolitischen Debatten der 50er Jahre wider, so spielt das sog. Wirtschaftswunder eine große Rolle oder die Möglichkeit einer Kreditaufnahme wird diskutiert – wobei sich letztere 52% der Abgeordneten nicht vorstellen können, nur 30% sprechen sich für eine Kreditaufnahme aus (Schmölders 1959: 43f). Für diese Arbeit lassen sich aus Schmölders Studie keine Hypothesen mehr generieren. Ebenso ist die Arbeit von Bernhard Badura
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2 Forschungsstand
und Jürgen Reese, die 1969 und 1972 neue Abgeordnete befragt haben, nicht zur Hypothesengenerierung verwertbar (Badura/Reese 1976). Rose/Hofmann-Göttig haben in ihrer Studie aus dem Jahr 1980 die Abgeordneten des Neunten Deutschen Bundestages zu den ihnen vordringlich erscheinenden politischen Aufgaben und ihren Sorgen im Blick auf die nächsten Jahre befragt. Dem Thema dieser Arbeit zumindest inhaltlich nahe ist dabei die Aufgabe Soziale Sicherheit gewährleisten, die von allen Abgeordneten auf einem mittleren Rang an Wichtigkeit eingeordnet wird. Diese Einschätzung hängt allerdings von der Fraktionszugehörigkeit ab, bei den CDU-Abgeordneten wird diese Aufgabe nur von 27% der Abgeordneten als sehr wichtig angesehen, bei der SPD sind dies 42%, bei der FDP 0% (Rose/Hofmann-Göttig 1982: 75-80). Bei den Zukunftssorgen könnte das Item dass wir immer mehr Steuern zahlen müssen als Ablehnung einer größeren staatlichen Umverteilung interpretiert werden. Diese Sorge rangiert bei allen Abgeordneten auf einem mittleren Rang, wobei CDU-Abgeordneten diese Entwicklung besonders Sorgen macht (Rose/Hofmann-Göttig 1982: 82f). Dieses Ergebnis ist ein Anhaltspunkt dafür, dass unter CDU-Abgeordneten nonegalitäre Einstellungen relativ verbreitet sind. Aus dem Jahr 1987 stammt eine Studie von Hans-Ulrich Derlien und Renate Mayntz, in der 59 Politiker aller Fraktionen aus Regierung und Parlament und 147 politische Spitzenbeamte zu ihren Einstellungen befragt wurden (Derlien/ Mayntz 1988: 2). Derlien/Mayntz veröffentlichen lediglich die Randauszählungen der einzelnen Fragen, die in den Interviews gestellt wurden. Darunter finden sich zwei Fragen, die einen Bezug zu dem Thema dieser Arbeit aufweisen. Zum einen stimmen die Politiker der Aussage Der Ausgleich von Einkommensunterschieden ist eine berechtigte Aufgabe der Regierung relativ stark zu (Derlien/ Mayntz 1988: 47). Dies kann als eine Ablehnung des Nonegalitarismus interpretiert werden, da der Nonegalitarismus den Ausgleich von Einkommensunterschieden überhaupt nicht als Ziel an sich betrachtet. In dieser Richtung gehen auch die Antworten auf eine weitere Frage, in der die Politiker angeben sollten, welche Veränderungen sie sich für die nächste Generation wünschen. Auch hier liegt Mehr soziale Gerechtigkeit/Chancengleichheit relativ weit vorne, während Mehr Freiheit unter den insgesamt 13 Items eher abgeschlagen ist (Derlien/ Mayntz 1988: 59). Insgesamt können die Ergebnisse Derlien/Mayntz’ zwar wegen der geringen Fallzahlen, der fehlenden statistischen Analyse und der fehlenden Aufschlüsselung nach Parteien nur bedingt interpretiert werden, sie liefern aber zumindest einen Anhaltspunkt dafür, dass 1987 unter Bundespolitikern egalitäre Werthaltungen stärker vertreten waren als nonegalitäre. In Hinblick auf die Einstellungen der Abgeordneten der verschiedenen Parteien erwartbare Ergebnisse liefert die bereits zitierte Studie von Herzog et al.. So weist von den elf den Abgeordneten zur Beurteilung vorgelegten Zielen das
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Ziel Unter den Menschen sollte es weniger Leistungsdruck geben eine thematische Nähe zu dem Thema dieser Arbeit auf, es lässt sich als Plädoyer für eine stärkere egalitäre Ausrichtung der Politik interpretieren. Die Zustimmungsraten der Abgeordneten der einzelnen Parteien variieren bei diesem Ziel klar mit der Parteizugehörigkeit: Während Abgeordnete von SPD und GRÜNEN dieses Ziel für wichtig halten, sehen Abgeordnete von CDU, CSU und FDP dieses Ziel als eher unwichtig an (Herzog et al. 1990: 43-46). Wie Rose/Hofmann-Göttig lassen also auch die Ergebnisse von Herzog et al. darauf schließen, dass CDUAbgeordnete eher nonegalitär orientiert sind. Einen gänzlich anderen Ansatz wählt 2004 Timo Grunden: Er befragt nicht die Abgeordneten nach ihren Einstellungen, sondern untersucht das Regierungshandeln der letzten Regierung Kohl und der ersten Regierung Schröder in Hinblick auf den Stellenwert der sozialen Gleichheit. Er geht dabei der Frage nach, ob sich in diesem Punkt ein nennenswerter Unterschied zwischen christ- und sozialdemokratischer Politik zeigt. Hierfür definiert er sechs Indikatoren, die für einen hohen Stellenwert der Umverteilung und damit der Gleichheit im Regierungshandeln sprächen, etwa eine hohe Unternehmensbesteuerung, eine starke Progression der Einkommenssteuer, niedrige indirekte Steuern und eine starke Vermögensbesteuerung (Grunden 2004: 17f). Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Regierung Schröder 1998-2002 von der Regierung Kohl 1994-1998 in Hinblick auf diese Indikatoren nicht unterschieden habe, die sozialdemokratische Regierung kein einziges Kriterium einer Politik der sozialen Gleichheit erfüllt habe (Grunden 2004: 128). Für diese Arbeit ist aber vor allem relevant, dass Grunden in seiner Analyse der Haushalts- und Steuerpolitik der Regierung Kohl feststellt, dass soziale Gleichheit keine Priorität gehabt habe. Die Politik sei vor allem dem angebotsökonomischen Paradigma gefolgt und habe versucht, durch Steuererleichterungen die Investitionsbereitschaft der Wirtschaft zu erhöhen und Unternehmensverlagerungen ins Ausland zu verhindern. Der Umverteilung habe diese Politik nicht gedient, so Grunden (Grunden 2004: 101). Die Politik der letzten schwarz-gelben Bundesregierung war also eher nonegalitär, so lässt sich das Ergebnis Grundens für diese Arbeit zusammenfassen. 2003/2004 haben Forscher der Universität Jena Abgeordnete der Landtage, des Bundestages und des Europäischen Parlaments nach ihrem Werdegang, ihrem Rollenverständnis und ihren Einstellungen befragt. Nach den bisher publizierten Zwischenergebnissen der Studie weisen die CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten deutlich nonegalitäre Einstellungen auf. So nennen nur zwei Prozent der Union-MdBs, gefragt, welches der Ziele Sanierung der Staatsfinanzen, wirtschaftliches Wachstum und Verringerung der sozialen Ungleichheit für sie Priorität hat, die Verringerung der Ungleichheit an erster Stelle. Hingegen entscheiden sich 84% für das Wirtschaftswachstum, 14% für die Sanierung der
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Staatsfinanzen. Aber auch bei den Sozialdemokraten genießt die Verringerung der Ungleichheit mit 24% Zustimmung am wenigsten Priorität, auch hier liegt das Wirtschaftswachstum mit 42% vorne. Nur bei den Grünen ist die Verringerung der Ungleichheit mit 50% das wichtigste Ziel, während sie bei der FDP von keinem Abgeordneten genannt wird (Best et al. [2004b]: 11). Der eher nonegalitären Aussage Nur wenn die Unterschiede im Einkommen und im sozialen Ansehen groß genug sind, gibt es auch Anreiz für persönliche Leistungen stimmen rund 70% der Unions-Abgeordneten aus Bundestag und Landtagen zu. Die Zustimmung bei der FDP liegt ähnlich hoch, während bei SPD und Grünen ein knappes Drittel der Abgeordneten, bei der PDS um die zehn Prozent zustimmen (Best et al. [2004a]: 11). Nach den Ergebnissen der Jenaer Abgeordnetenstudie verläuft die Zustimmung zu egalitären und nonegalitären Gerechtigkeitseinstellungen also entlang der erwarteten Parteigrenzen: Union und FDP vertreten sehr stark nonegalitäre, die SPD teilweise und Grüne und PDS überwiegend egalitäre Wertvorstellungen. Entsprechend korreliert auch die Wahl zwischen Freiheit und Gleichheit bei den Abgeordneten eindeutig mit der Positionierung auf der Rechts-Links-Skala: Abgeordnete, die sich für Gleichheit entscheiden, positionieren sich deutlich weiter links als Abgeordnete, die die Freiheit wählen (Edinger/Vogel: 2005: 390).Nach den Ergebnissen von Weßels, der 2003 die Abgeordneten des Deutschen Bundestages befragt und inzwischen eine Kurzfassung der Ergebnisse vorgelegt hat, erfährt das Ziel Die Einkommensunterschiede verringern bei den Abgeordneten aller Parteien insgesamt eine mittlere Unterstützung: 41% der Abgeordneten halten diesen Vorschlag für sehr oder ziemlich gut, 29% für sehr oder ziemlich schlecht, 31% entscheiden sich für weder/noch – allerdings unterscheidet Weßels bei diesen Ergebnissen leider nicht nach der Fraktionszugehörigkeit (Weßels 2005: 20). Nach den Erwartungen für die Zukunft befragt geben allerdings 42% der MdBs an, die Gleichheit von Einkommen und Lebensbedingungen werde in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren abnehmen, nur 13% gehen von einer Zunahme aus (Weßels 2005: 30). Auch egalitär eingestellte Abgeordnete sind nach diesen Ergebnissen also offenbar pessimistisch, was die künftige Realisierung ihrer Wertvorstellungen angeht. Nach den ersten Ergebnissen der Transformation Research Initiative (TRI) sind die Bundestagsabgeordneten, die Parteien rechts der Mitte angehören, eher nonegalitär eingestellt. Zwar sind auch diese Abgeordneten der Auffassung, dass ein gewisses Maß an Umverteilung konstitutiv zu den Merkmalen einer Demokratie gehört: Eine Mehrheit unter ihnen vertritt die Auffassung, dass es ein essentielles Charakteristikum einer Demokratie sei, to tax the rich and subsidize the poor. Diese Aufgabe erfüllt nach Meinung von rund 80% der Parlamentarier rechts der Mitte die Regierung in Deutschland zur Zeit auch eher oder sehr gut, die Parlamentarier links der Mitte sind dieser Auffassung nur zu 49%, 51% sa-
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gen, dass die Regierung dies eher oder sehr schlecht mache (TRI [2008]: 118; 134). Aber offenkundig würden es diese Abgeordneten rechts der Mitte auch befürworten, wenn der Staat etwas weniger umverteilen würde. So kommen diese Parlamentarier bei einer Skala von 1 bis 10, bei der 1 für die Aussage Incomes should be made more equal und 10 für die Aussage We need larger income differences as incentives, im Schnitt auf einen Wert von 6,21, während die Abgeordneten linker Parteien auf einen Wert von 3,64 kommen (TRI [2008]: 47). Nach diesen Ergebnissen befürworten Bundestagsabgeordnete, die den bürgerlichen Parteien angehören, also eine höhere Einkommensungleichheit, um ausreichende Leistungsanreize zu setzen – so die ersten Ergebnisse der TRI. Sehr nah am Thema dieser Arbeit dran ist die bereits zitierte Studie von Allensbach, die 2006 im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, der Heinz Nixdorf Stiftung und der Ludwig-Ehrhard-Stiftung durchgeführt und bei der Abgeordnete der Länderparlamente, des Bundestages und des Europäischen Parlaments zu ihren Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit befragt wurden (Allensbach 2006: 1f). Nach dieser Untersuchung sind die Abgeordneten mehrheitlich der Überzeugung, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland, das, was die Menschen besitzen und was sie verdienen, insgesamt gerecht sind; insbesondere die Abgeordneten der CDU/CSU vertreten diese Auffassung (Allensbach 2007: 8; 11, 41). Konflikte sehen die Abgeordneten am ehesten zwischen Arbeitslosen und Menschen, die Arbeit haben, und zwischen Deutschen und Ausländern, weniger zwischen Armen und Reichen. Das Ziel, für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen, nimmt bei den politischen Prioritäten einen mittleren Platz ein. Hierbei stehen aber vor allem die Chancen- und die Familiengerechtigkeit im Vordergrund; sowohl die mit der Forderung nach eher nonegalitären Maßnahmen verknüpfte Leistungsgerechtigkeit, als auch die mit eher egalitären Maßnahmen verknüpfte Verteilungsgerechtigkeit werden im Vergleich für eher weniger wichtig gehalten, um soziale Gerechtigkeit zu erreichen. Diese Bewertung scheint vor allem darauf zurückzuführen sein, dass die Abgeordneten auf diesen Feldern den vergleichsweise geringsten Handlungsbedarf sehen, während etwa bei der Familiengerechtigkeit nur 11% der Abgeordneten aktuell keinen politischen Handlungsbedarf sehen, sind dies bei der Leistungsgerechtigkeit 42%, bei der Verteilungsgerechtigkeit 38% (Allensbach 2007: 17; 22; 34; 50; 53-56). Fragt man allerdings, ob die Abgeordneten für mehr oder weniger staatliche Umverteilung plädieren, um soziale Gerechtigkeit zu erreichen, oder ob sie das aktuelle Maß für angemessen halten, sehen die meisten Befragten doch einen Veränderungsbedarf. So fordern 36% der Abgeordneten mehr, 35% weniger Umverteilung, nur 24% sehen keinen Handlungsbedarf. Die Abgeordneten, die sich für mehr Umverteilung aussprechen, wollen dies aber offensichtlich mehrheitlich nicht über das Steuersystem erreichen, denn für höhere Steuern und
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2 Forschungsstand
Abgaben sprechen sich nur 11% aus, während 46% die Steuer- und Abgabenlast als angemessen, 40% als zu hoch empfinden. Die Parlamentarier, die sich für höhere Steuern aussprechen, wollen damit eindeutig eine egalitärere Einkommensverteilung erreichen. So will diese Gruppe fast ausschließlich höhere Einkommen mehr belasten, für die stärkere Belastung aller oder niedriger Einkommen sprechen sich unter 1% der Abgeordneten aus (Allenbach 2007: 57-60). Auf das Thema dieser Arbeit bezogen ergeben die Daten der von Allensbach durchgeführten Bertelsmann-Studie also ein eher diffuses Bild. Insgesamt scheint der Konflikt zwischen egalitären und nonegalitären Verteilungsprinzipien für die Abgeordneten zwar keine unwichtige, aber eine im Vergleich mit anderen Gerechtigkeitsdimensionen eher untergeordnete Rolle zu spielen. Familien- oder Chancengerechtigkeit, die sich nicht eindeutig als egalitär oder nonegalitär beschreiben lassen, nehmen bei den Parlamentariern einen deutlich höheren Stellenwert ein. Zwingt man die Abgeordneten aber zu einer Positionierung, wie bei der Frage nach dem Wunsch nach mehr oder weniger staatlicher Umverteilung, so vertritt jeweils ein gutes Drittel egalitäre bzw. nonegalitäre Forderungen. Konkretisiert man den Wunsch nach mehr Umverteilung allerdings als Forderung nach höheren Steuern, stimmen dem nur noch ein Zehntel aller Abgeordneten zu, die dann aber fast ausschließlich streng egalitär eine stärkere Nivellierung der Einkommensverteilung fordern. Insgesamt scheinen sich egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen also in deutschen Parlamenten die Waage zu halten, vor der Durchsetzung egalitärer Positionen scheinen die meisten Parlamentarier aber zurückzuschrecken. CDUAbgeordnete tendieren offenbar insgesamt eher zu nonegalitären Positionen – so lassen sich die Ergebnisse der zitierten Abgeordnetenstudien grob zusammenfassen. Betrachtet man die möglichen Einflussfaktoren, so ist auch bei Abgeordneten der Einfluss der Herkunft aus Ost- oder Westdeutschland am besten erforscht. Die meisten Studien bestätigen einen Effekt, allerdings scheint dieser bei CDU-Abgeordneten am geringsten ausgeprägt zu sein. In dieser Richtung weisen etwa bereits die Ergebnisse der Potsdamer Elitestudie von 1995, in der allerdings alle gesellschaftlichen Eliten untersucht wurden. So zeigt etwa Machatzke auf Basis dieser Daten, dass fast drei Viertel der westdeutschen Eliten eine Reduktion des Umfangs staatlicher Verantwortung wünschen, während dies unter den ostdeutschen Eliten nur 44% fordern. Unter den CDU-Anhängern der gesellschaftlichen Eliten besteht dieser Effekt jedoch nicht, hier fordern 90% der westund 88% der ostdeutschen Eliten eine Reduktion staatlicher Aufgaben. Bei den CDU-nahen Eliten hat sich also der Ost-West-Unterschied nivelliert, so Machatzke 1997 (Machatzke 1997: 340; 347; 350).
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
85
In diese Richtung weisen auch die Ergebnisse Christian Welzels, der 1998 ebenfalls auf der Basis der Potsdamer Elitestudie politische Ordnungspräferenzen von west- und ostdeutschen Eliten und Bürgern untersucht und dabei zwischen einer minimalistischen und einer maximalistischen ordnungspolitischen Orientierung unterscheidet.27 Ein Anhänger einer minimalistischen ordnungspolitischen Orientierung plädiert sowohl gegen eine Verankerung plebiszitärer Entscheidungsverfahren im politischen System als auch für eine Einschränkung der staatlichen Aufgaben insbesondere im wohlfahrtsstaatlichen Bereich. Ein Anhänger einer maximalistischen ordnungspolitischen Orientierung plädiert hingegen für mehr plebiszitäre Elemente und gegen eine Einschränkung staatlicher Aufgaben.28 Welzel fasst diese beiden Konzepte auch unter den Begriffen neo-liberal bzw. sozial-demokratisch zusammen (Welzel 1998: 247). Er zeigt zunächst einen signifikanten Unterschied zwischen ost- und westdeutschen Eliten hinsichtlich ihrer ordnungspolitischen Orientierung: Ostdeutsche Eliten neigen eher maximalistischen, westdeutsche Eliten eher minimalistischen Konzepten zu (Welzel 1998: 247). So weisen westdeutsche Eliten mit einer deutlichen Mehrheit von 56% eine minimalistische Orientierung auf, während unter den ostdeutschen Eliten eine relative Mehrheit von 42% für eine maximalistische Position plädiert. Kontrolliert man die unterschiedlichen soziodemographischen Merkmale der Eliten wie Geschlecht, Religionszugehörigkeit und Alter, so wird dieser WestOst-Effekt deutlich geringer, ist aber immer noch vorhanden (Welzel 1998: 250252). Unterscheidet man die west- und ostdeutschen Eliten allerdings auch noch nach ihren Parteisympathien, so zeigt sich zwar durchgehend, dass die ostdeutschen Anhänger aller Parteien maximalistischer orientiert sind als die westdeutschen, diese Differenz aber bei den Anhängern der CDU in den Eliten am geringsten ist. Die CDU-Anhänger befinden sich insgesamt am nächsten am minimalistischen Pol, die ostdeutschen CDU-Sympathisanten unter den Eliten sind dabei fast genau so stark minimalistisch orientiert wie die westdeutschen (Welzel
27
28
In der Potsdamer Elitestudie wurden Elitenmitglieder aller gesellschaftlichen Sektoren befragt. Welzel unterscheidet nur nach Lageraffinität und Parteisympathie der Elitenmitglieder, nicht jedoch nach Zugehörigkeit zur politischen Elite. Daher gelten die Aussagen Welzels für Eliten aus allen gesellschaftlichen Bereichen und sind daher auf die Fragestellung dieser Arbeit nur bedingt übertragbar. Welzel berücksichtigt in seiner Typisierung stets beide Komponenten. In dieser Arbeit interessiert aber nur die Frage der Staatsaufgaben, da eine Befürwortung einer stärkeren umverteilenden Rolle des Staates eng verknüpft sein dürfte mit egalitären Orientierungen. Daher sind Welzels Ergebnisse für diese Arbeit nur bedingt interpretierbar. Zur Hypothesengenerierung scheint ihre Verwendung aber dennoch vertretbar, da Welzels Minimalismus- bzw. Maximalismus-Typ ja zumindest auch für bzw. gegen eine Einschränkung staatlicher Aufgaben plädiert.
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2 Forschungsstand
1998: 254-256). Die CDU-nahen Eliten scheinen sich also hinsichtlich ihrer nonegalitären Orientierung gesamtdeutsch relativ einig zu sein. Dieses Ergebnis scheint nicht nur allgemein für CDU-nahe Eliten, sondern auch speziell für CDU-Bundestagsabgeordnete zuzutreffen. So zeigen Best et al., dass innerhalb der Union die Zustimmung zu der nonegalitären Maxime, dass Einkommensunterschiede als Leistungsanreiz unabdingbar seien, mit knapp 70% sehr hoch ist und zwischen ost- und westdeutschen Abgeordneten nicht variiert. Bei allen anderen Parteien zeigen sich Unterschiede zwischen Ost und West (Best et al. [2004a]: 11).29 Auch bei der Frage, ob der Staat umfassend für die soziale Absicherung der Bürger, etwa auch die Garantie eines Arbeitsplatzes, zuständig ist, sind sich ost- und westdeutsche CDU-Abgeordnete in ihrer Ablehnung völlig einig (Edinger/Vogel 2005: 391f). Zumindest unter den Abgeordneten der CDU scheint es also keinen Ost-West-Unterschied hinsichtlich ihrer egalitären oder nonegalitären Einstellungen (mehr) zu geben. Erkenntnisse zum Einfluss des Alters auf Gerechtigkeitseinstellungen von Abgeordneten liefert auf Basis der Potsdamer Elitestudie Welzel. Er zeigt, dass mit steigendem Alter der befragten Eliten minimalistische Ordnungspräferenzen deutlich zunehmen, dass also jüngere deutlich eher für die Beibehaltung staatlicher Aufgaben plädieren (Welzel 1998: 252). Die aktuellere Studie der Bertelsmann-Stiftung kommt hingegen zu dem entgegengesetzten Ergebnis, dass jüngere Abgeordnete etwas stärker nonegalitäre Werthaltungen vertreten als ältere. Zwar beurteilt in allen Altersgruppen eine Mehrheit von 60% die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland als eher gerecht, hier zeigt sich also kein Alterseffekt. Jüngere Abgeordnete unter 35 sehen aber deutlich eher einen Handlungsbedarf bei der Durchsetzung von Leistungsgerechtigkeit, fordern eher als ältere Abgeordnete weniger staatliche Umverteilung und beurteilen die Steuerund Abgabenlast häufiger als ältere Parlamentarier als zu hoch (Allensbach 2007: 13; 54; 57f). Auch die Studie der TRI kommt zu dem Ergebnis, dass mit steigendem Alter die Zustimmung zu der Aussage, dass die Einkommen stärker angeglichen werden sollten, steigt (TRI [2008]: 47).30 Sollten sowohl die Ergebnisse der Potsdamer Elitestudie, als auch die der Bertelsmann-Stiftung und der TRI für Abgeordnete zutreffen, hat sich der Einfluss des Alters auf die Gerechtigkeitseinstellungen in den letzten Jahren umgedreht: Plädierten noch in den 90ern jüngere Parlamentarier eher für egalitäre Werthaltungen, scheinen sie heute eher nonegalitäre Positionen zu vertreten. 29
30
Bei FDP und SPD allerdings interessanterweise in die Richtung, dass ostdeutsche Parlamentarier dieser Aussage stärker zustimmen, also eher nonegalitäre Positionen vertreten als ihre Kollegen aus Westdeutschland (Best et al. [2004a]: 11). Allerdings weist die TRI dieses Ergebnis nur für die Angehörigen aller befragten Eliten, also Bundestagsabgeordnete, Journalisten und Angehörige der Ministerialbürokratie, aus.
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
87
Der Einfluss der Bildung auf egalitäre oder nonegalitäre Werthaltungen von Abgeordneten wurde in den der Autorin vorliegenden Studien nicht untersucht, zum Einfluss des Geschlechts lässt sich Welzel das Ergebnis entnehmen, dass weibliche Elitenangehörige deutlich eher maximalistische Ordnungspräferenzen vertreten als männliche (Welzel 1998: 252). Auch nach den Ergebnissen der TRI plädieren weibliche Elitenangehörige etwas häufiger als männliche für eine stärkere Einkommensgleichheit (TRI [2008]: 47). Hinweise auf den Einfluss der Religiosität auf die Gerechtigkeitseinstellungen von Abgeordneten finden sich wie bereits ausgeführt eher indirekt. So zeigt Welzel, dass es bei den befragten ostdeutschen Elitenangehörigen eine deutlich negative Korrelation zwischen einer religiösen Erziehung einerseits und einer Erziehung zu einem sozialistischen Klassenbewusstsein im eigenen Elternhaus andererseits gibt. Ehemalige Angehörige der oppositionellen Bürgerbewegung wurden in überdurchschnittlichem Maß religiös erzogen und haben auch häufig selbst theologische Berufe ergriffen (Welzel 1997: 228f). Es erscheint daher zumindest für die neuen Bundesländer plausibel, dass Religiosität bei Abgeordneten mit einer antisozialistischen und damit nonegalitären Haltung korreliert. Somit können zur Verbreitung egalitärer und nonegalitärer Einstellungen unter CDU-Bundestagsabgeordneten folgende Thesen aufgestellt werden: 8.
CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages vertreten häufiger nonegalitäre Einstellungen als egalitäre Einstellungen.
Ein Einfluss der Herkunft aus Ost- oder Westdeutschland zeigt sich nach dem Stand der Forschung bei CDU-Abgeordneten nicht oder nicht mehr, daher soll diese These überprüft werden: 9.
CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages aus Ost- und Westdeutschland unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer egalitären Einstellungen.
Bezüglich des Alters soll aus der aktuelleren Studie der Bertelsmann-Stiftung und der TRI folgende These gewonnen werden: 10. Ältere CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als jüngere. Bei der Frage des Einflusses der Bildung sollen aus Ermangelung entsprechender Studien über Abgeordnete auf die Ergebnisse aus Bevölkerungsumfragen zurückgegriffen und folgende Thesen formuliert werden:
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2 Forschungsstand
11. CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit niedrigerer formaler Bildung vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als CDU-Abgeordnete mit höherer formaler Bildung. Der Einfluss des Geschlechts soll durch die Überprüfung dieser These getestet werden: 12. Weibliche CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als männliche. Zum Zusammenhang mit Religiosität wird folgende These formuliert: 13. Weniger religiöse CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als stark religiöse.
2.1.3 Zusammenfassung des Forschungsstandes und Konsequenzen für die eigene Arbeit In Deutschland gibt es also nicht eine einheitliche ökonomische Kultur, sondern in unterschiedlichen Gruppen herrschen unterschiedliche sozialpolitische Wertvorstellungen vor. Während eine Mehrheit der Studien für die Bevölkerung insgesamt eine stärkere Verbreitung egalitärer als nonegalitärer Einstellungen ausweist, scheinen egalitäre Werthaltungen erwartungsgemäß unter Personen, die der CDU nahe stehen, weniger Anhänger zu finden. Hier zeichnet sich der Trend ab, dass egalitäre Einstellungen mit dem Grad der Involviertheit in die CDU abnehmen: Unter bloßen Anhängern der CDU erweist sich nach dem Stand der Forschung eine starke Minderheit als empfänglich für egalitäre Werte, unter den Mitgliedern scheint es ebenfalls diese größere Minderheit zu geben, für einen Teil der Mitglieder scheint Gleichheit aber auch ein negatives Reizwort darzustellen. Und bei den CDU-Bundestagsabgeordneten finden sich offenbar fast keine Anhänger egalitärer Forderungen. Auch der Einfluss der Herkunft aus Ost- oder Westdeutschland scheint nach Gruppen zu variieren. Während für die Bevölkerung fast alle Studien übereinstimmend eine stärkere Verbreitung egalitärer Einstellungen in Ost- als in Westdeutschland feststellen, deuten die wenigen vorliegenden Ergebnisse über CDUAnhänger und -Mitglieder an, dass hier nur noch ein geringer Ost-West-Effekt besteht. Die CDU-Bundestagsabgeordneten scheinen sich sogar gesamtdeutsch in ihrer nonegalitären Haltung weitgehend einig zu sein.
2.1 Egalitarismus und Nonegalitarismus
89
Der Einfluss des Alters hingegen ist unklar. Bei der Bevölkerung gibt es widersprüchliche Ergebnisse, sowohl eine mit dem Alter steigende egalitäre, als auch eine mit dem Alter steigende nonegalitäre Orientierung konnte gezeigt werden. Während für die Anhänger und Mitglieder in diesem Punkt gar keine Erkenntnisse vorliegen, weisen aktuelle Studien in die Richtung, dass bei jüngeren Abgeordneten nonegalitäre Werthaltungen noch verbreiteter sind. Erkenntnisse zum Einfluss des Einkommens liegen nur für die Bevölkerung vor, hier zeigt sich der eindeutige Effekt, dass mit zunehmenden Einkommen die Befürwortung nonegalitärer Aussagen steigt. Auch die Bedeutung der Bildung ist nur für die Bevölkerung erforscht. Die Ergebnisse sind widersprüchlich, sowohl ein Zusammenhang egalitärer Einstellungen mit höherer als auch mit niedrigerer Bildung konnte gezeigt werden. Einen Zusammenhang des Geschlechts mit sozialpolitischen Werthaltungen weisen einige Studien für die Bevölkerung aus, nach diesen Untersuchungen neigen Frauen stärker egalitären Werthaltungen zu als Männer. Bei CDUAnhängern, -Mitgliedern oder -Abgeordneten ist dieser Zusammenhang nicht untersucht. Die Bedeutung der Religiosität für egalitäre oder nonegalitäre Einstellungen ist gar nicht erforscht. Insgesamt stellt es bei den vorliegenden empirischen Erkenntnissen ein Problem dar, dass aus den Antworten auf manche Fragen nur mit einigem guten Willen auf das Vorliegen egalitärer oder nonegalitärer Werthaltungen geschlossen werden kann. Auch die Unterscheidung zwischen strengem und gemäßigtem Egalitarismus ist auf Basis des vorliegenden Forschungsstands nicht möglich. Dies liegt daran, dass die Frage der Befürwortung einer Nivellierung nach unten bisher gar nicht empirisch erforscht ist – von einigen Fragen des Instituts für Demoskopie Allensbach, die man in diese Richtung interpretieren kann, abgesehen. Daher wurde für diese Arbeit ein Fragebogen entwickelt, mit dem zum einen prinzipiell die Verbreitung von egalitären und nonegalitären Werthaltungen unter CDU-Mitgliedern und CDU-Bundestagsabgeordneten untersucht werden und der zum anderen auch eine Unterscheidung zwischen streng und gemäßigt egalitären Einstellungen ermöglichen soll. Außerdem ist es das Ziel, Erkenntnisse über das Wirken bislang teilweise wenig erforschter Einflussfaktoren zu gewinnen.
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2 Forschungsstand
2.2 Responsivität 2.2 Responsivität In diesem Kapitel soll zunächst das theoretische Konzept der Responsivität knapp dargestellt werden. Ausgehend von der wirkmächtigen Studie der amerikanischen Forscher Warren E. Miller und Donald E. Stokes Constituency Influence in Congress wird dann die Übertragung dieses Forschungsdesigns auf parlamentarische Demokratien und das dabei im Zentrum stehende ResponsibleParty-Modell erläutert. Schließlich wird mit dem Mangel an Studien über die Responsivität von Abgeordneten gegenüber ihren Parteimitgliedern eine weitere Forschungslücke aufgezeigt, die mit dieser Arbeit geschlossen werden soll. Anschließend werden empirische Ergebnisse der Responsivitätsforschung zusammenfassend präsentiert. Da in dieser Arbeit die Responsivität der deutschen Bundestagsabgeordneten untersucht wird, stehen hier auch Ergebnisse über die Responsivität deutscher Abgeordneter im Mittelpunkt. Einige Aspekte der Responsivität sind jedoch für die deutsche Politik nur unzureichend untersucht worden. In diesem Fall wird dann in erster Linie auf Ergebnisse der amerikanischen Responsivitätsforschung zurückgegriffen. Ob sich die daraus gewonnenen Forschungshypothesen auch im bundesrepublikanischen Kontext bestätigen, wird diese Arbeit zeigen. Zu dem Komplex, der in dieser Arbeit subjektive Responsivität genannt wird, liegen der Autorin nahezu keine Erkenntnisse bisheriger Studien vor. Dieses Thema stellt eine dritte Forschungslücke dar. Daher werden die Thesen hierzu auf andere Erkenntnisse zur objektiven Responsivität und zur Güte der Perzeptionen der Abgeordneten sowie zum Wirken der Einflussfaktoren gestützt, um dann im empirischen Teil dieser Arbeit überprüft werden zu können.
2.2.1 Responsivität als theoretisches Konzept Der Begriff der Responsivität stellt eine Eindeutschung des englischen Begriffs responsiveness dar, den man im Deutschen als Antwortbereitschaft, Ansprechbarkeit oder Empfänglichkeit übersetzen kann. Seine politische Dimension erhielt der Begriff in der öffentlichen Debatte im angelsächsischen Raum in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, seit Mitte der fünfziger Jahre gehört der Responsivitätsbegriff zu den bedeutsamen Fachtermini der Politikwissenschaft (Uppendahl 1981a: 89-92). Als Pionierwerk und zugleich bedeutendste Studie empirischer Responsivitätsforschung (Walter 1997: 23) gilt das Werk von Warren E. Miller und Donald E. Stokes Constituency Influence in Congress, das 1963 erschien. Die beiden Forscher des Survey Research Centers der Universität Michigan haben
2.2 Responsivität
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nach den Kongresswahlen 1958 eine komplexe Studie über die Responsivität von Kongressabgeordneten durchgeführt, an der sich inhaltlich und methodisch ein Großteil der Responsivitätsforschung bis heute orientiert (vgl. hierzu: Walter 1997: 24-26). Nach einer kurzen Begriffsgeschichte und der Definition des Begriffs der Responsivität für diese Arbeit soll diese bedeutende Studie von Miller/Stokes zusammenfassend dargestellt werden.
2.2.1.1 Definition Melanie Walter definiert Responsivität folgendermaßen: Unter dem Begriff der Responsivität wird die Aufnahmebereitschaft und Sensibilität der Repräsentanten für die Wünsche und Interessen der Repräsentierten und das entsprechende Handeln bei der Gesetzgebung verstanden (Walter 1997: 1).
Völlige Responsivität bedeutet demnach eine völlige Übereinstimmung der Wünsche und Interessen der Repräsentanten mit denen der Repräsentierten und ist somit innerhalb des Burkeschen Trustee-Delegate-Kontinuums am DelegatePol anzusiedeln. Dem Begriff der Responsivität in der Regel entgegengestellt wird der Terminus der Responsibilität, der Verantwortlichkeit. Nach Hanna Fenichel Pitkin, die mit ihrem berühmten Werk The Concept of Representation eine umfassende Studie zur Begriffsgeschichte von Repräsentation vorgelegt und den gemeinsamen Kern der unterschiedlichen Ansätze herausgearbeitet hat, bilden Responsivität und Responsibilität Teilkomponenten von Repräsentation. So sollte der Abgeordnete zum einen responsiv gegenüber den Wünschen seiner Wähler sein, zum anderen aber soll er auch responsibel, eigenverantwortlich, im Interesse des Gemeinwohls handeln (Pitkin 1967: 209). Die Begriffe Responsivität und Responsibilität sind also jeweils dem Trustee- und dem Delegate-Style zuordbar: Der Delegate maximiert Responsivität – er ist empfänglich gegenüber den Wünschen der Wähler –, der Trustee maximiert Responsibilität – er trifft seine Entscheidungen in eigener Verantwortung. Entsprechend stellt J. Roland Pennock knapp fest: …there is a degree of conflict between the ideals of responsiveness and responsibility…(Pennock 1952: 797).31
Die meisten Responsivitätsforscher vertreten die Position, dass Responsivität und Responsibilität des Abgeordneten einander ergänzen müssten, somit das 31
Zur Begriffsgeschichte des Terminus Repräsentation vgl. neben Pitkin auch: Hofmann 1974.
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2 Forschungsstand
optimale Verhalten eines Abgeordneten zwischen den beiden Polen des TrusteeDelegate-Kontinuums anzusiedeln sei.32 So hält beispielsweise Amitai Etzioni, der den Begriff der Responsivität zu einer politikwissenschaftlich fruchtbaren Konzeption ausgebaut (Uppendahl 1981b: 127) hat, weder ein zu hohes, noch ein zu niedriges Maß an Responsivität für wünschenswert. Denn weder die vollständige Kopplung noch die vollständige Entkopplung der Entscheidungsinstanz an die Wünsche der Mitglieder des Systems wirke systemstabilisierend. Eine vollständige Entkopplung von den Wünschen der Systemmitglieder führe dazu, dass das System entweder zu konservativ oder zu radikal agiere und damit Widerstand oder Entfremdung bei den Systemmitgliedern entstehe. Eine völlige Kopplung an deren Willen hingegen würde verhindern, dass ein System sich auch kreativ oder vorausschauend verhalten kann. In diesem Fall könnten keine Krisen vermieden, sondern nur gemanagt werden. Daher kommt Etzioni zu dem Schluss: …an optimal system balances the attention devoted to immediate needs with the attention extended to longer-run and non-pressing lateral and contextual needs (Etzioni 1968: 505).
Auch Pitkin kommt zu dem Schluss, dass in der Trustee-Delegate-Kontroverse beide Extrempositionen zum Teil rechtfertigbar seien – und zwar insoweit, dass sowohl der Repräsentierte, als auch der Repräsentant jeweils seinem politischen Willen müsse Ausdruck verleihen können. Falsch würden diese beiden Positionen allerdings dann, wenn diese Forderung jeweils absolut gesetzt werde – wenn also z. B. aus einer Trustee-Position heraus gefordert werde, dass der Abgeordnete völlig losgelöst vom Wähler entscheide und dieser keinerlei Einfluss mehr habe – und dies dazu führe, dass der jeweils andere Akteur keine Entscheidungsfreiheit mehr habe. Daher kommt Pitkin zu dem Schluss: The representative must really act, be independent; yet the represented must be in some sense acting through him. Hence there must be no serious persistent conflict between them (Pitkin 1967: 154).
32
Als Vertreter einer strengen Delegate-Position soll hier Arend Lijphart genannt werden. Dieser beschreibt eine ideale demokratische Regierung als eine solche, whose actions were always in perfect correspondence with the preferences of all its citzens (Lijpart 1984:1, H. i. O.). Dieses Ideal werde zwar in der Realität nie erreicht, könne aber den Endpunkt einer Skala bilden, mit der der Grad der democratic responsiveness unterschiedlicher Regime gemessen werden könne (Lijphart 1984: 2). Völlige Responsivität bildet für Lijphart also das normative Ideal von Demokratie. Damit positioniert er sich in der Trustee-Delegate-Kontroverse eindeutig auf Seiten der Delegate-Position.
2.2 Responsivität
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Sowohl der Repräsentierte als auch der Repräsentant müssen also ihre Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit wahren, dennoch muss der Wähler in some sense durch den Abgeordneten handeln – und dies ohne ernsthafte Konflikte. Das Konfliktpotential zwischen Wählern und Gewählten ist dabei für Pitkin konstitutiv für die Repräsentationsbeziehung: Konflikte müssen immer möglich sein, dürfen sich aber nicht häufig ereignen. Wenn sie doch vorkommen, muss der Repräsentant erklären können, warum die Wünsche der Repräsentierten nicht ihren eigentlichen Interessen entsprechen (Pitkin 1967: 155; 209f). Heinz Eulau et al. schließlich führen neben den beiden Typen Trustee und Delegate einen dritten Typ der Rollenorientierung eines Abgeordneten ein: Den Politico (Eulau et al. 1978: 119). Der Politico verhält sich entweder je nach Umständen mal als Trustee, mal als Delegate, oder er vereint Elemente beider Rollenmodell zu einem dritten Typ, der in der Mitte des Trustee-Delegate-Kontinuums anzusiedeln ist (Eulau et al. 1978: 119). Auch in der deutschen Responsivitätsforschung wird immer wieder implizit oder explizit auf die Trustee-Delegate-Kontroverse Bezug genommen und in der Regel eine mittlere Position vertreten. So stellt etwa Patzelt knapp fest: Responsivität und Führung wechseln ab, ergänzen und stützen einander (Patzelt 1991a: 174).
Diesen bisher zitierten Aussagen ist gemeinsam, dass sie jeweils für eine bestimmte Position innerhalb des Trustee-Delegate-Kontinuums plädieren, dass sie jeweils ein bestimmtes Maß an Übereinstimmung und Dissens zwischen Wählern und Gewählten für richtig halten. Dabei wird in den bisher zitierten Positionen nicht zwischen den unterschiedlichen Ebenen politischer Einstellungen unterschieden. Hier wählt Dietrich Herzog in seinem einflussreichen Aufsatz Was heißt und zu welchem Ende studiert man Repräsentation einen anderen Ansatz. Er unterscheidet, auf welcher Ebene politischer Einstellungen welches Maß an Kongruenz zwischen den Präferenzen der Wähler und denen der Gewählten sinnvoll ist. So kritisiert Herzog den Kongruenz-Diskongruenz-Ansatz vieler Responsivitätstheorien (Herzog 1989: 325). Diese den Arbeiten oft unausgesprochen zugrunde liegende normative Identitätstheorie unterstelle, dass eine möglichst hohe Übereinstimmung zwischen den Einstellungen der Wähler und Gewählten das Ideal von Repräsentation darstelle. Herzog zieht dieses Ideal in Zweifel: Könnte es nicht auch sein, dass es gar nicht der Sinn des parlamentarischen Repräsentativsystems ist, nur ‚die Wünsche der Wähler‘ zu erfüllen (…)? Könnte sein Sinn nicht auch darin liegen, ‚unpopuläre‘ Entscheidungen zu ermöglichen (…)? Natürlich können wir empirisch (…) die Einstellungen von Wählern und Abgeord-
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2 Forschungsstand
neten untersuchen und Auffassungskongruenzen oder –diskongruenzen herausfinden. Aber wie wir die Ergebnisse interpretieren sollen, bleibt beliebig, also auch theoretisch bedeutungslos (Herzog 1989: 324).
Der Kongruenz-Diskongruenz-Ansatz lasse sich allenfalls retten, wenn man nicht einzelne politische Issues, sondern Grundwerte analysiere, so Herzog. Denn Diskongruenzen auf dieser Ebene seien fundamental, erzeugten daher Misstrauen und könnten so die Steuerungsfähigkeit des politischen Systems beeinträchtigen (Herzog 1989: 325). Weßels betont ebenfalls die Bedeutung von Werteinstellungen von Wählern und Gewählten für den Prozess der politischen Repräsentation: Sie sagten etwas über die generellen Maßstäbe aus, mit denen und aus deren Perspektive die Akteure Situationen und Problemkonstellationen beurteilen (Weßels 1991: 334). An diesen Ansatz Herzogs soll in dieser Arbeit angeknüpft werden. Wie Herzog geht die Autorin davon aus, dass eine möglichst hohe Kongruenz der Einstellungen von Wählern und Gewählten nur auf der Ebene der grundlegenden Wertvorstellungen ein sinnvolles Ideal der Responsivitätsforschung darstellt. Auf der Ebene einzelner politischer Issues kann im Einzelfall immer argumentiert werden, dass die Durchsetzung unpopulärer Entscheidungen letztlich im Interesse der Wähler sei und daher ein eben so wichtiges oder noch wichtigeres Ziel als die direkte Erfüllung der Wünsche der Wähler darstelle. Da beide Ziele meines Erachtens mit repräsentativer Demokratie prinzipiell vereinbar sind, kann nicht abstrakt entschieden werden, welches Maß an Kongruenz bzw. Diskongruenz wünschenswert oder – wenn man im Rahmen von Zweck-MittelAussagen argumentieren möchte – für die Systemstabilität notwendig ist. Auf der Ebene der Grundwerte stellt sich dies nach Meinung der Autorin anders dar. Auf dieser Ebene befinden sich die im Sinne Max Webers letzten Wertaxiome, aus denen die Bewertung konkreter normativer Fragen abgeleitet wird. Ein Dissens auf der Ebene der Grundwerte kann also zu unterschiedlichen Bewertungen bei zahlreichen Einzelfragen führen. Zudem dürfte ein Konflikt zwischen Wählern und Gewählten auf dieser Ebene als besonders schwerwiegend empfunden werden, da es hier um grundlegende politische Richtungsentscheidungen geht, die auch in der Regel nicht mit einem unterschiedlichen Kenntnisstand von Wählern und Gewählten begründbar sein dürften: Während beispielsweise unterschiedliche Bewertungen bei der Frage nach dem politischen Issue „Gesundheitsprämie oder Bürgerversicherung?“ auch stark davon abhängen dürften, welche Kenntnisse man über die Realisierbarkeit und Folgen dieser Reformansätze im Gesundheitssystem hat, solche Wertentscheidungen also, wie Hans Albert sagt, mit sachlichen Überzeugungen verwachsen sind (Albert 1991: 93), so dürften auf der Ebene der Grundwerte, z. B. bei der Frage „Freiheit oder
2.2 Responsivität
95
Gleichheit?“, unterschiedliche Einstellungen zwischen Wählern und Gewählten kaum mit unterschiedlichen Kenntnisständen begründbar sein. Ein Konflikt auf dieser Ebene legt nahe, dass fundamental unterschiedliche Vorstellungen über das „politisch Gute“ bestehen. Solche fundamentalen Konflikte können leicht dazu führen, dass das politische System als Ganzes in Frage gestellt wird. Daher ist es nach Meinung der Autorin plausibel anzunehmen, dass auf der Ebene der Grundwerte eine möglichst hohe Kongruenz zwischen Wählern und Gewählten für die Systemstabilität von entscheidender Bedeutung ist. Einstellungen zu Verteilungsprinzipien im Wohlfahrtsstaat, die in dieser Arbeit untersucht werden sollen, gehören offenkundig zu der Ebene der Grundwerte. Denn diese Einstellungen sind prinzipielle Aussagen darüber, unter welchen Voraussetzungen die Verteilung von Gütern als gerecht empfunden wird. Die Frage aber, was gerecht ist, ist mit Sicherheit eine der grundlegendsten der politischen Philosophie überhaupt und beschäftigt die abendländische Philosophie spätestens seit Platon. Eine Kongruenz der Einstellungen in dieser Frage von Wählern und Gewählten ist daher für die Stabilität des politischen Systems von besonderer Wichtigkeit. Man kann dies auch anders ausdrücken: Verteilungsprinzipien gehören zur Ordnungsebene des politischen Systems. Während in der Bundesrepublik Deutschland auf der Systemebene (Welcher politische Systemtyp?) nach wie vor ein breiter Konsens sowohl innerhalb der Eliten als auch zwischen Eliten und Bürgern zu konstatieren ist, bröckelt der Konsens auf der Ordnungsebene (Welche Konfiguration des Systemtyps? Insbesondere: Welche Reichweite des Politischen?) (Welzel 1998: 240). Seit Ende der 70er Jahre ist in Deutschland eine im angelsächsischen Raum wurzelnde ordnungspolitische Debatte über das Aufgabenvolumen des modernen Staates festzustellen. Welzel stellt hierzu fest: Der Wettbewerb zwischen politischen Strukturmodellen hat sich demzufolge von der System- auf die Ordnungsebene verlagert (Welzel 1998: 240).
Ein möglichst hoher Konsens auf der ordnungspolitischen Ebene sei daher für die Systemstabilität bedeutsam (Welzel 1998: 241). Ohne den Begriff zu verwenden ist damit die Bedeutung einer möglichst hohen Responsivität der Politik gegenüber den Bürgern auf der Ebene der Grundwerte beschrieben. Responsivität soll also für diese Arbeit definiert werden als: [Definition Responsivität]: Die Übereinstimmung der Einstellungen von Repräsentanten und Repräsentierten auf der Ebene der Grundwerte. Da in dieser Arbeit entgegen klassischer Ansätze nicht die Responsivität von Abgeordneten gegenüber allen oder den eigenen Wählern im Mittelpunkt steht, sondern die Responsivität von Abgeordneten gegenüber ihrer eigenen Partei-
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2 Forschungsstand
basis, kann als Unterfall der generellen Definition und als weitere Spezifizierung Responsivität für diese Arbeit auch definiert werden als: [Definition Partei-Responsivität]: Die Übereinstimmung der Einstellungen von Abgeordneten und deren Parteimitgliedern auf der Ebene der Grundwerte.
2.2.1.2 Das Pionierwerk: Das Kongruenz-Modell von Miller/Stokes More evidence is needed on matters so fundamental to our system (Miller/Stokes 1963: 46),
fordern die beiden Forscher des Survey Research Centers der Universität Michigan, Warren E. Miller und Donald E. Stokes. Die fundamentale Frage der beiden Forscher lautet, welches Modell von Repräsentation in den Vereinigten Staaten praktiziert wird. Hierfür befragten sie nach den Kongresswahlen 1958 1517 Bürger aus 116 Kongressdistrikten zu ihren Einstellungen zu bestimmten Themen. Diese Einstellungen verglichen sie mit ebenfalls in Interviews erfragten Einstellungen und dem Abstimmungsverhalten der Abgeordneten in namentlichen Abstimmungen (Miller/Stokes 1963: 46f). Als unabhängige Variable fungieren im Forschungsdesign Miller/Stokes’ also die Einstellungen der Bürger, als abhängige das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten. Den Grad an Kongruenz zwischen abhängiger und unabhängiger Variable messen Miller/Stokes mit dem Korrelationskoeffizienten (Miller/Stokes 1963: 49, Anm. 10). Miller/Stokes unterschieden hierbei drei Modelle von Repräsentation: Neben den die beiden Pole der Trustee-Delegate-Kontroverse markierenden Modellen des Instructed Delegates und des Trustees führen Miller/Stokes auch noch das Responsible-Party-Modell ein. In diesem Modell findet Repräsentation durch politische Parteien statt. Wie im Instructed-Delegate-Modell wird also auch in diesem Modell der Abgeordnete durch die Öffentlichkeit kontrolliert – allerdings, so Miller/Stokes, nicht durch die Öffentlichkeit seines Wahlkreises, sondern durch eine nationale Öffentlichkeit. Denn im Responsible-Party-Modell sei das nationale Parteiprogramm für die Entscheidung der Wähler maßgeblich, die Bedeutung der Wahlkreise sei auf die Frage reduziert, welche Partei für ihr nationales Programm in diesem Distrikt eine Mehrheit und damit einen Sitz im Parlament holen könne (Miller/Stokes 1963: 45). In den Vereinigten Staaten könnten Elemente aller drei Repräsentationsmodelle nachgewiesen werden. Die Frage sei nun, so Miller/Stokes, ob in der politischen Praxis der Abgeordnete jeweils ein Repräsentationsmodell lebe oder ob dies themenabhängig variiere.
2.2 Responsivität
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Ein Problem hierbei sei, dass die Vorstellung, der Wähler schaue seinem Abgeordneten wie ein Kibitzer über die Schulter und beurteile dabei sachkundig jeden Schritt des Abgeordneten, völlig unrealistisch sei: Far from looking over the shoulder of their Congressmen at the legislative game, most Americans are almost totally uninformed about legislative issues in Washington (Miller/Stokes 1963: 47).
Stattdessen hätten die Wähler lediglich eine general conception, etwa darüber, wie viel soziale Wohlfahrt ein Staat garantieren müsse. Auch Abgeordnete verfügten über solche general conceptions und orientierten sich in ihrem Abstimmungsverhalten daran. Auf dieser Ebene sei ein Vergleich zwischen Bürgern und Abgeordneten möglich (Miller/Stokes 1963: 47f). Daher wählen Miller/Stokes drei Themen aus, bei denen diese general conceptions zum Tragen kämen und die die bedeutendsten Themen im Kongress in den letzten Jahren gewesen seien: Sozial- und Außenpolitik sowie die Frage der Bürgerrechte. Für diese drei Themen stellen Miller/Stokes nun Rankings auf: Sowohl die Abgeordneten werden nach ihrem jeweiligen Abstimmungsverhalten und ihren Einstellungen, als auch die Wahlkreise nach den durchschnittlichen Einstellungen ihrer Bürger gerankt. Beim Vergleich dieser beiden Rankinglisten zeigen sich unterschiedliche Grade an Übereinstimmung zwischen Bürger und Abgeordneten: Während im Bereich der Bürgerrechte die Korrelation mit 0,6 recht hoch ist, beträgt sie bei der Sozialpolitik nur 0,3 und ist bei der Außenpolitik mit -0,09 nicht vorhanden (Miller/Stokes 1963: 48f). Miller/Stokes untersuchen nun, wie diese unterschiedliche Übereinstimmung zwischen Bürgern und Abgeordneten entsteht. Dabei unterscheiden sie prinzipiell zwei Pfade, wie der Wahlkreis den Abgeordneten kontrollieren kann. Zum einen sei es möglich, dass in einem Wahlkreis ein Abgeordneter gewählt werde, der wesentliche Einstellungen seiner Wähler teile – etwa auf Grund ähnlicher soziodemographischer Merkmale wie seine Wähler – und daher quasi automatisch im Sinne seiner Wähler handelt, wenn er seinen eigenen Einstellungen folgt33. Zum anderen sei es möglich, dass der Abgeordnete sich bewusst responsiv verhalte, um seine Wiederwahl zu sichern. In diesem Fall versuche er, sich so zu verhalten, wie es nach seiner Wahrnehmung dem Mehrheitswillen seiner Wähler entspricht. In diesem Fall seien es also die Perzeptionen des Abgeordneten über die Einstellungen seiner Wähler, die für ihn handlungsleitend 33
Ein solcher Abgeordneter agiert zwar als Trustee, orientiert sich also an seinen eigenen politischen Überzeugungen, verhält sich aber dennoch de facto responsiv. Die faktische Responsivität eines Trustees hängt also nicht von dessen Rollenorientierung ab, sondern von der Korrelation seiner Einstellungen und der Einstellungen der Bürger (Thomassen 1991: 261).
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2 Forschungsstand
seien. Daher führen Miller/Stokes zwei intervenierende Variablen ein, mit denen die Bedeutung dieser beiden Pfade der politischen Kontrolle gemessen werden sollen: Die Einstellungen und die Perzeptionen der Abgeordneten (Miller/Stokes 1963: 50f). Die Perzeptionen des Abgeordneten (v. lat. percipere: wahrnehmen) spielen im Forschungsdesign Miller/Stokes und in allen daran anknüpfenden Arbeiten eine zentrale Rolle. Sie sind zwischen dem Willen der Wähler und dem Abstimmungsverhalten bzw. im europäischen Kontext den Einstellungen des Abgeordneten „zwischengeschaltet“. Dies ist unmittelbar einleuchtend, denn auch ein Abgeordneter, der sich rein als Delegate versteht, der sich also lediglich als Überbringer der Entscheidungen seiner Wähler sieht, auch ein solcher Abgeordneter kann den Willen seiner Wähler nicht unmittelbar umsetzen. Denn ein Abgeordneter kann rein praktisch niemals mit allen seinen Wählern sprechen und ihre Positionen zu allen möglichen Themen abfragen. Auch bestimmte Verfahren zur Ermittlung des Wählerwillens in einzelnen Sachfragen, z. B. Meinungsumfragen, sind immer mit methodisch bedingten Unsicherheiten behaftet, können daher nur Anhaltspunkte, keine Sicherheit über den tatsächlichen Wählerwillen liefern. Letztlich muss sich also jeder Abgeordneter, der sich am (mehrheitlichen) Willen seiner Wähler orientieren möchte, auf seine Wahrnehmungen verlassen, wie dieser Wille aussieht34.
34
Wessen Willen der Abgeordnete dabei perzipiert, lässt sich nicht pauschal beantworten. So fragt Richard F. Fenno: What does an elected representative see when he or she sees a constituency? und antwortet: Konzentrische Kreise (Fenno 1977: 883). Abhängig von seiner Rollenorientierung verenge sich der Blick des Abgeordneten von einer unbestimmten Wahrnehmung des Wahlkreises als geographisches Gebilde über seine eigenen Anhänger auf solche Wähler, die ihn auch in den Vorwahlen, den Primaries, unterstützen bis hin zu seinem persönlichen Umfeld (Fenno 1977: 883-889). Entsprechend variieren in der Responsivitätsforschung auch die Forschungsdesigns dahingehend, welcher Gruppe gegenüber (Bevölkerung, Parteianhänger, Parteimitglieder etc.) die Responsivität eines Abgeordneten bzw. seine Perzeptionen gemessen werden. Diese Entscheidung hängt in der Regel von theoretischen und empirisch gestützten Vorüberlegungen bei der Hypothesengenerierung ab, so wie in dieser Arbeit an das Responsible-party-Modell anknüpfend die Responsivität und damit auch die Perzeptionen der Bundestagsabgeordneten gegenüber ihren Parteimitgliedern im Vordergrund stehen.
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2.2 Responsivität
Abbildung 1: Connections between a constituency's attitude and its Representatives roll call behaviour (Miller/Stokes 1963: 50)
Representative’s Attitude
Constituency’s Attitude
Representative’s Roll Call Behavior Representative’s Perception of Constituency’s Attitude
Damit ergibt sich ein komplexes Modell des Zusammenhangs zwischen Einstellungen der Bürger und Abstimmungsverhalten der Abgeordneten sowie der beiden intervenierenden Variablen Perzeptionen und Einstellungen der Abgeordnen. Beide intervenierenden Variablen zusammengenommen erlauben eine relativ gute Vorhersage des Abstimmungsverhaltens des Abgeordneten: So beträgt die Korrelation zwischen den beiden zusammengenommenen intervenierenden Variablen Perzeptionen und Einstellungen des Abgeordneten und dem Abstimmungsverhalten im Bereich der Sozialpolitik 0,7, bei der Außenpolitik 0,6 und bei den Bürgerrechten 0,9. Allerdings, so Miller/Stokes, gebe es auch andere Einflüsse, denen Abgeordnete ausgesetzt seien. So orientierten sich beispielsweise im Bereich der Außenpolitik, bei der der Zusammenhang zwischen Perzeptionen und Überzeugungen des Abgeordneten und Abstimmungsverhalten am schwächsten ist, viele Abgeordnete an der Meinung der Regierung, unabhängig davon, was sie selbst oder ihre Wähler denken (Miller/Stokes 1963: 51). Generell kann man aber festhalten, dass der Einfluss der beiden intervenierenden Variablen hoch bis sehr hoch ist. Dies ist aber noch nicht hinreichend für einen effektiven Einfluss der Wähler, hierfür müssen die Einstellungen und Perzeptionen der Abgeordneten auch mit den tatsächlichen Einstellungen der Bürger übereinstimmen – je nach dem, welche intervenierende Variable eher mit den Einstellungen der Bürger korreliert, ist dies dann ein Hinweis auf die Dominanz einer der beiden von Miller/Stokes beschriebenen Pfade der Kontrolle von Ab-
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2 Forschungsstand
geordneten. Um diese Frage nach dem dominanten Modell von Repräsentation zu beantworten, betrachten die Autoren die Übereinstimmung zwischen den Einstellungen der Bürger und den beiden intervenierenden Variablen isoliert. Es zeigt sich, dass bei den unterschiedlichen Themen der Zusammenhang zwischen den Einstellungen der Bürger und den beiden intervenierenden Variablen insgesamt deutlich schwächer ausgeprägt ist als zwischen den intervenierenden Variablen und dem Abstimmungsverhalten des Abgeordneten. So ist nur im Bereich der Bürgerrechte ein deutlicher Zusammenhang zwischen Perzeptionen des Abgeordneten und Einstellungen der Bürger (0,63) bzw. zwischen den Einstellungen des Abgeordneten und den Einstellungen der Bürger (0,39) gegeben. Bei der Außenpolitik ist ein Zusammenhang zwischen Einstellungen der Bürger und Einstellungen des Abgeordneten oder Perzeptionen nicht nachweisbar. Bei diesem Thema vertreten die Abgeordneten also weder die gleichen Einstellungen wie die Bürger, noch können sie die Sicht der Bürger richtig einschätzen. Im Bereich der Sozialpolitik ist der Zusammenhang zwischen den intervenierenden Variablen und den Einstellungen der Bürger ebenfalls schwach ausgeprägt. Dieser wird aber stärker, wenn man die Einstellungen der Mehrheit der Bürger und die Einstellungen und Perzeptionen der Abgeordneten vergleicht (Miller/Stokes 1963: 52). Vor allem aber wird deutlich, dass auch die Pfade der Kontrolle des Abgeordneten themenabhängig variieren. So findet im Bereich der Sozialpolitik die Kontrolle des Abgeordneten eher über eine stärkere Korrelation zwischen Einstellungen des Abgeordneten und Einstellungen der Bürger statt. Im Bereich der Bürgerrechte hingegen werden die Abgeordneten eher über den Pfad der Perzeptionen kontrolliert. Ob überhaupt und über welchen Pfad also die Kontrolle des Abgeordneten durch die Bürger geschieht hängt vom politischen Thema ab – so lässt sich ein wichtiges Ergebnis Miller/Stokes’ zusammenfassen. Im Bereich der Bürgerrechte dominiere das Modell des Instructed Delegate. Nur bei diesem Thema verhalte sich der Abgeordnete wirklich responsiv, gebe es eine starke Korrelation zwischen den Perzeptionen des Abgeordneten und den tatsächlichen Einstellungen der Bürger. Bei der Sozialpolitik hingegen herrsche das Responsible-Party-Modell vor. Hier gäbe es deutliche programmatische Unterschiede zwischen Demokraten und Republikanern, die Abgeordneten verstünden sich hier in erster Linie als Repräsentanten der jeweiligen Anhänger ihrer eigenen Partei. Der Bereich der Außenpolitik lasse sich jedoch nicht einfach dem Trustee-Modell Edmund Burkes zuordnen. Zwar orientiere sich der Abgeordnete hier offenkundig nicht am Willen der Bürger seines Wahlkreises, doch entscheide er auch nicht eigenverantwortlich, sondern lasse sich bei diesem Thema stark von der Regierung beeinflussen.
2.2 Responsivität
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Zusammenfassend beantworten die Autoren also ihre Ausgangsfrage: Das amerikanische System ist nicht nur eine Mischung aus dem Burkeschen Trustee-, dem Instructed-Delegate- und dem Responsible-Party-Modell, sondern diese Repräsentationsmodelle variieren auch je nach Thema: No single, generalized configuration of attitudes and perceptions links Representative with constituency but rather several distinct patterns, and which of them is invoked depends very much of the issue involved (Miller/Stokes 1963: 56).
2.2.1.3 Miller/Stokes im westeuropäischen Kontext Das Forschungsdesign von Miller/Stokes erwies sich als ausgesprochen einflussreich. Ab Ende der Sechziger Jahre übertrugen zahlreiche Autoren den Miller/Stokes-Ansatz teilweise oder vollständig auf westeuropäische parlamentarische Demokratien (vgl. etwa für Österreich Powell/Powell 1978; für Frankreich Converse/Pierce 1986; für Schweden Holmberg 1991). Für Westdeutschland unternahm diesen Versuch 1980 Barbara Farah. Sie befragte nach der Bundestagswahl 1969 knapp 4000 über die Einwohnermeldekartei zufällig ausgewählte Bürger, die in 194 der damals 248 Wahlkreise lebten, und die jeweiligen Wahlkreisabgeordneten (Farah 1980: 44f). Abgefragt wurden die Einstellungen zu politisch umstrittenen Issues wie der Westbindung Deutschlands, der Gerechtigkeit der Einkommensverteilung oder der Chancengleichheit des Bildungssystems (Farah 1980: 79). In einem ersten Schritt vergleicht Farah die Einstellungen der Abgeordneten mit denen ihrer Parteiwähler und stellt dabei eine mittlere bis hohe Kongruenz fest: Während Wähler und Abgeordnete der CDU am meisten in ihren Bewertungen übereinstimmen, ist die Differenz bei FDP- und SPDWählern und -Abgeordneten deutlich größer (Farah 1980: 89). In einem zweiten Schritt überträgt Farah das Forschungsdesign Miller/Stokes’ direkt auf die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik Deutschland. Da es im Sechsten Deutschen Bundestag, während dem die Studie entstanden ist, jedoch keine namentlichen Abstimmungen gab, die bei Miller/Stokes die abhängige Variable darstellen, bildet Farah einen Ersatzwert für das Abstimmungsverhalten. Hierfür definiert sie das Abstimmungsverhalten als parteispezifisch: CDU-Abgeordnete erhalten den Wert 0, SPD-Abgeordnete den Wert 1 und FDP-Abgeordnete den Wert 0,5. Dieser Wert wird von Farah als Ersatz für das Abstimmungsverhalten als abhängige Variable verwendet (Farah 1980: 131) 35. 35
Dieses Vorgehen wird in der Literatur entschieden kritisiert. So schreibt Thomassen, dass nach dieser Operationalisierung Farahs ein Abweichen von der Parteilinie per definitionem unmög-
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2 Forschungsstand
Bei der Untersuchung der Responsivität der Abgeordneten kommt Farah nun zu einem durchweg negativem Ergebnis: So zeige sich bei fünf von sechs untersuchten Issues keine Korrelation zwischen den Einstellungen der Wähler und dem von Farah konstruierten Wert für das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten (Farah 1980: 150). In einer weiteren Testreihe erweise sich der Zusammenhang sogar als teilweise negativ (Farah 1980: 154). Da der Zusammenhang zwischen den Einstellungen des Abgeordneten und dem konstruierten Wert für das Abstimmungsverhalten durchgehend stärker ist als die anderen Korrelationen, folgert Farah, dass sich die Abgeordneten der Bundesrepublik Deutschland am ehesten dem Burkeschen Trustee-Modell entsprechend verhielten (Farah 1980: 158f). Wegen der generell niedrigen Korrelationen stellt Farah dennoch etwas ratlos fest: The initial testing of the representation model seems to raise more questions than it answers (Farah 1980: 160).
Diese Unfruchtbarkeit des Forschungsdesigns Miller/Stokes’ wird in der Literatur darauf zurückgeführt, dass das für das präsidentielle amerikanische Regierungssystem konzipierte Modell für parlamentarische Systeme nur bedingt tauge. Es sei nicht eins zu eins auf Europa übertragbar. Dies liege vor allem daran, dass das Verhalten des Abgeordneten bei namentlichen Abstimmungen keine geeignete abhängige Variable sei und auch der von Farah konstruierte Ersatzwert hier keine Abhilfe schaffen könne. Denn im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, in denen die Parteiendisziplin auf Grund der Unabhängigkeit der Regierung vom Parlament relativ schwach ausgeprägt ist, ist ein einheitliches Abstimmungsverhalten nach Parteizugehörigkeit in parlamentarischen Demokratien an der Tagesordnung (Powell/Powell 1986: 552f; Thomassen 1991: 268; Brettschneider 1995: 71). Das heißt, dass die Varianz im Abstimmungsverhalten der Abgeordneten westeuropäischer Parlamente fast vollständig durch ihre Parteizugehörigkeit erklärt werden kann. Ein solches Ergebnis ist aber nicht sonderlich aufschlussreich und sagt vor allem noch nichts über die Kernfrage der Responsivitätsforschung aus, welchen Einfluss die Wähler auf die Abgeordneten ausüben. Russel J. Dalton bringt dies prägnant auf den Punkt:
lich ist, wo doch gerade dies als Indikator für Responsivität gelten kann. Daher zweifelt Thomassen an dem Erkenntniswert des Farahschen Forschungsdesigns: I don’t see what a positive correlation would say more than that CDU-oriented districts tend to agree more with CDU-policy than SPD-oriented districts (Thomassen 1991: 269). Zur weiteren Kritik an diesem Vorgehen Farahs vergleiche: Walter 1997: 102-104.
2.2 Responsivität
103
When a party votes as a united bloc, it makes little sense to discuss the voting patterns of individual legislators (Dalton 1985: 270).
Daher plädieren die meisten Autoren dafür, bei der Untersuchung parlamentarischer Systeme nicht das Abstimmungsverhalten, sondern die Einstellungen der Abgeordneten zur abhängigen Variable zu machen (Weßels 1991: 334; Walter 2002: 14). Die Perzeptionen des Abgeordneten bleiben dann die oder eine entscheidende intervenierende Variable (Walter 1997: 124f). Auf dieser Ebene ist dann ein Vergleich der Einstellungen der Wähler und der Abgeordneten möglich. Ein weiteres Problem bei der Übertragung des Forschungsdesigns Miller/Stokes’ auf parlamentarische Demokratien besteht in der Konzentration der beiden Forscher auf die Beziehung zwischen Wahlkreis und dem einzelnen Abgeordneten. In der Literatur besteht weitgehend Einigkeit, dass diese Analyseeinheit zumindest für westeuropäische Demokratien nicht geeignet sei. Für die Vereinigten Staaten verteidigt Walter das Vorgehen Miller/Stokes’: Hier würden die Abgeordneten nicht von ihren Parteien nominiert, sondern müssten sich in ihren Distrikten in sog. Primaries durchsetzen. Daher verhielten sich die amerikanischen Abgeordneten auch während der Legislaturperiode vor allem gegenüber ihren Wahlkreisen responsiv – und seien auf Grund der geringen Parteidisziplin dazu auch in der Lage (Walter 1997: 98f). Auch Dalton hält den Ansatz, den einzelnen Abgeordneten als Analyseeinheit zu betrachten, für allenfalls dem amerikanischen System angemessen. In allen parlamentarischen Systemen sei dies eine unangemessene Beschreibung des Repräsentationsprozesses (Dalton 1985: 269). Andere Autoren hingegen kritisieren diesen Ansatz grundsätzlich. Wahlkreise seien ausgesprochen heterogen, es sei methodisch unsinnig, hier eine durchschnittliche politische Einstellung „des Wahlkreises“ ermitteln zu wollen (Thomassen 1991: 270-272). Die Heterogenität eines Wahlkreises könne daher auch nicht durch eine einzelne Person repräsentiert werden (Hoffmann-Lange 1991: 277). Auch Hanna Pitkin stellt fest: It would be rather awkward to think of a single, isolated representative as a picture or map or even sample of his constituency, although he might be said to ‚mirror‘ or ‚reflect‘ it (Pitkin 1967: 75).
Thomassen plädiert daher dafür, nicht die Übereinstimmung der Charakteristika eines Abgeordneten mit denen einer bestimmten Gruppe an Wählern, etwa denen seines Wahlkreises, zu betrachten, sondern diese Merkmale aller Wähler mit denen aller Abgeordneten zu vergleichen – wenn man überhaupt an der Vorstellung festhalten möchte, dass das Parlament ein Mikrokosmos der Wähler sein solle (Thomassen 1991: 271).
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2 Forschungsstand
Eng mit diesem Argument, dass ein einzelner Abgeordneter gar nicht in der Lage sei, die heterogenen Interessen der Bürger seines Wahlkreises zu vertreten, ist ein weiterer Einwand verknüpft: Auch de facto versuchten die meisten Abgeordneten gar nicht, die Interessen ihres Wahlkreises zu vertreten, sondern orientierten sich hauptsächlich an der Linie ihrer Partei. Damit korrespondiere, dass auch die Wähler die Parteizugehörigkeit eines Kandidaten erheblich höher gewichteten als dessen Persönlichkeit (Hoffmann-Lange 1991: 277). Entsprechend müsse die hohe Parteidisziplin der Abgeordneten in parlamentarischen Systemen auch nicht dazu führen, dass diese Abgeordneten fortwährend gegen die Auffassung der Mehrheit der Bürger ihres Wahlkreises votierten. Vielmehr habe sich mindestens die relative Mehrheit jedes Wahlkreises bei der Wahl ihres Abgeordneten für eine Partei entschieden. Orientiert sich nun der Abgeordnete an dieser Parteilinie, so handelt er automatisch im Sinne der Mehrheit seines Wahlkreises (Thomassen 1991: 268). Bei der Übertragung des Forschungsdesigns Miller/Stokes’ auf parlamentarische Systeme werden also in der Regel sowohl die abhängige Variable als auch die Analyseeinheit modifiziert. Beiden Anpassungen liegt ein gemeinsamer Gedanke zu Grunde: In Westeuropa spielen die Parteien eine herausragende Rolle, sie sind das Bindeglied zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, durch sie wird Responsivität hergestellt. Daher besteht in der Literatur auch große Einigkeit, dass von den drei von Miller/Stokes untersuchten Modellen von Repräsentation für Westeuropa per se nur das Responsible-Party-Modell in Frage kommt (Dalton 1985: 269; Thomassen 1991: 266; Hoffmann-Lange 1991: 277; Weßels 1991: 356; Walter 2002: 12; Dalton 2002: 223). Das Responsible-Party-Modell basiert auf dem Grundgedanken, dass es nicht auf die Responsivität einzelner Kandidaten ankommt, sondern auf die Responsivität von Parteien. Parteien – und nicht einzelne Persönlichkeiten – stehen in parlamentarischen Regierungssystemen in erster Linie zur Wahl und müssen sich daher, um ihre Wahlchancen zu wahren, responsiv verhalten (Walter 2002: 6f).36 Das heißt, dass Parteien mit bestimmten Programmen zur Wahl antreten und im Falle eines Wahlsieges bei der nächsten Wahl Rechenschaft darüber ablegen müssen, inwiefern sie ihr Parteiprogramm umgesetzt haben. Auf diese Weise spielen Parteien eine mediating role between the public and its government (Stokes/Miller 1971: 482).
36
Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Gerhard Leibholz geht in diesem Zusammenhang so weit, dass er die faktische Geltung von Art. 38 des Grundgesetzes anzweifelt und daher umformuliert: In ihr [der parteienstaatlichen Demokratie, KK] sind nicht die Abgeordneten, sondern die Parteien in ihren Entschließungen frei und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden (Leibholz 1966: 228).
2.2 Responsivität
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John C. Wahlke nennt drei Bedingungen für das Funktionieren des ResponsibleParty-Modells: Erstens müsse es ein Parteiprogramm geben und dieses müsse den Wählern bekannt sein. Zweitens müssten sich die Repräsentanten an diesem Programm orientieren. Und drittens müssten die Wähler Kandidaten für politische Ämter mit Parteiprogrammen identifizieren und ihre Wahl daran ausrichten (Wahlke 1978: 76). Nicht die Kandidaten stehen also bei Wahlen im Mittelpunkt, sondern die Evaluation der bisherigen und angekündigten Arbeit der politischen Parteien. Da die Parteien wiederum großen Einfluss auf das parlamentarische Handeln ihrer Fraktionen haben, die die Regierung kontrollieren, übt der Wähler so bei seiner Wahl auch indirekten Einfluss auf das Regierungshandeln aus. Dalton fasst diese Linkage-Funktion der Parteien prägnant zusammen: Rather than individual legislators serving as the linkage between public opinion and policymaking, parties provide this linkage mechanism (Dalton 1985: 271).
Parteien werden also durch Wahlen zur Responsivität gezwungen und sichern so den Einfluss des Wählers auf die Abgeordneten und das Regierungshandeln – so lautet die Grundannahme des Responsible-Party-Modells. Wie dieser Prozess in der (west)deutschen Parlamentspraxis genau aussieht, hat Werner J. Patzelt an Hand von 54 1989 durchgeführten qualitativen Interviews mit bayerischen Landes-, Bundes- und Europaparlamentariern herausgearbeitet.37 So sei die normativ eingängige Vorstellung, dass der Bürger in der direkten Kommunikation dem Abgeordneten wichtige Impulse für seine Arbeit liefere, nicht realistisch. Die meisten Bürger, so Patzelt, hätten nicht das Interesse und verfügten nicht über das Wissen, um dem Parlamentarier in effektiver Weise politische Impulse geben zu können. Vielmehr kommunizierten und interagierten Repräsentanten und Repräsentierte in modernen repräsentativen Systemen im und über das Netzwerk der Parteien (Patzelt 1991a: 177). Entgegen der oft erhobenen Forderung nach einer Trennung von Amt und Mandat sei dabei die Tatsache, dass fast alle Abgeordnete auch wichtige Parteiämter innehätten, somit ein Parlament de facto auch eine Versammlung von Parteiführern sei, ein Garant für die Responsivität des Regierungshandeln. Denn mehr noch als Inhaber von Staatsämtern seien Parteien auf Grund der regelmäßig 37
Auch auf der kommunalen Ebene spielen die Parteien eine wesentliche Rolle. So stellt KarlHeinz Naßmacher fest: Der einzelne Stadtverordnete repräsentiert nicht die Bevölkerung seines Wahlbezirks, nicht die soziale Gruppe, der er angehört, sondern seine Partei (Naßmacher 1973: 565). Dabei könne er zwar seine eigentliche Aufgabe, die Kontrolle der Kommunalverwaltung, nur bedingt erfüllen. Er erfülle aber die wesentliche Aufgabe, …die Parteien als Inhaber einer durch regelmäßige Wahlen konstituierten und manifestierten Legitimationsbasis zu personifizieren (Naßmacher 1973: 565). Damit trage der Stadtverordnete zur Systemstabilität der kommunalen Selbstverwaltung bei.
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2 Forschungsstand
stattfindenden Wahlen zur Responsivität gezwungen. Insofern sei es gerade die Verbindung von Amt und Mandat, die Responsivität sichere: Die rechtliche Sicherung eines freien Mandats ist demokratietheoretisch nur solange erträglich, wie dessen Inhaber sich allenfalls als Parlamentarier, keinesfalls aber als Parteiführer – und folglich wegen solcher Personalunion überhaupt nicht – dem Wünschen und Impulsen aus der Wählerschaft entziehen kann. Genau dies ist der tiefere und wichtige Sinn der Verbindung von Parteiamt und parlamentarischem Mandat, die unterbinden zu wollen darum weder praktisch sinnvoll noch normativ anzustreben ist (Patzelt 1995: 147).
Dieses Modell funktioniert aber nur, wenn die Abgeordneten – oder auch die Parteiführer – auch gegenüber ihrer eigenen Parteibasis responsiv sind, wenn sie sich also innerparteilich responsiv verhalten. Denn die Parteibasis nimmt die eigentliche Scharnierfunktion zwischen parteiungebundenen Bürgern und mittleren oder höheren Parteifunktionären und Mandatsträgern wahr: Aktive Parteimitglieder kommen regelmäßig mit beiden Gruppen in Berührung. In ihrem eigenen Berufs- und Privatleben, am Wahlkampfstand und in Bürgerversammlungen diskutieren sie mit potentiellen Wählern, bei Parteivorstandssitzungen und Parteitagen tragen sie den Amts- und Mandatsträgern vor, wie „die Menschen vor Ort“ bestimmte politische Themen sehen.38 Diese Scharnierfunktion der aktiven Parteimitglieder wird auch in der allerdings aus dem Jahr 1977 stammenden internen Mitgliederstudie der CDU gestützt: So hatten nach dieser Erhebung etwa 70% der CDU-Bundestags-abgeordneten wenigstens einmal in der Woche Kontakt zur Kreis- und zur Ortsebene der Par38
Zumindest was Wahlkämpfe angeht, ist die Bedeutung der Parteimitglieder für die Außendarstellung der Partei allerdings umstritten. Viele Autoren vertreten die Auffassung, dass im Zuge der Modernisierung von Wahlkämpfen in Deutschland die Politikvermittlung durch die Medien wichtiger geworden sei als durch die wahlkämpfenden Parteimitglieder (vgl. etwa: Niedermayer 2000: 194-196; Holtz-Bacha 2002: 51). Andere Autoren hingegen kritisieren diese These, sie zeuge von einer eklatanten Unkenntnis der Organisationswirklichkeit der Parteien und des tatsächlichen Wahlkampfgeschehens (Wiesendahl 2006: 117). Nach wie vor spiele die Parteiorganisation bei Wahlkämpfen in Westeuropa eine wichtigere Rolle als die Medien (Plasser 2000: 57). Diese Frage kann in dieser Arbeit nicht abschließend entschieden werden. In Hinblick auf das Untersuchungsdesign dieser Arbeit, in der die Responsivität der überwiegend einfachen Abgeordneten gegenüber ihrer Parteibasis untersucht wird, erscheint der Autorin aber die zweite These als plausibler: Da der einfache Abgeordnete in der Regel nur in seinen lokalen Zeitungen, selten oder nie aber im Radio oder Fernsehen erwähnt wird oder auftritt, dürfte für ihn auch in Wahlkämpfen die Bedeutung der Aktivitäten seiner Parteibasis größer sein als die seiner medialen Präsenz. Daher erscheint es vertretbar anzunehmen, dass zumindest für den einfachen Abgeordneten die Bedeutung seiner Parteibasis auch bei der Außendarstellung seiner Politik außerordentlich hoch ist.
2.2 Responsivität
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tei, gleichzeitig stellten die Abgeordneten für die Mitglieder die wichtigste Verbindung zur Landes- oder Bundesebene dar (Falke 1982: 186-191). Auch Weßels zeigt 1991, dass der Kontakt zur eigenen lokalen Partei bei Abgeordneten aller Fraktionen die häufigste Kontaktform mit dem Wahlkreis darstellt, also öfter vorkommt als der Kontakt mit Bürgern, Behörden, Unternehmen oder Journalisten im Wahlkreis. CDU-Abgeordnete haben im Schnitt 46,5-mal jährlich Kontakt zu ihrer eigenen Parteibasis im Wahlkreis (Weßels 1991: 350). Der CDUMitgliederstudie aus dem Jahr 1997 ist zu entnehmen, dass 32% aller Parteimitglieder regelmäßig Kontakt mit ihrem Bundestagsabgeordneten haben, unter den aktiven Parteimitgliedern ist dieser Anteil noch deutlich höher (Bürklin/Neu/ Veen 1997: 56). Es erscheint daher meines Erachtens plausibel, die Annahmen des Responsible-Party-Modells dahingehend zu präzisieren, dass die Funktion der Responsivitätssicherung der Parteien auch zum großen Teil darauf beruht, dass die Parteimitglieder zwischen parteilosen Wählern und Parlamentariern vermitteln. Auch Patzelt argumentiert in diesem Sinne, dass eine enge Rückkopplung der Abgeordneten an die Parteibasis von großer Bedeutung sei, damit die Abgeordneten nicht auf Positionen verharrten, die die Gesamtpartei nicht mittragen könne. Die Partei wiederum müsse versuchen, ihre Überzeugungen bei den Bürgern zu transportieren und in engem Kontakt mit zumindest einem Teil der Bürgerschaft Anliegen und Impulse aufnehmen. Insofern diene der enge Kontakt des Abgeordneten zu den aktiven Mitgliedern seiner Parteibasis der Sicherung seiner Responsivität (Patzelt 1991a: 177f; Patzelt 1993: 427; Patzelt 1995: 147). Ein weiterer Grund für die hohe Bedeutung, die die Parteibasis für den Abgeordneten hat, liegt natürlich darin, dass die Kreisverbände in Mitglieder- oder Delegiertenversammlungen den Bundestagskandidaten nominieren. Für Abgeordnete, deren Wahlkreise eine Hochburg der eigenen Partei sind, ist mit dieser (Wieder)nominierung durch die Parteibasis der (Wieder)einzug in das Parlament so gut wie gesichert; für Abgeordnete, die auf die Landeslisten ihrer Parteien angewiesen sind, ist die Kandidatur in einem Wahlkreis in aller Regel zumindest eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende, Voraussetzung, um einen aussichtsreichen Listenplatz zu erhalten. Diese starke Abhängigkeit von der regionalen Parteibasis führt aber zugleich dazu, dass zumindest die Abgeordneten mit sicheren Wahlkreisen gegenüber höheren Partei- oder Fraktionsebenen weitgehend unabhängig sind. Wenn sie von ihrer Basis getragen werden, kann ihnen niemand das Mandat streitig machen (Poguntke 2002: 266f; Patzelt 1995: 152156). Auch hier hat also die Parteibasis eine wichtige Mittlerposition: Sie entscheidet vor dem Hintergrund ihrer Kenntnisse über Überzeugungen und Stimmungen der Wählerschaft, welcher Kandidat nominiert wird. Insofern sichert
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2 Forschungsstand
auch hier die Parteibasis durch ihr Augenmerk auf hohe Wahlchancen die Responsivität des Kandidaten. Diese Scharnierfunktion können Parteimitglieder aber nur dann erfolgreich leisten, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Erstens müssen die Parteimitglieder responsiv gegenüber den Wählern, zumindest den eigenen Parteisympathisanten, sein. Zweitens müssen die Kandidaten oder Abgeordneten responsiv gegenüber ihren Parteimitgliedern sein. Nur wenn beide Bedingungen erfüllt sind, werden im Sinne des Responsible-Party-Modells über die Parteien als Mittler Wünsche und Überzeugungen der Repräsentierten mit den Entscheidungen der Repräsentanten verknüpft.
2.2.1.4 Responsivität von Abgeordneten gegenüber Parteimitgliedern – eine zweite Forschungslücke Insbesondere die Erfüllung der zweiten Bedingung, die Responsivität der Abgeordneten gegenüber ihren Parteimitgliedern, ist bisher in Deutschland empirisch kaum systematisch untersucht worden. Für ein solches Forschungsdesign benötigt man sowohl Daten über die Einstellungen von Abgeordneten, als auch über die von Parteimitgliedern. Nur dann ist es möglich, diese Einstellungen miteinander zu vergleichen und aus dem Ausmaß der Kongruenz auf die Responsivität der Abgeordneten zu schließen. Während über die Einstellungen von Abgeordneten einige Studien vorliegen (vgl. hierzu: Abschnitt 2.1.2.4 dieser Arbeit), waren die Einstellungen von Parteimitgliedern bisher nur Gegenstand sehr weniger Untersuchungen. Für die CDU liegen nur fünf Studien vor, in denen politische Werthaltungen der Parteimitglieder untersucht wurden (Abschnitt 2.1.2.3. dieser Arbeit). In keiner dieser Studien wurden sowohl Abgeordnete als auch Parteimitglieder befragt.39 Nur ein solches Forschungsdesign jedoch, bei dem Themenstellung, Fragewortlaut, Ausprägung und Größe der Skalen für beide befragten Gruppen gleich ist, ermöglicht eine angemessene Messung von Responsivität (Walter 1997: 68; Achen 1978: 495). Zwar lassen sich auch aus den vorliegenden Daten über Einstellungen von Parteimitgliedern und Einstellungen von Abgeordneten Rückschlüsse auf die Responsivität von Abgeordneten gegenüber Parteimitgliedern ziehen, etwa dann, wenn Abgeordnete und Parteimitglieder in 39
Hingegen liegen zahlreiche Studien vor, in denen die Responsivität der Bundestagsabgeordneten gegenüber den Bürgern oder auch den Wählern oder Anhängern der eigenen Partei untersucht wurde, etwa Farah 1980; Rose/Hofmann-Göttig 1982; Hezog 1990; Brettschneider 1995; Allensbach 2007; im europäischen Vergleich: Dalton 2002; für die kommunale Ebene: Arzberger 1980; Walter 1997; Walter 2002.
2.2 Responsivität
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unterschiedlichen Studien über gleiche oder ähnliche Themenkomplexe befragt wurden. Allerdings sind diese Erkenntnisse mit großer Vorsicht zu behandeln, da selbst bei gleicher Themenstellung die Frageformulierung und die Ausprägung und Größe der Skalen – außer bei einigen stark standardisierten Formulierungen wie der Inglehartschen Materialismus-Postmaterialismus-Frage – so gut wie nie identisch sein dürften. Selbst wenn diese Bedingung jedoch erfüllt ist, dürften in fast allen Fällen die Befragungen der Abgeordneten und der Parteimitglieder zu unterschiedlichen Zeitpunkten durchgeführt worden sein, so dass schon aus diesem Grund verlässliche Aussagen über die Responsivität der Abgeordneten zum Zeitpunkt ihrer Befragung nicht möglich sind. Daher liefert eine vergleichende Analyse von vorliegenden Untersuchungen über Einstellungen von Abgeordneten und Parteimitgliedern zwar Anhaltspunkte über die Responsivität der Abgeordneten gegenüber ihren Parteimitgliedern, lässt aber keine verlässlichen Aussagen zu. Diese Arbeit soll dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schließen.
2.2.2 Empirische Ergebnisse der Responsivitätsforschung 1966 vereinigte die erste Große Koalition auf Bundesebene noch 86, 9% der Wählerstimmen auf sich, die zweite Große Koalition 2005 konnte nur 69, 4% der abgegebenen Stimmen für sich verbuchen. Die Bindekraft der beiden Volksparteien SPD und CDU/CSU nahm also offenkundig ab. Steckt dahinter ein Erosionsprozeß der Volksparteiendemokratie, in dem zumindest die Volksparteien ihre im Responsible-Party-Modell vorgesehene Linkage-Funktion nur noch unzureichend wahrnehmen, wie Karl-Rudolf Korte nach der Bundestagswahl 2005 vermutet (Korte 2005: 13)? Sind die Parteien kein Resonanzraum für Stimmungen mehr, setzen ihre Spitzen programmatische Erneuerungen bonapartistisch durch (Korte 2005: 13; 18)? Die Ergebnisse der deutschen Responsivitätsforschung sprechen eher eine andere Sprache. Unabhängig davon, wie methodisch vorgegangen wurde, kommen die meisten Studien zu dem Schluss, dass die objektive Responsivität der deutschen Abgeordneten bzw. der deutschen Parteien als relativ hoch einzuschätzen ist. So ist etwa nach Brettschneider die Responsivität des Deutschen Bundestages größer als vielfach behauptet, Dalton stellt a strong relationship between voter and elite opinions within parties fest (Brettschneider 1995: 223; Dalton 2002: 225). Einige Studien hingegen konstatieren eine geringe Responsivität deutscher Abgeordneter, Farah beispielsweise stellt fast keinen Zusammenhang zwischen den Einstellungen der Bürger und dem Abstimmungsverhalten der Abgeordneten fest (Farah 1980: 150; 154).
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2 Forschungsstand
Im Folgenden sollen die empirischen Ergebnisse der Responsivitäts-forschung zusammenfassend dargestellt werden. Das Ziel ist dabei neben dem Überblick über den Stand der Forschung die Generierung von Hypothesen für den empirischen Teil dieser Arbeit. Daher werden vorzugsweise Ergebnisse über die Responsivität von Bundestagsabgeordneten, insbesondere und sofern vorhanden von CDU-Bundestagsabgeordneten, auf der Ebene der Grundwerte referiert. Allerdings liegen für viele Aspekte – z. B. für die Bedeutung einzelner Einflussfaktoren für die Responsivität von Abgeordneten – nur Ergebnisse amerikanischer Forschung oder von Responsivitätsstudien auf anderen politischen Ebenen, etwa der kommunalen, vor. Hinzu kommt, dass – wie bereits ausgeführt – in keiner der Studien die Responsivität von Abgeordneten gegenüber ihren Parteimitgliedern im Mittelpunkt stand, sondern in der Regel die Responsivität gegenüber Bürgern oder Wählern gemessen wurde. Außerdem werden in vielen Studien nicht die Responsivität der Abgeordneten auf der Ebene der Grundwerte analysiert, sondern oft sehr konkrete politische Fragen, z. B. Präferenzen in der kommunalen Sportpolitik. Diese Ergebnisse ziehe ich in Ermangelung passgenauerer Studien dennoch zur Hypothesengenerierung heran. Ob sie sich auch in Bezug auf die Responsivität von CDU-Bundestagsabgeordneten gegenüber ihren Parteimitgliedern auf der Ebene der Grundwerte bewähren, wird der empirische Teil dieser Arbeit zeigen. Zum Bewusstsein von Abgeordneten, responsiv oder nicht responsiv zu sein, liegen der Autorin keinerlei systematische Untersuchungen vor. In diesem Abschnitt soll daher ebenfalls aufgezeigt werden, wieso Erkenntnisse über diese „subjektiven Responsivität“ der Abgeordneten benötigt werden. Daher werden auch hierzu Thesen entwickelt, die im empirischen Teil dieser Arbeit überprüft werden sollen.
2.2.2.1 Die objektive Responsivität deutscher Abgeordneter Die meisten Studien über die Responsivität der deutschen Abgeordneten kommen zu dem Schluss, dass diese relativ gut mit den Einstellungen der Bürger oder zumindest ihrer eigenen Wähler übereinstimmen. Allerdings unterscheiden sich die Studien dahingehend, welcher Gruppe gegenüber Responsivität gemessen wird. So messen die Studien von Rose/Hofmann-Göttig, Brettschneider, Arzberger und Gabriel/Brettschneider/Kunz die Responsivität der Abgeordneten gegenüber den Einstellungen des Durchschnitts oder der Mehrheit der Bürger, während sich Herzog et al., Weßels und Dalton auf die Responsivität der Abgeordneten gegenüber den Wählern ihrer eigenen Partei konzentrieren. Walter, Allensbach und – auf Eliten aller gesellschaftlichen Gruppen bezogen – Welzel
2.2 Responsivität
111
messen die Responsivität gegenüber beiden Gruppen. Diese unterschiedlichen Analyseeinheiten der unterschiedlichen Responsivitätsstudien müssen im Folgenden berücksichtigt werden. Als weiteres Problem kommt hinzu, dass es keinen allgemein akzeptierten Maßstab gibt, ab wann Abgeordnete als responsiv, auch nicht, ab wann die Güte ihrer Perzeptionen als hoch gilt. Diese Bewertung ist weitgehend der persönlichen Einschätzung der Forscher überlassen. Im Folgenden sollen daher jeweils sowohl die Ergebnisse als auch die Bewertungen der Autoren in Bezug auf das Vorhandensein von Responsivität wiedergegeben werden. Im empirischen Teil dieser Arbeit wird dann ein Verfahren vorgeschlagen, das zumindest die Bewertung der objektiven Responsivität und der Güte der Perzeptionen eines Abgeordneten durch einen Score zwischen 0 und 1 ermöglicht. Aus dem Jahr 1982 stammt eine Arbeit von Ewald Rose und Joachim Hofmann-Göttig, in der die Responsivität der Abgeordneten gegenüber den durchschnittlichen Einstellungen der Bevölkerung gemessen wird. Die Abgeordneten werden neben ihrer Beurteilung ihrer eigenen parlamentarischen Tätigkeit auch nach den ihrer Ansicht nach dringenden politischen Aufgaben und ihren Zukunftssorgen befragt. Diese Angaben werden mit einer entsprechenden zeitgleichen Erhebung von Infratest unter 959 repräsentativ ausgewählten Bürgern verglichen, so dass Aussagen über die Responsivität der Bundestagsabgeordneten möglich sind – wenn auch Rose/Hofmann-Göttig diesen Begriff nicht verwenden. Sowohl Abgeordnete als auch Bürger mussten aus einem Katalog an politischen Zielen diese nach ihrer Wichtigkeit einstufen. Dabei zeigen sich überwiegend Kongruenzen: Beide Gruppen sind sich sowohl einig, was die vier wichtigsten Ziele (Frieden sichern, Energieversorgung sichern, Genügend Lehrstellen und Ausbildungsplätze für Jugendliche schaffen, Die Arbeitslosigkeit abbauen), als auch, was die beiden unwichtigsten Ziele (Einfluss und Ansehen der Bundesrepublik in der Welt stärken, Straßenbau vorantreiben) sind (Rose/Hofmann-Göttig 1982: 74). Lediglich bei sechs der 21 Aufgaben setzen die Abgeordneten ihre Prioritäten anders als die Bevölkerung, so hält beispielsweise die Bevölkerung das Ziel Für stabile Preise sorgen für vordringlich, während es bei den Abgeordneten auf den hinteren Plätzen rangiert. Andersherum sehen die Abgeordneten die Aufgabe Kinderfreundliche Familienpolitik betreiben im oberen Drittel der wichtigen Aufgaben, während die Bürger dies als eher nachrangig erachten. Dennoch zeige sich alles in allem eine recht weitgehende Übereinstimmung zwischen Abgeordneten und Bürgern, so die Autoren (Rose/HofmannGöttig 1982: 71). Die Abgeordneten des 11. Deutschen Bundestages und eine repräsentative Stichprobe der westdeutschen Bevölkerung befragten 1988/1989 Dietrich Herzog et al. nach ihren Bewertungen von elf politischen Zielen (Herzog et al. 1990:
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2 Forschungsstand
36f). Die Forscher unterscheiden nach traditionellen, wirtschaftliches Wachstum und innere Sicherheit betreffenden und neuen, mehr Selbstbestimmung und mehr politische Beteiligung fordernden Politikzielen (Herzog et al. 1990: 37-42). Traditionelle Politikziele stoßen bei den Abgeordneten von CDU und CSU und mit Abstrichen auch der FDP auf eine besonders hohe Zustimmung, dies sehen auch die Wähler dieser Parteien ähnlich. Aber auch die Wähler der SPD und der GRÜNEN weisen noch mittlere Zustimmungswerte zu den traditionellen Politikzielen auf, während die Abgeordneten dieser Parteien diese Ziele für weitgehend unwichtig halten. Ein umgekehrtes Bild ergibt sich bei den neuen Zielen: Hier stimmen die Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN stark zu und sind sich damit relativ einig mit ihren Wählern, während die Abgeordneten der CDU und CSU und bedingt auch der FDP mittlere bis schwache Zustimmungswerte aufweisen, während ihre Wähler deutlich stärker zustimmen. Insgesamt sind also die Bundestagsabgeordneten von CDU und CSU bei den traditionellen Politikzielen responsiver gegenüber ihren Wählern, die Abgeordneten von SPD und GRÜNEN bei den neuen Politikzielen. Die Forscher halten diese Diskongruenzen aber nicht für so groß, dass sie die Legitimität der parlamentarischen Demokratie schwächen könnten (Herzog et al. 1990: 37-49). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Bernhard Weßels, der 1991 auf der Basis derselben Daten den Werteraum von Abgeordneten und Wählern genauer analysierte (Weßels 1991: 334). Dabei unterzieht Weßels die Beurteilungen von Abgeordneten und Bürgern der elf gesellschaftlichen Ziele einer Faktorenanalyse. Es lassen sich sowohl bei den Abgeordneten als auch den Bürgern klar zwei Faktoren unterscheiden, die Weßels wie Herzog et al. inhaltlich als alte bzw. neue Politik interpretiert (Weßels 1991: 336). Weßels betrachtet nun die Distanzen zwischen Abgeordneten und ihren jeweiligen Wählern. Es ergibt sich für die Responsivität der Abgeordneten gegenüber ihren Wählern ein fast idealtypisches Bild: Bis auf zwei Ausnahmen sind die Distanzen der Abgeordneten zu ihren eigenen Wählern jeweils geringer als zu allen anderen Wählergruppen. Weßels stellt daher fest: …die Wähler können im Durchschnitt davon ausgehen, dass ihre Wahl insoweit rational war, als die von ihnen Gewählten stärker mit den eigenen Orientierungen übereinstimmen als die nicht von ihnen Gewählten (Weßels 1991: 347).
Die Parteien erwiesen sich also als erfolgreiche Transmissionsriemen der Einstellungen ihrer Wähler und werden so ihrer Linkage-Funktion im ResponsibleParty-Modell gerecht, so das Fazit Weßels (Weßel 1991: 348). Nicht die Einstellungen der Abgeordneten, sondern deren parlamentarisches Handeln im Deutschen Bundestag steht in der Responsivitätsstudie Frank Brett-
2.2 Responsivität
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schneiders aus dem Jahr 1995 im Mittelpunkt. Damit knüpft Brettschneider an das Design Miller/Stokes’ an, in dem das Abstimmungsverhalten in namentlichen Abstimmungen die abhängige Variable bildete. Da im Deutschen Bundestag nur relativ selten namentliche Abstimmungen stattfinden, hat Brettschneider sämtliche Beschlussfassungen im Plenum, Gesetzesentwürfe, Anträge und Ausschussempfehlungen, außerdem schriftliche und mündliche Fragen einzelner Abgeordneter sowie Große und Kleine Anfragen und Aktuelle Stunden herangezogen. Insgesamt 3046 parlamentarische Handlungen hat er so aus den Plenarprotokollen und Drucksachenlisten des Ersten bis Elften Deutschen Bundestages entnommen. Diese Handlungen untersucht Brettschneider auf Zusammenhänge mit der öffentlichen Meinung zu politischen Sachfragen, wie sie zwischen 1949 und 1990 in Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach gemessen wurde (Brettschneider 1995: 27f). Dabei geht es Brettschneider vor allem um den Wandel der öffentlichen Meinung. Hierfür identifiziert der Forscher die Themen, bei denen Umfragen zu Folge in der Bevölkerung ein Meinungswandel stattgefunden hat und klassifiziert dann parlamentarische Handlungen als kongruent oder inkongruent mit diesem Meinungswandel. Knapp 60% aller von Brettschneider untersuchten parlamentarischen Handlungen lassen eine Wertung des Initiators erkennen und sind somit als kongruent oder inkongruent mit dem Meinungswandel klassifizierbar (Brettschneider 1995: 139-141). Brettschneider kommt zu dem Ergebnis, dass die so gemessene Responsivität des Deutschen Bundestages relativ hoch ist. Unabhängig von der Meßmethode stimmen zwischen 55 und 60% der klassifizierbaren parlamentarischen Handlungen mit der Richtung des Meinungswandels überein, bei den angenommenen Gesetzesentwürfen sind dies zwei Drittel (Brettschneider 1995: 145-147). Betrachtet man statt des Meinungswandels die jeweils zum Zeitpunkt der parlamentarischen Handlung aktuelle Mehrheitsmeinung, so sind sogar knapp 70% der klassifizierbaren Handlungen kongruent mit der Mehrheitsmeinung (Brettschneider 1995: 200-203). Hierbei zeigt sich zwischen 1949 und 1990 keine eindeutige Tendenz, Phasen stärkerer und niedrigerer Responsivität wechseln einander ab (Brettschneider 1995: 148f; 203). Betrachtet man die Themenbereiche, erweist sich die Sozial- und Gesundheitspolitik als der Bereich, in dem die Responsivität am größten ist (Brettschneider 1995: 153f). Insgesamt kommt Brettschneider zu dem Fazit, dass in der Bundesrepublik Deutschland ein substantieller Zusammenhang zwischen öffentlicher Meinung und parlamentarischem Handeln besteht (Brettschneider 1995: 223). Eine vergleichende Studie der öffentlichen Meinung und politischen Handlungen in den USA, Großbritannien, der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich legt Russell J. Dalton 2002 vor (Dalton 2002: 3f). In dieser Arbeit analysiert Dalton auch die Responsivität von Politikern in den vier Ländern, in Er-
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2 Forschungsstand
mangelung aktueller länderübergreifender Daten muss er aber auf eine Studie aus dem Jahr 1979 zurückgreifen, in der Wähler und Kandidaten für das Europäische Parlament in diesen vier Ländern befragt wurden. Aus Deutschland wurden daher nur westdeutsche Wähler und Kandidaten in die Analyse einbezogen (Dalton 2002: 217). Dalton stellt für Westdeutschland insgesamt eine relativ hohe Übereinstimmung zwischen Bürgern und politischen Eliten fest, wenn sich auch die Eliten im Schnitt etwas liberaler positionieren als die Bevölkerung. Noch größer ist die Korrespondenz zwischen Bürgern und Eliten nur in Frankreich (Dalton 2002: 218-220). Betrachtet man im Rahmen des Responsible-Party-Modells die durchschnittliche Rechts-Links-Selbsteinstufung der Parteiwähler und der Kandidaten für das Europaparlament der jeweiligen Parteien, so zeigt sich für Westdeutschland bei SPD, CDU und FDP eine relativ hohe Übereinstimmung zwischen Parteiwählern und Parteieliten. Besonders die CDU ist sehr responsiv, sowohl ihre Wähler als auch ihre Eliten stufen sich durchschnittlich bei einer Skala von eins bis zehn zwischen den Werten sechs und sieben ein (Dalton 2002: 224). Eine relativ hohe Übereinstimmung zeigt sich für die CDU auch bei der Ablehnung der Verstaatlichung der Industrie, während bei der Frage der Legalisierung von Abtreibung die Wähler der CDU eine deutlich liberalere Position vertreten als ihre Parteieliten. Insgesamt konstatiert Dalton für alle von ihm untersuchten Länder eine relativ hohe Responsivität der politischen Eliten gegenüber ihren eigenen Parteiwählern (Dalton 2002: 228). Die Responsivität von Kommunalpolitikern sowohl gegenüber der Durchschnittsmeinung der Bevölkerung als auch gegenüber der Meinung der eigenen Parteiwähler überprüft Walter in einer Studie aus dem Jahr 1997. Sie befragte dafür alle 60 Ratsmitglieder des Stuttgarter Kommunalparlaments nach ihren sportpolitischen Präferenzen, ebenso schrieb sie 2960 Stuttgarter Bürger an, von denen sich jedoch nur 476 an der Erhebung beteiligten (Walter 1997: 132f). Es zeigte sich, dass die durchschnittlichen Präferenzen aller Stuttgarter Kommunalpolitiker relativ gut mit den durchschnittlichen Präferenzen der Bevölkerung übereinstimmen, der mittlere Korrelationskoeffizient zwischen den beiden Variablen beträgt hier r = 0,81. Etwas niedriger fällt die Responsivität aus, wenn man die durchschnittlichen Einstellungen der Mitglieder der Fraktionen mit ihren jeweiligen Parteiwählern vergleicht, hier beträgt der mittlere Korrelationskoeffizient nur r = 0,54 (Walter 1997: 166; 170). Walter kommt daher zu dem Schluss: Das heißt also, dass die Parteien im einzelnen responsiv gegenüber ihren Parteiwählern sind, jedoch das Gesamtparlament noch eher die Bevölkerungsmeinung berücksichtigt (Walter 1997: 170f).
2.2 Responsivität
115
Dieses Ergebnis bestätigt sich auch in einer Studie Walters aus dem Jahr 2002, in der sie alle 60 Stuttgarter Ratsmitglieder, 5000 Stuttgarter Bürger und 2000 Führungskräfte aus Stuttgart nach ihren Wünschen bei 22 kommunalpolitischen Themen befragte (Walter 2002: 28). Es zeigte sich, dass die Übereinstimmung zwischen den Ratsmitgliedern der jeweils einzelnen Fraktionen und der Gesamtbevölkerung relativ niedrig ausfällt. Walter kann auf Grund ihrer Datenlage zwar keine Aussagen über die Präferenzen der einzelnen Parteianhänger treffen, vermutet aber, dass die Parteien nach dem Responsible-Party-Modell eher ihre eigene Klientel vertreten (Walter 2002: 252f). Hierzu passt, dass die eigene Partei für die Mandatsträger bei ihrer Entscheidungsfindung eine große Rolle spielt, erst danach folgen die Bürger (Walter 2002: 284). Vergleicht man aber die Mittelwerte der Präferenzen aller Ratmitglieder mit denen aller Bürger, zeigt sich eine hohe Einstellungskongruenz, Pearsons r beträgt 0,77 (Walter 2002: 253). Auch wenn man mit Hilfe von Achens Maßzahlen (vgl. Abschnitt 3.3. dieser Arbeit) den Abstand zwischen den Präferenzen jedes einzelnen Bürgers und den durchschnittlichen Präferenzen der Ratsmitglieder misst, zeigt sich ebenfalls eine relativ hohe Einstellungskongruenz (Walter 2002: 256). Daher kommt Walter zu dem Schluss, dass die Stuttgarter Kommunalpolitiker der Idealvorstellung hoher Einstellungskongruenzen relativ gut entsprechen (Walter 2002: 253). Zu einem gemischten Ergebnis bezüglich der Responsivität von Kommunalpolitikern kommt Klaus Arzberger im Jahr 1980. Er befragte in den Jahren 1977 und 1978 in fünf Städten Bürger und kommunalpolitische Eliten aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und gesellschaftlichen Institutionen nach ihren Prioritäten im kommunalpolitischen Bereich (Arzberger 1980: 18f). In diesem Design lässt sich auch die Responsivität der befragten Eliten messen, wenn auch Arzberger diesen Begriff nicht benutzt, sondern von Übereinstimmungen und Divergenzen bei den Prioritätensetzungen von Bürgern und Eliten spricht (Arzberger 1980: 144). Arzberger zeigt einerseits, dass die Übereinstimmung zwischen Bürgern und allen befragten Elitegruppen relativ hoch ist. Zwar ergibt sich bei dem relativ groben Vergleich der Beurteilung der Wichtigkeit von zehn kommunalpolitischen Aufgabenbereichen nur in den beiden kleinsten Städten eine signifikante Korrelation zwischen der Prioritätensetzung der Bürger und der der Eliten. Doch fragt man konkreter nach Problemgruppen, denen sich die Kommunalpolitik anzunehmen hat, und nach der Prioritätensetzung bei bestimmten politischen Maßnahmen, ergeben sich in allen fünf Städten mittlere bis hohe Rangkorrelationen (Arzberger 1980: 144-146). Andererseits zeigt die Betrachtung der unterschiedlichen Elitegruppen, dass die Eliten aus Wirtschaft und gesellschaftlichen Institutionen sehr gut mit den Prioritätensetzungen der Bürger übereinstimmen, während die Einstellungen der Eliten aus Stadtparlament und Verwaltung und der Bürger nur mittelmäßig kor-
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relieren (Arzberger 1980: 147-150). Unterscheidet man die Angehörigen aller Elitegruppen jedoch nach Parteisympathie, so erweisen sich die CDU-Anhänger als am responsivsten.40 Ingesamt ergibt sich also in den für das Thema dieser Arbeit relevanten Punkten ein gemischtes Bild: Die kommunalpolitische Elite im engeren Sinne – die Mitglieder des Stadtparlaments – können nach Arzbergers Ergebnissen nur bedingt als responsiv bezeichnet werden. Es erscheint aber plausibel, dass der von Arzberger gezeigte positive Einfluss einer CDU-Sympathie auf die Responsivität bei allen Elitegruppen auch bei den CDU-Anhängern in den Stadtparlamenten auftritt, dass also Kommunalpolitiker der CDU responsiver sind als die anderer Parteien. Ebenfalls zu einem durchwachsenen Ergebnis hinsichtlich der Responsivität von deutschen Kommunalpolitikern gegenüber Bürgern kommen 1993 Oscar W. Gabriel, Frank Brettschneider und Volker Kunz. Die Forscher erhoben in ihrer Studie allerdings nicht die Präferenzen der Bevölkerung, sondern ließen die befragten Kommunalpolitiker aus vier Städten die Ausgabenpräferenzen der Bevölkerungsmehrheit schätzen. Aus der Tatsache, dass Kommunalpolitiker aller Parteien unabhängig von ihren eigenen Einstellungen in ihren Perzeptionen der Bevölkerungsmeinung sehr stark übereinstimmen, schließen die Forscher, dass die Politiker den Bürgern nicht ihre eigenen Präferenzen zuschreiben. Zwar stehe damit noch nicht fest, dass diese vermuteten auch mit den tatsächlichen Bevölkerungspräferenzen übereinstimmten, dennoch verwenden Gabriel/Brettschneider/Kunz die perzipierten Bevölkerungspräferenzen als unabhängige, die Präferenzen der Kommunalpolitiker als abhängige Variable (Gabriel/Brettschneider/Kunz 1993: 34f). Vergleicht man diese Präferenzen, ergibt sich eine mittlere Korrelation. Wie Arzberger stellen Gabriel/Brettschneider/Kunz allerdings auch einen Einfluss der Parteizugehörigkeit fest, so kommen die Kommunalpolitiker der CDU auf den höchsten Zusammenhang zwischen ihren eigenen und den perzipierten Präferenzen. Diese überdurchschnittliche Responsivität liege daran, dass CDU-Politiker in den Bereichen Parkplatz- und Straßenbau sowie Öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht so stark von den Bevölkerungspräferenzen abwichen wie SPDund GRÜNEN-Politiker (Gabriel/Brettschneider/Kunz 1993: 38). Insgesamt kommen die Forscher aber zu dem Schluss, dass die Gegebenheiten in den untersuchten Städten dem aus der normativen Demokratietheorie abgeleiteten Ideal responsiver Politik nur bedingt entsprechen (Gabriel/Brettschneider/Kunz 1993: 36). Dieses Bild werde allerdings relativiert, wenn man bei einer multivariaten Analyse auch andere Variablen mit einbeziehe. Hierbei erwiesen sich nämlich
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Eine – für die vorliegende Arbeit interessierende – Unterscheidung der Mitglieder der Stadtparlamente nach Parteizugehörigkeit nimmt Arzberger nicht vor.
2.2 Responsivität
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die vermuteten Bevölkerungspräferenzen zumindest als die wichtigste Erklärungsvariable für die Politikerpräferenzen, ideologische Bindungen sowie Wertorientierungen der befragten Politiker besäßen eine geringere Erklärungskraft (Gabriel/Brettschneider/Kunz 1993: 39f). Christian Welzel untersucht 1998 in seiner bereits zitierten Studie auf der Basis der Potsdamer Elitestudie von 1995 politische Ordnungspräferenzen von west- und ostdeutschen Eliten und Bürgern und stellt dabei eine eher geringe Responsivität vor allem der Eliten mit rechter Lageraffinität fest. Nach seinen Ergebnissen tendieren die Eliten grundsätzlich eher zu einer minimalistischen Ordnungspräferenz als die Bevölkerung. Dieser Statuseffekt hat von den drei untersuchten Effekten (Herkunft: Ost/West, Status: Elite/Bevölkerung und Lageraffinität: rechts/links) den größten Einfluss. Die Differenz in ihrer ordnungspolitischen Orientierung ist also zwischen den befragten Elitemitgliedern und der Bevölkerung am größten, größer als zwischen befragten Ost- und Westdeutschen und Anhängern des rechten und des linken politischen Spektrums (Welzel 1998: 255-257). Welzel stellt dazu fest: …der vertikale Ordnungskonsens zwischen Eliten und Nichteliten fällt noch schwächer aus als der horizontale Ordnungskonsens zwischen Ost- und Westdeutschen (Welzel 1998: 257).
Allerdings ist dieser Effekt vor allem auf die polarisierte Haltung der rechten Eliten zurückzuführen, die sich sowohl in West- als auch in Ostdeutschland mit weitem Abstand zu den anderen Gruppen am nächsten am minimalistischen Pol befinden. Damit unterscheidet sich ihre Haltung auch jeweils deutlich von der Bevölkerung in West- und Ostdeutschland mit gleicher Lageraffinität, die jeweils eine gemäßigte bis deutlich maximalistische Ordnungspräferenz aufweisen. Betrachtet man die linken Eliten, so liegen diese in Westdeutschland fast genau in der Mitte des Minimalismus-Maximalismus-Kontinuums und weisen damit eine mittlere Distanz zu der linken Bevölkerung auf, die eine gemäßigte maximalistische Position vertritt. Die ostdeutsche linke Elite und die ostdeutsche linke Bevölkerung sind sich hingegen in ihrer ordnungspolitischen Präferenz völlig einig, beide vertreten exakt die gleiche deutlich maximalistische ordnungspolitische Präferenz (Welzel 1998: 256). Für das Thema dieser Arbeit liefert Welzel damit zwei interessante, den bisher zitierten Forschungsergebnissen widersprechende Ergebnisse: Zum einen ist nach Welzel die Responsivität der Eliten gegenüber der Bevölkerung insgesamt eher schwach ausgeprägt, mit Ausnahme der linken ostdeutschen Eliten, die gegenüber der entsprechenden Bevölkerungsgruppe völlig responsiv sind. Zum anderen sind gerade die rechten Eliten in ganz Deutschland am wenigsten responsiv gegenüber allen anderen
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2 Forschungsstand
Bevölkerungsgruppen, auch gegenüber ihren eigenen Anhängern. Damit kommt Welzel zu einem anderen Ergebnis als andere zitierte Responsivitätsstudien, nach denen gerade Abgeordnete der CDU eine besonders hohe Responsivität gegenüber der Bevölkerung aufweisen (Arzberger 1980; Gabriel/Brettschneider/Kunz 1993; Dalton 2002).41 Ebenfalls eine eher geringe Responsivität deutscher Abgeordneter lässt sich aus der bereits zitierten aktuellen Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach ablesen, die es im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, der Heinz Nixdorf Stiftung und der Ludwig-Erhard-Stiftung durchgeführt hat (vgl. Abschnitt 2.1.2.4. dieser Arbeit). 384 Abgeordnete des Deutschen Bundestages, der Landtage und des Europaparlaments wurden für diese Untersuchung zu ihren Einstellungen zum Thema soziale Gerechtigkeit befragt (Allensbach 2007: 1). Bei einem Teil dieser Fragen lagen den Autoren aktuelle Ergebnisse von Bevölkerungsumfragen mit dem gleichen Wortlaut vor, so dass ein direkter Vergleich der Einstellungen der Abgeordneten und der Bevölkerung möglich war. Es zeigt sich, dass Abgeordnete und Bevölkerung sehr unterschiedlicher Auffassung sind, ob die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland im großen und ganzen gerecht oder nicht gerecht sind (Allensbach 2007: 8). Während 60% der Parlamentarier die Verhältnisse für gerecht halten, sehen dies nur 28% der Bevölkerung so. Umgekehrt vertreten 56% der Deutschen, aber nur 28% der Abgeordneten die Auffassung, dass die Verhältnisse nicht gerecht seien (Allensbach 2007: 8). Besonders überzeugt von der Gerechtigkeit der Verhältnisse in Deutschland zeigen sich die Abgeordneten der CDU/CSU, die mit 83% diese Auffassung vertreten. Die Anhänger der CDU/CSU sind ebenfalls von allen Parteianhängern noch am ehesten von der Gerechtigkeit in Deutschland überzeugt, allerdings mit 38% auch nur zu einer Minderheit (Allensbach 2007: 13). Einiger sind sich Bevölkerung und Abgeordnete bei der Frage, wie sich die soziale Gerechtigkeit in den letzten Jahren entwickelt hat. Hier meinen sowohl 59% der Mandatsträger, als auch 68% der Bevölkerung, diese habe abgenommen, nur 9% bzw. 3% sehen eine Zunahme (Allensbach 2007: 5). Dennoch weisen die Ergebnisse der Bertelsmann41
Es ist natürlich denkbar, dass dieses Ergebnis Welzels auf seine spezifische Fragestellung nach ordnungspolitischen Präferenzen zurückzuführen ist und bei anderen Themen CDUAbgeordnete tatsächlich überdurchschnittlich responsiv sind. Da Welzels Fragestellung relativ nahe am Thema dieser Arbeit liegt, kann der empirische Teil dieser Arbeit – bei allen notwendigen Abstrichen wegen der unterschiedlichen untersuchten Gruppen – einen Hinweis geben, wie stark tatsächlich die Differenzen in der ordnungspolitischen Orientierung zwischen CDUEliten und CDU-Basis sind. Allerdings wird die Frage nicht abschließend beantwortet werden können, da im Design dieser Arbeit Vergleichsgruppen (Abgeordnete und Mitglieder anderer Parteien) und Vergleichsthemen fehlen. Nur dann ließe sich beantworten, ob CDUAbgeordnete tatsächlich responsiver sind als die anderer Parteien und ob diese Responsivität themenabhängig variiert.
2.2 Responsivität
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Stiftung auf eine eher niedrige Responsivität deutscher Abgeordneter hin – zumindest wenn es um das auch im Zentrum dieser Arbeit stehende Thema der sozialen Gerechtigkeit geht. Insofern weisen also die Ergebnisse Welzels und des Instituts für Demoskopie Allensbach in dieselbe Richtung. Zu einem durchweg negativen Ergebnis bzgl. der Responsivität deutscher Abgeordneter kommt Farah. In ihrer bereits zitierten Studie kommt die Autorin zu dem Schluss, dass keine bzw. teilweise sogar eine leicht negative Korrelation zwischen den Einstellungen der Bürger und dem Abstimmungsverhalten der Abgeordneten bestehe (Farah 1980: 153f). Diese Studie gilt jedoch als methodisch fragwürdig, insbesondere wegen der direkten Übertragung des Forschungsdesign Miller/Stokes’ auf das parlamentarische System der Bundesrepublik und wegen der Konstruktion eines Ersatzwertes für das Abstimmungsverhalten, der ausschließlich durch die Fraktionszugehörigkeit definiert wird (vgl. Abschnitt 2.2.1.3 dieser Arbeit). Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass zwar die Mehrheit der Studien über die Responsivität der deutschen Politik zu einem positiven Ergebnis kommen, aber auch einige Studien vorliegen, die eine mangelhafte Responsivität deutscher Abgeordneter feststellen. Der empirische Teil dieser Arbeit wird zeigen, welche Ergebnisse der bisherigen Forschung über die Responsivität von Abgeordneten gegenüber Bürgern oder Wählern auch für die Beziehung zwischen CDU-Bundestagsabgeordneten und ihren Parteimitgliedern zutreffen. Hierfür soll folgende These überprüft werden: 14. Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind objektiv responsiv gegenüber ihren Parteimitgliedern, es ist also kein nennenswerter Unterschied zwischen den Einstellungen der Abgeordneten und den Einstellungen der Parteimitglieder festzustellen.42
2.2.2.2 Die Güte der Perzeptionen In der europäischen Responsivitätsforschung, in der in der Regel die Einstellungen der Bürger die unabhängige, die Einstellungen der Abgeordneten die abhängige Variable bilden, stellen die Perzeptionen der Abgeordneten die entscheiden42
Gemeint ist die Responsivität der Abgeordneten bezüglich der Einstellungen zu egalitären und nonegalitären Verteilungsprinzipien. Der besseren Lesbarkeit halber wird dies in dieser und allen folgenden Thesen nicht mehr explizit genannt, gilt aber durchgehend. Aus denselben Gründen wird ab These (17) auch nicht mehr aufgeführt, dass in dieser Arbeit Responsivität gegenüber den CDU-Mitgliedern gemessen wird. Auch dies wurde bereits hinreichend erläutert und wird daher für die gesamte Arbeit vorausgesetzt.
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de intervenierende Variable dar. Das, was ein Abgeordneter für die Meinung seiner Wähler hält, kann ihn in seinen eigenen Einstellungen oder – im amerikanischen Kontext – in seinem Abstimmungsverhalten beeinflussen, so die diesem Modell zu Grunde liegende These. Einige Forscher haben an Miller/Stokes anknüpfend diese Annahme überprüft und im Ergebnis die hohe Bedeutung der Perzeptionen bestätigt. Diese Ergebnisse sollen im Folgenden kurz skizziert werden. Damit ist aber noch nicht automatisch eine Aussage darüber getroffen, ob die Perzeptionen falsch oder richtig sind, ob also die vom Abgeordneten wahrgenommenen Einstellungen mit den tatsächlichen Einstellungen der Bevölkerung, seiner Wähler oder Parteimitglieder übereinstimmen oder nicht. Denn es ist denkbar, dass ein Abgeordneter in seinen eigenen Einstellungen sehr stark von seinen Perzeptionen beeinflusst wird, diese Wahrnehmungen aber mit der Realität nichts zu tun haben. Denn die Güte der Perzeptionen bemisst sich nach der Korrelation zwischen den tatsächlichen und den wahrgenommenen Einstellungen der Mitglieder. Forschungsergebnisse über diese Güte der Perzeptionen sollen im Folgenden ebenfalls zusammenfassend dargestellt werden. Charles F. Cnudde und Donald J. McCrone haben an Miller/Stokes anknüpfend und auf Basis derselben Daten die Bedeutung der Perzeptionen überprüft. Miller/Stokes hatten die Perzeptionen neben den Einstellungen des Abgeordneten als zweite mögliche intervenierende Variable zwischen den Einstellungen der Wähler eines Wahlkreises und dem Abstimmungsverhalten des entsprechenden Abgeordneten eingeführt. Diese beiden intervenierenden Variablen standen bei Miller/Stokes für zwei mögliche Pfade der Einflussnahme des Wahlkreises auf das Abstimmungsverhalten des Abgeordneten – entweder über die Einstellungen des Abgeordneten, dass die Wähler also solche Abgeordnete wählen, mit deren Einstellungen sie übereinstimmen, oder über die Perzeptionen des Abgeordneten, dass die Abgeordneten also versuchen, die Einstellungen ihrer Wähler möglichst gut wahrzunehmen und ihr Abstimmungsverhalten daran ausrichten (vgl. Abschnitt 2.2.1.2 dieser Arbeit). Cnudde/McCrone überprüften dieses Modell beim Thema der Bürgerrechte. Dabei kamen die beiden Forscher zu dem Schluss, dass es keine direkte Beziehung zwischen den Einstellungen der Bürger und den Einstellungen des Abgeordneten gibt. Für die Annahme Miller/Stokes’, dass Wähler solche Abgeordneten auswählen, mit deren Einstellungen sie ohnehin übereinstimmen, finden Cnudde/McCrone also keine empirische Bestätigung (Cnudde/McCrone 1969: 505). Stattdessen identifizieren die beiden Forscher zwei mögliche Pfade der Einflussnahme der Wähler auf den Abgeordneten, die beide über die Perzeptionen der Abgeordneten führen. So sei zum einen, wie auch von Miller/Stokes ausgemacht, ein Einfluss der Einstellungen der Wähler auf die Perzeptionen des
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Abgeordneten und so auf das Abstimmungsverhalten des Abgeordneten möglich. Über diesen Pfad ließen sich im Bereich der Bürgerrechte allein 60% der Beziehung zwischen Einstellungen der Bürger und Abstimmungsverhalten des Abgeordneten erklären. Zum anderen sei es aber auch möglich, dass die Einstellungen der Bürger die Perzeptionen des Abgeordneten und diese Perzeptionen dann wiederum die Einstellungen des Abgeordneten und so das Abstimmungsverhalten des Abgeordneten beeinflussten. In diesem Fall passten also die Abgeordneten ihre Einstellungen den vermuteten Einstellungen der Bürger an. Über diesen von Miller/Stokes unterschätzen Pfad lassen sich nach Cnudde/McCrone 28% der Beziehung zwischen Einstellungen der Bürger und Abstimmungsverhalten des Abgeordneten erklären. Beide über die Perzeptionen des Abgeordneten führenden Pfade erklären also zusammen 88% der Beziehung zwischen Bürger und Abgeordneten (Cnudde/McCrone 1969: 505-507). In einer späteren Studie kann McCrone zusammen mit James H. Kuklinski seine These bestätigen, dass jeder Zusammenhang zwischen Einstellungen der Wähler und Abstimmungsverhalten des Abgeordneten über die Perzeptionen vermittelt wird. Allerdings erweist sich in dieser Arbeit der Pfad, bei dem die Perzeptionen die Einstellungen des Abgeordneten beeinflussen, sogar als der dominante (Kuklinski/McCrone 1980: 149f). Insgesamt bestätigen und verstärken Cnudde, McCrone und Kuklinski mit ihren Ergebnissen die These Miller/Stokes’, dass die Perzeptionen eine immense Bedeutung für die Erklärung der Beziehung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten haben. Eine hohe Güte der Perzeptionen von Abgeordneten stellten Ronald D. Hedlund und H. Paul Friesema fest, indem sie 1967 181 Kongressmitglieder aus dem amerikanischen Bundesstaat Iowa befragten, in dem ein Jahr später Referenden zu vier Verfassungsänderungen (Selbstverwaltung für Gemeinden, die Möglichkeit der Wiederwahl, einjährige Legislaturperiode im Parlament und ein Vetorecht in Einzelthemen für den Gouverneur) stattfinden sollten. Die Abgeordneten sollten voraussagen, wie die Wähler ihres Distrikts und die des ganzen Landes in jedem dieser Themen votieren (Hedlund/Friesema 1972: 738). Es zeigte sich, dass die Abgeordneten das Abstimmungsverhalten ihrer Wahlkreise themenabhängig unterschiedlich gut voraussagen konnten. Bei dem Thema Selbstverwaltung lagen 91,5% der Abgeordneten richtig, bei dem Thema Wiederwahl 81,7%. Hedlund/Friesema erklären diese sehr hohe Güte der Perzeptionen der Abgeordneten damit, dass beide Themen besonders stark umstritten seien und ihnen in der Öffentlichkeit eine hohe Bedeutung beigemessen werde. Bei den eher technischen und weniger bedeutungsvollen Themen Veto und einjährige Legislaturperiode schätzten 64,3% bzw. 58,9% der Abgeordneten das Abstimmungsverhalten ihrer Wahlkreise richtig ein. Insgesamt lag ein Drittel der
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2 Forschungsstand
befragten Kongressmitglieder bei allen vier Themen mit seinen Voraussagen richtig, ein weiteres Drittel bei drei von vier Referenden und nur vier von 181 Abgeordneten lagen bei allen Themen daneben. Alles in allem konnten Hedlund/Friesema also eine eher hohe Güte der Perzeptionen der Abgeordneten, die jedoch von der Wichtigkeit des Themas abhängt, feststellen (Hedlund/ Friesema 1972: 740f). Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen 1975 Robert S. Erikson, Norman R. Luttbeg und William V. Holloway. Wie Hedlund/Friesema nutzten sie ein Referendum, um die Güte der Perzeptionen von Abgeordneten zu überprüfen. 1972 befragten sie 119 Abgeordnete des Repräsentantenhauses Floridas, wie sie den Ausgang dreier Referenden landesweit und in ihren Wahlkreisen voraussagten. Zur Abstimmung standen das hoch umstrittene Thema des School-Busings, das etwas weniger umstrittene Thema des Schulgebets und das als am wenigsten wichtig wahrgenommene, da sehr allgemeine Thema der Chancengleichheit (Erikson/Luttbeg/Holloway 1975: 233f). Es zeigte sich, dass fast alle Abgeordneten bei allen drei Referenden die Mehrheitsposition richtig voraussagten. Auch die Vergleiche der durchschnittlichen Schätzungen aller Abgeordneten mit dem nationalen Ergebnis und der geschätzten mit den tatsächlichen Wahlkreisergebnissen ergaben, dass die Abgeordneten im Schnitt nur wenige Prozentpunkte neben den Ergebnissen der Referenden lagen. Die individuellen Schätzungen der Abgeordneten wiesen allerdings eine breite Streuung auf, so ergab eine Korrelationsanalyse zwischen vorausgesagtem und tatsächlichen Abstimmungsverhalten in den Wahlkreisen beim Thema School-Busing eine Korrelation von r = 0,51, beim Schulgebet 0,42 und beim Thema Chancengleichheit nur 0,08. Auch der durchschnittliche Fehler war beim Thema Chancengleichheit am größten, beim School-Busing am geringsten. Erikson/Luttbeg/Holloway interpretieren dies wie Hedlund/Friesema als Ergebnis der unterschiedlichen Bedeutung der Themen in der öffentlichen Debatte: Perhaps this is indication that legislators are best able to pick up grass roots opinion when it is most vocally expressed (Erikson/Luttbeg/Holloway 1975: 237).
Insgesamt kommen die Autoren aber wie Hedlund/Friesema zu dem Fazit, dass die Abgeordneten relativ gut in der Lage sind, die Einstellungen ihrer Wähler richtig zu perzipieren. Für Deutschland und die kommunalpolitische Ebene kommen zu diesem Ergebnis auch Gabriel/Brettschneider/Kunz. Wie bereits erläutert haben die Forscher nicht direkt die Einstellungen der Bevölkerung erhoben, sondern die Ratsmitglieder und Stadtverordneten nach ihren eigenen und den perzipierten
2.2 Responsivität
123
Ausgabenpräferenzen der Mehrheit der Bürger gefragt. Dabei stellten sie fest, dass die Einstellungen der Kommunalpolitiker deutlich nach Parteizugehörigkeit variieren, die Einstellungen der Bevölkerung aber parteiübergreifend sehr ähnlich eingeschätzt werden: Der Rangkorrelationskoeffizient zwischen den Einschätzungen der Politiker unterschiedlicher Parteien der Ausgabenprioritäten der Bürger liegt mit wenigen Ausnahmen höher als rs = 0,90. Daraus schließen die Forscher, dass die Abgeordneten offenkundig zwischen eigenen Einstellungen und denen der Bürger differenzieren. Dies beweise zwar nicht, lege aber nahe, dass die Kommunalpolitiker gut in der Lage sind, den Willen der Bürger zu perzipieren (Gabriel/Brettschneider/ Kunz 1993: 34f). Zu einem eher gemischten Ergebnis hinsichtlich der Güte der Perzeptionen der Politiker kommt Walter. In ihrer Studie über sportpolitische Präferenzen von Kommunalpolitikern und Bürgern kann sie zwar zeigen, dass die Mandatsträger bei neun sportpolitischen Themen die Präferenzen der Bürger relativ treffsicher perzipieren. So beträgt der Mittelwert bei den Präferenzen der Bürger 3,2 (1 = starke Kürzung der Ausgaben auf dem jeweiligen sportpolitischen Gebiet, 5 = starke Erhöhung der Ausgaben), die Kommunalpolitiker perzipieren einen Mittelwert von 3,0 und liegen damit nahe an den tatsächlichen Präferenzen der Bürger. Daher bejaht Walter die These, dass die Kommunalpolitiker recht gut in der Lage sind, die Präferenzen der Bürger zu perzipieren (Walter 1997: 157). Allerdings beträgt auch die Differenz zwischen Perzeptionen und eigener Einstellung der Politiker, die im Schnitt bei 2,7 liegt, nur 0,3 Punkte; in vier der neun untersuchten sportpolitischen Themen liegen die Perzeptionen der kommunalen Mandatsträger sogar näher an deren eigenen Präferenzen als an den tatsächlichen Präferenzen der Bürger. Walter sieht daher für bestimmte sportpolitische Bereiche auch die These bestätigt, dass die Politiker den Bürgern ihre eigenen Präferenzen zuschreiben (Walter 1997: 157f). Einige Autoren kommen auch zu dem Ergebnis, dass die Perzeptionen der Abgeordneten insgesamt eher falsch sind, dass also ein relativ großer Unterschied zwischen wahrgenommener und tatsächlicher Bevölkerungsmeinung besteht. In diese Richtung weisen bereits die Ergebnisse von Miller/Stokes: Bei zwei der drei untersuchten Themen können Miller/Stokes nur eine sehr schwache Korrelation zwischen den Einstellungen der Bürger im Wahlkreis und den Perzeptionen der Abgeordneten nachweisen. So beträgt die Korrelation zwischen Perzeptionen der Abgeordneten und tatsächlichen Einstellungen der Bürger im Bereich der Sozialpolitik nur r = 0,17, im Bereich der Außenpolitik nur 0,19.43 Lediglich beim Thema der Bürgerrechte weist der Korrelationskoeffizient von r = 43
Die Autoren weisen allerdings darauf hin, dass im Bereich der Sozialpolitik die Abgeordneten deutlich besser in der Lage sind, die Einstellungen der Mehrheit der Bürger ihres Wahlkreises zu perzipieren.
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2 Forschungsstand
0,63 darauf hin, dass hier die Abgeordneten relativ gut in der Lage sind, die Präferenzen der Bürger ihres Wahlkreises einzuschätzen (Miller/Stokes 1963: 52). Zu dem Ergebnis, dass die Perzeptionen der Abgeordneten eher falsch sind, kommen für die Niederlande auch Paul Dekker und Peter Ester. Die beiden Forscher analysierten hierfür eine Sendung des niederländischen Fernsehens aus den Jahren 1985-1987, in der jeweils zwei Politiker unterschiedlicher Parteien die Einstellungen der Bevölkerung und der eigenen Wähler zu fünf politischen Themen schätzen mussten und diese Aussagen dann mit repräsentativen Meinungsumfragen verglichen wurden. In insgesamt 23 Sendungen traten 46 Politiker auf, überwiegend Parlamentarier, die ihre Einschätzungen zu insgesamt 115 Themen abgaben. Dekker/Ester konnten so 460 Perzeptionen untersuchen, da zu jedem Thema beide Studiogäste jeweils für Bevölkerung und Anhänger zwei Einschätzungen abgaben (Dekker/Ester 1989: 625f). Die Autoren kommen zu dem Fazit, dass die Politiker eher schlecht in der Lage waren, die Einstellungen von Bevölkerung und Parteianhängern einzuschätzen. Im Schnitt lagen sie 14,3% neben den tatsächlichen Einstellungen der Bevölkerung, bei einer Standardabweichung von 0,8%. Die Chance, dass ein Politiker weniger als zehn Prozent neben den tatsächlichen Einstellungen der Bevölkerung liegt, ist somit nahe Null. Auch die großzügigere Betrachtung, nach der Politiker nur richtig einschätzen können müssen, ob die eigene Position von einer Mehrheit oder einer Minderheit der Bevölkerung geteilt wird und ob die Unterstützung der eigenen Anhänger größer oder kleiner als die der Bevölkerung ist, ergibt ein von Dekker/Ester als enttäuschend bewertetes Ergebnis: In mehr als einem Viertel der Fälle schätzen die Politiker falsch ein, ob eine Position von der Mehr- oder Minderheit geteilt wird, ebenfalls in einem Viertel der Fälle sind die Politiker auch nicht in der Lage, die Position der eigenen Anhänger im Vergleich mit der Bevölkerungsmeinung korrekt zu bestimmen (Dekker/Ester 1989: 627f). Die beiden Forscher beurteilen daher die Fähigkeit der untersuchten Abgeordneten, die Einstellungen der Bevölkerung korrekt zu perzipieren, als poor (Dekker/Ester 1989: 628). Auch Arzberger kommt in seiner bereits zitierten Studie für die kommunalpolitische Ebene zu dem Schluss, dass die Eliten relativ schlecht in der Lage sind, die Präferenzen der Bürger zu perzipieren. So beträgt die durchschnittliche Korrelation zwischen tatsächlicher und von den Eliten vermuteter Meinung der Bürger lediglich r = 0,48. Die durchschnittliche Korrelation zwischen den Perzeptionen und den eigenen Einstellungen der Elite liegt hingegen bei r = 0,73. Wie Walter interpretiert Arzberger diesen Befund dahingehend, dass die Eliten den Bürgern unterstellen, das zu wollen, was auch die Eliten selbst für richtig halten (Arzberger 1980: 154f).
2.2 Responsivität
125
Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die Frage, wie gut die Repräsentanten in der Lage sind, die Einstellungen der Repräsentierten wahrzunehmen, in der Forschung umstritten ist. Von Ergebnissen, die den Abgeordneten eine hohe Güte ihrer Perzeptionen attestieren bis zu solchen, die hier zu einem negativen Ergebnis kommen, ist die gesamte Bandbreite in der Literatur zu finden. Im empirischen Teil dieser Arbeit wird zu überprüfen sein, welches Ergebnis bestätigt werden kann. Hierfür soll folgende These zur Güte der Perzeptionen der Abgeordneten getestet werden: 15. Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages nehmen die Einstellungen ihrer Parteimitglieder richtig wahr, es ist also kein nennenswerter Unterschied zwischen tatsächlichen und perzipierten Einstellungen der Mitglieder festzustellen.
2.2.2.3 Die subjektive Responsivität von Abgeordneten – eine dritte Forschungslücke In jeder Responsivitätsstudie, in der die Einstellungen der Abgeordneten und ihre Perzeptionen erhoben werden, könnten Aussagen darüber getroffen werden, ob der Abgeordnete selbst glaubt, responsiv zu sein. Denn der einfache Vergleich der Einstellung eines Repräsentanten mit seiner Perzeption der Einstellungen der Repräsentierten gibt Auskunft darüber, ob der Abgeordnete glaubt, dieselben oder ähnliche Einstellungen zu vertreten, wie die Gruppe, die er repräsentiert, oder ob er glaubt, dass seine Einstellungen von denen der Repräsentierten deutlich abweichen. Dieses Bewusstsein des Abgeordneten bezeichne ich als „subjektive Responsivität“. Es verwundert, dass in den vorliegenden Studien, in denen Einstellungen und Perzeptionen von Abgeordneten erhoben oder untersucht werden, die Autoren darauf verzichten, diese Daten direkt miteinander zu vergleichen und somit Aussagen über die subjektive Responsivität der untersuchten Abgeordneten zu treffen. Der Zusammenhang zwischen Einstellungen und Perzeptionen des Abgeordneten wird bestenfalls am Rande erwähnt, aber nicht systematisch betrachtet. Dies beginnt bereits mit Miller/Stokes. Die beiden Pioniere der Responsivitätsforschung untersuchen zwei mögliche Pfade der Einflussnahme der Bürger eines Wahlkreises auf ihren Abgeordneten: Entweder die Bürger wählten einen Abgeordneten aus, dessen Einstellungen mit ihren übereinstimmten und nähmen so Einfluss auf das Abstimmungsverhalten. Oder der Abgeordnete perzipiere die Einstellungen der Bürger und richte daran sein Abstimmungsverhalten aus (vgl. Abschnitt 2.2.1.3. dieser Arbeit). Den Zusammenhang zwischen eigenen Einstel-
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2 Forschungsstand
lungen und Perzeptionen des Abgeordneten betrachten Miller/Stokes nicht. Sie weisen zwar in einer Abbildung über die Interkorrelationen am Beispiel der Bürgerrechte mit r = 0,66 einen Korrelationskoeffizienten für diesen Zusammenhang, den ich als subjektive Responsivität des Abgeordneten bezeichne, aus, thematisieren dieses Ergebnis aber nicht weiter. In einer Fußnote erwähnen sie zwar, dass es prinzipiell sowohl denkbar sei, dass die Einstellungen eines Abgeordneten seine Perzeptionen beeinflussten, als auch, dass die Perzeptionen eines Abgeordneten Auswirkungen auf seine Einstellungen hätten (…to change his [des Abgeordneten, K. K.] own view to be consistent with the perceived constituency view), aber die grundlegende Überlegung, dass es überhaupt ein Bewusstsein eines Abgeordneten über seine Responsivität gibt, dass dieses Bewusstsein von der tatsächlichen Responsivität eines Abgeordneten abweichen kann und dass dieses, unter Umständen unzutreffende, Bewusstsein Auswirkungen auf das Verhalten des Abgeordneten haben kann, fehlt bei Miller/Stokes (Miller/Stokes 1963: 52f). Cnudde/McCrone betrachten in ihrer Studie den Zusammenhang zwischen Einstellungen und Perzeptionen des Abgeordneten etwas genauer und betrachten damit zumindest indirekt – und ohne sie so zu nennen – die Frage der subjektiven Responsivität des Parlamentariers. Denn wie bereits erläutert zeigen sie, dass ein Teil des Einflusses der Bürger auf das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten dadurch zustande kommt, dass der Abgeordnete seine Einstellungen und damit sein Abstimmungsverhalten seinen Perzeptionen der Einstellungen der Bürger anpasst (vgl. Abschnitt 2.2.2.2. dieser Arbeit). Cnudde/McCrone erklären diesen auf den ersten Blick unplausibel wirkenden Vorgang folgendermaßen: The deprivations are so severe that little room can be allowed for the Congressman’s own attitudes to distort this perception [der Einstellungen der Bürger im Wahlkreis, K.K.]. In fact, representatives are motivated to bring their own attitudes (or, at least, their public attitudes) into line with their perceptions of constituency attitude (Cnudde/McCrone 1969: 505).
Abgeordnete, deren Einstellungen nicht mit ihren Perzeptionen übereinstimmen, die also subjektiv nicht responsiv sind, fürchten die Konsequenzen dieser (vermuteten) fehlenden Responsivität und passen daher zumindest ihre öffentlich geäußerten Einstellungen den perzipierten Einstellungen der Bürger an, so Cnudde/McCrones These, die offenkundig an die entsprechende Bemerkung Miller/Stokes’ anknüpft. Anders als die Bevölkerung neigten Abgeordnete also nicht dazu, ihre Perzeptionen ihren eigenen Einstellungen anzupassen, sich also „einzureden“, die Bevölkerung verträte dieselben Einstellungen wie sie selbst. Denn dies führe in der Regel zu falschen Perzeptionen und damit zu hohen Kosten für den Abgeordneten (Cnudde/McCrone 1969: 508). Damit deuten
2.2 Responsivität
127
Cnudde/McCrone auch an, dass auch der dritte prinzipiell mögliche Weg für den sich subjektiv nicht responsiv fühlenden Abgeordneten, bewusst andere Einstellungen zu vertreten als er bei der Bevölkerung vermutet, also bewusst nicht responsiv zu sein, mit ebenfalls hohen Kosten verbunden ist. Unabhängig davon, ob diese Thesen Cnudde/McCrones empirisch so zutreffen, unabhängig auch davon, ob sie für deutsche Bundestagsabgeordnete gelten, sind diese Aussagen die einzigen in der mir vorliegenden Literatur, in der sich Autoren überhaupt etwas eingehender mit der Frage der subjektiven Responsivität befassen. Aber auch Cnudde/McCrone vergleichen die Überzeugung des Abgeordneten, mit den Einstellungen der Bürger übereinzustimmen oder nicht, nicht mit der tatsächlichen Übereinstimmung zwischen Einstellungen der Bürger und Einstellungen der Abgeordneten – weder auf der Individual-, noch auf der Aggregatsebene. Auch Kuklinski/McCrone, die direkt an die Studie Cnudde/McCrones anknüpfen, stellen lediglich fest, dass der Einfluss der Perzeptionen auf die Einstellungen des Abgeordneten auch von der Bedeutung abhängt, die der Abgeordnete dem Thema beimisst. Für je wichtiger ein Abgeordneter ein Thema hält, um so eher passt er seine eigenen Einstellungen den vermuteten der Wähler an (Kuklinski/McCrone 1980: 151-153). Weitere Überlegungen zu dem Bewusstsein des Abgeordneten seiner eigenen Responsivität finden sich aber auch hier nicht. In der amerikanischen Responsivitätsforschung wird also der Zusammenhang zwischen Einstellungen des Abgeordneten und seinen Perzeptionen wenn überhaupt, dann offenkundig ausschließlich unter dem Fokus betrachtet, ob und inwiefern sich diese beiden Variablen einseitig oder gegenseitig beeinflussen. Dies ist auch ein entscheidender Faktor, um die Einstellungen von Abgeordneten zu erklären. Dass der Korrelationskoeffizient zwischen Einstellungen der Abgeordneten und ihren Perzeptionen aber zunächst erst einmal ein Bewusstsein ausdrückt, nämlich den subjektiven Glauben der Abgeordneten, responsiv zu sein oder nicht, und dass dieses Bewusstsein falsch oder richtig sein kann, dies wird in der mir vorliegenden amerikanischen Literatur nicht thematisiert. Vermutlich lässt sich das mit dem seit Miller/Stokes in der amerikanischen Forschung üblichen Modell zur Responsivitätsmessung erklären. Denn das Bewusstsein des Abgeordneten über seine Responsivität ist ja vor allem unter dem Gesichtspunkt interessant, ob es Auswirkungen auf sein Verhalten hat. Da seit Miller/Stokes aber das Abstimmungsverhalten des Abgeordneten die abhängige Variable darstellt und dieses Verhalten mit den vorliegenden Modellen (und damit durchaus ja auch mit dem Zusammenhang zwischen Einstellungen und Perzeptionen des Abgeordneten!) hinreichend erklärt werden kann, sahen die meisten Autoren wahrscheinlich keine Notwendigkeit, dieses Bewusstsein des Abgeordneten weiter zu thematisieren.
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2 Forschungsstand
In der europäischen Responsivitätsforschung verhält sich dies anders. Hier werden in aller Regel Einstellungen verglichen, die Einstellungen des Abgeordneten stellen in fast allen Studien die abhängige Variable dar. Die meisten Studien betrachten also gar nicht das Verhalten des Abgeordneten, sondern konzentrieren sich auf die Einstellungsebene. Bei einem solchen Analysemodell ist es aber im Gegensatz zur amerikanischen Forschung offenkundig von hoher Relevanz, ob der Abgeordnete sich selbst für responsiv hält oder nicht. Denn es erscheint sehr plausibel, dass dieses Bewusstsein von Responsivität sein Verhalten beeinflusst. Ein Abgeordneter, der glaubt, seine Wähler stimmten ihm in wichtigen Werthaltungen zu, wird sich deutlich anders verhalten als ein Abgeordneter, der davon ausgeht, seine Wähler verträten in diesen Fragen abweichende Werthaltungen. Es ist davon auszugehen, dass ein Abgeordneter im ersten Fall viel selbstbewusster und authentischer seine Einstellungen öffentlich vertreten wird, gegebenenfalls mit anderen Einstellungen und Themen in den Wahlkampf ziehen wird und andere Projekte umzusetzen versuchen wird als im zweiten Fall. Um diese Zusammenhänge aber zu erforschen, ist es erforderlich, die subjektive Responsivität eines Abgeordneten zu kennen. Um so verwunderlicher ist es, dass sich keine deutsche Studie mit dieser Frage näher beschäftigt, obwohl für einige die benötigten Daten – Einstellungen und Perzeptionen des Abgeordneten – erhoben wurden. Lediglich andeutungsweise thematisiert Arzberger die subjektiven Responsivität der Abgeordneten. Er stellt fest, dass der Rangkorrelationskoeffizient zwischen Einstellungen der Eliten und von den Eliten vermuteten Einstellungen der Bürger, also den Perzeptionen, mit R = 0,73 vergleichsweise hoch ist. Diesen Zusammenhang nennt er Grad der Projektion der eigenen Präferenzen der Eliten. Dies ist zunächst eine unglückliche Bezeichnung des Zusammenhangs zwischen Einstellungen der Eliten und ihren Perzeptionen, da so unterstellt wird, dass die Eliten nicht auch unabhängig von ihren eigenen Einstellungen zu der Überzeugung gelangen können, die Bürger verträten dieselben Einstellungen wie sie, und zumindest nahe gelegt wird, dass die Eliten damit nicht auch richtig liegen können. Aber zumindest erwähnt Arzberger – ohne sie so zu nennen – die subjektive Responsivität der Eliten, wenn er schreibt: Bürger und Eliten unterstellen einander also im wesentlichen, das zu wollen, was sie auch selbst für richtig halten (Arzberger 1980: 154).
Die Eliten sind also überwiegend subjektiv responsiv, so lässt sich Arzbergers Aussage im Bezug auf die Eliten auch ausdrücken. Allerdings thematisiert er diese Erkenntnis über das Bewusstsein der Eliten in keiner Weise weiter.
2.2 Responsivität
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Auch Gabriel/Brettschneider/Kunz beschäftigen sich nicht weiter mit der Frage der subjektiven Responsivität. Zwar steht genau dieser Zusammenhang, nämlich der zwischen Präferenzen der Politiker und dem, was die Politiker für die Präferenzen der Bürger halten, im Zentrum ihrer Analyse. Aber die Autoren verwenden die erhobenen Perzeptionen als Surrogat für die tatsächlichen Einstellungen der Bürger, die sie nicht erhoben haben, da sie auf Grund der relativ einheitlichen Perzeptionen von Politikern aller Parteien begründet davon ausgehen können, dass die Güte der Perzeptionen hoch ist (Gabriel/Brettschneider/Kunz 1993: 31; 34; vgl. Abschnitt 2.2.2.1. dieser Arbeit). Dieses Vorgehen führt aber dazu, dass die Autoren nicht mehr zwischen objektiver und subjektiver Responsivität unterscheiden können. De facto erforschen Gabriel/Brettschneider/ Kunz also die subjektive Responsivität der befragten Kommunalpolitiker, diese stellt für sie aber nur einen Ersatz für die sie eigentlich interessierende objektive Responsivität dar. Ein eigenständiges Interesse der Autoren an dem Bewusstsein der Mandatsträger, responsiv zu sein oder nicht, lässt sich in der Studie nicht erkennen. Ein solches Interesse scheint auch Walter nicht zu haben. Ähnlich wie Arzberger betrachtet sie den Zusammenhang zwischen Einstellungen der Politiker und deren Perzeptionen der Einstellungen der Bürger allein unter dem Fokus, ob die Politiker der Bevölkerung ihre eigenen Präferenzen zuschreiben (Walter 1997: 157). Da nach ihren Ergebnissen die Unterschiede zwischen Politikerpräferenzen und der wahrgenommenen Bevölkerungsmeinung relativ gering sind, die Bevölkerung aber tatsächlich teilweise eher andere Präferenzen vertritt, kommt sie zu dem Ergebnis, dass zumindest in einigen sportpolitischen Sachfragen eine solche Zuschreibung der Politiker tatsächlich stattfinde (Walter 1997: 158; 185; 188f). Die subjektive Seite dieser Erkenntnis thematisiert sie hingegen nicht. Es findet sich bei ihr keinerlei Aussage, dass dies eben auch bedeutet, dass diese Politiker von ihrer Responsivität überzeugt sind – und damit offensichtlich falsch liegen. In der vorliegenden amerikanischen und deutschen Literatur finden sich also keine systematischen Untersuchungen der subjektiven Responsivität von Abgeordneten. Hiermit soll in dieser Arbeit begonnen werden. Dafür soll folgende These über den Zusammenhang zwischen Einstellungen der Abgeordneten und ihren Perzeptionen über die Einstellungen der Mitglieder überprüft werden: 16. Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages glauben, responsiv zu sein, es ist also kein nennenswerter Unterschied zwischen ihren eigenen Einstellungen und den perzipierten Einstellungen der Mitglieder festzustellen.
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2 Forschungsstand
2.2.2.4 Objektive Responsivität, Güte der Perzeptionen und der subjektive Glaube des Abgeordneten: Eine Typologie In dieser Arbeit sollen also sowohl die objektive Responsivität, die Güte der Perzeptionen und die subjektive Responsivität von Bundestagsabgeordneten untersucht werden. Hierfür soll ein Modell des Repräsentationsprozesses zu Grunde gelegt werden, bei dem, wie in der europäischen Responsivitäts-forschung üblich, die Einstellungen der Repräsentanten die abhängige, die Einstellungen der Repräsentierten, in diesem Fall der Parteimitglieder, die unabhängige Variable und die Perzeptionen die intervenierende Variable bilden (vgl. Abbildung 2):44 Abbildung 2:
Modell des Repräsentationsprozesses
Perzeptionen MdBs (intervenierende Variable) Güte der Perzeptionen
Subjektive Responsivität
Einstellungen MdBs
Einstellungen Mitglieder (unabhängige Variable)
Objektive Responsivität
(abhängige Variable)
Dabei beschreiben die Pfade zwischen den drei Variablen die drei Merkmale des Repräsentationsprozesses: Eine hohe Übereinstimmung zwischen den Einstellungen der Mitglieder und den Perzeptionen der Abgeordneten zeigt eine hohe Güte der Perzeptionen an. Denn wenn die tatsächlichen Einstellungen der Mitglieder den durch die Abgeordneten wahrgenommenen sehr ähnlich sind, dann perzipieren die Abgeordneten die Einstellungen ihrer Mitglieder überwiegend richtig. Entsprechend lässt ein schwacher Zusammenhang zwischen Einstellungen der Mitglieder und Perzeptionen darauf schließen, dass die Abgeordneten die Einstellungen ihrer Mitglieder überwiegend falsch perzipieren. Dieser Zusammenhang wird als einseitig angenommen, da es plausibel erscheint, dass die
44
Je nach Forschungsfrage können die Repräsentierten aber auch die Bürger, die eigenen Wähler, die Parteisympathisanten o. ä. sein.
2.2 Responsivität
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Einstellungen der Mitglieder auf die Perzeptionen der Abgeordneten wirken, nicht aber umgekehrt. Die Übereinstimmung zwischen den Einstellungen der Mitglieder und den Einstellungen der Abgeordneten hingegen gibt Aufschluss über die objektive Responsivität der Abgeordneten. Eine hohe Korrelation zeigt, dass Mitglieder und Abgeordnete weitgehend die gleichen Einstellungen vertreten, die Abgeordneten also objektiv responsiv sind. Eine schwache Korrelation weist hingegen auf eine geringe Responsivität der Abgeordneten hin. Ein Zusammenhang zeigt jedoch nicht notwenig auch ein direktes Ursache-Wirkungs-Verhältnis an, vielmehr wird in diesem Modell davon ausgegangen, dass für den Fall, dass die Einstellungen der Mitglieder tatsächlich die der Abgeordneten beeinflussen, dies immer über den Pfad der Perzeptionen geschieht, da Abgeordnete sich niemals unmittelbar an den tatsächlichen Einstellungen, sondern immer nur an ihren Wahrnehmungen derselben orientieren können. Dennoch ist die Übereinstimmung zwischen Einstellungen der Mitglieder und Einstellungen der MdBs entscheidend, denn sie gibt an, in welchem Maß die Abgeordneten überhaupt objektiv responsiv sind. Die objektive Responsivität der Abgeordneten sagt hingegen noch nichts darüber aus, ob die Abgeordneten sich selbst auch für responsiv halten. Diese subjektive Responsivität hängt vom Zusammenhang zwischen den Perzeptionen und den eigenen Einstellungen des Abgeordneten ab. Eine hohe Korrelation verweist darauf, dass die Einstellungen des Abgeordneten und das, was er für die Einstellungen seiner Mitglieder hält, weitestgehend übereinstimmen. Dieser Abgeordnete hält sich subjektiv folglich für responsiv. Korrelieren die Einstellungen des Abgeordneten und seine Perzeptionen hingegen nur schwach, dann geht er von einem großen Unterschied zwischen seinen und den Einstellungen der Mitglieder aus. Dieser Abgeordnete hält sich selbst für nicht responsiv. Hier wird, auf die vorliegenden Forschungsergebnisse gestützt, ein zweiseitiger Zusammenhang angenommen, dass sowohl die Perzeptionen die eigenen Einstellungen der MdBs, als auch, dass die Einstellungen der MdBs ihre Perzeptionen beeinflussen können. Diese drei Merkmale des Repräsentationsprozesses lassen sich kombinieren – aber nicht beliebig. So kann man beispielsweise nicht sinnvoll annehmen, dass ein Abgeordneter objektiv responsiv ist und sich auch subjektiv responsiv fühlt, die Güte seiner Perzeptionen aber nicht vorhanden ist. Denn wenn ein Parlamentarier objektiv mit den Einstellungen seiner Mitglieder überein stimmt und davon auch – zu Recht – subjektiv ausgeht, dann hat er die Einstellungen seiner Mitglieder rein logisch auch richtig wahrgenommen, daher muss dann auch die Güte seiner Perzeptionen hoch sein. Sinnvoll ergeben sich daher vier mögliche Kom-
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2 Forschungsstand
binationen der drei Merkmale des Repräsentationsprozesses, die für vier Typen von Abgeordneten stehen:45 Tabelle 1: Typen von Abgeordneten hinsichtlich objektiver Responsivität, Güte der Perzeptionen und subjektiver Responsivität
Typ A Typ B Typ C Typ D
Objektive Responsivität
Güte der Perzeptionen
Subjektive Responsivität
+
+
+
-
+
-
-
-
+
+
-
-
Typ A ist bewusst responsiv. Er stimmt mit den Einstellungen seiner Mitglieder überein und nimmt diese auch richtig wahr. Er ist also objektiv responsiv und geht auch subjektiv davon aus. Typ B ist bewusst nicht responsiv. Er stimmt mit den Einstellungen seiner Mitglieder nicht überein, ist also objektiv nicht responsiv. Er nimmt die Einstellungen seiner Mitglieder aber richtig wahr, er geht also subjektiv zu recht davon aus, nicht responsiv zu sein. Typ C hält sich fälschlich für responsiv. Er stimmt nicht mit den Einstellungen seiner Mitglieder überein, ist also objektiv nicht responsiv. Er nimmt die
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Die entwickelte Typologie bezieht sich auf Variablen mit dichotomen Ausprägungen, hier werden durch die Typologie alle möglichen Fälle erfasst. Hat eine Variable mehr als zwei Ausprägungen, wie die in dieser Arbeit nach dem Likertverfahren konstruierte Gerechtigkeitsskala, ist es auch möglich, dass ein Abgeordneter objektiv nicht responsiv ist, seine Perzeptionen falsch sind und er sich auch subjektiv nicht responsiv fühlt. Würden beispielsweise Abgeordnete und Mitglieder gebeten, sich zwischen Freiheit, Gleichheit und Sicherheit für den wichtigsten Wert zu entscheiden, ist es möglich, dass der Abgeordnete sich für Freiheit entscheidet, die Mitglieder aber (mehrheitlich) für Sicherheit. Der Abgeordnete perzipiert aber, dass die Mitglieder sich für Gleichheit entscheiden. In diesem Fall ist der Abgeordnete objektiv nicht responsiv, seine Perzeptionen sind falsch und er fühlt sich auch subjektiv nicht responsiv. Solche Fälle wurden in dieser Arbeit zu Typ B gerechnet, da davon ausgegangen wurde, dass es demokratietheoretisch relevant ist, dass solche Abgeordnete nicht responsiv sind und auch nicht davon ausgehen, responsiv zu sein, sie somit, auch wenn ihre Perzeptionen falsch sind, zu dem bewusst nicht responsivem Typ B gehören (vgl. hierzu auch Fußnote 94).
2.2 Responsivität
133
Einstellungen der Mitglieder aber falsch wahr. Er geht also fälschlich davon aus, responsiv zu sein, obwohl er es de facto nicht ist. Typ D ist unbewusst responsiv. Er stimmt mit den Einstellungen seiner Mitglieder überein, ist also objektiv responsiv. Er nimmt die Einstellungen seiner Mitglieder aber falsch wahr, er glaubt also, seine Mitglieder verträten andere Einstellungen. Entsprechend geht er auf Grund seiner unzutreffenden Perzeptionen fälschlich davon aus, nicht responsiv zu sein, obwohl er es de facto ist. Die Verteilung dieser vier Typen unter den CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages soll im empirischen Teil dieser Arbeit an Hand der folgenden vier Thesen überprüft werden: 17. Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages glauben zu Recht, responsiv zu sein (Typ A). 18. Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages glauben zu Recht, nicht responsiv zu sein (Typ B). 19. Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages glauben zu Unrecht, responsiv zu sein (Typ C). 20. Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages glauben zu Unrecht, nicht responsiv zu sein (Typ D).46 2.2.2.5 Einflussfaktoren auf objektive Responsivität, Güte der Perzeptionen und subjektive Responsivität Wodurch wird die objektive Responsivität des Abgeordneten beeinflusst? Welche Faktoren wirken sich negativ oder positiv auf die Güte seiner Perzeptionen oder seine subjektive Responsivität aus? Die in der Literatur bekannten Einflussfaktoren auf die objektive Responsivität und Güte der Perzeptionen der Abgeordneten sollen im Folgenden zur Generierung von Hypothesen für diese Arbeit zusammengetragen werden. Studien zu den Einflüssen auf die subjektive Respon-sivität existieren nicht, daher werden im Folgenden die Hypothesen hierzu aus den Annahmen über objektive Responsivität und Güte der Perzeptionen abgeleitet oder auf andere, jeweils explizierte Annahmen gestützt.47 46
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In diesen Formulierungen sind alle drei Merkmale des Responsivitätsprozesses enthalten: Die objektive Responsivität wird in der Formulierung responsiv zu sein bzw. nicht responsiv zu sein ausgedrückt. Ob die Abgeordneten zu Recht glauben oder zu Unrecht glauben, responsiv zu sein, verweist auf die Güte der Perzeptionen. Und ob sie glauben (…), responsiv zu sein oder glauben (…), nicht responsiv zu sein auf die subjektive Responsivität der Abgeordneten. Die Thesen zur subjektiven Responsivität werden also nicht geraten, obwohl selbst dies nach den Maßstäben des Kritischen Rationalismus erkenntnistheoretisch zulässig wäre (Popper 1994: 223). Entscheidend ist also auch in dieser Arbeit nicht die Form der Hypothesengenerierung, sondern die nüchterne Überprüfung ihrer Geltung (Popper 1994: 7).
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2 Forschungsstand
Zuerst werden mögliche Kontextfaktoren, also Einflüsse des Umfeldes auf die Abgeordneten, danach personale Faktoren, also Merkmale der Person des Abgeordneten, dargestellt. Ein Kontextfaktor ist die Herkunft der Abgeordneten aus Ost- oder Westdeutschland. Mehrere Studien weisen darauf hin, dass ostdeutsche Abgeordnete besonderen Wert auf Responsivität legen, mehr ostdeutsche als westdeutsche Abgeordnete also angeben, ihre Entscheidungen vor allem an den – perzipierten – Wünschen der Wähler auszurichten (Geißel 2004: 1244f; Patzelt/Schirmer 1996: 22; vgl. hierzu auch Berking/Neckel 1994). Aber sind ostdeutsche Abgeordnete auch tatsächlich objektiv responsiver als westdeutsche? Oder verhält es sich umgekehrt, etwa deswegen, weil sich ostdeutsche Abgeordnete in ihren Werthaltungen ihren westdeutschen Kollegen angenähert haben, während die viel zitierte „Mauer in den Köpfen“ bei der Bevölkerung noch steht? Damit verbunden ist die nächste Frage: Sind ostdeutsche Repräsentanten gegenüber ostdeutschen Repräsentierten responsiv, westdeutsche Repräsentanten gegenüber westdeutschen Repräsentierten? Dies erscheint realistisch, denn während eine Betrachtung nach Wahlkreisen in der europäischen Responsivitätsforschung wie bereits erläutert als eher unsinnig erachtet wird, ist es durchaus plausibel, auf Grund der Teilung Deutschlands anzunehmen, dass Abgeordnete – bewusst oder unbewusst – eher mit den Einstellungen der Bevölkerung aus dem Teil Deutschlands übereinstimmen, aus dem sie auch stammen. Zu diesen Fragen liegen bislang nur vereinzelt Erkenntnisse vor. Dies liegt vor allem daran, dass es nur wenige Responsivitätsstudien gibt, die Bevölkerung und Abgeordnete aus ganz Deutschland einbeziehen. Viele der in dieser Arbeit zitierten Responsivitätsstudien sind entweder vor der Wiedervereinigung entstanden oder beziehen sich lediglich auf die kommunale Ebene und sagen daher nichts zu dem Einfluss der ost- oder westdeutschen Herkunft auf die objektive Responsivität oder die Güte der Perzeptionen des Abgeordneten aus. Eine der wenigen Studien, die hierzu Erkenntnisse liefert, ist die Potsdamer Elitestudie von 1995.48 Viktoria Kaina vergleicht in diesem Rahmen Wertorientierungen der ost- und westdeutschen Bevölkerung sowie der ost- und westdeutschen Eliten. Sie zeigt, dass der Ost- West-Unterschied bei der Beurteilung der Wichtigkeit von bestimmten Wertorientierungen innerhalb der Bevölkerung und innerhalb der Elite deutlich geringer ausgeprägt ist als zwischen westdeutscher Elite und Bevölkerung und ostdeutscher Elite und Bevölkerung. Kurz ausgedrückt: Die vertikale Differenz dominiert die horizontale. So sind sich hinsichtlich der Beurteilung von bestimmten Werthaltungen und bezüglich ihrer materia-
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In der Potsdamer Elitestudie wurden jedoch in Tradition der Mannheimer Elitestudien in den Bundestagsfraktionen nur Inhaber von Führungspositionen befragt.
2.2 Responsivität
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listischen oder postmaterialistischen Orientierungen west- und ostdeutsche Eliten wesentlich einiger als jeweils die westdeutsche Elite mit der westdeutschen Bevölkerung und die ostdeutsche Elite mit der ostdeutschen Bevölkerung. Allerdings ist diese vertikale Differenz in Ostdeutschland noch deutlich stärker ausgeprägt: So sind die ostdeutschen Eliten etwas postmaterialistischer eingestellt als die westdeutschen, während die ostdeutsche Bevölkerung materialistischer eingestellt ist als die westdeutsche. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Beurteilung der Wichtigkeit von idealistischem Engagement: Die ostdeutsche Elite hält dies für deutlich wichtiger als die westdeutsche Elite, während die ostdeutsche Bevölkerung dies für unwichtiger hält als die westdeutsche Bevölkerung (Kaina 1997: 361; 372). In den Kategorien der Responsivitätsforschung ausgedrückt heißt dieser Befund Kainas: Sowohl west- als auch ostdeutsche Eliten sind relativ wenig responsiv. Die Diskongruenz der Wertpräferenzen zwischen Elite und Bevölkerung ist in Ostdeutschland aber noch deutlich stärker ausgeprägt. Entsprechend kommt Kaina auch zu dem Schluss, dass eine weitere Annäherung zwischen west- und ostdeutschen Eliten auf Kosten der Responsivität ostdeutscher Eliten gegenüber der ostdeutschen Bevölkerung ginge (Kaina 1997: 386). Dieser Befund Kainas wird durch die bereits zitierte Studie Welzels, der ebenfalls mit den Daten der Potsdamer Elitestudie arbeitet, präzisiert. Welzel kommt zu dem Ergebnis, dass die mangelnde Responsivität der Eliten gerade auf die in dieser Arbeit interessierenden rechten Eliten zurückzuführen ist, insbesondere auf die rechten Eliten Ostdeutschlands. So zeigt er, dass der ordnungspolitische Dissens zwischen Eliten und Nichteliten vor allem zwischen west- und ostdeutschen rechten Eliten und allen Bevölkerungsgruppen besteht. Diese Differenz ist in Ostdeutschland sogar noch größer als in Westdeutschland – und zwar sowohl gegenüber der rechten Bevölkerung, als auch gegenüber der linken Bevölkerung. Die linken Eliten Ostdeutschlands hingegen sind sich bezüglich ihrer ordnungspolitischen Orientierung mit der linken ostdeutschen Bevölkerung völlig einig, erreichen also im Bezug auf diese Gruppe ein Höchstmaß an Responsivität (Welzel 1998: 256-258). Für die Fragestellung dieser Arbeit muss aus den Ergebnissen der Potsdamer Elitestudie also festgehalten werden, dass die ostdeutsche Herkunft bei den rechten Eliten dazu führt, dass die Responsivität sowohl gegenüber der Bevölkerung als auch den politischen Sympathisanten der eigenen Herkunftsregion noch geringer ausgeprägt ist als bei den westdeutschen rechten Eliten. Auf die in dieser Arbeit untersuchten Gruppen übertragen hieße dies: Ostdeutsche CDUBundestagsabgeordnete sind gegenüber ostdeutschen Parteimitgliedern weniger responsiv als westdeutsche CDU-Bundestagsabgeordnete gegenüber westdeutschen Parteimitgliedern.
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2 Forschungsstand
Dieses Ergebnis untermauert auch die Arbeit von Patzelt/Schirmer aus dem Jahr 1996. Zwar führen die beiden Autoren keine Responsivitätsstudie durch, aber in ihrer vergleichenden Untersuchung des Amtsverständnisses von ost- und westdeutschen Abgeordneten nennen sie Besonderheiten im Amtsverständnis der ostdeutschen Abgeordneten, die aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer geringeren objektiven Responsivität von Parlamentariern aus den neuen Bundesländern gegenüber ihrer eigenen Basis führen müssten. So gewichten nach diesen Ergebnissen ostdeutsche Parlamentarier, insbesondere solche, die CDU und SPD angehören, die Wahlkreisarbeit deutlich geringer als ihre westdeutschen Kollegen, sie investieren hierfür sowohl weniger Zeit, als auch sind sie weniger im sog. vorpolitischen Raum verankert. Letzteres führen die Autoren vor allem darauf zurück, dass der vorpolitische Raum aus Vereinen, Verbänden und Organisationen in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung erst entstehen musste, somit die Abgeordneten oft gar nicht die Möglichkeit hatten, wie ihre westdeutschen Kollegen auf dieses Netzwerk zurückzugreifen. Hinzu komme, so Patzelt/Schirmer, dass die ostdeutschen Abgeordneten zumindest zu Beginn ihrer Amtszeit auch seltener der Auffassung waren, dass die Mitgliedschaft in unpolitischen Organisationen ihrer politischen Arbeit diene. Daher attestieren Patzelt/Schirmer den ostdeutschen Abgeordneten eine zu starke Betonung der parlamentarischen Arbeit und ein damit einhergehendes gewisses ‚Abheben‘ (Patzelt/Schirmer 1996: 23). Diese geringere Verankerung der ostdeutschen Abgeordneten gelte aber auch für den für diese Arbeit eigentlich interessierenden Bereich der Parteiarbeit. So verträten ostdeutsche Abgeordnete öfter eine kritische Haltung gegenüber der auch in der DDR verbreiteten Praxis, Parteiamt und Mandat zu koppeln. Entsprechend seien sie auch seltener als westdeutsche Abgeordnete in Gremien ihrer Parteibasis aktiv. Eine in 40 Jahren DDR gewachsene Aversion gegen Parteien führe auch zu einer geringeren emotionalen Identifikation mit der eigenen Partei (Patzelt/Schirmer 1996: 24f). Dies bestätigt auch Joachim Edward Krieger, der 1994 ostdeutsche Bundestagsabgeordnete und Mitarbeiter der Abgeordneten schriftlich und mündlich in Leitfadeninterviews befragte. Krieger stellt eine deutliche Distanz bei ostdeutschen Abgeordneten zu ihrer eigenen Partei fest. Insbesondere ostdeutsche Christdemokraten betonten auf Grund der Vergangenheit ihrer Partei als Blockpartei, dass sie keine „Parteisoldaten“ seien. So zitiert Krieger einen ostdeutschen CDU-Bundestagsabgeordneten: Ich sage Ihnen hier offen, dass ich ablehnen würde, dass die Partei mir vorschreibt, wie ich zu entscheiden habe. Ich bin dann generell … aufmüpfig … und ich würde generell dagegen sein, weil ich nach 40 Jahren DDR so eine Bevormundung nicht ertragen kann (Krieger 1998: 292).
2.2 Responsivität
137
Patzelt/Schirmer stellen fest, dass die Besonderheiten im Amtsverständnis der ostdeutschen Parlamentarier zwar in den letzten Jahren geringer geworden seien, es sich zum Zeitpunkt der Studie – 1996 – aber immer noch deutlich von dem der westdeutschen Kollegen unterschieden habe (Patzelt/Schirmer 1996: 26). Sollten diese Erkenntnisse Patzelt/Schirmers und Kriegers auch heute noch gelten, so müsste sich im empirischen Teil dieser Arbeit eine geringere Responsivität der ostdeutschen Abgeordneten gegenüber ihrer eigenen Parteibasis feststellen lassen. Daher lassen sich aus der Literatur folgende Thesen bezüglich des OstWest-Einflusses auf die Responsivität von Abgeordneten generieren: 21. Westdeutsche CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind gegenüber westdeutschen Mitgliedern objektiv responsiver als ostdeutsche Abgeordnete gegenüber ostdeutschen Mitgliedern. Ergebnisse zu dem Einfluss der Ost-West-Herkunft auf die Güte der Perzeptionen der Abgeordneten finden sich meines Wissens in der Literatur nicht. Die Erkenntnisse Patzelt/Schirmers lassen allerdings auch schlechtere Perzeptionen der ostdeutschen Abgeordneten vermuten. Daher kann an dieser Stelle die folgende Thesen formuliert werden: 22. Die Güte der Perzeptionen von westdeutschen CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages ist höher als die ihrer ostdeutschen Kollegen. Die Anhaltspunkte in der Forschung für eine höhere objektive Responsivität westdeutscher Abgeordneter und eine höhere Güte ihrer Perzeptionen lassen auch vermuten, dass auch die subjektive Responsivität westdeutscher Abgeordneter höher ist: 23. Westdeutsche CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages fühlen sich responsiver als ihre ostdeutschen Kollegen. Ein weiterer möglicher Kontextfaktor, der Responsivität beeinflussen könnte, ist der Urbanisierungsgrad der Wahlkreise der Abgeordneten. So ist es denkbar, dass Abgeordnete aus ländlichen Regionen auf Grund des stärker ausgeprägten gesellschaftlichen Lebens im besseren Kontakt zu der Bevölkerung stehen und daher die Responsivität der Abgeordneten stärker ausgeprägt ist. So zeigt etwa Patzelt, dass Abgeordnete aus ländlichen Regionen, in deren Wahlkreisen in der Regel ein blühendes Vereinsleben bestehe, daher deutlich mehr Zeit für gesell-
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2 Forschungsstand
schaftliche Veranstaltungen, Wahlkreisfeste aller Art und Bürgersprechstunden verwenden als Abgeordnete aus städtischen Wahlkreisen (Patzelt 1993: 311f). Diese Tatsache kann allerdings für das in dieser Arbeit interessierende Verhältnis zwischen Abgeordneten und Parteimitgliedern auch den gegenteiligen Effekt haben: Gerade weil in städtischen Wahlkreisen die Zahl der zu besuchenden Festivitäten wesentlich geringer ist, können sich die Abgeordneten dort eher ihren eigenen Parteigliederungen widmen. Hierzu passt der Befund Patzelts, dass Abgeordnete aus städtischen Wahlkreisen deutlich mehr Zeit auf kommunalpolitische Tätigkeiten verwenden als ihre Kollegen aus ländlicheren Gebieten (Patzelt 1993: 312). Kommunalpolitisches Engagement dürfte fast immer zu einem engen Kontakt mit der eigenen Partei führen, da der Abgeordnete in den kommunalen Parlamenten mit den aktiven Kommunalpolitikern seiner eigenen Partei zusammenarbeitet. Daher erscheint es auch plausibel, dass gegenüber ihren eigenen Parteimitgliedern CDU-Bundestagsabgeordnete aus städtischen Wahlkreisen responsiver sind als aus ländlichen Wahlkreisen. Für die Frage des Einflusses des Urbanisierungsgrades auf die Güte der Perzeptionen gelten ähnliche Überlegungen. Zwar stellen Hedlund/Friesema für die USA keinen messbaren Einfluss dieses Faktors auf die Güte der Perzeptionen fest (Hedlund/Friesema 1972: 747). Doch zumindest für die deutsche Kommunalpolitik kann Arzberger eine Beziehung nachweisen. So zeigt er, dass Kommunalpolitiker die Bevölkerungseinstellungen in fünf untersuchten Gemeinden um so besser wahrnehmen, je ländlicher die Gemeinde ist, in der sie wirken. So beträgt die Korrelation zwischen tatsächlicher und durch die Politiker perzipierter Meinung der Bürger in der größten untersuchten Stadt Frankfurt nur r = 0,41, während sie in der kleinsten Gemeinde Hadamar bei r = 0,67 liegt (Arzberger 1980: 154f). Es ist aber auch denkbar, dass dieses Ergebnis Arzbergers zwar bezüglich der Perzeptionen der Einstellungen der Bevölkerung zutrifft, nicht aber in Bezug auf die Parteimitglieder. Hier erscheint es wieder möglich, dass gerade die städtischen Abgeordneten auf Grund ihrer stärkeren Nähe zu ihrer eigenen Parteibasis besser in der Lage sind, die Einstellungen ihrer Parteimitglieder zu perzipieren. Insofern soll hinsichtlich des Einflusses des Urbanisierungsgrades auf die objektive Responsivität folgende Thesen überprüft werden: 24. CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages aus städtischen Wahlkreisen sind objektiv responsiver als ihre Kollegen aus ländlichen Wahlkreisen. Ebenso soll der Einfluss des Urbanisierungsgrades auf die Güte der Perzeptionen durch den Test folgenden These überprüft werden:
2.2 Responsivität
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25. Die Güte der Perzeptionen von CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages aus städtischen Wahlkreisen ist höher als die ihrer Kollegen aus ländlichen Wahlkreisen. Entsprechend soll auch bei der Frage der subjektiven Responsivität der folgende Zusammenhang angenommen werden: 26. CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages aus städtischen Wahlkreisen fühlen sich responsiver als ihre Kollegen aus ländlichen Wahlkreisen. Die wichtigsten personalen Einflussfaktoren auf die Responsivität von Abgeordneten stellen Alter und Amtsdauer dar. Beide Faktoren sind teilweise miteinander verknüpft: In der Regel wird ein junger Abgeordneter auch eine eher kurze Amtsdauer aufweisen – ist ein Abgeordneter sogar nur wenige Jahre älter als das passive Wahlalter beträgt, so kann er gar keine lange Amtsdauer aufweisen. Dies gilt umgekehrt jedoch nicht: Ein älterer Abgeordneter kann sehr wohl erst frisch gewählt sein, also erst kurz im Amt sein. Daher müssen Alter und Amtsdauer trotz der inhaltlichen Nähe getrennt betrachtet werden. Bezüglich des Alters finden sich in der Literatur sowohl Belege für einen positiven als auch für einen negativen Einfluss: Arzberger kann einen stetigen positiven Einfluss des Alters auf die Responsivität nachweisen. So stimmen die von ihm befragten Eliten bei der Prioritätensetzung in kommunalpolitischen Aufgabenbereichen um so besser mit den Bürgern überein, je älter sie sind. Dieser eindeutige Zusammenhang schwächt sich zwar beim Vergleich der Prioritätensetzung für Problemgruppen der Kommunalpolitik etwas ab, verkehrt sich aber nicht in sein Gegenteil (Arzberger 1980: 147-152). Zu einem entgegengesetzten Ergebnis kommt Walter in ihrer Untersuchung von Bürger- und Politikerpräferenzen in der kommunalen Sportpolitik. Sie kann zeigen, dass die Politiker der Altersgruppe von 31 bis 49 Jahren überdurchschnittlich responsiv, während Politiker zwischen 50 und 78 Jahren unterdurchschnittlich responsiv sind (Walter 1997: 181f).49 Ein empirischer Beleg, dass jüngere Abgeordnete auch die Einstellungen der Bevölkerung besser perzipieren als ältere, findet sich meines Wissens in der Literatur nicht. Theoretische Überlegungen hierzu liefert die Studie von Aage R. Clausen aus dem Jahr 1977, in der er auf Grund sozialpsychologischer Studien Thesen zur Güte der Perzeptionen von Abgeordneten entwickelt, aber nicht em49
In ihrer Studie aus dem Jahr 2002 muss Walter dieses Ergebnis jedoch insoweit korrigieren, dass sie fast keinen Einfluss des Alters auf die Responsivität mehr nachweisen kann und sofern doch vorhanden, dann insofern, dass ältere Kommunalpolitiker etwas responsiver sind als jüngere (Walter 2002: 274).
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2 Forschungsstand
pirisch überprüft. Clausen hält einerseits für plausibel, dass ältere Abgeordnete auf Grund ihrer größeren Erfahrung besser als jüngere Abgeordnete in der Lage sind, die Einstellungen der Bürger ihres Wahlkreises zu perzipieren. Andererseits sei aber auch denkbar, dass sich ältere Abgeordnete weniger für die Sicht der Wähler interessierten und einmal gewonnene Auffassungen über die Meinung der Bürger nicht mehr revidierten. Daher vermutet Clausen, dass ältere Abgeordnete besser in der Lage sind, stabile und langlebige Einstellungen der Bürger ihres Wahlkreises wahrzunehmen; Ansichten, die die Bürger erst seit kürzerer Zeit vertreten, würden hingegen von jüngeren Abgeordneten besser perzipiert (Clausen 1977: 377). Bei den in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden Grundwerten dürfte es sich eher um stabile Überzeugungen handeln, daher scheint hier Clausens These eines positiven Einflusses eines höheren Alters auf die Güte der Perzeptionen passend zu sein. Dies kann Walter empirisch bestätigen. Die Autorin, die den positiven Einfluss eines jüngeren Alters auf die Responsivität belegt hat, kommt zu dem Ergebnis, dass im Gegensatz dazu die Güte der Perzeptionen durch ein höheres Alter positiv beeinflusst wird. So zeigt Walter, dass ältere Kommunalpolitiker die Bevölkerungsmeinung überdurchschnittlich gut wahrnehmen, während jüngere Kommunalpolitiker deutlich schlechter in der Lage sind, die Präferenzen der Bevölkerung richtig zu perzipieren (Walter 1997: 159f). Der Einfluss der Amtsdauer auf die objektive Responsivität und die Güte der Perzeptionen der Abgeordneten ist, wie bereits erläutert, eng mit dem Einfluss des Alters verknüpft. So geht etwa das Ergebnis Walters, dass jüngere Politiker responsiver sind als ältere konform mit ihrem Befund, dass Politiker mit einer langen Amtsdauer unterdurchschnittlich responsiv sind – wenn auch nach ihren Ergebnissen Politiker mit einer kurzen Amtsdauer nicht überdurchschnittlich, sondern bloß durchschnittlich responsiv sind (Walter 1997: 181). Eine Erklärung für diesen von Walter gezeigten negativen Einfluss einer langen Amtsdauer auf die objektive Responsivität des Abgeordneten könnte der Befund Patzelts sein, dass jüngere Abgeordnete eher ihren Arbeitsschwerpunkt im Wahlkreis haben und entsprechend während der Wahlkreiswochen mehr Zeit auf die Wahlkreisarbeit verwenden als ältere Abgeordnete (Patzelt 1991b: 6870). Diese stärkere Verbundenheit jüngerer Abgeordneter mit dem Wahlkreis könnte auch zu einer höheren Responsivität führen. In dieselbe Richtung argumentierte 1973 John W. Kingdon, der Abgeordnete des Kongress über ihre Entscheidungsprozesse bei Abstimmungen befragte. Er vertritt die These, dass …senior members of the House appear to be less preoccupied with their constituencies than are junior congressmen (Kingdon 1973: 62). Entsprechend sei für jüngere Abgeordnete der Wahlkreis bei ihrer Entscheidungsfindung wesentlich wichtiger als für ältere Abgeordnete. Kingdon führt diesen Zusammenhang da-
2.2 Responsivität
141
rauf zurück, dass sich ältere Abgeordnete ihrer Wiederwahl in der Regel wesentlich sicherer seien. Oft verbesserten sich ihre Wahlergebnisse im Laufe der Zeit, und falls nicht, so wachse doch die Loyalität der Wähler. Hinzu komme, dass Abgeordnete im Laufe ihrer Amtszeit oft die Erfahrung machten, dass auch ein von den Wünschen der Bürger im Wahlkreis abweichendes Abstimmungsverhalten oft zu gar keiner negativen Reaktion ihrer Wähler führe (Kingdon 1973: 62f). Im Laufe seiner Amtsdauer emanzipiert sich also der Abgeordnete von seinem Wahlkreis, so lassen sich die Annahmen Kingdons zusammenfassen. Dieser Prozess kann zu einer mit fortschreitender Amtsdauer abnehmenden Responsivität des Abgeordneten führen. Dieses Ergebnis bestätigt Lynda W. Powell, die in einer Studie aus dem Jahr 1982 die Übereinstimmung der siegreichen und unterlegenen Kandidaten für das House of Representatives mit den Präferenzen der Bürger verglich. Sie nimmt an, dass Abgeordnete in der Regel bei einmal gefassten Meinungen blieben und generell nur langsam auf neue Einstellungen ihrer Wähler reagierten. Daher seien auch Änderungen in den Entscheidungen des Houses immer eher Resultat einer durch Wahlen veränderten Zusammensetzung des Houses als auf Meinungsänderung der einzelnen Abgeordneten zurückzuführen. Je länger die Amtszeit eines Abgeordneten sei, um so mehr Divergenzen mit den Einstellungen seiner Wähler addierten sich, so Powell (Powell 1982: 672). Daher kommt sie zu dem Schluss, dass die Amtsdauer einen negativen Einfluss auf die Responsivität der Abgeordneten hat: As theoretically predicted, higher levels of seniority (…) are associated with lower levels of representation (Powell 1982: 674).
Dies wirke sich aber nicht negativ auf die Wiederwahlchancen des Abgeordneten aus. Denn selbst dann, wenn der Herausforderer eher mit den Einstellungen der Wähler übereinstimme als der Amtsinhaber, werde dieser in der Regel auf Grund seiner Bekanntheit und der Loyalität der Wähler wiedergewählt (Powell 1982: 672). Zu dem Ergebnis, dass sich Seniorität negativ auf Responsivität auswirkt, kommt auch Brettschneider, der allerdings, wie bereits erläutert, nicht Einstellungen von Repräsentierten und Repräsentanten vergleicht, sondern das parlamentarische Handeln von Abgeordneten, Fraktionen und Regierungen im Hinblick auf die Übereinstimmung mit den Einstellungen der Bevölkerung untersucht. Brettschneider zeigt, dass unter allen Kanzlerschaften seit 1949 die Responsivität der Handlungen von Regierung und Regierungsfraktionen im Laufe der Jahre abnahm. Zwar ist dieser Zusammenhang nur relativ schwach ausge-
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2 Forschungsstand
prägt, er weist aber in allen Fällen ein negatives Vorzeichen auf (Brettschneider 1995: 173).50 Welchen Einfluss die Amtsdauer auf die Güte der Perzeptionen hat, ist in der Literatur im Gegensatz zum Einfluss des Alters umstritten. So kommt zwar Walter zu dem Ergebnis, dass die Amtsdauer bei den Perzeptionen in die gleiche Richtung wirkt wie das Alter: Eine kurze Amtsdauer führt zu unterdurchschnittlich guten Perzeptionen, eine lange Amtsdauer zu überdurchschnittlich guten Perzeptionen (Walter 1997: 159). Erikson/Luttbeg/Holloway aber kommen in ihrer bereits zitierten Studie zu dem entgegengesetzten Ergebnis. Entgegen der eigenen Erwartung der Forscher zeigen ihre Daten, dass die Abgeordneten, die erst eine Legislaturperiode im Parlament sind, durchweg besser in der Lage sind, das Abstimmungsverhalten der Bevölkerung vorauszusagen als ihre Kollegen mit einer längeren Amtsdauer (Erikson/Luttbeg/Holloway 1975: 240-242). Somit ergibt sich bezüglich des Einflusses von Alter und Amtsdauer auf objektive Responsivität und Güte der Perzeptionen ein gemischtes Bild: Umstritten sind der Einfluss des Alters auf die Responsivität und der Einfluss der Amtsdauer auf die Güte der Perzeptionen. Einigkeit besteht hingegen bei den beiden anderen Punkten: So findet sich kein Autor, der von einem positiven Einfluss eines jungen Lebensalters auf die Güte der Perzeptionen ausgeht. Ebenso kommen alle mir vorliegenden Studien zu dem Schluss, dass mit steigender Amtszeit die objektive Responsivität der Abgeordneten abnimmt. In jungen Jahren wissen die Abgeordneten also nicht, was ihre Wähler wollen, sie vertreten aber auch so oft die gleichen Einstellungen. Mit steigender Amtszeit erkennen sie die Präferenzen ihrer Wähler immer besser, vertreten aber zunehmend andere Auffassungen – so lässt sich der Stand der Forschung etwas überspitzt zusammenfassen. Diese Annahmen sollen durch folgende Thesen überprüft werden: 27. Jüngere CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind objektiv responsiver als ihre älteren Kollegen. Der Einfluss des Alters auf die Güte der Perzeptionen soll durch folgende These getestet werden:
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Brettschneider erklärt dieses Ergebnis allerdings damit, dass sich gegen Ende einer Regierung die Gemeinsamkeiten der Regierenden, ggf. auch der Koalitionspartner, aufgebraucht haben könnten (Brettschneider 1995: 174). Sollte diese Vermutung Brettschneiders zutreffen, dann wäre sein Ergebnis nicht auf diese Arbeit übertragbar, da sich bei individuellen Einstellungen von Abgeordneten keine Gemeinsamkeiten aufbrauchen können.
2.2 Responsivität
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28. Die Güte der Perzeptionen von älteren CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages ist höher als die ihrer jüngeren Kollegen. Bezüglich der subjektiven Responsivität soll angenommen werden, dass ältere Abgeordnete, da sie näher am Durchschnittsalter der CDU-Mitglieder liegen, sich daher subjektiv responsiver fühlen: 29. Ältere CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages fühlen sich responsiver als ihre jüngeren Kollegen. Der Einfluss der Amtsdauer auf die objektive Responsivität wird durch diese These überprüft: 30. CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit einer kürzeren Amtsdauer sind objektiv responsiver als ihre Kollegen mit einer längeren Amtsdauer. Der Einfluss der Amtsdauer auf die Güte Perzeptionen durch diese These: 31. Die Güte der Perzeptionen von CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit einer längeren Amtsdauer ist höher als die ihrer Kollegen mit einer kürzeren Amtsdauer. Für die subjektive Responsivität wird angenommen, dass Abgeordnete, die dem Bundestag schon länger angehören auf Grund ihrer größeren Erfahrung auch glauben, responsiver zu sein. Daher soll folgende These überprüft werden: 32. CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit einer längeren Amtsdauer fühlen sich responsiver als ihre Kollegen mit einer kürzeren Amtsdauer. Neben Alter und Amtsdauer wird die Frage des Einflusses des Rollenverständnis’ auf die Responsivität des Abgeordneten in der Forschung diskutiert. Eingeführt wurde dieser Faktor von den beiden Pionieren dieses Forschungsbereichs, von Miller und Stokes. Allerdings fragten die beiden Forscher die Abgeordneten nicht nach ihrem Rollenverständnis, sondern schlossen aus der jeweiligen Stärke der Pfade zwischen Einstellungen der Wähler, Einstellungen der Abgeordneten sowie deren Perzeptionen und Abstimmungsverhalten auf das Vorliegen von bestimmten Rollenorientierungen der Abgeordneten (vgl. Abschnitt 2.2.1.2. dieser Arbeit). Damit postulieren Miller/Stokes aber einfach, dass ein Zusam-
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2 Forschungsstand
menhang bestehe zwischen Rollenverständnis und Abstimmungsverhalten des Abgeordneten. Diese Annahme ist allerdings sowohl in der amerikanischen als auch der europäischen Forschung umstritten. Aufschluss können hier solche Studien geben, in denen das Rollenverständnis des Abgeordneten eine intervenierende Variable darstellt und somit Aussagen getroffen werden können, ob ihr Einfluss signifikant ist. Solche Studien sowie empirisch gestützte Annahmen zur Bedeutung des Rollenverständnis’ sollen im Folgenden kurz zusammengefasst werden. Dabei muss an Eulau et al. anknüpfend zwischen Fokus und Style der Rollenorientierung des Abgeordneten unterschieden werden (vgl. Abschnitt 1.1. dieser Arbeit). Wenn auch die meisten Autoren diese Unterscheidung referieren, so wird doch in der Regel lediglich der Einfluss des Styles auf die Responsivität der Abgeordneten untersucht. Für den amerikanischen Kontext ist der Einfluss des Rollenverständnis’ auf die Responsivität des Abgeordneten relativ unumstritten. So stellten etwa James Kuklinski und Richard C. Elling 1977 fest, dass Delegates responsiver als Politicos und Trustees sind. Hierfür verglichen sie das Abstimmungsverhalten von kalifornischen Abgeordneten mit Ergebnissen von Referenda aus den späten 60er und frühen 70er Jahren, die sie mit Hilfe einer Faktorenanalyse drei Dimensionen zuordneten (Liberalismus, Steuersystem und Einstellungen zu Verwaltung und Regierungssystem). Es zeigte sich, dass die Delegates bei zwei der drei untersuchten Dimensionen, nämlich bei den Fragen zu Liberalismus und Steuersystem, mit ihren Wählern wesentlich besser übereinstimmen als die Politicos und Trustees; bei letzteren konnte gar keine signifikante Korrelation zwischen ihrem Abstimmungsverhalten und den Einstellungen ihrer Wähler gemessen werden (Kuklinski/Elling 1977: 143). Bei den Fragen zu Verwaltung und Regierungssystem gab es zwar auch bei den Delegates keine signifikante Übereinstimmung mit ihren Wählern, dieser Bereich wurde aber auch von den Wählern als am wenigsten bedeutend eingestuft (Kuklinski/Elling 1977: 144). Daher kommen die Autoren insgesamt zu dem Fazit, dass Delegates zumindest bei als bedeutend angesehenen Themen sich als deutlich responsiver erwiesen haben als Abgeordnete, die einen anderen Style praktizieren. In der europäischen Forschung ist hingegen bereits umstritten, ob die Rollenorientierung überhaupt einen Einfluss auf die Responsivität von Abgeordneten hat. Für Schweden stellt etwa Sören Holmberg keinen Einfluss des Styles fest. An Miller/Stokes anknüpfend vergleicht der Forscher Einstellungen von Wählern und Abgeordneten des Schwedischen Reichstages, die er 1985 schriftlich erhoben hat (Holmberg 1991: 291f). Er kommt zu dem Ergebnis, dass Korrelationen zwischen Rolle und Verhalten oder Präferenzen des Abgeordneten dismally weak seien. Sofern doch in Ansätzen vorhanden, wiesen sie zwar in die erwartete Richtung – so wichen etwa Trustees bei Abstimmungen ein wenig
2.2 Responsivität
145
öfter von der Parteilinie ab als andere Abgeordnete –, insgesamt seien die Korrelationen aber so schwach, dass sie vernachlässigbar seien (Holmberg 1991: 303f). Entsprechend verwendet der Forscher bei seiner anschließenden Untersuchung der Kongruenzen zwischen Einstellungen der Wähler und Einstellungen der Abgeordneten das Rollenverständnis der Abgeordneten auch nicht als intervenierende Variable. Auch für Deutschland ist der heuristische Wert des Konzepts eines Rollenverständnis’ des Abgeordneten umstritten. Patzelt hält es für eine wirklichkeitsfremde Dimension (Patzelt 1993: 197). Er argumentiert, dass in seiner Studie aus dem Jahr 1989, in der er das Amtsverständnis und die Wahlkreisarbeit von Abgeordneten untersuchte, lediglich bei den Abgeordneten der SPD eine Zustimmung zur Trustee-These mit einer Ablehnung der Delegate-These einhergehe ( = -0,49). Bei den Parlamentariern der CSU hingegen gebe es einen positiven Zusammenhang zwischen der Zustimmung zu beiden Thesen von = 0,36, bei den Grünen sogar von = 0,60. Ein Großteil der Abgeordneten hält also offensichtlich beide Orientierungen für vereinbar, so Patzelt, obwohl doch das analytische Konstrukt gerade von einem Gegensatz der beiden Orientierungen ausgehe. Diese Abgeordneten ließen sich auch nicht als „Politicos“ bezeichnen, denn auch dieser Typus basiere auf der Annahme, dass der Trustee- und der Delegate-Style an sich alternative Rollenorientierungen darstellten. Patzelt kommt daher zu dem Schluss, dass es keine tatsächlich gehegten Rollenorientierungen der Abgeordneten gäbe und daher dieses analytische Konzept aufzugeben sei (Patzelt 1993: 212). Dem widerspricht zumindest für die ostdeutschen Abgeordneten Krieger. In seiner Studie geht im Schnitt die Zustimmung zur Trustee-Orientierung mit einer Ablehnung der Delegate-Orientierung einher ( = -0,37) und entspricht damit den Erwartungen der Theorie der Rollenorientierungen. Dieses Ergebnis ist bei den von Krieger befragten ostdeutschen CDU-Abgeordneten noch stärker ausgeprägt, bei ihnen liegt eine negative Korrelation von = -0,40 vor. Die Mitarbeiter der Abgeordneten sehen einen noch deutlicheren Gegensatz zwischen den beiden Rollenorientierungen, bei ihnen geht eine Zustimmung zur Trustee-These deutlich mit einer Ablehnung der Delegate-These einher, beträgt -0,68. Krieger sieht auf Grund dieser Ergebnisse Patzelts These als nicht bestätigt an (Krieger 1998: 369f). Einig sind sich Krieger und Patzelt hingegen in ihrem Ergebnis, dass die Abgeordneten sich selbst ganz überwiegend als Trustees verstehen. Nach Kriegers Ergebnissen stimmen 80% der befragten ostdeutschen Abgeordneten der Vertrauensmannthese völlig oder überwiegend zu, 77% lehnen die Delegiertenthese eher ab oder halten sie für falsch (Krieger 1998: 350; 364). Bei Patzelt stimmen 78% der Abgeordneten der Trustee-These zu, 58,7% lehnen die Delegate-
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2 Forschungsstand
These ab (Patzelt 1993: 209). Diese Ergebnisse werden in einer aktuelleren Studie Achim Kielhorns, der Bestimmungsgründe und Auswirkungen der Rollenorientierungen von Abgeordneten aus elf EU-Ländern auf ihr Repräsentationsverhalten untersucht hat und dafür eine Befragung aus den Jahren 1996 und 1997 von Abgeordneten aus elf EU-Staaten, darunter auch Deutschland, ausgewertet hat, noch übertroffen (Kielhorn 2002: 56f). So verstehen sich nach Kielhorns Ergebnissen 96% der deutschen Abgeordneten als Trustees, nur 4% als Delegates. Damit erreichen die deutschen Abgeordneten die höchste Zustimmung zu dem Trustee-Style von allen befragten Abgeordneten aus elf europäischen Ländern – allerdings dominiert in allen Ländern, mit Ausnahme Spaniens, die Trustee-Orientierung. Kielhorn vermutet auf Grund dieses eindeutigen Ergebnisses, dass der Trustee-Style inzwischen Teil der politischen Kultur der meisten europäischen Länder sei (Kielhorn 2002: 92f). Unabhängig davon, ob die Frage des Styles des Abgeordneten nun ein heuristisch wertvolles Konzept ist oder nicht, würde diese von allen Forschern konstatierte eindeutige Dominanz der Trustee-Orientierung bei deutschen Abgeordneten dazu führen, dass die Messung des Einflusses des Styles von Abgeordneten auf ihre objektive Responsivität relativ sinnlos wäre. Denn wenn eine unabhängige Variable – in diesem Fall der Style des Abgeordneten – nicht variiert, kann sie keine Unterschiede bei der abhängigen Variable – der Responsivität des Abgeordneten – erklären. Daher betrachtet auch Kielhorn lediglich den Einfluss des Fokus’ des Abgeordneten auf seine Responsivität. Denn hier vertreten die von ihm befragten Abgeordneten durchaus unterschiedliche Rollenorientierungen, so geben 42% der befragten deutschen Abgeordneten die Nation als ihren Fokus an, 24% den Wahlkreis, 18% die eigene Partei und 16% eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe (Kielhorn 2002: 86).51 Kielhorn untersucht nun zunächst, ob sich die unterschiedlichen Fokusse der Abgeordneten auf ihr Kommunikationsverhalten mit einzelnen gesellschaftlichen Gruppen auswirken. Dabei stellt er fest, dass alle Abgeordnetentypen zwar mit den Bürgern am häufigsten Kontakt haben. Aber die Intensität variiert dennoch mit dem Fokus. So haben 91% aller Abgeordneten mit dem Fokus „Wahlkreis“ mindestens einmal wöchentlich Kontakt zu Bürgern, aber nur 57% aller Abgeordneten mit dem Fokus „Partei“. Damit kommuniziert dieser Abgeordnetentyp mit Bürgern fast so häufig wie mit seiner Parteiorganisation, mit der 50% der Abgeordneten dieser Gruppe einmal wöchentlich Kontakt haben. Von den Abgeordneten mit dem Fokus Wahlkreis sind dies nur 40% (Kielhorn 2002: 262). 51
Eine Studie der Universität Jena, für die 2003/2004 insgesamt 1703 Abgeordnete aus Landtagen, Bundestag und Europäischem Parlament befragt wurden, bestätigt weitgehend diese Verteilung der Fokusse der Abgeordneten (Best et al. [2004b]: 8).
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Neben diesem Einfluss des Rollen- auf das Kommunikationsverhalten kann Kielhorn aber auch einen Zusammenhang des Fokus’ des Abgeordneten auf seine Responsivität nachweisen – und zwar insofern, dass Abgeordnete mit unterschiedlichen Fokussen gegenüber unterschiedlichen Gruppen responsiv sind. So stimmen Abgeordnete mit dem Fokus Nation am stärksten mit dem MedianWähler ihres Landes überein, während die Einstellungen von Parlamentariern mit dem Fokus Partei sich am ehesten mit den Einstellungen ihrer eigenen Parteiwähler decken. Wahlkreis-Abgeordnete befinden sich zwischen diesen beiden Positionen, sie stimmen eher mit dem Median-Wähler überein als der Parteivertreter und eher mit den Parteiwählern als der Nationenvertreter (Kielhorn 2002: 274). Kielhorn stellt daher fest, dass Repräsentationsrollen auch für die Übereinstimmung von Abgeordneten und Bürgern im Hinblick auf politische Sachfragen von Bedeutung sind (Kielhorn 2002: 275). Da in dieser Arbeit die Responsivität von Abgeordneten gegenüber den Mitgliedern ihrer eigenen Partei untersucht werden soll, lässt sich aus den Ergebnissen Kielhorns die These ableiten, dass Abgeordnete mit dem Fokus Partei gegenüber ihren Mitgliedern am responsivsten sind, gefolgt von den Abgeordneten mit dem Fokus Wahlkreis und wiederum gefolgt von den Abgeordneten mit dem Fokus Nation. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass der Einfluss des Rollenverständnisses deutscher Abgeordneter auf ihre Responsivität umstritten ist. Während der Einfluss des Styles des Abgeordneten zum einen verneint wird, da das analytische Konzept einer alternativen Orientierung als Trustee oder Delegate als unrealistisch betrachtet wird, zum anderen aber auch die Befürworter dieses Konzepts auf Grund der mangelnden Varianz keinen Einfluss dieser Orientierung nachweisen können, kann ein Zusammenhang zwischen Fokus und Responsivität des Abgeordneten gezeigt werden. Im Gegensatz zum Einfluss der Rollenorientierung auf die Responsivität der Abgeordneten liegen zu ihrem Einfluss auf die Güte der Perzeptionen nur vereinzelte Erkenntnisse, und wenn, dann lediglich aus der amerikanischen Forschung, vor. McCrone/Kuklinski gehören zu den wenigen Forschern, die diesen Zusammenhang untersucht haben. Im Jahr 1974 befragten sie 38 Abgeordnete des kalifornischen Parlaments, welches Abstimmungsverhalten der Bürger ihrer Wahlkreise sie bei fünf Referenda prognostizieren. Außerdem wurden den Parlamentariern Beschreibungen des Trustee- und des Delegate-Styles vorgelegt und sie wurden gefragt, welche Rollenbeschreibung ihrem eigenen Verhalten am ehesten entspreche. 16 der 38 Abgeordneten entschieden sich hier für den Delegate-Style (McCrone/Kuklinski 1979: 283-287). Es zeigte sich, dass die Perzeptionen dieser Delegates wesentlich treffsicherer waren als die der Nondelegates, der Zusammenhang zwischen den tatsächli-
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2 Forschungsstand
chen Einstellungen der Bürger im Wahlkreis und den prognostizierten Einstellungen bei den Delegates also deutlich stärker war als bei den Nondelegates (McCrone/Kuklinski 1979: 292). Unter der von den Autoren in ihrer Studie ebenfalls getesteten Bedingung, dass der Abgeordnete aus seinem Wahlkreis möglichst konsistente Signale zur politischen Stimmung empfängt, kann die Selbstdefinition des Abgeordneten als Delegate so dazu beitragen, die Verbindung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten zu stärken (McCrone/ Kuklinski 1979: 280-282; 292). Zu dem entgegengesetzten Ergebnis kommen Hedlund/Friesema in ihrer bereits zitierten Studie. Die Forscher stellen fest, dass nicht wie erwartet die Delegates, sondern die Trustees am besten in der Lage sind, das Abstimmungsverhalten der Bürger in vier Referenda vorherzusagen. So konnten 40,2% aller Trustees das Abstimmungsverhalten der Bürger bei allen vier Referenda korrekt prognostizieren, aber nur 31,7% der Politicos und sogar nur 22,7% der Delegates (Hedlund/Friesema 1972: 743). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Erikson/Luttbeg/Holloway. Sie stellen ebenfalls fest, dass die Trustees besser als Delegates und Politicos in der Lage sind, den Ausgang von Referenda vorherzusagen (Erikson/Luttbeg/Holloway: 242). Eine Erklärung für dieses unerwartete Resultat finden die Autoren nicht. Eine solche liefert Clausen auf Grund theoretischer Überlegungen. Er nimmt an, dass die Güte der Perzeptionen des Abgeordneten abhängt von seiner Kenntnis des Wahlkreises und von Glück. Bei einer dichotomen Verteilung führe das Glück zu einer 50%-Chance mit seinen Perzeptionen richtig zu liegen. Das Wissen über den Wahlkreis erhöhe diese Chance um 10% auf 60%. Trustees lägen mit dieser Wahrscheinlichkeit mit ihren Perzeptionen richtig. Delegates hingegen seien gezwungen, auf Grund ihrer eigenen Rollenorientierung ihre eigenen Einstellungen mit ihren Perzeptionen in Einklang zu bringen. Also nimmt Clausen an, dass sie in einigen Fällen ihre Perzeptionen änderten, nämlich ihren eigenen Einstellungen anpassten.52 Wenn auch diese Änderungen zufallsverteilt seien, dann führten sie in 60% der Fälle dazu, dass aus einer richtigen Perzeptionen eine falsche würde, in 40%, dass eine falsche Perzeption korrigiert werde. Daher führe jede Änderung einer Perzeption zu einem Nettoverlust von 20% Wahr-
52
Clausen thematisiert nicht, dass Delegates auch andersherum ihre eigenen Einstellungen ihren Perzeptionen anpassen könnten oder eine Diskongruenz ihrer Einstellungen und Perzeptionen zulassen, aber ihrem Rollenverständnis folgend dennoch gemäß ihrer Perzeptionen handeln könnten. Beide Möglichkeiten sind meines Erachtens ebenso mit dem Rollenverständnis als Delegate vereinbar und realistisch. Dennoch kann Clausens Argumentation Plausibilität beanspruchen, da auch eine einzige Änderung einer Perzeption insgesamt zu der von ihm begründeten schlechteren Güte der Perzeptionen der Delegates als der der Trustees führen würde.
2.2 Responsivität
149
scheinlichkeit, dass die Perzeption tatsächlich der Ansicht der Wähler entspricht (Clausen 1977: 375). Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass der Einfluss des Styles auf die Güte der Perzeptionen umstritten ist. Studien zum Einfluss des Fokus’ auf die Güte der Perzeptionen finden sich meines Wissens nicht. Allerdings können hier die Ergebnisse über den Einfluss des Fokus auf die Responsivität zur Hypothesengenerierung herangezogen werden. Somit ergeben sich folgende Thesen: Im Bezug auf den Zusammenhang zwischen Fokus der Abgeordneten und Responsivität soll diese These überprüft werden: 33. CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit dem Fokus Partei sind objektiv responsiver als ihre Kollegen mit dem Fokus Wahlkreis, diese wiederum sind responsiver als ihre Kollegen mit dem Fokus Nation. Eine Überprüfung des Einfluss des Styles des Abgeordneten ist nur sinnvoll, wenn hier die Orientierung der Abgeordneten auch hinreichend variiert. Sollte dies der Fall sein, so lässt sich aus der amerikanischen Forschung folgende These generieren: 34. CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit dem Style Delegate sind objektiv responsiver als ihre Kollegen mit dem Style Trustee. Für den Einfluss des Fokus’ auf die Güte der Perzeptionen kann These (33) analog angewendet werden: 35. Die Güte der Perzeptionen von CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit dem Fokus Partei ist höher als die ihrer Kollegen mit dem Fokus Wahlkreis, diese wiederum ist höher als die ihrer Kollegen mit dem Fokus Nation. Sollte sich der Style der Abgeordneten hinreichend unterscheiden, kann folgende These über seinen Einfluss überprüft werden: 36. Die Güte der Perzeptionen von CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit dem Style Delegate ist höher als die ihrer Kollegen mit dem Style Trustee. Bezüglich der subjektiven Responsivität erscheint es plausibel, dass Abgeordnete mit dem Fokus Partei sich gegenüber Parteimitgliedern für besonders responsiv
150
2 Forschungsstand
halten. Ebenfalls liegt es nahe, dass Abgeordnete mit dem Fokus Wahlkreis sich gegenüber der eigenen Parteibasis im Wahlkreis responsiver fühlen als Abgeordnete mit dem Fokus Nation. Daher soll die folgende These getestet werden: 37. CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit dem Fokus Partei fühlen sich responsiver als ihre Kollegen mit dem Fokus Wahlkreis, diese wiederum fühlen sich responsiver als ihre Kollegen mit dem Fokus Nation. Sollte eine Überprüfung des Einfluss’ des Styles möglich sein, ist zu vermuten, dass sich Abgeordnete, die sich als Delegates verstehen, auch responsiver fühlen: 38. CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit dem Style Delegate fühlen sich responsiver als ihre Kollegen mit dem Style Trustee. Im Gegensatz zum Einfluss des Rollenverständnisses wurde die Bedeutung des Faktors Bildung nur relativ selten und meist mit negativem Ergebnis untersucht. Uppendahl ist einer der wenigen Autoren, der einen Zusammenhang zwischen Bildung und Responsivität annimmt. Er geht davon aus, dass ein zu geringer Bildungsstand des Abgeordneten responsivitätsfeindlich sei, da dies die Perzeptionsfähigkeit des Abgeordneten beeinträchtige (Uppendahl 1981b: 130). Allerdings liefert Uppendahl keine empirischen Belege für seine These. Holmberg hingegen untersucht in seiner bereits zitierten Studie den Einfluss der Bildung zusammen mit dem anderer soziodemographischer Faktoren auf die Responsivität der Mitglieder des schwedischen Reichstages. Er kommt zu dem Ergebnis, dass insbesondere die Bildung der Abgeordneten keinen Einfluss auf ihr Verhalten hat (Holmberg 1991: 297). Daran anknüpfend entscheiden sich andere Autoren wie beispielsweise Walter, den Einfluss der Bildung auf die Responsivität des Abgeordneten gar nicht erst zu untersuchen (Walter 1997: 126). Einen Einfluss der Bildung des Abgeordneten auf seine Fähigkeit, die Einstellungen seiner Wähler zu perzipieren, weisen Hedlund/Friesema nach. Nach ihren Ergebnissen sind die Kongressmitglieder mit einer geringeren Bildung etwas besser in der Lage, das Abstimmungsverhalten der Bürger bei den Referenden vorauszusagen als Abgeordnete mit höherer Bildung. Allerdings ist dieser Zusammenhang sehr schwach (Hedlund/Friesema 1972: 747; 749). Wenn also auch die meisten Autoren keinen Einfluss der Bildung auf Responsivität und Perzeptionen der Abgeordneten annehmen, so soll dies doch im empirischen Teil dieser Arbeit überprüft werden. An die wenigen Ergebnisse der Forschung anknüpfend soll dabei bezüglich des Einflusses auf die Responsivität folgende These getestet werden:
2.2 Responsivität
151
39. CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit einer höheren formalen Bildung sind objektiv responsiver als ihre Kollegen mit einer niedrigeren formalen Bildung. In Hinblick auf den Einfluss der Bildung auf die Perzeptionen lassen sich aus der Literatur auf Hedlund/Friesema rekurrierend die folgende These ableiten: 40. Die Güte der Perzeptionen von CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit einer niedrigeren formalen Bildung ist höher als die ihrer Kollegen mit einer höheren formalen Bildung. Für die subjektive Responsivität soll ähnlich wie beim Alter angenommen werden, dass formal niedriger gebildete Abgeordnete eher dem durchschnittlichen Bildungsniveau der CDU-Mitglieder entsprechen und sie daher eher als die formal höher gebildeten Abgeordneten glauben, responsiv zu sein: 41. CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit einer niedrigeren formalen Bildung fühlen sich responsiver als ihre Kollegen mit einer höheren formalen Bildung. Einen weiteren möglichen Einflussfaktor auf die objektive Responsivität von Abgeordneten stellt das Geschlecht der Abgeordneten dar. Erstaunlicherweise treffen aber fast alle vorliegenden Studien keine Aussagen zum Einfluss dieses Faktors.53 Lediglich Holmberg weist im Rahmen seiner Responsivitätsstudie darauf hin, dass die von ihm untersuchten weiblichen Abgeordneten des schwedischen Parlaments in bestimmten politischen Fragen eine spezifische Position einnähmen, beispielsweise besonders aufgeschlossen gegenüber sozialstaatlichen Maßnahmen seien, dass Geschlecht der Parlamentarier somit politisch bedeutsam sei (Holmberg 1991: 299). Allerdings untersucht er im Folgenden dennoch nicht den Einfluss dieses Faktors auf die Responsivität. Kielhorn betrachtet zumindest den Einfluss des Geschlechts auf die Rollenorientierung der Abgeordneten. Er kommt zu dem Ergebnis, dass ein moderater Einfluss auf den Fokus der Rollenorientierung vorhanden ist: Weibliche Abgeordnete tendieren am häufigsten zum Fokus Partei, während ihre männlichen Kollegen am häufigsten den Fokus Nation nennen. Auch der Wahlkreis stellt bei 53
Ob dies daran liegt, dass sich in diesen Studien kein Einfluss des Geschlechts auf Responsivität und Perzeptionen von Abgeordneten gezeigt hat und daher auch nicht thematisiert wurde, oder ob dieser Zusammenhang – evtl. auch in Ermangelung einer ausreichend großen Fallzahl weiblicher Abgeordneter – gar nicht geprüft wurde, ist aus den meisten Studien nicht ersichtlich und vermutlich von Studie zu Studie unterschiedlich.
152
2 Forschungsstand
Männern deutlich häufiger den Fokus der Rollenorientierung dar als bei Frauen. Kielhorn vermutet, dass die stärkere Ausrichtung der weiblichen Abgeordneten am Fokus Partei eine Folge der gezielten Bemühungen der Parteien sei, besonders weibliche Mandatsträger zu rekrutieren. Dies führe zu einer höheren Solidarität weiblicher Abgeordneter gegenüber ihrer Partei (Kielhorn 2002: 188f). Sollte diese These zutreffen, so erscheint es plausibel, dass Parlamentarierinnen auch gegenüber ihren Parteimitgliedern responsiver sind als Parlamentarier, die sich nach dieser These anderen Bezugsgruppen stärker verpflichtet fühlen müssten. Eine Studie, in der der Einfluss des Geschlechts auf die Güte der Perzeptionen der Abgeordneten thematisiert wird, findet sich unter den mir vorliegenden Arbeiten nicht. In Ermangelung empirischer Daten soll daher zur Hypothesengenerierung die populäre These herangezogen werden, nach der Frauen über mehr Empathie verfügten als Männer. Sollte dies tatsächlich so sein, so ist auch zu erwarten, dass weibliche Abgeordnete besser als ihre männlichen Kollegen in der Lage sind, die Einstellungen der Parteimitglieder zu perzipieren. Daher sollen folgende Thesen überprüft werden: 42. Weibliche CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind objektiv responsiver als ihre männlichen Kollegen. 43. Die Güte der Perzeptionen von weiblichen CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages ist höher als die ihrer männlichen Kollegen. Die Anhaltspunkte in der Literatur, nach der sich weibliche Abgeordnete gegenüber der Partei stärker verpflichtet fühlen könnten als ihre männlichen Kollegen, legt auch nahe, dass weibliche Abgeordnete auch subjektiv responsiver sind. Dies soll mit dieser These überprüft werden: 44. Weibliche CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages fühlen sich responsiver als ihre männlichen Kollegen. Zum Einfluss der Religiosität der Abgeordneten auf ihre Responsivität und die Güte ihrer Perzeptionen finden sich in den vorliegenden Studien ebenfalls keine Erkenntnisse. Es scheint jedoch plausibel, dass Abgeordnete, die religiöser sind und auch häufiger zur Kirche gehen eher mit den Einstellungen der – im Schnitt ja ebenfalls religiöseren – CDU-Mitglieder übereinstimmen und auch besser in der Lage sind, ihre Einstellungen zu perzipieren. Ebenfalls erscheint es nahe liegend, dass sich die religiöseren Abgeordneten daher auch responsiver fühlen als ihre weniger religiösen Kollegen. Daher sollen folgende Thesen angenommen werden:
2.2 Responsivität
153
45. Stärker religiöse CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind objektiv responsiver als ihre weniger religiösen Kollegen. 46. Die Güte der Perzeptionen von stärker religiösen CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages ist höher als die ihrer weniger religiösen Kollegen. 47. Stärker religiöse CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages fühlen sich responsiver als ihre weniger religiösen Kollegen.
2.2.3 Zusammenfassung des Forschungsstandes und Konsequenzen für die eigene Arbeit Die bisherigen Ergebnisse der empirischen Responsivitätsforschung erweisen sich als lückenhaft, unübersichtlich und teilweise widersprüchlich. Lückenhaft in mehrfacher Hinsicht: Zu dem bereits benannten Forschungsdesiderat, dass in keiner Studie die Responsivität von deutschen Abgeordneten gegenüber ihren Parteimitgliedern untersucht wurde, kommt hinzu, dass Ergebnisse über den Einfluss vieler Faktoren auf die objektive Responsivität und die Güte der Perzeptionen der Abgeordneten entweder generell nur sehr spärlich oder nur in der amerikanischen Forschung vorliegen, oft sind diese Studien auch relativ alt. Erkenntnisse über die objektive Responsivität deutscher Bundestagsabgeordneter nach der Wiedervereinigung liefern nur wenige Studien. Vor allem aber liegt der Autorin keine Studie vor, in der die subjektive Responsivität von Abgeordneten systematisch untersucht wird, obwohl für einige Studien die hierfür benötigten Daten erhoben wurden. Daher gibt es bisher – zumindest für Deutschland – auch keine Untersuchung, wie sich das Bewusstsein des Abgeordneten, responsiv zu sein oder nicht responsiv zu sein auf sein Verhalten auswirkt. Unübersichtlich ist der Stand der Forschung vor allem deshalb, weil die verschiedenen Studien in Untersuchungsdesign und Methodik kaum zu vergleichen sind. Einige Studien orientieren sich am Design Miller/Stokes’, einige modifizieren es, andere gehen völlig anders vor. Die Studien variieren auch hinsichtlich der Gruppen, deren objektive Responsivität und gegenüber denen Responsivität untersucht wird und hinsichtlich der verwendeten statistischen Analyseverfahren. Außerdem bleibt es weitgehend der persönlichen Einschätzung der Autoren überlassen, ab wann die untersuchten Politiker als objektiv oder subjektiv responsiv bewertet werden, ab wann die Güte ihrer Perzeptionen als hoch angesehen wird. Ein objektiver Maßstab oder zumindest ein nachvollziehbares Verfahren, das Aussagen über die objektive und subjektive Responsivität sowie die Güte der Perzeptionen eines Abgeordneten erlaubt, hat sich bisher in der Forschung nicht durchgesetzt.
154
2 Forschungsstand
Die Widersprüchlichkeit der bisherigen Ergebnisse der Responsivitäts-forschung verwundert auf Grund dieser Situation nicht. Sie zeigt sich bereits in der generellen Uneinigkeit, ob deutsche oder amerikanische Abgeordnete als responsiv betrachtet werden können und wie die Güte ihrer Perzeptionen zu bewerten ist. Ersteres wird noch zumindest überwiegend positiv beantwortet, bei letzterem decken die Antworten der Forschung das mögliche Spektrum nahezu komplett ab. Vor allem aber ist die Bedeutung möglicher Einflussfaktoren umstritten, insbesondere der Einfluss von Alter, Amtsdauer, Rollenverständnis und formaler Bildung der Abgeordneten. Weitere empirische Arbeiten zur Responsivität von Bundestagsabgeordneten sind daher dringend erforderlich. Wünschenswert ist dabei, neben der Generierung aktueller Daten und der Überprüfung der Bedeutung der bisher umstrittenen Einflussfaktoren, vor allem auch die systematische Analyse der subjektiven Responsivität der Abgeordneten. Erst auf einer solchen Basis können weitere Studien dann Untersuchungen über die Auswirkungen der subjektiven Responsivität auf das Verhalten der Abgeordneten anstellen. Nötig ist auch die Entwicklung eines nachvollziehbaren Verfahrens, das die Unterscheidung zwischen objektiv oder subjektiv responsiven und objektiv oder subjektiv nicht responsiven Abgeordneten und die Einordnung der Güte ihrer Perzeptionen ermöglicht. Die vorliegende Arbeit möchte zu diesen Punkten einen Beitrag leisten. Zusammenfassend soll daher im Folgenden der zu untersuchende Repräsentationsprozeß nochmals schematisch dargestellt werden, wobei nun auch die möglichen Einflussfaktoren auf objektive Responsivität, Güte der Perzeptionen und subjektive Responsivität sowie die in Abschnitt 2.2.2.4. entwickelten Typen von Abgeordneten aufgenommen wurden:
155
2.2 Responsivität
Abbildung 3:
Modell des Repräsentationsprozesses inkl. Einflussfaktoren und Abgeordnetentypen
Einflussfaktoren
Einflussfaktoren
Ost/West Urbanisierungsgrad Alter Amtsdauer Rollenverständnis Bildung Geschlecht Religiosität
Ost/West Urbanisierungsgrad Alter Amtsdauer Rollenverständnis Bildung Geschlecht Religiosität
Perzeptionen MdBs (intervenierende Variable)
Güte der Perzeptionen
Subjektive Responsivität
Typ A: Typ B: Typ C: Typ D:
Typ A: Typ B: Typ C: Typ D:
+ + -
Einstellungen MdBs
Einstellungen Mitglieder (unabhängige Variable)
+ + -
(abhängige Variable)
Objektive Responsivität Typ A: Typ B: Typ C: Typ D:
Einflussfaktoren Ost/West Urbanisierungsgrad Alter Amtsdauer Rollenverständnis Bildung Geschlecht Religiosität
+ +
3 Empirischer Teil 3 Empirischer Teil
In diesem Teil der Arbeit werden die entwickelten Thesen empirisch überprüft. Zunächst wird hierfür die Operationalisierung des Themas, insbesondere die Auswahl und Entwicklung der Fragen und die Durchführung der postalischen Befragung erläutert. Danach werden die fertigen Datensätze beschrieben und die Analysestrategie erläutert. Schließlich werden zunächst die Thesen zu den egalitären und nonegalitären Einstellungen der CDU-Mitglieder und CDUBundestagsabgeordneten, dann zur objektiven und subjektiven Responsivität sowie zur Güte der Perzeptionen der Abgeordneten empirisch überprüft. 3.1 Operationalisierung des Themas und Durchführung der Untersuchung
3.1 Operationalisierung des Themas und Durchführung der Untersuchung Zur empirischen Erhebung egalitärer und nonegalitärer Einstellungen wurden teilweise neue Fragen und Messinstrumente entwickelt, teilweise konnte auf thematisch passende bereits in anderen Studien bewährte Fragen zurückgegriffen werden. Neu entwickelt wurden eine Einstiegsfrage, in der allgemein nach der Bewertung der sozialen Gegebenheiten in Deutschland gefragt wurde, eine sog. „Gerechtigkeitsskala“, in der nach dem Likertverfahren sowohl mit neuen als auch mit bereits getesteten Items generell das Vorliegen egalitärer und nonegalitärer Einstellungen erfasst werden soll und die sog. „Länderfragen“ zur Messung der Bereitschaft zur Nivellierung nach unten. Zurückgegriffen wurde auf die bereits zitierten Fragen des Instituts für Demoskopie Allensbach, in denen die Präferenz für Freiheit oder Gleichheit und die Einschätzung des Zusammenhangs von Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit erhoben wird (NoelleNeumann-Köcher 2002: 602; Allensbach 2003: 71; vgl. Abschnitt 2.1.2.1. dieser Arbeit). Die Likertskala bestand zunächst aus zwölf Items. Diese wurden in einem ersten Pretest, an dem sich 36 Personen beteiligten, getestet. Bei der Itemanalyse erwies sich der korrigierte Trennschärfekoeffizient von drei Items als zu niedrig. Diese wurden ausgeschieden, in den endgültigen Fragebogen somit neun Items
158
3 Empirischer Teil
aufgenommen54. Diese Items wurden teilweise neu entwickelt, teilweise aus dem ALLBUS, von Allensbach und aus dem ISJP (Liebig 2006) übernommen. Fünf dieser Items sind egalitäre Aussagen: Das Item Das Einkommen sollte sich nicht allein nach der Leistung des Einzelnen richten. Vielmehr sollte jeder das haben, was er mit seiner Familie für ein anständiges Leben braucht stammt aus dem ALLBUS 2000 (ALLBUS 2000: 114), die Aussagen Die Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland ist ungerecht55; Die Verringerung der Ungleichheit der Verteilung von Einkommen und Vermögen sollte ein wichtiges politisches Ziel sein und Es ist ungerecht, dass die Politik in den letzten Jahren soziale Leistungen des Staates eingeschränkt hat, gerechter wäre es gewesen, die Gutverdiener stärker zu belasten hat die Autorin selbst entwickelt. Das Item schließlich Der Sozialismus ist im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde wurde von Allensbach übernommen (Noelle-Neumann/Köcher 2002: 623). Die vier nonegalitären Items lauten: Die Rangunterschiede zwischen den Menschen sind akzeptabel, weil sie im wesentlichen ausdrücken, was man aus den Chancen, die man hatte, gemacht hat (ALLBUS 2000: 115), Es ist gerecht, dass man das, was man durch Arbeit verdient hat, behält, auch wenn das heißt, dass einige reicher sind als andere und Es hat schon seine Richtigkeit, wenn Unternehmer große Gewinne machen, denn am Ende profitieren alle davon (beide Items aus: Liebig 2006: 36) und Wenn die Leistungen der sozialen Sicherung, wie Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall, Arbeitslosenunterstützung und Frührenten so hoch sind wie jetzt, führt dies nur dazu, dass die Leute nicht mehr arbeiten wollen (ALLBUS 2004: 103). Die Zustimmung zu diesen Items wird mit vier Antwortmöglichkeiten (Stimme voll und ganz zu; Stimme eher zu; Stimme eher nicht zu; Stimme überhaupt nicht zu) erfasst, denen Werte zwischen +3 und -3 zugeteilt werden. 54
55
Ausgeschieden wurde das aus dem ALLBUS 2000 entnommene Item Nur wenn die Unterschiede im Einkommen und im sozialen Ansehen groß genug sind, gibt es auch einen Anreiz für persönliche Leistungen (ALLBUS 2000: 114). Auch die beiden neu entwickelten Items Am gerechtesten wäre es, wenn alle etwa das gleiche an Einkommen und Besitz hätten und die Aussage, die Rawls’ Argument der Lotterie der Natur aufnehmen sollte, Es ist ungerecht, dass einige mehr haben als andere, nur weil sie das Glück haben, über besondere Begabungen oder Fähigkeiten zu verfügen erreichten keinen ausreichenden Trennschärfekoeffizienten. Diese Aussage ist auf den ersten Blick keine eindeutig egalitäre, denn theoretisch kann man auch aus einer nonegalitären Motivation heraus die Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland als ungerecht empfinden. Praktisch allerdings wird diese Aussage fast immer dann bejaht, wenn die Verteilung in Deutschland als zu ungleich empfunden wird. Entsprechende Forschungsergebnisse wurden bereits in dieser Arbeit aufgezeigt, dies hat auch die Itemanalyse im Pretest bestätigt und dies lässt sich auch an Hand der Antworten der CDUMitglieder zeigen (vgl. Abschnitte 2.1.2.1. und 3.4.1 dieser Arbeit). Daher kann dieses Item als eine egalitäre Aussage betrachtet werden.
3.1 Operationalisierung des Themas und Durchführung der Untersuchung
159
Diese Skala wird im Folgenden „Gerechtigkeitsskala“ genannt. Zur Messung der Bereitschaft zur Nivellierung nach unten und zur Unterscheidung zwischen strengem und gemäßigtem Egalitarismus gibt es nach Kenntnis der Autorin noch kein sozialwissenschaftliches Instrumentarium, hier wurden in Anlehnung an das Ringstorffsche Bild folgende drei Fragen entwickelt: a)
Stellen Sie sich als Gedankenexperiment zwei Länder vor.
In Land A gibt es keine Reichen und keine Armen. Alle verdienen zwischen 2000 und 3000 € im Monat. In Land B verdienen 90% der Erwerbstätigen zwischen 2000 und 3000 € im Monat. 10% zwischen 8000 und 9000 €. In welchem Land geht es Ihrer Meinung nach gerechter zu?
Diese Frage entspricht Beispiel B in Abschnitt 2.1.1.1.. Sowohl der strenge als auch der gemäßigte Egalitarist muss sich hier für Land A entscheiden, der Nonegalitarist für Land B. Das heißt also, dass sich auf Grund der Antworten auf diese Frage nicht entscheiden lässt, ob der Befragte streng oder gemäßigt egalitär argumentiert. Diese Einordnung ist erst möglich in Kombination mit der zweiten Frage: b) Nun stellen wir in unserem Gedankenexperiment Land A ein anderes Land gegenüber. In welchem der beiden Länder geht es jetzt gerechter zu? In Land A gibt es keine Reichen und keine Armen. Alle verdienen zwischen 2000 und 3000 € im Monat. In Land C verdienen 90% der Erwerbstätigen zwischen 3000 und 4000 € im Monat. 10% zwischen 8000 und 9000 € im Monat. In welchem Land geht es Ihrer Meinung nach gerechter zu?
Diese Frage entspricht Beispiel A in Abschnitt 2.1.1.1.. Hier wird sich der strenge Egalitarist wiederum für Land A entscheiden, während der gemäßigte Egalitarist und der Nonegalitarist hier für Land B plädieren. Aus der Kombination der Antworten auf beide Fragen ist nun eine Typisierung möglich.
(A, A): Entscheidet sich ein Befragter jeweils für Land A, so ist er ein strenger Egalitarist. (A, C): Entscheidet sich ein Befragter in Frage a) für Land A, in Frage b) für Land C, so ist er ein gemäßigter Egalitarist.
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3 Empirischer Teil
(B, A): Entscheidet sich ein Befragter in Frage a) für Land B und in Frage b) für Land A, ist sein Antwortverhalten inkonsistent. Denn es ist nicht sinnvoll miteinander vereinbar, in Frage a) eine große Ungleichheit zuzulassen, von der die Mehrheit der Erwerbstätigen nicht profitiert, in Frage b) aber eine weniger ungleiche Verteilung nicht zuzulassen, obwohl die Mehrheit absolut profitieren würde. (B, C): Entscheidet sich ein Befragter in Frage a) für Land B und in Frage b) für Land C, so ist er ein Nonegalitarist.
Die Antworten auf die beiden Fragen erlauben also bereits eine eindeutige Kategorisierung der Befragten. Zur weiteren Kontrolle, insbesondere, um inkonsistente Antworten herauszufiltern, wird jedoch noch eine dritte Frage gestellt: c)
Und wie entscheiden Sie sich bei diesen beiden Ländern?
In Land A gibt es keine Reichen und keine Armen. Alle verdienen zwischen 2000 und 3000 € im Monat. In Land D verdienen 10 % unter 1000 € im Monat. 80% der Erwerbstätigen zwischen 3000 und 4000 € im Monat. 10% zwischen 8000 und 9000 € im Monat. In welchem Land geht es Ihrer Meinung nach gerechter zu?
Diese Frage entspricht Beispiel C in Abschnitt 2.1.1.1.. Hier müsste ein strenger Egalitarist eindeutig für Land A plädieren. Aber auch der gemäßigte Egalitarist müsste sich für Land A entscheiden, denn die Ungleichheit in Land D ist mit einer noch schlechteren Position der am schlechtesten Gestellten verbunden als in Land A. Die Wahl des Nonegalitaristen hinge hingegen von seiner Gewichtung anderer Prinzipien ab. Argumentiert er beispielsweise nach dem Prinzip der Achtung und ist der Auffassung, dass sich von weniger als 1000 € nicht menschenwürdig leben lässt, müsste er für Land A plädieren. Beachtet er jedoch das Prinzip der Wohlfahrtsmaximierung, müsste er sich für Land D entscheiden. Rein kombinatorisch ergeben sich acht verschiedene mögliche Antwortmuster auf die drei Fragen, die die folgende Typisierung zulassen: x
x
(A, A, A): Strenger Egalitarist. Dieser Typus zieht in allen Fällen die Gleichverteilung vor, da er jeweils den relationalen Nachteil durch eine Ungleichverteilung als größer betrachtet als die Wohlfahrtsmaximierung. (A, C, A): Gemäßigter Egalitarist. Dieser Typus entscheidet gemäß dem Rawlsschen Unterschiedsprinzip, dass eine Ungleichverteilung nur
3.1 Operationalisierung des Themas und Durchführung der Untersuchung
x
x
161
dann gerechtfertigt ist, wenn der am schlechtesten Gestellte profitiert. Dies ist nur in Frage b) gegeben. (B, C, A): Nonegalitarist. Dieser Typus lässt Ungleichheit zu, auch wenn die Schlechtergestellten davon nicht relativ (a)) oder absolut profitieren (b)). Wenn es den Schlechtergestellten aber wie in Frage c) absolut schlechter geht als in einer egalitären Gesellschaft, dann plädiert er für die Gleichverteilung. (B, C, D): Nonegalitarist: Dieser Typus zieht in allen Fällen die Ungleichverteilung vor, da er die Existenz eines relationalen Nachteils in den Fällen a) und b) leugnet und in Fall c) nach dem Prinzip der Wohlfahrtsmaximierung votiert.
Daneben gibt es auch drei Antwortmöglichkeiten, die jeweils nicht konsistent interpretierbar sind, da sie Wertungswidersprüche enthalten.56 x x
x
(A, A, D): Inkonsistent. Es ist nicht sinnvoll, bei Frage b) eine absolute Besserstellung von 100% abzulehnen, aber bei Frage c) sogar eine absolute Schlechterstellung einer Minderheit hinzunehmen. (B, A, A): Inkonsistent. Man kann nicht sinnvoll einerseits eine ungleiche Verteilung zulassen, von der die am schlechtesten Gestellten nicht profitieren (a)), andererseits aber eine ungleiche Verteilung ablehnen (b)), in der die schlechter Gestellten gegenüber a) relativ und absolut besser gestellt sind und niemand schlechter gestellt ist. (B, A, D): Inkonsistent. Dieser Typus lehnt die absolute Besserstellung von 100% ab (b)), plädiert aber für die relative Schlechterstellung von 90% in a) und die absolute Schlechterstellung von 10% in c).
Hinzu kommt ein Antwortmuster, das sowohl nach egalitären als auch nonegalitären Prinzipien verfährt. x
56
(A, C, D): Mischtyp. Das Antwortverhalten dieses Typus in den Fragen a) und b) entspricht dem eines gemäßigten Egalitaristen. Bei Frage c) argumentiert er jedoch nonegalitär. Dieses Antwortverhalten ist jedoch nicht inkonsistent, da es keinen direkten Wertungswiderspruch gibt. Am
Dass es diese inkonsistenten Antwortmöglichkeiten gibt, ist kein Nachteil der Frageformulierung, sondern ein Vorteil. Denn ein häufiges Auftreten solcher inkonsistenten Antwortmuster wäre ein Hinweis darauf, dass die Fragen nicht funktionieren. Insofern ist in diesen drei Fragen ein Kontrollmechanismus „eingebaut“. Daher sind auch drei Fragen zweien vorzuziehen, da dies den Anteil der möglichen inkonsistenten Antworten von 25% auf knapp 40% erhöht, somit die Gefahr sinkt, dass der Befragte bloß zufällig konsistent antwortet.
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3 Empirischer Teil
ehesten kann man diesen Typus als gemäßigten Egalitaristen einordnen, der jedoch im Gegensatz zu Rawls dem Prinzip der Wohlfahrtsmaximierung dann vor dem Unterschiedsprinzip den Vorzug gibt, wenn hiervon fast alle Beteiligten profitieren. Daher soll im Folgenden dieser Typus, der nur in wenigen Fällen auftritt, zu dem Typus „Gemäßigter Egalitarist“ gerechnet werden. Diese Typen werden im Folgenden als „Nivellierungstypen“ bezeichnet. Diese Fragen zur Messung der Bereitschaft der Nivellierung nach unten wurden wie die Gerechtigkeitsskala in zwei Pretests gestestet (vgl. Becker 1996). Ein erster Pretest enthielt eine erste Version der Fragen nach der Bereitschaft zur Nivellierung nach unten, hier wurden bereits wie in der endgültigen Fassung unterschiedliche Einkommensverteilungen abgefragt. Dieser Pretest, für den 36 Personen befragt wurden, führte bei diesen Fragen mit acht „Weiß-nicht-Antworten“ zu einem hohen Anteil an Nonresponse. Daraufhin wurde in einem zweiten Durchgang die von Erwin K. Scheuch auch für Pretests empfohlene Split-Ballot Technik angewandt (Scheuch: 1996: 22). Hierfür wurden einerseits die Fragen nach der Nivellierung neu formuliert, beispielsweise wurde der Begriff „Gedankenexperiment“ aufgenommen und es wurde nicht mehr von „Gesellschaftstypen“, sondern von Land A, Land B usw. gesprochen. Diese Version erhielten 22 Personen. Eine weitere Variante, die an 23 Personen ging, enthielt die kritischen Fragen in einer Formulierung mit Autos.57 Es zeigte sich, dass bei beiden Varianten der Anteil an Nonresponse deutlich zurückging, und nur noch bei einem Fall bei der Einkommensvariante und bei keinem Fall bei der Autovariante lag. Gleichzeitig gab es auch fast keine inkonsistenten Antworten, nur eine bei der Auto-, keine bei der Einkommensvariante. Dies spricht dafür, dass fast alle Befragten die innere Logik und den Zusammenhang der Fragen verstanden haben. Die Einkommensvariante wies zudem auch einen sehr konsistenten Zusammenhang mit der ebenfalls getesteten Freiheit/Gleichheit-Frage von Allensbach auf. Egalitaristen entschieden sich für Gleichheit, Nonegalitaristen für Freiheit. Diese innere Konsistenz der Fragen war auch bei der Auto-Variante hoch, aber etwas niedriger. Daher wurde sich für die Einkommensvariante entschieden. Diesen inhaltlichen Kern des Fragebogens, der die Gerechtigkeitsskala, die Fragen zur Nivellierung, und die Fragen von Allensbach zur Entscheidung zwi57
Hier lautete dann z. B. Frage a): Stellen Sie sich als Gedankenexperiment zwei Länder vor. In Land A fahren alle Menschen einen Kleinwagen. In Land B fahren 90% der Menschen einen Kleinwagen. 10% eine Luxuslimousine. In welchem Land geht es Ihrer Meinung nach gerechter zu?
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schen Freiheit und Gleichheit und zur Einschätzung der Auswirkungen der Marktwirtschaft auf die Gerechtigkeit beinhaltete, erhielten sowohl die Mitglieder, als auch die Abgeordneten. Die Abgeordneten sollten diese Fragen jeweils für sich beantworten und dann angeben, was sie vermuten, wie die Mitglieder der CDU in ihrem Wahlkreis diese Dinge mehrheitlich sehen. Damit wurde eine wichtige Forderung Christopher H. Achens berücksichtigt, der kritisiert, dass viele Responsivitätsforscher bei Repräsentanten und Repräsentierten unterschiedliche Fragestellungen und Skalierungen verwendeten, ein direkter Vergleich der Antworten und damit eine seriöse Aussage über Responsivität aber nur bei der Verwendung gleicher Fragen und gleicher Skalierungen bei allen Befragten möglich sei (Achen 1978: 495). Sowohl bei Abgeordneten als auch Mitgliedern wurden darüber hinaus demographische Daten wie Geschlecht, Alter, Wohnregion und Bildung, auch die Kirchgangshäufigkeit erhoben. Die Mitglieder wurden noch nach ihrem Bruttohaushaltseinkommen und ihrer Beurteilung der wirtschaftlichen Lage gefragt. Die Abgeordneten sollten noch angeben, ob ihr Wahlkreis eher ländlich oder städtisch ist und seit wievielen Legislaturperioden sie Mitglied des Deutschen Bundestages sind. Die Rollenorientierung wurde mit jeweils einer Frage zum Fokus, einer zum Style erhoben, hierbei wurde sich an Kielhorn orientiert (Kielhorn: 2002: 61; 90). Dieser Fragebogen wurde im Rahmen einer postalischen Befragung an CDU-Mitglieder und CDU-Bundestagsabgeordnete gesandt. Postalische Befragungen gelten als besonders geeignet, um Personen, die verstreut in einem großen geographischen Gebiet – in diesem Fall in ganz Deutschland – wohnen, zu erreichen. Neben einem geringeren finanziellen und organisatorischen Aufwand kommen als weitere Vorteile hinzu, dass die Befragten ihre Antworten in Ruhe abwägen können und eine Beeinflussung durch einen Interviewer ausgeschlossen ist. Daher halten einige Autoren die postalische Befragung sogar für anderen Methoden, wie der persönlichen oder telefonischen Befragung, überlegen, da sie zu einer höheren Güte der Antworten führen könne (Klein/Porst 2000: 3). Ein Nachteil der postalischen Befragung ist aber der in der Regel geringere Rücklauf als bei anderen Methoden. Zur Reduzierung dieses „Nonresponse“ ist daher die sog. „Total Design Methode“ von Don A. Dillman mittlerweile Standard bei schriftlichen Befragungen. Dillman entwickelt theoretisch begründet ein ganzes Bündel an Maßnahmen, die jeweils dazu beitragen sollen, den Rücklauf der Befragung zu maximieren (Hippler 1985: 42). So soll beispielsweise der Fragebogen auf weißem Papier gedruckt und in Broschürenform gestaltet werden, die Front- und Rückseite soll frei von Fragen bleiben. Der Fragebogen soll mit leichten Fragen beginnen, die Fragen sollen thematisch geordnet werden, demographische Daten gehören an das Ende des Fragebogens. Das Anschreiben
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3 Empirischer Teil
soll dem Befragten vor allem das Gefühl geben, dass seine Antworten von großer Wichtigkeit für den Erfolg der Studie sind. Außerdem soll dem Befragten Vertraulichkeit zugesichert und die Möglichkeit angeboten werden, über die Ergebnisse der Befragung informiert zu werden. Ein frankierter Rückumschlag sollte beiliegen (Dillman 1978: 121; 123-125; 168-171; 178). Vor allem aber gehört zu der Dillmanschen Total Design Methode die Erinnerung der Befragten. Nach einer Woche soll an alle Befragten eine Postkarte versendet werden, in der denen, die bereits geantwortet haben, für ihre Teilnahme gedankt und alle anderen daran erinnert werden sollen. Nach drei Wochen soll der Fragebogen an alle, die noch nicht reagiert haben, erneut versendet werden, nach sieben Wochen soll eine besondere Versandart gewählt werden, die die Bedeutung des Anliegens unterstreicht (Dillman 1978: 183). Als Faustregel wird angenommen, dass jede dieser Nachfaßaktionen wieder zu einem Rücklauf unter den noch ausstehenden Personen führt, der dem Rücklauf nach dem ersten Versand unter allen Befragten entspricht (Klein/Porst 2000: 19). In dieser Arbeit wurde weitgehend nach den Empfehlungen Dillmans vorgegangen, insbesondere bei der Gestaltung des Fragebogens und des Anschreibens. Allerdings wurde nur einmal an die Beantwortung des Fragebogens erinnert, da weitere Erinnerungsschreiben vorausgesetzt hätten, dass etwa an Hand eines Codes eine Kontrolle des individuellen Rücklaufs stattgefunden hätte. Dies erschien der Autorin auf Grund der Tatsache, dass es sich bei den Befragten teilweise um ihre eigenen Kollegen handelte, nicht ratsam.58 Zudem wurden auch so – insbesondere bei der Befragung der Abgeordneten – sehr hohe Ausschöpfungen erzielt. Die Befragung der CDU-Mitglieder wurde nach Absprache mit der CDUBundesgeschäftsstelle in Zusammenarbeit mit der Union Betriebs GmbH (UBG) durchgeführt, einem 1960 gegründeten Wirtschaftsbetrieb der CDU Deutschlands. Die UBG bietet Dienstleistungen für die CDU und auf dem freien Markt mit den Schwerpunkten Verlag, Druckerei, Rechenzentrum, IT-Services und Kommunikation an. Daher hat sie Zugriff auf die Mitgliederdatei der CDU. Im 58
Allerdings ist es eine methodologisch bislang eher vernachlässigte, aber dennoch bedeutende Frage, inwiefern sich die nicht oder später antwortenden von den sofort antwortenden Befragten unterscheiden. Nur wenn hier keine systematischen Unterschiede vorliegen, ist es gerechtfertigt, sich mit geringeren Ausschöpfungen zufrieden zu geben und zu unterstellen, die Personen, die geantwortet haben, repräsentierten die gesamte Stichprobe. Eine der wenigen Untersuchungen hierzu stammt von Hippler. Er zeigt, dass Personen, die erst auf mehrmaliges Nachfassen reagieren, überproportional häufig niedrigen Bildungsschichten angehören oder jünger sind. Hinzu kommt, dass die Verweigerung bei heiklen Fragen bei jeder Nachfaßaktion zunimmt, man also immer unwilligere Befragte erreicht (Hippler 1985: 50f). Hier bedarf es dringend weiterer Studien, die klären, ob sich die Verweigerer in Befragungen auch in ihren inhaltlichen Positionen signifikant von den bereitwillig Teilnehmenden unterscheiden.
3.1 Operationalisierung des Themas und Durchführung der Untersuchung
165
Auftrag der Autorin zog die UBG im Juni 2006 eine Zufallsstichprobe im Umfang von n = 1000 aus allen CDU-Mitgliedern, deren Adressen nicht gesperrt sind.59 Da nach telefonischer Auskunft des Konrad-Adenauer-Hauses die CDU zum 31. Mai 2006 insgesamt 566.254 Mitglieder hatte, davon aber nur 49.667, also nur rund 8,77 % aus Ostdeutschland kamen, musste die Stichprobe disproportional angelegt werden, um einen für eigene repräsentative Aussagen ausreichend großen Rücklauf aus den neuen Bundesländern zu erreichen. Daher wurden 500 westdeutsche, also jedes 937. Mitglied und 500 ostdeutsche, also jedes 93. Mitglied zufällig ausgewählt.60 Die UBG verschickte am 20. Juni 2006 im Auftrag der Autorin einen Fragebogen inkl. Anschreiben und frankiertem Rückumschlag an alle gezogenen Mitglieder, am 28. Juni 2006 ein nach Dillman gestaltetes Erinnerungsschreiben. Im Anschreiben stellte sich die Autorin als Bundestagsabgeordnete, Mitglied der CDU-Grundsatzprogrammkommission und Doktorandin vor. Die Ergebnisse der Befragung würden sowohl in ihrer Dissertation ausgewertet, als auch in die Beratungen der Grundsatzprogrammkommission einfließen. Im Frühjahr 2007 hat die Autorin die wichtigsten Ergebnisse der Befragung den Mitgliedern der Grundsatzprogrammkommission präsentiert. Im Mai/Juni 2006 gehörten dem Deutschen Bundestag noch 180 Abgeordnete der CDU an.61 Davon kamen 33 aus den neuen Bundesländern (inkl. ehemaliges Ost-Berlin), 147 aus den alten (inkl. ehemaliges West-Berlin). Unter diesen Abgeordneten wurde eine Vollerhebung durchgeführt, alle CDU-MdBs – mit Ausnahme der Autorin – erhielten am 30. Mai 2006 einen Fragebogen inkl. Anschreiben und Rückumschlag, am 19. Juni 2006 wurde ein Erinnerungsschreiben verschickt.62
59
60
61
62
Die Adressen von rund 30.000 CDU-Mitgliedern sind gesperrt, da diese Mitglieder beispielsweise einen Postausschluss verfügt haben. Daher beträgt die Grundgesamtheit aller CDUMitglieder in dieser Studie 566.254, die Auswahlgesamtheit 532.946. Unter den westdeutschen Mitgliedern befinden sich auch zwanzig aus dem Landesverband Berlin, für den bei der Ziehung der Stichprobe keine Unterscheidung zwischen ehemaligem Ost- und ehemaligem Westberlin möglich war. Dies änderte sich im Laufe der 16. Wahlperiode, da mit Matthias Wissmann und JohannHenrich Krummacher zwei Abgeordnete, die ein Überhangmandat innehatten, ausschieden bzw. verstarben und der Abgeordnete Henry Nitzsche die Fraktion verließ (vgl. http://www.bundestag.de/mdb/ausgeschiedene/index.html). Der Abstand von fast drei Wochen zwischen dem ersten Versand und dem Erinnerungsschreiben ist dem Tagungsrhythmus des Bundestages geschuldet. Die meisten Abgeordneten sind nur während der Sitzungswochen in Berlin, in den restlichen Wochen widmen sie sich der Wahlkreisarbeit. Fragebögen, die in sitzungsfreien Wochen verschickt werden, gehen leicht in der sehr umfangreichen Post, die in dieser Zeit die Büros erreicht, unter. Daher ist es sinnvoll, Fragebögen immer zu Beginn einer Sitzungswoche zu verschicken.
166
3 Empirischer Teil
3.2 Beschreibung der Datensätze 3.2 Bescheibung der Datensätze 257 CDU-Mitglieder antworteten vor dem Erinnerungsschreiben, 221 danach. Insgesamt beteiligten sich also 478 Mitglieder an der Befragung, dies entspricht einem Rücklauf von 48,4% (vgl. Tabelle 2). Diese Ausschöpfung kann als relativ hoch angesehen werden, berücksichtigt man, dass bei Befragungen von Organisationsmitgliedern 20% als empirisch ausreichend gelten und beispielsweise Neu in der CDU-Mitgliederstudie, die nur vier Monate später durchgeführt wurde, lediglich einen Rücklauf von 29,9% erzielte (Neu 2007: 7). Tabelle 2: Ausschöpfung Befragung CDU-Mitglieder
1. Ausgangsstichprobe Ostdeutschland Westdeutschland Berlin 2. Stichprobenneutrale Ausfälle: Empfänger nicht ermittelbar Ostdeutschland Westdeutschland Berlin 3. Bereinigte Stichprobe Ostdeutschland Westdeutschland Berlin 4. Rücklauf Ostdeutschland Westdeutschland Berlin63
absolut 1000 500 480 20
% 100% 100% 100% 100%
12
1,2%
10 2 0 988 490 478 20 478 228 241 9
2% 0,4% 0% 100% 100% 100% 100% 48,4% 46,5% 50,4% 45%
Um beurteilen zu können, ob die Mitglieder, die sich an der Befragung beteiligt haben, auch repräsentativ für die Grundgesamtheit sind, müssen Merkmale der befragten Mitglieder mit denen aller Mitglieder verglichen werden. Der CDU63
Die Antworten aus Berlin werden im Folgenden zu den westdeutschen Antworten hinzugerechnet, da auf Grund der Mitgliederstruktur in Berlin davon auszugehen ist, dass sie mehrheitlich aus Westberlin kommen.
167
3.2 Bescheibung der Datensätze
Mitgliederdatei lassen sich nur bei drei Merkmalen belastbare Aussagen entnehmen: Beim Geschlecht, beim Alter und beim Bundesland, in dem das Mitglied geführt wird. Alle anderen Angaben, etwa der Beruf, wurden zum Zeitpunkt des Beitritts erhoben und sind daher nicht mehr aktuell (Neu 2007: 6). Daher ist nur ein Vergleich der demographischen Merkmale Geschlecht und Alter der Befragten und der aller Mitglieder sinnvoll. Hierfür wurden auf Grund der disproportionalen Stichprobe die Mitglieder der alten und neuen Bundesländer entsprechend ihres Mitgliederanteils gewichtet. Tabelle 3: Repräsentativität Befragung CDU-Mitglieder nach Geschlecht und Alter Mitgliederstatistik64
Umfrage65
Geschlecht Männer Frauen
74,7% 25,3%
78,7% 21,3% n = 474
Altersgruppen 16-24 25-29 30-39 40-49 50-59 60-69 70 und älter
2,1% 3,1% 9,9% 16,4% 20,7% 24,1% 23,3%
3,6% 3,8% 9,8% 17,9% 20,6% 21,0% 23,4%
n = 471b Tabelle 3 zeigt, dass die Befragten in Hinblick auf Geschlecht und Alter relativ gut mit der Grundgesamtheit übereinstimmen. Besonders beim Alter liegt die Abweichung mit Ausnahme der 60 bis 69jährigen durchgehend bei maximal 1,5%. Etwas schlechter stellt sich die Situation beim Geschlecht dar, Männer sind in der Umfrage mit vier Prozent Abweichung über-, Frauen im selben Maß unterrepräsentiert. Dennoch hält die Autorin die Abweichungen insgesamt für
64 65
Stand: 31.8.2006 (Neu 2007: 6) Daten nach realem Mitgliederanteil in Ost- und Westdeutschland gewichtet. Gewichtung erfolgte fallzahlneutral. Diese Gewichtung wird bei allen folgenden gesamtdeutschen Auswertungen beibehalten.
168
3 Empirischer Teil
vertretbar, die Umfrage kann also als repräsentativ betrachtet und auf eine weitere Gewichtung daher verzichtet werden. Bei den Bundestagsabgeordneten antworteten 95 vor dem Erinnerungsschreiben, 40 danach, insgesamt also 135. Dies entspricht einem Rücklauf von 75, 4% (vgl. Tabelle 4). Tabelle 4: Ausschöpfung Befragung CDU-Bundestagsabgeordnete
1.
2.
3.
4.
Ausgangsstichprobe Ostdeutschland Westdeutschland Stichprobenneutrale Ausfälle: Autorin Ostdeutschland Westdeutschland Bereinigte Stichprobe Ostdeutschland Westdeutschland Rücklauf Ostdeutschland Westdeutschland
Absolut 180 33 147
% 100% 100% 100%
1 0 1 179 33 146 135 27 108
0,5% 0% 0,7% 100% 100% 100% 75,4% 81,8% 73,9%
Eine solch hohe Ausschöpfung wurde nach Wissen der Autorin bisher in keiner schriftlichen Befragung von Bundestagsabgeordneten erreicht. Schindlers Datenhandbuch zum Deutschen Bundestag, das alle wissenschaftlichen Umfragen unter Bundestagsabgeordneten zwischen 1949 und 1999 verzeichnet, lässt sich entnehmen, dass der Rücklauf bei den meisten Studien zwischen 40 und 50% lag, den höchsten Rücklauf erzielte eine Studie von Kepplinger/Fritsch über den Umgang von Bundestagsabgeordneten mit Journalisten aus dem Jahr 1981, an der sich 55% der angeschriebenen MdBs beteiligten (Schindler 1999: 529-546). Aktuelle Studien wie die von Best et al. erreichen bei den Bundstagsabgeordneten eine Ausschöpfung von 25, 9%, Weßels kommt auf 34% (Best et al. [2004a]: 5; Weßels 2005: 31). Betrachtet man die Repräsentativität der Umfrage, so zeigt sich, dass die Abgeordneten, die sich an der Vollerhebung beteiligt haben, in den Merkmalen Geschlecht, Alter und Wohnregion sehr gut mit der Grundgesamtheit übereinstimmen (vgl. Tabelle 5). Lediglich die Abgeordneten, die dem Bundestag erst eine oder zwei Wahlperioden angehören, haben sich über-, die, die ihm fünf oder mehr Perioden angehören, unterdurchschnittlich beteiligt. Dennoch kann die
169
3.2 Bescheibung der Datensätze
Umfrage – bei dem hohen Rücklauf erwartungsgemäß – als repräsentativ betrachtet, auf eine Gewichtung daher verzichtet werden. Tabelle 5: Repräsentativität Befragung CDU-Bundestagsabgeordnete nach Geschlecht, Alter, Wahlperiode und Region CDU-Abgeordnete66
Umfrage
Geschlecht Männer Frauen
79% 21%
81% 19% n = 134
Alter 20-35 36-50 51-65 66-80
7% 38% 52% 2%
5%
Wahlperiode 1. oder 2. 3. oder 4. 5. oder länger
49% 26% 24%
54% 26% 20% n = 129
Region Ostdeutschland Westdeutschland
18% 82%
20% 80% n = 135
66
54% 2% n = 134
Stand: 30.6.2006. Eigene Zählung, bei der die statistischen Angaben der zum Zeitpunkt der Umfrage aktuellen Auflage des Kürschners Volkshandbuch Deutscher Bundestag verwendet und die CSU-Abgeordneten herausgerechnet wurden (Kürschner 2006: 290; 293).
170
3 Empirischer Teil
3.3 Analysestrategie 3.3 Analysestrategie Zur Überprüfung der Thesen zu egalitären und nonegalitären Einstellungen bei CDU-Mitgliedern und -Bundestagsabgeordneten wurden die Antworten auf die entsprechenden Fragen im Fragebogen ausgewertet. Die Frage, ob Mitglieder oder Abgeordnete eher egalitäre oder eher nonegalitäre Einstellungen vertreten, lässt sich durch Häufigkeitsauszählungen beantworten. Thesen über Einflussfaktoren werden durch die Verwendung der je nach Skalenniveau angemessenen Zusammenhangsmaße und Signifikanztests überprüft. Komplizierter und umstrittener ist die Messung von Responsivität. Miller/Stokes verwendeten den Pearsonschen Korrelationskoeffizienten (Miller/Stokes 1963: 49; 52). Der Korrelationskoeffizient hat den Vorteil, klar interpretierbar zu sein, er sagt allerdings nichts über die Richtung des Zusammenhangs aus, da Pearsons r nicht anzeigt, welche Variable abhängig und welche unabhängig ist (Chen/Popovich 2002: 10-12). Trotz dieses Nachteils ist der Korrelationskoeffizient inzwischen zum klassischen Instrument zur Messung der Politiker-Wähler-Beziehung (Walter 1997: 63) avanciert, auch die meisten in dieser Arbeit zitierten Responsivitätsstudien bedienen sich dieses Zusammenhangsmaßes. Einige Autoren formulieren aber auch Zweifel an der Aussagekraft des Korrelationskoeffizienten in der Responsivitätsforschung und schlagen andere Methoden vor. Insbesondere Christopher H. Achen entwickelt drei Maßzahlen zur Messung von Responsivität als alternatives Instrumentarium, das zentrale Elemente demokratischer Systeme abbilden soll (Achen 1977: 806-808; 812). Das Maß der Proximität beruht auf der normativen Annahme, dass jeder Wähler das gleiche Recht hat, dass seine Einstellungen von seinem Abgeordneten vertreten werden (Achen 1978: 481). Beim Maß der Zentralität misst Achen die Fähigkeit des Abgeordneten, sich so in der Mitte des Einstellungsraums seiner Wähler zu positionieren, dass diese Distanz nicht mehr weiter reduzierbar, seine Position somit optimal ist (Achen 1978: 487f). Das dritte Maß der Responsivität misst mit Hilfe einer Regressionsanalyse, inwiefern die Einstellungen der Bürger das Verhalten des Abgeordneten beeinflussen (Achen 1978: 490).67 Sowohl der Pearsonsche Korrelationskoeffizient als auch Achens Maßzahlen setzten jedoch mindestens intervallskalierte Daten voraus. Diese liegen in 67
Converse/Pierce, Dalton und Walter haben Achens Maßzahlen neben dem Korrelationskoeffizienten verwendet und konnten die beiden Methoden so direkt vergleichen. Converse/Pierce und Dalton kommen zu dem Schluss, dass Achens Maßzahlen keine höhere Aussagekraft als der Korrelationskoeffizient haben (Converse/Pierce 1986: 510f; 600-606; Dalton 1985: 282). Walter hingegen stellt fest, dass der Korrelationskoeffizient im Gegensatz zu Achens Maßzahlen das tatsächliche Maß an Responsivität unterschätzt (Walter 1997: 171-178).
3.3 Analysestrategie
171
dieser Arbeit überwiegend nicht vor. Die Fragen nach der Präferenz zwischen Freiheit und Gleichheit, den sozialen Auswirkungen der Marktwirtschaft und nach der Bereitschaft zur Nivellierung nach unten sind lediglich nominal skaliert. Auch viele in dieser Arbeit betrachteten unabhängigen Variablen wie die Herkunft aus Ost- oder Westdeutschland, der Fokus oder das Geschlecht des Abgeordneten sind nicht intervallskaliert. Da es aber das Ziel dieser Arbeit ist, für jeden Abgeordneten auf der Basis seiner Antworten auf alle Fragen eine Aussage über seine objektive Responsivität, die Güte seiner Perzeptionen und seine subjektive Responsivität treffen zu können, bedarf es einer Methode, die dies für alle Fragen und damit für alle Skalenniveaus vergleichbar ermöglicht. Hierfür eignen sich Scores, die den Grad der Übereinstimmung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten angeben. Hedlund/Friesema etwa verwenden einen solchen Score, der ausweist, in wie vielen Fällen die Perzeptionen des Abgeordneten mit den Einstellungen der Mehrheit der Bürger übereinstimmen oder nicht. Im Fall eines Matchings vergeben sie den Score 1,0, im anderen Fall 0,0 (Hedlund/Friesema 1972: 743; vgl. hierzu auch Clausen 1977: 370f; Schneider 1976: 94-99). Ein differenzierteres Instrumentarium liefern Sidney Verba und Norman H. Nie. In ihrer großen Studie Participation in America, in der sie auf der Basis einer Befragung von rund 2500 amerikanischen Erwachsenen im Jahr 1967 Voraussetzungen und Konsequenzen von politischer Partizipation der Bürger untersuchen, analysieren sie auch die Responsivität von Politikern (Verba/Nie 1972: 9; 16; 345). Hierfür entwickeln sie das Konzept der Concurrence Scores. Diese Scores geben für jeden Bürger an, wie hoch der relative Anteil der Politiker ist, die seine Einstellungen teilen. Gibt also ein Bürger an, er halte das Thema Verkehr für am wichtigsten und sagen dies auch alle Politiker seiner Stadt, also 100 Prozent, beträgt der Concurrence-Score für diesen Bürger 100 bzw. 1,0. Hält die Hälfte der städtischen Repräsentanten das Thema Verkehr für das dringendste, beträgt der Score des Bürgers entsprechend 0,5. Er liegt somit immer zwischen 0 und 1 (Verba/Nie 1972: 302f; 412f). Diese einfache Grundidee Verba/Nies lässt sich umkehren: Ebenso, wie man mit Hilfe des Scores angeben kann, wie hoch der Anteil der Politiker ist, die die Position eines Bürgers teilen, kann man genau so ausdrücken, wie hoch der Anteil der Bürger oder Parteimitglieder ist, die die Einstellung eines Politikers teilen. Für Verba/Nie machte diese Betrachtungsweise wenig Sinn, da für sie die Bedingungen von Partizipation im Fokus standen. Aber in dieser Arbeit soll die Responsivität von Abgeordneten untersucht werden, hierfür ist dieser, „umgedrehte“ Concurrence-Score ein geeignetes Instrument. Entscheidet sich also ein Abgeordneter bei der Frage nach der Präferenz zwischen Freiheit und Gleichheit für die Freiheit und sind 80% der Mitglieder ebenfalls dieser Auffassung, so
172
3 Empirischer Teil
erhält dieser Abgeordnete in dieser Frage den Score 0,8. Aus seinen Responsivitätsscores bei sämtlichen Fragen lässt sich ein arithmetisches Mittel errechnen, das dann insgesamt Auskunft über die Responsivität des Abgeordneten gibt. Ein großer Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass dieser Score nicht nur für die Messung der objektiven Responsivität, sondern auch für die Güte der Perzeptionen verwendet werden kann. Hier gibt der Score dann Auskunft darüber, wie hoch der Anteil der Mitglieder ist, die die vom Abgeordneten perzipierte Einstellung tatsächlich vertreten. Glaubt also der Abgeordnete, die Mitglieder entschieden sich mehrheitlich für Gleichheit, sind dies aber in Wirklichkeit nur 25% der Mitglieder, erhält der Abgeordnete für seine Perzeption den Score 0,25. Entscheiden sich 75% der Mitglieder für Gleichheit, wird die Perzeption des Abgeordneten mit dem Score 0,75 bewertet. Der Score nach Verba/Nie gibt also im Gegensatz zu einem einfachen Matching-Verfahren nicht bloß Auskunft darüber, ob ein Abgeordneter der Mehrheit der Mitglieder gegenüber responsiv ist oder ob er die Einstellung der Mehrheit der Mitglieder richtig perzipiert, sondern er berücksichtigt auch die Verteilung der Einstellungen bei den Mitgliedern (vgl. Schneider 1976: 94-99). Ein Abgeordneter, der mit 90% der Mitglieder die Präferenz für Freiheit teilt, ist responsiver als ein Abgeordneter, der mit 51% der Mitglieder übereinstimmt. Ein Abgeordneter, der glaubt, die Mehrheit der Mitglieder entscheide sich für die Gleichheit, liegt weniger falsch, wenn dies tatsächlich 45% der Mitglieder so sehen, als wenn in Wirklichkeit nur zehn Prozent der Mitglieder diese Einstellung vertreten. Der Score erlaubt also Abstufungen des Grades der objektiven Responsivität und der Güte der Perzeptionen, je nach dem tatsächlichen Anteil der Mitglieder, die die jeweilige Position vertreten. Dies heißt aber auch im Umkehrschluss, dass die maximal mögliche Responsivität und Güte der Perzeptionen eines Abgeordneten von der Meinungshomogenität der von ihm repräsentierten Bürger abhängt (Schneider 1976: 93). Entscheiden sich 51% der Bürger oder Parteimitglieder für Freiheit, 49% für Gleichheit, kann ein Abgeordneter bei Responsivität und Güte der Perzeptionen maximal den Score 0,51 erreichen. Je höher also die Heterogenität der Einstellungen der Repräsentierten, umso geringer der maximal mögliche Score des Repräsentanten. Dieser Effekt wird bei dem sog. korrigierten Concurrence-Score vermieden. Dieser Score gibt an, wie hoch die Responsivität eines Abgeordneten im Vergleich mit seiner maximal erreichbaren Responsivität ist. Bei einem solchen Scoring-Verfahren würde also der Abgeordnete, der sich für Freiheit entscheidet, sowohl dann für seine Responsivität den Score 1,0 erhalten, wenn 51% der Mitglieder für Freiheit plädierten, als auch dann, wenn 90% der Mitglieder sich für
3.3 Analysestrategie
173
Freiheit entschieden. Der Score 1,0 würde also jeweils lediglich besagen, dass der Abgeordnete seine maximal mögliche Responsivität ausschöpft, er würde aber keine Informationen mehr darüber enthalten, gegenüber welchem Anteil an Repräsentierten der Repräsentant tatsächlich responsiv ist (Schneider: 1976: 93). In dieser Arbeit wurde Responsivität als die Übereinstimmung der Einstellungen von Abgeordneten und deren Parteimitgliedern definiert. Die Übereinstimmung zwischen Abgeordneten und Mitgliedern ist in dem Fall, in dem 90% der Mitglieder dieselbe Position wie der Abgeordnete vertreten, eindeutig höher ist als in dem Fall, in dem 51% der Mitglieder diese Einstellung äußern. Im ersten Fall ist der Abgeordnete also nach der in dieser Arbeit verwendeten Definition tatsächlich responsiver als in dem zweiten. Daher wurde sich für das ScoringVerfahren entschieden, das diese Differenz auch ausdrückt und damit gegen den korrigierten Concurrence-Score. Diese methodische Entscheidung führt aber dazu, dass insbesondere bei den ostdeutschen Abgeordneten niedrigere maximale Scores zu erwarten sind. Denn die meisten Studien legen nahe, dass die ostdeutschen CDU-Mitglieder wie die westdeutschen zwar auch mehrheitlich für nonegalitäre Werte eintreten, dass die Anhänger egalitärer Werte aber im Osten eine stärkere Minderheit bilden, das Spektrum der Einstellungen somit im Westen homogener ist. Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich, dass dies, sollte dies tatsächlich so eintreffen, nicht heißt, dass die ostdeutschen Abgeordneten „schlechter“ sind als ihre westdeutschen Kollegen, sondern dass sie auf Grund der größeren Meinungsheterogenität der ostdeutschen CDU-Mitglieder automatisch nur gegenüber einem geringeren Teil der Mitglieder responsiv sein können. Als weiteres Problem dieses Scoring-Verfahrens nach Verba/Nie könnte angesehen werden, dass der Score nicht nur von der Homogenität der Einstellungen der Repräsentierten, sondern auch von der Zahl der möglichen Antwortkategorien abhängt (Schneider 1976: 92). Bei dichotomen Antwortmöglichkeiten, wie bei der Frage nach der Präferenz zwischen Freiheit und Gleichheit, ist dies kein Problem. Gibt es aber mehr Antwortmöglichkeiten, wie etwa bei der für diese Arbeit nach dem Likertverfahren konstruierten Gerechtigkeitsskala, ist in der Regel der Anteil der Antworten pro Kategorie niedriger, entsprechend sinkt auch die mögliche Responsivität und die Güte der Perzeptionen des Abgeordneten. In dieser Arbeit soll für jeden Abgeordneten, jedes Mitglied und jede Perzeption eines Abgeordneten die mittlere Zustimmungsrate zu allen Aussagen der Gerechtigkeitsskala ermittelt werden. Ein Abgeordneter, dessen Einstellung oder Perzeption maximal 0,75 Punkte über oder unter der tatsächlichen Einstellung des Mitglieds liegt – dies entspricht einer Spanne von 1,5 Punkten, also der Spanne einer Antwortkategorie – soll als responsiv bzw. seine Perzeption als korrekt eingestuft werden. Um den beschriebenen Effekt zu vermeiden, müsste
174
3 Empirischer Teil
man diese Spanne verdoppeln, um so gewissermaßen dichotome Antwortmöglichkeiten zu simulieren. Denn bei einer Spanne zwischen -3 und +3, also sechs Punkten, würde die Einstufung einer Einstellung als responsiv, wenn sie innerhalb einer Spanne von drei Punkten läge, zu einer 50%-Chance auf Responsivität und Güte der Perzeptionen führen. Dies würde aber dazu führen, dass beispielsweise auch dann ein Abgeordneter noch als responsiv eingestuft wird, wenn er den Aussagen im Schnitt mit 0,9 gemäßigt zustimmt, die Mitglieder sie aber mit -2 stark ablehnen. Dies erscheint der Autorin als unangemessen und unsachgemäß. Daher wurde sich dafür entschieden, die Spanne bei 1,5 Punkten zu belassen und damit in Kauf zu nehmen, dass die Raten der Responsivität und der Güte der Perzeptionen bei dieser Frage wahrscheinlich zurückgehen werden. Allerdings muss dies bei der Interpretation berücksichtigt werden. Bei der Frage der subjektiven Responsivität der Abgeordneten kann das Scoring-Verfahren nach Verba/Nie nicht angewendet werden. Denn über die subjektive Responsivität entscheidet lediglich ein Vergleich der Einstellungen des Abgeordneten mit seinen Perzeptionen. Die tatsächlichen Einstellungen der Mitglieder, an denen sich die Scores für die objektive Responsivität und die Güte der Perzeptionen orientierten, spielen bei der subjektiven Responsivität keine Rolle. Daher kann bei dieser Frage nur auf ein einfaches Matching-Verfahren zurückgegriffen werden: Stimmt eine Einstellung eines Abgeordneten mit seiner Perzeption überein, erhält er den Score 1, stimmt sie nicht überein, den Score 0. Bei der Gerechtigkeitsskala wurde ein Abgeordneter analog zu der bisherigen Vorgehensweise dann als subjektiv responsiv eingestuft, wenn seine eigene Einstellung bis zu 0,75 Punkte über oder unter der perzipierten Einstellung der Mitglieder liegt. Aus den Scores für alle Fragen kann dann das arithmetische Mittel und so ein Score für die subjektive Responsivität insgesamt gebildet werden. Die Scores für die objektive Responsivität und die Güte der Perzeptionen werden also nach einem anderen Verfahren gebildet als der Score für subjektive Responsivität. Daher sind jene und dieser Score nicht direkt miteinander vergleichbar. Allerdings ist es bei allen drei Scores sachgemäß, jeweils bei 0,5 die Marke anzusetzen, unter der ein Abgeordneter nicht mehr als objektiv responsiv, die Güte seiner Perzeptionen nicht mehr als korrekt und er nicht mehr als subjektiv responsiv gilt. Denn bei der objektiven Responsivität und der Güte der Perzeptionen bedeutet ein Score-Wert unter 0,5, dass er im Schnitt bei allen Fragen mit weniger als der Hälfte der Mitglieder in seinen Einstellungen übereinstimmt bzw. dass er im Schnitt bei allen Fragen nicht in der Lage ist, die Einstellungen von mehr als der Hälfte der Mitglieder korrekt zu perzipieren. Bei der subjektiven Responsivität bedeutet ein Gesamt-Score unter 0,5, dass der Abgeordneten bei mehr als der Hälfte der Fragen der Überzeugung ist, dass die Mitglieder andere Einstellungen vertreten als er. Insofern sind die drei Scores dann doch ver-
3.4 Hypothesenprüfung
175
gleichbar, indem es bei allen drei sinnvoll begründbar ist, jeweils zwischen Abgeordneten zu unterscheiden, die oberhalb, und solchen, die unterhalb des Wertes 0,5 liegen. Außerdem kann bei allen drei Scores jeweils der Median ermittelt werden und somit für jeden Abgeordneten die Aussage getroffen werden, ob er über oder unter diesem Wert liegt. Ein solches Scoring-Verfahren ermöglicht also, in einem nachvollziehbaren Verfahren Aussagen über die objektive Responsivität, die Güte der Perzeptionen und die subjektive Responsivität eines Abgeordneten zu treffen. Bei der objektiven Responsivität und der Güte der Perzeptionen enthält der Scoring-Wert zudem noch Informationen darüber, mit welchem Anteil der Mitglieder ein Abgeordneter tatsächlich übereinstimmt oder ihre Einstellungen richtig perzipiert. Abgeordnete, deren Score unter 0,5 liegt, als nicht objektiv responsiv, ihre Perzeptionen als nicht zutreffend und ihre subjektive Responsivität als nicht vorhanden zu bezeichnen, erscheint gut begründbar und sinnvoll. Daher hat das angewendete Verfahren nach Überzeugung der Autorin einige Vorteile gegenüber dem Vorgehen in vielen Responsivitätsstudien, die objektive Responsivität und die Güte der Perzeptionen von Abgeordneten ohne nachvollziehbaren Maßstab als „hoch“ oder „niedrig“ zu qualifizieren.
3.4 Hypothesenprüfung 3.4 Hypothesenprüfung Die aus dem bisherigen Forschungsstand entwickelten Thesen sollen nun empirisch geprüft werden.68 Zunächst die Thesen zu den egalitären oder nonegalitären Einstellungen der CDU-Mitglieder, dann zu denen der CDU-Bundestagsabgeordneten. Danach soll die Responsivität der CDU-Bundestagsabgeordneten an Hand der Thesen untersucht werden, wobei zwischen objektiver Responsivität, der Güte der Perzeptionen und subjektiver Responsivität der Abgeordneten unterschieden wird. 3.4.1
Einstellungen der CDU-Mitglieder
Als erstes sollen die These zur Frage der egalitären oder nonegalitären Einstellungen der CDU-Mitglieder getestet werden: 1.
CDU-Mitglieder vertreten häufiger nonegalitäre Einstellungen als egalitäre.
68
Es wird das Statistikprogramm SPSS in den Versionen 15.0 und 16.0 verwendet.
176
3 Empirischer Teil
Hierfür werden sowohl die Allensbach-Fragen nach der Präferenz zwischen Freiheit und Gleichheit und nach dem Zusammenhang zwischen Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit, als auch die Fragen nach der Einschätzung der Situation in Deutschland, die Länderfragen, an Hand der die Nivellierungstypen bestimmt werden, und die Gerechtigkeitsskala ausgewertet. Abbildung 4:
Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit (Mitglieder)
100 90 80 70 60 % 50 40 30 20 10 0 Priorität Freiheit
Priorität Gleichheit
n = 450 Betrachtet man die Antworten der CDU-Mitglieder auf die Frage, was ihnen, müssten sie sich entscheiden, wichtiger ist, Freiheit oder Gleichheit, zeigt sich eine eindeutige Präferenz für die Freiheit: 71,6% der Mitglieder plädieren im Zweifelsfall für die Freiheit, 28,4% für die Gleichheit (Abbildung 4).
177
3.4 Hypothesenprüfung
Abbildung 5:
Bewertung soziale Gerechtigkeit der Marktwirtschaft (Mitglieder)
100 90 80 70 60 % 50 40 30 20 10 0 MW ermöglicht Gerechtigkeit
MW führt zu Ungerechtigkeit
n = 446 Ein noch klareres Bild zeigt sich bei der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit. Hier glauben 84,9% derMitglieder, dass die Marktwirtschaft soziale Gerechtigkeit erst möglich mache, da der Staat nur in einem solchen System Arme und sozial Schwache unterstützen könne, während nur 15,1% sagen, dass die Marktwirtschaft automatisch zu sozialer Ungerechtigkeit führe, da die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer würden (vgl. Abbildung 5). Die große Mehrheit der CDUMitglieder geht also davon aus, dass in einem marktwirtschaftlichen System die Forderung Rawls’ erfüllt ist, dass von der sozialen Ungleichheit die am schlechtesten Gestellten profitieren. Die CDU-Mitglieder denken in diesen beiden Fragen also deutlich nonegalitärer als der Rest der Bevölkerung, die bei der Frage nach der Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit unentschieden ist und die zuletzt mehrheitlich davon ausging, dass Marktwirtschaft zu sozialer Ungerechtigkeit führe (vgl. Abschnitt 2.1.2.1. dieser Arbeit).
178
3 Empirischer Teil
Aber meinen die CDU-Mitglieder, wenn sie sich so positiv über die Marktwirtschaft äußern, das bestehende System in der Bundesrepublik Deutschland? Oder sind sie der Auffassung, dass die Verwirklichung marktwirtschaftlicher Prinzipien zwar zu sozialer Gerechtigkeit führe, in Deutschland diese Prinzipien aber nur unzureichend verwirklicht sind? Hier geben die Antworten auf die Frage, als wie gerecht ganz allgemein die sozialen Gegebenheiten in Deutschland empfunden werden, einen Hinweis. Zwar hält eine Mehrheit von gut 60% die Situation in Deutschland für überwiegend gerecht (14,6%) oder eher gerecht (46,2%). Aber auch eine starke Minderheit von fast 40% der CDU-Mitglieder beurteilen die Lage als eher ungerecht (35%) oder überwiegend ungerecht (4,1%; vgl. Abbildung 6). Abbildung 6:
Bewertung soziale Gegebenheiten in Deutschland (Mitglieder)
100 90 80 70 60 %
50 40 30 20 10 0 überwiegend gerecht
eher gerecht
eher ungerecht
überwiegend ungerecht
n = 4540 Die CDU-Mitglieder sind also ganz überwiegend der Auffassung, dass das Konzept der Marktwirtschaft soziale Gerechtigkeit ermöglichen würde. Offensichtlich meinen rund 40% aber, dass dieses Konzept in Deutschland nur unzureichend umgesetzt ist, sie beurteilen die sozialen Gegebenheiten in diesem Land als eher ungerecht. Die Gründe für dieses Urteil lassen sich an den Antworten auf diese Frage nicht ablesen, prinzipiell sind zwei Möglichkeiten denkbar: Die sozialen Gegebenheiten in Deutschland können aus einer eher egalitären Motivation heraus als ungerecht kritisiert werden, da die Verteilung von Vermögen und Einkommen als zu ungleich empfunden wird, oder sie können aus einer eher
179
3.4 Hypothesenprüfung
nonegalitären Motivation heraus als ungerecht kritisiert werden, da etwa die staatliche Umverteilung als zu hoch, das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit als ungenügend realisiert empfunden wird. Um zu klären, welches Motiv bei den CDU-Mitgliedern vorliegt, wurden die Antworten zur Beurteilung der sozialen Lage in Deutschland mit den Antworten auf die Frage nach der Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit und das Verhältnis zwischen Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit verglichen. Tabelle 6: Bewertung soziale Gegebenheiten in Deutschland nach Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit (Mitglieder) Freiheit vs. Gleichheit Priorität Freiheit Soziale Gegebenheiten in Deutschland Gesamt
überwiegend gerecht eher gerecht eher ungerecht überwiegend ungerecht
Priorität Gleichheit
19,9%
3,8%
47,7% 29,3%
44,4% 45,1%
3,1%
6,8%
100,0%
100,0%
n = 438 Es zeigt sich, dass die Mitglieder, die eine Priorität für die Freiheit äußern, die Situation in Deutschland deutlich häufiger als überwiegend oder eher gerecht beurteilen, während Mitglieder, die die Gleichheit vorziehen, die Situation in der Bundesrepublik häufiger als überwiegend oder eher ungerecht beurteilen (vgl. Tabelle 6). Dieser Zusammenhang ist signifikant (p < 0,001), beträgt 0, 241. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Frage nach der Gerechtigkeit der Marktwirtschaft. Auch hier empfinden die CDU-Mitglieder, die der Marktwirtschaft bescheinigen, soziale Gerechtigkeit zu ermöglichen, die Situation in Deutschland deutlich häufiger als gerecht als die Mitglieder, die meinen, Marktwirtschaft führe zu sozialer Ungerechtigkeit (vgl. Tabelle 7). Auch dieser Zusammenhang ist signifikant (p < 0,001), beträgt hier 0, 236.
180
3 Empirischer Teil
Tabelle 7: Bewertung soziale Gegebenheiten in Deutschland nach Bewertung soziale Gerechtigkeit der Marktwirtschaft (Mitglieder) Marktwirtschaft – soziale Gerechtigkeit MarktMarktwirtschaft: wirtschaft: soziale soziale Gerechtigkeit Ungerechtigkeit Soziale Gegebenheiten in Deutschland Gesamt
überwiegend gerecht eher gerecht eher ungerecht überwiegend ungerecht
17,5%
3,0%
49,9% 29,2%
34,3% 55,2%
3,4%
7,5%
100,0%
100,0%
n = 429 Nach diesen Ergebnissen scheint also die Mehrheit derer, die die Situation in Deutschland eher als ungerecht empfinden, mangelnde Gleichheit, zu große Unterschiede zwischen Arm und Reich zu kritisieren. Das Urteil, dass es in Deutschland eher ungerecht zugehe, ist also offenbar bei den CDU-Mitgliedern wie auch bei der Bevölkerung meistens egalitär, deutlich seltener nonegalitär motiviert (vgl. Abschnitt 2.1.2.1. dieser Arbeit). Insgesamt aber muss festgehalten werden, dass eine deutliche Mehrheit der CDU-Mitglieder eindeutig nonegalitär argumentiert. Nun soll geprüft werden, wie sich die CDU-Mitglieder zu der Frage der Nivellierung nach unten verhalten. Hierfür werden die Antworten auf die neu entwickelte „Länderfrage“ herangezogen und wie bereits dargelegt kategorisiert (vgl. Abschnitt 3.1. dieser Arbeit). Es zeigt sich, dass die überwältigende Mehrheit der Mitglieder Nonegalitaristen sind, sie also jeweils meinen, dass es in dem Land gerechter zugeht, in dem es zwar mehr soziale Ungleichheit gibt, es aber absolut allen oder einem Teil der Erwerbstätigen besser geht. Nur eine Minderheit plädiert jeweils für das Land, in dem die Einkommen gleich verteilt sind, aber alle oder ein Teil der Erwerbstätigen absolut weniger verdienen (vgl. Abbildung 7)69. 69
Die fehlenden und die inkonsistenten Antworten geben Auskunft über die Qualität der Frageformulierung (vgl. Abschnitt 3.1. dieser Arbeit), daher wurden die fehlenden Antworten in dieser Grafik auch ausgewiesen. Es ergibt sich ein gemischtes Bild. Einerseits weist der relativ
181
3.4 Hypothesenprüfung
Abbildung 7:
Nivellierungstypen (Mitglieder)
Strenge Egalitaristen (7,8%) Gemäßigte Egalitaristen (3,2%) Nonegalitaristen (74,5%) Fehlend (13,1%) Inkonsistenz (1,4%)
Die CDU-Mitglieder scheinen also mit überwältigender Mehrheit bereit zu sein, n= 478 für einen größeren Wohlstand aller oder auch eines Teils der Bevölkerung mehr soziale Ungleichheit hinzunehmen. Eine Nivellierung nach unten, eine Schlechterstellung der Bessergestellten um einer egalitäreren Verteilung willen, lehnen sie mit großer Mehrheit ab. Betrachtet man nur die zusammengefassten unterschiedlichen egalitaristischen und nonegalitaristischen Nivellierungstypen, sind nach diesen Ergebnissen also fast neun von zehn CDU-Mitgliedern in Deutschland Nonegalitaristen (vgl. Abbildung 8).
hohe Anteil von 13% fehlenden Antworten darauf hin, dass eine nennenswerte Zahl der Befragten mit der Frage nichts anfangen konnte oder eine Antwort ablehnte. Dies spricht gegen die Qualität des entwickelten Messinstruments. Andererseits ist der Anteil an inkonsistenten Antworten mit 1,4% ausgesprochen niedrig. Da drei von acht kombinatorisch möglichen Antwortmustern als inkonsistent gewertet wurden, hätte bei einer rein zufälligen Beantwortung der drei Fragen der Anteil der inkonsistenten Antworten bei knapp 40% liegen müssen. Lediglich 1,4% tatsächlich inkonsistente Antworten zeigen, dass die Befragten nicht zufällig konsistent antworteten. Offensichtlich haben also die Befragten, die die Fragen beantworteten, die innere Logik und den Zusammenhang der drei Fragen erkannt. Daher erscheint es der Autorin vertretbar, die Ergebnisse dieser Fragen für die Analyse zu verwenden.
182
3 Empirischer Teil
Abbildung 8:
Zusammengefasste Nivellierungstypen (Mitglieder)
Egalitaristische Typen (12,9%) Nonegalitaristische Typen (87,1%)
n= 409 Nach den bisherigen Ergebnissen kann also These (1) eindeutig bestätigt werden: Die CDU-Mitglieder in Deutschland vertreten eindeutig häufiger nonegalitäre als egalitäre Einstellungen, sie sind mit überwältigender Mehrheit bereit, eine ungleichere Verteilung zu akzeptieren, wenn davon einige oder viele Beteiligte profitieren. Mit Hilfe der Gerechtigkeitsskala soll nun noch differenzierter erfasst werden, wie die CDU-Mitglieder einzelne egalitäre und nonegalitäre Aussagen bewerten. Hierfür muss diese Likertskala jedoch zunächst auf die Trennschärfe ihrer Items, ihre Reliabilität und Validität überprüft werden.70 Zur Itemanalyse wird getestet, ob die einzelnen Items hinreichend mit der Gesamtpunktzahl der Skala korrelieren. Diesem Verfahren liegt die Idee zu Grunde, dass es unwahrscheinlich ist, dass ein Forscher mit sämtlichen Indikatoren die von ihm avisierte Dimension verfehlt und dass daher die Korrelation eines einzelnen Items mit der Gesamtpunktzahl mit hinreichender Sicherheit Aufschluss darüber gibt, wie gut das Item die gewünschte Dimension misst (Falter 1977: 381). Dabei zeigte sich, dass das aus dem ALLBUS 2004 entnommene Item Wenn die Leistungen der sozialen Sicherung, wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Arbeitslosenunterstützung und Frührenten so hoch sind wie jetzt, führt dies nur dazu, dass die Leute nicht mehr arbeiten wollen nur einen korrigierten Trennschärfekoeffizien70
Eine solche Überprüfung der Likertskala wurde auch bereits im Pretest durchgeführt.
3.4 Hypothesenprüfung
183
ten von 0,274 aufweist. In den Sozialwissenschaften gelten nur korrigierte Trennschärfekoeffizienten über 0,3 als ausreichend, daher wurde dieses Item aus der weiteren Untersuchung ausgeschieden (Bortz/Döring 2002: 219). Unter Reliabilität versteht man die formale Messgenauigkeit des Forschungsinstruments (Falter 1977: 378). Es geht also um die interne Konsistenz der Likertskala, die daran gemessen wird, ob alle Items dieselbe Dimension messen. Dies wird üblicherweise mit Cronbachs Alpha erfasst. Dieser Koeffizient beträgt nach Streichung des Items mit dem geringsten korrigierten Trennschärfekoeffizienten 0,762. In der Literatur gilt ein Wert von Cronbachs Alpha erst ab 0,8 als akzeptabel, dieser Wert wurde also knapp verfehlt (Schumann 1997: 42). Schnell/Hill/Esser weisen allerdings darauf hin, dass in der Praxis meist weit niedrigere Koeffizienten noch akzeptiert werden (Schnell/Hill/Esser 1999: 147).71 Reliabilität ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend für das Vorliegen von Validität. Validität kann mit einem berechenbaren Koeffizienten nur in Form der Kriteriumsvalidität gemessen werden, daher wird in der Forschung die Kriteriumsvalidität oft generell als empirische Validität bezeichnet (Falter 1977: 378f). Die Idee der Kriteriumsvalidität basiert darauf, die Gültigkeit des Messinstruments durch eine hohe Korrelation mit einem Außenkriterium, das ebenfalls dieselbe Dimension messen soll, nachzuweisen. Falter weist darauf hin, dass es bei dieser eher pragmatisch als theoretisch orientierten Methode darauf ankomme, dass das Außenkriterium gesichert reliabel und valide sei (Falter 1977: 379). Die Frage des Instituts für Demoskopie Allensbach zur Entscheidung zwischen Freiheit und Gleichheit ist nach Auffassung der Autorin als ein solches Außenkriterium geeignet, da sie von dem Institut in jahrzehntelanger Praxis immer wieder getestet wurde. Ein weiterer Vorteil dieser Frage ist, dass sie auf der Wertebene angesiedelt ist, dass also direkt die Einstellungen zum Wert der Gleichheit, die durch die Likertskala ja ebenfalls erfasst werden sollen, abfragt werden.72 Zum Test der Kriteriumsvalidität wurde daher die Freiheit/Gleichheit-Frage als unabhängige, die von jedem einzelnen Befragten in der Likertskala erreichten
71
72
Auch in dieser Arbeit kann also kein ganz idealer Wert für Cronbachs Alpha erreicht werden, auch dann nicht, wenn weitere Items eliminiert würden. Daher muss akzeptiert werden, dass der Richtwert von 0,8 für Cronbachs Alpha knapp verfehlt wird und die Ergebnisse der Likertskala daher nur unter Vorbehalt interpretiert werden können. Allerdings wird in der Allensbach-Frage der Aussage, dass Gleichheit wichtig sei, nicht eine Aussage entgegengestellt, dass Gleichheit kein Wert sei, wie die Nonegalitaristen argumentieren, sondern der Wert der Freiheit. Die Präferierung von Freiheit und die Aussage, dass Gleichheit kein Wert sei, sind aber nicht unbedingt dasselbe. Dennoch erscheint der Autorin die Allensbach-Frage als Außenkriterium zur Prüfung der Kriteriumsvalidität geeignet, da sie zumindest die positive Zustimmung zum Wert der Gleichheit misst.
184
3 Empirischer Teil
Mittelwerte als abhängige Variable betrachtet.73 Hier ergibt sich ein starker Zusammenhang, das Maß für eine nominalskalierte unabhängige und eine intervallskalierte abhängige Variable erreicht den hohen Wert von 0,510, der T-Test für unabhängige Stichproben ergibt einen signifikanten (p < 0,001) Mittelwertsunterschied.74 Mitglieder, die sich im Zweifel für die Freiheit entscheiden, kommen also bei der Likertskala auf einen deutlich niedrigeren Mittelwert als Mitglieder, die für die Gleichheit plädieren. Damit kann die Kriteriumsvalidität der entwickelten Likertskala als hoch betrachtet werden. Zur Überprüfung der Konstruktvalidität wird häufig eine explorative Faktorenanalyse vorgenommen. Damit soll getestet werden, ob und wieviele unterschiedliche Faktoren der Korrelationsmatrix der Likertskala zu Grunde liegen (Schnell/Hill/Esser 1999: 155f). Bei den vorliegenden Daten weist ein KMOWert von 0,803 bei einem signifikanten (p < 0,001) Bartlett-Test darauf hin, dass die Daten für eine Faktorenanalyse der Items geeignet sind. Die Faktorenanalyse ergibt, dass die Items der Likertskala auf zwei Faktoren laden (vgl. Tabelle 8). Tabelle 8: Faktorenanalyse der Likertskala: Rotierte Komponentenmatrix (Mitglieder) Komponente 1 2 ,77 ,28 ,64 ,38 ,67 ,34 ,65 ,00 ,61 ,04
Verringerung Ungleichheit Einkommen politisches Ziel Verteilung Einkommen und Vermögen ungerecht Einschränkung soziale Leistungen ungerecht Jeder soll das haben, was er für anständiges Leben braucht Sozialismus gute Idee Gerecht, dass man Einkommen behält, auch wenn einige -,05 reicher Richtigkeit, wenn Unternehmer große Gewinne machen, ,16 es profitieren alle Rangunterschiede sind akzeptabel, drücken aus, was man aus -,30 seinen Chancen gemacht hat
73
74
,76 ,77 ,54
Bei der Bildung der Mittelwerte wurden pro Befragten maximal zwei missing values zugelassen, Antworten mit mehr fehlenden Werten wurden aus der Analyse ausgeschlossen. Alle Items wurden so umkodiert, dass sie in die gleiche Richtung gepolt sind. Wie in den Sozialwissenschaften üblich wird hier die Likertskala als intervallskaliert betrachtet, obwohl sie streng genommen nur ordinal skaliert ist. Vgl. zu dieser Problematik Allerbeck 1978.
3.4 Hypothesenprüfung
185
Dabei fällt auf, dass alle Items, die eine egalitäre Wertaussage enthalten, auf dem ersten Faktor laden, während alle Aussagen, die eine nonegalitäre Wertung vornehmen, auf dem zweiten Faktor laden. Dieser Effekt tritt auf, obwohl die Items vorher so umgepolt wurden, dass sie in dieselbe Richtung weisen. Inhaltlich lässt sich dies interpretieren, dass zumindest bei den Mitgliedern die Zustimmung zu egalitären Positionen nicht dasselbe ist wie die Ablehnung nonegalitärer Positionen – und umgekehrt. Das heißt also, dass die Mitglieder egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen nicht als völligen Gegensatz verstehen, sondern zumindest teilweise davon ausgehen, dass sich beide Werthaltungen miteinander vereinbaren lassen. Darauf weist auch ein Vergleich der Mittelwerte der Zustimmungsraten zu den egalitären und den nonegalitären Aussagen hin. Obwohl die nonegalitären Aussagen zuvor umgepolt wurden, korrelieren die beiden Mittelwerte der egalitären Aussagen einerseits und der nonegalitären Aussagen andererseits nur mit r = 0,402. Dieser Zusammenhang ist zwar relativ stark und auch signifikant (p < 0,001), er ist aber nicht so stark, dass man sagen kann, dass bei den Mitgliedern mit der Zustimmung zu nonegalitären Aussagen in der Regel auch die Ablehnung egalitärer Aussagen einhergeht. Vielmehr scheint für die Mitglieder in einem gewissen Maß beides miteinander vereinbar zu sein. Die Konstruktvalidität der Likertskala kann also nur mit Einschränkungen festgestellt werden. Offensichtlich misst die Skala – zumindest bei den Mitgliedern – nicht die Einstellung auf einem eindimensionalen Kontinuum mit den Polen „Egalitäre Werthaltungen“ und „Nonegalitäre Werthaltungen“, sondern sie misst die Zustimmung zu zwei aus Sicht der Mitglieder nur bedingt voneinander abhängigen Dimensionen „Egalitäre Werthaltungen“ und „Nonegalitäre Werthaltungen“. Dies muss bei der weiteren Interpretation berücksichtigt werden, die beiden Dimensionen werden daher bei der Analyse der Likertskala getrennt behandelt. Nach Überprüfung der Trennschärfe der Items sowie der Reliabilität und Validität der Likertskala erscheint die Gerechtigkeitsskala damit insgesamt als ein geeignetes Messinstrument zur Erfassung egalitärer und nonegalitärer Einstellungen bei den CDU-Mitgliedern, sofern die beiden Dimensionen separat analysiert werden. Für die inhaltliche Analyse der Ergebnisse der Gerechtigkeitsskala wurde daher die durchschnittliche Zustimmung jedes Befragten zu den fünf nonegalitären und den verbliebenen drei egalitären Items in Gruppen zusammengefasst. Die mittlere Zustimmung liegt dabei zwischen +3, bei Befragten, die allen Items voll und ganz zustimmen, und -3, bei Befragten, die allen Items überhaupt
186
3 Empirischer Teil
nicht zustimmen.75 Es zeigt sich, dass ein Fünftel der Mitglieder die in der Gerechtigkeitsskala abgefragten egalitären Aussagen im Schnitt stark (-3 bis -1,5), 41% der Mitglieder sie eher ablehnen (-1,49 bis 0). Knapp 30% der Mitglieder stimmen eher zu (0,01 bis 1,5), fast zehn Prozent stark zu (1,51 bis 3). Insgesamt lehnt also eine Mehrheit von 62% egalitäre Items ab (vgl. Tabelle 9). Tabelle 9: Durchschnittliche Zustimmung zu egalitären Items (Mitglieder)
-3 bis -1,5 -1,49 bis 0 ,01 bis 1,5 1,51 bis 3 Gesamt
Häufigkeit 98 194 137 44 47276
Anteilswerte [%] 20,8 41,0 29,0 9,2 100,0
Noch deutlicher ist das Bild bei den nonegalitären Items. Hier stimmt eine absolute Mehrheit von 61% im Schnitt stark, knapp 30% der Befragten eher zu. Lediglich sieben Prozent der Befragten lehnen die nonegalitären Aussagen eher, knapp zwei Prozent voll und ganz ab. Insgesamt stimmt also eine überwältigende Mehrheit von über 90% den nonegalitären Items zu (vgl. Tabelle 10). Tabelle 10: Durchschnittliche Zustimmung zu nonegalitären Items (Mitglieder)
-3 bis -1,5 -1,49 bis 0 ,01 bis 1,5 1,51 bis 3 Gesamt
Häufigkeit 8 35 141 288 473
Anteilswerte [%] 1,7 7,4 29,9 61,0 100,0
Bildet man aus diesen mittleren Zustimmungsraten wiederum einen Mittelwert, ergibt sich folgendes Gesamtbild: Die egalitären Aussagen lehnen die Mitglieder
75 76
Da die Items ab sofort getrennt betrachtet werden, wird wieder die ursprüngliche Polung verwendet. Die Fallzahlgewichtung führt zu nicht-ganzzahligen Fallzahlen. Die ausgewiesenen Häufigkeiten in den Kategorien sind daher gerundete Werte. Dies erklärt die Diskrepanz zwischen der Summe der absoluten Häufigkeiten der einzelnen Kategorien und den in der letzten Zeile ausgewiesenen Gesamtwerten in Tabelle 9 und Tabelle 10.
3.4 Hypothesenprüfung
187
mit einem Mittelwert von -0,33 eher ab, nonegalitären Aussagen stimmen sie mit im Schnitt +1,50 relativ stark zu. Diese starke Zustimmung zu nonegalitären Werthaltungen, gepaart mit einer lediglich schwachen Ablehnung egalitärer Thesen bestätigt die Ergebnisse der Faktorenanalyse, dass die Mitglieder beide Werthaltungen nicht für völlig unvereinbar halten. Dennoch weisen auch diese Ergebnisse in Richtung der ersten These, dass CDU-Mitglieder deutlich eher nonegalitäre als egalitäre Einstellungen vertreten. Insgesamt kann nach den bisher ausgewerteten Ergebnissen also die These (1) bestätigt werden. Allerdings muss die These insofern modifiziert werden, dass nach den Ergebnissen der Faktorenanalyse der Gerechtigkeitsskala mit der Zustimmung zu nonegalitären Werthaltungen keine strikte Ablehnung egalitärer Werthaltungen einhergeht. Zwingt man die Mitglieder aber, wie in der Frage nach Freiheit oder Gleichheit oder bei den Nivellierungstypen, sich zu entscheiden, vertreten sie gemäß These (1) zu fast 90% nonegalitäre Werthaltungen und lehnen eine Nivellierung nach unten ab. Nun sollen die Thesen zu den Einflussfaktoren überprüft werden. Die Ergebnisse wurden in einer Tabelle zusammengefasst (Tabelle 11).
188
3 Empirischer Teil
Tabelle 11: Einflussfaktoren auf egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen (Mitglieder)
3.4 Hypothesenprüfung
189
Legende: * : 0,01 < p-Wert < 0,05 **: p-Wert < 0,01 ( ): Anhaltspunkte für Zusammenhang, nicht signifikant 1) Richtung: Im Osten höhere Zustimmung zu egalitären Items 2) Richtung: Im Osten geringere Zustimmung zu nonegalitären Items 3) Wohnort vor 1989 Bei der Wohnregion in Ost- oder Westdeutschland zeigt sich ein eindeutiger, aber nicht sonderlich stark ausgeprägter Einfluss: Sowohl bei der Frage nach der Präferenz zwischen Freiheit und Gleichheit, als auch nach den sozialen Auswirkungen der Marktwirtschaft tendieren ostdeutsche CDU-Mitglieder signifikant häufiger zu egalitären Antworten. Auch bei der Zustimmung zu den egalitären und nonegalitären Items der Gerechtigkeitsskala wirkt sich die Wohnregion aus: Ostdeutsche stimmen den egalitären Aussagen etwas stärker, den nonegalitären etwas schwächer zu als westdeutsche CDU-Mitglieder. Allerdings ist der Einfluss der Wohnregion auf die Zustimmung zu den nonegalitären Items relativ schwach: Diese Überzeugungen sind bei den CDU-Mitgliedern in ganz Deutschland sehr verbreitet. Der direkte Vergleich der Mittelwerte zeigt einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen ost- und westdeutschen Mitgliedern: Das Antwortverhalten der ostdeutschen CDU-Mitglieder scheint weniger polarisiert zu sein. So erreichen die nonegalitären Aussagen bei den ostdeutschen Befragten im Schnitt eine Zustimmung von +1,29, die egalitären Aussagen kommen aber ebenfalls auf eine zumindest leichte Zustimmung von durchschnittlich +0,07. Das Ergebnis der Faktorenanalyse, dass für die Befragten egalitäre und nonegalitäre Wertvorstellungen keinen Gegensatz bilden, scheint also vor allem im Antwortverhalten der in der DDR sozialisierten Befragten begründet zu liegen. Sie unterstützen tendenziell sowohl egalitäre als auch nonegalitäre Items. Bei den in Westdeutschland sozialisierten Mitgliedern kommen die nonegalitären Aussagen hingegen im Schnitt auf +1,52, die egalitären auf -0,36. Diese Befragten stimmen also nonegalitären Aussagen etwas stärker zu als die Ostdeutschen und lehnen egalitäre Aussagen deutlich stärker ab. Für sie bilden egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen also eher einen Gegensatz als für die in Ostdeutschland sozialisierten Befragten. Insgesamt kann These (2) angenommen werden: CDU-Mitglieder aus Ostdeutschland vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als CDU-Mitglieder aus Westdeutschland.
190
3 Empirischer Teil
Das Alter der Befragten wirkt sich nur bei der Zustimmung zu den egalitären Items direkt aus: Hier steigt die Zustimmung mit dem Alter, wie in These (3) erwartet. Bei den anderen Fragen kann gesamtdeutsch kein signifikanter Einfluss des Alters mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit unter fünf Prozent festgestellt werden. Allerdings gehen viele Forscher davon aus, dass sich bei der Bevölkerung das Alter in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich auf die Zustimmung zu egalitären Werten auswirkt . Danach soll im Westen ein Lebenszykluseffekt dominieren, nach dem die Zustimmung zu egalitären Positionen in jungen Jahren relativ gering ist, in den mittleren Jahren steigt und im Alter wieder abnimmt. Im Osten soll nach den Thesen Bürklins ein Kohorteneffekt vorherrschen, nach dem die im Dritten Reich und unter Honecker Sozialisierten egalitäre Werte besonders stark, die unter Ulbricht Sozialisierten solche Werte weniger stark vertreten (vgl. Abschnitt 2.1.2.1. dieser Arbeit). Daher muss der Einfluss des Alters getrennt nach Ost und West untersucht werden, um zu prüfen, ob diese unterschiedlichen Effekte auch bei CDU-Mitgliedern bestehen und somit für Gesamtdeutschland nur eine scheinbare Nichtkorrelation vorliegt. Tatsächlich zeigt sich bei der Frage nach der Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit bei den in der DDR Aufgewachsenen ein Effekt des Alters von mittlerer Stärke.77 Je älter die im Osten sozialisierten CDU-Mitglieder sind, um so häufiger entscheiden sie sich für die Gleichheit. Allerdings zeigt sich nicht der von Bürklin vermutete Effekt: Gerade die unter Honecker sozialisierte Kohorte der 36-50jährigen wählt am häufigsten Freiheit, während sich die vorwiegend unter Ulbricht sozialisierten 51 bis 65jährigen vergleichsweise seltener für die Freiheit entscheiden und häufiger die Gleichheit wählen. Bei den in Westdeutschland Sozialisierten zeigt sich kein Effekt des Alters. Tendenziell entscheiden sich zwar die Älteren etwas häufiger für die Gleichheit, dieser Zusammenhang ist aber nicht signifikant. Auch ein Lebenszykluseffekt kann nicht klar festgestellt werden. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Frage nach den sozialen Auswirkungen der sozialen Marktwirtschaft. Bei den in der ehemaligen DDR aufgewachsenen CDU-Mitgliedern zeigt sich: Mit zunehmenden Alter nimmt der Glaube, die Marktwirtschaft ermögliche soziale Gerechtigkeit, ab. Bei den in Westdeutschland sozialisierten CDU-Mitgliedern zeigt sich kein signifikanter Effekt des Alters, auch nicht der vermutete Lebenszykluseffekt. Bei den Nivellierungstypen und der Zustimmung zu den nonegalitären Items lässt sich ebenfalls kein signifikanter Effekt des Alters feststellen.
77
Da in den untersuchten Thesen der Einfluss der Sozialisation eine große Rolle spielt, wird hier die Wohnregion vor 1989 betrachtet.
3.4 Hypothesenprüfung
191
Zusammenfassend kann man also festhalten, dass es einige empirische Hinweise gibt, dass These (3), nach der ältere CDU-Mitglieder stärker egalitäre Einstellungen vertreten als jüngere, zutrifft. Dies scheint insbesondere bei den in Ostdeutschland sozialisierten CDU-Mitgliedern der Fall zu sein. Das Einkommen der Befragten wirkt sich wie erwartet aus. Besonders deutlich ist dieser Zusammenhang bei der Frage Freiheit vs. Gleichheit und bei der Zustimmung zu den nonegalitären Items: Wer mehr verdient, bevorzugt eindeutig häufiger die Freiheit und lehnt die egalitären Items ab. Deutlich schwächer ist der Zusammenhang bei den nonegalitären Items. Wie bei dem Einfluss des Alters zeigt sich also erneut, dass bei den Mitgliedern eine – mit wachsendem Alter – steigende Zustimmung zu egalitären Aussagen oder eine – mit wachsendem Einkommen – sinkende Zustimmung zu egalitären Aussagen nicht automatisch mit einer genauso starken komplementären Ablehnung oder Zustimmung zu nonegalitären Aussagen einhergeht. Generell ist die Zustimmung zu nonegalitären Aussagen sehr stark, diese scheint aber seltener mit demographischen oder sozioökonomischen Merkmalen wie Alter oder Einkommen zu variieren. Insgesamt kann These (4) aber eindeutig bestätigt werden; wie in fast allen Untersuchungen zu diesem Thema zeigt sich auch in dieser Arbeit, dass auch bei CDU-Mitgliedern mit steigendem Einkommen die Akzeptanz egalitärer Werthaltungen sinkt. Die Akzeptanz nonegalitärer Werthaltungen wächst hingegen mit steigendem Einkommen, allerdings ist dieser Zusammenhang etwas schwächer. Ein Einfluss der formalen Bildung auf die Zustimmung zu egalitären und nonegalitären Werthaltungen lässt sich ebenfalls eindeutig feststellen: Mit wachsender Bildung wird Freiheit eher bevorzugt, die soziale Gerechtigkeit der Marktwirtschaft angenommen, Nivellierung nach unten und die egalitären Items werden abgelehnt. Kontrolliert man jedoch die Herkunft der Mitglieder aus Ost- oder Westdeutschland, zeigt sich ein interessanter Unterschied: Sowohl bei der Frage nach der Präferenz zwischen Freiheit und Gleichheit, als auch bei der Zustimmung zu den egalitären Items ist die nonegalitäre Werthaltung der ostdeutschen Mitglieder mit Hochschulabschluss wieder leicht rückläufig. Auch hier entscheiden sich also die höhergebildeten Mitglieder mehrheitlich für die Freiheit oder gegen egalitäre Werthaltungen; unter den Mitgliedern, deren höchster Bildungsabschluss das Abitur ist, ist diese Präferenz allerdings ausgeprägter als unter den ostdeutschen Akademikern. Außerdem fällt auf, dass die hohe Zustimmung zu den nonegalitären Items weder gesamtdeutsch noch bei getrennter Betrachtung der Landesteile mit der formalen Bildung variiert, während der Zusammenhang bei den egalitären Items in ganz Deutschland sehr deutlich ausgeprägt ist. Zwingt man also die Mitglieder, sich, wie bei der Frage nach der Präferenz zwischen Freiheit und Gleichheit,
192
3 Empirischer Teil
zwischen egalitären und nonegalitären Werthaltungen zu entscheiden, nimmt mit steigender Bildung auch die Zustimmung zu nonegalitären Aussagen zu. Ermöglicht man allerdings, wie bei der Gerechtigkeitsskala, die Zustimmung sowohl zu nonegalitären, als auch zu egalitären Items, zeigt sich nur bei den egalitären, nicht aber bei den nonegalitären Aussagen ein positiver Einfluss der Bildung. Die Zustimmung zu nonegalitären Wertvorstellungen ist also bei CDUMitgliedern bei allen Bildungsstufen gleichermaßen hoch. Insgesamt kann ein Einfluss der Bildung für CDU-Mitglieder also eindeutig festgestellt und These (5) bestätigt werden: Bei CDU-Mitgliedern nimmt mit steigender formaler Bildung die Zustimmung zu egalitären Wertvorstellungen ab. Allerdings scheint die Zustimmung bei ostdeutschen Akademikern wieder etwas rückläufig zu sein. Außerdem ist die Zustimmung zu nonegalitären Werthaltungen über alle Bildungsstufen gleich hoch. Das Geschlecht der Befragten scheint sich nicht auszuwirken, vielmehr ist die Verteilung der Antworten bei männlichen und weiblichen CDU-Mitgliedern nahezu völlig identisch. Dies gilt auch bei Kontrolle des Alters und der Wohnregion der Mitglieder in Ost- oder Westdeutschland. These (6) kann also nicht bestätigt werden, vielmehr hat nach den Ergebnissen dieser Arbeit das Geschlecht bei CDU-Mitgliedern keinerlei Einfluss auf egalitäre oder nonegalitäre Werthaltungen. Ein Einfluss der Religiosität der Befragten, die hier wie in der Forschung üblich über die Kirchgangshäufigkeit operationalisiert wurde, lässt sich bei gesamtdeutscher Betrachtung nicht signifikant nachweisen. Lediglich bei der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit der Marktwirtschaft gibt es nicht signifikante Anhaltspunkte, dass eine höhere Religiosität zu einer stärkeren Zustimmung zu dieser These führt. Kontrolliert man jedoch die Herkunft der Befragten, zeigt sich, dass sich die Religiosität der CDU-Mitglieder in Ost- und Westdeutschland offenkundig entgegengesetzt auswirkt: Während in Ostdeutschland eine höhere Religiosität zu nonegalitäreren Werthaltungen führt, scheint sie in Westdeutschland eher in Richtung egalitärerer Einstellungen zu wirken. Für Ostdeutschland scheint These (7) also zuzutreffen, dass stärker religiöse CDU-Mitglieder seltener egalitäre Einstellungen vertreten als weniger religiöse. Hier wirkt vielleicht der Zusammenhang zwischen kirchlichem Engagement und antisozialistischer Haltung nach. Für Westdeutschland gibt es Hinweise, dass der entgegengesetzte Zusammenhang gilt. Stärker religiöse CDU-Mitglieder scheinen hier häufiger egalitäre Einstellungen zu vertreten als weniger religiöse. Alle Zusammenhänge sind allerdings nur relativ schwach, teilweise nicht signifikant und bei einzelnen Fragen zeigen sie sich auch nicht. Daher können diese Ergebnisse nur unter Vorbehalt gelten.
193
3.4 Hypothesenprüfung
3.4.2 Einstellungen der CDU-Bundestagsabgeordneten Nach den Thesen über die Einstellungen der CDU-Mitglieder sollen nun die Thesen über die entsprechenden Werthaltungen der CDU-Abgeordneten des 16. Deutschen Bundestages überprüft werden. Begonnen wird mit These (8): 8.
CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages vertreten häufiger nonegalitäre Einstellungen als egalitäre Einstellungen.
Abbildung 9:
Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit (Abgeordnete)
100 90 80 70 60 %
50 40 30 20 10 0 Priorität Freiheit
Priorität Gleichheit
n = 134 Abbildung 9 zeigt, dass sich die befragten CDU-Abgeordneten des 16. Deutschen Bundestages, vor die Wahl zwischen Freiheit und Gleichheit gestellt, mit überwältigender Mehrheit für die Freiheit entscheiden. 97% der MdBs votieren in diesem Sinne, nur drei Prozent, dies entspricht vier Abgeordneten, entscheiden sich für die Gleichheit. Noch (!) deutlicher ist das Bild bei der Frage nach den Auswirkungen der Marktwirtschaft auf die soziale Gerechtigkeit. Hier vertreten 99,3% der befragten Abgeordneten die Auffassung, dass die Marktwirtschaft
194
3 Empirischer Teil
soziale Gerechtigkeit erst ermögliche, nur ein CDU-Abgeordneter vertritt die entgegengesetzte Auffassung, dass die Marktwirtschaft zu sozialer Ungerechtigkeit führe (vgl. Abbildung 10). Abbildung 10:
Bewertung soziale Gerechtigkeit der Marktwirtschaft (Abgeordnete) 100 90 80 70 60
%
50 40 30 20 10 0 MW ermöglicht Gerechtigkeit
MW führt zu Ungerechtigkeit
n = 134 So gut wie alle CDU-Abgeordneten sind also der Auffassung, dass das System der Marktwirtschaft zu sozialer Gerechtigkeit führt. Diese Gerechtigkeit sehen die meisten MdBs in Deutschland auch als verwirklicht an. So sind 32,8% der CDU-Parlamentarier der Auffassung, dass die sozialen Gegebenheiten in Deutschland überwiegend, 59%, dass sie eher gerecht sind. Nur 8,2 % meinen, dass sie eher ungerecht sind, kein Abgeordneter bewertet die sozialen Gegebenheiten in Deutschland als überwiegend ungerecht (vgl. Abbildung 11).
195
3.4 Hypothesenprüfung
Abbildung 11:
Bewertung der sozialen Gegebenheiten in Deutschland (Abgeordnete)
100 90 80 70 60 %
50 40 30 20 10 0 überwiegend gerecht
eher gerecht
eher ungerecht
überwiegend ungerecht
n = 134 Auch bei den Nivellierungstypen zeigt sich das erwartete Bild: Die große Mehrheit der CDU-Abgeordneten gehört zu den Strengen Nonegalitaristen, ist also zu keiner Nivellierung nach unten bereit. Nur knapp sechs Prozent der MdBs vertreten gemäßigt egalitäre Positionen, streng egalitäre Positionen finden sich nur bei drei Prozent der Abgeordneten (vgl. Abbildung 12).78
78
Wieder geben die fehlenden und inkonsistenten Antworten Auskunft über die Qualität der Frageformulierung (vgl. Fußnote 56, Abschnitt 3.1. dieser Arbeit). Der relativ hohe Anteil an fehlenden Antworten spricht wie bei den Mitgliedern auch gegen die Qualität der Frage, der relativ niedrige Anteil an inkonsistenten Antworten dafür. Die Bilanz ist also gemischt, dennoch erscheint es der Autorin auch hier vertretbar, die Ergebnisse der Frage zu verwenden.
196 Abbildung 12:
3 Empirischer Teil
Nivellierungstypen (Abgeordnete)
Strenge Egalitaristen (3,0%) Gemäßigte Egalitaristen (5,9%) Nonegalitaristen (73,3%) Fehlend (14,1%) Inkonsistenz (3,7%)
n = 135 Dies wird noch deutlicher, wenn man nur die egalitaristischen und die nonegalitaristischen Typen betrachtet. Dann zeigt sich, dass knapp 90% aller CDU-Abgeordneten, die sich einem der beiden Typen zuordnen lassen, zu den nonegalitaristischen Typen gehören (vgl. Abbildung 13).
197
3.4 Hypothesenprüfung
Abbildung 13:
Zusammengefasste Nivellierungstypen (Abgeordnete)
Egalitaristische Typen (10,8%) Nonegalitaristische Typen (89,2%)
n= 111 Die fast einstimmige Zustimmung zu den jeweils nonegalitären Antwortkategorien zeigt, dass die bisher ausgewerteten Fragen zu grob sind, um Nuancen der Einstellungen der Abgeordneten zu erfassen. Über solche kann eher die Gerechtigkeitsskala Auskunft geben, die ein differenzierteres Antwortverhalten ermöglicht. Diese muss aber zunächst auf die Trennschärfe ihrer Items, ihre Reliabilität und Validität untersucht werden. Die Itemanalyse ergibt nach Umpolung bei drei Items einen korrigierten Trennschärfekoeffizienten von unter 0,3, was in den Sozialwissenschaften als nicht ausreichend gilt (Bortz/Döring 2002: 219). Daher wurden diese drei Items aus der weiteren Untersuchung ausgeschieden.79 Dennoch beträgt Cronbachs Alpha, der Koeffizient zur Messung der Reliabilität, auch nach Streichung dieser drei Items lediglich 0,67. Damit wird der übliche Richtwert von 0,8 verfehlt (Schumann 1997: 42). Auch wenn nach Schnell/Hill/Esser in der Praxis meist weit niedrigere Koeffizienten noch akzeptiert werden, lässt dieser verhältnismä79
Es handelt sich dabei um das Item Das Einkommen sollte sich nicht allein nach der Leistung des Einzelnen richten. Vielmehr sollte jeder das haben, was er mit seiner Familie für ein anständiges Leben braucht; das Item Es ist gerecht, dass man das, was man durch Arbeit verdient hat, behält, auch wenn das heißt, das einige reicher sind als andere; und das Item Der Sozialismus ist im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde.
198
3 Empirischer Teil
ßig niedrige Wert von Cronbachs Alpha doch eine explorative Faktorenanalyse als besonders notwendig erscheinen, um zu untersuchen, ob die Gerechtigkeitsskala wie bei den Mitgliedern auch bei den Abgeordneten auf mehreren Faktoren lädt. Hiermit wird auch die Konstruktvalidität der Likertskala geprüft (Schnell/ Hill/Esser 1999: 147; 155f). Die Analyse der sechs verbliebenen Items ergibt einen KMO-Wert von 0,731 bei einem signifikanten (p < 0,001) Bartlett-Test und zeigt damit an, dass die Daten für eine Faktorenanalyse geeignet sind. Diese ergibt, dass den sechs untersuchten Items der Likertskala nur ein Faktor zugrunde liegt (vgl. Tabelle 12). Tabelle 12: Faktorenanalyse der Likertskala: Rotierte Komponentenmatrix (Abgeordnete) Komponente 1 Rangunterschiede sind akzeptabel, drücken aus, was man aus seinen Chancen gemacht hat Verteilung Einkommen und Vermögen ungerecht Verringerung Ungleichheit Einkommen politisches Ziel Einschränkung soziale Leistungen ungerecht Richtigkeit, wenn Unternehmer große Gewinne machen, es profitieren alle Hohe soziale Sicherung führt dazu, dass die Leute nicht mehr arbeiten wollen
,647 ,606 ,619 ,707 ,580 ,549
Während die Faktorenanalyse also für die Mitglieder ergab, dass diese egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen als teilweise getrennte Dimensionen betrachten, bei denen die Zustimmung zu einer Dimension nicht automatisch eine Ablehnung der anderen beinhaltet, scheinen die Abgeordneten hier eher von einem Gegensatz der beiden Dimensionen auszugehen. Ihrer Betrachtung liegt also offensichtlich die Vorstellung eines Wertkontinuums zu Grunde, dessen beide Pole aus strikt egalitären und strikt nonegalitären Einstellungen bestehen. Wer bei der Gerechtigkeitsskala nonegalitären Items zustimmt, lehnt egalitäre ab und umgekehrt – dieses Antwortverhalten der Abgeordneten lässt sich aus der Tatsache, dass die Faktorenanalyse nur einen Faktor extrahiert, ablesen. Daher müssen im Folgenden egalitäre und nonegalitäre Items der Gerechtigkeitsskala nicht wie bei den Mitgliedern getrennt betrachtet werden, sondern es wird ein bei allen Items erreichter Mittelwert ausgewiesen, der so gepolt wurde, dass der Maximalwert von +3 für eine strikt nonegalitäre, der Minimalwert von -3 für eine strikt egalitäre Werthaltung und 0 für die mittlere Position steht.
199
3.4 Hypothesenprüfung
Insgesamt ergibt die Überprüfung der Gerechtigkeitsskala also ein gemischtes Bild. Items mit unzureichender Trennschärfe wurden eliminiert, die Trennschärfe der verbliebenen Items entspricht den gängigen Anforderungen. Der Indikator zur Messung der Reliabilität, Cronbachs Alpha, liegt unter dem in der Literatur üblichen Richtwert von 0,8. Die Faktorenanalyse hingegen ergab, dass, wie bei einer Likertskala angestrebt, dem Antwortverhalten der Abgeordneten nur eine Dimension zugrunde liegt. Dies ist ein Hinweis auf eine hohe Kon-struktvalidität. Zusammengenommen ist damit nach Ansicht der Autorin die weitere inhaltliche Analyse der Ergebnisse der Gerechtigkeitsskala vertretbar. Für die inhaltliche Analyse der Gerechtigkeitsskala wurde, wie bei den Mitgliedern auch, die durchschnittlich erreichte Punktzahl bei der Zustimmung oder Ablehnung der Items in Gruppen zusammengefasst. Es zeigt sich, dass die Abgeordneten ganz überwiegend nonegalitäre Einstellungen vertreten: 32% der befragten MdBs kommen auf eine durchschnittliche Punktzahl zwischen 1,51 und 3, sie vertreten also stark nonegalitäre Werthaltungen. 60% kommen auf eine durchschnittliche Punktzahl zwischen 0,1 und 1,5, auch sie vertreten also eher nonegalitäre Werthaltungen. Bei lediglich sieben Prozent der Abgeordneten weist ein erreichter durchschnittlicher negativer Wert auf eine stärkere Zustimmung zu egalitären Werthaltungen hin, wobei nur ein Abgeordneter einen Mittelwert zwischen -3 und -1,5 erreicht, somit also stark egalitäre Werthaltungen vertritt (vgl. Tabelle 13). Im Schnitt kommen die Abgeordneten insgesamt auf einen Mittelwert von 1,17. Tabelle 13: Durchschnittliche Zustimmung zu egalitären und nonegalitären Items der Gerechtigkeitsskala (Abgeordnete)
-3 bis -1,5 -1,49 bis 0 ,01 bis 1,5 1,51 bis 3 Gesamt
Häufigkeit 1 9 81 43 134
Anteilswerte ,7% 6,7% 60,4% 32,1% 100,0%
n = 134 Insgesamt zeigen also diese Ergebnisse, dass die befragten CDU-Abgeordneten mit überwältigender Mehrheit nonegalitäre Einstellungen vertreten, egalitäre Werthaltungen hingegen kommen kaum vor. These (8) kann somit eindeutig bestätigt werden.
200
3 Empirischer Teil
Die Tatsache, dass egalitäre Werthaltungen nur selten vorkommen, entspricht zwar den im theoretischen Teil formulierten Erwartungen, erschwert aber die Überprüfung der Thesen über die Einflussfaktoren. Denn bei insgesamt 135 befragten Abgeordneten sind es jeweils weniger als fünfzehn Abgeordnete, die sich bei den einzelnen Fragen für die jeweils egalitäre Antwortkategorie entschieden haben – zu wenig für eine seriöse Überprüfung von Thesen über statistische Zusammenhänge. Daher kann bei der Überprüfung der Thesen über Einflussfaktoren nicht auf die Fragen mit nominalen Antwortkategorien, also die Fragen nach der Präferenz zwischen Freiheit und Gleichheit, nach den sozialen Auswirkungen der Marktwirtschaft und nach den Nivellierungstypen zurückgegriffen werden. Diese können erst wieder zur Überprüfung der Responsivität herangezogen werden. Auch bei der Gerechtigkeitsskala haben nur wenige Abgeordnete im Schnitt den egalitären Aussagen stärker zugestimmt als den nonegalitären. Daher werden für die Überprüfung der Thesen über die Einflussfaktoren auf egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen bei Abgeordneten die Ergebnisse in zwei Gruppen neu zusammengefasst: Zur ersten Gruppe gehören Abgeordnete, die bei der Gerechtigkeitsskala einen unter dem Mittelwert von 1,17 liegenden Wert erreichten, die also im Vergleich mit ihren Kollegen überdurchschnittlich egalitär, zur zweiten Gruppe gehören entsprechend Abgeordnete, die einen über 1,17 liegenden Wert erreichten, also unterdurchschnittlich egalitär votierten.80 Auf diese Weise können die Thesen über Einflussfaktoren überprüft werden, die Ergebnisse werden in einer Tabelle zusammengefasst (Tabelle 14):
80
Den Wert von exakt 1,17 erreichte kein Abgeordneter, also muss dieser Wert auch keiner Kategorie zugeordnet werden.
201
3.4 Hypothesenprüfung
Tabelle 14: Einflussfaktoren auf egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen (Abgeordnete)
Einflussfaktor
Wohnregion Ost Höheres Alter Höhere Bildung Geschlecht weiblich Höhere Religiosität
Nonegalitäre Einstellungen (nonegalitärer) = -0,442** (nonegalitärer) (egalitärer) = -0,358*
Legende: * : 0,01 < p-Wert < 0,05 **: p-Wert < 0,01 ( ): Anhaltspunkte für Zusammenhang, nicht signifikant Ein signifikanter Einfluss der Wohnregion der Abgeordneten in Ost- oder Westdeutschland lässt sich nicht feststellen. Es zeigen sich lediglich schwache, nicht signifikante81 Anhaltspunkte, dass die ostdeutschen Abgeordneten etwas non81
Die Frage, ob Signifikanztests bei Vollerhebungen zulässig oder sogar geboten sind, ist in der sozialwissenschaftlichen Methodologie umstritten. Zunächst erscheint die Anwendung inferenzstatistischer Schlüsse bei Vollerhebungen als sinnlos, da diese Schlüsse ja angeben, ob Eigenschaften, die für eine zufällig ausgewählte Stichprobe festgestellt werden können, auf dem Zufall beruhen können oder ob sie mit einer bestimmten Irrtumswahrscheinlichkeit auch in der Grundgesamtheit vorliegen. Da bei einer Vollerhebung Stichprobe und Grundgesamtheit identisch sind, erscheinen Signifikanztests auf den ersten Blick als widersinnig (Behnke 2005: O2f). Dies hindert allerdings viele Forscher nicht daran, in Verfolgung der von Broscheid/ Gschwend polemisch, aber prägnant als SPSS-Strategie (Broscheid/Gschwend 2003: 5) bezeichneten Vorgehensweise die üblichen Signifikanztests auch bei Vollerhebungen unhinterfragt anzuwenden. Behnke fordert, dass für die Anwendung inferenzstatistischer Verfahren bei Vollerhebungen grundsätzlich gute theoretische Argumente vorgebracht werden müssen und formuliert entsprechende Bedingungen (Behnke 2005: 10). So seien Signifikanztests auch bei Vollerhebungen insbesondere dann geboten, wenn sich das theoretische Interesse nicht auf die reine Deskription der Daten richte, sondern darauf, ob Eigenschaften der Vollerhebung auch durch einen stochastischen Prozess hätten generiert werden können (Behnke 2005: O-3f; O-5; O-13). Broscheid/Gschwend gehen hier noch weiter und betonen, dass soziale Phänomene grundsätzlich stochastisch seien (Broscheid/Gschwend 2005: O-18f; 2003: 12). Ein Befragter
202
3 Empirischer Teil
egalitärer eingestellt sind als ihre westdeutschen Kollegen.82 These (9), nach der es keine Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Abgeordneten hinsichtlich ihrer egalitären Einstellungen gibt, kann also weder bestätigt noch eindeutig verworfen werden, Anhaltspunkte sprechen jedoch dafür, dass die ostdeutschen Abgeordneten etwas nonegalitärer eingestellt sind als die westdeutschen. Beim Alter hingegen lässt sich ein sehr deutlicher Einfluss signifikant feststellen: Jüngere Abgeordnete sind deutlich nonegalitärer eingestellt als ihre älteren Kollegen. Dieser Effekt bleibt auch dann erhalten, wenn man die Zahl der Legislaturperioden kontrolliert. Wie bei den Mitgliedern scheint also auch bei den Abgeordneten zu gelten: Je älter sie sind, umso egalitärer sind ihre Werthaltungen. Damit werden die Ergebnisse der aktuellen Bertelsmann-Studie, nach der jüngere Abgeordnete aller Parteien eher nonegalitäre Einstellungen vertreten als ältere, auch für die CDU-Abgeordneten eindeutig bestätigt. Ältere Ergebnisse, wie die der Potsdamer Elitestudie, die eher einen entgegengesetzten Effekt nahe legen, sind damit nicht widerlegt, scheinen aber zumindest aktuell nicht zuzutreffen. These (10) kann damit bestätigt werden. Die formale Bildung der Abgeordneten wirkt sich hingegen nicht signifikant auf ihre egalitären Werthaltungen aus. Es gibt lediglich schwache Anhaltspunkte, dass mit wachsender Bildung auch die Zustimmung zu nonegalitären Werthaltungen wächst. Dieser Effekt ist aber nicht signifikant, er bleibt aller-
82
etwa, der den Bundeskanzler auf einer Skala von 0 bis 10 bewerten solle, könne ihm erst den Wert „7“ geben, einen Monat später den Wert „8“. Dies könne eine zufällige Fluktuation sein, der keine Meinungsänderung zugrunde liegen müsse. Auch bei Vollerhebungen müssten also stochastische Elemente in die Datenanalyse miteinbezogen werden (Broscheid/Gschwend 2003: 11f; 22). Hierfür dürften jedoch nur dann klassische inferenzstatistische Schlüsse genutzt werden, wenn zwei Bedingungen erfüllt seien: Zum einen müssten die Daten der Vollerhebung durch stochastische Prozesse gekennzeichnet sein, zum anderen müssten die Beobachtungen voneinander unabhängig sein (Broscheid/Gschwend 2003: 18). Beide Bedingungen sind bei den vorliegenden Daten aus der Befragung aller CDU-MdBs gegeben. In dem von Broscheid/ Gschwend beschriebenen Sinne sind auch diese Daten stochastisch, hinzu kommt die Tatsache, dass 24,6% der Befragten nicht geantwortet haben und damit ein weiteres stochastisches Element angenommen werden kann. Bei der zweiten Bedingung dachten die Autoren beispielsweise an solche Makrodaten wie das Wirtschaftswachstum aller OECD-Länder, das sich gegenseitig beeinflussen könne (Broscheid/Gschwend 2003: 15). Eine solche Abhängigkeit ist bei den Einstellungen zu sozialer Gerechtigkeit von Bundestagsabgeordneten nicht zu erwarten; Korrelationen auf Grund der Tatsache, dass alle Befragten derselben Partei angehören und daher ähnliche Werthaltungen vertreten, stellen nach dem Verständnis der Autorin keine Abhängigkeit im Sinne Broscheid/Gschwends dar. Daher ist im vorliegenden Fall die „SPSSStrategie“, also die Behandlung der Daten der Vollerhebung so, als seien sie das Ergebnis einer Zufallsstichprobe, gerechtfertigt und aussagekräftig. An diesem Bild ändert sich weniger als ein Prozent, wann man nicht die aktuelle Wohnregion, sondern die vor 1989 betrachtet. Dies liegt offenkundig daran, dass nur vier ostdeutsche und kein westdeutscher CDU-Abgeordneter vor 1989 im jeweils anderen Teil Deutschlands lebte.
3.4 Hypothesenprüfung
203
dings bei Kontrolle der Herkunft der Abgeordneten aus Ost- oder Westdeutschland erhalten. Ähnlich wie bei der Frage des Einflusses der Herkunft aus Ost oder West kann daher über den bisher kaum erforschten Zusammenhang zwischen formaler Bildung und egalitären oder nonegalitären Einstellungen bei Abgeordneten keine eindeutige Aussage getroffen werden. Für These (11), nach der niedriger gebildete MdBs wie niedriger gebildete Mitglieder auch eher egalitäre Werthaltungen vertreten als höher gebildete, finden sich zumindest Anhaltspunkte. Auch für den Einfluss des Geschlechts (These 12) der Abgeordneten finden sich nur ganz schwache Hinweise, wonach weibliche Abgeordnete etwas häufiger zu egalitäreren Werthaltungen tendieren. Die Religiosität der Abgeordneten hingegen wirkt sich deutlich auf ihre egalitären Werthaltungen aus. Häufige Kirchgänger vertreten überdurchschnittlich egalitäre, seltene Kirchgänger unterdurchschnittlich egalitäre Einstellungen. Der Zusammenhang bleibt auch erhalten, wenn man die Herkunft aus Ost- oder Westdeutschland kontrolliert. Bei den ostdeutschen Abgeordneten ist der Zusammenhang dann zwar nur noch sehr schwach und nicht mehr signifikant, aber vorhanden. Betrachtet man nur die westdeutschen Abgeordneten, verstärkt er sich sogar. Kontrolliert man das Alter, bleibt der Zusammenhang bei den Abgeordneten, die älter als 50 Jahre sind, ebenfalls bestehen, fällt allerdings deutlich schwächer aus und ist nicht mehr signifikant. Bei den jüngeren Abgeordneten hingegen verstärkt sich der Zusammenhang noch einmal. These (13) kann somit nicht bestätigt werden. Vielmehr finden sich relativ starke und signifikante empirische Hinweise, dass der umgekehrte Zusammenhang besteht: Weniger religiöse CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages vertreten häufiger nonegalitäre Einstellungen als stark religiöse. Dies scheint vor allem für westdeutsche und für jüngere Abgeordnete zu gelten. Aber auch bei den ostdeutschen Abgeordneten finden sich keine Anhaltspunkte für die Gültigkeit von These (13), im Gegensatz zu den ostdeutschen Mitgliedern scheint es bei den ostdeutschen Abgeordneten also keinen verstärkenden Einfluss der Religiosität auf die Ablehnung egalitärer Werthaltungen zu geben. 3.4.3 Objektive Responsivität, Güte der Perzeptionen und subjektive Responsivität der CDU-Bundestagsabgeordneten Nun soll die objektive Responsivität der Abgeordneten an Hand der folgenden These überprüft werden:
204
3 Empirischer Teil
14. Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind objektiv responsiv gegenüber ihren Parteimitgliedern, es ist also kein nennenswerter Unterschied zwischen den Einstellungen der Abgeordneten und den Einstellungen der Parteimitglieder festzustellen. Um diese Thesen zu prüfen, müssen die Einstellungen der Abgeordneten mit denen der Mitglieder aus dem jeweiligen Landesteil verglichen werden.83 Bei der Frage nach der Präferenz zwischen Freiheit und Gleichheit zeigt sich, dass alle befragten Gruppen, Mitglieder wie Abgeordnete, der Freiheit den Vorzug geben. Dennoch gibt es deutliche Unterschiede. Die westdeutschen Abgeordneten entscheiden sich fast einstimmig für die Freiheit, die ostdeutschen immerhin auch noch mit über 90%. Bei den Mitgliedern vertreten diese Position gut 70% im Westen und knapp 60% im Osten. Unter den ostdeutschen Mitgliedern findet sich also auch eine starke Minderheit, die für die Gleichheit plädiert, diese werden von den Abgeordneten fast gar nicht repräsentiert. Die Diskrepanz zwischen Mitgliedern und Abgeordneten scheint damit im Osten größer zu sein als im Westen (vgl. Tabelle 15).
83
Eine getrennte Betrachtung nach Ost und West ist auf Grund der theoretischen Überlegungen geboten. Denn es wurde argumentiert, dass im Rahmen des Responsible-Party-Modells die eigene Parteibasis für den Abgeordneten eine wichtige Scharnierfunktion besitzt und daher die entscheidende Bezugsgröße darstellt (vgl. Abschnitt 2.2.1.4. dieser Arbeit). Daher sollte zur Messung von (Partei-)Responsivität im Idealfall die Einstellung des Abgeordneten mit den Einstellungen der Mitglieder seiner Parteibasis verglichen werden. Im Rahmen dieser Arbeit sind die Fallzahlen pro Wahlkreis bei einer Stichprobengröße von deutschlandweit 1000 Befragten jedoch zu gering, um seriös Aussagen über die Mitglieder eines bestimmten Wahlkreises treffen zu können. Daher wird hilfsweise und theoretisch gestützt angenommen, dass sich die Mitglieder in West- und Ostdeutschland jeweils in ihren Einstellungen ähneln. Wenn dies der Fall ist, dann ist es vertretbar und sinnvoll, die Einstellungen eines oder aller westdeutschen Abgeordneten mit den Einstellungen aller westdeutschen Mitglieder, die Einstellungen eines oder aller ostdeutschen Abgeordneten mit den Einstellungen der ostdeutschen Mitglieder zu vergleichen und hieraus – unter Vorbehalt – auch Rückschlüsse auf die Responsivität des Abgeordneten gegenüber seiner eigenen Parteibasis zu ziehen.
205
3.4 Hypothesenprüfung
Tabelle 15: Objektive Responsivität bei Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit
Freiheit vs. Gleichheit
Priorität Freiheit Priorität Gleichheit Gesamt
Befragtentyp Abgeordneter (West/Ost) 98,1 / 92,3%
Mitglied (West/Ost) 72,8 / 58,3%
1,9 / 7,7%
27,2 / 41,7%
100,0 / 100,0%
100,0 / 100,0%
n = 583 Entsprechend dieser stärkeren Heterogenität der Einstellungen in Ostdeutschland erhalten ostdeutsche Abgeordnete, die sich für die Gleichheit entscheiden und damit immerhin gegenüber 41% der Mitglieder responsiv sind, den Score-Wert 0,41. Westdeutsche Abgeordnete hingegen, deren Präferenz Gleichheit ist und die damit lediglich 27% der westdeutschen Mitglieder gegenüber responsiv sind, erhalten den Score 0,27. Die Abgeordneten in West und Ost, die sich für die Freiheit entscheiden, erhalten den Wert 0,72 und 0,58 – auch darin drückt sich also aus, dass die westdeutschen Abgeordneten, die sich für Freiheit entscheiden, damit gegenüber mehr Mitgliedern responsiv sind als ihre ostdeutschen Kollegen mit dieser Präferenz.84 Ähnlich ist das Bild bei der Frage nach den Auswirkungen der Marktwirtschaft auf die soziale Gerechtigkeit. Auch hier ist eine Mehrheit aller Abgeordneten und Mitglieder der Auffassung, dass die Marktwirtschaft soziale Gerechtigkeit erst ermöglicht. Insofern ist die Responsivität der Abgeordneten auch hier sehr hoch. Aber während dies unter den westdeutschen Abgeordneten fast alle, unter den ostdeutschen Abgeordneten sogar alle meinen, sind immerhin 25% der ostdeutschen Mitglieder nicht dieser Auffassung (vgl. Tabelle 16). Insofern sind also auch bei dieser Frage die westdeutschen Abgeordneten responsiver als ihre ostdeutschen Kollegen, insgesamt liegt die Responsivität bei dieser Frage aber in Ost und West höher als bei der Frage nach der Präferenz zwischen Freiheit und Gleichheit.
84
Für die Berechnung der Scores und die theoretischen Überlegungen vgl. Abschnitt 3.3. dieser Arbeit.
206
3 Empirischer Teil
Tabelle 16: Objektive Responsivität bei Bewertung soziale Gerechtigkeit der Marktwirtschaft
Marktwirtschaft – Soziale Gerechtigkeit
MW ermöglicht Gerechtigkeit MW führt zu Ungerechtigkeit Gesamt
Befragtentyp Abgeordneter (West / Ost)
Mitglied (West/Ost)
99,1 / 100,0%
85,8 / 74,3%
0,9 / 0,0%
14,2 / 25,7%
100,0 / 100,0%
100,0 / 100,0%
n = 580 Entsprechend erhalten die westdeutschen Abgeordneten, die sagen, die Marktwirtschaft ermögliche soziale Gerechtigkeit, einen Score von 0,85, ihre ostdeutschen Kollegen, die dieser Auffassung sind, werden mit 0,74 bewertet. Der eine westdeutsche Abgeordnete, der der gegenteiligen Auffassung ist, erhält einen Score von 0,14; gäbe es einen ostdeutschen Abgeordneten, der diese Position vertritt, erhielte er 0,25. Bei den Nivellierungstypen ist die Übereinstimmung zwischen Mitgliedern und Abgeordneten ebenfalls sehr hoch. Sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland gehören rund 85% der Mitglieder zu den nonegalitaristischen Typen. Bei den Abgeordneten sind dies in Westdeutschland ebenfalls gut 85%, in Ostdeutschland sogar 95% (vgl. Tabelle 17). Tabelle 17: Objektive Responsivität bei Nivellierungstypen
Nivellierungstypen
n = 509
Egalitaristische Typen Nonegalitaristische Typen Gesamt
Befragtentyp Abgeordneter (West/Ost)
Mitglied (West/Ost)
12,5 / 4,3%
12,6/ 16,9%
87,5 / 95,7%
87,4 / 83,1%
100,0 / 100,0%
100,0/ 100,0%
3.4 Hypothesenprüfung
207
Der Concurrence-Score liegt zwischen 0,12 bei den westdeutschen egalitaristischen Abgeordneten und 0,87 bei den westdeutschen nonegalitaristischen Abgeordneten. Bei dem Vergleich der Einstellungen der Abgeordneten und Mitglieder zu den in der Gerechtigkeitsskala abgefragten Items stellt sich das Problem, dass die Faktorenanalysen bei Mitgliedern und Abgeordneten unterschiedlich ausgefallen sind. Bei den Mitgliedern ergab die Faktorenanalyse, dass dieser Likertskala zwei Dimensionen zu Grunde liegen. Daher wurden egalitäre und nonegalitäre Items getrennt ausgewertet. Bei den Abgeordneten lud die Likertskala nur auf einem Faktor, die Abgeordneten betrachten also egalitäre und nonegalitäre Aussagen als zwei Pole eines Kontinuums. Daher konnten hier alle Items gemeinsam ausgewertet werden. Damit sind aber die Ergebnisse nicht direkt vergleichbar. Daher wurden bei den Abgeordneten die Items für die Überprüfung der Responsivität nun doch in egalitäre und nonegalitäre unterschieden und jeweils, wie bei den Mitgliedern, ein Mittelwert gebildet. So ist ein unmittelbarer Vergleich möglich.85 Hierfür sollen zunächst die Mittelwerte der west- und ostdeutschen Abgeordneten und Mitglieder miteinander verglichen werden.
85
Würde man andersherum die Ergebnisse der Befragung der Mitlieder dem Vorgehen bei der Auswertung der Abgeordneten anpassen und die egalitären und nonegalitären Items in ein Kontinuum „pressen“, würde man in Ignoranz der Ergebnisse der Faktorenanalyse einen Gegensatz konstruieren, wo in dieser Schärfe keiner besteht. Hingegen führt die nach egalitären und nonegalitären Items getrennte Auswertung der Ergebnisse der Abgeordneten zu keinerlei Verzerrung. Darüber hinaus muss bei dieser Vorgehensweise beachtet werden, dass die Items, die sich bei der Itemanalyse der Likertskala der Mitglieder und der der Abgeordneten auf Grund ihres korrigierten Trennschärfekoeffizienten als geeignet erwiesen haben, nicht völlig deckungsgleich sind: Bei den Mitgliedern musste von insgesamt neun Items eines, bei den Abgeordneten mussten drei andere Items eliminiert werden (vgl. Abschnitt 3.4.1. dieser Arbeit und Fußnote 79). Dies scheint einen direkten Vergleich zu erschweren. Das Instrument der Likertskala beruht jedoch auf der Annahme, dass die einzelnen Items dieselbe latente Dimension messen und die verschiedenen Verfahren der Itemanalyse dienen gerade dem Zweck, in dieser Hinsicht ungeeignete Items zu eliminieren (Falter 1977: 381). Daher ist es nach Meinung der Autorin zulässig, bei Mitgliedern und Abgeordneten jeweils die Items miteinander zu vergleichen, die sich als geeignet erwiesen haben, dieselbe latente Dimension – egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen – zu messen.
208
3 Empirischer Teil
Abbildung 14:
Mittelwerte der Zustimmung der Mitglieder und Abgeordneten zu den egalitären Items
3 West
Ost
2 1 0
Mitglieder Abgeordnete
-1 -2 -3
Mitglieder: West: n = 247, Ost; n = 226; Abgeordnete: West: n = 107, Ost: n = 27 Bei den egalitären Items weisen die durchschnittlichen Zustimmungswerte der Mitglieder und Abgeordneten auf eine mittlere Übereinstimmung hin. Insgesamt lehnen die Mitglieder die egalitären Items weniger stark ab als die Abgeordneten, im Osten stimmen sie sogar ganz leicht zu. Aber insbesondere im Westen beträgt der Abstand zwischen den mittleren Einstellungen der Mitglieder und denen der Abgeordneten weniger als ein Punkt, was auf eine relativ hohe Responsivität schließen lässt (vgl. Abbildung 14). Die Mittelwerte können jedoch nur einen ersten Hinweis geben. Um die objektive Responsivität der Abgeordneten genauer zu erfassen soll nun geprüft werden, welcher Abgeordnete mit den Einstellungen der Mitglieder seines Landesteils übereinstimmt, welcher Abgeordnete den egalitären Items mehr und welcher ihnen weniger zustimmt als seine Mitglieder.86
86
Es wurde angenommen, dass Abgeordnete, deren Zustimmung jeweils maximal 0,75 Punkte über oder unter dem tatsächlichen Ergebnis der Mitglieder seines Landesteils liegt, responsiv sind (vgl. Abschnitt 3.3. dieser Arbeit). Bei den egalitären Items gilt also bei den westdeutschen Abgeordneten ein Wert zwischen -1,11 und 0,39, bei den ostdeutschen Abgeordneten zwischen -0,68 und 0,82 als responsiv. Bei den nonegalitären Items werden bei den westdeutschen Abgeordneten Werte zwischen 0,77 und 2,27 und bei den ostdeutschen Abgeordneten zwischen 0,54 und 2,04 als responsiv eingestuft.
209
3.4 Hypothesenprüfung
Es zeigt sich, dass die westdeutschen Abgeordneten deutlich responsiver sind als ihre ostdeutschen Kollegen. Immerhin knapp 60% der westdeutschen Abgeordneten stimmen mit ihrer Bewertung der egalitären Aussagen mit ihrer Parteibasis überein, während dies bei den ostdeutschen Abgeordneten mit knapp 15% bemerkenswert wenige sind. Mehr als dreiviertel der ostdeutschen Abgeordneten stimmen den egalitären Aussagen schwächer zu als ihre Mitglieder, nur gut sieben Prozent stimmen ihnen stärker zu. Aber auch bei den westdeutschen Abgeordneten ist es mit gut 40% eine starke Minderheit, die den egalitären Aussagen schwächer zustimmt als die westdeutschen Mitglieder, hier sind es sogar weniger als ein Prozent, deren Zustimmung stärker ausfällt (vgl. Tabelle 18). Insgesamt kann also festgehalten werden, dass im Bezug auf egalitäre Werthaltungen die objektive Responsivität Tabelle 18: Objektive Responsivität bei egalitären Items West Objektive Responsivität
Zustimmung schwächer responsiv Zustimmung stärker Gesamt
Ost
42,1
77,8
57,0 0,9 100,0
14,8 7,4 100,0
n = 134 der westdeutschen Abgeordneten von mittlerer Höhe ist, während die der ostdeutschen Abgeordneten sehr schwach ausfällt. Die responsiven Abgeordneten aus West- und Ostdeutschland erhalten einen Concurrence-Score von 0,38 und 0,42. Abgeordnete, deren Zustimmung stärker ist als die der Mitglieder vertreten 29% der Mitglieder in West- und 30% der Mitglieder in Ostdeutschland und erhalten daher die Scores 0,29 und 0,30. Abgeordnete, deren Zustimmung schwächer ist, werden entsprechend mit einem Score von 0,32 und 0,27 bewertet.87 Nun sollen die Mittelwerte der nonegalitären Items miteinander verglichen werden. Der Vergleich zeigt zunächst, dass die Mitglieder den nonegalitären Items noch stärker zustimmen als die Abgeordneten. Insbesondere im Westen ist die Zustimmung der Mitglieder deutlich ausgeprägter als die der Abgeordneten (vgl. Abbildung 15). Dieses Ergebnis überrascht, denn 87
Zur Problematik der Bildung des Concurrence-Scores bei mehr als zwei Antwortkategorien vgl. Abschnitt 3.3. dieser Arbeit.
210
3 Empirischer Teil
Abbildung 15:
Mittelwerte der Zustimmung der Mitglieder und Abgeordneten zu den nonegalitären Items
3 West
Ost
2 1 Mitglieder
0
Abgeordnete
-1 -2 -3
Mitglieder: West: n = 247, Ost; n = 227; Abgeordnete: West: n = 107, Ost: n = 27 bei der Analyse der objektiven Responsivität der Abgeordneten bei den egalitären Items hatten sich die Mitglieder als deutlich egalitärer eingestellt erwiesen als die Abgeordneten. Zugleich sind sie aber offenkundig auch deutlich nonegalitärer eingestellt als die Abgeordneten – auch hier bestätigt sich also das Ergebnis der Faktorenanalyse, dass die Zustimmung zu diesen beiden Werthaltungen für die Mitglieder kein Gegensatz darstellt. Tabelle 19: Objektive Responsivität bei nonegalitären Items West Objektive Responsivität
n = 134
Zustimmung schwächer responsiv Zustimmung stärker Gesamt
Ost
30,8
25,9
52,3 16,9 100,0
55,6 18,5 100,0
211
3.4 Hypothesenprüfung
Tabelle 19 zeigt entsprechend, dass auch bei den nonegalitären Items nur gut die Hälfte der Abgeordneten responsiv ist. 52% der westdeutschen und 56% der ostdeutschen Abgeordneten stimmen mit der hohen Zustimmung der Mitglieder zu den nonegalitären Werthaltungen überein. 17 bzw. 19% der Abgeordneten stimmen sogar noch stärker zu, knapp jeder dritte Abgeordnete im Westen und jeder vierte Abgeordnete im Osten ist von den nonegalitären Aussagen weniger überzeugt als seine Parteibasis. Als Score-Werte erhalten die westdeutschen und ostdeutschen Abgeordneten, die responsiv sind, den Wert 0,47 und 0,46, die Abgeordneten, die schwächer zustimmen als die Mitglieder werden mit 0,19 und 0,26 bewertet, die Abgeordneten, die stärker zustimmen mit 0,33 und 0,28. Bildet man nun den Mittelwert aller Score-Werte aller Abgeordneten, kann man die individuelle Responsivität jedes Abgeordneten an Hand seines mittleren Scores feststellen (vgl. Abbildung 16). Es zeigt sich, dass die befragten Abgeordneten insgesamt als sehr responsiv eingestuft werden können. Abgeordnete, die bei allen Fragen responsiv sind, konnten in Westdeutschland einen Score von 0,66 und in Ostdeutschland von 0,61 erreichen. Diesen maximal möglichen Score haben 17 westdeutsche und acht ostdeutsche erreicht, die niedrigsten möglichen Scores von 0,20 bei den westdeutschen und 0,27 bei den ostdeutschen Abgeordneten hat hingegen kein Abgeordneter erreicht. Keiner der befragten Parlamentarier ist somit in allen Fragen nicht responsiv. Abbildung 16:
%
Mittlere objektive Responsivität der CDU-Abgeordneten des 16. Deutschen Bundestags n= 134
40 35 30 25 20 15 10 5 0
0,461-0,51 Abgeordnete sind überwiegend nicht responsiv 0,511-0,56 Abgeordnete sind überwiegend responsiv
212
3 Empirischer Teil
Obwohl bei den egalitären und den nonegalitären Aussagen der Gerechtigkeitsskala auch die responsiven Abgeordneten Scores unter 0,5 erhielten und sich damit ihr Mittelwert verringerte, haben 118 Abgeordnete insgesamt einen Score über 0,51. Alle Abgeordneten mit einem Score über 0,51 sind im Schnitt mit mehr als der Hälfte der CDU-Mitglieder derselben Auffassung. Wenn man diese Abgeordneten als responsiv betrachtet, dann sind 88% der CDU-Abgeordneten des 16. Deutschen Bundestages gegenüber ihren Parteimitgliedern objektiv responsiv. Insgesamt kann These (14) also bejaht werden: Die CDU-Abgeordneten des 16. Deutschen Bundestages stimmen sehr weitgehend mit ihren Mitgliedern überein, sie können also insgesamt als objektiv responsiv gegenüber ihren Parteimitgliedern bezeichnet werden. Nun sollen die Perzeptionen der Abgeordneten, also ihre Wahrnehmungen der Einstellungen der Parteimitglieder betrachtet werden. Was glauben die Abgeordneten, wie die Mitglieder denken – und liegen sie damit richtig? Diese Frage soll durch die Überprüfung der folgenden These beantwortet werden: 15. Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages nehmen die Einstellungen ihrer Parteimitglieder richtig wahr, es ist also kein nennenswerter Unterschied zwischen tatsächlichen und perzipierten Einstellungen der Mitglieder festzustellen. Bei der Überprüfung dieser Thesen soll so vorgegangen werden wie bei der Überprüfung der objektiven Responsivität der Abgeordneten. Der von Verba/Nie entwickelte und für diese Arbeit modifizierte Concurrence-Score soll also auch hier verwendet werden. Ebenso soll am Ende dieses Abschnitts, wie bei der Überprüfung der objektiven Responsivität, ein Score berechnet werden, der insgesamt die Güte der Perzeptionen jedes Abgeordneten ausweist. Betrachtet man die Perzeptionen der Abgeordneten bei der Entscheidung zwischen Freiheit und Gleichheit, zeigt sich zunächst, dass jeweils die Mehrheit der Abgeordneten in Ost und West korrekt davon ausgeht, dass die Mitglieder mehrheitlich für die Freiheit votieren. Allerdings glaubt auch ein gutes Fünftel der westdeutschen Abgeordneten, dass sich in ihrem Wahlkreis die CDUMitglieder mehrheitlich für die Gleichheit entscheiden würden (vgl. Tabelle 20). Dies ist aber nach aller Wahrscheinlichkeit falsch, denn in ganz Westdeutschland entscheiden sich 72,8% der CDU-Mitglieder für die Freiheit, es ist daher ausgesprochen unwahrscheinlich, dass es einen westdeutschen Wahlkreis gibt, in dem sich eine Mehrheit der CDU-Mitglieder für die Gleichheit entscheidet. Demnach kann also festgehalten werden: Knapp 80% der westdeutschen CDU-
213
3.4 Hypothesenprüfung
Abgeordneten liegen mit ihren Perzeptionen richtig und erhalten einen Concurrence-Score von 0,72, gut 20% liegen falsch und werden mit 0,27 bewertet. Nicht so eindeutig ist die Lage in Ostdeutschland. Hier glauben 40% der Abgeordneten, ihre Mitglieder entschieden sich mehrheitlich für die Gleichheit. Dies ist zwar für ganz Ostdeutschland falsch, aber mit 41% plädiert tatsächlich eine starke Minderheit für Gleichheit. Daher erhalten die ostdeutschen Abgeordneten, die eine Mehrheit für die Freiheit perzipieren, den Concurrence-Score 0,58, ihre Kollegen, die eine Präferenz für die Gleichheit vermuten, den Score 0,41. Tabelle 20: Güte der Perzeptionen bei Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit
Freiheit vs. Gleichheit
Priorität Freiheit Priorität Gleichheit
Gesamt
Perzeption (West/Ost) 78,4 / 60,0%
Mitglied (West/Ost) 72,8 / 58,3%
21,2 / 40,0%
27,2 / 41,7%
100,0 / 100,0%
100,0 / 100,0%
n = 580 Eindeutiger ist das Bild bei der Frage nach den Auswirkungen der Marktwirtschaft auf die soziale Gerechtigkeit. Hier ist sowohl in West-, als auch in Ostdeutschland eine klare Mehrheit der Mitglieder der Auffassung, dass die Marktwirtschaft soziale Gerechtigkeit erst möglich macht, nur knapp acht Prozent der westdeutschen und gut 15% der ostdeutschen CDU-Mitglieder sagen, dass Marktwirtschaft automatisch zu sozialer Ungerechtigkeit führt (vgl. Tabelle 21). Tabelle 21: Güte der Perzeptionen bei Bewertung soziale Gerechtigkeit der Marktwirtschaft
Marktwirtschaft– Gerechtigkeit Gesamt n = 576
MW ermöglicht Gerechtigkeit MW führt zu Ungerechtigkeit
Perzeption (West/Ost)
Mitglied (West/Ost)
95,2 / 80,0%
85,8 / 74,3%
4,8 / 20,0%
14,2 / 25,7%
100,0 / 100,0%
100,0 / 100,0%
214
3 Empirischer Teil
Es kann daher davon ausgegangen werden, dass es in ganz Deutschland keinen Wahlkreis gibt, in dem eine Mehrheit der CDU-Mitglieder die Position vertritt, Marktwirtschaft führe zu sozialer Ungerechtigkeit. In Westdeutschland glauben dies auch nur knapp fünf Prozent der Abgeordneten – sie erhalten einen Score von 0,14 –, 95% der westdeutschen Abgeordneten liegen also mit ihren Perzeptionen richtig und werden mit dem Score 0,85 bewertet. In Ostdeutschland geht immerhin jeder fünfte Abgeordneten davon aus, eine Mehrheit der CDUMitglieder in seinem Wahlkreis stimme der Position zu, Marktwirtschaft führe zu sozialer Ungerechtigkeit, diese Abgeordneten liegen mit ihren Perzeptionen aller Wahrscheinlichkeit nach falsch und erhalten den Score 0,25. 80% der ostdeutschen Abgeordneten hingegen perzipieren die Einstellungen ihrer Mitglieder richtig und bekommen den Score 0,74 zugeteilt. Bei den Nivellierungstypen zeigt sich ein bemerkenswert hoher Anteil an Abgeordneten, die die Einstellungen ihrer Mitglieder falsch perzipieren. Sowohl unter den westdeutschen, als auch unter den ostdeutschen Mitgliedern sind die nonegalitaristischen Typen mit 87,4% und 83,1% eindeutig dominierend. Dennoch glaubt mehr als ein Drittel sowohl der westdeutschen als auch der ostdeutschen Abgeordneten, dass in ihren Wahlkreisen mehr als die Hälfte der Mitglieder egalitaristische Typen seien (vgl. Tabelle 22). Diese Abgeordneten liegen aller Wahrscheinlichkeit nach falsch und erhalten daher die Scores 0,12 und 0,16. Zwei Drittel der west- und ostdeutschen Abgeordneten perzipieren jedoch korrekt eine Mehrheit der nonegalitaristischen Typen unter den Mitgliedern und werden mit den Scores 0,87 und 0,83 bewertet. Tabelle 22: Güte der Perzeptionen bei den Nivellierungstypen
Egalitaristische Typen Nivellierungstypen Nonegalitaristische Typen Gesamt n = 509
Perzeption (West/Ost)
Mitglied (West/Ost)
34,2% (34,1%/ 35,0%)
12,9% (12,6%/ 16,9%)
65,8% (65,9%/ 65,0%) 100,0%
87,1% (87,4%/ 83,1%) 100,0%
215
3.4 Hypothesenprüfung
Ein gutes Drittel der Abgeordneten glaubt also fälschlich, dass die CDUMitglieder im eigenen Wahlkreis mehrheitlich zu den egalitaristischen Typen gehörten. Dabei stellt sich aber die Frage, ob diese Abgeordneten die egalitären Einstellungen ihrer Mitglieder überschätzen oder ob sie die nonegalitären Positionen unterschätzen. Hier ermöglicht die Gerechtigkeitsskala eine differenzierte Sicht. Für einen ersten Überblick sollen die Mittelwerte aller Antworten verglichen werden.88 Abbildung 17:
Mittelwerte der Zustimmung der Mitglieder und der Perzeptionen der Abgeordneten zu den egalitären Items
3 West
Ost
2 1 0
Mitglieder Perzeptionen
-1 -2 -3
Mitglieder: West: n = 247, Ost; n = 226; Abgeordnete: West: n = 106, Ost: n = 25
88
Bei der nach dem Likertverfahren konstruierten Gerechtigkeitsskala, bei der die Perzeptionen der Abgeordneten gemessen wurden, wurde bewusst auf die verschiedenen Verfahren zur Überprüfung der Items, der Reliabilität und Validität verzichtet. Denn es macht nach dem Verständnis der Autorin keinen Sinn, beispielsweise die innere Konsistenz dessen zu prüfen, was die Abgeordneten für die Einstellungen der Mitglieder halten. Sollte sich nämlich hier eine mangelnde innere Konsistenz zeigen, sagt dies nicht unbedingt etwas über die Güte des Messinstruments aus. Genau so gut kann es sein, dass die Abgeordneten der Auffassung sind, die Einstellungen der Mitglieder zu diesem Thema sind nicht konsistent und dass die Skala genau diese Perzeptionen der Abgeordneten korrekt misst.
216
3 Empirischer Teil
Abbildung 18:
Mittelwerte der Zustimmung der Mitglieder und der Perzeptionen der Abgeordneten zu den nonegalitären Items
3 West
Ost
2 1 0
Mitglieder Perzeptionen
-1 -2 -3
Mitglieder: West: n = 247, Ost; n = 226; Abgeordnete: West: n = 106, Ost: n = 25 Es zeigt sich in Ost und West ein tendenziell ähnliches Bild: Während die Abgeordneten bei den egalitären Items mit ihren Perzeptionen relativ nah bei den tatsächlichen Einstellungen der Mitglieder zu liegen scheinen, perzipieren sie die Einstellungen der Mitglieder zu den nonegalitären Items sowohl in Ost-, als auch in Westdeutschland weitgehend falsch. Denn die Mittelwerte weisen darauf hin, dass die meisten Abgeordneten glauben, die Mitglieder stimmten diesen Aussagen nur relativ schwach zu, während die Mitglieder tatsächlich diesen Aussagen stärker zustimmen als die Abgeordneten selbst. Das heißt: Die Abgeordneten unterschätzen die Zustimmung der Mitglieder zu den nonegalitären Aussagen deutlich (vgl. Abbildungen 17 und 18).89 89
In Anlehnung an Walter (Walter 1997: 152f) wird hier bei den Perzeptionen der Abgeordneten und den tatsächlichen Einstellungen der Mitglieder jeweils das arithmetische Mittel betrachtet. Walter hatte in ihrer Responsivitätsstudie Stuttgarter Kommunalpolitiker gefragt, wie sie die Ausgabenpräferenzen der Mehrheit der Bevölkerung einschätzen (Walter 1997: 208). In ihrer Analyse kam sie aber zu dem Ergebnis, dass die befragten Kommunalpolitiker trotz der Frageformulierung mit ihren Perzeptionen näher an der durchschnittlichen als an der mehrheitlichen Bevölkerungsmeinung liegen. Daher betrachtet Walter in ihrer Studie bei der Einschätzung der Güte der Perzeptionen nur die durchschnittliche Bevölkerungsmeinung. So wird auch in dieser Arbeit verfahren. Denn auch in dieser Arbeit perzipieren die Abgeordneten die in der Gerechtigkeitsskala gemessenen durchschnittlichen Einstellungen der Mitglieder erheblich besser als
217
3.4 Hypothesenprüfung
Die Kategorisierung der Perzeptionen der Abgeordneten bestätigt die Ergebnisse des Mittelwertvergleichs. Es zeigt sich zunächst, dass bei den egalitären Items tatsächlich gut 70% der westdeutschen und knapp 70% der ostdeutschen Abgeordneten mit ihren Perzeptionen richtig liegen. Aber auch immerhin rund 30% der Abgeordneten in West und Ost perzipieren die Einstellungen der Mitglieder falsch, wobei sie die Zustimmung der Mitglieder zu den egalitären Werthaltungen eher unter- als überschätzen (vgl. Tabelle 23).90 Tabelle 23: Güte der Perzeptionen bei egalitären Items
West Güte der Perzeptionen
Zustimmung unterschätzt korrekte Perzeption Zustimmung überschätzt Gesamt
Ost
16,0% 70,8% 13,2% 100,0%
20,0% 68,0% 12,0% 100,0%
n = 131 die mehrheitlichen. Lediglich bei den egalitären Items in Ostdeutschland ist die Differenz zwischen Modalwert der tatsächlichen Einstellungen der Mitglieder und Perzeptionen etwas geringer als zwischen Mittelwert der Einstellungen der Mitglieder und Perzeptionen (vgl. Tabelle). Tabelle: Abweichung der Perzeptionen vom Modalwert und Mittelwert der Einstellungen der Mitglieder
Egalitäre Items West Egalitäre Items Ost Nonegalitäre Items West Nonegalitäre Items Ost
90
Mitglieder Modalwert Perzeptionen -0,32 -0,39 1,55 1,82
Mitglieder Mittelwert Perzeptionen 0,07 0,43 0,82 0,86
Daher erscheint es plausibel anzunehmen, dass die Abgeordneten sich bei der Einschätzung der Einstellungen der Mitglieder an den wahrgenommenen durchschnittlichen Einstellungen orientiert haben. Daher soll auch in dieser Arbeit im Folgenden bei der Analyse der Ergebnisse der Gerechtigkeitsskala das arithmetische Mittel betrachtet werden. Wie bei der Ermittlung der objektiven Responsivität wurde angenommen, dass Abgeordnete, die einen Wert perzipieren, der jeweils maximal 0,75 Punkte über oder unter dem tatsächlichen Ergebnis der Mitglieder liegt, richtig liegen. Bei den egalitären Items gilt also bei den westdeutschen Abgeordneten eine Perzeption zwischen -1,11 und 0,39, bei den ostdeutschen Abgeordneten zwischen -0,68 und 0,82 als korrekt. Bei den nonegalitären Items werden bei den westdeutschen Abgeordneten Werte zwischen 0,77 und 2,27 und bei den ostdeutschen Abgeordneten zwischen 0,54 und 2,04 als korrekte Perzeption eingestuft.
218
3 Empirischer Teil
Abgeordneten aus West- und Ostdeutschland, die mit ihren Perzeptionen richtig liegen, erhalten einen Concurrence-Score von 0,38 und 0,42, da 38% bzw. 42% der Mitglieder tatsächlich Einstellungen innerhalb dieser Spanne vertreten. Abgeordnete, die die Zustimmung der Mitglieder überschätzen, werden orientiert an dem Anteil der Mitglieder, die diese Einstellungen vertreten, mit 0,29 und 0,30 bewertet, Abgeordnete, die die Zustimmung unterschätzen, mit einem Score von 0,32 und 0,27. Bemerkenswert ist das Ergebnis bei den nonegalitären Items. Zum einen fällt auf, dass nur knapp die Hälfte der westdeutschen Abgeordneten und sogar nur ein gutes Drittel der ostdeutschen Abgeordneten in der Lage sind, die Einstellungen der Mitglieder korrekt zu perzipieren. Noch auffallender ist allerdings, dass fast alle Abgeordneten, die mit ihren Perzeptionen falsch liegen, die Zustimmung der Mitglieder zu den nonegalitären Aussagen unterschätzen, während fast kein Abgeordneter sie überschätzt. (vgl. Tabelle 24). Hier bestätigt sich also die Tendenz des Mittelwertvergleichs: Die Mitglieder, insbesondere in Ostdeutschland, sind wesentlich nonegalitärer eingestellt als es die Abgeordneten glauben. Tabelle 24: Güte der Perzeptionen bei nonegalitären Items West Güte der Perzeptionen Gesamt
Zustimmung unterschätzt korrekte Perzeption Zustimmung überschätzt
Ost
50,9%
60,0%
47,2%
36,0%
1,9%
4,0%
100,0%
100,0%
n = 131 Als Score-Werte erhalten die westdeutschen und ostdeutschen Abgeordneten, die mit ihren Perzeptionen richtig liegen, die Werte 0,47 und 0,46, Abgeordnete, die die Zustimmung unterschätzen, werden mit 0,19 und 0,26 bewertet, Abgeordnete, die die Zustimmung überschätzen mit 0,33 und 0,28. Insgesamt unterschätzen also relativ viele Abgeordnete die nonegalitären Einstellungen ihrer Mitglieder. Wenn auch bei den Fragen nach den grundlegenden Wertentscheidungen wie der Präferenz zwischen Freiheit und Gleichheit und den sozialen Auswirkungen der Marktwirtschaft die Abgeordneten noch relativ gut in der Lage sind, die Überzeugungen ihrer Mitglieder einzuschätzen, ändert sich das Bild bei den detaillierteren Fragen nach den Nivellierungstypen und
3.4 Hypothesenprüfung
219
nach den egalitären und nonegalitären Aussagen der Gerechtigkeitsskala. Die Nivellierungstypen zeigen an, dass ein gutes Drittel aller Abgeordneten den Anteil der egalitaristischen Typen deutlich überschätzt und damit gleichzeitig die nonegalitären Einstellungen bei den Mitgliedern unterschätzt. Die Auswertung der Perzeptionen bei der Gerechtigkeitsskala präzisiert dieses Ergebnis: Es sind nicht die egalitären Überzeugungen der Mitglieder, die die Abgeordneten überschätzen – hier liegen sie weitgehend richtig –, sondern es sind die nonegalitären Werthaltungen, die sie unterschätzen. Die Abgeordneten gehen zwar durchaus korrekt davon aus, dass die Mitglieder die egalitären Aussagen eher ablehnen und den nonegalitären eher zustimmen. Aber sie unterschätzen sehr deutlich die Attraktivität, die diese Werthaltungen für ihre Mitglieder besitzen. Dies wird auch an den mittleren Scores aller Abgeordneten deutlich: Es zeigt sich, dass die Perzeptionen der Abgeordneten schlechter sind als ihre objektive Responsivität (vgl. Abbildung 19). Im Gegensatz zur objektiven Responsivität schöpfen die Abgeordneten die vorhandene Spanne an mittleren Werten bis zu dem niedrigsten möglichen Wert von 0,20 voll aus. Während bei der objektiven Responsivität 118 Abgeordnete über dem Wert von 0,51 lagen, sind dies bei den Perzeptionen nur 76. Damit sind immer noch 60,8% der Abgeordneten in der Lage, im Schnitt die Einstellungen von mehr als 50% der Mitglieder richtig zu perzipieren, dennoch gibt es deutlich weniger Abgeordnete, die in der Lage sind, die Einstellungen ihrer Mitglieder richtig wahrzunehmen, als Abgeordnete, die tatsächlich mit diesen Einstellungen überein stimmen. Die Güte der Perzeptionen ist also schlechter als die Responsivität der Abgeordneten.
220 Abbildung 19:
3 Empirischer Teil
Mittlere Güte der Perzeptionen der CDU-Abgeordneten des 16. Deutschen Bundestages
40 35 30 25 % 20 15 10 5 0
Abgeordnete perzipieren überwiegend nicht korrekt 0,461-0,51 Abgeordnete perzipieren überwiegend korrekt 0,511-0,56
n = 125 Dies zeigt auch Tabelle 25. Bei 74 Abgeordneten, dies entspricht knapp 60% aller befragten Abgeordneten, ist der mittlere Score ihrer Responsivität höher als der mittlere Score ihrer Perzeptionen. Der Anteil der Mitglieder, mit denen diese Abgeordneten übereinstimmen, ist also höher als der Anteil der Mitglieder, deren Einstellungen die Abgeordneten richtig wahrnehmen. Lediglich bei einem guten Fünftel der Abgeordneten ist dieses Verhältnis umgekehrt, bei 18,5% aller Abgeordneten ist die objektive Responsivität und die Güte ihrer Perzeptionen identisch. Tabelle 25: Differenz zwischen objektiver Responsivität und Güte der Perzeptionen
Bessere Responsivität als Perzeptionen Responsivität und Perzeptionen gleich Bessere Perzeptionen als Responsivität Gesamt n = 135
Häufigkeit 74 23 27 124
Prozent 59,7 18,5 21,8 100,0
3.4 Hypothesenprüfung
221
Dennoch kann These (15) bestätigt werden. Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages nehmen die Einstellungen ihrer Mitglieder mehrheitlich richtig wahr. Im Bezug auf die nonegalitären Items kann dies allerdings nicht festgestellt werden: Hier besteht ein nennenswerter Unterschied zwischen den tatsächlichen und den perzipierten Einstellungen der Mitglieder. Die Mitglieder sind deutlich nonegalitärer eingestellt als die Abgeordneten glauben. Die Güte der Perzeptionen der Abgeordneten ist in diesem Punkt also eher schlecht. Nun soll die subjektive Responsivität der Abgeordneten an Hand der beiden folgenden Thesen überprüft werden: 16. Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages glauben, responsiv zu sein, es ist also kein nennenswerter Unterschied zwischen ihren eigenen Einstellungen und den perzipierten Einstellungen der Mitglieder festzustellen. Der Vergleich der objektiven Responsivität und der Güte der Perzeptionen hat bereits gezeigt, dass bei vielen Abgeordneten die Responsivität besser ist als die Güte der Perzeptionen. Dies ist ein Hinweis, dass sich viele Abgeordnete subjektiv nicht responsiv fühlen, zumindest weniger responsiv, als sie es tatsächlich sind.91 Dies soll nun an Hand der einzelnen Fragen überprüft werden. 93 Abgeordnete, die sich bei der Frage nach der Präferenz zwischen Freiheit und Gleichheit für die Freiheit entscheiden, glauben, dass dies auch die Einstellung der Mitglieder sei. Zwei Abgeordnete, die sich für Gleichheit entscheiden, vermuten diese Überzeugung auch bei den Mitgliedern. Diese insgesamt 95 Abgeordneten halten sich also selbst für responsiv. Zwei Abgeordnete, deren Präferenz die Gleichheit ist, glauben, dass sich die Mitglieder mehrheitlich für die Freiheit aussprechen; 29 Abgeordnete, die selbst für die Freiheit votieren, vermuten eine Präferenz für die Gleichheit bei der Mehrheit ihrer Mitglieder. Diese insgesamt 31 Abgeordneten halten sich also für nicht responsiv (vgl. Tabelle 26). Damit glauben gut 75% der Abgeordneten, dass sie selbst in dieser Frage responsiv sind, diese Abgeordneten erhalten den Score 1. Knapp 25% der Abgeordneten halten sich selbst in dieser Frage für nicht responsiv, sie erhalten den Score-Wert 0.92
91
92
Allerdings ist die Gruppe der Abgeordneten, deren Perzeptionen schlechter sind als ihre Responsivität nicht identisch mit der Gruppe an Abgeordneten, die sich subjektiv nicht responsiv fühlen. Denn zur ersten Gruppe gehören beispielsweise auch Abgeordnete, deren objektive Responsivität sehr niedrig ist und die fälschlich glauben, die Mitglieder verträten dieselben Auffassungen und sich daher subjektiv responsiv fühlen. Der Score bei der subjektiven Responsivität kann nicht wie bei der objektiven Responsivität und der Güte der Perzeptionen gebildet werden und ist daher mit diesen beiden Werten auch nicht direkt vergleichbar (vgl. Abschnitt 3.3. dieser Arbeit).
222
3 Empirischer Teil
Tabelle 26: Subjektive Responsivität bei Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit Perzeption Priorität Freiheit
Priorität Gleichheit
Gesamt
Priorität Freiheit
93 73,8%
29 23,0%
122 96, 8%
Priorität Gleichheit
2 1,6%
2 1,6%
4 3,2%
Gesamt
95 75,4%
31 24,6%
126 100,0%
Einstellung Abgeordnete
Für deutlich responsiver halten sich die Abgeordneten bei der Frage nach den Auswirkungen der Marktwirtschaft auf die soziale Gerechtigkeit. Nur neun Abgeordnete meinen, dass die von allen Abgeordneten vertretende Überzeugung, dass die Marktwirtschaft soziale Gerechtigkeit erst ermögliche, von den Mitgliedern nicht geteilt werde (vgl. Tabelle 27). Dies sind sieben Prozent der Abgeordneten, die sich in dieser Frage für nicht responsiv halten und daher den Score 0 erhalten. 93% der Abgeordneten gehen entsprechend davon aus, dass sie in dieser Frage responsiv sind und erhalten daher den Score 1.
223
3.4 Hypothesenprüfung
Tabelle 27: Subjektive Responsivität bei Bewertung soziale Gerechtigkeit der Marktwirtschaft Perzeption
Einstellung Abgeordnete
MW ermöglicht Gerechtigkeit
MW führt zu Ungerechtigkeit
Gesamt
MW ermöglicht Gerechtigkeit
119 92,2%
9 7,0%
128 99,2%
MW führt zu Ungerechtigkeit
0 ,0%
1 0,8%
1 0,8%
Gesamt
119 92,2%
10 7,8%
129 100,0%
Ähnlich wie bei der Frage nach der Präferenz zwischen Freiheit und Gleichheit ist das Bild bei den Nivellierungstypen. Hier meinen 23 Abgeordnete, die selbst nonegalitäre Typen sind, die Mitglieder seien mehrheitlich egalitäre Typen. Zusammen mit den zwei Abgeordneten, die selbst egalitäre Typen sind, bei den Mitgliedern aber nonegalitäre Überzeugungen vermuten, sind dies 26,3% der Abgeordneten, die sich selbst für nicht responsiv halten und den Score 0 erhalten. 73,7% der Abgeordneten halten sich hingegen für responsiv und erhalten daher den Score 1 (vgl. Tabelle 28). Tabelle 28: Subjektive Responsivität bei Nivellierungstypen Perzeption
Einstellung Abgeordnete
Egalitaristische Typen
Nonegalitaristische Typen
Gesamt
Egalitaristische Typen
7 7,4%
2 2,1%
9 9,5%
Nonegalitaristische Typen
23 24,2%
63 66,3%
86 90,5%
Gesamt
30 31,6%
65 68,4%
95 100,0%
224
3 Empirischer Teil
Anders verhält es sich bei der Gerechtigkeitsskala. Bei den egalitären Items halten sich lediglich knapp 40% der Abgeordneten für responsiv (Score 1), die Mehrheit glaubt, andere Einstellungen zu vertreten als die Mitglieder (Score 0). Von diesen Abgeordneten, die sich selbst für nicht responsiv halten, ist die große Mehrheit der Überzeugung, dass die Mitglieder den egalitären Aussagen stärker zustimmen als sie selbst (vgl. Tabelle 29).93 Entsprechend fällt auch Pearsons Korrelationskoeffizient zwischen den eigenen Einstellungen der Abgeordneten und ihren Perzeptionen der Einstellungen der Mitglieder mit r = 0,26 nur sehr schwach aus. Die Abgeordneten gehen also tendenziell davon aus, dass die Mitglieder in dieser Frage andere Positionen vertreten als sie selbst, sie sind also subjektiv relativ wenig responsiv. Tabelle 29: Subjektive Responsivität bei egalitären Items Häufigkeit Subjektive Responsivität
glauben, Mitglieder stimmen stärker zu subjektiv responsiv glauben, Mitglieder stimmen schwächer zu Gesamt
Prozent
71
54,6
51
39,2
8
6,2
130
100,0
Bei den nonegalitären Items halten sich die Abgeordneten für etwas responsiver als bei den egalitären Werthaltungen. 60% glauben hier, dass die Mitglieder ihre im Schnitt gemäßigte Zustimmung zu den nonegalitären Werthaltungen teilen (Score 1). Die 40% der Abgeordneten, die sich für nicht responsiv halten, gehen mit großer Mehrheit davon aus, dass die Mitglieder den nonegalitären Items weniger stark zustimmten als sie selbst (Score 0, vgl. Tabelle 30). Pearsons r ist mit 0,38 zwar etwas stärker als bei den egalitären Items, kann aber auch hier als Hinweis interpretiert werden, dass die Abgeordneten deutliche Unterschiede zwischen ihren eigenen Einstellungen und denen der Mitglieder vermuten.
93
Bei einer Differenz von maximal 0,75 Punkten zwischen Einstellungen des Abgeordneten und seinen Perzeptionen wirde von einer subjektiven Responsivität ausgegangen. Damit beträgt die Spanne, die als Übereinstimmung betrachtet wird, wie bei der objektiven Responsivität und der Güte der Perzeptionen 1,5 Punkte.
225
3.4 Hypothesenprüfung
Tabelle 30: Subjektive Responsivität bei nonegalitären Items Häufigkeit Subjektive Responsivität
glauben, Mitglieder stimmen stärker zu subjektiv responsiv glauben, Mitglieder stimmen schwächer zu Gesamt
Prozent
11
8,5
78
60,0
41
31,5
130
100,0
Betrachtet man die durchschnittlichen Scores der Abgeordneten für alle Fragen, wird allerdings deutlich, dass sich die Mehrheit der Abgeordneten dennoch subjektiv responsiv fühlt. 87 Abgeordnete, dies entspricht einem Anteil von 71,4%, haben einen mittleren Score über 0,5. Diese Abgeordneten glauben also, bei der Mehrheit der Fragen die gleiche Position zu vertreten wie die Mitglieder und können daher als subjektiv responsiv betrachtet werden. 28 Abgeordnete (23%) glauben sogar, bei allen Fragen responsiv zu sein, zwei Abgeordnete (1,6%) meinen, es bei keiner zu sein (vgl. Abbildung 20). Abbildung 20: Mittlere subjektive Responsivität der CDU-Abgeordneten des 16. Deutschen Bundestages
n = 122
226
3 Empirischer Teil
Insgesamt fühlen sich die Abgeordneten also überwiegend responsiv, These (16) kann somit als bestätigt gelten. Bei den egalitären Items der Gerechtigkeitsskala allerdings ist ein nennenswerter Unterschied zwischen den eigenen Einstellungen der Abgeordneten und den perzipierten Einstellungen der Mitglieder auszumachen: Die Abgeordneten halten die Mitglieder für deutlich egalitärer als sich selbst. Ob die Abgeordneten damit richtig liegen, soll die Prüfung der nächsten vier Thesen zeigen. 17. Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages glauben zu Recht, responsiv zu sein (Typ A). 18. Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages glauben zu Recht, nicht responsiv zu sein (Typ B). 19. Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages glauben zu Unrecht, responsiv zu sein (Typ C). 20. Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages glauben zu Unrecht, nicht responsiv zu sein (Typ D). Mit diesen Thesen wird die in Abschnitt 2.2.2.4. entwickelte Typologie der Abgeordneten aufgegriffen. Durch Verknüpfung der objektiven Responsivität, der Güte der Perzeptionen und der subjektiven Responsivität sollen Typen von Abgeordneten unterschieden werden, die sich jeweils in mindestens einem der drei Merkmale des Repräsentationsprozesses unterscheiden. Bei den Fragen mit dichotomen Antwortkategorien lassen sich so alle Abgeordneten kategorisieren, bei der Gerechtigkeitsskala mit mehreren Antwortmöglichkeiten die große Mehrheit. Bei der Frage nach der Präferenz zwischen Freiheit und Gleichheit gehören drei Viertel der Abgeordneten zu Typ A. Diese Abgeordneten sind responsiv, plädieren also für die Freiheit, erkennen korrekt, dass auch die Mehrheit der Mitglieder dieser Überzeugung ist und gehen daher zu recht davon aus, responsiv zu sein. Nur zwei Abgeordnete gehören zu Typ B. Dieser Typus ist nicht responsiv, präferiert bei dieser Frage also die Gleichheit. Er erkennt aber richtig, dass sich die Mehrheit der Mitglieder für die Freiheit entscheidet und ist sich daher bewusst, nicht responsiv zu sein. Ebenfalls nur zwei Abgeordnete sind Typ C zuzuordnen. Diese Abgeordneten sind nicht responsiv, plädieren also für die Gleichheit. Sie glauben aber fälschlich, auch die Mitglieder entschieden sich mehrheitlich für die Gleichheit. Diese Abgeordneten halten sich also für responsiv, ohne es zu sein. Während die beiden letztgenannten Typen mit je zwei Fällen nur vereinzelt auftreten, lässt sich fast jeder vierte Abgeordnete Typ D zurechnen. Dieser Ty-
227
3.4 Hypothesenprüfung
pus ist responsiv, er entscheidet sich also bei dieser Frage für die Freiheit. Er glaubt aber, die Mitglieder votierten mehrheitlich für die Gleichheit. Daher geht er davon aus, nicht responsiv zu sein. Fast ein Viertel der CDU-Bundestagsabgeordneten ist bei dieser Frage also responsiv, ohne es zu wissen (vgl. Tabelle 31). Tabelle 31: Abgeordnetentypen bei Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit
Typ Freiheit vs. Gleichheit
Typ A Typ B Typ C Typ D Gesamt
Häufigkeit 93 2 2 29 126
Prozent 73,8 1,6 1,6 23,0 100,0
Eindeutiger das Bild bei der Frage nach den sozialen Auswirkungen der Marktwirtschaft. Hier sind fast alle Abgeordneten zu Recht von ihrer Responsivität überzeugt (Typ A), nur neun Abgeordnete glauben fälschlich, nicht responsiv zu sein (Typ D). Lediglich ein Abgeordneter lässt sich Typ C zuordnen, er meint also, die Marktwirtschaft führe zu sozialer Ungerechtigkeit und geht fälschlich davon aus, dass dies auch die Mitglieder mehrheitlich so sehen. Typ B kommt gar nicht vor (vgl. Tabelle 32). Tabelle 32: Abgeordnetentypen bei Bewertung soziale Gerechtigkeit der Marktwirtschaft Häufigkeit
Typ Marktwirtschaft
Typ A Typ B Typ C Typ D Gesamt
119 0 1 9 129
Gültige Prozente 92,2 ,8 7,0 100,0
Ähnlich wie bei der Frage nach der Präferenz zwischen Freiheit und Gleichheit ist das Bild wiederum bei den Nivellierungstypen. Zwei Drittel der Abgeordneten glauben zu Recht, dass sie die gleichen Wertvorstellungen vertreten wie ihre Mitglieder. Aber ein Viertel der Abgeordneten ist responsiv, gehört also wie die Mehrheit der Mitglieder zu den nonegalitaristischen Typen, hält sich aber selbst für nicht responsiv (Typ D). Auch Typ C, der sich auf Grund falscher Perzeptio-
228
3 Empirischer Teil
nen für responsiv hält, ohne es zu sein, tritt bei dieser Frage erstmals nicht nur vereinzelt auf (vgl. Tabelle 33). Tabelle 33: Abgeordnetentypen bei den Nivellierungstypen
Typ Nivellierung
Typ A Typ B Typ C Typ D Gesamt
Häufigkeit 63 2 7 23 95
Prozent 66,3 2,1 7,4 24,2 100,0
Bei der Gerechtigkeitsskala ändert sich das Bild der Verteilung der Abgeordnetentypen deutlich.94 Bei den egalitären Items lassen sich nur noch knapp 30% der Abgeordneten dem bisher dominierenden Typ A, der zu Recht davon ausgeht, responsiv zu sein, zuordnen. Die relative Mehrheit der Abgeordneten gehört zu Typ B. Dieser Typus ist nicht responsiv – die meisten dieser Abgeordneten stimmen den egalitären Aussagen weniger zu als die Mitglieder –, glaubt aber auch nicht, es zu sein. Er ist also bewusst nicht responsiv. Dies glaubt auch Typ D von sich, der hier von einem Fünftel der Abgeordneten repräsentiert wird. 94
Für die Typenbildung mussten einige Modifikationen vorgenommen werden. Da die Antwortmöglichkeiten bei der Gerechtigkeitsskala nicht wie bei den bisherigen Fragen dichotom sind, entstehen weitere Variationen der objektiven und subjektiven Responsivität sowie der Güte der Perzeptionen. So gibt es einige Abgeordnete, die nicht responsiv sind, sich subjektiv – zu Recht – auch nicht dafür halten, die dennoch mit ihren Perzeptionen falsch liegen. Dies kann dadurch zustande kommen, dass ein Abgeordneter beispielsweise den egalitären Aussagen deutlich weniger zustimmt als die Mitglieder, somit nicht responsiv ist. Er glaubt aber, dass die Mitglieder deutlich stärker zustimmen, als sie es tatsächlich tun. Daher fühlt er sich subjektiv zu Recht nicht responsiv, liegt aber mit seinen Perzeptionen falsch. Solche Abgeordneten wurden zu Typ B gerechnet, da die beiden entscheidenden Merkmale – mangelnde objektive und subjektive Responsivität – übereinstimmen. Ebenso wurden Abgeordnete, die responsiv sind, dies subjektiv aber nicht glauben, die aber dennoch mit ihren Perzeptionen richtig liegen, zu Typ D gerechnet. Dieser Effekt kommt zustande, wenn Abgeordnete den egalitären Items weniger zustimmen als die Mitglieder, sie aber noch responsiv sind, sie aber gleichzeitig die Zustimmung der Mitglieder überschätzen. Dann können sie mit dieser Perzeption noch knapp richtig liegen, aber dennoch fälschlich von einer großen Distanz zwischen ihren eigenen Einstellungen und denen der Mitglieder ausgehen. Aus ähnlichen Gründen entstehen zwei weitere Muster (Objektive Responsivität vorhanden, Perzeptionen falsch, subjektive Responsivität vorhanden sowie keine objektive Responsivität, Güte der Perzeptionen und subjektive Responsivität vorhanden), die sich nicht sinnvoll einem der entwickelten Typen zuordnen lassen und die auf Grund der sehr unterschiedlichen Fälle auch keine neue Typenbildung erlauben. Diese Fälle wurden als fehlend definiert und erklären daher die relativ hohe Zahl an missing values bei dieser Auswertung.
229
3.4 Hypothesenprüfung
Allerdings liegt dieser Typus damit falsch, er überschätzt in aller Regel die Zustimmung der Mitglieder zu den egalitären Werthaltungen, in Wirklichkeit liegt er mit seiner eher ablehnenden Haltung mit den Mitgliedern auf einer Linie. Während also Typ B bewusst nicht responsiv ist, ist Typ D unbewusst responsiv (vgl. Tabelle 34). Tabelle 34: Abgeordnetentypen bei egalitären Items Häufigkeit
Typ egalitäre Items
Typ A Typ B Typ C Typ D Gesamt
35 55 8 24 122
Gültige Prozente 28,7 45,1 6,6 19,7 100,0
Bei den nonegalitären Items ist es immerhin ein Drittel und die relative Mehrheit der Abgeordneten, die als Typ A zu Recht von ihrer Responsivität überzeugt sind. Ein weiteres knappes Drittel der Abgeordneten gehört zu den bewusst nicht-responsiven Parlamentariern (Typ B). Diese Abgeordneten sind entweder nicht responsiv, weil sie den nonegalitären Items deutlich stärker oder sie sind nicht responsiv, weil sie ihnen deutlich schwächer zustimmen als die Mitglieder. Auf jeden Fall sind sie sich bewusst, nicht responsiv zu sein. Typ C ist bei dieser Frage im Vergleich zu den bisherigen Auswertungen am stärksten, er tritt bei einem knappen Fünftel der Abgeordneten auf. Hier handelt es sich vor allem um Abgeordnete, die den nonegalitären Items nur relativ schwach zustimmen und die fälschlich glauben, die Mitglieder stimmten ebenso zurückhaltend zu. Typ D, der unbewusst Responsive, ist bei dieser Frage mit 15% nur relativ schwach vertreten. Diese Abgeordneten unterschätzen übereinstimmend die Zustimmung der Mitglieder zu den nonegalitären Aussagen (vgl. Tabelle 35). Tabelle 35: Abgeordnetentypen bei nonegalitären Items
Typ nonegalitäre Items
Typ A Typ B Typ C Typ D Gesamt
Häufigkeit 39 35 21 17 112
Prozent 34,8 31,2 18,8 15,2 100,0
230
3 Empirischer Teil
Insgesamt kann also festgehalten werden, dass alle in den Thesen (17) bis (20) vermuteten Typen unter den CDU-Abgeordneten des 16. Deutschen Bundestages auch existieren. Bei vier von fünf Fragen dominierte Typ A, dies weist darauf hin, dass These (17), nach der die Abgeordneten zu Recht davon ausgehen, responsiv zu sein, für die relative Mehrheit der Abgeordneten zutrifft.95 Am zweithäufigsten tritt Typ D, der unbewusst Responsive, auf. Offensichtlich gibt es also These (20) entsprechend eine nennenswerte Zahl an CDU-Abgeordneten, die responsiv sind, ohne es zu wissen. Es folgt Typ B, der sich wie in These (18) beschrieben bewusst ist, dass die Mehrheit der Mitglieder anderer Auffassung ist als er. Typ C, der fälschlich davon ausgeht, responsiv zu sein (These (19)), scheint unter den Abgeordneten am seltensten vertreten zu sein. Nun sollen die verschiedenen Einflussfaktoren auf die objektive Responsivität, die Güte der Perzeptionen und die subjektive Responsivität untersucht werden. Hierfür werden die Abgeordneten danach eingeteilt, ob ihre Scores der objektiven Responsivität, der Güte der Perzeptionen und der subjektiven Responsivität jeweils über- oder unterhalb des Medians der Werte aller Abgeordneten liegen.96 Die Ergebnisse der Überprüfung der Einflussfaktoren wurden in einer Tabelle zusammengefasst (vgl. Tabelle 36):
95
96
Eine Typenbildung für alle Abgeordneten im Schnitt aller Fragen ist zwar interessant, aber unseriös. Denn die Mehrheit der Abgeordneten lässt sich bei den verschiedenen Fragen mindestens zwei Typen zuordnen. Diese Abgeordneten einem Typ zuzuordnen, würde eine Homogenität vortäuschen, wo keine besteht. Daher wird hier nur eine Rangordnung vorgenommen, welche Typen nach den Ergebnissen dieser Arbeit häufiger, welche seltener vorkommen. Der Median beträgt bei der objektiven Responsivität 0,602, bei den Perzeptionen 0,54 und bei der subjektiven Responsivität 0,75. Damit liegen bei der objektiven Responsivität 74 Abgeordnete unter, 60 über dem Median (20 Abgeordnete haben den Wert 0,602, daher ist eine gleichere Verteilung zwischen den beiden Gruppen nicht möglich). Bei den Perzeptionen liegen 63 Abgeordnete unterhalb, 62 überhalb des Medians, bei der subjektiven Responsivität sind dies 59 und 63 Abgeordnete.
231
3.4 Hypothesenprüfung
Tabelle 36: Einflussfaktoren auf objektive Responsivität, Güte der Perzeptionen und subjektive Responsivität
Einflussfaktor
Wohnregion Stadt/ Land Alter
auf objektive Resposivität = 0,365** 1) (ländlich: objektiv responsiver)
bei egalitären Items
(älter: objektiv responsiver) W 3)
bei nonegalitären Items Amtsdauer
(jünger: objektiv responsiver) W 3)
bei egalitären Items
(höher: objektiv responsiver)
auf Güte Perzeptionen = 0,231** 1)
(jünger: perzipieren besser W 3)
bei nonegalitären Items Fokus
bei egalitären Items bei nonegalitären Items Style Bildung
Wahlkreis: = 0,288* (Nation: objektiv (Nation: responsiver) perzipieren besser) Thesen können nicht überprüft werden (höher: objektiv responsiver)
auf subjektive Responsivität = 0,186* 1)
(jünger: subjektiv responsiver) 1./2. L 2) (älter: subjektiv responsiver) 1./2. L 2) (jünger: subjektiv responsiver) 1./2. L 2) (niedriger: subjektiv responsiver) Jüngere 4) (höher: subjektiv responsiver) Jüngere 4) (niedriger: subjektiv responsiver) Jüngere 4) (Wahlkreis: subjektiv responsiver W 3)
(höher: subjektiv responsiver) Jüngere 4) (niedriger: subjektiv responsiver) Ältere 5)
232
3 Empirischer Teil
bei egalitären Items bei nonegalitären Items Geschlecht
bei egalitären Items bei nonegalitären Items Religiosität bei egalitären Items bei nonegalitären Items
männlich: = 0,176*
(niedriger: perzipieren besser) (männlich: perzipieren besser)
(männlich: subjektiv responsiver)
höher: = 0,440* W 3)
(höher: subjektiv responsiver)
(weiblich: objektiv responsiver)
(niedriger: objektiv responsiver) (höher: objektiv responsiver) niedriger: = 0,229**
Legende: * : 0,01 < p-Wert < 0,05 **: p-Wert < 0,01 ( ): Anhaltspunkte für Zusammenhang, nicht signifikant 1): Richtung: Im Westen höhere objektive Resposivität / Güte Perzeptionen / subjektive Resposivität 2): Zusammenhang bei Abgeordneten in der ersten oder zweiten Legislaturperiode 3): Zusammenhang bei westdeutschen Abgeordneten 4): Zusammenhang bei Abgeordneten unter 51 5): Zusammenhang bei Abgeordneten über 50 Der Einfluss der Wohnregion wurde bei der Untersuchung der objektiven Responsivität und der Güte der Perzeptionen der Abgeordneten bereits indirekt überprüft. Denn es wurde jeweils die Responsivität und die Güte der Perzeptionen der Abgeordneten gegenüber den Mitgliedern, die aus demselben Teil Deutschlands kommen, betrachtet. Daher wurden für ost- und westdeutsche Abgeordnete unterschiedliche Score-Werte vergeben, da ein westdeutscher Abgeordneter, der gegenüber der Mehrheit der westdeutschen Mitglieder responsiv ist, in der Regel gegenüber einem höheren Anteil an Mitgliedern responsiv ist als ein ostdeutscher Abgeordneter, der zwar ebenfalls die gleichen Auffassungen
3.4 Hypothesenprüfung
233
vertritt wie die Mehrheit der ostdeutschen Mitglieder, aber diese Mehrheit unter den Mitgliedern in der Regel nicht so groß ist wie im Westen (vgl. Abschnitt 3.3. dieser Arbeit). Mit anderen Worten: Auf Grund der größeren Heterogenität des Meinungsspektrums der ostdeutschen Mitglieder hat ein ostdeutscher Abgeordneter gar nicht die Chance, im selben Maß responsiv zu sein oder die Einstellungen seiner Mitglieder richtig zu perzipieren wie ein westdeutscher Abgeordneter. Hinzu kommt, dass es nach den bisherigen Analysen Anhaltspunkte gibt, dass die ostdeutschen Abgeordneten sogar leicht nonegalitärer eingestellt sind als ihre westdeutschen Kollegen. Damit ist die Kluft zwischen ihnen und ihren Mitgliedern größer als im Westen, denn bei den ostdeutschen Mitgliedern sind egalitäre Werthaltungen etwas verbreiteter als im Westen (vgl. Abschnitte 3.4.1. und 3.4.2. dieser Arbeit). Entsprechend lag auch in den meisten in dieser Arbeit bisher analysierten Fällen die Responsivität und die Güte der Perzeptionen der ostdeutschen Abgeordneten unter der der westdeutschen Abgeordneten. Vergleicht man direkt die Scores der Abgeordneten aus West- und Ostdeutschland, zeigt sich dann auch der erwartete Einfluss der Wohnregion: Sowohl die objektive Responsivität, die Güte der Perzeptionen als auch die subjektive Resposivität der westdeutschen Abgeordneten ist signifikant höher als die ihrer ostdeutschen Kollegen.97 Bei der Güte der Perzeptionen und der subjektiven Resposivität ist der Zusammenhang allerdings schwächer als bei der objektiven Responsivität, im Verhältnis sind die Perzeptionen der ostdeutschen Parlamentarier also besser als ihre objektive Responsivität. Dies lässt vermuten, dass Typ B, der bewusst nicht responsive Abgeordnete, unter den ostdeutschen Abgeordneten häufiger vorkommt als bei seinen westdeutschen Kollegen, während umgekehrt die Typ A, der bewusst responsive, und Typ D, der unbewusst responsive Abgeordnete, in Westdeutschland stärker vorkommen müssten. Tatsächlich zeigt sich diese Tendenz signifikant bei den egalitären Items der Gerechtigkeitsskala: Die Typen A und D finden sich unter den westdeutschen Abgeordneten wesentlich häufiger als unter den ostdeutschen, Typ B wiederum dominiert im Osten eindeutig mit fast 75%, während er im Westen nur bei knapp 40% der Abgeordneten auftritt (vgl. Tabelle 37). Der Zusammenhang fällt mit 97
Der Score für die Responsivität der Abgeordneten wird hier als intervallskaliert betrachtet. Dies ist nach Überzeugung der Autorin zulässig, da der Score auf den Prozentanteilen der Mitglieder, die jeweils dieselbe Einstellung wie die Abgeordneten vertreten, basiert. Damit genügt der Score der Anforderung an Intervallskalen, dass die Abstände zwischen den möglichen Messwerten gleich sein müssen (Behnke/Behnke 2006: 37). Dies gilt auch für den Score für die Perzeptionen, der analog gebildet wurde. Bei der subjektiven Responsivität hingegen wird der Score nur als ordinal skaliert betrachtet, da er nicht auf Prozentzahlen basiert, sondern lediglich auf der Zuordnung des Wertes 1 im Falle eines Matchings und des Wertes 0 im Falle keines Matchings. Diese Werte sind im Prinzip willkürlich, daher kann auch ihr Mittelwert nicht als intervallskaliert betrachtet werden.
234
3 Empirischer Teil
= 0,346 relativ stark aus und ist signifikant (p = 0,002), muss wegen der geringen Fallzahlen dennoch unter Vorbehalt betrachtet werden. Tabelle 37: Abgeordnetentypen bei egalitären Items nach Wohnregion Ost
West
Typ A
1 4,3%
34 34,3%
Typ B
17 73,9%
38 38,4%
Typ C
3 13,0%
5 5,1%
Typ D
2 8,7%
22 22,2%
Gesamt
23 100,0%
99 100,0%
Typ egalitäre Items
n = 122 Unter den ostdeutschen Abgeordneten gibt es also mehr Parlamentarier, die bewusst andere Werthaltungen vertreten als ihre Mitglieder (Typ B) als unter den westdeutschen Abgeordneten. Dafür kommen Typ A, der bewusst responsive Abgeordnete, und Typ D, der unbewusst responsive Abgeordnete, in Westdeutschland häufiger vor. Insgesamt können die Thesen (21), (22) und (23), nach denen westdeutsche Abgeordnete objektiv responsiver sind, besser perzipieren und subjektiv responsiver sind, als bestätigt betrachtet werden. Ein signifikanter Einfluss des Urbanisierungsgrades des Wahlkreises der Abgeordneten zeigt sich nicht. Nur bei der objektiven Responsivität gibt es knapp nicht signifikante Anhaltspunkte, dass Parlamentarier aus ländlichen Wahlkreises objektiv responsiver sind als Abgeordnete aus teils städtisch, teils ländlichen oder aus ländlichen Wahlkreisen. Betrachtet man, um mögliche Scheinkorrelationen auf Grund einer unterschiedlichen Siedlungsdichte auszuschließen, Ost und West getrennt, bleibt der Zusammenhang mit gleicher Tendenz und auf ähnlichem, knapp nicht signifikanten Niveau erhalten.
3.4 Hypothesenprüfung
235
Bei der Güte der Perzeptionen und der subjektiven Resposivität zeigt sich keinerlei Einfluss des Urbanisierungsgrades – auch nicht bei Kontrolle der Herkunft der Abgeordneten aus Ost- oder Westdeutschland. Insgesamt kann also keine der Thesen über den Einfluss des Urbanisierungsgrades angenommen werden. Die Ergebnisse dieser Arbeit geben aber einen Hinweis, dass bei der objektiven Resposivität der umgekehrte Zusammenhang als in These (24) vermutet, bestehen könnte: Abgeordnete aus ländlichen Wahlkreisen scheinen demnach objektiv responsiver zu sein als ihre Kollegen aus städtischen Wahlkreisen. Für die Thesen (25) und (26) finden sich keine Anhaltspunkte, auch nicht für einen umgekehrten Zusammenhang, offensichtlich variiert also die Güte der Perzeptionen und die subjektive Responsivität nicht mit dem Urbanisierungsgrad des Wahlkreises des Abgeordneten. Das Alter der Abgeordneten scheint nur in bestimmten Fällen einen Einfluss auf ihre objektive und subjektive Resposivität und die Güte ihrer Perzeptionen zu haben. Auf die objektive Responsivität lässt sich gesamtdeutsch kein Einfluss des Alters feststellen. Dies ist überraschend, weil die bisherigen Analysen ergeben haben, dass jüngere Abgeordnete zumindest bei den egalitären und nonegalitären Items der Gerechtigkeitsskala eindeutig nonegalitärer eingestellt sind als ihre älteren Kollegen – und zwar unabhängig von ihrer Amtsdauer (vgl. Abschnitt 3.4.2. dieser Arbeit). Daher erschien ein Einfluss des Alters auf die Responsivität wahrscheinlich. Betrachtet man jedoch die objektive Responsivität der Abgeordneten nur bei den egalitären und nonegalitären Items der Gerechtigkeitsskala, wird deutlich, warum der Einfluss des Alters bei der Betrachtung der Gesamtresponsivität aller Abgeordneten nahezu verschwindet. Die jüngeren westdeutschen Abgeordneten sind nämlich weniger egalitär eingestellt als ihre älteren Kollegen. Damit stimmen sie aber weniger mit den Mitgliedern überein, die insgesamt den egalitären Aussagen stärker zustimmen als die Abgeordneten. Daher sind die jüngeren Abgeordneten bei den egalitären Items etwas weniger responsiv als die älteren. Bei den nonegalitären Items ist das Verhältnis umgekehrt. Diese werden von den jüngeren westdeutschen Abgeordneten stärker vertreten, sie liegen damit näher bei den Mitgliedern, die insgesamt stärker zustimmen als die Abgeordneten. Daher sind bei den nonegalitären Items die Abgeordneten unter 51 responsiver als die Älteren. Allerdings ist auch dieser Zusammenhang nicht stark und nicht signifikant, bleibt aber bei Kontrolle der Amtsdauer bestehen. Auf die Güte der Perzeptionen zeigt sich bei gesamtdeutscher und nach Ost und West getrennter Betrachtung kein Einfluss des Alters. Lediglich bei den nonegalitären Items kann bei den westdeutschen Abgeordneten ein schwacher und knapp nicht signifikanter Zusammenhang zwischen der Fähigkeit, die Einstellungen der Mitglieder richtig wahrzunehmen, und dem Alter festgestellt wer-
236
3 Empirischer Teil
den. Jüngere westdeutsche Abgeordnete sind demnach etwas besser in der Lage, die nonegalitären Werthaltungen ihrer Mitglieder zu perzipieren. Betrachtet man die subjektive Responsivität der Abgeordneten deutet sich ein leichter Einfluss des Alters an – allerdings in umgekehrter Richtung, als in der These erwartet: Jüngere Abgeordnete glauben demnach etwas responsiver zu sein als ältere. Der Zusammenhang ist allerdings relativ schwach und nicht signifikant. Der Zusammenhang bleibt erhalten, wenn man die Ost-West-Herkunft der Abgeordneten kontrolliert. Kontrolliert man allerdings die Amtsdauer, zeigt sich dieser Einfluss des Alters nur bei den Abgeordneten, die sich in der ersten oder zweiten Legislaturperiode befinden, hier allerdings deutlich stärker. Bei den Abgeordneten, die seit mehr als zwei Legislaturperioden dem Deutschen Bundestag angehören, existiert keinerlei Einfluss des Alters auf die subjektive Responsivität. Daher ist es sinnvoll, nur bei den Abgeordneten, die erst kürzer dem Parlament angehören und bei denen offensichtlich ein eigenständiger Einfluss des Alters besteht, die subjektive Responsivität bei den egalitären und nonegalitären Items zu betrachten. Da die Responsivität der älteren westdeutschen Abgeordneten bei den egalitären Items höher ist, die Güte der Perzeptionen aber nicht variiert, ist zu erwarten, dass sich ältere westdeutsche Abgeordnete bei den egalitären Items auch subjektiv responsiver fühlen. Tatsächlich scheint das auch so zu sein, allerdings ist der Zusammenhang relativ schwach ausgeprägt und nicht signifikant. Bei den nonegalitären Items sind die jüngeren Abgeordneten responsiver und die Güte ihrer Perzeptionen scheint auch zumindest bei den westdeutschen Abgeordneten etwas höher zu sein. Entsprechend zeigt sich auch, dass sich die jüngeren westdeutschen Abgeordneten hier responsiver fühlen als ihre älteren Kollegen. Der Einfluss des Alters ist allerdings auch hier eher schwach und nicht signifikant. Anhaltspunkte für die Gültigkeit der Thesen gibt es somit nur in bestimmten Fällen. These (27), nach der jüngere Abgeordnete objektiv responsiver sind als ältere, scheint in Westdeutschland bei den nonegalitären Items zu stimmen. Diese Abgeordneten scheinen auch besser in der Lage zu sein, die hohe Zustimmung ihrer Mitglieder zu diesen Aussagen korrekt wahrzunehmen. These (28) trifft somit nicht zu, vielmehr scheint hier der umgekehrte Zusammenhang zu gelten. Dafür sind die älteren westdeutschen Abgeordneten offensichtlich bei den egalitären Werthaltungen gegenüber ihren Mitgliedern objektiv responsiver als ihre jüngeren Kollegen. Bezüglich dieser Werthaltungen scheint These (27) also nicht zuzutreffen.
3.4 Hypothesenprüfung
237
Anders als in These (29) vermutet, scheinen jüngere Abgeordnete sich auch insgesamt subjektiv etwas responsiver zu fühlen als ihre älteren Kollegen, insbesondere auch bei den nonegalitären Items. Bei den egalitären Items hingegen gibt es Anhaltspunkte, dass sich wie bei der objektiven Responsivität auch hier die älteren Abgeordneten subjektiv responsiver fühlen als die jüngeren. Allerdings bestehen diese Zusammenhänge nur bei Abgeordneten, die sich in der ersten oder zweiten Legislaturperiode befinden. Die Amtsdauer wirkt sich auf die objektive Responsivität und die Güte der Perzeptionen der Abgeordneten nicht aus. Lediglich bei den egalitären Items finden sich nicht signifikante Hinweise, dass eine höhere Amtsdauer hier zu einer höheren objektiven Resposivität der Parlamentarier führt. Dieser Effekt bleibt erhalten, wenn man das Alter der Befragten kontrolliert, es scheint sich also um einen eigenständigen Effekt der Amtsdauer zu handeln. Bei den nonegalitären Items lässt sich ein solcher Effekt nicht feststellen. Bei der subjektiven Responsivität zeigt sich insgesamt ein leichter Einfluss der Amtsdauer: Offensichtlich fühlen sich Abgeordnete, die erst kürzer dem Parlament angehören, etwas responsiver als ihre Kollegen, die schon länger dabei sind. Der Einfluss ist allerdings relativ schwach und nicht signifikant. Kontrolliert man jedoch das Alter der Abgeordneten, verstärkt sich die Tendenz bei den Abgeordneten unter 50: Bei diesen jüngeren Abgeordneten fühlen sich solche mit einer kürzeren Amtsdauer deutlich responsiver als solche mit einer längeren Amtsdauer. Allerdings ist auch dieser Zusammenhang nicht signifikant. Bei den älteren Abgeordneten hingegen zeigt sich keinerlei Einfluss der Amtsdauer – so wie sich umgekehrt bei den Abgeordneten mit einer längeren Amtsdauer auch kein Einfluss des Alters gezeigt hat. Ein niedrigeres Lebensalter und eine kürzere Amtsdauer wirken bei der subjektiven Responsivität also offensichtlich unabhängig voneinander in dieselbe Richtung: Beide Faktoren scheinen dazu zu führen, dass sich die Abgeordneten subjektiv responsiver fühlen. Betrachtet man daher weiter nur die jüngeren Abgeordneten, zeigt sich, dass sich bei den egalitären Items eine längere Amtszeit positiv auf die subjektive Responsivität auszuwirken scheint, bei den nonegalitären Items eine kürzere Amtszeit. Dieser Zusammenhang ist etwas stärker und nur knapp nicht signifikant. Insgesamt können also zu den untersuchten Thesen nur sehr vorsichtige Aussagen getroffen werden. Es gibt keinen Hinweis, dass These (30), nach der Abgeordnete mit einer kürzeren Amtsdauer responsiver sind, zutrifft. Vielmehr deutet sich zumindest bei den egalitären Items der entgegengesetzte Trend an: Hier scheinen Abgeordnete mit einer längeren Amtsdauer eher mit den Werthaltungen der Mitglieder übereinzustimmen. Offensichtlich wirken hier also Alter und Amtsdauer unabhängig voneinander in dieselbe Richtung.
238
3 Empirischer Teil
Bei den Perzeptionen gibt es keine Anhaltspunkte, dass These (31), nach der die Güte mit zunehmender Amtsdauer zunimmt, zutrifft. Bei der subjektiven Responsivität zeigt sich ein Einfluss der Amtsdauer nur bei den jüngeren Abgeordneten unter 51. Bei ihnen finden sich lediglich bei den egalitären Items Anhaltspunkte, dass These (32), nach der sich Abgeordnete mit einer längeren Amtsdauer subjektiv responsiver fühlen, zutrifft. Insgesamt und insbesondere bei den nonegalitären Items legen die Daten nahe, dass zumindest bei den jüngeren Abgeordneten eine kürzere Amtsdauer zu einer höheren subjektiven Responsivität führt. Wie bereits im theoretischen Teil dieser Arbeit erläutert, macht eine Analyse des Einflusses des Styles der Abgeordneten nur Sinn, wenn sich unter den befragten Abgeordneten eine hinreichend große Zahl an Delegates findet (vgl. Abschnitt 2.2.2.5. dieser Arbeit). Dies ist allerdings bei den vorliegenden Daten nicht der Fall. 91,9% der Abgeordneten geben an, der wichtigste Bezugspunkt für ihre Entscheidungen sei ihre eigene Urteilskraft. Damit erweist sich, wie auf Grund der bisherigen Forschungsergebnisse erwartet, die überwältigende Mehrheit der CDU-Bundestagsabgeordneten als Trustees. Nur insgesamt 10 Abgeordnete lassen sich den Delegates zuordnen. Damit ist eine Überprüfung der Thesen (34), (36), und (38) nicht möglich. Beim Fokus der CDU-Bundestagsabgeordneten dominiert der Wahlkreis. So geben fast 60% der Abgeordneten an, die Vertretung ihres Wahlkreises sei ihnen am wichtigsten, ein knappes Drittel entscheidet sich für die Nation, nur 10% der Befragten für die Partei oder die Wähler der Partei (vgl. Tabelle 38).98 Tabelle 38:
Fokus
Fokus der Abgeordneten
Nation Partei/Parteiwähler Wahlkreis Gesamt
Häufigkeit 22 7 40 69
Prozent 31,9 10,1 58,0 100,0
Dieses Ergebnis unterscheidet sich relativ deutlich von aktuellen Studien, in denen alle Abgeordneten nach ihrem Fokus befragt wurden. Danach ist für die meisten Abgeordneten (42%) der Fokus Nation am wichtigsten, es folgt der
98
Ausgewertet wurden nur die Abgeordneten, die einen der drei möglichen Fokusse am höchsten gewichten. Abgeordnete etwa, die angeben, dass ihnen Partei und Wahlkreis gleich wichtig seien, konnten naturgemäß nicht einem Fokus zugeordnet werden. Dies erklärt die hohe Zahl der missing values.
3.4 Hypothesenprüfung
239
Wahlkreis bei einem Viertel und die Partei bei einem Fünftel der Abgeordneten (vgl. Abschnitt 2.2.2.5 dieser Arbeit). Die höhere Gewichtung des Wahlkreises und die niedrigere Gewichtung der Nation und der Partei bei den CDU-Abgeordneten erklärt sich vermutlich aus der Tatsache, dass in der CDU die Mehrheit der Abgeordneten ein Direktmandat innehat, während bei den kleineren Fraktionen die Abgeordneten fast ausschließlich über die Landeslisten ihrer Parteien in den Bundestag einziehen. Auf jeden Fall führt diese Verteilung dazu, dass der Einfluss des Fokus’ Partei nicht seriös überprüft werden kann, sondern sich auf eine Überprüfung der Fokusse Bevölkerung und Wahlkreis beschränkt werden muss. Dabei zeigt sich ein überraschender Trend: Die objektive Responsivität von Abgeordneten mit dem Fokus Nation ist zumindest bei den nonegalitären Items höher als von Abgeordneten mit dem Fokus Wahlkreis. Allerdings ist dieser Zusammenhang relativ schwach und nicht signifikant. Bei der Güte der Perzeptionen zeigt sich insgesamt keinerlei Einfluss des Fokus’. Betrachtet man aber die egalitären und nonegalitären Items getrennt, zeigt sich ein leichter und in unterschiedliche Richtungen wirkender Zusammenhang: Offensichtlich sind bei den egalitären Items die Abgeordneten mit dem Fokus Wahlkreis signifikant besser in der Lage, die Einstellungen der Mitglieder korrekt zu perzipieren. Bei den nonegalitären Items scheint es sich, wenn auch weniger eindeutig, umgekehrt zu verhalten: Hier sind offensichtlich die Abgeordneten mit dem Fokus Nation etwas besser in der Lage, die hohe Zustimmung der Mitglieder zu diesen Items richtig wahrzunehmen. Bei der subjektiven Responsivität ergibt sich ein interessantes Bild: Obwohl die Abgeordneten mit dem Fokus Nation nach den bisherigen Ergebnissen insgesamt etwas responsiver zu sein scheinen, fühlen sich diese Abgeordneten subjektiv weniger responsiv als ihre Kollegen mit dem Fokus Wahlkreis. Dieser Zusammenhang ist zwar relativ schwach und nicht signifikant. Kontrolliert man aber die Herkunft der Abgeordneten aus Ost- oder Westdeutschland, verschwindet der Einfluss bei den ostdeutschen Abgeordneten, bei den westdeutschen hingegen verstärkt er sich. Das heißt also: Obwohl Abgeordnete mit dem Fokus Nation insgesamt objektiv responsiver sind als ihre Kollegen mit dem Fokus Wahlkreis, vermuten die Abgeordneten eher den entgegengesetzten Zusammenhang: Abgeordnete mit dem Fokus Nation halten sich selbst für weniger responsiv, ihre Kollegen mit dem Fokus Wahlkreis glauben häufiger, responsiv zu sein. Diese Abgeordneten perzipieren also die Einstellungen ihrer Mitglieder falsch. Dies lässt vermuten, dass unter den Abgeordneten mit dem Fokus Nation Typ D, der unbewusst Responsive, häufiger vorkommt, insbesondere bei
240
3 Empirischer Teil
den nonegalitären Items. Bei den Abgeordneten mit dem Fokus Wahlkreis hingegen dürfte Typ C, der sich fälschlich für responsiv hält, häufiger vertreten sein. Tatsächlich zeigt sich auch bei den nonegalitären Items diese vermutete Verteilung (vgl. Tabelle 39). Wenn auch mit 0,227 einen Zusammenhang von mittlerer Stärke anzeigt, ist dieser Einfluss des Fokus’ auf die Abgeordnetentypen wegen der sehr kleinen Fallzahlen dennoch mit großer Vorsicht zu behandeln. Entsprechend ist der Zusammenhang auch nicht signifikant (p = 0,435) und kann daher nur als Anhaltspunkt betrachtet werden. Tabelle 39: Abgeordnetentypen bei nonegalitären Items nach Fokus
Typ A Typ B Typ Nonegalitäre Items Typ C Typ D Gesamt
Fokus Nation 9 45,0% 6 30,0% 2 10,0% 3 15,0% 20 100,0%
Wahlkreis 11 33,3% 13 39,4% 7 21,2% 2 6,1% 33 100,0%
n = 53 Insgesamt können also die Thesen (33) und (35) nach diesen Ergebnissen nicht bestätigt werden. Über die Wirkung des Fokus’ Partei kann auf Grund der geringen Fallzahlen keine Aussage getroffen werden. Aber es finden sich Anhaltspunkte, dass die Fokusse Nation und Wahlkreis bei den CDU-Abgeordneten anders zu wirken scheinen als erwartet. Nach den – wenn auch meist nicht signifikanten – Ergebnissen dieser Arbeit scheinen Abgeordnete mit dem Fokus Nation insbesondere bei den nonegalitären Items responsiver zu sein und korrekter perzipieren zu können als Abgeordnete mit dem Fokus Wahlkreis. Letztere hingegen sind relativ eindeutig besser in der Lage, die Einstellungen ihrer Mitglieder zu den egalitären Items richtig wahrzunehmen. These (37), nach der sich Abgeordnete mit dem Fokus Partei responsiver fühlen als ihre Kollegen mit dem Fokus Wahlkreis, diese sich wiederum responsiver fühlen als ihre Kollegen mit dem Fokus Nation, kann hinsichtlich des Fokus’ Partei ebenfalls nicht überprüft werden. Für die Wirkung der anderen
3.4 Hypothesenprüfung
241
beiden Fokusse finden sich aber Anhaltspunkte für die Gültigkeit der These: Tatsächlich scheinen sich Abgeordnete mit dem Fokus Wahlkreis subjektiv responsiver zu fühlen als ihre Kollegen mit dem Fokus Nation, obwohl sich dies in der Realität eher umgekehrt verhält. Für den Einfluss der formalen Bildung finden sich keine signifikanten Hinweise, nur Anhaltspunkte. Demnach scheinen Abgeordnete mit einer höheren formalen Bildung objektiv etwas responsiver zu sein. Der Zusammenhang bleibt bei Kontrolle der Herkunft aus Ost oder West erhalten. Bei den Perzeptionen zeigt sich insgesamt keinerlei Einfluss der formalen Bildung der Abgeordneten. Lediglich, wenn man nur die nonegalitären Items betrachtet, scheinen Abgeordnete ohne Hochschulabschluss etwas besser in der Lage zu sein, die hohe Zustimmung der Mitglieder zu diesen Werthaltungen richtig zu perzipieren. Der Zusammenhang ist allerdings nur schwach und nicht signifikant, er bleibt aber bei Kontrolle der Ost-West-Herkunft erhalten. Betrachtet man die subjektive Responsivität der Abgeordneten, zeigt sich insgesamt ebenfalls keinerlei Einfluss der formalen Bildung. Auch bei Kontrolle der Ost-West-Herkunft lässt sich kein Zusammenhang ausmachen. Kontrolliert man aber das Alter der Abgeordneten wird deutlich, dass es sich hier nur um eine scheinbare Nicht-Korrelation handeln könnte. Denn bei den jüngeren Abgeordneten scheint die formale Bildung in die entgegengesetzte Richtung zu wirken wie bei ihren älteren Kollegen. Bei den Abgeordneten, die jünger sind als 51 Jahre, fühlen sich die Akademiker offensichtlich subjektiv responsiver als ihre Kollegen ohne Hochschulabschluss. Bei den älteren Abgeordneten über 50 sind es hingegen die Nicht-Akademiker, die sich selbst für responsiver halten. Betrachtet man die Abgeordnetentypen, ist eine Differenzierung nach Alter wegen der geringen Fallzahlen nicht möglich. Wenn die objektive Responsivität aber tatsächlich zumindest bei den nonegalitären Items nicht von der Bildung abhängt, die Perzeptionen bei den Abgeordneten ohne Hochschulabschluss hier aber besser sind, dann müsste Typ A unter den Nicht-Akademikern, Typ D unter den Akademikern häufiger vorkommen. Tatsächlich zeigt Tabelle 40 einen solchen, allerdings relativ schwachen ( = 0,172) und nicht signifikanten (p = 0,376) Zusammenhang bei den nonegalitären Items.
242
3 Empirischer Teil
Tabelle 40: Abgeordnetentypen bei nonegalitären Items nach formaler Bildung
Typ A Typ nonegalitäre Items
Typ B Typ C Typ D Gesamt
Formale Bildung Kein Hochschulabschluss 9 45,0% 7 35,0% 3 15,0% 1 5,0% 20 100,0%
Hochschulabschluss 26 30,6% 27 31,8% 16 18,8% 16 18,8% 85 100,0%
n = 105 Insgesamt gibt es also schwache Anhaltspunkte, dass These (39), nach der Abgeordnete mit einer höheren formalen Bildung responsiver sind, zutreffen könnte. Die Güte der Perzeptionen scheint zumindest bei den nonegalitären Items bei den formal weniger gebildeten Abgeordneten höher zu sein als bei den Akademikern. Dies ist ein Hinweis, dass These (40) zutreffen könnte. Die Wirkung der formalen Bildung auf die subjektive Responsivität scheint vom Alter abzuhängen. Bei den älteren Abgeordneten gibt es Anhaltspunkte für These (41), nach der sich Abgeordnete mit einer niedrigeren formalen Bildung subjektiv responsiver fühlen als ihre Kollegen mit Hochschulabschluss. Bei den Abgeordneten unter 51 Jahren finden sich Hinweise für den umgekehrten Zusammenhang. Das Geschlecht der Abgeordneten scheint sich vergleichsweise deutlich auszuwirken, allerdings anders als erwartet: Männliche Abgeordnete scheinen signifikant responsiver zu sein als weibliche Bei Kontrolle der Ost-West-Herkunft und des Alters der Abgeordneten bleibt der Zusammenhang erhalten. Dieser Effekt überrascht zunächst, da die bisherigen Analysen ergeben haben, dass weibliche Abgeordnete zumindest bei der Gerechtigkeitsskala etwas egalitärer eingestellt sind als ihre männlichen Kollegen und daher auch stärker mit den Mitgliedern übereinstimmen müssten. Tatsächlich zeigt sich auch, allerdings nicht signifikant, bei den egalitären Items eine höhere objektive Responsivität der weiblichen Abgeordneten. Bei den anderen Fragen sind die weiblichen Abgeordneten aller-
3.4 Hypothesenprüfung
243
dings gerade auf Grund ihrer etwas egalitäreren Einstellungen gegenüber der Mehrheit der Mitglieder objektiv weniger responsiv als ihre männlichen Kollegen. Auch bei den Perzeptionen scheinen die männlichen Abgeordneten besser in der Lage zu sein, die Einstellungen der Mitglieder richtig wahrzunehmen. Der Zusammenhang ist aber eher schwach und nicht signifikant. Bei Kontrolle der Ost-West-Herkunft und des Alters bleibt der Effekt aber erhalten und tritt sowohl bei den egalitären, als auch bei den nonegalitären Items auf. Bei der subjektiven Responsivität zeigt sich ebenfalls ein, wenn auch schwacher, Einfluss des Geschlechts: Die Mehrzahl der weiblichen Abgeordneten fühlt sich subjektiv weniger responsiv. Auch dieser Zusammenhang bleibt bei Kontrolle der Ost-West-Herkunft oder des Alters der Abgeordneten erhalten, ist allerdings nur schwach ausgeprägt und nicht signifikant. Insgesamt gibt es also keine Hinweise, dass die Thesen (42), (43) und (44), nach denen objektive und subjektive Responsivität und Güte der Perzeptionen von weiblichen Abgeordneten höher ist, bestätigt werden könnten. Vielmehr legen die Ergebnisse dieser Arbeit nahe, dass umgekehrt die männlichen Abgeordneten objektiv responsiver sind als ihre weiblichen Kollegen. Auch finden sich zumindest – wenn auch nicht signifikante – Anhaltspunkte, dass dies ebenso für die Güte der Perzeptionen zutrifft. Auch die subjektive Responsivität scheint bei den männlichen Abgeordneten etwas höher zu sein als bei ihren Kolleginnen. Die bisherigen Analysen haben ergeben, dass weniger religiöse Abgeordnete eindeutig nonegalitärer eingestellt sind als stärker religiöse (vgl. Abschnitt 3.4.2. dieser Arbeit). Insofern ist auch ein Einfluss der Religiosität zumindest auf die objektive Responsivität zu erwarten. Es zeigt sich tatsächlich ein verhältnismäßig deutlicher Zusammenhang: Seltene Kirchgänger unter den Abgeordneten sind offensichtlich objektiv responsiver als ihre Kollegen, die mindestens einmal im Monat den Gottesdienst besuchen. Der Zusammenhang ist mit = 0,311 von mittlerer Stärke und fast signifikant (p = 0,068). Er bleibt erhalten, wenn man die Ost-West-Herkunft oder das Alter der Abgeordneten kontrolliert. Betrachtet man die egalitären und nonegalitären Items, wird deutlich, woher dieser Effekt der Religiosität kommt. Bei den egalitären Items sind die häufigen Kirchgänger etwas responsiver. Dies war zu erwarten, denn die bisherigen Analysen haben gezeigt, dass die häufigen Kirchgänger stärker egalitäre Einstellungen vertreten und damit näher an den Einstellungen der Mitglieder liegen. Der Zusammenhang ist allerdings relativ schwach und nicht signifikant. Bei den nonegalitären Items hingegen ist das Verhältnis umgekehrt: Hier sind die seltenen Kirchgänger unter den Abgeordneten signifikant objektiv responsiver. Sie vertreten häufiger nonegalitäre Werthaltungen als ihre Kollegen
244
3 Empirischer Teil
und stimmen so eher mit den Mitgliedern, die diesen Einstellungen sehr stark zuneigen, überein. Die stärkere Zustimmung von weniger religiösen Abgeordneten zu nonegalitären Aussagen führt also quasi automatisch zu ihrer höheren objektiven Responsivität bei diesen Werthaltungen. Die Güte der Perzeptionen der Abgeordneten sollte hingegen von ihren eigenen Werthaltungen unabhängig sein. Dennoch zeigt sich auch hier ein Zusammenhang. Bei den Perzeptionen scheinen die häufigen Kirchgänger nämlich besser in der Lage zu sein, die Einstellungen der Mitglieder richtig wahrzunehmen. Kontrolliert man jedoch die Herkunft aus Ost- oder Westdeutschland der Abgeordneten, verschwindet der Einfluss der Religiosität bei den ostdeutschen Abgeordneten. Bei den westdeutschen hingegen verstärkt er sich deutlich und wird signifikant. Dieser Zusammenhang zeigt sich auch sowohl bei den egalitären, als auch bei den nonegalitären Items, bei beiden Werthaltungen sind religiösere Abgeordnete also besser in der Lage, die Einstellungen der Mitglieder richtig zu perzipieren. Bei der subjektiven Responsivität zeigt sich ebenfalls ein schwacher Einfluss der Religiosität. Häufige Kirchgänger fühlen sich subjektiv etwas responsiver als ihre Kollegen, die seltener zur Kirche gehen. Der Zusammenhang ist zwar nicht signifikant, bleibt aber bei Kontrolle der Ost-West-Herkunft oder des Alters erhalten und tritt sowohl bei den egalitären als auch den nonegalitären Items auf. Insgesamt kann also These (45) nicht bestätigt werden. Statt dessen haben die Untersuchungen relativ deutlich ergeben, dass weniger religiöse Abgeordnete objektiv responsiver sind, was sich wohl vor allem auf ihre stärkere Zustimmung zu nonegalitären Werthaltungen zurückführen lässt. Bei den Perzeptionen hingegen schneiden die religiöseren CDU-Abgeordneten besser ab, These (46) scheint somit zuzutreffen. Religiösere Abgeordnete scheinen sich auch subjektiv responsiver zu fühlen, dies ist ein Anhaltspunkt für die Gültigkeit von These (47). 3.4.4 Zusammenfassung der Ergebnisse Nach der Überprüfung von 62 Thesen über egalitäre und nonegalitäre Einstellungen von CDU-Mitgliedern und -Bundestagsabgeordneten sowie über die objektive Responsivität, die Güte der Perzeptionen und die subjektive Responsivität der Abgeordneten sollen die Ergebnisse abschließend zusammenfassend präsentiert werden (vgl. Tabelle 41)
245
3.4 Hypothesenprüfung
Tabelle 41: Zusammenfassung der Ergebnisse der Überprüfung der Thesen Legende Überprüfungsergebnisse: +: These konnte bestätigt werden, es besteht ein signifikanter Zusammenhang; (+): Anhaltspunkte für Gültigkeit der These, aber kein signifikanter Zusammehang; - keine Anhaltspunkte für Gültigkeit der These
These
Prüfung
EINSTELLUNGEN CDU-MITGLIEDER (1) CDU-Mitglieder vertreten + häufiger nonegalitäre Einstellungen als egalitäre.
Einfluss Herkunft Ost/West (2) CDU-Mitglieder aus Ostdeutschland vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als CDU-Mitglieder aus Westdeutschland. Einfluss Alter (3) Ältere CDU-Mitglieder vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als jüngere. Einfluss Einkommen (4) CDU-Mitglieder mit niedrigerem Einkommen vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als CDU-Mitglieder mit höherem Einkommen.
Bemerkung Bei Mitgliedern geht mit der starken Zustimmung zu nonegalitären Einstellungen nur eine schwache Ablehnung egalitärer Einstellungen einher. Einstellungen werden also nur bedingt als Gegensatz betrachtet.
+
Bei ostdeutschen Mitgliedern werden egalitäre und nonegalitäre Einstellungen noch weniger als Gegensatz betrachtet als bei westdeutschen.
(+)
Gilt für die egalitären Einstellungen. Für die nonegalitären Einstellungen keine Anhaltspunkte für Zusammenhang.
+
Einfluss auf die egalitären Einstellungen stärker als auf die nonegalitären.
246 Einfluss formale Bildung (5) CDU-Mitglieder mit niedrigerer formaler Bildung vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als CDUMitglieder mit höherer formaler Bildung.
Einfluss Geschlecht (6) Weibliche CDU-Mitglieder vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als männliche. Einfluss Religiosität (7) Weniger religiöse CDUMitglieder vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als stark religiöse.
3 Empirischer Teil
+
Gilt für die egalitären Einstellungen. Für die nonegalitären Einstellungen keine Anhaltspunkte für Zusammenhang. Für ostdeutsche Mitglieder mit Hochschulabschluß im Gegensatz zu ostdeutschen Mitgliedern, deren höchster Bildungsabschluss das Abitur ist, Anhaltspunkte für den umgekehrten Zusammenhang: CDUMitglieder mit höherer formaler Bildung vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als CDUMitglieder mit niedrigerer formaler Bildung.
-
(+)
EINSTELLUNGEN CDU-ABGEORDNETE (8) CDU-Abgeordnete des Deut+ schen Bundestages vertreten häufiger nonegalitäre Einstellungen als egalitäre Einstellungen.
Gilt für ostdeutsche Mitglieder. Bei westdeutschen Mitgliedern Anhaltspunkte für den umgekehrten Zusammenhang: Stark religiöse CDU-Mitglieder vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als weniger religiöse. Für die nonegalitären Einstellungen insgesamt keine Anhaltspunkte für einen Zusammenhang. Bei Abgeordneten geht die Zustimmung zu nonegalitären Einstellungen mit einer Ablehnung egalitärer Einstellungen einher. Einstellungen werden also als Gegensatz betrachtet.
247
3.4 Hypothesenprüfung
Einfluss Wohnregion Ost/West (9) CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages aus Ostund Westdeutschland unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer egalitären Einstellungen. Einfluss Alter (10) Ältere CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als jüngere. Einfluss formale Bildung (11) CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit niedrigerer formaler Bildung vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als CDU-Abgeordnete mit höherer formaler Bildung. Einfluss Geschlecht (12) Weibliche CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als männliche. Einfluss Religiosität (13) Weniger religiöse CDUAbgeordnete des Deutschen Bundestages vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als stark religiöse.
-
Anhaltspunkte, dass ostdeutsche Abgeordnete nonegalitären Einstellungen stärker zustimmen als westdeutsche.
+
(+)
(+)
-
Umgekehrter Zusammenhang konnte für jüngere und für westdeutsche Abgeordnete bestätigt werden: Stark religiöse CDUAbgeordnete des Deutschen Bundestages vertreten häufiger egalitäre Einstellungen als weniger religiöse. Auch für ältere und für ostdeutsche Abgeordnete gibt es Anhaltspunkte für diesen Zusammenhang.
248
3 Empirischer Teil
OBJEKTIVE RESPONSIVITÄT CDU-ABGEORDNETE (14) Die CDU-Abgeordneten des + 88% der Abgeordneten stimmen Deutschen Bundestages sind mit der Mehrheit der Mitglieder objektiv responsiv gegenüber überein. ihren Parteimitgliedern, es ist also kein nennenswerter Unterschied zwischen den Einstellungen der Abgeordneten und den Einstellungen der Parteimitglieder festzustellen. GÜTE DER PERZEPTIONEN CDU-ABGEORDNETE (15) Die CDU-Abgeordneten des + 60,8% der Abgeordneten nehmen Deutschen Bundestages nehdie Einstellungen der Mehrheit men die Einstellungen ihrer der Mitglieder richtig wahr. Die Parteimitglieder richtig wahr, nonegalitären Einstellungen der es ist also kein nennenswerter Mitglieder werden von den AbUnterschied zwischen tatsächgeordneten deutlich unterschätzt. lichen und perzipierten EinHier konnte die These bestätigt stellungen der Mitglieder festwerden: Die CDU-Abgeordneten zustellen. des Deutschen Bundestages nehmen die Einstellungen ihrer Parteimitglieder falsch wahr, es ist also ein nennenswerter Unterschied zwischen tatsächlichen und perzipierten Einstellungen der Mitglieder festzustellen. SUBJEKTIVE RESPONSIVITÄT CDU-ABGEORDNETE (16) Die CDU-Abgeordneten des + 71,4% der Abgeordneten glauben, Deutschen Bundestages glauüberwiegend mit den Mitgliedern ben, responsiv zu sein, es ist übereinzustimmen. Bei den egalialso kein nennenswerter Untären Einstellungen glauben die terschied zwischen ihren eigeAbgeordneten, dass die Mitglienen Einstellungen und den der diese deutlich stärker vertreperzipierten Einstellungen der ten als sie selbst. Hier konnte die Mitglieder festzustellen. These bestätigt werden: Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages glauben, nicht responsiv zu sein, es ist also ein nennenswerter Unterschied zwischen ihren eigenen Einstellungen und den perzipierten Einstellungen der Mitglieder festzustellen.
249
3.4 Hypothesenprüfung
TYPEN CDU-ABGEORDNETE (17) Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages glauben zu Recht, responsiv zu sein (Typ A). (18) Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages glauben zu Recht, nicht responsiv zu sein (Typ B). (19) Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages glauben zu Unrecht, responsiv zu sein (Typ C). (20) Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages glauben zu Unrecht, nicht responsiv zu sein (Typ D). Einfluss Wohnregion Ost/West (21) Westdeutsche CDUAbgeordnete des Deutschen Bundestages sind gegenüber westdeutschen Mitgliedern objektiv responsiver als ostdeutsche Abgeordnete gegenüber ostdeutschen Mitgliedern. (22) Die Güte der Perzeptionen von westdeutschen CDUAbgeordneten des Deutschen Bundestages ist höher als die ihrer ostdeutschen Kollegen. (23) Westdeutsche CDUAbgeordnete des Deutschen Bundestages fühlen sich responsiver als ihre ostdeutschen Kollegen. Einfluss Urbanisierungsgrad Wahlkreis (24) CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages aus städtischen Wahlkreisen sind objektiv responsiver als ihre Kollegen aus ländlichen Wahlkreisen.
+
Gilt für die Mehrheit der Abgeordneten.
(+)
Gilt für die drittgrößte Gruppe unter den Abgeordneten.
(+)
Gilt für die kleinste Gruppe unter den Abgeordneten.
(+)
Gilt für die zweitgrößte Gruppe unter den Abgeordneten.
+
+
+
-
Anhaltspunkte für den umgekehrten Zusammenhang: CDUAbgeordnete des Deutschen Bundestages aus ländlichen Wahlkreisen sind objektiv responsiver als ihre Kollegen aus städtischen Wahlkreisen.
250 (25) Die Güte der Perzeptionen von CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages aus städtischen Wahlkreisen ist höher als die ihrer Kollegen aus ländlichen Wahlkreisen. (26) CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages aus städtischen Wahlkreisen fühlen sich responsiver als ihre Kollegen aus ländlichen Wahlkreisen. Einfluss Alter (27) Jüngere CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind objektiv responsiver als ihre älteren Kollegen.
(28) Die Güte der Perzeptionen von älteren CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages ist höher als die ihrer jüngeren Kollegen.
3 Empirischer Teil
-
-
(+)
-
Gilt für westdeutsche Abgeordnete bei den nonegalitären Einstellungen. Für westdeutsche Abgeordnete bei den egalitären Einstellungen Anhaltspunkte für den umgekehrten Zusammenhang: Ältere CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind objektiv responsiver als ihre jüngeren Kollegen. Bei ostdeutschen Abgeordneten keine Anhaltspunkte für einen Zusammenhang. Für westdeutsche Abgeordnete bei den nonegalitären Einstellungen Anhaltspunkte für den umgekehrten Zusammenhang: Die Güte der Perzeptionen von jüngeren CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages ist höher als die ihrer älteren Kollegen. Bei ostdeutschen Abgeordneten keine Anhaltspunkte für einen Zusammenhang.
251
3.4 Hypothesenprüfung
(29) Ältere CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages fühlen sich responsiver als ihre jüngeren Kollegen.
Einfluss Amtsdauer (30) CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit einer kürzeren Amtsdauer sind objektiv responsiver als ihre Kollegen mit einer längeren Amtsdauer.
(31) Die Güte der Perzeptionen von CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit einer längeren Amtsdauer ist höher als die ihrer Kollegen mit einer kürzeren Amtsdauer. (32) CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit einer längeren Amtsdauer fühlen sich responsiver als ihre Kollegen mit einer kürzeren Amtsdauer.
(+)
Gilt für Abgeordnete in der ersten oder zweiten Legislaturperiode bei den egalitären Einstellungen. Insgesamt bei den Abgeordneten in der ersten oder zweiten Legislaturperiode Anhaltspunkte für den umgekehrten Zusammenhang: Jüngere CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages fühlen sich responsiver als ihre älteren Kollegen. Bei Abgeordneten mit längerer Amtszeit keine Anhaltspunkte für einen Zusammenhang.
-
Bei den egalitären Einstellungen Anhaltspunkte für den umgekehrten Zusammenhang: CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit einer längeren Amtsdauer sind responsiver als ihre Kollegen mit einer kürzeren Amtsdauer.
-
(+)
Gilt für Abgeordnete unter 51 bei den egalitären Einstellungen. Insgesamt bei den Abgeordneten unter 51 Anhaltspunkte für den umgekehrten Zusammenhang: CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit einer kürzeren Amtsdauer fühlen sich responsiver als ihre Kollegen mit einer längeren Amtsdauer. Bei den älteren Abgeordneten keine Anhaltspunkte für einen Zusammenhang.
252 Einfluss Fokus und Style (33) CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit dem Fokus Partei sind objektiv responsiver als ihre Kollegen mit dem Fokus Wahlkreis, diese wiederum sind responsiver als ihre Kollegen mit dem Fokus Nation. (34) CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit dem Style Delegate sind objektiv responsiver als ihre Kollegen mit dem Style Trustee. (35) Die Güte der Perzeptionen von CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit dem Fokus Partei ist höher als die ihrer Kollegen mit dem Fokus Wahlkreis, diese wiederum ist höher als die ihrer Kollegen mit dem Fokus Nation.
(36) Die Güte der Perzeptionen von CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit dem Style Delegate ist höher als die ihrer Kollegen mit dem Style Trustee. (37) CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit dem Fokus Partei fühlen sich responsiver als ihre Kollegen mit dem Fokus Wahlkreis, diese wiederum fühlen sich responsiver als ihre Kollegen mit dem Fokus Nation.
3 Empirischer Teil
-
Einfluss des Fokus’ Partei konnte nicht überprüft werden. Anhaltspunkte, dass Abgeordnete mit dem Fokus Nation bei den nonegalitären Einstellungen responsiver sind als ihre Kollegen mit dem Fokus Wahlkreis.
These konnte nicht überprüft werden.
-
Einfluss des Fokus’ Partei konnte nicht überprüft werden. Anhaltspunkte, dass die Güte der Perzeptionen der Abgeordneten mit dem Fokus Nation bei den nonegalitären Einstellungen höher ist die ihrer Kollegen mit dem Fokus Wahlkreis.Anhaltspunkte, dass die Güte der Perzeptionen der Abgeordneten mit dem Fokus Wahlkreis bei den egalitären Einstellungen höher ist als die ihrer Kollegen mit dem Fokus Nation. These konnte nicht überprüft werden.
(+)
Einfluss des Fokus’ Partei konnte nicht überprüft werden. Für die westdeutschen Abgeordneten Anhaltspunkte, dass sich Abgeordnete mit dem Fokus Wahlkreis responsiver fühlen als ihre Kollegen mit dem Fokus Nation.
253
3.4 Hypothesenprüfung
(38) CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit dem Style Delegate fühlen sich responsiver als ihre Kollegen mit dem Style Trustee. Einfluss formale Bildung (39) CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit einer höheren formalen Bildung sind objektiv responsiver als ihre Kollegen mit einer niedrigeren formalen Bildung. (40) Die Güte der Perzeptionen von CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit einer niedrigeren formalen Bildung ist höher als die ihrer Kollegen mit einer höheren formalen Bildung. (41) CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit einer niedrigeren formalen Bildung fühlen sich responsiver als ihre Kollegen mit einer höheren formalen Bildung.
Einfluss Geschlecht (42) Weibliche CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind objektiv responsiver als ihre männlichen Kollegen.
These konnte nicht überprüft werden.
(+)
(+)
Gilt für die nonegalitären Einstellungen der Mitglieder.
(+)
Gilt für Abgeordnete über 50. Bei Abgeordneten unter 51 Anhaltspunkte für den umgekehrten Zusammenhang: CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit einer höheren formalen Bildung fühlen sich responsiver als ihre Kollegen mit einer niedrigeren Bildung.
(+)
Gilt für die egalitären Einstellungen der Mitglieder.Insgesamt konnte umgekehrter Zusammenhang bestätigt werden: Männliche CDU-Abgeordnete sind responsiver als ihre weiblichen Kollegen.
254
3 Empirischer Teil
(43) Die Güte der Perzeptionen von weiblichen CDUAbgeordneten des Deutschen Bundestages ist höher als die ihrer männlichen Kollegen.
-
(44) Weibliche CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages fühlen sich responsiver als ihre männlichen Kollegen.
-
Einfluss Religiosität (45) Stärker religiöse CDUAbgeordnete des Deutschen Bundestages sind objektiv responsiver als ihre weniger religiösen Kollegen.
(46) Die Güte der Perzeptionen von stärker religiösen CDUAbgeordneten des Deutschen Bundestages ist höher als die ihrer weniger religiösen Kollegen. (47) Stärker religiöse CDUAbgeordnete des Deutschen Bundestages fühlen sich responsiver als ihre weniger religiösen Kollegen.
(+)
+
(+)
Anhaltspunkte für den umgekehrten Zusammenhang: Die Güte der Perzeptionen von männlichen CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages ist höher als die ihrer weiblichen Kollegen. Anhaltspunkte für den umgekehrten Zusammenhang: Männliche CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages fühlen sich responsiver als ihre weiblichen Kollegen. Gilt für die egalitären Einstellungen der Mitglieder. Insgesamt Anhaltspunkte für den umgekehrten Zusammenhang: Weniger religiöse CDUAbgeordnete des Deutschen Bundestages sind responsiver als ihrer stärker religiösen Kollegen. Gilt für westdeutsche Abgeordnete. Bei ostdeutschen Abgeordneten keine Anhaltspunkte für einen Zusammenhang.
4 Resümee 4 Resümee 4 Resümee
In dieser Arbeit wurden zwei Bereiche der Politischen Theorie miteinander verknüpft: Die Gerechtigkeitsphilosophie und die Responsivitätsforschung. Es sollte empirisch untersucht werden, welche egalitären und nonegalitären Werthaltungen CDU-Mitglieder und CDU-Abgeordnete des 16. Deutschen Bundestages vertreten, ob Abgeordnete in diesen Einstellungen gegenüber den Mitgliedern objektiv responsiv sind, ihre Einstellungen richtig perzipieren und ob sie sich subjektiv responsiv fühlen. Damit sollte dazu beigetragen werden, drei Forschungslücken zu schließen: Erkenntnisse über egalitäre und nonegalitäre Einstellungen von CDU-Mitgliedern, Erkenntnisse über die Responsivität von Abgeordneten gegenüber Parteimitgliedern und Erkenntnisse über die subjektive Responsivität von Abgeordneten waren bisher kaum vorhanden. So gab es bisher nur wenige repräsentative Studien, in denen die Einstellungen von CDU-Mitgliedern untersucht wurden, keine, in denen der Fokus auf der Bewertung von egalitären und nonegalitären Verteilungsprinzipien lag. Auch ist in der Responsivitätsforschung zwar allgemein akzeptiert, dass in den parlamentarischen Demokratien Europas Responsivität im wesentlichen im Rahmen des „Responsible-Party-Modells“ zu Stande kommt, dennoch gab es nach Wissen der Autorin zumindest in Deutschland bisher keine Studie, die die Responsivität von Abgeordneten gegenüber Parteimitgliedern untersucht. Beide Forschungslücken müssen aber geschlossen werden, will man beurteilen können, ob und wie das Responsible-Party-Modell funktioniert. Denn die Parteien können nur dann, wie in diesem Modell angenommen, erfolgreich Scharnier zwischen Bevölkerung und Parlament sein, wenn eine zweifache Responsivität besteht: Zum einen muss die Partei gegenüber der Bevölkerung, zumindest gegenüber den eigenen Parteianhängern, in einem gewissen Maß responsiv sein. Zum anderen müssen die Abgeordneten gegenüber der Partei hinreichend responsiv sein. Neben Erkenntnissen über die Einstellungen der Bevölkerung oder der Anhänger einer Partei, die in der Regel vorliegen, bedarf es daher Untersuchungen der Einstellungen von Parteimitgliedern und Abgeordneten, um die „Partei-Responsivität“ der Abgeordneten und damit die Wirkweise des Responsible-Party-Modells beurteilen zu können. Das Bewusstsein der Abgeordneten, responsiv oder nicht responsiv zu sein, wurde ebenfalls bisher in keiner der Autorin vorliegenden Studie genauer analysiert. Zwar gibt es Studien, die den Zusammenhang zwischen Einstellungen der Abgeordneten und ihren Perzeptionen der Einstellungen der Mitglieder unter
256
4 Resümee
dem Fokus betrachten, ob und inwiefern sich Einstellungen und Perzeptionen gegenseitig beeinflussen. Aber in keiner dieser Studien wird herausgearbeitet, dass der Korrelationskoeffizient zwischen Einstellungen des Abgeordneten und Perzeptionen zunächst für ein bestimmtes Bewusstsein des Abgeordneten steht, nämlich für seinen subjektiven Glauben, mit den jeweils Repräsentierten in bestimmten Einstellungen konform zu gehen oder andere Einstellungen zu vertreten. Dieses Bewusstsein des Abgeordneten habe ich in dieser Arbeit „subjektive Responsivität“ genannt. Diese Arbeit soll ein erster Schritt darstellen, sich dieser subjektiven Responsivität theoretisch und empirisch zu nähern. Responsivität, im Sinne möglichst hoher Kongruenz von Einstellungen, ist nach Herzog nur auf der Ebene der Grundwerte ein sinnvolles Konzept. Daher wurden in dieser Arbeit die Einstellungen der CDU-Mitglieder und -Abgeordneten zu egalitären und nonegalitären Verteilungsprinzipien untersucht. Solche Werthaltungen sind maßgeblicher Bestandteil von verschiedenen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und gehören damit zur ökonomischen Kultur eines Landes. Wie bei der politischen Kultur auch ist die Übereinstimmung von ökonomischer Kultur und Struktur für die Stabilität eines politischen Systems von entscheidender Bedeutung. Entsprechend wird in der Politik über die „richtigen“ Verteilungsprinzipien, und damit über egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen, gerungen. Sowohl zwischen den Parteien, als auch innerhalb der Parteien. Die Auseinandersetzung zwischen Linken und Seeheimer Kreis in der SPD und zwischen Arbeitnehmer- und Mittelstandsflügel in der CDU prägen die innerparteiliche Diskussion seit Jahrzehnten. Seit dem für die CDU enttäuschenden Bundestagswahlergebnis 2005, das von Anhängern, politischen Gegnern und Wissenschaft als Ergebnis einer als ungerecht empfundenen programmatischen Ausrichtung der Partei im Wahlkampf interpretiert wurde, ist die Diskussion darüber, wie die Partei Gerechtigkeit definiert, neu entbrannt. Daher ist es von hoher Relevanz zu wissen, ob die Abgeordneten bei diesen grundlegenden Werthaltungen gegenüber ihren Parteimitgliedern responsiv sind und ob sie sich responsiv fühlen.Die Ergebnisse dieser Arbeit sind insgesamt eindeutig: Die CDU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind hinsichtlich ihrer egalitären und nonegalitären Einstellungen mit großer Mehrheit responsiv gegenüber ihren Parteimitgliedern. 88% der CDU-Bundestagsabgeordneten stimmen bei den in dieser Arbeit untersuchten Fragen im Schnitt mit mehr als der Hälfte der CDU-Mitglieder aus ihrem Teil Deutschlands überein. Große Differenzen oder gar eine Abgehobenheit der Abgeordneten von ihrer eigenen Parteibasis können auf Grund der Ergebnisse dieser Arbeit also nicht ausgemacht werden. Im Gegenteil: Mitglieder und Abgeordnete sind sich einig, egalitäre Wertvorstellungen eher abzulehnen, nonegalitären eher zuzustimmen. Die ökonomische Kultur der CDU-Bundes-
4 Resümee
257
tagsabgeordneten und die ökonomische Kultur der CDU-Mitglieder sind sich also insgesamt sehr ähnlich. Bei den Nivellierungstypen gehören Abgeordnete und Mitglieder mit überwältigender Mehrheit zu den nonegalitaristischen Typen, strenge, aber auch gemäßigte egalitaristische Positionen kommen nur vereinzelt vor. Wenn auch die für diese Arbeit entwickelte Länderfrage auf Grund der relativ hohen Anzahl an missing values nur bedingt interpretierbar und sicherlich verbesserbar ist, so liefern die Ergebnisse doch zumindest einen deutlichen Hinweis, dass eine große Mehrheit der CDU-Abgeordneten und CDU-Mitglieder eine Nivellierung nach unten ablehnt, auch wenn so mehr Gleichheit erreicht werden könnte. Um das Ringstorffsche Bild wieder aufzunehmen: Abgeordnete und Mitglieder entscheiden sich übereinstimmend gegen trockenes Brot für alle und statt dessen für Brot mit Margarine für alle, Kaviar für einige. Die Abgeordneten sind also insbesondere in der Frage der Nivellierung nach unten, aber auch insgesamt hinsichtlich ihrer egalitären und nonegalitären Einstellungen gegenüber den Mitgliedern responsiv, damit ist eine notwendige Bedingung für das Funktionieren des Responsible-Party-Modells erfüllt. Allerdings unterscheiden sich Abgeordnete und Mitglieder in einem wichtigen Punkt: Während die Abgeordneten egalitäre und nonegalitäre Einstellungen als Gegensatz begreifen, als zwei Pole eines Wertkontinuums, sind aus Sicht der Mitglieder beide Werthaltungen zumindest bedingt miteinander vereinbar. Dies drückt sich vor allem in den Ergebnissen der Gerechtigkeitsskala aus, bei der die Mitglieder im Gegensatz etwa zu der Frage nach der Präferenz zwischen Freiheit und Gleichheit nicht gezwungen waren, sich für eine der beiden Wertvorstellungen zu entscheiden. Hier fällt die Zustimmung und Ablehnung der Mitglieder der egalitären und nonegalitären Aussagen nicht komplementär aus. Mit der gemäßigten Ablehnung der egalitären Werthaltungen durch die westdeutschen Mitglieder geht keine entsprechende gemäßigte Zustimmung zu den nonegalitären Aussagen, sondern eine ausgesprochen starke einher. Mit der ganz schwachen Zustimmung der ostdeutschen Mitglieder zu den egalitären Items geht keine entsprechend schwache Ablehnung der nonegalitären Aussagen einher, sondern eine starke Zustimmung. Vor allem in Ostdeutschland, aber auch in Westdeutschland erachten also die CDU-Mitglieder nonegalitäre auch egalitäre Werthaltungen für zumindest teilweise miteinander vereinbar. Eine Zustimmung zu den einen Aussagen führt nicht zu einer Ablehnung der anderen. Im Gegensatz dazu ist das Antwortverhalten der Abgeordneten von der Vorstellung eines Gegensatzes zwischen egalitären und nonegalitären Werthaltungen geprägt: Gesamtdeutsch lehnen die Abgeordneten die egalitären Aussagen moderat ab und stimmen den nonegalitären moderat zu.Trotz der insgesamt sehr hohen Responsivität der Abgeordneten stimmen also in diesem Punkt Ab-
258
4 Resümee
geordnete und Mitglieder nicht überein: Abgeordnete sehen einen Gegensatz, wo Mitglieder – zumindest in dieser Schärfe – keinen sehen. Dies ist neben der größeren Zahl an Antwortmöglichkeiten auch der Grund dafür, warum die Responsivität der Abgeordneten bei den egalitären und nonegalitären Aussagen der Gerechtigkeitsskala vergleichsweise am geringsten ausfällt. Über Gründe für diese unterschiedliche Sicht von Abgeordneten und Mitgliedern kann an dieser Stelle nur spekuliert werden. Für die Einstellungsmuster der Abgeordneten gibt es naheliegende Erklärungen. Zunächst ist es plausibel, dass sie schlicht inhaltlich überzeugt sind, egalitäre Werthaltungen eher abzulehnen, nonegalitären eher zuzustimmen. Die Programmatik der CDU, die sie im Bundestag vertreten, lässt sich ja auch in diesem Sinne interpretieren (vgl. etwa die Grundsatzprogramme 1997 und 2007). Hierzu passt, dass die ostdeutschen Abgeordneten, die vermutlich noch oft durch die Auseinandersetzung mit einem sozialistischen System geprägt sind, den nonegalitären Einstellungen stärker zustimmen als ihre westdeutschen Kollegen. Hinzu kommt, dass auch in dieser Arbeit bestätigte Einflussfaktoren, die zu einer stärkeren Ablehnung egalitärer Überzeugungen führen, bei den Abgeordneten stärker vorkommen als bei den Mitgliedern: Die Abgeordneten sind jeweils im Schnitt jünger als die Mitglieder, formal höher gebildet und verfügen über ein höheres Einkommen (vgl. Abschnitte 3.2., 3.4.1. und 3.4.2. dieser Arbeit). Außerdem sind es die Abgeordneten als politische Profis vermutlich gewohnt, in Kategorien der politischen Umsetzbarkeit zu denken. Selbst wenn sie also den egalitären Werthaltungen auch einiges abgewinnen können sollten, würden sie vermutlich auch auf die Realisierbarkeit achten. Daher werden sie in der Regel nicht gleichzeitig der Aussage Die Rangunterschiede zwischen den Menschen sind akzeptabel und der Aussage Die Verringerung der Ungleichheit der Verteilung von Vermögen und Einkommen sollte ein wichtiges politisches Ziel sein zustimmen, da sie der Überzeugung sind, nicht beides gleichzeitig politisch verwirklichen zu können. Die Frage, warum die Mitglieder keinen so starken Gegensatz zwischen egalitären und nonegalitären Werthaltungen sehen, ist sicher schwieriger zu beantworten. Einen Hinweis könnte hier die unterschiedliche Wirkung des Einflussfaktors formale Bildung auf egalitäre und nonegalitäre Einstellungen geben. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die nonegalitären Einstellungen von allen Bildungsgruppen gleichermaßen stark vertreten werden, die Zustimmung zu den egalitären Werthaltungen hingegen mit zunehmender Bildung abnimmt. Tabelle 42 verdeutlicht dies noch einmal: Die Zustimmung zu den egalitären Items variiert deutlich mit der formalen Bildung, während sie zu den nonegalitären Items bemerkenswert konstant ist.
259
4 Resümee
Tabelle 42: Durchschnittliche Zustimmung zu den egalitären und nonegalitären Items nach formaler Bildung (Mitglieder)
Mittlere Zustimmung
Egalitäre Items Nonegalitäre Items
Formale Bildung Volks-/ HauptMittlere schule Reife 0,43 -0,27
Abitur -0,60
Hochschulabschluss -0,89
1,44
1,52
1,41
1,61
n = 440 Je geringer also die formale Bildung der Mitglieder ist, um so stärker stimmen sie neben den nonegalitären auch den egalitären Werthaltungen zu. Dies heißt aber auch: Je höher die Bildung der Mitglieder ist, um so mehr begreifen sie egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen als Gegensatz, um so mehr nähern sie sich damit der Sicht der Abgeordneten an. Dies passt zu den Erkenntnissen von Converse und Herbert McClosky, die bereits in den 60er Jahren gezeigt haben, dass die Konsistenz von Überzeugungssystemen mit abnehmender Schulbildung sinkt (Converse 1964: 213f). Je geringer die Bildung ist, um so weniger wird gesehen, welche Konsequenzen ideologische Einstellungen für konkrete politische Handlungsalternativen haben (McCloy 1964: S. 372f). Auf das Thema dieser Arbeit bezogen hieße das also: Je geringer die formale Bildung der CDUMitglieder ist, um so weniger erkennen sie, dass sich egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen nicht gleichzeitig politisch verwirklichen lassen. Ob dies tatsächlich der Grund für das Antwortverhalten vieler Mitglieder ist, müssten weitere Studien zeigen. Auf jeden Fall führt die Tatsache, dass Abgeordnete egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen nicht, die Mitglieder diese aber zumindest teilweise für vereinbar halten, dazu, dass sich auch die meisten Einflussfaktoren auf die objektive Responsivität der Abgeordneten hinsichtlich der egalitären Werthaltungen anders auswirken als auf die objektive Responsivität hinsichtlich der nonegalitären Werthaltungen. So fanden sich Anhaltspunkte, dass ein jüngeres Alter, der Fokus Nation, ein männliches Geschlecht und eine schwächere Religiosität positiv auf die objektive Responsivität bei den nonegalitären Werthaltungen, ein höheres Alter, eine längere Amtsdauer, ein weibliches Geschlecht und eine stärkere Religiosität positiv auf die objektive Responsivität bei den egalitären Werthaltungen auswirken.
260
4 Resümee
Diese unterschiedliche Wirkung der Einflussfaktoren ist zunächst einmal eine logische Folge der Sichtweise der Mitglieder, egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen seien bedingt miteinander vereinbar und der Wirkung dieser Einflussfaktoren auf die Einstellungen der Abgeordneten: Denn wenn zum einen die Mitglieder sowohl egalitären als auch nonegalitären Werthaltungen stärker zustimmen als die Abgeordneten und zum anderen beispielsweise jüngere Abgeordnete deutlich nonegalitärere Haltungen vertreten als ältere, dann sind jüngere Abgeordnete automatisch bei den nonegalitären Werthaltungen objektiv responsiver, ältere bei den egalitären Werthaltungen. Würden hingegen die Mitglieder wie die Abgeordneten egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen als Gegensatz begreifen und beispielsweise den nonegalitären stark zustimmen, die egalitären stark ablehnen, würde sich das Alter der Abgeordneten auf die objektive Responsivität bei den egalitären und nonegalitären Werthaltungen gleich auswirken. Die unterschiedliche Wirkung der Einflussfaktoren auf die objektive Responsivität bei egalitären und nonegalitären Einstellungen ist also ein Produkt der Sichtweise der Mitglieder, diese beiden Haltungen für bedingt miteinander vereinbar zu erachten. Inhaltlich bedeutet dieser Effekt aber, dass offensichtlich die meisten Abgeordneten nicht generell in einem gewissen Maß objektiv responsiv gegenüber den Mitgliedern sind, sondern dass sie entweder gegenüber den egalitären oder gegenüber den nonegalitären Werthaltungen der Mitglieder objektiv responsiver sind. Die meisten Abgeordneten sind also bezüglich ihrer objektiven Responsivität „spezialisiert“. Und die Einflussfaktoren beschreiben, welche Abgeordneten worauf spezialisiert sind: Abgeordnete, die in ihrer objektiven Responsivität auf die nonegalitären Werthaltungen ihrer Mitglieder spezialisiert sind, sind eher jünger, haben öfter den Fokus Nation, sind männlich und weniger religiös; Abgeordnete hingegen, die gegenüber den egalitären Einstellungen ihrer Mitglieder objektiv responsiver sind, sind in der Regel älter, länger im Amt, haben den Fokus Wahlkreis, sind weiblich und stärker religiös. Die Güte der Perzeptionen der Abgeordneten ist ebenfalls relativ hoch: Gut 60,8% der Abgeordneten sind in der Lage, im Schnitt die Einstellungen einer Mehrheit der Mitglieder richtig zu perzipieren. Aber die spezielle Sicht der Mitglieder auf egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen wird von den meisten Abgeordneten nicht erkannt. Die Annahme der Komplementarität zwischen egalitären und nonegalitären Einstellungen, von der sie selbst überzeugt sind, prägt auch ihre Perzeptionen: Sie gehen von einer moderaten Ablehnung ihrer Mitglieder der egalitären Werthaltungen und von einer moderaten Zustimmung zu den nonegalitären Werthaltungen aus – jeweils im Westen etwas stärker, im Osten etwas schwächer. Daher unterschätzen sie die Zustimmung der Mitglieder zu den nonegalitären Einstellungen relativ deutlich. Dies ist ein wichtiger Grund
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dafür, warum die Güte der Perzeptionen der Abgeordneten niedriger ausfällt als ihre objektive Responsivität. Denn die analoge Verwendung des ConcurrenceScores nach Verba/Nie zur Messung der Responsivität und der Güte der Perzeptionen gestattet hier einen direkten Vergleich: Knapp 90% der Abgeordneten sind im Schnitt gegenüber der Mehrheit ihrer Mitglieder responsiv, aber nur gut 60% sind auch in der Lage, im Schnitt die Einstellungen einer Mehrheit der Mitglieder richtig wahrzunehmen. Mehr Abgeordnete sind also responsiv als in der Lage, richtig zu perzipieren – auf diese Formel lässt sich ein weiteres wesentliches Ergebnis dieser Arbeit bringen. Diese vergleichsweise schlechte Wahrnehmungsfähigkeit der Abgeordneten zeigt sich bereits bei den Nivellierungstypen. Hier ist die Güte der Perzeptionen nach den nonegalitären Items am geringsten. Die Frage der Bereitschaft zur Nivellierung nach unten stand hier im Zentrum. Abgeordnete und Mitglieder lehnen dies übereinstimmend mit großer Mehrheit ab. Über ein Drittel der Abgeordneten glaubt aber, dass die Mitglieder eine solche Verschlechterung der Position der Bessergestellten befürworten würden, wenn sie so mehr Gleichheit erreichen könnten. Entsprechend kommt auch Typ D, der unbewusst responsive Abgeordnete, bei dieser Frage am häufigsten vor. Bei den Nivellierungstypen geht es allerdings gleichermaßen um egalitäre und nonegalitäre Prinzipien. Die (perzipierte) Befürwortung der einen geht mit der Ablehnung der anderen einher. Die Analyse der Gerechtigkeitsskala zeigt hingegen, dass die vergleichsweise schlechten Perzeptionen der Abgeordneten wenig mit den egalitären Werthaltungen zu tun haben. Diese Einstellungen lehnen die Abgeordneten moderat, die Mitglieder etwas weniger stark ab, im Osten stimmen sie schwach zu. Dies vermuten die Abgeordneten auch etwa so, die Güte ihrer Perzeptionen ist hier relativ hoch. Bei den nonegalitären Werthaltungen hingegen ist die Konstellation eine andere: Hier vertreten die Abgeordneten selbst eine gemäßigte, im Osten noch etwas höhere, Zustimmung. Sie vermuten, passend zu der perzipierten gemäßigten Ablehnung der Mitglieder der egalitären Aussagen, eine entsprechend moderate, schwächere als ihre eigene, Zustimmung der Mitglieder. In Wirklichkeit aber stimmen die Mitglieder deutlich stärker zu als die Abgeordneten, vor allem im Westen Deutschlands. Die Abgeordneten halten die Mitglieder also für deutlich weniger nonegalitär eingestellt als sie es tatsächlich sind. Abgeordnete, die bei den nonegalitären Items gegenüber den Mitgliedern nicht responsiv sind, sind dies daher auch in der Regel nicht, weil die Mitglieder weniger als sie zustimmen, wie die Abgeordneten glauben, sondern weil die Mitglieder diesen Werthaltungen mehr zustimmen als die Abgeordneten. Die stark nonegalitäre Werthaltungen der CDU-Mitglieder werden also von den Abgeordneten nur in Maßen geteilt, vor allem aber werden sie von ihnen
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nicht erkannt – dies ist ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis dieser Arbeit. Die Gründe hierfür müssten in weiteren Studien genau analysiert werden, über sie kann hier nur gemutmaßt werden. Zur Erklärung der Sicht der Mitglieder könnte die Bedeutung der Einflussfaktoren auf die egalitären und nonegalitären Einstellungen beitragen: Während die egalitären Einstellungen relativ deutlich mit den Merkmalen Ost-West-Herkunft, Alter, Einkommen, Bildung und Religiosität variieren, lässt sich bei den nonegalitären Einstellungen eindeutig nur ein Einfluss der Herkunft aus Ost- oder Westdeutschland nachweisen (vgl. hierzu auch Tabelle 42). Das heißt also: Die Zustimmung zu egalitären Werthaltungen steht und fällt mit soziodemographischen Merkmalen, die bei den CDU-Mitgliedern weitgehend jeweils in dieselbe Richtung wie bei der Bevölkerung insgesamt wirken: Die Zustimmung zu egalitären Einstellungen steigt mit einer ostdeutschen Herkunft, einem höheren Alter, einem niedrigeren Einkommen, einer niedrigeren Bildung und – zumindest in Westdeutschland – mit einer höheren Kirchgangshäufigkeit. Die Zustimmung zu den nonegalitären Aussagen hingegen variiert selbst mit der Ost-West-Herkunft der Mitglieder nur schwach, mit den anderen Merkmalen gar nicht. Vielmehr ist sie in allen soziodemographischen Gruppen an CDU-Mitgliedern gleichermaßen stark. Die nonegalitären Werthaltungen scheinen also zum ideologischen Kernbestand der CDU zu gehören, über den sich Mitglieder in ganz Deutschland, jeden Alters, jeder Schicht und jeder formaler Bildung offenkundig weitgehend einig sind. Und Einigkeit bedeutet hier auch, die die Mitglieder diesen Einstellungen übereinstimmend sehr stark zustimmen und sie sich damit deutlich von den Überzeugungen der Bevölkerung in dieser Frage unterscheiden. Insofern nehmen die CDUMitglieder bei diesem Thema also eine ideologisch polarisierte Position ein. Die bestätigt die Thesen Gerhard Lehmbruchs, der von einer besonders starken Polarisierung der mittleren Parteiaktivisten als Träger des [politischen] Konflikts ausgeht, während Wählerschaft und Führungsspitzen in Partei und Parlament deutlich konsensorientierter agierten (Lehmbruch 1969: 305f). Wenn nonegalitäre Werthaltungen aber tatsächlich eine derart identitätsstiftende Rolle für CDU-Mitglieder einnehmen, dann könnte dies auch eine Erklärung dafür sein, warum die Parteibasis der CDU enttäuscht von der Politik der Großen Koalition ist. Nach dem Leipziger Parteitag 2003, auf dem die Reformkonzepte Roman Herzogs und Friedrich Merz’ verabschiedet wurden, und nach einem eindeutig nonegalitär geprägten Wahlkampf ist für die CDU die Kluft zwischen programmatischem Anspruch vor der Wahl und realisierter Politik nach der Wahl bei politischen Projekten, die auf nonegalitären Werthaltungen basieren, vermutlich am größten. Die Tatsache, dass die CDU-Mitglieder gerade diesen Einstellungen übereinstimmend besonders stark zustimmen, verdeutlicht die für die parteiinterne Identität schwierige Lage der CDU in der Großen Koalition.
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Aber auch diese Vermutungen erklären nicht die schlechten Perzeptionen der Abgeordneten in diesem Bereich. Neben der bereits erläuterten Annahme, dass die Abgeordneten die Gegensätzlichkeit von egalitären und nonegalitären Werthaltungen, von der sie selbst überzeugt sind, auch auf ihre Perzeptionen übertragen und daher aus einer perzipierten gemäßigten Ablehnung der egalitären Aussagen auf eine gemäßigte Zustimmung zu den nonegalitären Aussagen schließen, kann der Irrtum der Abgeordneten nach Auffassung der Autorin auch als eine Reaktion auf den Bundestagswahlkampf 2005 interpretiert werden. Die Abgeordneten sind von dem Verlauf dieses Wahlkampfs und seinem schlechten Ergebnis verunsichert, so die Hypothese. Sie sind der Überzeugung, dass sie mit ihren nonegalitären Werthaltungen mit dem Rücken zur Wand und noch nicht einmal die eigenen Parteimitglieder ihnen wirklich zur Seite stehen. Ihre Erfahrung aus dem Bundestagswahlkampf 2005, dass man mit allzu nonegalitären Werthaltungen keine Mehrheit der Bevölkerung gewinnen kann, übertragen sie auf ihre Parteimitglieder – und liegen damit offenkundig falsch. Sollte dies wirklich so zutreffen, wären für die CDU-Bundestagsabgeordneten die Nachwirkungen des Bundestagswahlkampfs 2005 also immer noch und vermutlich auch noch für einige Zeit zu spüren. Und zwar unabhängig davon, ob diese Konsequenz der Abgeordneten aus dem Wahlkampf auf Tatsachen oder – wie offensichtlich im Fall der Parteimitglieder – auf falschen Annahmen basiert. Wirkmächtig dürfte es auf jeden Fall sein. Denn das Bewusstsein des Abgeordneten, dass seine Einstellungen nicht mit denen der Mitglieder übereinstimmten, kann falsch oder richtig sein. Aber unabhängig davon erscheint es auf jeden Fall hoch plausibel, dass dieser subjektive Glaube Auswirkungen auf das Verhalten des Abgeordneten hat.99 Die knapp 40% der Abgeordneten, die beispielsweise davon ausgehen, dass ihre in der Regel moderate Ablehnung der egalitären Werthaltungen von ihrer Parteibasis geteilt wird, werden sich vermutlich anders verhalten als die knapp 55% der Abgeordneten, die glauben, die Mitglieder stimmten diesen Aussagen stärker zu 99
Dabei geht die Autorin allerdings davon aus, dass es einen Zusammenhang zwischen den Einstellungen eines Abgeordneten und seinem Verhalten, beispielsweise seinen öffentlich vertretenen Einstellungen, gibt. Es ist selbstverständlich auch vorstellbar, dass ein Abgeordneter völlig unabhängig von seinen eigenen Werthaltungen genau die Einstellungen nach außen vertritt, die er für mehrheitsfähig in seiner jeweiligen Zielgruppe hält. In diesem Fall wären seine eigenen Einstellungen und damit die subjektive Responsivität für sein Verhalten unerheblich und wären seine Perzeptionen identisch mit den möglichen Werthaltungen, die er öffentlich vertritt. Ein solches Verhalten dürfte dem entsprechen, was gemeinhin mit der Bezeichnung „Populismus’“ gemeint ist. Eine Untersuchung der subjektiven Responsivität von Abgeordneten ist nur sinnvoll, wenn man postuliert oder empirisch nachweist, dass ein nennenswerter Anteil der Abgeordneten nicht in diesem Sinne rein populistisch agiert, sondern dass Abgeordnete es zumindest vorziehen, nach außen Einstellungen zu vertreten, von denen sie auch selbst überzeugt sind.
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als sie selbst, aber auch anders als die gut sechs Prozent der Abgeordneten, die bei den Mitgliedern eine schwächere Zustimmung als ihre eigene vermuten. Auswirkungen der subjektiven Responsivität sind auf folgenden Ebenen zu erwarten:
Auf der Bewusstseinsebene des Abgeordneten: Wie selbstbewusst und authentisch vertritt der Abgeordnete seine Einstellungen? Vertritt er sie defensiv, offensiv oder überhaupt nicht? Versucht er Überzeugungsarbeit zu leisten, erwartet er, die Mitglieder bei bestehenden Überzeugungen abzuholen oder erwartet er keine Zustimmung? Auf der Ebene des Agenda-Settings: Mit welchen Themen versucht sich der Abgeordnete zu profilieren? Welches Fachgebiet, welchen Ausschuss wählt er sich aus? Welche Themen kommuniziert er innerparteilich? Welche Aspekte eines Themas hebt er besonders hervor? Mit welchen Themen zieht er in den Wahlkampf? Auf der Ebene der Umsetzung: Zu welchen Themen versucht der Abgeordnete Initiativen zu ergreifen? Welche Themen hält er für innerparteilich durchsetzungsfähig? Versucht er, bestimmte Maßnahmen mehrheitsfähiger zu machen, z. B., indem er sie „sozial abfedert“?
Neben der objektiven Responsivität, die vor allem Auswirkungen darauf hat, ob sich die Repräsentierten von ihrem Repräsentanten gut repräsentiert fühlen, und der Güte der Perzeptionen, die sich vor allem auf die Fähigkeit des Abgeordneten auswirken, zielsicher Themen aufzugreifen und Einstellungen zu artikulieren, die der jeweiligen Zielgruppe wichtig sind, sind bei der subjektiven Responsivität also vor allem Auswirkungen darauf zu erwarten, wie und mit welchen Themen sich der Abgeordnete nach außen darstellt. Derartige Auswirkungen der subjektiven Responsivität sind selbstverständlich nicht nur in Bezug auf die Responsivität eines Abgeordneten gegenüber seiner Parteibasis zu erwarten, sondern gegenüber allen Gruppen, gegenüber denen die Responsivität eines Abgeordneten relevant sein kann, also beispielsweise gegenüber den Bürgern allgemein, den Bürgern des Wahlkreises eines Abgeordneten oder gegenüber seinen eigenen Wählern. In Bezug auf die Ergebnisse dieser Arbeit kann beispielsweise erwartet werden, dass die knapp 55% der CDU-Bundestagsabgeordneten, die davon ausgehen, die Mitglieder stimmten egalitären Werthaltungen stärker zu als sie selbst und dass das knappe Drittel der Abgeordneten, die vermuten, die CDU-Mitglieder stimmten den nonegalitären Einstellungen schwächer zu als sie selbst, ihre eigenen, in der Regel gemäßigt nonegalitären Einstellungen für parteiintern nur schwer vermittelbar halten. Diese Abgeordneten werden vermutlich auch davon
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ausgehen, dass nonegalitäre Inhalte, wie beispielsweise das Steuerkonzept Friedrich Merz’ oder gar Paul Kirchhofs oder das Konzept der Gesundheitsprämien nach Roman Herzog innerhalb der Partei nicht mehrheitsfähig sind. In diesem Bewusstsein werden die Abgeordneten vermutlich zu unterschiedlichen Strategien neigen. Eine Gruppe wird dafür plädieren, innerhalb der Partei Überzeugungsarbeit für eine nonegalitärere programmatische Ausrichtung zu leisten, eine andere Gruppe dürfte eine Anpassung der Programmatik an die perzipierte Mehrheitsmeinung befürworten. Eventuell gibt es auch Abgeordnete, die für eine nonegalitäre programmatische Ausrichtung der Partei unabhängig von den perzipierten egalitäreren Einstellungen der Mitglieder plädieren. Dies sind aber letztlich nur Mutmaßungen. Es bedarf dringend empirischer Untersuchungen, welche Auswirkungen das Bewusstsein von subjektiver Responsivität auf Politiker hat. Dabei ist es nach Überzeugung der Autorin für die Erklärung des Verhaltens des Abgeordneten sogar zweitrangig, ob dieses Bewusstsein der Abgeordneten richtig oder falsch ist. Denn dieser Abgleich zwischen objektiver und subjektiver Responsivität ist letztlich nur in wissenschaftlichen Studien möglich. Der einzelne Abgeordnete führt in der Regel aber keine solchen Studien durch; auch Wahlen, die ihn noch am ehesten wissen lassen, inwiefern sein Bewusstsein seiner subjektiven Responsivität von der Realität gedeckt ist, dürften auf Grund der vielfältigen Faktoren, die das Ergebnis beeinflussen, aus Sicht des Abgeordneten keine gesicherte Erkenntnis über die eigene objektive Responsivität ermöglichen. Der Abgeordnete weiß also in aller Regel nicht, ob er objektiv responsiv ist. Er weiß nur, ob er sich subjektiv responsiv fühlt. Möchte man also das Verhalten von Abgeordneten erklären, ist offenkundig nicht die objektive, sondern die subjektive Responsivität ein möglicherweise entscheidender erklärender Faktor. Der Abgleich zwischen objektiver und subjektiver Responsivität, also die Frage, ob der Abgeordnete mit seinem Bewusstsein, responsiv oder nicht responsiv zu sein, richtig liegt, ist erst dann relevant, wenn man erklären möchte, wie das Verhalten des Abgeordneten bei der jeweiligen Zielgruppe wirkt. Hierfür ist es natürlich wichtig zu wissen, ob der Abgeordneten mit seinen Einschätzungen der Einstellungen der repräsentierten Gruppe und damit mit seiner subjektiven Responsivität richtig oder falsch liegt. Bei einer solchen Analyse muss also auch automatisch die Güte der Perzeptionen der Abgeordneten untersucht werden. Bleibt man also nur auf der Ebene der Abgeordneten, ist nach Überzeugung der Autorin die subjektive Responsivität ein entscheidender erklärender Faktor. Geht man einen Schritt weiter und bezieht auch die Wirkung des Verhaltens des Abgeordneten bei der jeweiligen repräsentierten Gruppe mit ein, werden auch die objektive Responsivität und die Güte der Perzeptionen des Abgeordneten zu wichtigen Faktoren.
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Bei der Analyse der subjektiven Responsivität von Abgeordneten konnte diese Arbeit nur einen Anfang machen. Neben der konzeptionellen Entwicklung dieses Begriffs und der Begründung seiner Bedeutung wurde in dieser Arbeit das Vorhandensein von subjektiver Responsivität bei CDU-Abgeordneten untersucht und wurde die subjektive Responsivität als abhängige Variable betrachtet, um so mögliche Einflussfaktoren zu analysieren. Insgesamt ist die subjektive Responsivität der CDU-Bundestagsabgeordneten der 16. Wahlperiode relativ hoch, gut 70% glauben in der Mehrheit der untersuchten Fragen dieselben Positionen zu vertreten wie ihre Mitglieder. Ein eindeutiger Einfluss konnte lediglich für die Herkunft aus Ost- oder Westdeutschland gezeigt werden: Westdeutsche Abgeordnete fühlen sich eindeutig responsiver als ihre Kollegen aus Ostdeutschland. Lediglich Anhaltspunkte ergab die empirische Analyse dafür, dass Abgeordnete sich um so responsiver fühlen, je jünger sie sind, je kürzer ihre Amtsdauer ist, wenn der Fokus ihrer Arbeit der Wahlkreis ist, wenn sie männlichen Geschlechts und stark religiös sind. Die Wirkung der Bildung scheint vom Alter abzuhängen, bei den jüngeren Abgeordneten gibt es Anhaltspunkte, dass sich die formal höher gebildeten responsiver fühlen, bei den älteren Abgeordneten die formal niedriger gebildeten. Diese Ergebnisse zu bestätigen oder zu falsifizieren, sie für Abgeordnete anderer Fraktionen oder anderer Parlamente oder die Responsivität von Abgeordneten gegenüber anderen Zielgruppen zu untersuchen bleibt ebenfalls weiteren Forschungsarbeiten überlassen. Sobald sowohl die objektive Responsivität, die Güte der Perzeptionen und die subjektive Responsivität von Abgeordneten untersucht werden, lassen sich auch Aussagen über die Verteilung der Typen unter den Abgeordneten treffen. Diese Arbeit hat ergeben, dass Typ A, der gegenüber den Parteimitgliedern bewusst responsive Abgeordnete, unter den CDU-Bundestagsabgeordneten in Bezug auf egalitäre und nonegalitäre Werthaltungen am häufigsten vorkommt. Mit Abstand, aber immerhin am zweithäufigsten lassen sich die Abgeordneten Typ D, dem unbewusst responsiven Abgeordneten, zuordnen. Dieser Typ ist demokratietheoretisch sicherlich am interessantesten: Er vertritt dieselben Positionen wie seine Mitglieder, ist also objektiv responsiv, ist sich dessen aber nicht bewusst. Er sieht eine Kluft zwischen sich und seinen Mitgliedern, wo keine ist. Nimmt man möglichst große objektive Responsivität als Ideal an, kann man über diesen Typ Abgeordneten sagen: Er ist besser, als er glaubt. An dieser Stelle drängen sich Fragen auf: Kommen unbewusst responsive Abgeordnete nur unter CDU-Bundestagsabgeordneten gegenüber CDU-Mitgliedern in nennenswerter Zahl vor? Oder auch in anderen Fraktionen und/ oder gegenüber anderen repräsentierten Gruppen? Sind CDU-Abgeordnete nur bei sozialpolitischen Themen teilweise unbewusst responsiv – hierfür sprechen die Ergebnisse Gabriel/Brettschneider/Kunz’ und die prägende Erfahrung des
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letzten Bundestagswahlkampfs – oder gibt es dieses Phänomen auch in Hinblick auf andere Themen? Es ist die Aufgabe künftiger Studien, mehr über die Verbreitung und die Eigenschaften der unbewusst responsiven Abgeordneten in Erfahrung zu bringen.
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Anhang – Fragebogen100 Anhang – Fragebogen
100 Auf den Originalfragebögen waren Kontaktdaten der Verfasserin angegeben (Adresse, Telefonnummer, E-Mailadresse). Diese sind in der Dokumentation hier unkenntlich gemacht.
Anhang 1 – Fragebogen der Abgeordnetenbefragung
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Anhang 2 – Fragebogen der Mitgliederbefragung
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