Fieberreigen Phantastische Geschichten aus den Niederlanden
Herausgegeben von Rein A. Zondergeld Aus dem Niederländisc...
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Fieberreigen Phantastische Geschichten aus den Niederlanden
Herausgegeben von Rein A. Zondergeld Aus dem Niederländischen von Holger E. Wiedenstried
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
Der Verlag dankt dem Nederlands Literair Produktie- en Vertalingenfonds für die Unterstützung dieses Buches. 1. Auflage im August 2006 © 2006 für diese Ausgabe Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin Wir bedanken uns bei den Autoren, Verlagen und anderen Rechteinhabern für die freundliche Genehmigung zum Abdruck (siehe Autoren- und Quellenverzeichnis).
Umschlaggestaltung: Julie August unter Verwendung des Gemäldes Schubert and the language of birds, 2000 (oil & tempera on panel) by – Broomfield, Frances (Contemporary Artist) / © Frances Broomfield / Portal Gallery, London. The Bridgeman Art Library. Einbandmaterial von Ernstmeier, Herford. Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier (Schleipen) und gebunden von Clausen & Bosse, Leck. Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. ISBN-13: 978 3 8031 1240 8 ISBN-10: 3 80311240 0
Unheimliche Geschichten aus längst vergangenen und aus unseren Tagen. Das Grauen lauert immer und überall: Ein Gehenkter kehrt ins Leben zurück, ein junger Mann vermag in der Oper seinen Augen nicht zu trauen, ein Kinobesucher muß entdecken, daß jemand den unvergeßlichen Traum, den er als Sechzehnjähriger hatte, für einen Film gestohlen hat, in einem tropischen Land schrumpft ein fiebernder Soldat auf unheimliche Weise zur Mumie. Wer mit den Niederlanden nur Beschaulichkeit vor weitgezogenen Horizonten verbindet, wird mit diesem repräsentativen Querschnitt durch die niederländische phantastische Literatur der letzten zweihundert Jahre eines Besseren belehrt.
Vorwort
Was lange währt, wird endlich gut, so eine deutsche Redeweise. Ob diese Anthologie, die erste in ihrer Art im deutschen Sprachraum, gut geworden ist, mögen andere beurteilen. Daß es lange gedauert hat, bevor sie zustande kam, kann ich bezeugen. Darum hat es mich umso mehr gefreut, daß der Verlag Klaus Wagenbach den Mut hatte, der anderen fehlte, denn es ist mir immer ein Bedürfnis gewesen, die Literatur meiner Heimat, nicht zuletzt das mir am Herzen liegende Genre der Phantastik, in meiner zweiten Heimat, Deutschland, zu fördern. Zu danken ist den Rechteinhabern, insbesondere Frau Mieke Vestdijk-van der Hoeven, Bouke B. Jagt und Hans Koekoek. Ich hoffe vor allem, daß der deutsche Leser den Reichtum der niederländischen Phantastik genießen möge, auch in dieser knappen Auswahl, und daß er auch in Zukunft die Möglichkeit haben wird, manche der hier vertretenen oder aufgrund des Raummangels leider nicht vertretenen Autoren näher kennenzulernen.
Die Geschichte der phantastischen Literatur in den Niederlanden ist noch nicht geschrieben. Auch wenn einige der bedeutendsten Autoren wie Louis Couperus, Simon Vestdijk und Ferdinand Bordewijk Wesentliches zum Genre beigetragen haben, steht seine wissenschaftliche Erkundung noch aus. Insbesondere die Anfänge zur Zeit des Schauerromans und der Romantik blieben bisher weitgehend unerforscht. Ein gutes Beispiel einer veritablen romantischen Gespenstergeschichte, wenn auch eher ironisch in der
Darstellung, ist die 1859 erschienene Erzählung Een vertelling van Mejuffrouw Stauffacher (Eine Erzählung von Fräulein S.) des zu Recht bis heute gelesenen Verfassers historischer Romane Jacob van Lennep (1802-1868). Einige Jahre früher, 1847, erschien die wahrhaft schockierende Kurzgeschichte Alexander Ver Huells (1822-1897), mit der diese Anthologie auf würdige Weise eröffnet wird. Die phantastische Literatur der Jahrhundertwende ist hier durch Louis Couperus (1863-1923) vertreten. Dessen berühmteste Beiträge zum Genre sind die späte Erzählung De binocle (Das Opernglas) und der in Niederländisch-Ost-Indien spielende Roman De stille kracht (Die stille Kraft, 1900), der auf fesselnde Weise den vergeblichen Kampf eines hohen niederländischen Beamten auf Java gegen die stille Kraft des Orients schildert. Eine phantastische Erzählung für sich und einen Höhepunkt dieses mehrfach ins Deutsche übersetzten Romans stellt der zweite Teil des sechsten Kapitels dar, in dem die Frau des Beamten, Lenie, im Bad wie von Geistermündern mit dem blutroten Saft der Sirinüsse bespuckt wird. Neben Couperus trat in dieser Zeit vor allem Arthur van Schendel (1874-1946) in den Vordergrund, dessen andeutungsreicher, lyrisch-impressionistischer Stil ihn zu einem phantastischen Erzähler par excellence zu prädestinieren scheint. Seinem späten Band Nachtgedaanten (Nachtgestalten, 1938) wurde die hier abgedruckte Geschichte entnommen. Einen Neuanfang in der Entwicklung der niederländischen Phantastik nach dem Ersten Weltkrieg machte Ferdinand Bordewijk (1884-1965), der 1919-1924 mit drei Bänden Fantastische Vertellingen als Prosaist debütierte. Nahezu das gesamte Werk des Autors, der seinen Stil später von überflüssigem Beiwerk reinigte und zum wichtigsten Vertreter der neuen Sachlichkeit und des magischen Realismus wurde, weist phantastische oder surreale Züge auf. Bordewijks anfängliche Bewunderung für die
deutsche Phantastik seiner Zeit, Ewers, Strobl oder Meyrink, wurde von seinem wohl berühmtesten Zeitgenossen, Simon Vestdijk (1898-1971), geteilt, dessen Vorliebe für das Phantastische sich in vielen Erzählungen und Romanen niedergeschlagen hat. Besonders hervorzuheben wären hier die Romane De zwarte ruiter (Der schwarze Reiter, 1940), De hellner en de levenden (Der Kellner und die Lebenden, 1949) und Het spook en de schaduw (Das Gespenst und der Schatten, 1966). Vestdijk liebt die Welt des Ambivalenten, das terrain vague, immer wieder sind die Handlungsverläufe uneindeutig und stehen Helden wie Leser am Scheideweg.
Der bis heute auch als Lyriker ungemein populäre Jan Jacob Slauerhoff (1898-1936) publizierte 1932 ein Hauptwerk der europäischen Phantastik seiner Zeit, den Roman Het verboden rijk (Das verbotene Reich), der in der deutschen Übersetzung von Albert Vigoleis Hielen vorliegt. Ähnlich vertrackt in ihrer Struktur ist die Novelle Het einde van het lied aus dem Band Schuim en as (Schaum und Asche, 1932), die erst nach wiederholter Lektüre ihre Geheimnisse preisgibt. Die niederländische Literatur der Nachkriegszeit hat in Jan Wolkers (* 1925) einen ihrer berühmtesten Vertreter gefunden. Wolkers’ Grundproblematik ist eine sehr niederländische, die Befreiung aus dem Korsett einer puritanisch-calvinistischen Erziehung. Zwar kommen seine Erzählungen ohne das Übernatürliche aus, aber häufig sprengen sie als schockierende Horrorgeschichten den Rahmen des Realistischen. Während Hans Koekoek (* 1939) mit Autoren wie Roald Dahl verglichen werden kann, hat sich der 1942 geborene Bouke B. Jagt in seinem beklemmenden Debüt De Muskietenoorlog (Der Moskitokrieg, 1978) einem heute weitgehend vergessenen Kolonialkonflikt, dem Neu-Guinea-Krieg (1950-1962)
gewidmet. Die Erzählung Koortsdansen (Fieberreigen), die diesem Band entstammt und die hier in einer vom Autor zur Verfügung gestellten Neufassung zum ersten Mal erscheint, rechne ich zu den Höhepunkten moderner niederländischer Phantastik. Deren Spektrum reicht vom andeutungsreichen magischen Realismus bis zum blutigen Horror, von dunkler Rätselhaftigkeit bis zur grotesken Komik und vermag daher den Leser, hoffentlich auch den deutschsprachigen, immer wieder zu verblüffen. Rein A. Zondergeld, Göttingen, im Mai 2006
Alexander Ver Huell Hoogewoerd No. 470
Die roten Bohlen des Schafotts glänzten vom Regen. Am Galgen hing ein Mann wie leblos, unbeweglich. Das nasse Haar klebte an seiner Stirn, unter den geschlossenen Lidern waren die Augäpfel hoch aufgequollen und die Finger seiner Hände, die er zum Gebet gefaltet hatte, als der Henker sie fesselte, hatten sich krampfhaft aufgerichtet. Es gab nur wenig Wind, und man hörte das leise Prasseln der fallenden Nässe auf den Boden und auf die Blätter der Bäume, denn die vereinzelten Erwachsenen und Kinder, die beim Schafott stehen blieben, sprachen nur flüsternd, so sie es denn taten. Endlich kam ein Karren angefahren, mit einem Pferd bespannt und zwei Reitern daneben. Der Gehängte wurde abgeschnitten, in eine Kiste gelegt und auf die Karre geladen, die in schnellem Trab wieder davonfuhr. Die Kinder kletterten auf das Schafott und spielten auf der Leiter und glitten über die roten Bohlen, die vom Regen glänzten.
Es ist Nacht. Große Wolkenungetüme steigen wie Geister von den dunklen Horizonten herauf, schweben an der bleichen Scheibe des Mondes entlang und verschwinden wiederum im Dunkel. Der Sturm heult über den Dächern und läßt die Wetterfahnen knarrend kreischen. Die Straßen sind leer und öde, und in den Grachten plätschert und gluckst das schwarze, kalte Wasser. In einem der unteren
Säle des Anatomiegebäudes stehen drei ungestrichene Tische nebeneinander. Dann und wann fällt ein bläulicher Lichtstrahl durch das hohe Fenster und bescheint den steinernen Boden des Raumes und einen Teil der weißen Wände. Das bleiche Mondlicht fällt dann auch auf die drei Tische. Auf dem ersten Tisch liegt der Körper eines Mannes, der eines Mädchens auf dem zweiten, der dritte Tisch ist leer. Der Körper des Mannes ist ganz entkleidet, die Finger und Zehen sind krampfhaft aufgerichtet; es ist der des Gehängten. Die Glieder des Mädchens sind teilweise von einem schwarzen Tuch bedeckt. Ihr Kopf hängt über den Rand des Tisches hinab, der Mund ist halb geöffnet und zwischen den bleifarbenen Lippen blitzen schneeweiße Zähnchen. Der Wind pfiff und seufzte an den Fensterscheiben entlang und jagte hoch am Himmel die grauen Wolken ungestüm vor sich her. Jetzt plötzlich ist der ganze Saal im Dunkeln, dann wieder von einem fahlen Licht überströmt. Auf einmal läßt sich das Geklapper eines Schlüssels hören, die Tür wird geöffnet und eine in einen Mantel gewickelte Gestalt kommt herein. Der Mond bricht durch die Wolken. Es ist ein Jüngling, lang und bleich. Er steht vor dem Körper des Mannes und hält ihm mit der einen Hand ein Riechfläschchen unter den Mund, während er ihm die andere auf die Brust legt. »Ha!« schreit der bleiche Jüngling, »endlich!« Und es war, als ob ein Echo grinsend diesem Ausruf nachhallte. »Ha! Endlich ein Mensch, ein Körper, der mein ist. Jetzt endlich durfte ich dem tötenden Druck des Strickes zuvorkommen; und nun kann ich den so sehr herbeigesehnten Versuch durchführen, der, falls er gelingt, mich ewigen Ruhm und einen unsterblichen Namen erringen läßt.«
Der bleiche Jüngling schnellte nach draußen, hastete vorbei an den einsamen Grachten und verschwand im Labyrinth der dunklen Straßen. Der Körper des Gehängten begann sich zu bewegen: Die Brust ging zunächst kaum merklich und danach mit Kraft auf und ab, seine Lippen öffneten sich, er stieß einen tiefen Seufzer aus. Dann richtete er sich langsam auf, brachte die Hände an den Hals und sah mit roten, aufgequollenen, wesenlosen Augen um sich her. Zu gleicher Zeit betrat der bleiche Jüngling wieder den Saal. Er trug einen Korb mit allerhand Werkzeugen und Flaschen. Mit einem Satz war er bei dem sitzenden Mann, riß ihn nach hinten und fesselte seine Hände und Füße an den Tisch. Darauf riß er ihm den Mund auf und steckte ein Tuch hinein.
Die Nacht ging vorüber, der Sturm legte sich, der Himmel klarte auf und als des Morgens die Sonne ihre güldenen Strahlen in den Anatomiesaal warf, beschien sie die zwei Leichen, die noch auf denselben Tischen lagen. Der Kopf des Mädchens hing hintenüber, und zwischen ihren bleifarbenen Lippen blitzten die schneeweißen Zähnchen. Die Leiche des Mannes lag auch noch da, jedoch nur der Körper ohne Kopf.
Ungefähr einen Monat danach saß derselbe bleiche Jüngling in seinem Studierzimmer, umringt von Büchern, Instrumenten und Flaschen, die mit allerhand Objekten in Liquor gefüllt waren.
Er erhob den Blick vom Folianten, in dem er gerade las, um nach einer altmodischen Uhr zu sehen, die vor ihm an der Wand hing. »Halb zwölf. Mein Freund ARSINIUS wird heute nicht kommen; für andere ist es zu spät, und mein Zimmerwirt schläft bereits seit langem: ich kann unbesorgt mein wissenschaftliches Experiment fortsetzen.« An der Wand stand ein Bücherschrank aus Eichenholz; diesen schob er beiseite, hob einen losgeschnittenen Teil der Stofftapete hoch und nahm behutsam eine Art hölzerner Kiste aus einem Loch, das aus dem Stein herausgebrochen war. Er stellte sie auf den Tisch, schlug die Arme übereinander und starrte sinnend darauf. Ein teuflisches Lächeln der Selbstzufriedenheit zeichnete sich um die dünnen Lippen des bleichen jungen Mannes ab. »Das würde die unaufgeklärte Menschheit, die beschränkte Masse, Sünde nennen. – Das Leiden eines Einzigen zum Nutzen aller. – Und es heißt nicht Sünde, wenn ein Gewaltherrscher Tausende umkommen läßt, um seine Ehrsucht zu befriedigen, um seine Macht zu vergrößern – und heißt nicht Sünde, wenn das eine Volk das andere den Schrecken einer Belagerung oder dem grauenerregenden Hungertod preisgibt, und das – nur! –, um eine Grenzlinie auf der Landkarte um ein paar Zoll zu verlängern. Sünde! – Was ist Sünde für den, der die Überzeugung hat, daß die Seele, die das Leben ist, nicht mit dem Körper zunichte geht und daß allein der Ruhm Unsterblichkeit geben kann.«
Der bleiche Jüngling hob den Aufbau der Kiste ab, und ein Menschenkopf wurde sichtbar. Es war der Kopf des Gehängten.
Die Wangen waren gräßlich bleich und eingefallen, die Lippen des aufgesperrten Mundes, in den ein Tuch gesteckt war, sahen jedoch rötlich aus. Unten am Hals waren allerhand Fläschchen und Blasen und Drähte befestigt, die mit einem weiteren Apparat in Verbindung standen. Die Augen des Kopfes bewegten sich voller Leben und Glut, und schrecklich war ihr Ausdruck. Einmal zeigten sie unerbittlichen Haß und heftigen Zorn, dann wieder tiefe Verzweiflung und unerträglichen Schmerz. Der bleiche junge Mann setzte sich in seinen Stuhl am Tisch und breitete Papier, Tinte und Federn vor sich aus. Dann schob er den Kopf zu sich hin und zog das Tuch aus dem Mund.
»Oh Gott, wie lange muß ich noch so leiden!« wimmerte der Kopf mit einer bebenden, schwachen Stimme. »Wie lange soll diese unerträgliche Qual noch anhalten! – Zu leben, und nicht zu leben!« »Du bist heute abend geistreich, fahre fort«, sprach der bleiche Jüngling verächtlich, »beinahe Shakespeare ›to be, or not to be‹.« »Unmensch«, sagte zähneknirschend der Kopf, und seine Augen funkelten vor Haß und Wut, »könnte ich mich nur einmal rächen; und für nur eine Stunde Rachegenuß würde ich noch Jahre erleiden, was mich jetzt quält. – Oh, ermattende Strapazen lasten ständig auf meinem Hirn und nimmer erquickt mich ein einziger Augenblick des Schlafes, brennender Durst versengt meine Zunge, und er wird niemals gelöscht. Eure teuflischen Kunstmittel lassen das Blut mit Kraft durch meine Adern fließen, aber das Blut brennt unter der Haut wie geschmolzenes Blei.« Der Jüngling hatte die Feder ergriffen und schrieb hastig einige Zeilen auf das Papier.
»Aber es gibt einen Gott, es muß einen Gott geben«, fuhr der Kopf fort, und seine Stimme erhob sich immer mehr und mehr, »einmal wird Vergeltung sein: der Mensch hat einen freien Willen und die Wahl zwischen Gut und Böse; hier hernieden gibt es weder Strafe noch Belohnung, also…« »Du argumentierst sehr gut für einen Ungebildeten«, sprach der bleiche junge Mensch, während er die Feder vorsichtig auf das Manuskript legte. Der Kopf verlor seinen Ausdruck heftiger Wut, der sich in Verzweiflung und darauf in tiefe Niedergeschlagenheit veränderte. »Ach, vergebt mir, Herr, daß ich so zu Euch spreche, aber Ihr wißt, wie sehr ich leide. – Fragt mich, was Ihr über meine Wahrnehmungen wissen wollt, bereichert Eure Erkenntnis durch mein Unglück, ich werde Euch alles richtig, deutlich sagen, so gut, wie ich es nur kann, jedoch in Gottes Namen…« »Natur.« »Bei Eurer Liebe zu Eurer Mutter…« »Naturtrieb.« »Ach, aus Liebe zu Euch selbst dann, damit nicht quälende Angst, nicht nagende Reue die letzten Augenblicke Eures Lebens vergälle, zerbrecht den verfluchten Apparat, der mich an ein unerträgliches Leben bindet!« »Nun ja, so Ihr nicht sprechen wollt, es sei denn um bedächtig auf die Fragen zu antworten, die ich Euch stellen werde, dann werden wir sehen. In ein paar Tagen, in acht, vielleicht in vierzehn Tagen.« Der Kopf richtete einen verzweifelten Blick in die Höhe, und zwei große Tränen stiegen in seinen Augen auf und flossen langsam über seine ausgezehrten Wangen. Der bleiche Jüngling ergriff hastig ein kleines gläsernes Gefäß und fing die Tränen darin auf. Darauf setzte er sich und betrachtete sie aufmerksam mit dem Mikroskop.
Dreimal schlug eine Uhr, und gleich den Schildwachen einer Festung in der Nacht, die einander zurufen, so schlugen all die Uhren der Stadt Leiden der ersten Uhr die drei Schläge nach. Schon erhellte sich mählich der Osten, und dann und wann krähte ein Hahn. Der bleiche Jüngling hatte all die Zeit den Kopf befragt, in seinen alten Büchern nachgeschlagen und manche Seite vollgeschrieben. Inzwischen schlich eine Gestalt, die lange im Vestibül an der Tür des Studierzimmers gelehnt und gelauscht hatte, umsichtig die Treppe hinab, schob den Riegel von der Vordertür und lief in Hast die Straße hinauf. Es war ein Greis, er murmelte im Gehen Gebete vor sich hin und sah sich ab und zu ängstlich um. »Meine Arbeit geht dem Ende entgegen«, sprach der bleiche Jüngling, während er sein Manuskript zusammenpackte, »noch einige Monate, und ich zeige dem gelehrten Europa eine neue Ader in der Mine der Wissenschaft, die einmal unermeßliche Schätze erbringen muß und meinen Namen in die Reihe der Unsterblichen stellen wird.« »Wohlan, bis morgen habt Ihr Ruhe, ich muß Euch jedoch erst die Möglichkeit zum Schreien nehmen – denn mit der Entdeckung meines Geheimnisses geht mein Werk zunichte, und mein Körper kommt auf den Scheiterhaufen. – Öffnet Euren Mund, damit ich das Tuch wieder hineinstecke.« Der Kopf öffnete den Mund, und der Jüngling steckte eine Spitze des Tuches hinein. Sofort preßte der Kopf mit einem Schrei voller Freude und Haß die Zähne aufeinander und hielt den Finger seines Feindes dazwischen festgeklemmt. Dieser krümmte sich vor Schmerz zusammen, wagte es jedoch freilich nicht, sich loszureißen, denn dann könnte sehr leicht der Apparat zerbrochen werden, auf dem der Kopf befestigt war.
»Im Namen des Gesetzes öffnet die Tür!« – gebot eine tiefe Stimme im Vestibül. Vor Schreck standen die Haare des Jünglings zu Berge, während die Augen des Kopfes vor Rachlust aufflammten und sich seine Zähne noch tiefer um den Fingerknochen festklemmten. Ein heftiger Stoß gegen die Tür ließ diese in das Zimmer fallen. Der Jüngling riß den Kopf vom Apparat. – Er fiel mit einem dumpfen Schlag auf den hölzernen Boden, sprang elastisch wieder hoch und rollte in eine Ecke, während das schwarze Blut zu allen Seiten herausspritzte. Die Wachen und Diener drängten einander in panischem Schreck ins Vestibül und die Treppen hinab. Der Jüngling ergriff sein Manuskript, flüchtete damit durch den Gang und verschwand über eine Treppe an der Rückseite des Hauses. Als die Gesetzeshüter es wiederum wagten, das Zimmer zu betreten, fanden sie außer den Büchern, Instrumenten und Flaschen nichts als einen bleichen, ausgezehrten Menschenkopf.
Das Volk rottete sich vor dem Haus des Studenten, der mit dem Bösen in Verbindung stand, zusammen und brach es bis auf den Grund ab, so daß kein Stein auf dem anderen blieb. Später wurde an derselben Stelle ein neues Haus errichtet, und der Baumeister ließ in der Frontmauer als Erinnerung an das Geschehene zwei Steinköpfe meißeln, von denen der eine den Studenten und der andere sein Opfer darstellen sollte.
Von dem bleichen Jüngling hat man nie wieder etwas vernommen, und jeder fromme Christenmensch verstand,
welch schreckliches Los ihn zweifellos getroffen hatte. Einige Jahre danach erschien in Deutschland ein Werk, das viel Aufsehen erregte und am heutigen Tage wohl noch unter demselben Titel in mancher alten Bibliothek zu finden sein wird. Dies war der Titel: Caput sedes animi: Disquisitio, qua probatur artem fungi posse vice corporis, dummodo caput supersit.∗ Manche gelehrten Männer, bewanderte Physiologen, gewiefte Psychologen rühmten es in den höchsten Tönen, während andere ihm mit Geringschätzung und Unglauben einen Platz in ihrer Bibliothek verweigert haben. Der Name des Autors ist bis heute unbekannt geblieben.
∗
Anm. d. Übers.: Der Kopf ah Sitz der Seele: Auseinandersetzung, in der bewiesen wird, daß die Seele außerhalb des Körpers fortbestehen kann, wenn der Kopf noch übrig bleibt.
Louis Couperus Das Opernglas
Es war vor ungefähr fünf Jahren, daß ein junger Tourist, IndoNiederländer,∗ Journalist, ein netter Junge, einigermaßen nervös veranlagt, sehr sanftmütig trotz seines tropischen Blutes, in Dresden, in der Oper, morgens, ein Billett für einen Platz in der ersten Reihe des vierten Ranges nahm, um die »Walküre« zu hören. Der vierte Rang war seinerzeit der Rang, wo alle Fremden saßen, die sich nicht den Luxus einer Loge leisteten; ja, selbst sie, die es konnten, bevorzugten oft den vierten Rang, und dies vor dem dritten oder dem zweiten, da man dort so hervorragend hörte und sah, auch wenn sich der Abgrund des weiten Saales zwischen jenem Rang und der Bühne hinzog. Es war ein prächtiger Tag; die Parks standen in blattgoldenem Gewand; es trieb eine Lieblichkeit zu leben durch die weite Luft, und der junge Tourist, in seiner gleichbleibenden wehmütigen Einsamkeit, war glücklich, durch die schöne Stadt zu schweifen, ein Museum zu betreten, irgendwo zu lunchen unter einer Laube, am sonnenplätschernden Wasser der Elbe. Und in ihm war das freudige Empfinden, diesen Abend die »Walküre« zu hören, eine Oper, die er nicht kannte, was er sich vorwarf, da er für Wagner schwärmte. Ohne daß er mit jemand anderem außer mit der Kellnerin und dem Straßenbahnschaffner sprach, vergingen die Stunden. Er trank seinen Tee und aß etwas dazu, denn da die Oper sehr früh begann, wußte er, daß er keine Zeit zu dinieren hatte. Und ∗
Ein Niederländer indonesischer Herkunft.
dann, zufrieden und mild, still frohgemut, wie es seine Art war, trotz der nervösen Veranlagung und periodischer Anfälle von Melancholie, wanderte er gemächlich – er hatte Zeit genug – zum Opernhaus. Es schlossen bereits einige Geschäfte in der Prager Straße, und der Betrieb war vorüber, und er sah einen Optiker seinen Angestellten anweisen, die Läden vor das Fenster zu setzen, als er bedachte, kein Opernglas zu haben. Rasch schoß es ihm durch den Kopf, daß der vierte Rang – wo er schon einmal, hinten, gesessen hatte – doch recht weit von der Bühne entfernt war und daß ein Glas schon hilfreich wäre… Zugleich überlegte er, daß er einen billigen Tag gehabt hatte und daß sein Platz nur drei Mark kostete, und als jetzt sein Auge zufällig auf das ausspähende des Optikers traf, winkte er diesem zu, wie durch eine Eingebung, beschleunigte seinen Schritt und rief, noch auf dem Trottoir: »Ist das Geschäft schon geschlossen? Oder kann ich noch ein Opernglas kaufen?« Gutmütig grinsend nickte der lange, magere Optiker bejahend und bat ihn in den halb abgedunkelten Laden. Und kaum war der Tourist drinnen, da durchfuhr es ihn, daß er falsch handelte und besser daran täte, den Laden zu verlassen, da das Gesicht dieses Geschäftsinhabers wie eine unheimliche Vogelfratze aussah. Aber dieser Gedankenblitz war so schnell, unmotiviert und vage, daß er kein logisches Bewußtsein wurde. Darum blieb der junge Mann und fuhr fort: »Dann hätte ich gerne ein Opernglas, ein einfaches, nicht zu teuer.« Der Optiker zeigte einige und wies lobend auf die Markennamen der Gläser. »Dieses ist so klein«, meinte schüchtern der junge Mann, der, selbst klein und schmächtig, große Dimensionen bei Gebrauchsgegenständen liebte, unbewußt davon überzeugt, mit einem großen Taschentuch oder Handschuhen, die ihm zu weit
waren, zu imponieren. »Dann nehmen Sie dieses«, empfahl der Geschäftsinhaber. »Das ist eher ein Fernglas für Wettrennen«, lachte der Tourist. »Es ist auch ein bißchen schwer…« Er blickte kurz hindurch und drehte, bis die Gläser ausgerichtet waren. Er sah dadurch ganz deutlich in die Straße hinein. »Es gefällt mir schon«, sagte der Tourist. »Wieviel kostet es?« Der Preis war höher als erwartet. Kaufte er dieses Fernglas, dann hatte er einen teuren Tag. Aber wie klar brachten ihm doch diese Gläser das Straßenpanorama vor Augen! »Nun gut«, sagte der Tourist. »Ich nehme dieses Fernglas.« Er bezahlte. Und ging, mit dem Fernglas in einem Etui. Nun mußte er sich sputen. Plötzlich überlegte er, daß er das Vogelgesicht jenes Optikers wirklich unheimlich gefunden hatte, schlug sich aber diese törichte Abneigung aus dem Kopf; er hatte öfter diese seltsamen Antipathien, auch Sympathien, und sie machten den Alltag manchmal schon schwierig. Jetzt beeilte er sich. Dort war das Opernhaus, dort strömte bereits das schwarz-silhouettierende Publikum über den Abendplatz, in die weiten, erleuchteten Eingänge. Nervös, obwohl er wußte, daß er nicht zu spät war, beeilte er sich. Hüpfte leicht die Treppen hinauf, zwischen dem mühsamen Steigen der anderen. Und fand rasch seinen Platz in der ersten Reihe. Und setzte sich in freudiger Voraussicht, Musik zu genießen. Er nahm das Opernglas aus dem Etui und stellte beides vor sich auf die breite Brüstung. Neben ihm, links und rechts, und hinter ihm wurden die Plätze schnell eingenommen: Es wurde voll wie immer; auch unten füllten sich die Logenränge, der Saal. Plötzlich überlegte der junge Mann, daß das Opernglas fallen könnte… in den jetzt dunkel gedämmerten Saal, und nahm auf die Knie das Fernglas. Die Vorstellung begann, in frommer
Aufmerksamkeit und Weihe wegen Wagner. In dem großen, vollen Saal war außer der immensen Verwogung der Musik kaum Geräusch und Bewegung, kaum ein Räuspern, nur eine Hand, die ein Fernglas hob. Auch der junge Tourist richtete sein Fernglas, um Siegmund, dessen Stimme ihn selig durchbebte, näher in den Blick zu bekommen. Plötzlich, durch den Genuß hin, durchfuhr es ihn, daß der Saal, von dort oben betrachtet, wie ein Abgrund war und das Fernglas schwer. Im selben Augenblick wehte, weiter entfernt, ein Programm nach unten. Das lenkte ihn ab: Er sah das Programm flattersinken und niedergehen auf das graue, frisierte Haupt einer Dame, deren Hand das Programm jetzt wie einen Vogel ergriff. Neben der Dame saß ein Herr mit glänzend kahlem Schädel. Aber Sieglinde bezauberte wieder den jungen Touristen. Die weiße, blonde Germanentochter fesselte ihn, nahm gänzlich seine sich hingebende Seele im Zauber des Gesangs gefangen; ergreifend poetisch fand er sie, gemeinsam mit Siegmund, in Hundings Hütte. Schwer wog ihm das Fernglas auf dem Knie. Wiederum stellte er es auf die Brüstung, auf der, wie ein kleiner Doppelturm, das schwarze Fernglas emporragte. Und stand dort doch sicher genug. Dann, in beinahe humoristischer Überlegung, der junge Mann sich vornüber beugte, um zu sehen, wer direkt unter ihm im Saal saß. Und auf wen das Fernglas niedergehen würde… sollte es fallen. Es war eine beinahe schalkhafte Neugierde, entquellend der schnellen Überlegung einer beinahe nicht möglichen Möglichkeit. Denn jetzt, da er daran gedacht hatte, daß das Fernglas fallen könne, würde das Fernglas ja nicht fallen. Er sah nicht deutlich, wer dort saß, genau senkrecht unter ihm. Der Saal war dort sehr abgedunkelt. Aber gerade wegen dieses Dunkels, in dem die Umrisse der Zuschauer
verschwammen, sah er drüben wieder deutlicher die bereits bemerkte taubengraue Dame, die das flatternde Programm ergriffen hatte. Und den neben ihr sitzenden, kahlschädeligen Herrn… Dessen Schädel glänzte. Zwischen den Tausenden, eng nebeneinandersitzenden, andachtsvollen Silhouetten und frisierten Frauenköpfen und auch kahlköpfigen Männerhäuptern glänzte dort dieser ferne Schädel… Er glänzte auf ungefähr drei Viertel des schräg abfallenden Abstandes zwischen dem vierten Rang und der niedrigen Bühne… Er glänzte rund, wie ein sinnenbetäubender Vollmond, versunken zwischen all diesen umdunkelten Gestalten: frommen Hinterköpfen und vor Aufmerksamkeit reglosen Rücken: Er glänzte wie eine Zielscheibe, wie der weiße Zielpunkt; er glänzte weiß, er glimmerte… Der junge Tourist ärgerte sich wegen seiner seltsamen, ihm selbst unangenehmen Geistesabwesenheit und zwang sich, seine Aufmerksamkeit Hunding zu schenken. Er genoß danach sehr das Liebeslied, diese glänzende Tenorstimme, die sang von Liebe und hereinströmendem Frühling. Aber die glänzende Kugel dort drüben konnte er nicht mehr vergessen und sich selbst nicht mehr unsehend machen. Immer wieder schrägte sein abgelenkter Blick zu dem Schädel, der im Halbdunkel des Saales zu leuchten schien; jetzt wie eine immense Billardkugel! Eine Bewegung aus Ungeduld und Ärger über sich selbst durchzuckte den jungen Mann. Gleichzeitig ergriff er das Opernglas in schneller Angst, daß das Ding fallen würde. Und das Opernglas fiel nicht, und die Hände des jungen Mannes umklammerten das Glas fester, als es nötig war… Und richteten es auf Siegmund und Sieglinde… Dann war es, als ob er sich nicht würde bezwingen können… Als ob ihn etwas gebietend zwang, das Fernglas zu schleudern, hoch durch den
Abgrund des Saales, auf diese lockende Kugel zielend, diese Riesenbillardkugel, die leuchtende Zielscheibe dort drüben, in der Tiefe, auf drei Viertel Abstand des Gefälles zwischen ihm und der Bühne… In einer heftigen Reaktion des Widerstrebens warf er sich nach hinten… Und vermochte es noch, das Glas bebend abzusetzen… Es war beinahe zu viel für ihn, das zu tun. Darauf schlug er sich die Arme um den Leib. Um das Fernglas nicht zu ergreifen und nicht zu schleudern nach dem runden Ziel. Das dort glänzte. Seine Nachbarin sah ihn schnell von der Seite an. Ihre Bewegung schien ihm eine mütterliche Rettung. »Ich bitte Sie um Verzeihung«, murmelte er, bleich und halb verrückt. »Ich fühle mich nicht wohl. Ich fühle mich ganz krank. Wenn ich Sie kurz stören darf, ich möchte weggehen.« Es war am Ende des ersten Aktes. Er stand auf; bebend, aber geräuschlos schlüpfte er an den Knien der fünf, sechs Personen vorbei, die ihn vom Ende der Reihe trennten. »Sie vergessen Ihr Opernglas!« flüsterte noch die Nachbarin. »Lassen Sie nur, gnädige Frau: Ich komme bald zurück, hoffe ich…« Er stolperte einige Stufen auf und ab; es wurde mit böser Stimme Psst! gezischt. Dann ging der Vorhang zu, erleuchtete sich der Saal, erklang Applaus. Absichtlich hatte er das Opernglas dort gelassen, aus Angst vor dem Ding. Jetzt, in der Pause, gewann er seine Fassung wieder. Wie töricht war er doch gewesen! In dem jetzt hellen Saal kam ihm die Obsession von soeben vor wie eine Narretei, wie eine Abgeschmacktheit, deren unmotiviertem Drang er ja nicht nachgegeben hatte! Er war doch nicht verrückt! Sein Opernglas in den Saal zu schleudern?! Wohlan, er würde diese wahnsinnige Einflüsterung jetzt überwinden und mit nicht mehr als einem kleinen bißchen Willenskraft und Vernünftigkeit. Und er hatte Hunger und ging an das Büfett, auf ein Brötchen und ein Glas
Bier. Das würde ihn beruhigen nach diesem Unsinn von soeben. Als der zweite Akt begann, als der Saal dunkelte, meinte er jedoch: Was ihn erschüttert habe, sei eine Art Tiefenschwindel gewesen, was die Franzosen vertige de l’âbime nennen… Auch wenn er nicht den Drang verspürt hatte, sich selbst hinabzustürzen. Er täte vielleicht besser daran, sich nicht mehr so zuvorderst in die erste Reihe, so hoch über dem Abgrund des Saales zu setzen… Nein, er täte besser daran, hier hinten, im Durchgang stehen zu bleiben. Denn auch wenn die Obsession Unsinn gewesen war, sie könnte ihn dort auf dem Platz wieder aufs Neue überfallen und so würde sein Musikgenuß nicht ungeteilt sein. Er blieb stehen. Dort drüben blieb sein Platz unbesetzt, und die zwei Türmchen seines schwarzen Glases erhoben sich sarkastisch, aber ungefährlich auf der breiten Brüstung vor seinem leeren Stuhl. Aber wenn er sich auf die Zehen reckte, konnte er, im Saal, gerade noch die weiße Schädelkugel sehen, die wie eine Zielscheibe glänzte… Er zuckte verärgert mit den Schultern, schnalzte mit der Zunge seinen Ärger weg, lauschte danach andächtig Brünnhildes Freudenschreien, oben, auf dem Felsen, wo sie erschienen war. Und wurde ruhiger. Und genoß. Der Feuerzauber überwältigte ihn herrlich, und sein reiner Genuß brachte ihn gänzlich wieder ins Gleichgewicht. Dennoch gedachte er, als die Oper aus war, nie mehr in der ersten Reihe des vierten Ranges Platz zu nehmen. Auf jeden Fall nie mehr mit so einem großen Fernglas vor sich. Und zugleich, das Glas, das ihm so seltsam in den Händen gewogen hatte und ihn vielleicht, mit der Tiefe zusammen und wegen jener dummen Zielscheibe dort drüben, diese törichte Obsession eingegeben hatte… nicht mitzunehmen… es da stehenzulassen… mit seinen zwei Türmchen… auf der breiten
Brüstung… vor der Leere des Saales und den überall hinausströmenden Zuschauern. Und er flüchtete alsdann die Treppen hinab, in Angst, daß jemand ihm nachriefe, er habe sein Opernglas vergessen.
Es war dann nach fünf Jahren. Er war mit seiner Karriere erfolgreich. Er war verheiratet. Er hatte kleine Reisen unternommen, im Sommer, im Winter, wegen seiner Arbeit und in seinen Ferien. Er war nicht mehr in Dresden gewesen, aber dieses Jahr kam er zufällig dorthin. Im frühen Herbst, wenn die Parks dort im blattgoldenen Gewand stehen. Die Plakate der Oper kündigten eine Serie von Aufführungen vom »Ring des Nibelungen« an. Jenen Abend gab man die »Walküre«. Er erinnerte sich an die schöne Aufführung von vor fünf Jahren. Die Erinnerung an seine Obsession war in ihm abgeflaut zu nichts mehr als dunkelstem Erinnern an einen Schwindelanfall der Tiefe wegen. Seitdem hatte er sogar einige Male darüber gelächelt und mit den Schultern gezuckt. Sicher, er würde die »Walküre« diesen Abend wieder hören. Aber an der Kasse sagte man ihm, daß der Saal ausverkauft sei. Das tat ihm leid. Er wandte sich ab, als sich gerade jemand näherte und dem Kartenverkäufer mitteilte, daß er seinen Platz, reserviert für die erste Reihe, vierter Rang, diesen Abend zur Verfügung stelle. Er sei verhindert, zu kommen. Begierig übernahm der junge Mann den Platz und fragte sich, wo er dieses unangenehme Vogelgesicht schon einmal gesehen hatte… Nun ja, es war zwar wieder die erste Reihe dieses hohen vierten Ranges, aber Schwindel verspüren würde er jetzt nicht und sich durch keine törichte Eingebung aus der Fassung bringen lassen. Überdies würde er auch kein Opernglas mitnehmen. Er hatte keines bei sich und eines kaufen würde er nicht. Er kam diesen Abend etwas spät. Der Saal war bereits
dunkel und voll; die Musik hatte begonnen. Er zögerte, die Zuschauer in seiner Reihe zu stören, aber die Logenschließerin meinte, daß er seinen Platz, nur vier Zuschauer entfernt, noch sehr gut erreichen könne. Er schob sich also Entschuldigungen murmelnd an deren Knien entlang und setzte sich. Als die Logenschließerin sich flüsternd zu ihm beugte und ein großes Opernglas reichend fragte: »Möchten Sie vielleicht ein Glas mieten? Für eine Mark?« Er vermeinte Sarkasmus in ihrer Stimme zu hören, erschrak und sah das Glas an, das sie ihm anbot. Es war sein Glas von vor fünf Jahren, hiergelassen, nie reklamiert, nicht zur Polizeiwache gebracht und stets von der Logenschließerin vermietet, so ihr das gelang. Es war sein Glas. Bevor er es ablehnen konnte, hatte er unaufhaltsam nach dem Ding gegriffen. Böse Stimmen riefen Psst!! Und die Logenschließerin zog sich bereits zurück, winkte ihm, daß er nachher bezahlen solle… Da geschah es, daß mitten in Siegmunds und Sieglindes Duett, oben, in der ersten Reihe des vierten Ranges, sich jemand schreiend wand, als ob ein Fallsuchtsanfall ihn überkomme oder er mit einer Macht, stärker als er, ringe, und durch den aus seiner frommen Andacht aufgeschreckten Saal schleuderte eine Hand einen schweren Gegenstand, der wie ein Stein in hohem Bogen in den Abgrund stürzte. Und unten, wo neben einer taubengrauen Dame ein kahlschädeliger Herr saß, brüllte ein anderer, ein, obgleich nie ins Visier Genommener oder Bemerkter, unheilvoll Getroffener, sein Leben aus, während das Hirn spritzte.
Arthur van Schendel Die rote Frau
Die See lag, einsam grün und purpurn, zum Horizont hin, hinter dem die Sonne verschwunden war, die Felsen der Küste ragten dunkel in den Himmel. Kein Lebender war dort, als der Mensch vor der Höhlung der Grotte, der, auf den Spaten gestützt, starrte. Er dachte: Werde ich an dieser Stätte auf keine Unruhe von anderen stoßen? Einsam geboren zieht mein Herz seine Bahn von Augenblicken, und selten die Augenblicke, da es von Fremden nicht gestört wird. Laß dies eine Nacht der Ruhe sein, das Haupt dem Nordstern zugewandt. Er ging in die Grotte und legte sich nieder, den Spaten am Fußende, die Augen dem Zwielicht über dem Meer zugewandt. Und er schlief. Als er die Augen öffnete, leuchtete außerhalb der Grotte die Nacht hell vom Monde. Er fühlte eine Anwesenheit, er richtete sich auf. Vor dem Himmel gewahrte er den Schädel, die Augenhöhlen zur See gerichtet, die Knochen davor, so wie er sie angeordnet hatte, die vollständigen Überreste eines Menschen. Ihre Farbe hatte einen anderen, tieferen Ton bekommen. Er erinnerte sich, daß das Gerippe, als er es bloßgelegt und vom Lehm befreit hatte, die Farbe von Eisenrost gehabt hatte. Jetzt hatte es jene der Granatapfelblüte, und auf dem Schädel lag eine Glut wie von Karfunkelstein. Er träumte nicht, denn er war sich darüber im Klaren, daß über das Zeitalter, dem die Knochen entstammten, kein Zweifel bestehen konnte. Dennoch ließ ihn ein Zweifel über den Unterschied zwischen Einst und Jetzt grübeln, ein Rätsel wie ein Traum, zwischen dem Staub, der einmal zusammengefügt
gelebt hatte und jetzt im Boden verstreut lag, vielleicht verflüchtigt und vergangen. Vielleicht aufs Neue zusammengefügt zu einer Form. Es war nur ein kleiner Teil des Himmels vor der Öffnung der Grotte sichtbar, nur ein einziger Stern. Seine Augen schlossen sich, und leuchtendes Nachsinnen schwebte herbei mit dem Rauschen von Nacht und See. Er hörte einen Seufzer, er sah sie vor dem Himmel stehen, in Glanz und Rot gehüllt, einen rubinfarbenen Schleier über dem Haar, das Antlitz weiß wie der Mond. Der Mund war rot, der sich öffnete zum Klang, dumpf und schwer vor Schmerz. Warum die Ruhe gestört für diese Nacht, warum den Traum zerbrochen? Der Funke, unter Asche verborgen, steckt wieder in der Seele und bebend erwache ich. Wer seid Ihr, was sucht Ihr hier? Ist es Eure Hand, die den Stein geworfen hat und wird es Eure Hand sein, die ihn wieder aus der Tiefe hervorholt? Die das Verlangen aufgeschüttelt hat und die Falten wieder glatt streichen wird? Seid Ihr der verheißene Mensch oder aus dem Puppenspiel, bewegt von einem Spieler? Ich spüre Eure Glut, ich flehe Euch an, verbrennt mich nicht. Sie wich zurück mit ausgestreckten Händen, und zitternd schwand ihr rotes Glänzen vor dem Himmel. Der Traum war die Kühle eines Mondes, den ich nicht sah. Stete Labsal floß durch mich hindurch. Hier war die Wunde, aber ich spürte nichts. Es waren nur die Schemen, die beklemmenden Schemen, die einmal lebten so wie ich und verschwanden. Die Hände wiesen, die Augen starrten auf die zerfetzte Stelle hier in der Brust, sie konnten keine Schmerzen mehr bereiten; aber ich konnte nicht vergessen. Ohne die Schemen war ich nicht mit der Zeit verbunden, und Zeit, Ihr, die Ihr noch so jung seid, daß Ihr mit dem Spaten im Boden wühlen könnt, Zeit ist nichts als Schmerz. Die Zeit ist es, die das Herz bewegt. Das Herz, das sich bewegte und begehrte, war vergangen, aber die Kraft,
die mich so groß machte, daß ich den Himmel umfassen konnte, so klein, daß ich auf einer Flocke schweben konnte, erfüllte selbst die Tiefen meines Schlafes mit Ängsten. Und warum die Ängste, warum die Furcht, daß die Unruhe zurückkehren werde? Ist es Strafe dafür, daß ich zu meiner Zeit Schmerz begehrt habe und genommen? Ist die Begierde denn unmenschlich und unsterblich, daß sie, wenn sie alles bis auf den Grund verbrannt hat, wieder aufsteigt aus der Asche? Warum mußte ich mich fürchten, ich, die ich mich innerlich und äußerlich an das Feuer gegeben hatte? Nein, ich bebe, aber ich werde mich nicht fürchten, sobald ich wieder gerufen werde. Wie die Menschen sich auch mit Gewändern vermummten, es war eine feuerrote Welt, in der ich lebte, und von allen war ich die einzige, die niemals zögerte, die Hüllen zu entfernen, um aufrecht durch die Röte der Rosen, des Feuers, des Blutes zu gehen. Immer bebte ich, aber nicht vor Furcht. Es war ein Wüstenwind, der mich vor sich herjagte, es war Hitze, die mir aus den Haaren wehte, die Augenlider konnten sich nicht schließen, die trostlosen Nächte versengten das Innere meiner Hände. Mein Eingeweide verdorrte, nicht durch alles Wasser der Welt zu löschen. Ich habe lauthals gerufen, geschrien aus meinen Höhlen, geklagt, bis die Stimme aufgezehrt war. Dann habe ich flüsternd unter den Menschen gesucht, es gab welche, die wichen, es gab welche, die flohen, manche haben mich angestarrt aus dem Dunkel ihres Verlangens. Aber geblendet von der Röte wandten sie sich ab, wenn ich die Arme öffnete. Ich irrte einsam umher, fortgejagt von der Sonne, rufend durch die Wälder der Nacht, niemand, der sich erbarmte. Aber ich konnte nicht sterben mit diesem Durst, meine Hände wurden hart, schnell beim Zugreifen. Den Menschen, den ich an meiner Brust fing, habe ich nicht angesehen, ich habe nur seinen Mund getrunken, sein Blut gekostet, und wenn er kalt
niedersank, habe ich das Grün von den Bäumen gebrochen und ihn über und über bedeckt. Mit schlimmerem Feuer mußte ich fort, als ich vom Leben gekostet hatte. Er hatte Eure Gestalt und Euer Angesicht, er war ein Mann. Die Nacht glühte über mir, und der Mond stand in Flammen, der Mantel auf dem Boden funkelte vom Rot. Ich wartete, ich lauschte, was aus dem Geraschel käme. Aus dem Dunkel glitt seine Gestalt. Er erhob sich über mir, und sein Atem war über meinem Kopf. Was in jener Nacht geschehen ist, habe ich nie gewußt, der Kampf muß hart gewesen sein. Bei Tageslicht bekam ich meine Augen und meine Gedanken wieder, und als ich ihn sah, rot zu meinen Füßen, begriff ich, daß all die Rosen meines Herzens verdorrt waren, schwarz geworden, Rosen der Zerstörung. Bis zum letzten Atemzug begehren, das war mein Schicksal. An vielen habe ich meine Hände gekühlt. Ich wagte es nicht, weil ich wußte, daß ich sie versengen würde und daß ihre Schreie mich schmerzen würden, aber die Notwendigkeit löschte die Zärtlichkeit aus, und der Schmerz, der mich trieb, wurde größer als alle Schmerzen. In der Finsternis, in der Stille wartete ich, unverwandt nach dem Winde gerichtet. Wenn die Betäubung eines Menschen in mich drang, wurde ich so klein wie eine Fledermaus, meine Nägel scharf, bereit und ausgestreckt. Jede Nacht füllte ich mich mit Blut. Aber wie viel ich auch trank, die Eingeweide blieben leer, das Herz verhungerte, die Augen glühten vom Salz und mein ungehörter Ruf tönte ohne Ende. Ungesättigt fiel ich in eine Erdspalte, und als der Stoff vermodert war, begann die Labsal des Traumes. Ich träumte, daß ich getragen wurde und daß kühle Augen in mich eindrangen, mein Erwachen erwartend. Ich kannte Euch, aber zu erwachen wagte ich nicht. Es war süßer, in Eurem Arm zu ruhen, als die Augen einer ausgedörrten Welt zu öffnen, in der ja nichts die Begierde
stillt. Nehmt mein Haupt, nehmt mein Gebein, verbrennt es in Eurem Feuer, vernichtet die Asche, dann können wir Geliebte sein zusammen auf dem Strom. Oh, Ihr, die Ihr meinen betrübten Staub aus der Finsternis genommen habt, erbarmt Euch, löscht und vernichtet mich, dann kann ich Euch erwarten in jenen Fernen, wo unser Schicksal liegt, bis auch Eure Glut verlöscht. Er schloß die Augen und er öffnete sie. Der Morgen stieg am Himmel herauf, und vor der Grotte stehend sah er einen roten Glanz auf der See gespiegelt. Er nahm den Schädel auf, und er dachte: Es ist nichts gewesen als die Unrast meines unwissenden Herzens.
Ferdinand Bordewijk Zwei Versuche, durchgeführt an Jos van der Haerden
Vous aurez beau l’appeler fol, cela n’explique pas sa nature originelle. Villiers de l’Isle-Adam Le convive des dernières fêtes.∗ Unsere Alpenwanderung über die Dächer der Breestraat begann in Vergessenheit zu geraten. Jedoch hatten wir bei jener Gelegenheit von uns reden gemacht. Ja, die Kletterpartie! Wenn ich daran zurückdenke, schwindelt mich noch. Wir waren aus einem der Dachfenster der Kneipe gestiegen, untereinander verbunden durch ein Seil um die Hüften, mit langen Stöcken, schweren Schuhen, Hüten mit Federn und die Hosen bis zu den Knien aufgekrempelt, um das Tiroler Bild zu vervollkommnen. Und ab ging es. Jetzt rittlings auf den Dachfirsten gesessen, dann wieder auf Händen und Füßen durch offene Regenrinnen kriechend, dann wieder um einen gewaltigen Schornstein herum, der im Wege stand, weiter, weiter, wo der Zufall uns hinführte, entlang den Abgründen der Gassen und Wege tief unten. Ab und zu rutschte einer hinab, aber die anderen hielten den Ruck aus und zogen ihn langsam wieder hoch. Die Straßen waren schwarz vor Menschen, die mit offenem Mund zusahen, wie ein Dutzend ∗
Anmerkung d. Übers.: Auch wenn Sie ihn verrückt nennen, so erklärt das nicht sein originelles Wesen. Villiers de l’Isle-Adam, Der Tischgenosse der letzten Feste
dunkler Silhouetten sich gegen den roten Himmel – es war ungefähr acht Uhr abends – schwankend und balancierend fortbewegten. Und ich selbst darunter, ich, dem schon schwindlig wurde, wenn er auf einer Leiter mit zehn Sprossen stand. Ich lachte und schrie mit den anderen, aber meistens hielt ich meine Augen fest geschlossen, und ich habe dort im Luftraum eine beklemmende halbe Stunde durchlebt. Wie viele Dachpfannen ich eingetreten habe, weiß ich nicht. Allerdings begann man, wie gesagt, dieses Kunststück zu vergessen; es waren auch schon wieder drei Wochen darüber vergangen, und es mußte also wieder etwas Neues gefunden werden. Denn unser Club setzte seine Ehre darein, die allgemeine Aufmerksamkeit wachzuhalten. Dann, eines Abends, während wir auf Kneipe waren, kam einer von uns auf die Idee, einen Bund auf religiöser mohammedanischer Basis zu schließen, einen Bund, der es sich zum Ziel setzen sollte, die Lehre der Muselmanen in unserem Vaterland zu verbreiten. Nennen wollten wir uns: Die Wahren Jünger Mohammeds. Unsere Kaaba war ein außergewöhnlich großer Pflasterstein in der Breestraat, schräg gegenüber der Kneipe. Wir entschlossen uns sofort zu einer religiösen Demonstration. Wir hatten nichts getrunken, aber unser Vorhaben allein machte uns schon stockbesoffen. Aufgetakelt mit den verrücktesten Dingen aus Saal und Schankraum, die Jacketts auf links angezogen und die Westen auf links wieder über die Jacketts, stiegen wir in einer feierlichen Kolonne die Eingangstreppe der Kneipe hinab. Ich erinnere mich noch, daß ich selbst einen Eimer halbvoll mit schwarzem Seifenwasser an meinem Arm hatte und einen klitschnassen Scheuerlappen in der Hand, beide, weiß der Himmel wo, gefunden. Dann stellten wir uns vor der Kaaba auf, beugten uns dreimal, das Gesicht nach Osten, zur Erde, murmelten unsere Gebete und begannen danach, unseren heiligen Stein aus dem Boden zu rücken. Einen Augenblick
später waren wir handgemein mit dem von allen Seiten herbeiströmenden Pöbel. Unter schrecklichen Kämpfen bekamen wir den Stein in der Tat los, mußten dann aber vor der Übermacht und der unfairen Kampfmethode unserer Gegner weichen. Tüchtig angeschlagen, aber mit dem Stein, flüchteten Die Wahren Jünger Mohammeds wieder in die Kneipe. Dort, angesichts unseres Aussehens, unserer Wunden, Beulen und Schrammen, beschlossen wir, die Vereinigung stehenden Fußes festlich aufzulösen, was zur Folge hatte, daß wir bis Mitternacht praßten und nicht zur Ruhe zu bringen waren. Zu dieser Stunde waren nur noch wenige in der Lage, ein vernünftiges Wort zu sprechen. Die Nüchternsten, darunter ich selbst, beschlossen, mit Hontelage auf dessen Zimmer zu gehen, wo wir noch ein Stündchen weiterquatschen wollten. Die kalte Nachtluft und die Verlassenheit der Stadt verfehlten ihre Wirkung nicht; wir waren merklich beruhigt, als wir auf der Mare ankamen, und die steile, bizarre, echt Leidener Treppe des alten Hauses erklommen wir ohne Mißgeschick. Wir saßen dort im großen Zimmer schon bald gemütlich und ruhig beieinander am Feuer, und nach einigem Plaudern unter dem Genuß eines heißen Grogs und einer frischen Zigarre, ergriff ter Stal, Philologiestudent im zwölften Jahr und viel älter als jeder von uns Übrigen, das Wort. »Ich weiß nicht, wie es kommt«, begann er, »aber ich muß plötzlich an die entsetzliche Nacht zurückdenken, jetzt – mal sehen – ungefähr sieben Jahre her, die ebenfalls mit einem Abend am Ofen begann, so wie jetzt, und die mit einem kompletten Drama endete. Ich denke nicht, daß jemand von euch Jos van der Haerden gekannt hat, oder doch?« Nur van Hontelage hatte den Namen schon einmal gehört, aber was da vorgefallen war, wußte er nicht mehr.
»Nun«, fuhr ter Stal fort, »es ist auch schon so lange her; es war lange vor eurer Zeit. Aber die Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Hört mal zu.« Eines Abends – ich weiß es noch, es ging gegen Silvester und es war ein grauer, frierender Dezember – saßen wir zu fünft auf dem Zimmer von Wim Korenaar. Wim Korenaar wohnte in einem entlegenen Winkel der Stadt, beim Zijlpoort, in einem Viertel, das zweifellos keiner von euch allen kennt. Was kennen wir Studs eigentlich von Leiden? Nun ja, die Breestraat, Rapenburg und Umgebung, die Straßen oder Grachten, wo die Corpsbrüder wohnen, aber daneben gibt es noch eine ganze Menge, was man nie gesehen hat. Ich persönlich kannte schon schnell etwas mehr von der Stadt, denn ich schätzte es sehr, umherzustreifen, so, wie ich es jetzt auch noch mache. Leiden, ich meine die Stadt als Ganzes, hat schon immer eine besondere Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Alt, arm und Hunderte von Brücken, das sind die Eindrücke, die man von hier mitnimmt. Leiden ist nicht groß, hat aber die Armut einer Weltstadt. Überall, auch in den besser situierten Teilen, bricht die Armut durch. Geh zum Beispiel im Park an den villenartigen Häusern entlang und sieh zwischen den Häusern durch; lauter Gassen und Wege, in denen es von verschmutzten Kindern nur so wimmelt. Und so ist es überall. Vergiß auch nicht die Masse von Gebrechlichen, Buckligen, Klumpfüßigen, Menschen ohne Arme oder Beine. Und dann vor allem die gräßlichen Hautkrankheiten, angezogen durch das Universitätsklinikum. Es gab hier seinerzeit eine Frau, eine Lupuskranke, ihr Gesicht war ein einziges Loch. Das Weib schob einen Milchkarren. Stell Dir das vor! Ich habe einen Mann gesehen, der am Arm seiner Frau ging, einen Mann mit einem schwarzen Zahnschmerztuch, aus dem der Rüssel eines Schweins ragte. Ich habe einen Mann ohne Nase oder Nasenlöcher gesehen, über den ganzen Körper hatte er eine
harte, bucklige Lage wie von geschmolzenem, durchsichtigem, rosafarbenem Zucker und mitten auf der rechten Wange einen nasenförmigen Stumpf. Nun ja, um auf das Viertel, wo Wim Korenaar wohnte, zurückzukommen: Ich war niemals da gewesen, bevor er mich dorthin brachte. Erst kommt die Herengracht, die wir natürlich alle kennen, aber die mit aller relativen Vornehmheit und mit dem Amsterdamer Aspekt ihrer enormen, dreibögigen Steinbrücken für mich doch auch schon etwas Ekelhaftes hat, etwas Gruseliges, würde ich sagen, wenn ich ein Mädchen wäre. Und auch die Grachten, die dort hinführen, das letzte Stück Oude Rijn, das letzte Stück Oude Vest, haben für mich dasselbe, was sich schlecht in Worte fassen läßt. Vielleicht stehe ich damit auch allein. Nun gibt es auf der anderen Seite der Herengracht, an der Ecke zum Kaivermarkt, eine kleine Gracht, den Südsingel. Ich weiß nicht, warum sie so heißt, denn sie liegt ganz im Norden der Stadt. Es ist eine malerische kleine Gracht, vor allem von der gegenüberliegenden Seite der Herengracht aus gesehen; mit kleinen Brücken aus Stein und mit wiederum mehreren Quergrachten. Das ist da ein ganz armes und uraltes Stadtviertel. Auf den Quergrachten ist so wenig Verkehr, daß das Gras im Sommer zwischen den Pflastersteinen wuchert, so daß es aus der Ferne wirkt, als ob dort ganze Flächen Grünspan über die tiefen, platten, nackten und baumlosen Uferkanten geschmiert seien. Auf der einen Seite läuft sich der schmale Singel schnell gegen einen Lattenzaun tot, auf der anderen Seite geht er noch ein Stückchen weiter, und dann steht man plötzlich vor dem Haus von Wim Korenaar; oder besser, man steht vor dem, was sein Haus war, denn er ist schon seit Jahren tot. Es ist ein altes, schmutzigweißes Wohnhaus auf einer Bleiche. In der Ferne sieht man den Zijlpoort, gegenüber ist das Wasser des Zijlsingel. Ihr begreift, daß kein Stud da seine Zimmer suchen würde. Wim Korenaar hatte allerdings auch
das Unglück, denn so darf ich das wohl nennen, Student und Leidener zu sein. Er wohnte dort mit seiner Mutter, die jetzt auch schon tot ist. Wenn wir ihn tagsüber aufsuchten, haben wir bei den niemals sehr wohlwollenden Bewohnern des Viertels immer Aufsehen erregt. Aber wir waren nicht sehr häufig bei ihm, weil es ganz schön weit weg war. Nun ja, an diesem Winterabend waren wir dort zu fünft, wie ich bereits sagte. Außer Korenaar und mir waren da Bielstra, der jetzt in Ost-Indien ist, Tonny Wellingman, der sich an die Tochter seiner Zimmerwirtin weggeworfen hat, ein Luder von einem Weib, und Jos van der Haerden, der… nun ja, das werdet ihr gleich hören. Jos van der Haerden war nicht sehr beliebt, er hatte sich ein bißchen bei uns hineingedrängt, und wir konnten ihn nur schwer wieder loswerden. Er studierte Mathematik und Astronomie und galt als ein kluger Kopf. Stellt euch einen großen, gewaltig breiten und entsetzlich mageren Kerl vor, mit langen Armen, nur aus Muskeln, kleinen Beinen, ein bißchen krumm, und einem Rumpf wie ein Schrank, aber nur Haut und Knochen. Schlug er auf seine Brust, dann gab es eine Resonanz, als ob man gegen den Schallkörper einer Violine klopfte. Er machte das ziemlich oft der Kuriosität wegen; ich glaube, daß er auf diese Eigenartigkeit stolz war. Sein Gesicht? Kleine, unfreundliche Augen, ein riesiger Unterkiefer, eine eingetretene Nase und kurzes, struppiges Haar bis weit über die tiefe Stirn. Kurzum, eine wirkliche Galgenvisage, ein Degenerierter. Wir hatten zunächst bei Wim Korenaar gegessen. Er hatte Geburtstag und pflegte seinen kleinen Club Vertrauter an diesem Tage um sich zu haben. Jos van der Haerden war da noch nicht dabei. Er tauchte erst später am Abend auf, gegen zehn Uhr. Er gehörte auch nicht zu den Eingeladenen, aber weil er Licht durch die Vorhänge von Wims Zimmer sah, war er hereingekommen. Jetzt werdet ihr fragen, wie es kam, daß
er an Wim Korenaars doch so abgelegenem Haus vorbeiging, während da sonst nie jemand entlang kam. Ja, das war nun gerade was für Jos van der Haerden. Er liebte es, genau wie ich, aber auf eine obskurere Art, würde ich sagen, umherzustreifen. Er konnte bis tief in die Nacht diese Streifzüge genießen. Man sah seine schwere, zum Monströsen neigende Gestalt im Halbdunkel der Singel herumschleichen, dann wieder erschien seine breite, häßliche Silhouette auf einer verwinkelten Brücke über dem Wasser, in das er minutenlang totenstill starren konnte. Er erschien auch auf den einsamen Landwegen außerhalb der Stadt. Und immer war er allein. Das Essen war natürlich spät geworden; wir hatten danach noch eine Zeitlang im Wohnzimmer von Wims Mutter gesessen und dann, nach einer Tasse Tee, waren wir abgeschwirrt in sein eigenes Zimmer. Wir saßen noch nicht lange um den Ofen, als Jos van der Haerden hereinkam. Keiner von uns fand diesen Besuch sehr angenehm, aber es wäre hundsgemein gewesen, den Kerl zurückzuweisen, also schob er einen Stuhl dazu. Unser Gespräch ging übrigens einfach weiter. Wir hatten über das Fortleben nach dem Tode, Glauben und Religion gesprochen. »Ich bin Spiritist geworden«, sagte Bielstra; ich höre es ihn noch sagen. »Ich bin Spiritist. Das letzte Streichholz in einer Schachtel ist unabänderlich eines ohne Kopf. Wenn dein täglicher Weg dich über eine Klappbrücke führt, wird es wohl oft geschehen, daß die Brücke gerade hochgeht, aber niemals, daß sie gerade niedergelassen wird. Wenn du regelmäßig mit dem Zug reist und die Erfahrung dich gelehrt hat, daß der Zug immer ein paar Minuten zu spät abfährt, und wenn du es dann wagst, darauf einmal, einmal nur zu spekulieren, dann ist gerade an diesem Tag der Zug pünktlich abgefahren. Und dann soll ich nicht an Geister glauben?« Das sei doch Nonsens, unterbrach Jos van der Haerden. Er für seinen Teil glaube an
die Reinkarnation. Das scheine ihm am plausibelsten, auch wenn es nicht verlockend sei, daran zu glauben. Im Gegenteil, annehmen zu müssen, daß man schon, wer weiß wie oft, vor diesem Leben existiert habe und man sich an nichts davon erinnern könne, sich selbst mit Hilfe der Phantasie nicht da hineindenken könne, sei eigentlich eine der hoffnungslosesten Sachen, die er kenne. Ich fand seine Stimme so düster, den Ton so fremd, daß ich ihn ansah. Sicherlich hatte er diese Gedanken auf seinen Nachtwanderungen ausgebrütet, hatte sie elend gefunden und konnte sich doch nicht von ihnen lösen. So lief das Gespräch fort. Der Ofen summte, man konnte die Luft vor Tabaksqualm schneiden, und wir tranken einen Grog nach dem anderen. Wir wollten diese Nacht bei Wim Korenaar schlafen. Er hatte vier Gästebetten in zwei Zimmern. Im Sommer kam immer eine ganze Familie aus Amsterdam, um bei ihm zu wohnen, daher die reichlich vorhandenen Schlafgelegenheiten, von denen wir oft Gebrauch machten, da er so weit vom Schuß wohnte. Es war von vornherein abgemacht, daß wir auch jetzt über Nacht bleiben würden; er und seine Mutter waren immer sehr gastfreundlich, und Jos van der Haerden, der, so wie ich schon sagte, später gekommen war, bat um ein Bett und bekam auch eines. Abgesehen davon fror es Stein und Bein, und der Kerl wohnte genau am anderen Ende der Stadt zur Untermiete, noch hinterm Morspoort, wo niemand von uns je gewesen war. Die Sache war also in Ordnung. Es wird so gegen zwei Uhr gewesen sein, als wir beschlossen, die Sitzung aufzuheben. Gar nicht so spät, werdet ihr wohl sagen, aber wir wollten am nächsten Tag alle zur Vorlesung. Wim Korenaar stand als erster auf, aber mit einem »Meine Güte!« fiel er wieder zurück in seinen Sessel. Seine Beine konnten ihn nicht tragen. Das Verrückte war, daß – wie sich zeigte – keiner von uns auf den Beinen stehen konnte; wir
waren sturz- und sturzbetrunken, ohne daß wir davon etwas bemerkt hatten. Es war eine absurde Wahrnehmung. Mein Kopf war doch klar gewesen; ich kapierte das nicht und die anderen genauso wenig. Ein paar wollten dennoch zu ihren Betten krabbeln, aber Wim bat, aus Rücksicht auf seine Mutter, die schon lange schlief, noch etwas zu warten, bis das Schlimmste sich ausgewütet hätte und wir ohne Unglücke in unseren Betten landen konnten. So blieben wir sitzen und sahen einander im schmutzigen, staubigen Gaslicht an, für einen Augenblick ernüchtert. Meine Finger waren braun vom Zigarettenrauchen und stanken, die Nachwehen des Festes stießen mir sauer auf, und jetzt, da ich darauf aufmerksam geworden war, lastete eine schwere, miserable Betrunkenheit auf meinem Kopf. Ich war so schläfrig, daß ich minutenlang nicht wußte, was vorging. Zu einem bestimmten Zeitpunkt bemerkte ich, daß das Gaslicht hinter meinem Rücken ausgedreht war und daß auf dem Tisch zwischen uns eine Kerze in einer leeren Rumflasche brannte. Wer noch ausreichendes Gleichgewicht gehabt hatte, um das hinzukriegen, konnte ich nicht sagen. Wie ein Idiot betrachtete ich den Ofen, der ausgegangen war. Schlacken kollerten in den Aschenkasten und das sich zusammenziehende Eisen tickte jedes Mal kurz und böse. Schon schnell fühlte ich den Frost eindringen, und es wurde jetzt im Zimmer doppelt unbehaglich, da die Atmosphäre sowohl kalt als auch verdorben war. Auf einmal hörte ich mich selbst über Wahnsinn und Affen sprechen. Es war etwas, worüber ich vor Jahren wohl einmal nachgedacht hatte, aber warum mir das in dem Moment einfiel, mag der Himmel wissen. Es lief darauf hinaus, daß der Gesichtsausdruck eines Wahnsinnigen so viel Übereinstimmung mit dem von Affen zeigen konnte, vor allem mit den kleineren Affenarten, die man auf Kirmessen Kunststückchen vorführen sieht, die Affen mit den
menschlichen Kummergesichtern. Besonders in ihren schwarzen Augen, glänzenden, runzeligen Korinthen gleich, meinte ich immer so etwas wie Wahnsinn zu sehen. Und dies sollte die Hypothese stärken, daß der Mensch vom Affen abstammte oder zumindest direkt mit ihm verwandt war. Ich werde vermutlich entsetzlich seltsam und verwirrt gesprochen haben. Es war halb automatisch, daß sich die Worte in meinem Mund formten. Die anderen begriffen mich offensichtlich nicht und hörten nur mit einem Ohr zu. Die anderen, sage ich, aber Jos van der Haerden muß ich ausnehmen. Ich merkte plötzlich, daß er mich mit seinen kleinen, scharfen, dunklen Augen ansah. Und sogleich blieben mir die Worte im Halse stecken. Denn hinter ihm hatte ich seine Silhouette gesehen, die durch die Kerzenflamme in einer riesigen Projektion auf die Wand geworfen wurde; und es war nicht der Schatten eines Menschen, den ich dort sah, sondern der eines Affen. Die tiefe Stirn, überwuchert von struppigem Haar, die eingedellte Nase, der vorspringende, mächtige Unterkiefer, die eingesunkene, massive Gestalt, es war ein vollkommener Affe. Bei Silhouetten gibt es diese Überraschungen. Sie geben einen ganz anderen Blick auf unser Äußeres frei. Was bei dem Objekt, so wie man es in seinen drei Dimensionen vor sich hat, die Aufmerksamkeit anzieht, wird durch seinen Schatten absorbiert, der gerade das herausstellt, was man übersehen hat. So war es hier. Der Schatten war für mich eine Offenbarung. Ich sah vom Schatten auf den Mann. Er sah mich an, ängstlich, schien mir, und doch auch drohend, als begreife er, was ich gesehen hatte, als merke er, daß ich ein Geheimnis entdeckt hatte, ein Geheimnis, das er bis jetzt sorgfältig verborgen gehalten hatte. Ich erinnerte mich an das, was er über Reinkarnation gesagt hatte, und dachte spontan: Der Kerl ist
früher ein Affe gewesen, und er wird auch wieder ein Affe werden. Ich senkte den Blick und schwieg, hatte aber andauernd das Gefühl einer unmittelbar drohenden Gefahr, als ob der Affe an der Wand sich unversehens losmachen und auf uns zuspringen würde. Auch bemerkte ich, daß Jos van der Haerden fortwährend verstohlen zu mir spähte, aber die Augen wegdrehte, wenn ich in seine Richtung sah. Wir gingen zu Bett; es war zuvor ausgemacht, daß Jos van der Haerden bei mir im Zimmer schlafen würde. Ich hätte ich weiß nicht was dafür gegeben, wenn einer der anderen mein Zimmergenosse gewesen wäre, aber die Scham hielt mich davon ab, eine Änderung vorzuschlagen. Abgesehen davon, was für Gründe hätte ich angeben sollen und wie hätte ich es vermeiden können, Jos van der Haerden zu kränken? Aber ich schäme mich jetzt nicht mehr, euch zu versichern, daß ich Angst vor dem Burschen bekommen hatte bis ins Mark. Also gut, ich folgte Wim und Jos van der Haerden zum Schlafzimmer. Es war ein tiefes, niedriges, feuchtes Zimmer an der Rückseite des Hauses. Wim entzündete das Gaslicht und verließ uns wieder; wir waren allein. Schweigend, mir den Rücken zugewandt, entkleidete Jos van der Haerden sich. Er war eher fertig als ich und legte sich mit dem Gesicht zur Wand ins Bett, sogleich reglos. Ich sah von ihm nichts außer einem Stück des struppigen, schwarzen Haares seines Hinterkopfes. Meine Finger zitterten vor Nervosität, ich zog ungeschickt meine Kleider aus. Mein Kragen bescherte mir eine volle Minute Arbeit. Endlich konnte ich das Licht ausmachen und ins Bett steigen. Unsere Betten standen wie die zwei Schenkel eines Rechtecks zueinander, waren aber durch die ganze Tiefe des Zimmers voneinander getrennt. Die Vorhänge vor den Fenstern waren offen geblieben, gab es doch niemanden, der in
das Zimmer hätte sehen können, und ein vages Licht drang von außen herein. Der Himmel war schon seit Tagen eintönig grau bewölkt, aber dennoch war die Nacht nicht vollständig dunkel. Ein schwerer Ostwind stand auf dem Haus; es fror mindestens zehn Grad. Die Bäume auf der Bleiche krachten. Ich lag mit geöffneten Augen auf dem Rücken im Bett und blickte nach oben auf die geweißte Decke, die ich schwach erkennen konnte. Das erste, was ich hörte, war Jos van der Haerden, der sich im Bett umdrehte. Es war nur eine kurze Bewegung gewesen, und so berechnete ich, daß er jetzt auch auf dem Rücken liegen mußte, und ich vermutete, daß er, wie ich, mit weit geöffneten Augen in die Dunkelheit starrte. Das zweite, was ich vernahm, war ein leises, aber anhaltendes Gerolle und Getrommel dicht über meinem Kopf. Es klang so gedämpft, daß man im Bett vollkommen still liegen mußte, um es wahrzunehmen. Anfänglich dachte ich an Ratten oder Mäuse auf dem Dachboden – denn ich wußte, daß direkt über diesem Zimmer der Kriechboden des Hinterhauses lag –, aber das Geräusch blieb zu sehr auf die kleine Fläche begrenzt, die sich gerade über meinem Bett befand, als daß es Tiere sein konnten. Es war vielleicht an sich nicht beunruhigend, aber in meinem überspannten Zustand beängstigte mich das Unerklärliche des Geräusches. Bis ich bemerkte, daß es in dem Maße stärker wurde, wie der Wind stärker blies, und abnahm mit dem Abflauen der Windböen, und ich daher an eine rein mechanische Ursache denken konnte. Später habe ich gehört, daß eine große Menge Steinkohle auf dem Dachboden eingelagert war und daß der Wind, durch die Ritzen des Daches blasend, den spitzen Stapel nach und nach zu einer platten, weit ausgebreiteten Masse verformt hatte. Auch wenn ich die Ursache des Gepolters und Gerolles über meinem Kopf jetzt einigermaßen begriff, irritierte es mich doch weiterhin. Denn, wie ich schon sagte,
ich war überspannt. Ich hatte mich in der letzten Zeit überarbeitet gefühlt (eigenartig, werdet ihr sagen, bei jemandem, der nach seinem elften Jahr noch keinen Titel hat, aber es ist eine Tatsache, ich war überarbeitet), und jetzt kam noch dieser Abend harten Rumsaufens und einer merkwürdigen Betrunkenheit hinzu. Genug Motive, mein Zusammensein mit Jos van der Haerden in einem besonderen Licht zu sehen. Ich fühlte mich todmüde, hatte einen bohrenden Schmerz im Rücken und heiße, schwere Augenlider, aber mein Denken war vollkommen klar. Ich mußte an die schreckliche Silhouette an der Wand zurückdenken: der Schatten Jos van der Haerdens. Wie ein Affe hatte der Schatten ausgesehen, ja, wie eine bestimmte Affenart, wie ein Gorilla. Wißt ihr etwas über den Gorilla? Es ist bis jetzt nur wenig von ihm bekannt. Im Herzen der Wälder Zentral-Afrikas wohnt er, da, wo die großen Sümpfe sind, die mörderischen Fieber herrschen und Sonne und Wasser eine Atmosphäre bleischwerer Hitze hervorbringen. Der Mensch kann dorthin gar nicht oder kaum vordringen. Und dort, wie ein Fürst, herrscht der Gorilla. Stellt euch einen Affen von mehr als Menschengröße vor; er wird zwei Meter groß. Zwei Meter! Die Länge also eines menschlichen Riesen; aber mit einer Kraft unendlich größer als die des stärksten Menschen. Man erzählt, daß er sich rittlings auf ein Krokodil setzt, mit der einen Hand dessen Unterkiefer packt und mit der anderen dessen Oberkiefer, und dann, mit einem einzigen Ruck, das Kiefergestell auseinanderreißt, als sei es Leinen. Das meiner Meinung nach schönste Exemplar, das vom Gorilla existiert, ist im Museum von Trent in Amerika zu finden. Ich sah davon einmal eine Abbildung in einer Zeitschrift; es ist mir immer gegenwärtig geblieben. Der Gorilla steht dort aufrecht auf seinen krummen Beinen, die ihm
etwas Mißgestaltetes geben. Sein Bauch ist schmal und weich, aber auf diesem schwachen Untersatz, der wie im Wachstum zurückgeblieben zu sein scheint, ist ein gewaltiges Oberteil gebaut; eine Brust voll langen, schwarzen Haars, breit wie ein Platz, darauf ausgerichtet, den entsetzlichsten aller rauhen Schreie auszustoßen, Arme beinahe bis auf den Boden, deren Muskeln in einem unbändigen Strom aus den massigen Schultern fließen, einem Strom, der langsam abnimmt und sich in den Fingern wie in einem Delta verzweigt (das Bild ist vielleicht etwas zu gekünstelt, aber so sehe ich es wirklich). In der rechten Hand hält er, zur Abwehr oder zum Angriff, einen Felsbrocken. Sein Hals ist der eines Athleten, er gleicht einem schweren, alten, mit weit ausgebreiteten Wurzeln im Boden verankerten Baumstamm. Und der Kopf. Nein, den Kopf vergißt man niemals mehr. Ihr müßt wissen: Der Gorilla ist der menschlichste aller Menschenaffen, vor allem deshalb, weil bei ihm die Ohren nicht von so monströser Größe sind wie zum Beispiel beim Schimpansen, sondern klein, platt am Kopf, nicht hinter dem Haarwuchs verborgen. Nun ja, bei dem Gorilla in Trent ist der runde, glatte Schädel mit dem kurzen, struppigen Kopfhaar fast schön. Die Augen liegen tief, die Nase ist breit und der Kiefer mächtig. Sein Mund steht weit offen, ein quadratisches, schwarzes Loch wie ein Ofen, in dem das grauenerregende Gebiß schimmert. Er brüllt die Gefahr, die vor ihm steht, an. Nein, der Eindruck, den ich bekam, ist nicht wiederzugeben. Er steht dort wie ein Symbol unmenschlicher Kraft, Tapferkeit und Raserei. Ein Dämon, wie ihn uns unsere schlimmsten Alpträume nicht zeigen. Und mit jemandem, der dieses Bild in mir hervorgerufen hatte, lag ich jetzt zurückgezogen in einem Zimmer. Jos van der Haerden hatte den Ruf, außergewöhnlich stark zu sein, auch wenn er seine Kräfte nie gebrauchte. Er hatte auch den Körperbau eines monströsen Athleten. Er hätte mich zerbrechen können, dachte
ich, ohne daß ich etwas zu meiner Verteidigung vermocht hätte. Dennoch legte sich nach und nach, mit dem Verstreichen der Zeit, meine Angst. Der gesunde Menschenverstand gewann die Oberhand. Jos van der Haerden hatte sich bis jetzt jedenfalls als völlig harmlos erwiesen. Auch wenn er unsere Sympathie nicht hatte, etwas Konkretes war ihm nicht vorzuwerfen. Selbst in schlimmster Trunkenheit war er wie ein Lamm. Während der Fuxenzeit benahm er sich bemerkenswert sanftmütig, obwohl die Füxe eine Heidenangst vor ihm hatten. An den Rezeptionen nahm er prinzipiell nicht teil. Aber, wie auch immer, dieser Mann trug meiner Meinung nach den Keim des Wahnsinns in sich. Sein affenartiges Aussehen bestärkte mich in dieser Auffassung. Wie ein unheilverkündendes »Mene, mene, tekel« hatte sein Schatten auf der Wand gestanden. Und vielleicht wußte oder zumindest vermutete er, daß er ein Gezeichneter war. Wer vermochte zu sagen, was für ein verschwiegenes Leid, welch schreckliche Angst vor der Zukunft in diesem tiefen und doch so viel wissenden Schädel nagten? Ich mußte an ein Gedicht des wahnsinnig gestorbenen Lenau denken, das mir erstaunlich auf ihn passend schien. Kennt ihr es? Es heißt »Traumgewalten«. Der Traum war so wild, der Traum war so schaurig. So tief erschütternd, unendlich traurig. Ich möchte gerne mir sagen: Daß ich ja fest geschlafen hab’, Daß ich ja nicht geträumet hab’, Doch rinnen mir noch die Tränen herab, Ich höre mein Herz noch schlagen. Ich bin erwacht in banger Ermattung, Ich finde mein Tuch durchnäßt am Kissen, Wie man’s heimbringt von einer Bestattung;
Hab’ ich’s im Traume hervorgerissen Und mir getrocknet das Gesicht? Ich weiß es nicht. Doch waren sie da, die schlimmen Gäste, Sie waren da zum nächtlichen Feste. Ich schlief, mein Haus war preisgegeben, Sie führten darin ein wüstes Leben. Nun sind sie fort, die wilden Naturen; In diesen Tränen find’ ich die Spuren, Wie sie mir alles zusammengerüttet Und über den Tisch den Wein geschüttet. Laßt dieses Gedicht Zeile für Zeile auf euch wirken und sagt mir, ob ihr nicht auch beeindruckt seid. Die erste Strophe und der größte Teil der zweiten bilden die Einleitung, die uns die Stimmung vermitteln soll. Aber dann beginnt es: Doch waren sie da, die schlimmen Gäste… Behauptet bloß nicht, daß wir es hier mit diesem oder jenem Symbol zu tun haben. Ich sage Euch, es ist, kritisch betrachtet, irres Gerede, es ist buchstäblich verrückt. Aber gerade darum berührt es einen um so tiefer. Denn es ist zugleich Kunst. Es beweist, wenn dieser Beweis noch nötig ist, daß auch Wahnsinnige eine Kunst haben. Das Gedicht ist in seinen wenigen Zeilen voll von ungeheurer Bedrohung und Schmerz, voll düsterem Vermuten einer schwarzen, lichtlosen Zukunft. Ich schlief, mein Haus war preisgegeben.
Und welch eine Verwandtschaft fühlte ich in dem Augenblick zwischen der Stimmung dieses Liedes und dem Gemütszustand, wie ich mir den von Jos van der Haerden dachte. Oh, sicher war auch er oft aus bestürzenden Träumen erwacht, in denen seine verwildernden Gedanken, die sein Verstand tagsüber nur mit großer Mühe in Zaum hielt, losgebrochen und über ihn hinweggestürmt waren. Ich schlief, mein Haus war preisgegeben, so mußten dann seine Gedanken gewesen sein. Und was für ein Leben für diesen Mann, der anwachsenden Zügellosigkeit seiner Träume, seiner fortschreitenden Entartung Schritt für Schritt folgen zu müssen. Fieberphantasien von meiner Seite aus, werdet ihr sagen. Aber wartet: Ich hatte Jos van der Haerden schon richtig gesehen. Er war sogar noch viel weiter hinüber, als ich mir vorstellte. So lag ich über ihn nachdenkend im Bett und bemühte mich, mir sein Intimleben, seine private Existenz, die wir nicht kannten, seine Streifzüge, die wir nicht mitmachten, vor Augen zu führen. Und derweil hatte ich es eigentlich schon ganz vergessen, daß er dicht bei mir war. Aber ich sollte unverhofft daran erinnert werden. Denn: »He?« Klang es auf einmal aus dem Bett am anderen Ende des Zimmers. Es wurde heiser und doch laut, kräftig und zugleich in einem Ton voller Spannung gefragt. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich konnte keinen Ton herausbringen. Aber das war auch gar nicht nötig. Denn diese Frage war nicht an mich gerichtet, das fühlte ich deutlich. Ich hatte auch nichts gesagt. Aber es war ein Bruchstück aus einem stummen Dialog, unversehens und unbeherrscht laut gesprochen, ein Dialog, der dort im Dunklen, wer weiß wie lang bereits, zwischen Jos van der Haerden und den Geistern der Finsternis geführt wurde, die sein ohnmächtiges Gehirn
heraufbeschworen hatte. Und dann war es wieder still; der stumme Dialog ging weiter. Es rollte und raschelte unaufhörlich über meinem Kopf, und die schweren Windstöße drückten gegen die Front des Hauses. Sonst gab es kein Geräusch. Es dauerte lange, ehe ich es wagte, mir dieser Tatsache richtig bewußt zu werden: Der Mann, der dort drüben totenstill lag, war kein zum Irrsinn Verdammter, es war ein Wahnsinniger. Das einzelne Wort »he«, unter diesen Umständen und in diesem Ton ausgesprochen, enthüllte mir brüsk die Lage: Ich teilte das Zimmer mit einem Wahnsinnigen. Meine Angst steigerte sich einen Augenblick zu voller Verzweiflung, aber als es vollkommen still blieb, beruhigte ich mich wieder. Vor allem anderen begriff ich, daß ich mich still verhalten mußte. Vielleicht hatte er meine Gegenwart vergessen. Und es gab doch auch gutartige Verrückte. So blieb ich unbeweglich liegen, mit geschärften Ohren, um das geringste Geräusch aufzufangen. Aber ich hörte nichts als das unaufhörliche Gerolle und das Seufzen des Windes. Und dann kam der Zweifel, ob mein Gehör mich nicht betrogen hatte. Ich wußte sehr gut, daß ich doch selbst überspannt war. Konnte ich mir deshalb nicht eingebildet haben, daß er gesprochen hatte? Die ganze Wahnsinnshypothese würde dann als ungereimt stürzen. Sicher, ich hatte den hellen Klang seiner Stimme noch im Ohr, aber was bewies das letztlich? So schwankte ich zwischen zwei Erwägungen, und der Zweifel schien mir schlimmer noch als das Wissen um seine Demenz. Es kam ein Verlangen in mir auf: ihn zu sehen. Und fast gleichzeitig ein zweites: die Probe auf seinen Wahnsinn anzustellen. Habt ihr eigentlich schon einmal darüber nachgedacht, wieviel mehr ein Mensch eigentlich weiß, als er weiß, das heißt, als er sich bewußt ist, zu wissen? Nicht zu Unrecht spricht man von den Schatzkammern des Gedächtnisses. Das
Bemerkenswerte ist dabei nur, daß man das Gefühl hat, daß manche Dinge überhaupt nicht aus dem Gedächtnis kommen. Worte, Sätze, Gedanken wehen uns an, und wir wissen nicht, woher, wir können die Herkunft nicht bestimmen. Wir erinnern uns nicht daran, sie jemals gesehen oder gehört zu haben. So ging es mir auch. Ein Gedanke stieg in meinem Kopf auf; ich konnte nicht sagen, wie ich darauf kam. Es war möglich, daß ich darüber in einem Buch gelesen hatte. Es war ebenso möglich, daß ich ihn als kleines Kind und ohne es damals zu verstehen aus einem Gespräch aufgeschnappt hatte. Er läuft darauf hinaus: Wenn man an jemandes gesundem Geist zweifelte, konnte man ihn unter anderem mit den folgenden zwei Methoden auf die Probe stellen: Strich man ihm mit dem Daumen langsam und kräftig von oben nach unten über das Schienbein und richtete sich dann der große Zeh auf, kraulte man ihn unter der Fußsohle und gingen dann die Zehen anstelle der Griffel, wie bei einem normalen Menschen, auseinander wie gespreizte Finger, dann hatte man es mit einem Wahnsinnigen zu tun. Ich lag in meinem Bett und kämpfte gegen das Verlangen, Jos van der Haerden zu sehen, während er schlief, und diese zwei Versuche dann an ihm durchzuführen. Ich redete auf mich ein, daß ich solch eine Torheit niemals begehen würde, daß ich doch niemand war, der an Ammenmärchen glaubte, aber es half nichts. Das Verlangen ließ mich nicht los, es wurde von Moment zu Moment stärker. Es war, als ob auch ich wahnsinnig geworden sei, als hätten mich dunkle Mächte in ihrem Griff. Ich wußte sogleich, daß ich damit etwas Schlimmes riskierte. Was, wenn er nicht schlief? Was, wenn er, noch schlafend, unter dem Betasten erwachte? Aber ich wollte es riskieren. So ruhig wie möglich stieg ich aus dem Bett, suchte Streichhölzer und entzündete das Gas über dem Bett. Mit
einem leisen Puff ging das Licht an. Es war eine normale, rote, köcherförmige Gasflamme in einer weißen Kugel an einem Arm in der Seitenwand. Sofort drehte ich das Licht tiefer, bis es nur noch rötlich im Zimmer schimmerte. Dann trat ich an das andere Bett, indes sich auch die kleinsten Haare meines Körpers sträubten. Jos van der Haerden lag auf dem Rücken. Er schlief. Sein Gesicht hatte den üblichen barschen Ausdruck. Aber er schlief; er atmete sogar regelmäßig. In seinem Anblick lag nichts von einem Irrsinnigen. Aber ich mußte mich überzeugen; umsichtig zog ich die Decke weg, und sein ganzer schwerer, magerer und mißgestalteter Körper lag vor mir. Er trug eine kurze Unterhose, die nicht weiter als bis oberhalb des Knies reichte, eine Hose, wie Soldaten sie tragen. Sein Hemd war offen; ich sah ein Stück seiner wogenden, haarigen Brust. Seine haarigen Beine lagen gerade ausgestreckt. Ich drückte mit meinem Daumen langsam, langsam und doch kräftig von oben nach unten sein Schienbein entlang. Dann: Knack! Richtete sich sein großer Zeh auf. Ich kitzelte ihn unter der Fußsohle. Ich fühle jetzt noch die Furchen und Falten der Sohle in meinen Fingerspitzen. Und seine Zehen gingen allmählich auseinander, weit auseinander, und schlossen sich wieder zusammen, als ich aufhörte. Sie erinnerten mich an die Saugnäpfe einer Seeanemone. Es fror im Zimmer. Ihm mußte eiskalt sein, wie mir übrigens auch, aber er wurde nicht wach. Ich zog die Decke wieder über ihn. Ich sehe mich noch weise nicken, als ob ich jetzt eine wichtige wissenschaftliche Entdeckung gemacht hätte, während ich in das unwirsche, dunkle Antlitz starrte. Dann ging ich zurück, drehte das Licht aus und lag wieder im Bett. Ich konnte nicht mehr denken, aber ich schlief auch nicht. Ich hatte nur das Gefühl eines nagenden Schmerzes im Rücken, eines pochenden Hinterkopfes und von Feuerkreisen um den Augen. Es sang und rauschte durch meinen Kopf, und
ich lag nur da und döste vor mich hin, stundenlang. Ja, wie lang lag ich da wohl, nur halb bei Verstand? Mit einem Mal kam ich wieder zu klarem Bewußtsein, da ich fühlte, daß jetzt das Allerschrecklichste in meiner Nähe war. Die erste Wintermorgendämmerung lag schiefergrau im Zimmer. Und in diesem unempfindlichen und doch auch gespenstischen Licht sah ich im anderen Bett, am Kopfende auf dem Kissen… einen Affen. Ich schwöre euch, daß ich kein Wort davon lüge, daß ich nicht träumte. Da saß ein riesiger Affe. Er saß mit untergeschlagenen Beinen und sah mich ruhig und drohend an, nicht mit einem vollen, offenen Blick, sondern verstohlen hinter seinen zusammengezogenen schweren, schwarzen Augenbrauen in dem irgendwie gebeugten Kopf. Seine Kiefer gingen langsam auf und ab. Und inzwischen grapschten seine langen, haarigen Arme im Kissen zwischen seinen aufwärts gebogenen Fußsohlen, bis sie eine imaginäre Nuß gefunden hatten, die sie vorsichtig auszuschälen begannen. Dann wurden die Augen niedergeschlagen und betrachteten den nichtigen Gegenstand in den emsigen Händen mit einer Aufmerksamkeit, die wirklich furchtbar war: Es war die vollkommene geistige Absorption des gewaltigen Tieres in der lächerlichen Nichtigkeit. Und dann brachten sie die Nuß zum Mund, während der drohende Blick wieder auf mir ruhte. So ging es weiter. Der Schweiß brach mir am ganzen Körper aus. Und dann geschah das Sonderbarste. Mitten in meinem faszinierten Starren fühlte ich, daß meine Augen zufielen, und wie ein Klotz schlief ich ein. Ja, Leute, ich schlief ein. Meine Nerven gaben auf. Und ich darf wohl sagen, daß der Schlaf sich meiner erbarmte. Gott weiß, daß er mich daran gehindert hat, von noch schlimmeren Dingen Zeuge zu sein. Mein Schlaf kann nur sehr kurz gewesen sein. Ich spürte einen Schlag in meinem Körper und war wieder hellwach. Noch immer schimmerte es schiefergrau, aber das Licht war
etwas stärker. Jos van der Haerden lag im Bett, das Gesicht zur Wand, und nur ein kleines Büschel Haar kam aus den Decken heraus. Um zur Tür zu gelangen, hätte ich an seinem Bett vorbeigemußt, und das wagte ich nicht für tausend Kröten. Im Nu war ich in Unterwäsche aus dem Fenster gesprungen, barfuß auf das hartgefrorene Gras der Bleiche, und läutete wie ein Besessener an der Vordertür. Frau Korenaar öffnete mir selbst. Ohne Erklärung flog ich an ihr vorbei in das Zimmer ihres Sohnes. Ich rüttelte Wim wach und dann Bielstra und Tonny Wellingman. Stockend und holpernd kam meine Geschichte heraus. Wir mußten Jos van der Haerden unschädlich machen und beschlossen, ihn zu überwältigen. So, wie wir waren, alle in Nachtzeug, gingen wir, mit einem festen Seil, in mein Zimmer. Rasch die Tür geöffnet, schon standen wir an seinem Bett. Wim schlug die Decken zurück. Jos van der Haerden bewegte sich nicht. Das Gesicht zur Wand, mit weit geöffneten Augen und mit einem heißen, glänzenden und doch trüben Blick lag er auf seiner rechten Seite und grinste vor sich hin. Im nächsten Moment waren wir über ihn, aber er schüttelte uns mit einer Mühelosigkeit ab, die seine legendäre Kraft bewies, und hüpfte aus dem Fenster, das hinter mir offen geblieben war. Und jetzt sahen wir es alle. Er rannte geradewegs auf den Zijlsingel zu. Oder nein, er rannte nicht: Er ging auf Händen und Füßen, schwer, zusammengekauert, dennoch aufrecht, schwankend wie ein Gebrechlicher und enorm flink. Seine krummen Beine wankten, und er stützte sich auf seine langen Arme, auf die Fingerknöchel. Sein Hemd war im Kampf von unten nach oben zerrissen, und an allen Seiten war sein schwarz behaarter Körper entblößt. Der Kopf, hoch aufgerichtet, bewegte sich wie automatisch nach links und rechts, und aus dem weit offenen Mund erklang immer wieder
ein tiefer, rauher Schrei. So flüchtete er zwischen den schwarzen Stämmen der Bleiche im trockenen, eiskalten Oststurm, im stahlfarbenen Winterlicht. Und es war kein Mensch, den wir da laufen sahen, sondern ein Affe. Trotz all meines Schreckens und meiner Abscheu hatte ich ein Auge für die meisterhafte Nachahmung, die Jos van der Haerden uns gab und mit der er den Schleier von seinem Intimleben zog. Was für eine Aussicht endloser Traurigkeit öffnete sich da vor mir. Denn wie viele sinistere Nächte von einsamen Kammerübungen, von Übungen auf einsamen Landwegen wurden durch diese Imitation verraten! Jos van der Haerden sprang am Ende der Bleiche in den Singel, auf dem eine dünne Schicht Eis lag. Am anderen Ufer wurde er ergriffen, offenkundig sogleich zahm. Ich blickte die anderen an: sie waren totenbleich. Am selben Tag wurde Jos van der Haerden nach Endegeest gebracht. Vollständigkeitshalber muß ich noch mitteilen, daß Bielstra uns abends erzählte, daß seine Zimmerwirtin ihm vor ungefähr zehn Tagen eine Geschichte berichtet habe. Am frühen Morgen war ihr Milchmann, der mit seiner Karre aus RijpWetering kam, auf dem Weg nach Leiden auf einen menschengroßen Affen gestoßen, der vor ihm weggesprungen und in einen Baum geklettert war. Er hatte sofort eine Kehrtwendung gemacht und den Weg über Hoogmade genommen. Bielstra hatte da noch über die Geschichte gelacht. Aber jetzt? Und von anderer Seite hörte ich wiederum – denn es ist auffällig, wie bei einem solchen Anlaß die eigene Erfahrung im Nachhinein anderweitig bestätigt wird – von einem Fischer, der bereits im Herbst in der Abenddämmerung einen großen Affen im hohen Gras an der Vliet hatte sitzen sehen. Ja, Jungs, das ist die Geschichte von Jos van der Haerden. Das Erzählen hat mich ganz schön mitgenommen! Und ihr
könnt mir glauben, daß ich es seit der bewußten Nacht nicht mehr gewagt habe, an Endegeest vorbeizugehen, bis vor einem guten Jahr, nämlich seitdem ich weiß, daß Jos van der Haerden gestorben ist.
Jan Jacob Slauerhoff Das Ende vom Lied
There is some system in his madness. Diese Geschichte kommt einer Anklageschrift gleich, auf Grund derer nur ein Urteil gefällt werden kann: Schuldig, verurteilt zum Tode und, in einem Land, wo sie noch bestehen, zu allen Folterungen, die ausgedacht worden sind, um ein Bekenntnis zu erzwingen. Denn man wird denken, daß ich nicht gestanden habe, und mehr wissen wollen. Bedauerlich für die Neugierde der Menschen und vor allem für ihr Rechtsempfinden, ihren Rachedurst auf den Verbrecher, der anders ist als sie, der tat, was sie sich nicht in tausend Jahren für ein Tausendstel trauen würden, bin ich ungestraft weit außerhalb des Bereiches der irdischen Gerechtigkeit, und mir kann nichts Schrecklicheres widerfahren als das, was ich bereits erlebte. Auch im Jenseits nicht. Wenn ich »Das Inferno« lese, lache ich und denke an ein Gruselkabinett. Auch ich hatte eine Beatrice. Und ich war lang noch kein Dante. Ich gab mich auch nicht damit zufrieden, sie aus der Entfernung zu verehren. Ich besaß sie und verließ sie, ohne Grund, dem Elend preisgegeben. Sie war schön und rein wie der azurne Himmel, den man auch mit einem Blick erkennt. Sie langweilte mich, so wie das Paradies ohne eine Sünde, einen dunklen Winkel, mich langweilen würde. Ich verließ sie. War das keine Todsünde, die dennoch vor dem Gesetz nicht strafbar ist? Aber die Strafe wurde vollzogen. Später. Ich wußte nichts mehr auf der Welt anzufangen. Was kam hiernach? Dennoch machte ich weiter,
diente meinem Land eine Zeitlang an seinen Gesandtschaften, und auch das erfüllte mich mit Widerwillen. Darauf verbannte ich mich selbst nach Sibirien und befand mich lange in verschiedenen Städten, ohne Grund. Ich kannte versoffene Offiziere und ihre Töchter, die Kultur nur vom Hörensagen kannten. Und Verbannte. In Omsk hatte ich alle Fährten verloren, das heißt: Ich wußte nicht mehr, wohin ich gehen sollte. Dann brach der Krieg aus, eine Erlösung für mich. Aber dies ist kein Bericht meiner Zerstreuungen, also überspringe ich den Krieg und beginne wieder am Ende. Als das Suchen, ohne zu wissen, wonach, wieder begann. In der blutigen Schlacht bei Mukden, welche die russische Armee mehr als die Hälfte ihrer Offiziere kostete, wurde auch ich verwundet, ein Bajonettstich in die Hüfte. Es war kein Wunder, ich hatte mich mehr Gefahren ausgesetzt, als ein Offizier das in einem modernen Krieg muß, auch wenn ich nicht tapfer bin. Insbesondere einen Bajonettangriff halte ich für das fürchterlichste Gefecht, das ein Mensch erleben kann, die Vorstellung eines Stiches in den Bauch läßt mich schaudern. Natürlich bekam ich so meine Wunde. Bei einer Attacke. Ich hatte wie eine Krabbe laufen wollen. Ich konnte nicht weiter, wurde ohnmächtig, fiel auf den weichen Boden, als ob ich ertränke: Mein Leben zog an mir vorüber, ich hatte Todesangst, war dennoch eine Spur erleichtert. Als ich wieder zu mir kam, lag ich mit einem groben Verband auf einem holpernden Ochsenkarren. Nach einer quälenden Fahrt erreichte unser Transport das deutsche Hospital zu Bl…w. In medizinischer Hinsicht war das gut. Aber die Ärzte waren autoritär und flegelhaft, die Krankenschwestern grobschlächtig und geheuchelt freundlich, so daß ich mich nach meiner Genesung sehnte. Ich begann auch, einen Haß gegen das gelbe Pack zu hegen, der noch lange nicht abgekühlt ist. Die Nachricht von der Vernichtung unserer Ostseeflotte löste denn
auch einen Wutanfall aus, der noch verstärkt wurde durch die Gesprächsfetzen, die ich auffing: Selbstverständlich… keine Technik… wenn wir erst gegen England… Eines Abends wandelte ich zum ersten Mal mit einem Stock in dem kleinen Garten, mir ausrechnend, wann ich wieder gesund sein würde. Eine ausgestreckte Hand – die Oberschwester, die immer ein liebes Lächeln für mich hatte. »Herzlichen Glückwunsch… Port Arthur ist gefallen.« »Glück?« »Jetzt müssen Sie nicht mehr in den Krieg.« Und: »Sie bleiben ruhig hier.« Sie legte mir ihre Hand auf die Schulter… Ich ließ meinen Stock fallen, flüchtete. Haß gegen die Deutschen und die Japaner hatte mich im Griff. Mein Wärter packte die Koffer, rief eine Droschki, ich saß im Zug, meine Wunde stach… Sogleich nach der Ankunft zu Kharbin suchte ich den Gouverneur auf. Er empfing mich überrascht, aber höflich. Als ich ihn bat, sofort wieder in den Dienst treten zu dürfen, sah er auf mein Bein, mein Gesicht und schüttelte den Kopf. Ich nahm Haltung an. Er winkte ab, nahm einen Brief von seinem Tisch: »Einstellung der Feindseligkeiten, Friedensverhandlungen in Portsmouth. Hoffen wir auf den nächsten Krieg. Dann geht es Dir auch besser. Sei mein Gast.« Er war gut, der alte General. Und drei Wochen später saßen wir in der Transsibirischen. In Moskau wurden wir als Sieger gefeiert, fühlten uns verbittert, aber auch getröstet – ja, doch schon getröstet, außer morgens, wenn wir spät erwachten, mittags, wenn wir lustlos lasen oder spielten. Auf einer Soiree bei Fürst Wr. kam Alexej, dem ich seit unserer Verlegung in Irkutsk nicht mehr begegnet war, mit ausgestreckten Händen auf mich zu. Wir hatten einmal Zwist gehabt, um eine Dirne, glaube ich, oder war es wegen Falschspielens? – Wir waren jetzt Todfeinde, da das Duell
verboten war. Sein fröhliches Gesicht bedeutete also eine Hiobsbotschaft für mich. »Höre zu«, begann er sogleich, mich hinter eine Palme ziehend, aber dennoch überlaut sprechend, »weißt Du, was mit N… a geschehen ist?« »Es interessiert mich nicht.« »Bonne mine à mauvais jeu, mein Werter. Wir alle wissen doch, daß Du um ihretwillen an den Suff geraten, nach Sibirien und in den Krieg gegangen bist. Sie ist zunächst die Mätresse von Wr. gewesen, dann von L, dann von mir.« »Das lügst Du, Schuft!« »Und jetzt steckt sie in einem Kloster auf der Insel Solovetsky bei Archangelsk und kommt da nie wieder raus«, schloß er auf der anderen Seite der Palme und verschwand. Ich habe ihn in jener Nacht und noch ein paar Tage länger gesucht, gab es dann aber auf und vergaß… Vielleicht habe ich das alles auch nur geträumt, wer weiß. Ich spielte viel, verlor und gewann manchmal alles, es blieb sich gleich, und nach einem Monat in Moskau hatte ich es satt und ging auf mein Gut, wo ich drei Jahre lang nicht gewesen war und wo niemand mit meiner Rückkehr rechnete. Der Verwalter kam mir ängstlich entgegen, ich verlangte die Bücher, er wurde bleich. Ich ging durch die Gärten – eine einzige Wildnis –, der Wald war zu einem großen Teil abgeholzt, und der Rest in den Urzustand zurückgekehrt. Die Obstgärten waren ausgeplündert. Die Kleinbauern waren ausgemergelt, die Großen hatten sich auf Kosten der anderen und meiner bereichert. Der Verwalter lief jammernd und sich entschuldigend hinter mir her. Vor einem eingestürzten Gehöft blieb ich stehen; es war, als ob der Trümmerhaufen noch rauche; ich drehte mich um – der Verwalter war verschwunden. Vergebens ließ ich ihn verfolgen; ich gab den Ausgeplünderten freie Hand gegen ihre Unterdrücker: Die reichen Gehöfte brannten, schwere Bauernleiber baumelten an sich durchbiegenden Ästen, die
Gerächten brachten mir eine Serenade mit brennenden Fackeln und hielten im Park ein Gelage ab; danach wurde es endgültig still. Ich ließ im verwahrlosten Haus ein paar Zimmer herrichten, der Rest blieb so, wie er war. Die Besuche von neugierigen Landadeligen aus der Umgebung hörten nach einigen Wochen auf. Danach schweifte ich in den Wäldern umher, las in den Büchern, die im Familienbesitz waren, fischte im Teich, sah aber überall ein verhaßtes, verzerrtes Spiegelbild: mich selbst. Was sollte ich anfangen? Manchmal, wenn ich ziellos über die Heide wanderte, beneidete ich den alten Macbeth: Wenn er nicht weiter wußte, ging er in das wüste Hochland und fand dann immer ein paar Hexen, die ihm Rat gaben. Doch schlief ich einen traumlosen Schlaf. Mein neuer Majordomus trank und spielte mit mir, wir schliefen ein zwischen den Flaschen, über den Karten. Eines Abends war er im Städtchen und ich allein, ich saß beim Ofen in einem plumpen Sessel, hatte meine Stiefel noch an, meine Mütze auf. Meine Hüftwunde brannte, ich vermeinte auch, die Gicht heraufsteigen zu fühlen. Und dennoch schlief ich dort in jenem Stuhl vor dem verlöschenden Feuer einen Schlaf, so tief und wohltuend, wie ich ihn seit meiner Flucht aus dem Hospital zu B…w nicht mehr erfahren hatte. Ich träumte nicht, ich hörte, nur ein fortwährendes Dröhnen wie von einem Schnellzug, und darunter vernahm ich schließlich und wiederholt: »Stehe auf und gehe sie suchen.« Ich hörte es wie in Großbuchstaben gerufen. Ich erwachte, das Feuer war aus, die Lampe schwelte, die Sterne standen noch vor dem Fenster. Ich schauderte, konnte zunächst nicht aufstehen. Ich läutete vergebens, und endlich schleppte ich mich zum Tisch. Dort stand eine Flasche. Während ich trank, hörte ich wieder jene Worte. Mißmutig grübelte ich über ihren Sinn nach, und letztendlich beschloß ich, zu einem altbewährten Mittel zu greifen, die Bibel
aufzuschlagen und meinen Finger irgendwo mitten auf eine Seite zu legen. Ich holte das alte Buch aus einer Lade, dort lag es unter Jagdzeug. Ich schlug es auf, wollte meinen Finger plazieren, aber das war nicht nötig, da lag ein Lesezeichen, ein verblichener Reiseprospekt von vor zwanzig Jahren über den Lago Maggiore. Lugano, Locarno, zuerst verstand ich nicht, erinnerte mich in letzter Minute, daß eine meiner Tanten in den achtziger Jahren nach einer religiösen Krise eine besessene Touristin geworden war. Ich beschloß, es dennoch als einen Wink von höherer Stelle aufzufassen und dorthin zu gehen, ärgerte mich danach wieder über meine Torheit, verfluchte meine Tante, warf ihren Prospekt und die Bibel ins Feuer und trank, bis ich wieder einschlief. Aber jede Nacht wurde ich wach, hörte Namen, vor allem Locarno – sollte das etwas bedeuten? Und eines Nachts habe ich mich auf einmal angekleidet und bin zum Bahnhof gefahren, um auf den einzigen Zug zu warten, der dort vorbeikam und anhielt. Ich sah starres Erstaunen in den Augen des Bahnwärters, der dort in dem Schuppen, der den Bahnhof darstellte, lebte, aber er sagte nichts, half mir höflich beim Einsteigen, als der Zug ankam, brachte für fünf Rubel die Hand an die Mütze und, eines Eides zu schweigen wegen, an sein Herz. Später sah ich dies noch oft vor mir: Die Fläche tauenden Schnees, grau im Morgen, der schmutzige Mann zwischen zwei qualmenden Lampen, sich vor mir verbeugend, eine Mütze in seinen Händen drehend. Warum gerade das? Vier Tage später war ich in der Schweiz. Ich hatte im Zug nicht getrunken, fühlte mich also durchgefroren und schwach, als ich in Locarno ankam, und blieb tagelang auf meinem Zimmer.
Die erste Woche geschah nichts, die zweite noch weniger. Ich vermied jede Bekanntschaft – mit Mühe, denn ich hatte nicht daran gedacht, einen fremden Namen in das Buch zu schreiben. Ich stand spät auf, frühstückte allein auf meinem Zimmer, rasch, die schmachtenden Töne der Zigeunerkapelle unten waren mir zuwider. Meistens saß ich auf der Terrasse und starrte auf die großen weißen Berge, weit entfernt, und die kleinen azurnen Wellen nahebei. Ich sah auch häufig dahinter etwas anderes: Stacheldrahtverhaue, Horden kleiner gelber Gestalten, die umfielen, in kleinen blauen Flammen aufsprangen, wieder fielen, wieder weiterstolperten, in immer kürzerer Entfernung und langsamer, und endlich endgültig liegen blieben, zusammengeschrumpft. Meilenlange Transporte, die in schmaler, gewundener Linie vorbeizogen, durch weiße Steppen, graues Hügelland, Kreuzer, die zuckten, schief absackten und in gelbem Qualm untergingen. Einige Male durchlebte ich wieder den Sturmangriff, der mein letzter war und mit meiner Wunde endete. Einmal, als das Bajonett mich wieder aus der Nähe bedrohte, stand dort eine weiße Erscheinung, vor der die Vision wich, ein Mädchen, eine junge Schwedin. Ich hatte sie oft gesehen. Sie lachte freimütig. »Wenn Sie nicht anfangen, etwas zu sagen, muß ich es wohl tun« – sie salutierte an der Segelmütze, die auf ihren blonden Haaren ruhte. »Woher wissen Sie, daß ich Offizier bin? Sie wollen sicher etwas über den Krieg hören?« »Ganz und gar nicht. Nein, ich komme, weil Sie allein sind und darum vermutlich in einem Boot zur Isola Madre werden mitfahren wollen – denn allein darf ich nicht und mit meinen Bekannten will ich nicht, denn die denken sofort an eine conquête. Sehen Sie, deshalb«, schloß sie dennoch errötend.
»Und Sie denken, ich habe im Osten so viele conquêtes gemacht, daß ich nicht nach mehr verlange?« »Ich denke nichts, ich will nur mit Ihnen Boot fahren.« »Gut.« Sie gab mir die Hand und sprang davon. Traditionell: Der müde Soldat und das junge Mädchen, Idylle. Ich trank mehr als gewöhnlich, weniger als ich wollte, dachte trotzdem an morgen, verlangte und ärgerte mich über dieses Verlangen, aber eigentlich vielleicht, weil ich nicht heftiger verlangte und mir keine Umarmungen vorstellte, keine Pläne hatte. Warum so alt, ohne irgendeinen Lebenswillen? Ein Glück nur, daß ich noch etwas zu suchen hatte. Der Morgen war windstill. Ich kleidete mich langsam an, jetzt wieder voller Widerwillen. Unten aber herrschte eine herrliche Ruhe, es war in dieser Frühe kein Kurgast zu sehen. Vielleicht brauchte die Tour doch nicht stattzufinden… Dort näherte sie sich schon, entlang der Balustrade, in einer Bluse und einem kurzen, blauen Rock, ein Mädchen. »Gehen wir?« »Es gibt ja keinen Wind.« »Der kommt schon noch, wir rudern erstmal abwechselnd.« Sie nahm meinen Arm: »Los, komm jetzt.« Bei der Insel machten wir unter überhängenden Zweigen fest. Der Wind kam nicht, wir sprachen nicht, die Schatten glitten kaum hin und her, und ich freute mich in dieser Stille, die den ganzen Tag unberührt blieb. Sie fragte nicht, mit ihren Augen nicht, mit ihrem Körper nicht. Als wir landeten nur: »Morgen wieder?« Ja, viele Morgen, auch wenn der Wind uns beinahe immer im Stich ließ. Manchmal schwamm sie, während ich auf das Boot achtete, aber zerstreut forttrieb und Seegras durch meine Hand gleiten ließ. Ich dachte schon einmal an Feste in Rußland, unter verräucherten Balken, zwischen vollen und zerbrochenen Gläsern, gestiefelten Tänzerinnen, angestachelt und
aufgepeitscht bis zum Bluten. Und dann stieg sie aus dem Wasser, Leukothea. Eines Tages – hatte sie nicht gesagt, daß es der letzte sei? – schwamm sie noch einmal, und ich versank in tiefe Grübelei, bemerkte nicht, daß sie in das Boot klimmen wollte, sich mit ihrem Fuß in unsichtbaren Wurzeln verwirrte, mehr und mehr hängen blieb, rang, keuchte, bis sie endlich um Hilfe rief. Ihre Augen waren flehend wild, aber ich schien ohnmächtig, etwas zu tun, selbst verwirrt und halb in einem Traum ertrunken, den das Licht nicht durch meine aufgerissenen Augen austreiben konnte. Im letzten Augenblick kam ich wieder zu mir und ergriff ihre bereits abrutschenden Hände. Sie warf mir nichts vor, kleidete sich zitternd an. Ich ruderte darauf aus der kleinen Bucht, und ein Stückchen weiter stieg ich aus dem Boot. Sie ruderte allein zurück. Wir hatten nichts verabredet. Ich hatte nur nach ihrem Namen gefragt. Feodora. Ein Stückchen vom Ufer entfernt holte sie die Riemen ein, richtete sich auf. Die Sonne lag hinter ihr, sie stand groß und kupferfarben wie eine Indianerin aufrecht im Boot. Sie stimmte ein schnelles norwegisches Lied an, es wehte in Fetzen über das kühle graue Wasser. Sie sang schneller, endete mit einem lauten Schrei, tauchte in das Boot und war verschwunden. Ich beschloß, sogleich aus dem Hotel und Locarno abzureisen, aber ich war zu müde, als ich in mein Zimmer zurückkam. Ich schlief vor meinem Toilettentisch sitzend ein und erwachte in der Nacht. Dann habe ich sie noch kurz gesehen. Sie lag halb zugedeckt und atmete schwer und schob immer wieder etwas von sich, ringend, als sei es eine Grabplatte. Und den anderen Morgen blieb ich und suchte nach Feodora. Sie war abgereist.
Viele Tage blieb ich allein: Glücklich? Wunschlos zumindest. Das Gefühl des Suchens war wieder über mich gekommen. Und ich dachte: Jetzt ist sie es. Warum ließ ich sie gehen? Um sie zu suchen. Dann wußte ich, was ich suchte. Und doch hoffte ich, sie zu finden. Da ich niemanden kannte, konnte ich mich nicht erkundigen, den Lakai wollte ich nicht fragen, im Fremdenbuch fand ich ihren Namen nicht, auf der Terrasse erschien sie nicht, auf dem See, auf dem ich jetzt segelte, und zwar alleine, fuhr sie nicht. Und am heißen Nachmittag saß ich im Garten, Staub und Verzweiflung atmend. Es folgte eine Zeit des Umherirrens ohne irgendeine klare Linie. Ich war vollkommen gedankenlos, litt nicht und schweige darum über diese Zeit. Ich weiß nichts davon; ohne Bewußtsein umhergehend. Ich fand wieder zu mir selbst, als ich an einem Abhang, mit nichts als einer Feldflasche bei mir, hinter dichten Sträuchern saß. Durch diese sah ich die Weiden, die weißen und grauen Schafe, die Almhütten. Manchmal erklang ein Glöckchen, die Sonne war nicht zu sehen, der Gletscher glühte nicht; eine reglose, hohe, weiße und unverrückbare Grabplatte, von unten durch einen gezackten Saum abgeschlossen. Ich dachte nicht, schaute weit vor mir aus, und unmerklich war ich stundenlang den Berg hinaufgestiegen. Mit einem Mal wurde es dunkel, ein starker Wind trieb schwere Wolken heran, die Schafe verschwanden. Der Winter hatte begonnen. Ich wurde in der Nacht wach und blickte in dem bäuerlichen Schlafzimmer umher, so geruhsam, als ob ich niemals mehr aus diesem tiefen Alkoven hinter den geblümten Vorhängen hervorkommen sollte, und erkannte jeden Gegenstand, jedes Möbel an seinem Platz. Das Licht war schwächer als Mondlicht. Ich hatte dies bereits gesehen, vor wie langer Zeit? Ich schlummerte wieder ein, leicht und lang. Beim Erwachen
erinnerte ich mich eines Augenblicks des Hellsehens in der Nacht und begriff nüchtern: Spätabends war ich hier angekommen, in mein Zimmer gegangen, eingeschlafen, ohne mich umzusehen. Die Bäuerin, die das ländliche Frühstück hereinschob, fragte freundlich, ob ich alle vierzehn Tage hierher käme, dann würde sie Sorge tragen, dieses Zimmer freizuhalten. Es stellte sich heraus, daß ich dreimal hier gewesen war; so hatte ich wieder eine Zeitbestimmung. Vom stillen Träumen hier in diesem großen Bett hoffte ich, eine Richtung zu bekommen. Morgens erinnerte ich mich niemals an etwas von den Reisen und Entdeckungen der Nacht. Den ganzen Tag wollte es auch nicht aufklaren. Ich denke, daß ich nachts dicht an meinem Ziel war. An einem Abend war ich beim Dorfschulmeister zu Besuch. In seiner abgetragenen Jacke, in alten Pantoffeln, die Pfeife neben sich auf den Boden gestützt, saß er zwischen dem Krempel seines vollen Studierzimmers. Er wollte seine Kenntnisse erweitern, fragte mich nach der Mandschurei und zählte in einem Atemzug, mit einer stolzen Linie um seinen alten, schlaffen Mund, alle Städte an der Transsibirischen Eisenbahn auf und brachte dann seinen schönsten Besitz zum Vorschein: einen großen Globus, den ich unter meinen Fingerspitzen rotieren ließ. Mein Fingernagel geriet in eine Fuge der Kugel, es war bei der Krim und dort lag: Feodosia. Ich bewunderte die Kugel, während ich sie unter meinen Fingern weiter rotieren ließ, trank noch eine Kanne Bier und ging. Der alte Mann geleitete mich hinaus und bat: »Komm bald zurück, über Rußland weiß ich so wenig.« Er sah mir nach, als sei ich die verschwindende Sonne. Durch meine Träume rotierte die Kugel und blieb, mit dem Schwarzen Meer vor meinen Augen, stehen. Aber nein, ich war nicht eine Woche später nach einer schnellen, forcierten Reise in Feodosia. Ich wußte, daß diese Buße ein präzises Maß
hatte, das noch lange nicht voll bemessen war. Viel später, in einem großen, letzten Leiden würde sich alles auflösen, und das Leid mit einem Mal umschlagen in ein unermeßliches Glück, das mein armes, verwirrtes Hirn noch lange nicht erfassen konnte. Also quälte ich mich noch monatelang in Italien, in kleinen Städten, langsam jedoch nach Süden reisend, um ein Gefühl des Näherkommens zu haben, und murmelte oft vor mich hin: »Von Feodora nach Feodosia«. Was habe ich gelitten in diesen staubigen Städten voller Fremder und ihren Parasiten. Florenz war ekelerregend, vollkommen anglisiert. Die anderen, kleineren Städte waren noch schlimmer. Die Museen waren so mit Kunstschätzen vollgestopft, daß alles vulgär wurde, eine Auslage in den staubigen Vitrinen, umdrängt von Scharen amerikanischer und deutscher Touristen mit hochroten Köpfen und auf- und niedergehenden Kiefern oder pergamentartigen Wangen und schlaffen Körpern, als seien alle reichgewordene Metzger oder Magenkrebsleidende. Ihre Frauen, mit Schutzbrillen oder Lorgnetten vor den matten oder stechenden Augen, widerten mich mehr an als jemals ein Feind. Manchmal konnte ich zwar bei einer Skulptur, die sie übergingen, um ihre puritanischen Gefühle nicht zu verletzen, allein sein. Aber die erstarrten Diskuswerfer und Wagenlenker verursachten mir Krämpfe, und wie viele Gemälde betrübten mich nicht durch Enttäuschung, Madonnen, keusch und üppig gerühmt, die nichts anderes waren als fahl und platt. Manchmal schwebte eine Gestalt vor mir her, die ich erst nicht sehen wollte, um ihr dann doch hinterherzueilen, die Museumstreppen hinab, zum Ärgernis der mumienhaften Saalwärter, unter Zurücklassung von Hut und Spazierstock, zur Befriedigung der Verwahrerinnen. Ich zog in die Abruzzen, erlebte nichts als nächtliche Kämpfe mit Ungeziefer, suchte verzweifelt Händel mit einer Bande, die mich wegen meines wenigversprechenden Äußern unbehelligt gelassen hatte. Nach
unentschiedenem Kampf luden sie mich ein, mich ihnen anzuschließen – ich schlug aus. Es hätte mich schon gereizt, einmal ein Museum zu plündern, aber dazu hatten sie keine Lust. Ich stieg wieder in die Ebene hinab und ging überall dorthin, wo Ruinen aus einem größeren Zeitalter übriggeblieben waren. In Paestum war ich drei Wochen, bis die Führer, die in mir einen zukünftigen Konkurrenten sahen, mich mit Steinwürfen verjagten. Später, in der Villa Borghese, die mich anfänglich bezauberte, stieß ich eines Abends beim Teich auf eine Herde japanischer Touristen, die mit schrillen Stimmen die Abendruhe zerrissen und mit gelben Angesichtern und Reiseanzügen die reine Umgebung befleckten. Nachts in meinem Hotelzimmer zogen wieder endlose Kolonnen Gelber vorbei, ich ließ sie mit Maschinengewehren beschießen, ununterbrochenes Knattern –, sie fielen, neue kamen, zertrampelten die vorigen, endlos, immer dichter stürmend. Am nächsten Tag war ich unpäßlich, meine Haut spannte straff um den Schädel. Ich sah keine Gelben mehr, aber die Römer verursachten mir den gleichen Ekel, schaler, aber genauso widerwärtig. Noch blieben mir drei Wochen in Italien. Ich wollte nicht eher abreisen, wählte eine Ausflucht, setzte nach Sizilien über, besuchte zahlreiche Katakomben als Gegengift, aber die Gänge mit Gräbern, die gläsernen Särge, die Gruben voller Gerippe ließen mich teilnahmslos. Massengräber, frische Leichenberge waren ergreifender. Ich hoffte auf einen Ausbruch des Ätna, dieser war ruhiger als je zuvor, rauchte mäßig, der Lavastrom stand still. Eine Woche vor der Zeit schiffte ich mich in Catania auf einem italienischen Passagierschiff nach Konstantinopel ein.
Die ›Mario Desio‹ war ein kleines Dampfschiff, elegant gebaut, innen dreckig. Es gab wenige Passagiere meiner Klasse, die langen Tische waren leer, einsam saßen wir an einem Kopfende, eine so internationale Gesellschaft, daß nicht gesprochen wurde. Auf Deck saßen die Auswanderer, die in die Levante zurückkehrten, zwischen ihren Bündeln; sie sangen die halbe Nacht lang östliche Lieder. Ich glaube, daß ich meistens schlief. In einer Nacht erwachte ich durch ein anderes Singen, weniger monoton und dröhnend, ätherisch, beängstigend hoch. Ich ging an Deck und sah eine lange Insel, grüne Küsten, graue Abhänge und schneeweiße Gipfel, der Mond stand dazwischen wie ein bleiches Antlitz, von dem sanfter Glanz herabfloß. Es war Kreta. Ein großes Verlangen ergriff mich, dorthin zu gehen und niemals weiter. Ich hörte von den hohen Gipfeln ein Rufen. Die See schien so glatt, die Insel so nahebei, sollte ich schwimmen? Aber das wäre ein Herausfordern gewesen. Ich zwang mich zurück in meine Kabine. Einschlafend versprach ich mir, von Smyrna aus zurückzukehren. Und fast schon schlafend dachte ich: Ich wandele jetzt in einem großen Labyrinth, warum nicht im alten, kleinen? Es schien mir so friedlich. Und so kam ich nach Kreta; mit einem noch kleineren, dreckigeren Boot, fand aber nichts als schmutzige Städtchen und Dörfer, Schafherden, Griechen und Türken. Die gerühmte Gastfreundschaft mußte ich teuer bezahlen, ich führte einen heftigen Kampf gegen das Ungeziefer. In Sphakia bekam ich wieder japanische Visionen… Ein Marsch über den Theodorus brachte mich nach Chania, erschöpft, aber immer noch gehetzt, denn ich fragte mich fortwährend, was ich hier tat. Diese Ratlosigkeit muß deutlich auf meinem Gesicht abzulesen gewesen sein. Ich saß im kühlen Innenhof der Herberge zu
Chania und trank und legte meinen Kopf auf den Tisch, schlief oder döste. Eine Hand auf meiner Schulter, ein Bart an meiner Wange. Ich blickte auf, ein alter Mönch stand neben mir. Voller Mißtrauen bot ich ihm ein Glas Wein an und fragte, was er verlange. Er lachte. »Nichts verlange ich, und mein stärkstes Verlangen wäre nichts gegen das, was in Euren Gliedern steckt. Es ist gefährliches Gift. Warum geht Ihr nicht in ein Kloster?« »Euer Blick ist scharf, Euer Rat schlecht. In einem Kloster wäre ich wehrlos. Jedoch will ich gerne Athos besuchen. Kennt Ihr es? Könnt Ihr es mir aufschließen?« »Ich kann es, würde Euch aber einen schlechten Dienst erweisen. Ihr würdet dort ratloser herauskommen als aus dem Krieg.« »Woher wißt Ihr…?« »Ich war dort.« »Wo saht Ihr mich?« »Auf einem Ochsenkarren. Ihr saht mich nicht, Ihr lagt im Delirium. Ich gab Euch Wasser. Ihr gabt mir Wein. Ewige Wechselwirkung. Das findet Ihr im Kloster Athos nicht – mit seinem alten Silber und seinen selbstzufriedenen Asketen. Sie zeigen ihre Schätze, fordern Tribut von Euch und lassen Euch gehen – allein ärmer an Börse und Geist, als da Ihr kamt.« Der Mönch hatte das kindlich und grob Erhabene, das ein Missionar bekommt, der lange unter Wilden gelebt hat. Halb verärgert fragte ich: »Nun, Ihr seht, daß ein Verlangen mich beherrscht; wenn Ihr so viel wißt, sagt dann auch, was ich verlange, wohin?« »Was Ihr verlangt? Auf etwas zu stoßen, dem sich kein Sterblicher vor Euch näherte und das so entsetzlich ist, daß es Euer anderes Entsetzen austreibt, etwas Rätselhaftes, das Euch die größten Geheimnisse enträtselt und selbst geheim bleibt.«
Wieviel Wahres oder Passendes auch in diesen Orakelsprüchen lag, sie imponierten mir nicht. Ungestüm fragte ich: »Und wohin verlange ich?« »Nach einem Ort im Osten. Dennoch geht Ihr dort nicht hin.« Diese vage Antwort bestärkte mich wieder in der Meinung, daß er ein durchtriebener Wahrsager sei: Wie viele Russen verlangten nicht nach ihrem Land und schweiften doch in der Fremde umher. Von Feodora-Feodosia konnte er nichts ahnen. »Der Osten ist kein Name. Wie viele wenden nicht ihr Antlitz dorthin, während der Muselman an Mekka denkt, der Perser an Shiraz, der Buddhist an Djaipur. Nein, sage mir, wohin ich will.« »Wenn Ihr es selbst nicht wißt, kann ich es dann sagen? Wenn ich es sage, werdet Ihr selbst später wieder zweifeln, ob es Euer eigenes Verlangen war, und dann habe ich Euch, anstatt wegkundig, zielverloren gemacht.« Er trank sein Glas aus, strich seine Kutte glatt und stand auf. »Wohin geht Ihr?« »Weiter.« »Was seid Ihr denn?« »Bettelmönch. Ich komme überallhin.« »Aber warum, mit Eurer Weisheit?« »Dachtet Ihr, daß ich sie ohne mein Umherziehen, meine Armut erhalten hätte? Dachtet Ihr, daß das meist Begehrte ohne Kampf erworben wird?« »Seid Ihr mit Eurem Los zufrieden?« »Vollkommen.« »Wenn Ihr Hunger habt?« »Ich finde immer Brot und sonst die Früchte des Feldes.« Er stand vor der zerbröckelten Mauer des Innenhofs, die Hand an seinem Stab, die Augen in die Ferne gerichtet. Ein gewöhnlicher Bettelmönch – etwas ekstatisch, etwas dumm und plump im Glauben. Und doch…
»Leistet mir ein paar Tage Gesellschaft«, stieß ich hervor. Er lachte. »Herr, was soll ein Bettelmönch in Eurer Gesellschaft machen?« »Länger, wenn Ihr wollt.« »Ich kann Euch nicht führen«, sagte er endlich, »Ihr müßt selbst suchen. Gut, ich werde bleiben. Und Euch das Land zeigen. Aber weiter kann ich Euch nicht bringen.« So zogen wir tagelang zusammen umher. Verbitterung stieg immer wieder in mir auf, daß ich von diesem dummen Mönch erwartet hatte, etwas über mein Schicksal zu hören. Es konnte sein, daß Unwissende in seinen Worten irgendein Heil fanden. Für mich waren sie wie Qualm vom allerschlechtesten Weihrauch, benebelnd und bedrückend. »Weißt Du ein Kloster, in dem etwas zu sehen ist, etwas, das sonst nirgendwo mehr existiert?« fragte ich ihn eines Abends in einer Herberge, in der es mehr Schmutz und Ungeziefer als Essen gab. Er sah mich entgeistert an. Aber auf einmal hellte sich sein Gesicht auf, und ich sah, daß ich etwas erfahren würde. So, wie ein Wetterleuchten über eine rauhe Felslandschaft fällt und plötzlich durch eine Kluft eine schöne Gegend zeigt. Aber er schwieg weiterhin, lachte töricht, und alles war wieder weg. Jetzt aber war ich entschlossen, die Fährte nicht aufzugeben. Ich war überzeugt, daß er etwas wußte. Er wollte, daß wir weitergingen; jetzt weigerte ich mich. »Sage mir, woran Du dachtest, ich werde Dir viel Geld geben! Aber lüge nicht, oder ich werde Dich zu finden wissen!« Und ich ergriff ihn, schüttelte ihn. Er wich zurück, strich über seinen Bart. »Mich finden? Ihr könnt nicht einmal Euch selbst finden.« »Jetzt sag’ es, Väterchen, vielleicht kann ich es dann«, flehte ich. »So ist es gut«, sagte er. »Ich werde es Euch sagen. Aber nehmt dies hier mit, sonst nutzt es nichts.« Er holte eine kleine
Heiligenskulptur aus seiner Kutte. Der obere Teil war eine schlanke Frauenfigur, die in einen formlosen Klumpen mündete. Er legte sie in meine Hand. Ich spürte, daß es pures Gold war. Mein Erstaunen über das schöne Stück, die seltsame Weise, auf die es unvollendet war, das Unerwartete, daß ein Bettelmönch ein so kostbares Stück besaß, und vor allem, daß er es mir in die Hände gab, übermannte mich so sehr, daß ich mit der kleinen Skulptur auf meiner flachen Hand reglos stehen blieb und vermutlich törichter ausgesehen habe, als es der Mönch nach meiner Einschätzung war; zumindest heiterte sich sein Gesicht wieder auf. Lief dieser Mann in einer demütigenden Vermummung auf Erden herum, war es ein kindlicher Narr, der Augenblicke der Weisheit hatte, oder war die kleine Skulptur doch kein Gold, und dies alles ein raffinierter Trick? »Hiermit müßt Ihr zu einem Kloster gehen, das im K… – Gebirge liegt, zwei Tagesreisen von Feodosia entfernt«, sprach er wie sinnend. Jetzt wußte ich sicher, daß hierin eine Bestimmung lag und kein Zufall, so voller Verbindung zu meinem launischen Schicksal, wie selten ein irdisches Geschehen sein kann. Ich nahm die kleine Skulptur an und fragte, was er verlange. »Ich bin ein armer Mann«, sagte er bescheiden. »Laßt es wiegen und gebt mir den Wert des Goldes.« »Das wäre zu wenig, es ist möglicherweise eine Kostbarkeit, die alle russischen und ausländischen Museen gerne besitzen würden.« »Sollte ich es denen geben? Es in einem gläsernen Schrank herumliegen lassen, bloßgestellt vor jedermanns Blicken? Dafür ist es nicht geschaffen worden.« »Warum ist es nicht fertiggestellt?« »Weil der Schöpfer keine Zeit hatte. So ist es auch mit der Erde gegangen.«
»Warum hat Gott dann am siebenten Tag nicht weitergearbeitet?« »Sollte Er alles machen und die Menschen nichts?« »Die hat Er doch auch geschaffen?« »Nein, denkt Ihr, daß wir von göttlicher Abkunft sind? Wir sind aus dem Lehm der Erde geschaffen, von einem Göttergeschlecht, das jetzt tot ist, gestorben vor Langeweile. Wir dürfen dankbar sein, daß Gott Seinen Feinden noch so viel geholfen und Seine Söhne gesandt hat. Nun, das wird Er nicht mehr tun.« »Seid Ihr denn kein Sohn Gottes?« »Nein, nein, wir sind etwas anderes. Menschen auch nicht, glücklicherweise. Aber komm, laß uns dies hier erledigen.« Wir gingen zu einem römischen Juwelier in Chania. Er legte die kleine Skulptur auf seine Waagschale, prüfte sie und nannte einen lächerlich niedrigen Preis. Ich erboste mich, aber der Mönch lachte, verbeugte sich, zog mich mit sich hinaus. »Nun, zweimal jene Summe wird sicher genug sein. Gebt sie mir in der Herberge.« Ich spürte, daß mich etwas irritierte, sah mich um und gerade noch den Juwelier um eine Ecke verschwinden. Doch ein Komplott? »Laßt uns die Herberge verlassen«, fuhr er fort, »sonst werden wir heute nacht auch noch ausgeplündert, und das wäre schade. Dann kämet Ihr niemals in das Kloster.« »Ich hätte mehr Lust, die Banditen durchzuprügeln.« »Wie wollt Ihr sie erwischen? Ihr wacht die ganze Nacht und hört nichts als das Genage der Ratten und das Gesumme der Mücken. In dem einen Augenblick, in dem Ihr einschlummert – und der kommt –, sind sie im Zimmer, plündern Euch aus und pflanzen Euch vielleicht ein Messer ins Herz. Kommt, wir gehen.«
Eine Stunde später gingen wir – ich mit meinem Tornister und Ferapont mit seinem Beutel und seinem Essensnapf – auf einem schmalen Bergweg. Wieder haben wir Kreta durchzogen, über Pfade und durch Bergpässe, in die ich alleine nie hinein- und aus denen ich sicher nicht herausgefunden hätte, und ich begriff, wie hier die Legende des Labyrinths entstanden war, und erfreute mich an dem Gegensatz, daß ich es durchlaufen konnte, gerade nachdem ich aus einem Irrgarten von Gedanken befreit war. Und Kreta sah ich, wie keiner es gesehen hat: Tiefste Schluchten, Schlängelwege, doppelt beängstigend durch den Abgrund, an dem sie entlang liefen, und den Mangel an Aussicht zwischen den Bergwänden. Ich sah Gamsrudel über Bergkämme balancieren, anmutig und keusch wie Seiltänzerinnen; Bergweiden, ein paar Meter breit und Meilen lang, über die Ziegen hastig grasend gingen; Dörfer, so ineinandergedrängt, daß es schien, als ob sich die Häuser bei einer Überschwemmung auf einen Hügel gerettet hätten. Endlich, am östlichen Ende der Insel, erreichten wir einen kleinen Hafen, der tief in den Felsen lag wie in einer Muschel mit vielen Spiralgängen. Wir standen am Rand des Küstengebirges, am Horizont uns gegenüber trieb die Sonne auf dem grauen Wasser bereits in der Dunkelheit wie eine ausgebrannte Laterne. Die weißen Häuser der Stadt lagen noch im Licht. Auch die Berge waren dunkel, so daß es schien, als ob das Licht sich dort eingenistet habe. Das Wasser der Bucht kräuselte sich auf einem gelben Strand, der sanft absteigend noch ein Stück unter Wasser sichtbar blieb. Schwarze Schiffsrümpfe lagen da wie ruhende Robben, andere standen unter Segeln wie ruhende Seevögel. Ich hatte nicht gewußt, daß irgendwo auf Erden so viel Ruhe zu finden war. Kein Glockengeläut störte die Stille. Man konnte nur sehen, daß das Laub der Bäume, auf das wir
niedersahen, rauschen mußte, zumindest bewegte es sich. Mein Führer saß essend im Gras und trank tüchtig aus der Flasche, und als ich näher kam, wollte er mir den Trank reichen. Ich dankte, dann wies er auf ein Schiff, das am weitesten vom Ufersaum entfernt lag. »Nein, Ferapont, hier will ich bleiben. Wie lange? Bis ich genug habe von dieser Stille, und das werde ich nie.« Dann nahm ich einen Schluck aus derselben Flasche, und als ob das genug sei, um sich zu verstehen, blieben wir auf einem Felsblock schweigend einander gegenübersitzen. Und mein Denken war: ›Ich will hier bleiben, ein Boot haben, in der Bucht segeln und fischen.‹ Und ich dachte an die Perlentaucher, die herabsteigen auf den Boden des Meeres und dort weiter von der Welt entfernt sind als der Verbannte in den tiefsten Wäldern Sibiriens. Ich konnte auch Taucher werden, wenn ich stark genug war. Wir standen endlich auf, stiegen den Berg hinab, liefen durch das Städtchen, und ein kleines Boot brachte uns zu einem segelklar liegenden Schiff. Das ging nach Trebizonde, von dort aus konnte ich zur Krim übersetzen. Etwas anderes hörte ich nicht von Ferapont, der dem Schiffer einige Worte zuschrie, welcher einwilligte und zwanzig Drachmen von mir verlangte. Unterdessen war das kleine Boot mit Ferapont abgestoßen und ruderte bereits zurück zum Ufer. Ich rief noch: »Wo liegt das Kloster?« – aber er hörte mich nicht mehr, grüßte nur. Auf der Schiffshütte lag eine schmutzige Strohmatratze. Nachts hatte ich nur die Sterne über meinem Haupt. Tagsüber sah ich Schwärme von griechischen Inseln vorbeiziehen, auch an Konstantinopel fuhren wir ohne Aufenthalt vorüber; dann fiel mir die Absurdität meines Herumsitzens auf diesem Schiffchen auf, während wir an der Stadt vorüberfuhren, in der ich früher in meinem Leben Monate verweilt haben würde. Aber es störte mich nicht, ich blieb gelassen auf meiner Matratze sitzen, roch Knoblauch, hörte den Gesang der Matrosen – den ganzen Tag
–, schrieb in einem Notizbuch auf meinen Knien alles auf, was ich von meiner Existenz nach dem Ende des Krieges wußte, von dieser wunderlichen Periode, aus der ich zum Vorschein kam, auf einem elenden Zweimastschoner sitzend, an der Prachtstadt Osteuropas vorüberfahrend, um ein Kloster zu suchen, das ich vielleicht nicht finden würde und wo mich, wenn ich es fand, womöglich die größte Enttäuschung erwartete. O ja, und auf einen Brief zu warten, aus einem Land im Norden, wo ich nie gewesen war und nie hinkommen würde, von einer Frau, die ich nicht kannte, denn sie war eine andere vor unserer Begegnung und muß danach eine wieder andere geworden sein.
– Das kleine Schiff schlingert, obwohl die See nicht auf gewühlt und der Wind lau ist. So kommt es, daß die Notizen schlecht und zusammenhanglos geschrieben sind. Ich muß auch gestehen, daß ich doch bisweilen zu der Stadt mir gegenüber aufsehe, dort ist so viel, das mir bekannt vorkommt, vor allem die Dächer der Kirchen, die in Moskau und Kiew die gleichen sind.
– Von Trebizonde berichte ich nichts, obwohl ich zwei Tage in seinen Gassen verbrachte und zwei Tage in einer Herberge, die keinen Namen trug, aber nach Brügge oder Rom gepaßt hätte, von alters her bekannt als: Au Rendez-vous des Puces, gegründet am Anfang der Kreuzzüge. Und wer weiß, vielleicht hat Gottfried von Bouillon hier schon verweilt. Heute morgen hatte ich das Glück, eine Bark auf der Reede liegen zu sehen. Mit dem Fernglas sah ich den Namen: Eudokia. Ich ließ mich dorthin rudern und wahrlich, von Eudokia kam sie, nach Eudokia kehrte sie zurück.
– Das Schwarze Meer gefiel mir sehr. Das Wasser ist zwar nicht schwarz und die Stürme sind nicht so stark, aber die kurzen Wellen und die Art, auf die der Himmel sich auf einmal verfinstern kann und sich Wolkenwälle auf die Sonne stapeln, bis diese ganz verschwunden ist, dies alles fesselte mich. Allein die Vorstellung, daß dieses Meer das am meisten ins Festland eingequetschte ist von allen Meeren, beklemmte. Eines Morgens kreuzte ein Geschwader der russischen Flotte in Sichtweite. Wenn dieses Meer nicht abgeschlossen wäre, wären wohl auch diese Schiffe vernichtet worden: durch Minen auseinandergeplatzt, durch Torpedos aufgerissen, in ihr Verderben in das Gelbe Meer gefahren… Heute nacht habe ich wieder japanische Visionen gehabt; von grauen Kreuzern diesmal, größer als sie jemals gebaut werden können, überschwärmt von gelben Insekten, mehr, als jemals gezeugt werden können, selbst in Japan.
– Heute nachmittag bin ich in Feodosia angekommen. An nichts konnte ich erkennen, daß hier die Bestimmung meines Lebens lag. Ein Badeort: Schmale Streifen Strand voller Badender, Zerstreuung oder Vermählung Suchender, kleine felsige Landzungen, darauf Bänke, darauf Paare in der Haltung »Eureka«. Dazwischen alte Damen unter Parasols und graue Beamte und Generäle, viele mit Ritterorden auf der Brust, alle mit dickem Spazierstock. Wenige Kinder. Entlang den Strandboulevards Hotels, kleine Hotels, am Hang ein großes, mit vielen fremden Flaggen besteckt. Diese Flaggen flatterten aufgeregt, es ging ein starker Wind, der die Wolken an der Sonne vorbeijagte, so daß es abwechselnd hell und dunkel war und ich jedes Mal Abendanbruch erwartete und jedes Mal
wieder im vollen Lichte lief. Hinter den Hotels eine schmale Stadt, dahinter Berge, schwarz, steil, Wege sah ich nicht. Mit meinem Gepäck in der Hand (fast alles hatte ich jetzt zurückgelassen) lief ich an den Hotels vorbei. Keine Pagen schnellten auf mich zu, um mir das Gepäck abzunehmen und hineinzutragen. Ich sah nicht aus wie jemand, der ein Luxushotel suchte. Ich hatte gemischte Gefühle von Spott und Verlassenheit. Endlich, am Ende der Hotel-Allee, sah ich ein kleines Hotel in einem großen, vernachlässigten Garten stehen, in dem farblose, schiefe, verregnete Korbstühle und Korbtische einen traurigen Anblick boten. Es hatte keine Aussicht aufs Meer, und ich nahm ein Zimmer den Bergen gegenüber, die dicht dorthinter aufzusteigen begannen. Sogar hier war das Willkommen kühl und mißtrauisch. Jetzt, da ich das karge Abendessen eingenommen habe und auf dem schmalen Balkon meines Zimmers sitze und rauche, frage ich mich zum x-ten Mal, was ich hier eigentlich suche, an dieser russischen Riviera. Wenn ich mich vorstelle, habe ich keine ruhige Minute mehr, bin ich dank meiner Kriegstaten ein gefeierter Held und dank meiner Besitzungen in Samara ein begehrter Bräutigam. Trotzdem war ich heiterer denn je seit meiner Abreise aus der Schweiz. Der letzte Teil meiner Reise hierher war reizvoll. Geradewegs von Italien hierher gekommen, wäre ich froh gewesen. Aber dann hätte ich den Weg nicht gefunden. Wo war dieses Kloster? Ich betastete die kleine Skulptur, aber das wies nicht den Weg. Ich hielt sie die ganze Nacht in meiner Hand, aber auch meine Träume wiesen nicht den Weg.
– Jetzt, nach vierzehn Tagen, habe ich noch keine Spur gefunden und bin auch nicht mehr sicher. Das Mißtrauen im
Hotel ist verschwunden, nachdem meine Garderobe angekommen ist. Ich kann es nicht lassen, diese zu tragen. Im Mittelalter wäre ich gewiß oft im Harnisch gegangen und hätte selten das Visier gelüftet. Jetzt ist ein Reiseanzug die beste Rüstung. Allein, auch jene sollte man niemals ablegen. Wäre ich sogleich in voller Rüstung gekommen, man hätte mich nicht behelligt. Nun gibt der Kontrast zwischen meinem verwahrlosten Vagabundenaussehen von vorher zu meiner Kleidung von jetzt zu denken. Aber ich kann nichts daran ändern – ich muß sie haben, sonst fühle ich mich unglücklich. Ich habe ein paar Klöster in der Umgebung besichtigt, hoffnungslos enttäuscht bin ich zurückgekommen. Dumme, geldgierige Mönche, schlechte Kopien von mittelalterlicher Kunst. Muffige Kapellen. Ich sitze am Rand der ContinentalTerrasse. Die Zigeuner spielen in der Ferne, zu meinen Füßen schlendert das mondäne Publikum. Einige sehen zu mir auf, ihr Blick verfolgt mich. Ich aber blättere wie zerstreut in einem Reiseführer und lese: Das …kloster, kaum interessant, lohnt die Mühe des Aufstiegs nicht. Keine Altertümer von irgendeiner Bedeutung. Ich verstehe ein wenig Krim tatarisch. Der Name bedeutet: Das Kloster der halben Erlösung. Ein eigenartiger Name für ein orthodoxes Kloster. Sogleich taste ich in meiner Tasche, und meine Finger stoßen auf die kleine Skulptur, den herrlich geschnittenen Oberkörper, den formlosen Klumpen. (Sie wirkt wie eine Parodie auf Buddha, vollständig entfaltet auf seinem Lotus.)
Am anderen Morgen machte ich mich auf den Weg zu dem Kloster. Der Pfad begann hinter dem Garten meines Hotels und schlängelte sich unverzüglich und steil den Berg hinauf. Ich hatte meinen alten Jagdanzug an, der Hotelbesitzer sah mir
verwundert nach und rief, ob ich nicht einen Führer haben wolle. Der Pfad wurde offensichtlich nicht mehr begangen, manchmal mußte ich über einen Felsblock klettern, manchmal einem Bachbett folgen, bald hörten die Bäume auf. Sonnenuntergang – ich sah nichts von einem Kloster, blieb aber mühelos auf dem Pfad, als ob ich ihm zahllose Male gefolgt sei und schon blindlings folgen könne. Dann, als ich auf einem steilen Kamm lief, sah ich das Kloster plötzlich unter mir. Es war dreieckig, die Vorderseite war breit, die Seitenmauern liefen spitz zu. Die Mitte wurde von einem Hof eingenommen, in dem beinah blattlose Bäume eng beieinander standen, dürr und grau. Von oben sah das Ganze wie ein graues Spinnennetz aus. Ich tastete instinktiv nach meiner Skulptur, stieß aber auf den Feldstecher, der außen an meiner Tasche hing; obwohl ich nahebei war, gab ich dem Impuls nach, hindurchzusehen, und da schien es, als ob ein schmaler, schwarzer Streifen von einer der Ecken zur Felswand auf der anderen Seite liefe. Ein überwölbter Gang? Ein Pfad führte direkt nach unten. Um aber meine Wahrnehmung zu bestätigen, umkletterte ich zuerst den Kammrand, und auf der anderen Seite sah ich nichts, was aussah wie ein Gang. Ich war gezwungen, zurückzukehren, und wieder bekam ich den gleichen Eindruck. Ich fertigte eine Skizze von der Lage des Klosters und der vermutlichen Einteilung des Gebäudes an und stieg dann hinab. Es war fast dunkel. Ich ging um das Kloster herum, und wirklich, am Ende des Dreiecks, in der Verlängerung der Mauer, waren schwarze Stellen Stein, die hier und dort aus dem Boden hervortraten. Ich hatte dort oben in der verkehrten Richtung gesucht. Zufrieden ging ich zum Tor. Im Dunkeln stand ich davor. Es dauerte lange, kein Echo von Schritten antwortete auf das Gedröhne des Türklopfers, den ich
immer wieder fallen ließ. Flocken wehten im Kreise herum. Ich zwängte mich in die Nische, ich stand dort so lange, daß ich dachte, zu versteinern, eins zu werden mit der Mauer. Schließlich öffnete sich doch eine kleine Luke. Eine knochige Hand hielt eine qualmende Laterne vor sich ausgestreckt und winkte mir, ins Licht zu kommen. Ich zeigte mich und zugleich einige Geldstücke. Darauf schloß sich die Luke, aber nach einer Weile kam eine andere Hand, und eine Stimme befahl: »Wenn Ihr nichts habt als Geld, könnt Ihr nicht hereinkommen, aber im Gartenhaus schlafen. Falls Ihr etwas anderes habt, zeigt es.« Darauf zeigte ich die kleine Skulptur auf meiner ausgestreckten Hand vor. Unverzüglich flogen die beiden Torflügel auf, ich stand in einem Gang mit einem Spitzgewölbe, wurde an der Hand geführt und kam, mich immer tiefer bückend, in einen tiefen, niedrigen Raum, in dem ein Mönch an einem alten Tisch saß, das Antlitz von einer Kapuze bedeckt. Er hieß mich willkommen, schweigend, wies mir schweigend einen Stuhl zu, stieß darauf mit einem Stock gegen die Decke. Nach langer Zeit kam ein Mann herein, derselbe, der mir geöffnet hatte; ich erkannte ihn an der außergewöhnlich langen, knochigen Hand, die jetzt eine Schüssel Linsen trug. Diese setzte er vor mir ab, eine staubige Flasche daneben, und ging wieder fort. Niedergedrückt durch diese stumme Gastfreundschaft der Unterwelt, aß und trank ich doch; ich wollte eine Frage stellen, aber mir war zumute, als würde ich einen Stein in einen Abgrund werfen und endlose Echos wecken, also aß und trank ich, solange ich konnte. Endlich: »Ist das Schweigegelübde ewig bindend?« »Ich bin der einzige, der sprechen darf, aber ich gehöre auch nicht zum nächtlichen Chor. Meine Stimme hat keine Macht mehr, kann aber tagsüber noch Dienste leisten und muß doch Umgang mit der Welt pflegen. Die anderen sind erschöpft von
der Nacht, keiner kann das Tor öffnen, unseren Wein verkaufen, den Besucher befragen und über seine Zulassung entscheiden.« Ich sann essend und trinkend weiter darauf, wie ihm das Geheimnis zu entreißen sei, fand aber nichts und konnte die Mahlzeit nicht weiter in die Länge ziehen. Er sah es und stand auf, um mich wegzubringen. Dann wagte ich es: »Um zuzuhören, bin ich vom Ende der Welt gekommen. Muß ich so wieder fortgehen?« Er lehnte sich an den Tisch und betrachtete mich. »Wisse: Kein Sterblicher kann diesen grauenerregenden, schnellen Gesang durch sich hingehen fühlen, ohne von den Schwingungen, die seine Klänge hervorbringen, gelähmt zu werden. Unser Kloster ist aber das Gegenteil jenes anderen im sonnigen Tal am Fuße der Pyrenäen, von wo die Lahmen genesen zurückkommen und die wundertätige Jungfrau preisen. Von hier kehren die Pilger – und nur die stärksten überwinden den steilen Pfad – lebenslang verkrüppelt zurück und für immer stumm, wenn sie denn zurückkehren.« »Mir kann nichts Entsetzlicheres widerfahren als das, was ich bereits erlebte. Alle Schrecken von zwei Jahren Krieg blitzen manchmal in einer Sekunde in mir auf. Laßt mich zu.« So flehte ich, bekam aber keine Antwort mehr. Die beiden Kerzen neben dem Teller waren heruntergebrannt, das Dämmerlicht im Zimmer schwankte hinüber in die Dunkelheit. Die Tür öffnete sich, ich mußte ihm folgen, und noch wußte ich nicht, wohin er mich brachte: Zum Mysterium oder unwiderruflich hinweg von dort. In einer niedrigen Zelle berührte ein schmales Bettgestell die drei Mauern wie eine hohe, schwarze Schwelle. Er wollte mich hier lassen und hatte die Tür schon beinahe geschlossen, aber ich konnte meinen Fuß noch dazwischen stellen. Er gab nach und kam wieder herein. »Hinter der Tür, durch die wir hereingekommen sind, ist es nicht. Wenn es aber für Euch
bestimmt ist, werden die Mauern sich öffnen, und wären es zehn zwischen Euch und dem, was Ihr sehen wollt. Legt Euch hin und wartet, schlafend oder wachend, das ist dasselbe. Viele waren hier eine Nacht, schliefen nicht, sahen nichts und gingen fort, überzeugt, daß sie betrogen waren. Einige sahen und wurden tot aufgefunden. Wollt Ihr noch zurück?« Als Antwort streckte ich mich auf dem Bettgestell aus und wandte das Gesicht zur Mauer. Die Tür fiel ins Schloß. Ich hatte nicht das Gefühl, das sofort in einem engen, geschlossenen Raum heraufkriecht. Ich tastete an der Mauer entlang, suchte mit meinen Nägeln, ob Risse darin waren, aber überall glitt ich über eine glatte Wand, glatt und klamm. Dann ließ ich meine Hände neben mir auf der rauhen Decke liegen, als ob sie nicht zu mir gehörten. So trachtete ich, auch meinen Körper zu verlieren, ohne einzuschlafen.
In der Nacht begann es zu dämmern, erst fahl wie ein Morgen vor dem fernen Ende einer Höhle, dann braun wie durch Bernstein oder Horn gesehen. Dahinter sah ich eine Wandfläche, Gestalten, halb daraus hervorgetreten, davor ein schwarzer, aufgewühlter Boden und wieder Gestalten, im Halbkreis geschart. Tief in der Wand, in krampfhafter Anspannung, Heilige mit starrem, schmalem Antlitz und verdrehten Armen, ausgestreckt nach einem unerreichbaren Heil, Madonnen mit spitz zulaufenden Brüsten, Jungfrauen mit aufgerissenen Augen, als ob sie das Entsetzliche zum ersten Mal durchlebten. Die vor ihnen, in dunklen Kutten, schienen gefaßter, aber aus ihnen sprach eine Müdigkeit, als seien sie zerbrochen zwischen zwei übermenschlichen Kraftanstrengungen: Glieder einer schwarzen Kette, herabhängend von zwei Madonnen, die beinahe ganz nackt aus dem Basrelief herausragten.
Langsam sah ich mehr und mehr durch die Reihen der Wartenden hindurch. Dann fiel es mir mit schnellem Todesschreck ein, daß sie dort standen wie für eine Grablegung. Es war wie früher, drüben, nachts bei einer Grube, die schwarz in den Schneefeldern klaffte. Eine Grablegung. Ich sah keine Grube, keinen Spaten. War es ein schauderhaftes Ritual, daß der Verurteilte erst selbst sein Grab mit den Händen aufwühlte? War das die Folter, dies machtlos mit anzusehen? Aber wer war es? Sie waren alle gleich. War ich es selbst? Aber war ich nicht unsichtbar für sie? Oder wußten sie von meiner Anwesenheit und warteten nur, bis ich mich durch einen Schrei selbst verraten würde? Als ich dies bedachte, fühlte ich einen Schrei in meiner Kehle heranwachsen, aber während ich spürte, daß ich dabei war, mich zu verraten, begann es dort unten bei einem der Mönche, ich weiß nicht welchem. Tief und leise und langsam, in schleppenden Wogen, verbreitete sich der Gesang, unirdisch, unerhört. Manchmal hatte er entfernte Ähnlichkeit mit einer entarteten orphischen Ode aus den dämmrigen Zeiten, als die Mysterien tief nach Rußland drangen und dort verlorengingen. Endlich – die Trägheit war nicht mehr auszuhalten – war der Höhepunkt erreicht, darauf schlug der Gesang um, wogte in einem sinnenverwirrenden Tempo auf, und hinter einem Wall aus Klang fiel ein dumpfer Schuß aus der Mitte der Wand, wo ein Engel eine Posaune blies, unförmig wie eine bronzene Geschützmündung. Und die Erde öffnete sich – als ob sich auf dem weichen Dunkel in ihrer Mitte ein großer Blutfleck schnell und bizarr ausbreite, dann ein Loch, wallend rund wie der Mund eines Urtieres. Ein schwarzer Haarkranz trieb, und darunter war ein Antlitz (wurdet IHR wiedergeboren, aber nicht aus der hellgrün fließenden See, nein, aus der schwarzen Erde dieser
Zeiten?) – ihr Antlitz, wie schön, wie gefoltert! Ihre großen Augen. Trübe und aufgerissen in dieser Gebärensangst. Wieder fiel ein Schuß, die Litanei stieg an zu einem Verzweiflungsschrei, einem Todesschluchzen; beinahe mit einem Stoß kamen ihre Schultern frei und ihre Brust, mit Erde bedeckt, aber sogleich wie durch einen Wirbelwind makellos weiß. Der Gesang wallte unter dem Gewölbe auf. »Schneller!« flehte sie nun selbst mit verzogenem Mund; ihre Arme kamen frei. Erst dicht und machtlos an den Boden noch geheftet, aber schwindelerregend jagte der Gesang jetzt, und ihre Auferstehung begann. Ich wollte einstimmen, aber Luft, Mauern und Bögen vibrierten, und meine Stimme wurde in mich zurückgedrängt, so daß ich meine Lippen zusammenpressen mußte, um nicht zu ersticken. Sie war frei bis zu ihrer Taille, aber als ob sie das Nachlassen der Macht des Erlösungsliedes nahen fühle, stützte sie sich auf die Hände und wand sich im grauenhaften Griff der Erde. Wie mußte ihr noch bedeckter Körper leiden! Ich stieß heisere Laute aus, der Gesang dröhnte durch meinen Körper, der zusammenbrach. Noch gelangte sie höher. Die Mönche wanden sich, ergriffen einander, umklammerten Kreuze, um Atem, um Kraft. Beinahe konnte sie sich verneigen. Aber es war das Ende, der Schall brach zusammen wie ein unterhöhlter Palast, die meisten fielen auch, einige hielten noch an wie die letzten Säulen. Sie sank. Die Hände widersetzten sich noch. Der Kopf hing auf ihre Schulter herunter. Da sprang ich, war bei ihr, wollte eine Rettungsboje mit meinen Armen formen, um sie treibend über dem schwarzen Tod zu halten. Sie flüsterte mit halbgeöffneten Lippen: »Keiner wagte sich so weit. Aber dennoch ist es vergebens. Laß los.« Ich schrie: »Laß mich mit untergehen!«
»Dafür ist es noch zu früh. Später, wenn Du den Weg noch weißt. Geh jetzt, das Letzte darfst Du nicht sehen.« Ich hielt weiterhin fest, aber schwarze, schwere Körper fielen über mich her. Ich verlor die Besinnung.
– Auf meinem Bettgestell liege ich, meine Hände sind verletzt. Der Vater ist damit beschäftigt, sie zu verbinden. Ich höre meine Stimme immerfort dasselbe murmeln. »Nicht mehr graben, nicht mehr singen. Es ist mehr als zehntausend Meter tief. All meine Sklaven lasse ich kommen. Sklaven errichten Pyramiden, die bis in die Ewigkeit reichen. Sklaven werden sie aus der Erde holen, die Ewige.« »Unmöglich. Wir wissen nicht, wo sie liegt. Denkt Ihr, daß es hier drunter ist? Wir wissen nicht, wo sie liegt. Sucht lieber das Ende vom Lied. Sie hören nicht auf, weil sie nicht mehr können, sondern weil sie nicht mehr wissen.« »Warum martern sie sie dann?« »Weil eine Nacht kommen kann, in der es sich selbst weiter singt. Oder weil einer kommen kann, der sich erinnert. Sucht es. Wenn es noch auf Erden ist, muß es in den Archiven eines der Klöster von Kiew liegen.« »Sollte ich dort ihre Rettung suchen, in Büchern, unter Staub, in den verhaßten Grüften, in denen schon so viel Leben begraben liegt? Ich würde irrsinnig werden, und mein Geist würde zwischen zwei gelben Seiten bleiben, während die Buchstaben um mich herumwirbeln würden wie dürre Blätter über eine Grabplatte. Laßt uns graben.« Aber der Mönch ist verschwunden. Ich stehe draußen. Das Kloster ist hinter dem Regen fast unsichtbar. Ich taste mit meinen verbundenen Händen an der Mauer entlang, das Tor aber ist nicht zu finden. Soll ich hier umkommen? Dann ist jede Aussicht verloren. Ich drehe mich um und steige den Pfad hinab.
– Ich bin auf dem Weg. Auf einem kleinen Pferd. Es wendet sich von selbst nach Norden. Es weiß, wo mein Land liegt, hinter Samara. Beide sind wir dort geboren; in einem kahlen Saal, hinter kleinen, bleiverglasten Fenstern ich, es in einem dunklen Stall. Das ist kein so großer Unterschied. Ich fühle mich ihm vertraut, jetzt, da mich von allen lebenden Menschen jene gähnende Grube, das unauffindbare lebendige Grab trennt. Ich gehe nicht nach Kiew. Ich werde das Kloster nicht von einer Armee von Totengräbern schleifen lassen. Ich werde keinen unterirdischen Gang von meinem Land zur Krim graben lassen. Denn jetzt befürchte ich, daß sie gefunden werden würde wie eine vor langer Zeit begrabene Tote. Und noch eine fürchterlichere Furcht: daß ein anderer als ich es wissen wird, daß sie es hören und lebendig für diesen anderen sein wird.
– Ich bewohne jetzt das ganze Schloß, ich reise hindurch, ich schlafe in allen Räumen. In der Bettstätte, in der ich geboren bin, die wie ein eichener Sarkophag ist. In der Gruft, in der Grube, die für mich bestimmt ist. Nahe der Erde. Dicht unter dem Dach. Und überall dazwischen. In der Kapelle lasse ich den Boden öffnen, die Platten wegräumen, und auch dort werde ich schlafen.
– Heute nacht werde ich es hören, das Ende vom Lied. Die Erde wird es mir singen. Die Erde wird mir ihr Geheimnis ausliefern, mich aber sofort auf immer zu sich nehmen. Heute nacht werde ich es hören, während sie dort drüben zur Hälfte
aufersteht, aber während ich weiter höre, wird sie drüben wieder sinken, und ich hier. Es ist zu weit. Kennt man das Unwiderrufliche? Das Geheimnis mitnehmen in sein Grab. Ich habe Angst, daß ich das nicht tun werde; wieviel größer die Todesangst: daß ein anderer, später, es hören wird, der es wohl überlebt, der sie ans Licht bringt, während ich dort unten bleiben muß, denn mir wird kein Lied gesungen werden. Dennoch, die Erde wird mich durchlassen, ich werde auf sie stoßen und fragen, ob sie noch erlöst werden will. Wenn sie weiter zum Licht aufsteigen will, dann werde ich sie entkommen lassen und die Erlöser anführen, über ihre Grenze hinaus. Und ich werde an ihrem Platz bleiben. Aber wenn sie auf die Erde zurückkehren und für andere da sein will, während ich schon zur ewigen Dunkelheit verurteilt bin, dann werde ich es nicht soweit kommen lassen und schweigen und mich an ihrer vereitelten Erlösung erfreuen. Ach, ich hoffe, daß diese Angst und Rache nicht mehr nötig sein werden und daß wir einfach für immer zusammen das Reich der Dunkelheit bewohnen können. Vielleicht zeigt das Lied uns die Lebensweise der Toten. Heute nacht werde ich es hören, das Ende vom Lied.
Simon Vestdijk Das steinerne Gesicht
Das dritte Haus, das aus der Nacht hervortrat und gleichzeitig, wie mit einer zurückhaltenden Geste, das Licht meiner Laterne unberührt an seiner Fassade entlangstreichen ließ, war größer als die beiden anderen. Ein hutartiges Dach erhob sich in der bleichen Dunkelheit; ein paar niedrige Nebengebäude standen an der Seite. Es lag ziemlich nahe am Weg, und als meine Augen sich halbwegs an das sparsame Licht gewöhnt hatten, entdeckte ich, daß sich der Eingang an einem Seitenweg befand, oder womöglich war jener Weg, in den meiner dann münden müßte, der Hauptweg, denn es war nur schwer zu beurteilen, wie breit beide waren. Eine Zeitlang verdrängte das Problem dieser zwei Wege jenes, das mir doch so viel näher am Herzen hätte liegen müssen, aber dann, das vergebliche Sinnen mit einem Ruck unterbrechend, begann ich angestrengt über meine Lage nachzudenken. Ich mußte mich verirrt haben. Vor diesem Teil des Weges hatte mich mein Gastgeber übrigens gewarnt, wie sehnte ich mich zurück zu seiner Villa in den Dünen, mit den zwei Schirmlampen, unter denen unser Rotwein gefunkelt hatte! – Aber er hatte mich vor wachsamen Hunden gewarnt, nicht vor dem, was ich jetzt erleben sollte. Erleben: bereits mit einem bestimmten Vorgeschmack von Rätselhaftigkeiten, die sich aus dem Nachtwind auf meine Zunge zu legen schienen, über den mein eigener Weinatem mir entgegenschlug… Mal angenommen, ich hätte die Gegend erkannt; nicht als ein beliebig nachweisbarer Teil dieses Dünenterrains, wo ich dann schon einmal früher gewesen wäre, sondern als etwas, über das man sehr viel früher gelesen
hat oder geträumt und von dem man das undeutlich gezeichnete Modell immer mit sich getragen hat. Jede Landschaft hat diese Straßenkomplexe, die, wie Gordische Knoten in einem unschuldig aussehenden Geflecht, Jahre, manchmal gar Jahrhunderte auf den Reisenden warten, der sich in ihnen verwickeln wird. Meistens steht in jenen Gegenden eine alte Mühle, deren Flügel fehlen, so wie ein Reiseleiter, der nicht weiter weiß und gerade seinen Arm sinken läßt. Katzen schleichen dort herum. Man müßte diese Orte mit einer besonderen Farbe auf der Karte markieren, aber nein. Da sie einander nicht gleichen dürfen – das wäre allzu einfach! –, zeigt jeder von ihnen wieder andere Nebensächlichkeiten, hier diese großen freistehenden Häuser, die, feudal nahezu, ganze Teile ihrer Umgebung zu einem dunklen und unzugänglichen Grundstück katastrieren oder zu diesem einsamen Garten – man weiß es, auch wenn man es nicht sieht – mit den zwei zerbrochenen Gipsstatuen und vielen Windböen, wo in alten Zeiten die Laube gestanden hat… Und ich fragte mich, warum doch bei Dunkelheit und an solch doppeldeutigen Orten die Welt so anders sein muß, so viel tiefer, verzweifelter und mit dieser gewissen Verstellung, die die Ehrlichkeit der Nacht ausmacht… Laß mich noch etwas weiter träumen, dachte ich, bis ich an diesem Haus vorüber bin, denn viel Gutes kann es nicht von mir wollen… Zwei Gipsstatuen, zerbrochen, aber von derselben Machart?… Laßt es uns annehmen. Laßt uns glauben, daß der Wind tatsächlich in jenen Garten zurückkehrte und aus dem Nichts ein Leben schuf, das wieder zugrunde ging und doch noch immer existiert, auch wenn man es bei Tage nicht sieht… Wieder riß ich mich aus Grübeleien, die zu nichts führen konnten: Die weitschweifige und freie Übersetzung von vier Gläsern Wein und wilden Gesprächen… Direkt vor mir schien der Weg plötzlich abzubrechen; es schimmerte dort ein Rand, weit auseinander liegende
Pflastersteine machten für eine kleine Wildnis aus Disteln und Unrat Platz; dort müßten die Katzen schleichen, dort hätte die Mühle gestanden oder der abgebrannte Bauernhof oder was man nur will. Und womöglich war da auch das Zentrum, der Knotenpunkt, das Allereinsamste, wo alle Fäden zusammenliefen; ich hatte es erwartet, den Ort zu erreichen, aber ich konnte ihn doch nicht erreichen, auch wenn ich jetzt da war… Meine Gedanken verwirrten sich aufs Neue. Die Laterne, mein Alexanderschwert, würde jetzt alles Weitere finden und mich von dieser Verwirrung befreien müssen. Einige Augenblicke lenkte mich dieses ab: Ein runder Fleck, der elliptisch wird, einen Arm ausstreckt, die Nacht weit umfängt und zögernd, schwebend, beinahe mit dem Pulsschlag zugleich, auf halbem Wege zurückkehrt, dann in einem fahlen Lichtregen auf Blättern und Kieselsteinen zerstiebt oder an Brettern entlangtastet, über die ihm Splitter, Knorren und Nagelköpfe wie Verrückte entgegenrennen. Aber danach erregte das Haus wieder meine Aufmerksamkeit, so hoch und abgesondert, wie es da stand. Lange, gerade Mauern, Mauern, um an ihnen entlangzulaufen nach einem nächtlichen Gespräch, das keinen Gram von uns verlangt, nur Versteinern… Wie die Fassade verziert oder bewachsen war, konnte ich anfänglich nicht ausmachen. Aber meine Lampe entdeckte schon bald die bizarren, schmiegsamen Kletterpflanzen, die sich ringend nach oben bogen, als ob sie ein Fenster oder eine Hand suchten, jeder Zweig, jedes Blatt alsbald von einem chinesischen Schattenriß begleitet, der sich ein wenig von ihnen entfernte, wieder zurückkroch und dann sogleich schärfer wurde. Steinerne Rahmen erkannte ich um die Fenster, vor denen die Läden geschlossen waren. Noch ließ ich meinen Lichtkegel einige Runden steigen und sinken, faßte aber bereits unterdessen den Plan, weiterzugehen und nach dem Wege zu suchen, wie mein Freund es angeraten hatte, als
der Lichtschein sich an etwas über mir festklammerte und mich selbst dazu, als ob ich von einer Macht in oder an dem Haus, die die Laterne ergriffen hatte, gelenkt wurde. Ich sah sorgfältiger hin: Dort, ein ernster Kopf aus Stein! Ich war erstaunt. Da war sogar eine gewisse Fröhlichkeit, die sich meiner bemächtigte, eine Reihe von Lachkrämpfen irgendwo in meinem Körper, die übrigens nicht zu meinem noch immer halb umnebelten Bewußtsein durchdringen konnten. Das ändert aber nichts daran, daß ich mich sofort auf den steinernen Kopf angewiesen fühlte wie auf einen Kameraden in der Not: Auch er hatte sich verirrt, konnte man annehmen, auch er – den Efeu sah ich jetzt plötzlich als Weinranken – mußte benebelt sein, verloren und vom Leben verbannt; auch wenn es nicht einfach zu entscheiden ist, ob er all das auch tagsüber war, wenn Mauern, Pflanzen und steinerne Verzierungen so ein ganz anderes Dasein führen als in der Nacht. Nein, darüber konnte man wenig sagen. Liebte er es, im Licht zu leben, oder war er ein Einsamer, ein Beschatteter? Tagsüber blieb er hinter diesen verworrenen Zweigen, die von allen Seiten wie ein allzu reichliches Geweih aus seinem Schädel schlugen, nahezu unsichtbar. So lebte er wie in einer kühlen Grotte. Jetzt aber, zu dieser nächtlichen Stunde, ergriff mein Licht ihn an der richtigen Stelle, öffnete seine Augenlider, sperrte seine Nasenlöcher auf und zeigte endlich, als meine Hand begann, etwas weniger zu zittern, seine Stirn, hoch erhoben über den breiten Schatten der Augenbrauen, die an ihr wie müde Gedanken emporstiegen. Die Richtung, in welche die Augen sahen, war unbestimmt, was sie ausdrückten, sprach jedoch deutlich von der Befriedigung, jemanden unter sich zu wissen, der den Vergessenen dieses Hauses beleuchten wollte! Ein stilles Lächeln, ein paar Fältchen in den Augenwinkeln: Und schon bedauerte ich meine nächtliche Wanderung nicht mehr. Ich richtete die
Laterne fest aus, um auf diese Weise neues Leben in einem zu erwecken, der durch die kühle Gemeinschaft mit Blatt und Stengel nur noch an die Farbe grünen Schimmels gewöhnt sein konnte, der sich schon jahrelang nicht mehr als Relief hatte herausheben können und jetzt das Licht kostete wie hinter Weinreben. Ich hatte getrunken: Auch er sollte trinken; ich gab ihm reichlich. Die Zweige schlugen im Wind hin und her, aber ich ließ mich nicht verjagen, wie sehr sie auch peitschten und wogten. Ich hatte einen Vertrauten gefunden. Wer war er? Wies dies Haus noch mehr derartige Köpfe auf? Aber nein, das wollte ich nicht glauben. Wie sollte es auch möglich sein, jetzt, da ich ihn gefunden hatte und bis zum Morgen bei ihm bleiben wollte, um nicht fortzugehen, bevor nicht alle Einsamkeit und Entbehrung aus seinem Gesicht weggeleuchtet waren!… Aber mein Lichtkegel war abgeglitten, plötzlich, durch eine unkontrollierte Bewegung meiner Hand. Jetzt suchen! Hoch und tief, links und rechts, er mußte natürlich noch da sein… Da!, ich traf ihn wie mit einem Schneeball in sein Gesicht, er lachte. Jung sah das Gesicht jetzt aus, jünger als gerade zuvor, und die Efeuranken paßten besser zu ihm. Und wenn meine Hand auch unbarmherzig zitterte, ich wollte es so lange wie möglich durchhalten, denn es schien so, als ob er sich unter dem Leuchten verändere, immer jugendlicher wurde unter meiner Hand, zart und neubelebt wie ein antiker Gott. Schuf ich ihn selbst aus dem Nichts? Konnte man Statuen aus Marmor oder Stein durch Beleuchtung jedes Alter annehmen lassen? Aber wie auch immer, ich war der Schöpfer, mir hatte er alles zu verdanken, bis hin zu den rot schimmernden Weinreben, die durch die magische Macht meines Lichtkreises kontrastierend aus dem Grün hervorwuchsen. Und, obwohl der Nachtwind kühler wurde, so daß ich fröstelte und meine Kleider fester zuknöpfen mußte, immer und immer wieder
vertiefte ich mich in das steinerne Gesicht, das von unantastbarer Jugend glänzte. Unantastbar? Zu einem Höhepunkt gekommen, der nicht mehr leicht zu übertreffen schien, war es jetzt doch, als ob er sich gegen etwas auflehne, als ob er versuche, etwas zu überwinden, bei dem meine Lampe ihm helfen sollte. Vorsichtig richtete ich das Lichtbündel so aus, daß so wenig Zweige wie möglich Schatten warfen, aber immer wieder gab es einen, der sich nicht übergehen ließ, ein dicker, haariger – ich konnte es von unten gut erkennen. Dann, wenn ich die Laterne etwas sinken ließ, sah er auf einmal wie ein Ertrunkener aus, zwischen Seegras und Polypen, fahl und aufgedunsen, aber wie schnell war das Bild zu verscheuchen! Er lebte und lebte wieder auf, immer wieder, fiebrig und unauslöschbar; er trank mein Licht, er strahlte nach allen Seiten, auch wenn ich nie jenen hohen Schatten, der von den Augenbrauen über die Stirn lief, verjagen konnte, da ich zu tief stand. Dann lief ich zurück, um es aus größerer Entfernung zu probieren: im Nu war er verschwunden. Kein Wunder, dachte ich, daß er tagsüber nur selten zu sehen ist; was würde er nicht darum geben, immer so ein Leben zu führen wie jetzt! Von Zeit zu Zeit schien es wieder, als ob ein Lächeln um seine Lippen spiele, aber es blieb jetzt ein Lächeln der Jugend, selbstverständlich und mühelos: Um wirklich zu lächeln, besitzt die Jugend noch nicht genug Falten; es war das natürliche Lächeln von Schlaf und Unschuld, das ich dort im Handumdrehen hervorgezaubert hatte. Aber die Nacht schritt voran und damit eine schleichende Veränderung in seinem Gesicht, die sich bereits einige Augenblicke zuvor angekündigt hatte, als die Schatten über seine Züge spielten. Falten kamen zurück, kristallisierten sich heraus, verbargen sich zunächst in Mund- und Augenwinkeln, schossen dann über die Wangen und die Stirn; schmerzliche
Furchen bekämpften einander, hoben einander noch eine Zeitlang auf, aber dann ging alles unaufhaltsam auf das Alter zu. Wie ihn davor bewahren? So ruhig wie möglich hielt ich meine Hand; das Glas der Laterne war nicht beschlagen; kein feuchtkalter Nebel schwebte vorüber. Kurz starrte er mich wie vorwurfsvoll an, um dann noch tiefer in seinem eigenen Verfall zu versinken, angefressen von einer fatalen Fäulnis, die ich so gerne aufhalten wollte, denn ich fühlte, daß jetzt alles auf dem Spiel stand, daß er innerhalb von wenigen Minuten nicht mehr zu retten sein würde… Um mich herum war es vollkommen einsam, kein Hund bellte, nirgends Licht, das Haus schien unbewohnt. Alle Möglichkeiten hatte ich noch, wenn nur mein Wille ausreichte! Noch immer hoffte ich für ihn, ja, glaubte ich, verlangte ich, daß der Verjüngungsprozeß wieder beginnen würde; aber es war nicht nur Alterung, an der er litt; auch Schmerz, Gram, Verzweiflung, Todesangst… Jeden Ausdruck menschlichen Leids habe ich in jener Nacht über Stein gleiten sehen, schemenhaft, jedoch unverkennbar und mit keiner anderen Erklärung zu erfassen, als mit den schmerzlichen Regungen, die sie bei mir selbst hervorriefen… Dann wieder war es, als stünde er kurz davor, herabzusteigen, um mir sein Geheimnis zuzuflüstern, das mir jede Ruhe rauben würde; er flehte, er bat, seine Wangen fielen ein, Bartstoppeln wucherten, ergrauend im Licht; hätte er einen Körper gehabt, er hätte sich hingekniet oder sich in Schmerzen gewunden, aber seinen Körper gab es ja nicht mehr, sein Körper war das Haus, der Boden, auf dem das Haus errichtet war, die ringsum liegenden Felder, die Nacht… Und wie alt und fern und uneinholbar ist nicht die Nacht!… Und da begriff ich plötzlich, daß er der zur Ruhelosigkeit Verdammte sein mußte, der diese Landschaft beherrschte und der mich hierher gelockt hatte, um auf sein Elend aufmerksam zu machen! Mich überkam Machtlosigkeit. Ich wollte weg, konnte aber nicht. Fetzen,
Bruchstücke meiner anfänglichen Gedanken jagten mir durch den Geist, und dahinter erhob sich ein neuer Gedanke, noch nicht in Worte zu fassen, ein Gedanke, den ich noch nicht erreicht hatte, da all meine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen war… Mein Arm wurde steif, mit bereits kraftlosen Muskeln richtete ich das Licht auf denselben Fleck. Und seine Augen starrten nur, starrten und sogen mich langsam zu sich… In dem Augenblick hörte ich das Knirschen von Kies: Schritte! Instinktiv blendete ich meine Laterne ab. Ich erwartete einen Schrei, als ob ich ihn verletzt oder einen Verband von seinem Antlitz gerissen hätte. Aber die erste Veränderung, von diesen Geräuschen hervorgerufen, spielte sich in mir selbst ab. Es war der Gedanke von soeben, der jetzt, in seiner vollen Gestalt und begleitet von allen Merkmalen der Ernüchterung nach meinem leichten Rausch, wie um eine Ecke meines Bewußtseins nach vorne trat. In drei Sekunden wußte ich wieder alles, in drei Sekunden war ich dreizehn Jahre zurückgefallen, quer durch die Nacht, quer durch die Zeit. Hastig ließ sich der Gedanke von allen Seiten betrachten wie ein Bettler, der seine Wunden zeigt, der mit dem Spender verschmilzt, sich ihm aufdrängt und ihm am liebsten alle Krankheiten übertragen möchte, die seine Haut durchwühlen, um sich des Mitleids sicher zu sein, um das er bittet… Krankheit, Tod, ein Sterbebett?… Ja, eine ganze Nacht hatte ich bei ihm gewacht, mit Schlaf und Langeweile kämpfend. Eine lange Nacht der Leere, in der kein Gedanke von irgendeiner Bedeutung meinen Geist gestreift haben konnte. Gegen morgen rief er mich mit seiner schwachen Stimme zu sich, und da sah ich, daß er jung geworden war, genau wie soeben die steinerne Figur, glatt und unbekümmert, bevor er starb, als ob er noch ein längst vergangenes Bruchstück seiner Jugend einholen wollte und Denken und Träumen dabei allein nicht reichten, sondern er auch sein Äußeres angepaßt hatte.
Sprechen konnte er damals schon kaum mehr, und eine halbe Stunde später war es zu Ende. Aber wer weiß, mit welchem Kinderspiel er beschäftigt war, ein paar Minuten vor seinem Tod, in welche kindlichen Schwierigkeiten er sich noch verstrickte? Wer kennt die Arbeit, die es ihn kostete, so weit zurückzugehen in seinem Leben, das schon beinahe kein Leben mehr war! Wie seltsam und unenträtselbar diese Wiederkehr in sich selbst, diese Vollendung, bei der das Leben sich selbst, indem es die Jugend wie eine allumfassende Schlinge um das Alter windet und zuschnürt, zu einem Knoten bindet, der nie mehr zu entwirren sein wird… Und ich? Daß ich es gesehen und nicht begriffen habe! Daß es mein Vater war und doch ein anderer, ein normales, untragisches Sterbebett ohne viel Aufhebens, an das ich kaum mehr gedacht hatte in diesen dreizehn Jahren, und daß ich es erst jetzt begriff, jetzt, da es zu spät war, sogar nach dieser Warnung, ja dieser Ankündigung, zu spät für denjenigen, der diese Erinnerung wieder erweckt hatte. Geräusche… Jetzt wieder von außen kommend! Eine Tür wurde geöffnet, es wurde gesprochen: Eine Frauenstimme. Gleichzeitig flammte blendendes Licht auf, das einen unwirklich strengen Garten zum Vorschein brachte, wie ich ihn dort nicht erwartet haben konnte. Schauderhaft gradlinig schnitten kahlgeschorene Taxushecken durch die Nacht, ihre Blätter wie kleine Meißel, spitz und dicht beieinander; jeder kleine Kieselstein schien für sich zu glänzen, ohne sich mit den nebenliegenden zusammenzuschließen. Vor mir lag der Beginn einer Auffahrt für Maschinen, weiß, glatt und seelenlos. Als ich mich etwas mehr nach links bewegte, bemerkte ich die elektrische Lampe über der Tür, die halb offen stand; auf der Türschwelle lag eine eiserne Fußmatte. Über die Auffahrt bewegte sich eine männliche Gestalt in meine Richtung, jugendlich und schlank, aber mit beinahe wankendem Gang; dahinter, langsamer, eine
viel ältere Frau mit grauem Haar, durch das das Licht silbern glänzte, und die jetzt zum zweiten Mal rief: Ein Name, den ich nicht verstand… Aber der junge Mann war schon bei mir und klammerte sich an meinem Arm fest: »Er ist tot, und Sie hätten ihn retten können! Wären Sie doch früher gekommen! Er ist tot, er ist tot…« Seine Stimme klang heiser und zitternd; ich sah ihm gerade in sein Gesicht, das noch etwas widergespiegeltes Licht auffing, ein schiefes, verwirrtes Gesicht, totenbleich, mit Augen wie Abgründe; und alles umgeben von langem, schwarzem Haar. Mit seinen noch nicht fest geformten Zügen, aus denen sich die Nase, einsam und hilflos, zu lösen schien, wirkte er wie ein Junge von noch nicht zwanzig Jahren. Jetzt war die alte Frau bei uns, meine Anwesenheit drang offensichtlich nicht zu ihr durch: »Komm jetzt, komm jetzt nach Haus, Du darfst nicht… Das ist das Letzte, so weit bist Du noch nicht, Du kannst noch nicht zurück…« Halb streng, halb besänftigend legte sie ihre Hand auf seine Schulter. Aber wiederum wendete er sich an mich: »Sie hätten ihn retten können, Sie sind zu spät, warum haben Sie nicht länger durchgehalten, warum…?« Hungrig, voller Tadel sahen seine Augen mich an, seine Hände waren gefaltet, als ob er zu mir beten würde, oder nur, um mir Kraft zu geben, auch wenn es schon für alles zu spät zu sein schien… Was sollte ich antworten? Ich spürte nichts Ungewöhnliches in dem, was er sagte. Ich war zu spät, das wußte ich. Wieder dachte ich an das steinerne Gesicht; der Übergang hatte sich zu plötzlich abgespielt, als daß ich es bereits aus meinen Gedanken hätte bannen können. Und blitzschnell setzte sich seine Frage in meinem Geist in anderer Form fort: Warum hatte ich es nicht länger beschienen, warum hatte ich mich ablenken lassen? Und vor allem, weil die Erinnerung an das Sterbebett von vor dreizehn Jahren wieder auftauchte,
bedrohlicher als soeben, spürte ich nur zu deutlich, wie sehr ich versagt hatte, heute und auch früher bereits. Denn jetzt erst wurde mir bewußt, warum mein Vater sich während seines Todeskampfes verjüngt hatte. Es war, um mich zu schonen, um nicht auf meine Schultern zu laden, was doch jeder tragen muß, der sich schuldig fühlt und gefoltert durch Reue, wenn er seinen Vater sterben sieht, auch wenn dazu niemals ein wirklicher Grund bestanden hat. Durch die Veränderung seines Aussehens hatte sich alles unmerklich und mildernd vollzogen, durch den Rückhalt dieses seltsam verjüngten Gesichtes, da er in Wirklichkeit bereits älter war, als man in diesem Leben je werden kann. Aber über die Zeit hinweg war das andere, wirkliche Sterbebett, für das er mich nicht würdig erachtet hatte, mit mir mitgezogen, um sich jetzt unversehens heftig zu offenbaren, heftig wie ein Vorwurf, heftiger als ein Selbstvorwurf und doch mit dem Selbstvorwurf verwandt. Denn ich hätte ihn zurückhalten können, so wie ich das mit dem steinernen Gesicht getan hatte! Und wären es nur fünf Sekunden länger gewesen: Ich hätte ihn leben lassen können, und wer weiß, der Tod wäre dann entmutigt abgezogen, abgeschreckt durch diesen kurzzeitigen Widerstand. Nein, nein, es war nicht, um mich zu schonen: Eine Chance war es gewesen, die er mir geboten hatte und von der ich keinen Gebrauch zu machen wußte! Nicht für mich hatte er sich verjüngt, sondern für sich selbst, mit meiner Hilfe, auf die er hoffte! Wer kennt die Schwankungen des Herzschlags, wer die Lebenskraft von sterbenden Gehirnen? Ich hätte mit ihm sprechen müssen, nicht stillstehen mit der Hand am Kinn und Gedanken an ein lästiges Begräbnis im Kopf; ich hätte auf die wunderbare Verjüngung eingehen müssen, lachend, aufmunternd und unter Einsatz all unseres gemeinschaftlichen Selbstvertrauens, ich hätte ihn auf alte Portraits hinweisen müssen, auf Erinnerungen, die ewig sind, auf eine Kinderzeit,
die stets zurückkehrt, auf die enorme Lebenskraft, die das alles übertrifft und den Tod dazu… Die Wirklichkeit des starrenden Jungengesichtes ließ mich aufs neue zu mir kommen. Eine Frage drängte sich auf, gewann Macht über mich, ich mußte sie aussprechen. Ich ging einen Schritt näher auf ihn zu, so daß wir Auge in Auge standen. »Ist es dein Vater, der gestorben ist?« fragte ich leise. Er wich zurück, keine Antwort kam von seinen Lippen. Jetzt lehnte er sich zur Seite, an die Frau, die eine Krankenschwester sein konnte oder eine Mutter, und die ihre Arme ausgestreckt gehalten hatte, um ihn in Empfang zu nehmen. Sein Gesicht fesselte mich wie ein Spiegel. Was sollte dieses seltsame Lächeln? Eine Antwort erwartete ich nicht mehr. Hinter ihnen sah ich den strengen, weißen Garten weit zurückweichen, verschwimmen, verlöschen… Es war, als ob sein Gesicht dem meinen ganz nahe käme, noch näher… Aber wie lange dauerte dies schon?… Jahre?… Wie dunkel es jetzt war. So dunkel, als ob dort nichts geschehen sei und nie wieder etwas geschehen würde. Hörte ich noch Schritte? Das Licht war allzu plötzlich ausgegangen, und so unwiderstehlich hatte der Nachtwind mit seinen Flüsterungen wieder von mir Besitz ergriffen, daß ich nicht habe feststellen können, ob der junge Mann über den Kiesweg zu jenem Haus zurückgelaufen oder aber auf eine andere Weise verschwunden ist. Durch diesen schnellen Übergang vom Licht zur Dunkelheit geblendet, betäubt durch eine Ergriffenheiten ohne Namen, fühlte ich mich erst nach einigen Minuten in der Lage, einen Schritt vorwärts zu tun, wie ein Kranker, der zum ersten Mal die Füße auf den Boden setzt. Nach dem steinernen Gesicht habe ich nicht gesucht. Ich wußte, daß ich nicht mehr mit ihm in Verbindung würde treten können, und er nicht mit mir. Bis zum Morgen bin ich umhergeirrt in dieser unwirtlichen Landschaft, die auf keiner Karte ihren Widerpart findet. Pappeln flüsterten an meiner
Seite, endlose Zäune flüchteten verzweifelt vor mir her, beschrieben eine Kurve, schienen zu demselben Punkt zurückzukehren; es funkelten Sternbilder, die ich nicht erkannte. Ich habe jenes Haus niemals wiedergesehen, so wenig wie ich je gewußt habe, was von alledem wahr gewesen sein kann, und ob dort tatsächlich in dieser Nacht ein Vater gestorben ist.
Simon Vestdijk Der gestohlene Traum
Je mehr der Mann träumte, desto unabweisbarer stellte es sich für ihn heraus, daß dieser eine Traum niemals dabei war. Je mehr er lernte, seine Träume zu behalten, desto deutlicher wurde ihm, daß sie nichts mit dem gemein hatten, was er als sechzehnjähriger Junge erfahren hatte; eines Frühlingsmorgens, als das Gezwitscher von Vögeln oder ein Sonnenstrahl auf seinen geschlossenen Augenlidern einen Traum zum Vorschein gezaubert hatte, den er sein ganzes Leben lang nicht vergessen sollte. Könnte er ihn doch vergessen! Dann hätte er vielleicht ein erträglicheres Leben. Dieser Mann lebte schließlich nur noch für seinen verschwundenen Traum. Einzelheiten wußte er kaum noch; es war ja der erste Traum gewesen von jemandem, der nicht darauf gefaßt war, einem ahnungslosen Jungen ohne Erfahrung. Der Traum hatte etwas von altem Wein, goldgelb wie Morgenlicht über den Hügeln; und von diesen Hügeln stammte der Wein auch: Zunächst von einer singenden Menge Weinarbeiter mit um den Kopf gebundenen Tüchern in Bottichen plattgetreten, dann gärend, dann die Hügel hinunterströmend. Hätte man ihn gefragt, was für ein Gefühl der Traum bei ihm hervorgerufen hatte, dann würde er geantwortet haben: Das Gefühl dieses Traumes – goldgelb. Eine goldgelbe Verzückung, eine absolute Glückseligkeit. Gleichzeitig Verlangen erweckend und Befriedigung schenkend, etwas unsagbar Abenteuerliches, etwas, das immer wiederkehren sollte und das trotzdem nur einmal geschah – was das Letzte betrifft, hatte er sich sicher nicht getäuscht. Es
wurde in dem Traum Musik gemacht: bestimmte überirdische Klänge, die sich anhörten wie ein Summen oder wie ein Hallen oder der Gesang von jenen Arbeitern; ein Geräusch, das durch seinen ganzen Körper klang, als ob große Künstler zu seiner unaussprechlichen Freude von innen auf seinen hohlen Knochen bliesen. Welch eine Erleichterung, bewerkstelligt durch diese Musik! Man muß sich einmal vorstellen: Dies ist ein Junge, der Schwierigkeiten hat oder diese Schwierigkeiten herbeikommen fühlt; das große Leben beginnt, aber die anderen, Lehrer oder Konkurrenten, sind ihm schon lange voraus, wie eine große unerbittliche Uhr, der er mit der Armbanduhr in der Hand hinterherrennt – die Uhr steht auf einem Wagen, der sich schnell fortbewegt –, während seine Armbanduhr zu allem Überfluß auch noch nachgeht! Das Schlimmste daran ist, daß man diese zwei Rückstände nicht zugleich einholen kann, denn wenn man stehenbleibt, um die Armbanduhr richtig zu stellen, dann entkommt die Uhr auf dem Wagen, und wenn man das Richtigstellen während des Rennens versucht, dann kriegt man die Zeiger mit den zitternden Fingern nie auf die rechte Stelle. So ein Junge muß weiterleben und auch noch ziemlich schnell, mit tausend Vorbildern vor Augen; und außerdem muß er sich die Zeit gönnen, sich selbst all diesen Vorbildern, einem nach dem anderen, anzugleichen. Eine hoffnungslose Aufgabe! Es fehlte wenig, und man wäre am liebsten wieder zurückgekehrt, durch das Alter von sechzehn Jahren zurückgeworfen wie ein Lichtbündel von einem Spiegel. Wer sich an sich selbst spiegelt, spiegelt sich sanft, wer aber durch den Spiegel hindurch muß, dem wird hart zugesetzt. Aber dann war zu diesem Mann der Traum gekommen, um ihm zu zeigen, daß das nicht nötig war, daß man nicht zurück mußte und nicht vorwärts, sondern daß man ausweichen konnte. Der Traum brachte das Versprechen einer immer
wieder erneuerten Unendlichkeit: kein Leben ging verloren; es gab vielleicht Schwierigkeiten, aber man steckte selbst in ihnen, wie Blut in einem Körper, das sich seinen eigenen Weg sucht und, bei der Verästelung einer Schlagader angekommen, sich nicht fragt, ob es nach links oder rechts muß. In seliger Ruhe auf dem Hügelrücken der Weinkelterer ausgestreckt, genoß er sowohl was war als auch was kommen sollte; und auch was kommen sollte, war schon da. So – um nur ein Beispiel zu geben – konnte man sich die Farbe Blau, das rührendste Blau jungen Enzians, nicht besser vorstellen, als an diesen, in seinen feinsten Verfassungen doch goldgelb ausgefallenen Traum zu denken; und so war Stille in jenem Gesang eingeschlossen und Fröhlichkeit in der Wehmut, die durch den Gesang hervorgerufen wurde. Das ganze Leben war in diesem Traum; aber in einer besonderen Weise, einer Weise, die für das wirkliche Leben vielleicht nicht geeignet war. Der Mann erwies sich, als er nun einmal erwachsen geworden war, als nicht sonderlich klug und auf ziemlich eigenwillige Weise borniert; und nach ungefähr zehn Jahren, da der Traum sich nicht wiederholte, fühlte er sich in unerhörter Weise zum Narren gehalten. Er blieb unverheiratet und hatte niemanden, mit dem er reden konnte. Eine lange Zeit ging vorüber, ohne daß er an seinen Traum dachte, aber den Verlust fühlte er immer, und je mehr er sich in seine Träume vertiefte, desto irreparabler erschien ihm der Bruch, den er in seinem sechzehnten Jahr erlebt hatte. Wüst oder erhaben, selig oder teuflisch konnte er träumen, es war immer anders. Wenn er daran dachte, daß sich so etwas nicht erzwingen ließ, wurde er wütend; dann fühlte er sich verkannt, vom Schicksal zurückgesetzt, und manchmal ging er so weit, zu unterstellen, daß man ihm seinen Traum abgeluchst habe. Es gab eine bösartige Macht, die den Traum verhinderte oder vor ihm versteckte oder einfach stahl. Wer der Schuldige war?
Vielleicht jeder, vielleicht alle Menschen gemeinsam. Von seinem Argwohn ließ er wenig merken; allerdings wurde sein Argwohn im Umgang mit Menschen anfänglich weniger dadurch erregt, daß er tatsächlich meinte, daß sie seinen Traum gestohlen hätten, als durch die Angst, daß sie seine tiefsten Gedanken erraten könnten. Außerdem war er neidisch. All diese Menschen schienen ihm, auch als Träumer, glücklicher zu sein als er. Sie hatten ihren Traum im Leben verwirklicht gefunden, oder aber sie hatten nie geträumt und schmarotzten nun bei anderen, mit einer blendenden Leichtigkeit, die sich vor allem bei öffentlichen Zusammenkünften enthüllte, wo emsige Träumer einen Traum aus ihrem Zylinder hervorzauberten, den sie dann dem Meistbietenden zum Kauf anboten. Aber da es niemand offen eingestand, daß er keine Träume hatte, wurde niemals ein Gebot abgegeben, die Traumlosen waren deshalb auf Diebstahl angewiesen. Heimlich zog man einem anderen den gewünschten Traum wie ein langes Band hinten aus dem Kopf, und auf dem Band war der Traum aufgemalt.
Es war ein kalter Wintertag, als er, an einem Kino vorbeispazierend, stehen blieb, um die Fotos zu betrachten. In Schaukästen hingen die Abbildungen übereinander; nicht nur aus dem Hauptfilm, sondern auch aus dem komischen Vorfilm, der Wochenschau, dem Zeichentrickfilm und dem Naturfilm. Von Letzterem gab es Fotos, die seine Aufmerksamkeit erregten. Nachdem er ein wenig getrödelt hatte, zog er einen Handschuh aus, steckte seinen Spazierstock unter den Arm und trat ein. Da er gut gekleidet war, ließ der Portier, den er bat, den Direktor sprechen zu dürfen, ihn sogleich ein, und kurze Zeit später stand er in einem salonartigen Raum, in den
Logentüren führten, dem Direktor gegenüber. Dieser fragte ihn, womit er ihm dienen könne. »Damit«, sagte der Mann, der sich auf seinen Stock lehnte und die Augen auf einen schlappen, sackartigen Feuerwehrschlauch in der Ecke gerichtet hielt, »daß Sie mich darüber aufklären, wie Sie an den Film kommen, da draußen, für den man meinen Traum benutzt hat.« »Ihren Traum?« fragte der Direktor, »ich habe keine Ahnung. Welchen Film meinen Sie?« »Das müßten Sie besser wissen als ich. Den Naturfilm, wenn es nicht ein anderer ist. Ich sah da Hügel und Menschen, kurzum: meinen Traum. Dieser Film ist mein Traum, der mir vor Jahren entwendet wurde.« »Sind Sie Drehbuchautor?« fragte der Direktor vorsichtig. Er wollte gerne jemand anderem zuzwinkern oder mit dem Finger gegen seine Stirn tippen, aber sie waren hier nur zu zweit. Außerdem hatte der Eindringling, der, auch wenn er sich beherrschte, ziemlich aufgeregt wirkte, einen Stock. Aber der Direktor war nicht umsonst acht Jahre lang Direktor, und die gewünschte Lösung fand er beinahe ohne nachzudenken. »Treten Sie hier ein, mein Herr«, sagte er lebhaft und er führte den Besucher zu einer der Türen, die, das wußte er, auf eine gänzlich leere Loge hinausging, »dann können Sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen, ob wir gestohlene Filme zeigen oder Filme mit Drehbüchern, die von jemand anderem sind. Der Film, den Sie meinen, hat übrigens kein Drehbuch. Naturfilme haben so etwas nicht. In fünf Minuten beginnt er. Es wird mir ein Vergnügen sein, Sie als Gast zu haben.« – Und er rieb sich die Hände und verbeugte sich. In fünf Minuten steht hier ein Polizist, nahm er sich vor, und dann konnte geschehen, was wolle. Der Mann, der seinen Worten mit großem Ernst gefolgt war, nickte zum Dank und sagte: »Ich kann mich natürlich irren.
Aber falls es sich wirklich um meinen Traum handelt, bestehe ich darauf, ihn so rasch wie möglich zurückzuerhalten .« »Sicher, sicher«, lächelte der sich verbeugende Direktor. Mit gelassenem Schritt, den Stock wieder unter dem Arm, verschwand der Mann in der Loge. Der Direktor telefonierte mit dem Portier, und der Portier holte einen Polizisten, der sich bei dem Feuerwehrschlauch aufstellte, als ob eigentlich er der Feuerwehrmann sei, während der Direktor, dennoch etwas nervös geworden, weiterhin in der Nähe der Logentür hin und her schlenderte, hinter der der Mann jetzt saß und sich den Naturfilm ansah, der, wie der Direktor sich deutlich erinnerte, nichts Traumhaftes hatte – es war nicht einmal ein Farbfilm –, aber bei Verrückten konnte man nie sicher sein. Ungefähr zehn Minuten verstrichen; es passierte nichts. Vergebens wartete man auf Lärm aus der Loge, Protestrufe oder den Stockwurf gegen die Leinwand, vergebens blickten auch die mittlerweile verständigten Platzanweiserinnen nach oben. In der Loge glühte nicht einmal die Zigarrenspitze des gefährlichen Mannes, der von ihrem Direktor dort eingeschlossen worden war. Sehr lange dauerte es. Da seine Anwesenheit anderswo erforderlich wurde und es doch auch nicht anging, den Mann das ganze Programm bis zuletzt umsonst sehen zu lassen, gab der Direktor dem Polizisten ein Zeichen und öffnete die Logentür. Der Zeichentrickfilm ging gerade zu Ende, die Loge war vage erleuchtet, den Mann sah er nicht. Er ging nach vorne, eine Treppe hinunter, sah nach links und rechts, dann wurde mit einem Mal das Licht angedreht, und der Mann war nirgends zu entdecken, wie er sich auch umsah. Da war er doch kurz erschrocken. In der vordersten Reihe saß ein Junge von ungefähr sechzehn Jahren, ziemlich schäbig gekleidet, mit glattem Haar und rundem Rücken. Er sah nicht auf, als der Direktor auf ihn
zukam. Sein Gesicht war verschlagen und voller Pickel, die Augen waren von einem kränklichen, schellfischartigen Blau mit grollendem Ausdruck: solch ein tief eingefressener Groll, wie ihn der Direktor noch niemals bei einem Jungen dieses Alters wahrgenommen hatte, und er kannte doch eine ganze Menge von ihnen, bei stark wechselndem Personal und einem offenen Blick für die Folgen der Arbeitslosigkeit. Obwohl er seit Beginn der Vorstellung in der Nähe der teuren Logen gestanden hatte, sowohl zur Kontrolle als auch sozusagen zum Empfang, hatte er den Jungen übersehen. Aber wo war dann der Mann? Er suchte überall. Er ging sogar soweit, über das Geländer zu spähen, als ob der Mann sich in den Saal hätte hinabsacken lassen können. Er begegnete den Blicken einiger Platzanweiserinnen und mindestens der Hälfte der Besucher. Glücklicherweise ging das Licht rasch für den Hauptfilm aus. Nachdem er seine elektrische Lampe angeknipst hatte, sprach er den Jungen mit dem abstoßenden Äußeren an und fragte ihn nach seiner Eintrittskarte. Unter unbegreiflichem Gemurmel wies der Junge unter die leere Sesselreihe, an deren äußerem Ende er so zusammengekauert saß. Dort auf dem Boden lagen, teilweise in Schnipseln, bestimmt zwanzig Logenkarten; unschlüssig ließ der Direktor das Licht seiner Lampe darüber spielen und überlegte, daß es unter seiner Würde wäre, dort herumzugrabbeln. Darum ließ er den Jungen, der dort schließlich nichts Böses tat, sitzen und verließ die Loge unter dem Abschießen kleiner Lichtbündel zwischen die Sesselreihen, als habe er sich mit dem Verschwinden des Mannes noch nicht abgefunden.
Hans Koekoek Die Maske
Sobald Dinge geschehen, die wir nüchternen Westler nicht verstehen, geschieht etwas Seltsames mit uns. Wir werden furchtsam… unsicher… aber da wir nun einmal nüchterne Westler sein müssen, dürfen wir uns das keinesfalls anmerken lassen. Denn Aberglaube paßt nicht zu uns, sondern gehört zu primitiven Menschen ohne Zivilisation. So war anfänglich auch meine Einstellung gegenüber der Ebenholzmaske, die ich in Daressalam gekauft hatte. Mein Freund Tom, ein Afrikakenner, ließ sich, als ich mit der Maske unser Hotelzimmer betrat, anfänglich ziemlich skeptisch über ihren Wert aus. Ich hatte sie bei einem der Straßenhändler gekauft, die in der Gegend des modernen KilimandscharoHotels, wo wir wohnten, umherstreiften. Es war nach Toms Meinung eine Maske, die eigens für Touristen und solche Leute wie mich zu Tausenden hergestellt werde. Ich könne sie mit den Holzschuhen vergleichen, die auf der Insel Marken und in Volendam an die Touristen verkauft werden, bemerkte er abfällig. Ich nahm die Maske in meine Hände und betrachtete die Details etwas genauer, und tatsächlich, ich mußte zugeben, daß sie außergewöhnlich nachlässig ausgeführt war. Insbesondere an der Rückseite waren viele Holzspäne, die mit einem Meißel leicht zu entfernen gewesen wären. Ich stellte die Maske etwas enttäuscht auf den Marmortisch, der zwischen unseren Betten stand, und fing an, die Korrespondenz mit unserer Firma zu erledigen. Hin und wieder sah ich zu der Maske. Sie hatte im frühen Sonnenlicht, das in das Zimmer fiel, einen etwas
verbissenen Ausdruck. Ein wenig später, als die Sonne gerade einmal nicht schien und die Augenhöhlen dunkle, tiefenlose Flecken geworden waren, bekam sie einen sehr starren, unwirklichen Ausdruck; ungefähr so wie ihn auch blinde Menschen haben. Allein, bei Blinden weiß man, daß nun einmal kein visueller Kontakt möglich ist, während es bei dieser Maske war, als wolle sie einen absichtlich nicht sehen. Ich sagte das auch zu Tom. Er lachte mich aus und nannte es Blödsinn. »Diese Sorte Touristenmasken ist Massenanfertigung mit einer einzigen Art von Konfektionsausdruck«, sagte er. »Daran haben womöglich zehn Leute gearbeitet. Der eine schnitzt die Augen rein, ein anderer die Ohren, ein dritter die Nase, ein vierter wiederum das und so weiter. Nur Masken, die von nur einem Mann gemacht worden sind, und zwar von einem echten Maskenschnitzer, solche Masken können Charakter haben. Der Negerkünstler legt da dann etwas von sich selbst mit hinein. So ein Mann wird niemals zwei genau gleiche Masken machen… bei näherer Untersuchung wird man immer kleine Unterschiede finden… Aber dieses Schundding… wenn ich jetzt in die Innenstadt gehe, kaufe ich innerhalb einer Viertelstunde ein Dutzend von diesen Dingern und dann auch noch für ein Drittel des Geldes, das du dafür vermutlich hingelegt hast. Übrigens, was hast du dafür bezahlt?« »Einen Dollar«, sagte ich. »Einen Dollar?« wiederholte er. Es war merklich Erstaunen in seiner Stimme. »Ist das zu teuer?« »Oh nein! Im Gegenteil. Womit fing er an?« »Mit zehn Dollar.« »Mit zehn Dollar… und du bekamst sie für einen Dollar? Das finde ich rasend geschickt.« »Ja«, sagte ich, »es war auch gar nicht meine Absicht, diese Maske zu kaufen. Aber der Mann kam auf mich zu und
erzählte mir in gebrochenem Englisch, daß eines seiner Kinder ernstlich krank sei. Er brauche Geld für Medikamente. Natürlich falle ich auf so ein Märchen nicht herein, aber er behauptete es weiterhin hartnäckig und lief, glaube ich, bestimmt die halbe Stadt lang hinter mir her. Die Maske stelle einen Negerkönig dar, sagte er, und sei sicher 100 Dollar wert. Ich sagte, daß er sie dann doch woanders für 50 Dollar verkaufen solle. Er antwortete, daß niemand an die Echtheit der Maske glaube… aber sie sei echt… und ich könne sie für zehn Dollar haben. Er brauche das Geld sofort, bevor es zu spät sei. Ich versuchte ihm klar zu machen, daß seine Geschichte gut sei, aber hinten und vorne nicht stimme, aber er beteuerte mir, daß die Maske ein Vielfaches von zehn Dollar wert sei. Er habe sie von seinem Vater bekommen, der sie selbst wiederum von seinem Vater bekommen habe, und der habe sie während eines Stammeskrieges erbeutet.« »Fabelhaft«, lachte Tom. »Wie kommt der Kerl dazu?« »Letztendlich, als der Kerl nach wie vor hinter mir herlief und weiter über die Echtheit der Maske und sein todkrankes Kind quatschte, schnauzte ich ihn an, daß er sich zum Teufel scheren solle. Ich wolle keine Maske. Nicht einmal zehn für einen Dollar. ›Dann für fünf Dollar, mein Herr?‹ begann er. ›Nein‹, sagte ich, ›selbst nicht für fünf Dollar‹ und ging über die Straße. Er folgte mir allerdings auf dem Fuße, und als ich etwas weiter kurz den Verkehr abwarten mußte, ging er mich wieder an. Ich würde allen Segen, der zur Maske gehöre, beim Kauf mitbekommen… In meinem eigenen Land könne ich sie später für 100, vielleicht sogar 200 oder sogar 300 Dollar verkaufen. ›Ach was! 300 Dollar!‹ rief ich. ›Einen Dollar… mehr ist das Ding nicht wert.‹ ›Gut‹, sagte er auf einmal und gab mir die Maske. Ich zahlte ihm einen Dollar, den er voll verhaltener Wut zu akzeptieren schien, aber als das Geldstück dann in seiner Hand lag, spuckte
er voll Verachtung direkt vor meine Füße auf die Straße und ging, ohne sich nach mir umzublicken, davon.« »Wie sah der Kerl aus?« fragte Tom. Es schien so, als ob er jetzt zum ersten Mal echtes Interesse an meiner Geschichte bekomme. »Es war die Art Bursche, der wir auch irgendwo in Kenia begegnet sind, so ein Massai.« »Was! Ein Massai! Das glaubst du doch selbst nicht! Ein Massai als Straßenhändler! Und dann auch noch in Daressalam?« »Warum sollte ich das nicht glauben?« fragte ich erstaunt. »Weil die Massai viel zu stolz sind, um hinter dir herzulaufen. Das ist, soweit ich weiß, der einzige Stamm in Afrika, der von uns Westlern noch nicht völlig verseucht worden ist. Nein, Alter, ich denke, daß dieser Straßenhändler ein gewöhnlicher Bantu war, der sich ein bißchen komisch kleidete, um den Touristen eine Freude zu machen. Übrigens… was sagtest du auch noch?… spuckte er direkt vor deine Füße auf die Straße. Das ist ein schlechtes Zeichen, mein Freund… Wenn ich du wäre, würde ich die Maske lieber wegwerfen.« »Die Maske, von der dreizehn auf ein Dutzend gehen«, lachte ich. »Es ruht ein Fluch auf dieser Maske«, höhnte Tom. Er kicherte über seinen eigenen Scherz und ging zur Tür hinaus Richtung Bar, wo er einen Großwildjäger, mit dem er früher gejagt hatte, treffen sollte. Ich blieb zurück und hörte das höhnende Lachen von Tom noch in meinen Ohren nachhallen. Dennoch war es mir aufgefallen, daß Toms Lachen zwar wie immer höhnisch gewesen war, ihm aber jede Überzeugung fehlte. Ich erledigte die Korrespondenz mit unserer Firma weiter und bestellte über das Haustelefon ein wenig schwarzen Kaffee. Der afrikanische Diener, der ihn mir brachte, stellte das Tablett mit Kaffeekännchen, Tasse und Zucker auf den
Schreibtisch neben die Maske. Ich sah, daß er die Maske betrachtete. »Findest du, daß es eine schöne Maske ist?« fragte ich auf Englisch. »Ja, Bwana.« »Ist es eine seltene Maske?« »Ja, Bwana.« »Willst du sie von mir haben?« »Nein, Bwana.« Er verbeugte sich leicht, drehte sich um und eilte zur Tür. Davon bin ich auch nicht klüger geworden. Ich verschob die Schreibtischlampe so, daß das Licht mehr auf die Maske schien. Wiederum fiel mir auf, wie nachlässig die Maske ausgeführt worden war, aber es fiel mir ebenfalls auf, daß die Maske unverkennbar wieder einen ganz anderen Ausdruck hatte. Es lag ein Ausdruck darin, der nur sehr schwer zu beschreiben ist, den ich aber trotzdem am besten wiedergeben kann, indem ich sage: Sie hatte die gleichen Züge an sich, die man auch bei Menschen entdecken kann, die in einer bestimmten Situation machtlos sind, aber wissen, daß ihre Gelegenheit, zurückzuschlagen, kommen wird… Ja, so etwas war es… Ich schenkte mir Kaffee ein und versuchte noch ein paar Notizen zu machen, aber es klappte nicht. Die Maske im Lichtkegel der Schreibtischlampe zog ständig meine Aufmerksamkeit auf sich. Zunächst wehrte ich mich dagegen, denn es ist doch unsinnig, sich von einem toten Stück Holz ablenken zu lassen, aber letzten Endes gab ich mich doch geschlagen und zog die Maske aus dem Lichtstrahl. Sie wurde jetzt ein schwarzer Fleck, der deutlich von der hellen Marmorplatte des Schreibtisches abstach. Hin und wieder, wenn ich meinen Arm bewegte, wurde ein wenig Licht reflektiert, und dann blitzten die Augen der Maske auf. Sie wirkte bedrohlicher als je. Irritiert ergriff ich die Maske und schmiß sie in hohem Bogen auf mein Bett. Danach nahm ich
noch eine Tasse Kaffee aus dem Kännchen und beschloß, mir etwas Ablenkung zu verschaffen, indem ich mich kurz zu Tom und dem Großwildjäger an die Bar setzte.
Tom und der Großwildjäger saßen hinten in der Bar, sahen mich aber sofort, als ich hereinkam. Tom winkte mir und stellte mich dem Großwildjäger vor. Der Großwildjäger nannte sich Walter Harres. Ich schätzte ihn auf ungefähr 50, aber er sah höchstens wie 45 aus. Er hatte einen tiefbraunen, versengten Kopf mit zwei hellen, fröhlichen Augen darin. Er zog fortwährend an einer Pfeife, die aus war. »Sie haben eine Maske von einem Massai gekauft?« war das erste, was er sagte. »Ja«, sagte ich. »Tom hat es Ihnen schon erzählt?« »Ja, ich halte es für einen interessanten Fall … Diese Touristenmasken werden tatsächlich für einen Dollar pro Stück verkauft, aber so ein Straßenhändler wird zu Anfang nie mehr als zwei oder drei Dollar verlangen. Sie sind auf ihre Art immerhin noch ehrlich. Sie ziehen einen natürlich schon über den Tisch, aber nie wirklich kraß. In gewisser Hinsicht bleiben sie sportlich… Eine Maske, die einen Dollar einbringen soll, wird meiner Ansicht nach niemals für zehn Dollar angeboten werden. Aber abgesehen davon, die ganze Geschichte, daß die Maske ein paar Hundert Dollar wert ist, finde ich merkwürdig. Das ist auf jeden Fall nicht die Taktik der Straßenhändler hier.« »Also denken Sie, daß die Maske tatsächlich wertvoll ist?« fragte ich. »Das sage ich nicht! Ich hoffe übrigens für Sie, daß sie nicht wertvoll ist.« »Warum?« fragte ich erstaunt.
»Ich sagte Ihnen schon, sie sind hier auf ihre Art ziemlich ehrlich. Wirklich bescheißen tun sie einen nicht. Aber sie wollen selbst auch nicht beschissen werden… Tom erzählte mir, daß der Mann, der sie Ihnen verkauft hat, auf den Boden spuckte, direkt vor Ihre Füße.« »Ja… Ich denke, daß er enttäuscht war… weil ich nur einen Dollar gegeben habe.« »Das war er sicherlich. Aber das ist nicht das Schlimmste. Manche Masken hier in Ostafrika sind wahre Reliquien. Sie gehen vom Vater auf den Sohn über … Keinem Angehörigen eines anderen Stammes würde es einfallen, die Maske seines besiegten Feindes mitzunehmen, ehe er seinen Feind getötet hat. Wenn der ursprüngliche Eigentümer auf den Boden spuckt, bedeutet das, daß er die Maske um Rache für seine Niederlage bittet.« »Also denken Sie doch, daß ich eine seltene Maske für die paar Groschen gekauft habe?« »Ich sagte Ihnen schon, ich weiß es nicht. Ich finde lediglich die Geschichte interessant. Möglicherweise versuchte dieser Straßenhändler nur, Ihnen einen Schrecken einzujagen.« »Nun, das wird ihm nicht gelingen«, sagte ich. Trotzdem fühlte ich mich, um die Wahrheit zu sagen, nicht völlig unbesorgt. Eigentlich bereute ich es schon, daß ich dem armen Schlucker nicht die zehn Dollar gegeben hatte, die er verlangte. Was waren denn schließlich zehn Dollar für mich in Daressalam? »Was mich aber noch mehr befremdet«, hörte ich den Großwildjäger mehr an Tom als an mich gerichtet sagen, »ist, daß dieser Straßenhändler ein Massai war. Ich achte da zwar nicht drauf, aber ich habe, glaube ich, noch nie einen Massai als Straßenhändler in Daressalam gesehen.« »Das sagte ich auch schon«, antwortete Tom. »Aber vermutlich haben wir es hier doch mit einem gerissenen
Jungen zu tun… denn meiner Ansicht nach ist diese Maske wirklich nicht mehr als einen Dollar wert. Und was die Massaitracht angeht… das wird wohl ein Gag sein, um den Touristen zu imponieren.« »Kann ich die Maske nicht mal sehen?« fragte der Großwildjäger auf einmal. »Ich will nicht sagen, daß ich ein ausgesprochener Experte bin, aber ich kann doch schon eine echte Eingeborenenmaske von Touristenramsch unterscheiden.« »Dann laßt uns zu unserem Zimmer gehen«, schlug ich nur zu gern vor. »Möglicherweise können Sie die Art des Fluches, der auf der Maske ruht, herausfinden«, spottete ich. »Sie sollten nicht zu locker darüber denken«, sagte der Großwildjäger. Ich sah an seinem Gesicht, daß es ihm Ernst war. Er legte seine Pfeife auf die Theke und sah mich an. »Ich möchte Ihnen nochmals sagen, daß ich für Sie hoffe, daß die Maske nicht echt ist.« »Ich muß noch einmal kurz telefonieren«, sagte Tom. Seine Stimme klang weniger gefaßt als sonst. »Ich bin sofort zurück, laßt uns dann mal nachsehen. Ich bin übrigens davon überzeugt, daß die Maske nicht mehr ist als ein wertloses Stück Holz.« »Wir werden sehen«, sagte der Großwildjäger. Tom stand auf und ging aus der Bar, um zu telefonieren. Während er weg war, hatte ich alle Mühe, das Gespräch mit dem Großwildjäger einigermaßen in Gang zu halten. Vermutlich deshalb erkundigte er sich, wie lange ich schon in Afrika sei. Meine Antwort, kaum einen Monat, schien ihn recht zu amüsieren. »Es dauert Jahre, bevor man Afrika kennenlernt«, sagte er. »Dieser Erdteil ist mysteriöser als wir denken. Manchmal glaube ich, daß ich die Menschen hier schon verstehe, und dann geschieht wieder etwas, wodurch man merkt, daß man
sich doch wieder in ihrer Art geirrt hat. Es ist ein gewaltiges Land, ein Erdteil eigentlich noch vollauf im Werden.« Während sich der Großwildjäger mit mir unterhielt, schaute er fortwährend über meine Schulter in die Bar hinein. Plötzlich sah ich seine Augen aufleuchten. »Da ist Tom«, sagte er sogleich. »Wollen wir jetzt auf euer Zimmer gehen?« Tom war uns schon auf halbem Wege entgegengekommen, ging aber, als er sah, daß wir aufstanden, zurück zum Eingang der Bar, wo er auf uns wartete. »Gehen wir jetzt nachsehen?« fragte er. »Ja«, sagte ich, »wir gehen jetzt das Wunder betrachten.« »Ihr Freund ist ein echter Westler«, sagte der Großwildjäger. Er war spürbar irritiert. »Seine Phantasie geht nicht weiter als sein Wahrnehmungsvermögen .« Weder Tom noch ich reagierten. Auch im Fahrstuhl sprachen wir nicht, und dennoch war es klar, daß wir alle drei mit unseren Gedanken bei der Maske waren, die im Zimmer auf uns wartete. Tom steckte den Schlüssel ins Schloß, öffnete die Tür und schaltete das Licht an. »Nur zu!« sagte er zum Großwildjäger. Der Großwildjäger ging geradewegs zum Schreibtisch und ergriff die Maske. Er betrachtete sie aufmerksam von allen Seiten und klopfte mit den Knöcheln auf das Holz. Das Geräusch klang durchdringend. Er machte das noch ein paar Mal und blickte zu Tom. »Sie ist echt«, sagte er. »Es ist absolut eine originale Eingeborenenmaske. Ich schätze sie auf bestimmt 250, 300 Jahre. Dafür bekommt man in Europa sicher 1000 Dollar… Wenn ich mich nicht irre, ist es eine sogenannte Königsmaske.« Ich sah, daß Tom kreidebleich geworden war. Nervös schob er mit dem Finger das Kaffeekännchen, das noch auf dem Schreibtisch stand, im Kreis umher. »Das ist gar nicht gut«,
sagte er schließlich. »Dieser Massai hat vor seine Füße gespuckt… Wir müssen zusehen, die Maske loszuwerden…« Der Großwildjäger begann, seine Pfeife zu stopfen. »Es wäre das beste, wenn wir den Massai aufspüren könnten und ihm die Maske zusammen mit einer Fünfzigdollarnote zurückgäben.« »Ach was! So ein Quatsch!« versuchte ich verärgert zu rufen. »Ihr wirkt wie ein Haufen Eingeborener statt wie Menschen, die aus Europa kommen.« »Du kennst Afrika … und die Massai noch nicht, Freundchen«, sagte der Großwildjäger. »Das ist eine ganz normale Touristenmaske«, sagte ich. Ich wollte mir vor allem nichts anmerken lassen. »Tom sagte das übrigens vor einer halben Stunde selbst auch noch.« »Ja, das stimmt«, sagte Tom. »Sie ist ausgeführt wie der erstbeste Souvenirschund.« »Es geht nicht um die Ausführung«, sagte der Großwildjäger. »Es geht um den Ausdruck der Maske, und der ist verdammt gut. Als ich hereinkam und sie auf dem Schreibtisch liegen sah, fiel es mir sofort auf.« »Als Sie sie auf dem Schreibtisch liegen sahen?« wiederholte ich. »Sie lag nicht auf dem Schreibtisch… bevor ich das Zimmer verließ, hatte ich sie auf mein Bett geworfen.« »Nein, das ist nicht wahr«, sagte der Großwildjäger ruhig. »Sie lag hier, auf dem Schreibtisch, dort neben der Schreibtischlampe.« »Ja, das stimmt«, pflichtete Tom ihm bei. »Das habe ich auch gesehen.« »Und ich weiß es sicher, daß ich sie auf das Bett geworfen habe«, sagte ich. Ich hörte jetzt zum ersten Mal, daß meine Stimme, weil ich mit den Nerven runter war, anfing, sich zu überschlagen. »Sie lag hier auf dem Schreibtisch«, brummte der Großwildjäger… »Abgesehen davon, was macht es schon, wo
sie liegt oder lag… Es geht darum, ob sie echt ist oder nicht… Und ich versichere dir, daß Sie echt ist.« »Wenn ich sicher weiß, daß ich sie auf das Bett geworfen habe, dann muß sie da auch noch liegen, wenn ich zurückkomme«, schrie ich jetzt mit tatsächlich sich überschlagender Stimme. »Wenn sie irgendwo anders liegt… dann stimmt da was nicht!« »Ach je, Mijnheer bekommt es jetzt schon mit der Angst zu tun«, sagte der Großwildjäger. »Die Spucke des Massai auf der Straße ist noch nicht mal ausgetrocknet, und seine Nerven versagen schon.« »Ja!« hörte ich mich selbst brüllen. »Ja!… Allerdings… davon versagen meine Nerven. Laßt uns in Gottes Namen diesen Massai suchen und ihm diese verfluchte Scheißmaske zurückgeben, von mir aus mit 100 Dollar dazu.« »Sieh mal an«, zog mich der Großwildjäger auf, »er wird plötzlich großzügig.« »Ich muß ihm recht geben«, stimmte Tom mir zu. »Es ist tatsächlich merkwürdig, wenn eine Maske auf dem Tisch liegt, die auf dem Bett liegen sollte. Wenn noch mehr seltsame Dinge mit dieser Maske passieren, ist es vielleicht gar keine so dumme Idee, sie dem Massai zurückzugeben.« »Ich habe einstweilen eine andere Idee«, sagte der Großwildjäger. Zum ersten Mal kam Rauch aus seiner Pfeife. »Ich habe hier in Daressalam einen Freund wohnen. Ein total bekloppter Kerl. Er ist steinreich und sein Hobby ist das Sammeln von Masken. Was er über Masken nicht weiß, ist es vermutlich nicht wert zu wissen… Wir sollten ihn anrufen… dann können wir zumindest die theoretische Möglichkeit, daß ich mich irre, ausschließen. Außerdem gibt er, wenn die Maske echt ist, gerne 500 Dollar dafür. 450 Dollar für uns und 50 Dollar für den Massai, um den Fluch von der Maske zu nehmen.«
»Ich bringe sie lieber gleich dem Massai zurück«, sagte ich. »Ruf jetzt erstmal diesen Kerl an«, sagte Tom. »Dann wissen wir wenigstens, worüber wir reden.« »Das wissen wir doch schon«, sagte der Großwildjäger, während er zum Telefonapparat auf dem Nachtschränkchen ging und die Nummer bei der Hotelrezeption anmeldete. Obwohl die Verbindung zügig zustande kam, hatte ich doch das Gefühl, daß es Stunden gedauert habe. Während des Telefongesprächs schaute ich ab und zu zur Maske hin, und dann schien sie bösartig zu grinsen. Der Maskenkenner schien sich an der anderen Seite der Leitung nicht sehr optimistisch über die Möglichkeit zu äußern, noch eine echte Königsmaske vorzufinden. Heute könne er nicht mehr kommen, aber wohl morgen mittag. Für eine echte Königsmaske sei er gern bereit, 750 Dollar zu geben. Der Großwildjäger legte ziemlich enttäuscht den Hörer auf den Apparat. »Ihr habt es gehört, er kommt erst morgen. Wollen wir dann noch einen Whisky an der Bar nehmen? Wir können ja doch nichts anderes machen.« »Ich kann nichts mehr herunterkriegen«, sagte ich. »Geht ihr nur. Ich will mir die Sache noch einmal in Ruhe überlegen.« »Wie du willst«, sagte der Großwildjäger. Er ging zur Tür. »Auf Wiedersehen! Alles Gute!« Tom folgte ihm, ohne etwas zu sagen, zur Bar. Ich hörte, wie ihre Schritte auf dem Gang verhallten. Da saß ich nun, kaum einen Monat in Afrika und schon in ernsten Schwierigkeiten. Es war eigentlich Toms Schuld, fand ich. Er hatte gesagt, immer feilschen, wenn einem hier etwas zum Kauf angeboten wird *… Er hätte dazu sagen müssen, Feilschen bis zum Angemessenen. Jetzt hatte ich mir den Fluch einer Maske aufgebürdet… Ich schaute noch einmal zur Maske hin, die auf dem Schreibtisch lag, und auf einmal, ich weiß nicht, wie es dazu kam, vielleicht jedoch, da ich durch und durch ein
Westler bin, kam mir die ganze Situation absurd vor. Der Fluch einer Maske!… Lebte ich denn im Mittelalter anstatt im zwanzigsten Jahrhundert mit Atombomben und Düsenflugzeugen? Wie könnte so ein Stück Holz, denn mehr ist so eine Maske schließlich nicht, mich denn bedrohen? Ich ging zum Schreibtisch, um die Maske noch einmal auf ihre Einzelheiten hin zu betrachten. Woran war nun eigentlich zu sehen, ob es eine alte Maske war oder ein Ding, das letzte Woche geschnitzt worden war? Während ich mich dem Schreibtisch näherte, schien es, als ob mir die Maske mit ihren Augen folgte. Sie sah erschöpft aus, fand ich. Als ob sie damit beschäftigt sei, eine enorme Kraftanstrengung zu leisten. Direkt vor der Maske konnte ich einen Ausruf des Schreckens nicht unterdrücken. Die ganze Maske war mit Hunderten feiner Schweißtröpfchen besetzt. Überall perlten Schweißtröpfchen. Neben der Maske auf dem Schreibtisch stand eine kleine Lache Schweiß. Für eine kurze Zeit war ich vollkommen kopflos, völlig in Panik, dann rannte ich aus dem Zimmer. Es war klar: Dies war eine Königsmaske! Eine Königsmaske, auf der ein Fluch ruhte. Ich konnte nur eine Sache tun… Den Massai suchen und ihn besser bezahlen und ihn dadurch günstiger stimmen. Ich lief noch kurz in die Bar, um Tom und den Großwildjäger zu suchen, aber sie waren nicht da. Das konnte mir allerdings auch egal sein… ich wollte nach Daressalam, um den Massai von der Maske zu finden. Auf dem Treppenabsatz des Hotels kamen, ehe ich mich versah, ein paar Straßenhändler auf mich zu, die mir allerlei Nippmasken für zwei oder drei Dollar zum Kauf anboten. »Ich suche einen Massai, der Masken verkauft«, sagte ich. »Wenn ihr ihn für mich findet, bekommt ihr zehn Dollar!« Sie schüttelten verneinend den Kopf. Sie kannten keinen Massai, der Masken verkaufte.
Ich nahm ein Taxi ins Stadtzentrum. Ich hatte dort eine Straße gesehen, in der die Straßenhändler dicht an dicht nebeneinander saßen. Möglicherweise hatte ich dort eine Chance. Ich erklärte dem Taxifahrer, was ich meinte, und er brachte mich tatsächlich untrüglich in einen Hexenkessel von lauthals ihre Waren anpreisenden Straßenhändlern. Ich konnte dort alles mögliche kaufen, aber den Massai, nach dem ich fragte, hatte niemand gesehen. Ich ging sorgfältig alle Verkaufsbuden ab, betrachtete jeden Verkäufer, aber entdeckte keinen Massai. Enttäuscht bog ich in die kleinen Seitenstraßen ab, denn auch dort hatte ich Straßenhändler mit allerlei afrikanischem Krimskrams gesehen. In einer der Seitenstraßen, ich begann gerade, an dem ganzen Unternehmen zu zweifeln, sah ich, wie ein Straßenhändler mich argwöhnisch und auch recht ängstlich musterte. Ich ging auf ihn zu, und er verbeugte sich höflich. »Kennst du einen Massai, der Masken verkauft?« fragte ich. Er schüttelte verneinend den Kopf. Trotzdem traute ich ihm nicht und steckte ihm auf gut Glück einen Zehndollarschein in die Hand. Einen anderen Zehndollarschein hielt ich ihm vor die Nase. »Wo ist dieser Massai?« fragte ich. »Ich weiß es nicht, Bwana. Aber wenn Sie wieder zehn Dollar geben«, er wies auf den Schein in meiner Hand, »werde ich Ihnen helfen, ihn zu finden.« »Wenn du ihn findest, bekommst du 20 Dollar von mir.« »Sie meinen, Bwana, daß es Ihnen 30 Dollar wert ist, den Massai zu finden?« »Ja!« sagte ich hastig. »Das ist es mir wert!« Der Straßenhändler pfiff auf den Fingern und auf der Stelle kamen ein paar kleine Jungen angelaufen … Er sagte etwas auf Suaheli, aber ich begriff, daß er die Kinder auf seine Waren achten ließ. »Laß uns gehen«, sagte er.
Wir gingen schweigend in einen jener Durchlässe hinein, die in die Gasse mündeten. In dem Durchlaß, in dem Lehmhütten standen, die in Daressalam noch vorzufinden ich nicht erwartet hatte, sprach er von Zeit zu Zeit mit einem der Bewohner. Manchmal glaubte ich, das Wort ›Massai‹ zu verstehen. Nachdem wir an ich weiß nicht wie vielen Hütten vorbeigegangen und manchmal über Müllhalden geklettert waren, blieb er plötzlich vor einer Art hölzernem Lagerhaus stehen. Der Straßenhändler zeigte mit dem Arm auf die kleine Bude und sagte: »Happa!« »Du kannst mich mal mit deinem Happa«, sagte ich. »Erst mal sehen, ob der Bursche hier ist, bevor du dein Geld einstreichst.« Ich lief zu dem Schuppen und zog den Jutesack, der vor dem Eingang hing, weg, so daß ich hineinsehen konnte. Hinter einem kleinen Berg aus Zuckerrohr und noch anderen Dingen, die ich nicht einordnen konnte, saß der Massai. Wir erkannten einander auf der Stelle. Er stand, ich war noch nicht so nervös, daß ich es nicht bemerkte, ängstlich auf und machte vor mir eine Verbeugung. Ich steckte dem Straßenhändler, der in der Öffnung stehen geblieben war, die 20 Dollar zu. Er bedankte sich und rannte sogleich weg. Der Massai, der gesehen hatte, daß ich dem Straßenhändler 20 Dollar gab, wich jetzt ängstlich vor mir zurück. »Ich bin krank!« sagte er in seinem seltsamen Englisch. »Ich spucke immer auf den Boden… das bedeutet nichts.« »Ich bin Ihnen auch nicht böse«, sagte ich so freundlich wie möglich. Meine Stimmte zitterte wie ein Blatt im Wind. »Ich habe nur bemerkt, daß ich Ihnen viel zu wenig für die prachtvolle Maske bezahlt habe… Ich hörte von Freunden, daß sie sehr wertvoll ist. Darum will ich Ihnen 50 Dollar geben… oder, wenn Sie auch das noch zu wenig finden, 100.«
»Ich habe sie Ihnen für einen Dollar verkauft«, sagte der Massai. »Verkauft ist verkauft!« Seine Augen suchten hinter mir den Ausgang. »Ich gab Ihnen einen Dollar, da ich dachte, daß sie nicht mehr wert sei. Aber sie ist mehr wert. Darum bin ich hier. Sie brauchen Geld für Ihr krankes Kind… Wo ist Ihr Kind? Kann ich etwas tun?« »Kind viel besser«, sagte er, während er einen Schritt nach hinten machte. »Alles gut. Geld nicht mehr nötig!« »Geld kommt immer gelegen«, sagte ich und hielt ihm eine Hundertdollarnote hin. Der Massai sah die Banknote an. Für eine kurze Zeit strahlte ein begehrliches Licht in seinen Augen. »Nein«, sagte er. Seine Stimme klang definitiv. »Maske verkauft für Dollar. Kauf bezahlt. Aus.« Ich wußte mir keinen Rat mehr. Es war klar, daß er den Fluch, mit dem er die Maske belegt hatte, nicht zurücknehmen wollte. »Sie spuckten mir vor die Füße«, sagte ich. »Folglich habe ich die Maske zu billig gekauft.« »Preis Maske gut!« sagte er. »Ich bin krank und spucke immer auf den Boden.« »Ich habe Sie noch kein einziges Mal auf den Boden spucken sehen«, sagte ich. »Das tue ich nur draußen… nie in der Hütte… dann wird Frau böse.« »Hier!« sagte ich und hielt ihm die Hundertdollarnote hin. »Nimm sie! Kaufe deiner Frau ein Geschenk!« »Ich Frau nicht verwöhnen«, sagte er. »Ich kein Geld wollen. Maske für Dollar ist genug.« Ich merkte, daß ich auf diese Art keinen Schritt weiterkam, deshalb versuchte ich es anders. »Ich will einen Massaischild kaufen«, sagte ich. Ich sah, wie sich seine Augen aufhellten. »Zufall«, lachte er. »Gerade letzte Woche von Bruder echten Massaischild
mitgenommen …« Er ging in die Ecke des kleinen Raumes und holte unter ein paar Jutesäcken einen in seltsamen Farben bemalten Schild hervor. »Fabelhaft!« jubelte ich. »Was kostet er?« »Sehr seltener Schild«, sagte er. »Guck hier…« Er zeigte mit dem Finger auf dem Schild, wo sich ein paar Risse befanden. »Oft mit gekämpft… immer Besitzer geholfen… sehr wertvoll.« »Ich kaufe ihn!« sagte ich. »Was kostet er?« »500 Dollar«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. »500 Dollar!« rief ich. »Was! 500 Dollar!« »Nicht teuer für seltenen Massaischild«, sagte er. »Nein… nein…« sagte ich matt. »Natürlich… nicht teuer…« Ich begriff, daß mich der Bursche auf diese Art erpreßte. »Gut«, sagte ich, »500 Dollar.« Mit einem Seufzer suchte ich 500 Dollar zusammen. Das war beinahe alles Geld, das ich bei mir hatte. Ich sah, daß ich kaum noch ein Taxi zurück zum Hotel nehmen konnte. Ich zahlte ihm die 500 Dollar, die er äußerst sorgfältig in einen Beutel aus Sämischleder steckte, der ihm an einer Schnur um den Hals hing. »Bitte sehr!« sagte er und reichte mir den Schild. Höflich schob er die Jutesäcke vor dem Ausgang beiseite. Während ich hinausging, bemerkte ich, daß er sichtlich erregt war. Als ob es die normalste Sache der Welt für mich sei, Schilde von 500 Dollar zu kaufen, ging ich über das Gerümpel, das vor dem Schuppen lag, davon, auf der Suche nach einem Taxi. Nach etwa fünfzig Metern blickte ich mich noch einmal um und sah, daß der Massai in der Öffnung seines Holzschuppens stand und mir nachschaute. Er hielt eine Hand über die Augen, denn die tiefe Nachmittagssonne blendete ihn. Als er bemerkte, daß ich mich umblickte, spuckte er in großem Bogen auf den Boden und ging schnell wieder in seinen Verschlag hinein.
Fix und fertig kam ich am Hotel an. Der Liftboy half mir, den schweren Schild zu meinem Zimmer zu tragen. Ich gab ihm das letzte Geldstück, das ich besaß. In meinem Zimmer war es dunkel. Die Jalousien, die immer halb geschlossen waren, ließen jetzt, da es zu dämmern begonnen hatte, keine Helligkeit mehr ein. Ich knipste das Licht an. Das erste, was ich sah, war die Maske… Sie lag auf dem Boden, in einer Blutlache. Es ist merkwürdig, daß ich nicht die Nerven verlor… Möglicherweise hatten der Gedanke, daß der Massai mich um 500 Dollar gebracht hatte, und der Umstand, daß ich mich für mein Gefühl so sehr hatte erniedrigen müssen, mich trotzig gemacht. Gut, wenn die Maske Ärger wollte, konnte sie ihn bekommen… Wenn an einem Kampf kein Weg vorbeiführt, kann man besser daran teilnehmen, war meine Theorie. Ich bückte mich nach der Maske, die vor meinen Füßen lag, und hob sie vom Boden auf. Das Blut schien aus dem Mund und den Nasenlöchern zu kommen. Ich roch daran und fand, daß sie stank. Sie stank nach altem, geronnenem Blut. Ich legte die Maske hin, wo ich sie gefunden hatte. Möglicherweise konnten Tom und der Großwildjäger Klarheit in die Sache bringen. In aller Seelenruhe, da ich wußte, daß ich den Kampf gegen die Maske mit dem Fluch des Massai letztlich doch verlieren würde, ließ ich mich aufs Bett fallen. Jetzt erst spürte ich, wie müde ich war. Ich zündete mir eine Zigarette an und blies den Rauch bedächtig gegen die Zimmerdecke. Ich fragte mich, was ich noch tun könne. Nichts! Europa würde ich niemals mehr wiedersehen. Offensichtlich wollte der dreckige Massai mir nicht vergeben. Ich wußte aus Büchern und Gesprächen, daß es tatsächlich ein sehr störrisches Volk sein mußte. Wie lange ich so dagelegen und gegrübelt habe, weiß ich nicht, vermutlich bin ich ziemlich schnell eingeschlafen. Plötzlich… ich weiß
nicht, was mich warnte, schlug ich die Augen auf… Direkt über meinem Gesicht sah ich zwei blutige Masken… Sie waren einander genau gleich! Ich gab einen Schrei von mir, der durch das ganze Hotel gehallt sein muß. »Mein Gott«, schrie ich, »sie kommen, mich umzubringen!« Mit sonderbaren Geräuschen drohend kamen die Masken noch dichter auf mich zu. Aus den Augen und Nasenlöchern tropfte Blut. Ich versuchte wegzulaufen, aber ich konnte mich, wie in einem Traum, nicht erheben. Ich schien wie gelähmt. Eine der Masken kam mir jetzt so nahe, daß ich den Gestank des Blutes roch. In einem verzweifelten Fluchtversuch probierte ich, mich mit meinen gelähmten Beinen aus dem Bett zu schieben. Ganz langsam, als ob ich schwebe, spürte ich mich aus dem Bett gleiten und auf etwas Hartes fallen… es war der Massaischild. Ich sah die seltsamen Kriegsfarben darauf und die vielen kleinen Risse, die er dem Massai zufolge in Gefechten Mann gegen Mann davongetragen hatte. Ich ergriff den Schild… Ich war erstaunt, daß ich wieder etwas ergreifen konnte… Ich versuchte den Schild hochzuheben… Er wog Tonnen, so schien es. Ich sah, daß die zwei Masken ängstlich zurückwichen. Sie kreischten vor Angst. Ich blickte zu meinen Händen… ich sah, daß ich sie über meinem Kopf hatte… Ich hielt den Schild über meinen Kopf!… Woher hatte ich die Kraft genommen?… Hatte die Angst mich in einem Moment gelähmt und im anderen Moment unnatürlich stark gemacht? Ich weiß es nicht. Ich sah, daß die zwei Masken in eine Ecke des Zimmers geflüchtet waren. Ich lief mit dem Schild über meinem Kopf auf sie zu. Sie kreischten wie angestochene Schweine. Mit all meiner Kraft schlug ich mit dem Schild zu… ich traf die vorderste Maske frontal ins Gesicht. Sie spaltete sich sogleich, und ein Strahl Blut spritzte zu mir herauf. Ich hörte die andere Maske aufheulen. Ich hob den schweren Schild
wieder über meinen Kopf und schlug die zweite Maske, die davonfliehen wollte, auch nieder. Auch diese Maske platzte auf wie eine Kokosnuß. Blut spritzte heraus. Ich ließ den Schild fallen und rannte zum Erker in der Ecke des Zimmers, in dem eine Duschgelegenheit war. Schnell rieb ich mir mit einem Handtuch das Blut von den Händen und vom Gesicht. Im Spiegel erblickte ich mich selbst… aber ich erkannte mich kaum… ich schien um Jahre gealtert. Ich lief wieder ins Zimmer. Zwischen den Betten beim Schreibtisch lagen die kaputtgeschlagenen Masken… daneben, sah ich jetzt zum ersten Mal,… lagen die Leichen von Tom und dem Großwildjäger. Sie hatten die Abdrücke der Masken noch auf ihren Gesichtern. Es klopfte an der Tür! Ich rief mit zitternder Stimme, daß ich öffnen würde… aber gerade ein Bad genommen hätte… Ich schob die Leichen von Tom und dem Großwildjäger schnell unters Bett und rieb mit dem Handtuch das Blut vom Fußboden. Vor dem Spiegel fuhr ich noch mal schnell mit der Hand durch mein Haar. Ich ging zur Zimmertür und öffnete sie. Draußen stand ein bereits etwas älterer Mann. Er ähnelte ein wenig dem Großwildjäger. »Ich komme bloß mal kurz nachschauen«, sagte er, »ich hatte keine Ruhe. Vielleicht ist es doch eine Königsmaske. Ein Freund rief mich an… er dachte, daß Sie eine Königsmaske hätten.« »Ja, ja«, sagte ich. »Ich erinnere mich daran… Dort liegen die Bruchstücke der Maske.« Der alte Mann ging unaufgefordert in mein Zimmer und nahm die Einzelteile der Masken in die Hand. »Was!« lachte er. »Dachtet ihr etwa wirklich, dieser wertlose Kram sei eine echte Königsmaske… So ein Ding kann man bei jedem Straßenhändler für höchstens einen Dollar kaufen.« »Das weiß ich«, sagte ich.
»Aber was seh’ ich da?« Der alte Mann blickte überrascht an mir vorbei. »Wie kommen Sie denn daran?« »Was?« fragte ich ängstlich. »Was denn jetzt wieder?« »Da, dieser prachtvolle Königsschild… Was für ein außergewöhnlich schöner Königsschild… Dafür gebe ich gerne 1500 Dollar.« »Nein!« sagte ich. »Den behalte ich. Der Massai, der ihn mir verkauft hat, sagte: ›Damit ist oft gekämpft worden. Er hat dem Besitzer immer geholfen‹.«
Jan Wolkers Gefiederte Freunde
Herbert steht vor dem beschlagenen Fenster seines Appartements im fünften und obersten Stockwerk. Die Hände in den Taschen seines Morgenmantels, hört er auf das Sausen in seinen Ohren. Es steht nicht allzu gut um mich, denkt er, ich bin dem Tode geweiht, auch wenn es noch zehn Jahre dauern kann. Noch zehn Jahre zusammen mit Liesbeth. So ein Elend! Er drückt seine Fingernägel in die feuchten Handflächen. Ich transpiriere, als hätte ich Fieber, doch habe ich kein Fieber. Das Einzige, was er durch das matte Fenster sieht, ist das Blinklicht auf der anderen Straßenseite. Als ob er auf einem hohen Berg stünde und der orangefarbene Vollmond, der gerade über den Horizont gekommen ist, immer wieder durch schnell segelnde Wolken kurz dem Auge entzogen würde. So wie er es schon einmal auf einer beschleunigten Filmaufnahme gesehen hat. Aber das An- und Ausflackern geht zu regelmäßig, als daß diese Illusion lang bewahrt bliebe. Er nimmt eine Hand aus der Tasche, und mit den etwas auseinander gestreckten Fingern zieht er lange, parallellaufende Kurven durch die feuchte Wabe, als ob er durch die langen Haare einer Frau streiche. Das Blinklicht kommt auf einem Pfahl wie aus Lakritze zu stehen, die Verkehrsinsel wird sichtbar, mit ihren gelben Pfählen, in denen ein giftiges, anilinblaues Licht brennt. Von den Bäumen im Park sind nur die Stämme sichtbar. Die Wipfel sind von den Insekten des Nebels verschlungen worden. Die Häuser sind in feuchte Laken gepackt. Eine Neonreklame verliert ihre verkaufsfördernde Wirkung und bekommt eine erhabene
Bedeutung. Ein rotes Kreuz auf den Wogen des Nebels. Herbert steckt seine Hand wieder in die Tasche, als sich die Tür hinter ihm öffnet. Liesbeth schlurft ins Zimmer. Sie ächzt und stochert im Ofen. »Du hast die Klappe zu lange offen stehen lassen«, sagt sie. »Er hat rote Wangen.« Sie steht jetzt gebückt beim Ofen, denkt Herbert. Ich sollte auf sie zu laufen und gegen ihren plumpen Hintern stoßen. Eine kleine Kostprobe des Fegefeuers. Aber sie würde das ganze Viertel zusammenschreien. Ich habe meine Pantoffeln an. Bevor ich meine Schuhe anhabe und aus der Tür bin, würden die Nachbarn schon da sein. »Machst du auch keine Zeichnungen auf den Fenstern, Herbert? Wenn die eingetrocknet sind, kriege ich sie fast nicht mehr raus. Du könntest sie ja mal für mich putzen.« »Ich putze nichts für dich«, antwortet Herbert bitter. »Ich will nur genügend Aussicht haben. Laß die Feuchtigkeit doch verdunsten, das ist gut für die Pflanzen.« »Aber es ist schlecht für die Möbel, davon verziehen sie sich, Herbert. Nimm darauf mal Rücksicht. Peter, Peterchen! Komm Junge, komm her!« Beleidigt ruft sie den Kater. Das haarige Raubtier tritt an, um sie zu trösten, nach der Niederlage, die ich ihr beigebracht habe, denkt er. Er hört die Pfoten auf dem Linoleum ticken. Jetzt springt der Kater an ihr hoch, klettert an ihrer Schürze nach oben. Sie wiegt ihn sacht wie ein neugeborenes Baby. »Verdorrter Schoß, unfruchtbarer Acker«, murmelt er beinahe verständlich. Warum hat sich mir dein Schoß nicht vor zwanzig Jahren geöffnet. Warum warst du wie eine gekappte Weide, die im Frühjahr keine Sprossen treibt. Dann hätte ich jetzt eine Tochter von zwanzig Jahren. Den Duft von jungem Frauenfleisch im Hause. Summen, Getrippel von hohen
Absätzen, Rouge, um meinem Alter noch etwas Farbe zu verleihen. Ich muß einmal nachdenken, ich muß einmal klar denken. Herbert beugt seinen Rumpf nach vorne, so daß seine Stirn am kalten, feuchten Fenster lehnt. Ach, das ist herrlich! Ich sitze auf einer Terrasse in Rom, ein heißer Sommernachmittag. Der Asphalt wogt in der Hitze. Ich bestelle ein Glas Bier, eiskalt. Ich halte das Glas an meine Stirn. Die Kälte zieht durch mein Gehirn bis an die Halswirbel. Worüber wollte ich auch wieder nachdenken? O ja, warum ermorden Männer ihre Frauen immer in Wut, in einem Anfall von Geistesverwirrung? Warum keine kleine Reise nach Österreich? Ein sportlicher Spaziergang, eine Bergwanderung. »Hörst du den Jodler dort drüben im Tal, Liesbeth? Schau, dort sitzt er! Wenn ich mich auf diesen hinausragenden Felsen stelle, kann ich ihn sehen.« »Wo Herbert, ich sehe und höre ihn nicht.« »Beuge dich noch etwas mehr nach vorne! Schau, er sitzt dort tiefer im Tal, mitten zwischen den weißen Akeleien.« Dann ein tüchtiger Schubs mit dem Spazierstock, und die zweihundert Pfund, die mir mein Dasein vergällen, purzeln weg aus meinem Leben. Plötzlich schreckt er vom schrillen Pfeifen der Straßenbahn auf. Es klingt wie das Schreien eines Hasen, der von einem Wiesel angesprungen wird. Er blickt hinunter. Die Straßenbahn setzt sich langsam in Bewegung. Dann liegt auf einmal eine Frau hinter der Straßenbahn auf der Verkehrsinsel. Der Teil ihres Unterschenkels, der über den Rand der Verkehrsinsel hängt, bildet einen Winkel von fast neunzig Grad mit dem Teil des Unterschenkels, der auf der Verkehrsinsel liegt. Es sieht so aus, als ob ihr Spann ungeheuer hoch ansteigt, oder ihr Kniegelenk nach unten gesackt ist. Es strömt Blut am Rand der Verkehrsinsel entlang zu den Schienen. Die Straßenbahn bleibt quietschend stehen. Ein Schaffner rennt zum reglosen Körper, beugt sich über ihn. Er
ruft etwas zum Fahrer, läuft auf den Bürgersteig und geht in ein Geschäft hinein. Der wird den Rettungsdienst anrufen, denkt Herbert. Vollkommen sinnlos. Warum nicht einfach verbluten lassen? Warum soll ihr Ehemann seinen Lebensabend hinter einem Rollstuhl fristen? Das Publikum läßt Autos, Fahrräder, Kinderwagen im Stich und hastet zum Ort des Unheils. Sie umringen das Opfer wie Totengräber den Kadaver eines Maulwurfs. Habe ich heute morgen nicht die Totenuhren in den Gitterstäben des Bettes gehört? Es war also unabwendbar. Sieh, die Fenster weinen. Herbert folgt den Tropfen, die zuckend zwischen den Kurven vertikale Linien ziehen. Dann dreht er sich um. »Kannst du erkennen, Liesbeth, was da auf dem Zettel an der Scheibe vom Milchhändler steht? Deine Augen sind besser als meine. Vielleicht gibt es ja ein Sonderangebot.« Liesbeth setzt den Kater auf den Stuhl und trottet zum Fenster. Herbert geht zum Ofen und hält seine Hände über ihn in die aufsteigende Wärme. Herrlich, die heißen Quellen auf Island, denkt er. Würde es ein strenger Winter werden? Die Vorzeichen sind günstig. Ist es nicht verdächtig, einen Eisschrank zu Beginn des Winters zu kaufen? Würde es keinen Argwohn erregen? Ach, es gibt Menschen, die ein Campingzelt im Januar kaufen. Habe ich nicht selbst einmal in einem Kaufhaus neben einem Mädchen gestanden, das einen Badeanzug kaufte, während es 20 Grad fror? Aber es gibt natürlich Hallenbäder. Und gibt es nicht auch Häuser, in denen im Winter eine tropische Hitze herrscht? Ich höre noch nichts beim Fenster. Sollten die sterblichen, äh, sollten die Überreste, Schwieger-, Groß- und Urgroßmutter, schon abtransportiert worden sein? Das wäre schade. Das Martinshorn habe ich aber noch nicht gehört. Oder sollten da so viele Leute herumstehen, daß es aussieht, als ob jemand mitten auf der Straße einfach so etwas zum Kauf anbietet?
Liesbeth schaut nach unten. Ich muß mich zusammenreißen, denkt sie und drückt mit beiden Händen auf ihren Magen. Da ist nicht mal ein Zettel an der Scheibe, er erspart mir nichts. So viel Blut, sie muß leerlaufen. Sie spürt ihren Mageninhalt hochsteigen. Schnell läuft sie zur Tür. »Und konntest du lesen, was auf dem Zettel stand?« fragt Herbert. Aber sie antwortet nicht, schlägt die Tür hinter sich zu. Er hört die Klobrille hochschlagen. Ein grobes Gehirn, aber ein überempfindlicher Magen, denkt er. Draußen ertönt ein Martinshorn. Er geht zum Fenster. Ein cremefarbenes Auto stoppt zwischen dem Bürgersteig und der Verkehrsinsel. Eilig springen Männer in weißen Jacken heraus, ziehen eine Trage hinten aus dem Auto und legen diese neben den Körper. Dann heben sie zu viert den Körper hoch und legen ihn auf die Trage. Der linke Fuß, der senkrecht im Strumpf auf und nieder schaukelt, landet neben der Trage. Einer der Männer schiebt ihn mit seinem Fuß drauf. Liesbeth kommt wieder herein. »Es ist viel los auf der Straße«, sagt Herbert. »Ja«, sagt Liesbeth, »das habe ich vorhin auch gesehen. Es sieht wie ein Unfall aus. Ich konnte es nicht erkennen.« »Das ist auch gut so«, antwortet Herbert, während er in der oberen Ecke der Scheibe eine Landschaft mit einer Mühle zeichnet. »Du hast doch so einen empfindlichen Magen. Du würdest tagelang aus der Bahn geworfen sein. Angenommen, daß es sich um einen Unfall handelt, dann wäre er von der Straßenbahn verursacht. Überhaupt kein schöner Anblick. Die eisernen Räder trennen den ganzen Kram glatt ab. Ich hab mal… he, warum läufst du so schnell aus dem Zimmer?« Liesbeth rennt würgend zur Toilette. Das wird heute abend einsam bei Tisch, denkt Herbert und reibt sich die Hände. Ich lehne die Zeitung hinter meinem Teller an das Öl- und Essiggestell. Ein Festmahl!
Als Herbert oben an der Treppe anlangt, öffnet sich die Tür seines Appartements. Liesbeth kommt auf den Gang. »Das hättest du nun wirklich nicht machen sollen, Herbert«, sagt sie tadelnd. »Was hätte ich nicht machen sollen?« fragt Herbert, während er mit zugekniffenen Augen nach dem roten Gesicht späht. »So ein großer, viel zu geräumig für einen kleinen Haushalt.« »Oh, der Eisschrank, ist der Eisschrank gekommen? Ich dachte, daß sie Stunden damit zu tun hätten. Hochwinden und so.« »Nein, sie haben ihn ganz normal über die Treppe hoch bekommen. Aber so ein großer, Herbert, das ist echt zu viel.« »Ach was, es ist kein gewöhnlicher Geburtstag, du bist heute fünfzig geworden. Ein halbes Jahrhundert.« Zuviel, denkt er danach, ein halbes Jahrhundert zuviel. »Laß mich ihn mal sehen«, sagt er vergnügt. Hinter ihr her läuft er zur Küche. »Es ist tatsächlich ein Kaventsmann«, sagt er, als er in der Küche vor der schimmernden weißen Emaille steht, »aber im Geschäft wirkte er viel kleiner.« Was für eine herrliche Aussicht, denkt er, die Polkappe von einem Stratosphärenflugzeug aus. Es schimmert und blinkt im Polarlicht. Nun noch ein Beil, und wir können zum Konservieren übergehen. »Du hättest aber besser bis zum Sommer warten sollen, Herbert, jetzt ist es hier kalt genug.« »Darum ist es gerade jetzt so praktisch. Du brauchst abends nicht mehr die Heizung abzudrehen, weil sonst dein Essen verdirbt. Und morgens nicht mehr Stunden zu warten, bis es hier ein bißchen auf Temperatur ist.« »Sieh mal«, sagt er fröhlich, während er die Tür des Eisschranks weit aufmacht, »sieh mal, was für ein Platz! Ich wette, daß du dich da reinsetzen kannst, wenn es im Sommer heiß ist.«
»Nein, Herbert«, sagt Liesbeth und schätzt den Inhalt mit den Augen ab, »jetzt übertreibst du aber wirklich.« »Übertreiben«, antwortet Herbert, »ich übertreibe nie.« Klappernd entfernt er die horizontalen Aluminiumplatten. »Ich denke, daß du den Kater mitnehmen kannst. Nein, im Ernst, versuch’s mal, Liesbeth. Ich leide so unter meinem Hexenschuß.« Blut, Blut, denkt er, ohne Blutvergießen werde ich es vollbringen. Der Himmel ist mir wohlgesinnt. Es wird kein Zeichen an der Wand sein. »Also los, weil ich Geburtstag habe«, sagt Liesbeth lachend, »aber es ist ein sonderbares Experiment.« Sie setzt sich mit ihrem Hintern auf den Boden des Kühlschranks, schlägt die Arme um ihre angezogenen Knie und dreht sich ganz hinein. »Ich glaube, daß die schlimmste Augusthitze leichter zu überstehen ist als das Sitzen in dieser Haltung.« Mit kräftigem Schwung wirft Herbert die Tür zu. Dann steckt er den Stecker in die Steckdose und stellt die Kühlung auf die höchste Stufe. Ich höre sie schreien, aber ich kann nicht verstehen, was sie sagt, denkt er. Er geht ins Zimmer, schaltet das Radio an und setzt sich in den danebenstehenden Sessel. Behutsam holt er eine Zigarre aus dem Etui, leckt am Deckblatt und drückt es an. Er dreht am Radio, bis unterhaltsame Musik in striktem Tanztempo ins Zimmer weht. Von den blauen Rauchbänken, die mitten im Zimmer hängenbleiben, treiben die Verlockungen seines freien Lebens heran. Wälzen sich in der Brandung seiner Phantasie. Er gibt ihnen Mädchennamen und Namen von Blumen. Auf ihren Pupillen werden Eisblumen sein, sie wird zusammengekauert dasitzen wie die Mumien mittelamerikanischer Indianer. Ich könnte ein Loch in den Boden meines Autos machen lassen, mit einer weiten Röhre darin, die bis an die Straße reicht. Dann, an einem regnerischen Tag, packe ich sie hinten rein. Auf den holprigen Wegen in der
Provinz stecke ich sie mit dem Kopf nach unten durch die Röhre, so daß ihre Haare auf dem Kopfsteinpflaster liegen. Und dann ununterbrochen fahren, bis nichts mehr übrig ist außer ihren Schuhsohlen. Ihre Brille nehme ich nicht ab. Aber ich werde sie nicht einmal gerade bekommen. Sie hat sich natürlich gewunden, um herauszukommen. Das war so ihre Art. Ich werde mich allerdings einer anderen Methode bedienen, um sie loszuwerden. Nicht wahr, Weißröcke? Während er zum Fenster geht, spricht er die Möwen an, die sich in die Straße hinabstürzen, nach dem Brot, das irgendwo aus einem Fenster nach draußen geworfen wird. »Ich werde euch verwöhnen, Jungs! Eure hungrigen Schnäbel werden vorläufig kein trockenes Brot mehr essen, sie werden rot von der Rohkost sein.«
Ein großer Moment, denkt Herbert, Auge in Auge mit der Tiefkühlprinzessin. Vierzehn Tage schon, ihr wird kalt sein. Er reißt die Tür des Eisschranks auf. Mit einem Sprung nimmt das Tageslicht von der Polarnacht Besitz. Liesbeth sitzt noch genau so da, wie er sie zuletzt gesehen hat. Ihre Hände liegen reglos auf dem Bauch zwischen den Hügeln ihres Busens und ihrer Schenkel. Ihre Brille ist mit einer dünnen, matten Eisschicht überzogen, als ob ein Schmetterling ihre Augen mit seinen zarten Flügeln gegen die Kälte bedecken wolle. Eiszapfen, verursacht vom Kondenswasser, tasten mit spitzen Fingern in die bereiften Sträucher ihrer Haare. Ihr Mund hängt offen. Die rosa Landzunge liegt sprachlos im bitteren Eis des Binnenmeeres ihrer Mundhöhle festgeschmiedet. Von ihrer Unterlippe läuft ein zierlich gebogenes Eisstäbchen zu den Essensresten auf ihrer Brust herab, als seien ihre letzten Gedanken bei den Springbrunnen Italiens gewesen.
Doch nicht so ein friedlicher Tod, wie es anfänglich den ergeben auf dem Magen gefalteten Händen nach schien, denkt er. Vielleicht ist das eine Laune der letzten Zuckungen gewesen. Mal in die Augen sehen. Vorsichtig faßt er das Gestell zwischen den Gläsern an. Mit den Fingerspitzen berührt er den kalten Marmor ihrer Stirn und ihres Nasenbeins. Die Kälte zieht bis zu seinen Handgelenken herauf. Einen Augenblick lang muß er Kraft aufwenden, um die Brille loszukriegen. Dann sieht er, was der Schmetterling ihm ersparen wollte. Ihre Augen sind so weit hervorgequollen, daß Herbert vermutet, daß die Brillengläser sie vor noch tieferem Sinken bewahrt haben. Sie hängen über dem unteren Augenlid wie unfruchtbare, grünliche Euleneier, die aus dem rotgelb durchaderten Nest der Augenhöhlen verstoßen worden sind. Die Pupillen starren mit blindem Argwohn schräg nach unten in die Essensreste. Als Herbert ihr die Brille wieder aufsetzt, starren sie durch sie hindurch wie die Augen eines Seeungeheuers durch die beschlagene Scheibe eines Aquariums. Er wankt vor dem Eisschrank. Die Kälte macht mich benommen, denkt er, ich muß einen Schnaps trinken. Ich muß auf diesen freudigen Umstand einen Schnaps trinken. Er geht ins Zimmer, schenkt sich ein Glas Genever ein, wärmt sich vor dem Ofen. Der Alkohol erwärmt ihn bis in den Verdauungsapparat. »Was hab ich denn alles«, murmelt er, während er bei jedem Gegenstand, den er nennt, einen kleinen Schluck aus dem Glas nimmt. »Ein scharfes Beilchen für die Gelenke, eine Säge für die Knochen, ein scharfes Messer für Fleisch und Sehnen, ein kleines Brett, Plastikfolie, eine Muskatnußmühle. Und ein Glas für die Augen.« Triumphierend hält er das Glas in die Höhe. Dann geht er zur Küche, breitet ein Stück Plastikfolie vor dem Eisschrank aus und holt das Werkzeug aus dem kleinen Schrank. Er läßt sich auf die Knie vor dem Eisschrank nieder
und versucht, Liesbeth an den Knöcheln eine Vierteldrehung zu geben, was ihm erst nach großer Kraftanstrengung gelingt, da sie an einigen Stellen an den Schrank festgefroren ist. Dann zieht er sie nach vorne, so daß ihr Unterleib auf der Folie liegt. So schnell wie möglich kürzer machen, denkt er, während er mit dem Beil die Schuhe von ihren Füßen schlägt. Ich werde versuchen, heute ein Bein loszuwerden. Mit einem altmodischen Rasiermesser zieht er eine Furche in ihrem rechten Bein, exakt auf der Naht ihres Strumpfes, den er wie Rinde von ihrem Bein abschält. Dann schneidet er an der Hüfte ihre Kleidung ab, deren Abdruck auf ihrer Haut sichtbar ist, als sei sie in Tarlatan gewickelt. Das Fleisch ist hart und läßt sich leicht schneiden. Nicht ohne anatomisches Verständnis macht er das Bein an der Hüftpfanne vom Rumpf los, setzt den Körper wieder in die gleiche Stellung zurück in den Eisschrank und schließt die Tür. Dann läßt er sein Messer tief in das Stromland ihrer Krampfadern einsinken und beginnt, lange Streifen Fleisch abzuschneiden. Das macht ein Geräusch wie Schlittschuhe auf spiegelglattem Eis. Als er den Oberschenkelknochen und das Schienbein vom Fleisch befreit hat, schlägt er mit seinem Beil den Fuß ab. Dann beginnt er, die langen Streifen Fleisch sorgfältig in kleine Würfel zu schneiden, die er in eine große, flache Wanne wirft. Es ist mir zu kompliziert, die Füße auszubeinen. Ich könnte sie morgen einfach neben den Mülleimer stellen. Aber vielleicht wäre es besser, wenn ich ihnen dann erst die uralten Schnürstiefel anzöge. Ich will sie doch lieber so klein wie möglich hacken. Es sind Vielfraße, sie werden es wohl auch so verputzen. Mit einem Schwung läßt er das Beil auf die Hühneraugen niedergehen. Die Zehen hüpfen wie kleine bleiche Frösche nach vorn vom Fuß weg. Violette Splitter regnen auf die Plastikfolie nieder. So saß ich früher im Garten, sinniert Herbert, während er sich den Schweiß von der Stirn wischt.
Um mich herum fielen die violetten Blüten des Flieders. Vor mir, im lockeren Sand, lagen in einer langen Reihe Korken, auf die wimmelnde Insekten gespießt waren. Ich ließ einen Wollfaden in ein Benzinfläschchen sinken und legte ihn über die Raupen, Käfer und Grashüpfer. Dann zündete ich beide Enden an. Wenn die Flammen einander trafen, lagen die Insekten mit abgesengten Beinchen und Flügelchen da. Bei manchen war der Körper aufgeplatzt wie eine Röstkastanie. Da quoll dann ein dicker, weißer Brei heraus. »Du bist schlimmer als Nero«, sagte Vater und versohlte mir den Hintern. »Du bist genau wie Onkel Louis, der taugt auch nichts.« Onkel Louis! Wenn von seiner Zigarre nur noch der Stummel übrig war, ging er damit in den Garten. Beim Springkraut hinten im Garten wartete er, bis eine Hummel in eine Blüte flog, um Honig zu sammeln. Dann tippte er die Asche vom Stummel, sog daran, so daß eine feurige Kugel entstand, und steckte ihn in den Kelch. »Hörst du sie summen, kleiner Herbert?« fragte er. »Weißt du, was sie sagt? Sie sagt das Vaterunser auf.« Wenn Onkel Louis bei uns wohnte, ragten innerhalb kurzer Zeit aus allen rosa Kelchen des Springkrauts feuchte braune Stummel, wie After, die im Begriff sind, sich zu entleeren. Onkel Louis, ein so sensibler Mann, der mit dem Vernichten kleiner Insekten sein Gewissen reizte, denkt Herbert gerührt. »Ich bin ein Hochwildjäger geworden«, murmelt er, während er mit dem Beil im zersplitterten Fersenbein wühlt. Dann hebt er das Brett an und schiebt den zertrümmerten Fuß auf das Fleisch in der Wanne. So wird es schon gehen, sie werden die Spreu mit dem Weizen verschlingen, es ist ihnen egal. Er hebt die Wanne hoch und geht damit in den Gang. Dort setzt er sie ab, holt eine kleine Leiter und stellt diese unter der Luke in der Decke auf. Vorsichtig klettert er auf die Leiter, löst ein paar Riegel und stößt die Luke auf. Möwen fliegen kreischend vom
Dachrand auf, als sein Kopf plötzlich über der vorweltlichen Landschaft aus Teer und Kiesel erscheint. Niemand kann hier etwas sehen, denkt er, es gibt keine höheren Häuser in der Gegend. Er klettert nach unten, ergreift die Wanne mit dem Fleisch und klettert, diese über seinen Kopf haltend, wieder nach oben. Er schiebt die Wanne von der Luke weg über den Kies weiter aufs Dach. Wenn Tote noch etwas spüren können, denkt er, muß sie annehmen, daß sie gliedmaßenweise des himmlischen Königreichs teilhaftig wird. Kommt her, Jungs, kommt her! Langt nur ordentlich zu. Hier liegt das Manna von zwanzig Jahren unglücklichen Ehelebens. Herbert steigt eine Sprosse hinab, zieht die Luke über den Rand und betrachtet durch einen Spalt die Möwen, die reglos auf dem Dachrand sitzenbleiben im roten Licht der untergehenden Sonne, die zwischen dunklen Schwertfischwolken über der schmutzigen Stadt hängt. Liesbeth hat keine Familienangehörigen mehr, denkt Herbert in der Küche auf dem Boden sitzend. Um ihn herum auf der Plastikfolie liegen kleine, runde Knochenstücke. Neben ihm schnurrt die elektrische Muskatnußmühle. Freunde und Bekannte sind schon vor Jahren weggeblieben, vertrieben von dem muffigen Geruch, den Liesbeth verbreitete. Blieben noch die Nachbarn. Wann sehe ich schon die Nachbarn? Eigentlich nie. Liesbeth geht manchmal monatelang nicht vor die Tür. Selbst die Kaufleute fragen nicht mehr nach ihr. Es kann Jahre dauern, bis jemand auf die Idee kommt, mich zu fragen, wie es Liesbeth geht. Und dann habe ich es selbst schon vergessen, dann weiß ich von nichts mehr. Vielleicht werde ich, wenn gerade eine Möwe vorüberfliegt, nach oben zeigen. Und sie werden sagen: Oh, also in Frieden entschlafen. Ja, in Frieden entschlafen, werde ich sagen, in eiskaltem Frieden. Er drückt
auf den Knopf an der Seite der Mühle und bringt sie damit zum Schweigen. Er nimmt die Plastikkappe ab und tut eine Scheibe Oberschenkelknochen hinein. Dann zieht er das Kästchen darunter heraus, schüttet den zu Puder gemahlenen Knochen in einen Topf und macht die Mühle wieder an. Er hebt den Topf auf, holt einen Löffel aus der Lade und geht ins Zimmer. Er stellt vor den Ofen einen Stuhl, setzt sich mit dem zwischen die Schenkel geklemmten Topf darauf und öffnet die Ofenklappe. Langsam rührt Herbert im Knochenmehl, macht daraus kleine Berge und zieht arabische Schriftzeichen hinein. Im flackernden Feuer sieht es gerade so aus, als wäre Leben darin oder als wäre es ein Topf voll kleiner gelber Spinnen. Dann streut er das Mehl Löffel für Löffel auf das Feuer. Es ist ein bißchen feucht, denkt er. Aber ich hätte es doch wohl kaum erst trocknen können. Es steigt ein schwefeliger Qualm daraus auf, durch den giftige blaue Flämmchen schießen. Er wirft die Klappe zu. Im Zimmer hängt der friedliche Geruch einer Dorfhufschmiede.
Am Morgen wird Herbert mit dem Geruch von verbranntem Horn in der Nase wach. Oh, ja, der Knochen, denkt er. Was bin ich gestern Abend noch lange fleißig gewesen. Aber ich bin alles losgeworden. Gleich erst mal lüften und sehen, wie die Asche aussieht. Er hebt sein rechtes Bein hoch, so daß die kalte Luft, die beim Fußende hereinströmt, seinen Körper erwachen läßt, und blickt zum Nachtschränkchen. »Was für eine Befreiung«, sagt er gähnend, »nur ein einziges Glas mit einem Gebiß.« Dann wirft er mit Schwung die Decken von sich ab und springt aus dem Bett. Er geht auf das Fenster zu und zieht die Vorhänge auf. Es schneit. Unbehaglich steht er im marmornen Licht, blickt hoch zu den Flocken, die wie graue Asche
herabschweben und erst vor den Häusern auf der anderen Seite ihr Weiß zurückgewinnen. Das Fleisch, denkt er auf einmal mit Schrecken, das Fleisch ist zugeschneit. Hastig läuft er zum Gang und steigt die Leiter hoch. Als sein Kopf über den Lukenrand reicht, blendet ihn das Licht. Auf seinem Scheitel spürt er die kühlen Küsse der Schneeflocken. Vor ihm steht die Wanne, leer. Auf dem Boden liegt eine dünne Schneeschicht, leicht rosa gefärbt durch das Blut, das auf dem Boden zurückgeblieben ist, als hätte sie unter einem blühenden Weinrosenstrauch gestanden. Es erfüllt ihn mit Scham ohne Reue. Als er die Wanne wegnimmt, bleibt dort ein vorwurfsvoll dunkles Quadrat aus Teer und Kies übrig, wie ein frisch ausgehobenes Grab im Schnee. In der Küche stellt er die Wanne in das Abwaschbecken und spült mit einem Strahl heißen Wassers Schnee und Blut heraus. Im Gitter über dem Abfluß bleiben ein paar Zehennägel zurück. Mehr haben die hungrigen Vögel nicht übriggelassen. Nicht sentimental werden, denkt er, während er die Nägel einsammelt und zwischen die nassen Teeblätter in den Emailleeimer wirft. Raskolnikow war eine wertlose Type, denkt er. Gerade durch seine Schwäche, sein Gewissen. Oder vielleicht darf man schon ein Gewissen haben, aber nur für sich selbst. Ist das Gewissen nicht das geheimste Genußmittel? Aber die Außenwelt darf nichts davon merken. Wer mit belastetem Gewissen zur Polizei geht, ist wie jemand, dem das Glück mit einer schönen Frau zuviel wird, der sie mit anderen teilen will. Indem er seine Handgelenke gegeneinander reibt, geht er zum Eisschrank und öffnet ihn. Starr vor Schreck bleibt er stehen. Liesbeth sitzt genauso da, wie er sie gestern hingesetzt hat, aber ihre Brille bedeckt nicht mehr ihre Augen, sie hält sie in der rechten Hand. In Panik rennt er zur Tür. Die ist
geschlossen, sogar das Nachtschloß ist vorgelegt. Dann läuft er zum Hinterzimmer und fühlt an den Balkontüren. Ich muß es selbst gemacht haben, denkt er, ich bin schlafgewandelt. Aber nein, dann würde ich es doch wissen. Ich wußte es doch immer, wenn ich nachts aus gewesen war und was ich dann gemacht hatte. Aber dann erinnert er sich, daß Liesbeth ihm das immer sagte. »Sie ging mit einem nassen Scheuerlappen hinter mir her, den sie vor meine Füße legte. Aber ich stieg ständig darüber weg«, sagt er lachend, während er sich vor Freude auf den Schenkel schlägt. »Ich stieg ständig darüber weg. Und sie hob ihn nur noch auf und legte ihn wieder vor mich hin. Genau wie ein König, der feierlich empfangen wird. Wo ist der Kater, wo ist Peter?« Nervös läuft er durch die ganze Wohnung, sucht in allen Schränken und Schubladen, findet aber das Tier nirgends. Ich stehe hier in der Wohnung vor Rätseln. Katzen verschwinden, Frauen verschwinden, ich gehe nachts mit ausgestreckten Armen durch die Wohnung wie ein Blinder. Das ist auch gefährlich! Ich werde mich heute nacht an den Gitterstäben des Bettes festbinden. Nein, dann stürze ich vielleicht unglücklich. Dann fällt ihm auf einmal eine Geschichte aus dem Alten Testament ein. Über rund um den Altar gestreute Asche, in der man am nächsten Morgen die Fußspuren der habgierigen Priester fand. Ich werde eine dünne Lage Mehl auf den Küchenboden streuen, denkt er. Ich darf mir nicht alles mögliche einbilden. Es ist zu verrückt, um darüber nachzudenken. Es kann niemand hereinkommen. Und wer sollte daran Interesse haben, Liesbeth ihre Brille abzunehmen? Wer sollte ihr die Augen vor dem öffnen wollen, was ich ihr angetan habe? Beruhigt geht er zum Eisschrank und setzt die Brille wieder vor die halbverwaisten Augenhöhlen. Dann gibt er ihr eine Vierteldrehung, zieht sie nach vorne und schneidet ihr das linke Bein ab. Es wird jetzt
Routinearbeit, denkt er, die gleichen Verrichtungen wie gestern. Morgen beide Arme, übermorgen schneide ich den Klumpen mittendurch, dann gibt es Samstag nur noch den Kopf. Abwesend beginnt er, in das Bein zu schneiden. Guck mal an, denkt er, guck mal, was ich jetzt mache. So anmutige Kurven. Gestern begann ich ungeschickt zu schneiden, nach einiger Zeit schnitt ich wunderschöne, gerade Streifen. Jetzt schneide ich bizarre Stücke. Genau wie in der Kunst. Die beginnt auch steif und ungeschickt. Dann bekommt man die klassische Harmonie, die geraden Streifen blaßrosa Fleisches. Jetzt erlebe ich den Barock. Morgen schneide ich vielleicht Schnörkel und graziöse Figuren und bin der Watteau der Leichenschänderei. Ich war auf der Grundschule, denkt Herbert, in der vierten Klasse. Dann muß ich also zehn Jahre alt gewesen sein. Zehn Jahre war ich, als es anfing. Oder wer weiß, vielleicht viel früher. Wie kann man bloß so spät seine Bestimmung finden. In der Bank mir gegenüber saß ein Mädchen mit langem, dunklem Haar und rassigen braunen Augen. Über meine Aufgabe gebeugt drehte ich meinen Kopf zur Seite und betrachtete ihr Profil. Dann schaute ich zu ihrem Bauch, der in ihrem eng sitzenden Kleid auf und ab ging wie dicker, kochender Haferschleim. Nachts im Bett dachte ich an sie. Ich nahm sie mit zu einem einsamen Haus, wo ich ihr die Hände auf den Rücken band. An der Decke hing an einer eisernen Schiene ein Fleischerhaken. Ich hängte sie mit dem Gaumen daran auf. Sie wollte sprechen, aber ich hörte nur ihre Unterzähne gegen den Haken ticken, wie ein im Wald verborgener Specht. Sie wollte sagen: Du bist lieb zu mir, auch wenn du mir wehtust. Ich lag auf meinem Bauch. Mit meinem Unterleib rutschte ich auf dem Laken hin und her. Ich wurde mit einer blutigen Haut bedeckt, in der ich zu ersticken drohte. Wie ein Kind, das mit der Glückshaube geboren wird. Bin ich
mit der Glückshaube geboren worden? Mutter sagte, daß bei meiner Geburt der Mutterkuchen wie eine russische Pelzmütze auf meinem Schädel festgeklebt saß.
Als Herbert die Luke öffnet, ist der Himmel fleckig gelb und grau über die Stadt gespannt wie das beschmutzte Laken eines noch nicht sauberen Kindes. Eine Armee mittelalterlicher Ritter reckt rauchend das behelmte backsteinerne Antlitz über die weißen Hügel der Dächer empor. Der Schnee hat die Tannen im Park in ihre Hemden gesteckt. In dem dunklen Teich treiben wie kleine weiße Inseln die Schwäne. In gleichem Abstand voneinander sitzen große Mantelmöwen auf dem Dachrand. Als Herbert die Wanne mit dem Fleisch in den weichen Schnee sacken läßt, kommen sie zögernd näher heran. Auf ein paar Meter Abstand von der Wanne bleiben sie stehen, sehen Herbert mit ihren grellen, gelben Kunstaugen wesenlos an. »Ich zieh mich schon wieder zurück, Jungs«, sagt er, »dann könnt ihr in Ruhe dinieren.« Er zieht die Luke über sich zu und legt den Haken vor. Ich darf nicht vergessen, alles gut abzuschließen und Mehl in die Küche zu streuen, bevor ich schlafen gehe. Ich muß früh zu Bett, es sind anstrengende Tage. Über seinem Kopf hört er das gräßliche Gekreisch und Gewürge der hungrigen Vögel.
Tief in der Nacht wird Herbert vor Kälte wach. Er liegt auf den Decken. Er streckt seine Füße in die Luft und schaut nach seinen Fußsohlen.
»Ha, erwischt«, sagt er laut, »ich habe mich selbst ertappt. Als ob ich Schweißfüße hätte und sie mit Talkumpuder eingerieben wären.« Er wischt an ihnen entlang. Das Mehl bleibt teigig an seinen Fingern kleben. Erschreckt springt er aus dem Bett. Meine Füße müssen naß gewesen sein, bevor ich in das Mehl lief, denkt er. Hastig läuft er in die Küche. Da sind seine Fußspuren. Seine Augen dringen vor Angst gegen die Oberkante der Augenhöhlen. Zwischen seinen Fußspuren sieht er ein feuchtes Quadrat liegen und noch eines und vor dem geöffneten Eisschrank den Scheuerlappen. Neben seinen Fußspuren zeichnen sich die Spuren des Katers ab. Eilig geht er zum Eisschrank. Liesbeth gegenüber steht die Fleischwanne an der Wand. Er blickt zur Gangtür. Er sieht an seinen Fußspuren, daß er durch die Tür raus und rein gegangen ist. Auch die Spuren des Katers sieht er, aber nur raus. Er geht zur Gangtür und öffnet sie. Eine eisige Kälte umfängt seinen Körper. Herbert geht zur Luke, die Trittleiter steht unter ihr. Als er nach oben blickt, sieht er die Sterne in einem kohlrabenschwarzen Himmel stehen. Er klettert hoch und hält seinen Kopf in den Ostwind. Direkt vor seinen Augen sieht er die Spuren des Katers im Schnee. Er war mir auf den Fersen, denkt Herbert, er weiß alles. Er hat mich von einem unauffindbaren Versteck aus belauert. Aber jetzt ist er aufs Dach gegangen. Ich ersehe es aus den Spuren, daß er nicht zurückgekehrt ist. Er füllt sich beide Hände mit Schnee und reibt damit sein Gesicht ein. Ich muß einen kühlen Kopf bewahren, es schnell beenden. Aber erst werde ich der Geneverflasche zusprechen. Er steigt ein paar Sprossen hinab und schließt dann die Luke.
Behutsam überquert Herbert den Platz, blickt hoch zu den Fenstern seines Appartements. Es sieht unbewohnt aus, denkt er. Die Gardinen sind vergilbt und haben braune Ringe. Bewegte sich da etwas hinter den Fenstervorhängen? Er schüttelt den Kopf und schlägt sich mit den Fingern gegen die Wangen. Ich darf nicht wie ein kopfscheues Pferd werden. Ich kann von hier unten sehen, daß das Fenster ein wenig offen steht. Der Wind wird die Gardine streifen. Wie lang steht es schon offen? Schlecht für die Pflanzen. Ich werde es schließen, bevor ich weggehe. Der Kopf von Liesbeth steht jetzt schon acht Stunden auf dem Dach. Wenn er noch nicht völlig kahl ist, laß ich ihn bis morgen früh stehen, dann stecke ich ihn in eine Plastikfolie und packe ihn in meinen Koffer. Zwischen den Findlingen an der Dordogne stelle ich ihn ab. Er tastet in seinen Taschen nach dem Schlüssel und blickt nach oben. Außen am Dachrand ragen die Brüste der Möwen hervor, als gehörten sie zum Dekor des Hauses. »Ja, ihr werdet mich vermissen«, murmelt er. »Den Gürtel enger zu schnallen ist das Einzige, was ich euch raten kann.« Direkt bei seinen Füßen auf dem Trottoir liegt eine schmutzig-weiße Kugel. Herbert bückt sich und hebt sie auf. Bloß nicht umsehen, denkt er, ich hebe einfach irgendetwas auf, das tut jeder mal. Und dabei habe ich noch gelesen, daß sie die Augen von Babys, die unbewacht am Strand liegen, auspicken und verschlingen. Er steckt den Schlüssel ins Schloß und betritt das dunkle Treppenhaus. Es fühlt sich an wie das Hexenei einer Stinkmorchel, denkt er. Ich kann die Treppe noch hochlaufen, aber ich muß mir dabei Zeit lassen. Hinter ihm geht die Haustür auf. Eine Nachbarin kommt herein, bleibt bei den Briefkästen stehen. »Ihre Frau habe ich schon lange nicht mehr gesehen«, sagt sie. »Muß sie wieder das Bett hüten?«
»Ich habe sie vergangene Woche zum Zug gebracht, sie fühlte sich nicht wohl, sie ist in den Süden gefahren.« »Ah«, antwortet die Frau, »mit dem Sonnenexpreß ans blaue Meer.« »Ja, ja«, antwortet Herbert, »ans blaue Meer. Ich reise ihr morgen nach.« Vorsichtig gleitet er ins dunkle Treppenloch hinein. Heute morgen war es noch steinhart, wie eine Billardkugel, denkt er, während er seine Finger zusammenkneift. Jetzt ist es schwammig und weich. Es taut, der Frühling hat begonnen.
Bouke B. Jagt Fieberreigen
Die Geschichte spielt während der letzten Phase des NeuGuinea-Krieges (1950-1962), dem letzten Kolonialkrieg der Niederlande mit dem inzwischen selbständig gewordenen Indonesien. Unter schwerem Druck der USA übergaben die Niederlande 1962 Neu-Guinea an die Vereinten Nationen, die es dann Indonesien überließen. Anm. d. Herausgebers Durch die Hitze der Mittagsstunde kam ein langer, etwas korpulenter Korporal auf die Galerie des Außenpostens Kroy getrottet. Ein unscheinbares Gesicht mit Stummelnase und breitem Kiefer. X-Beine. Als Sergeant Banniseht aus dem Schatten heraus den Neuling näherkommen sah, fühlte er sich beinahe enttäuscht. Das schien doch eher ein Schlappschwanz zu sein. »Korporal van Toor, Sergeant, versetzt von Padaluntu.« »So. Van Toor. Eine Eilversetzung ist ein mieses Zeichen, Mann. Wir haben keine positiven Berichte über dich empfangen. Das bedeutet, daß du dich in der ersten Zeit zweihundertprozentig korrekt verhalten mußt, begreifst du das!« Die Augen des Neulings, der die ganze Zeit über strammstand, blinzelten. Denn sonst würde Sergeant Banniseht persönlich dafür sorgen, daß er eine unerfreuliche Zeit bekäme, an die er sich noch lange erinnern würde. Und Banniseht benutzte dabei einen wohlüberlegten Fluch in der rohen, gotteslästerlichen Art, wie sie nur der Berufsunteroffizier
beherrscht. Nach einem nervösen Salut marschierte der andere ab. Der Sergeant schlenderte zur Kommandantur, wo er den Zugführer Hetterscheidt antraf. »Der Neue scheint mir ein Weichei zu sein, Leutnant.« »Niemals dem ersten Eindruck trauen, Sergeant, das ist immer falsch, psychologisch gesehen. Behalt ihn nur scharf im Auge, gerade die unauffälligen Typen sind besonders hinterfotzig!« Der Monat Juli verstrich ohne Zwischenfälle. Van Toor war eine etwas isolierte, träge Gestalt, die ihre Arbeit einigermaßen gut machte. Seine einzige Geschicklichkeit lag im Knöchelticken, einem Spiel unter den Soldaten, in dem er unangefochtener Meister war. Am Abend des ersten August beobachtete Banniseht wieder einmal so ein Knöchelticken, bei dem der Sanitäter Verheul von van Toor fortwährend eins aufs Dach bekam, als der zweite Sanitäter Berkhout herbeigelaufen kam und bei van Toor etwas hinlegte. »Das lag auf deinem Nest, könntest du den Scheiß nicht mal wegräumen.« Das Grinsen verschwand aus dem rotangelaufenen Gesicht. Erschrocken murmelte van Toor etwas, lief davon und kam ohne das Ding zurück. Er setzte sich nicht zu der kleinen Gruppe Soldaten, sondern zog sich aus irgendeinem Grund schmollend in eine Ecke zurück. »Eine Mitläufertype, ab und zu ein großes Maul, um kräftig zu wirken, aber ganz schnell zurechtgestutzt.« Banniseht gähnte, zupfte an seinem durchweichten Oberhemd und ging zu seinem Zimmer, um zu duschen. Auf der Galerie stand die Mülltonne, die gerade geleert worden war. Im Vorübergehen sah er darin das Ding, das van Toor dort hineingeworfen hatte. Es war ein abgebrochener Bambuspfeil, wie ihn die Mangaiwas bei Padaluntu herstellen. Die schmale, dunkelbraune Spitze war mit pflanzlichen Fasern und drei kleinen Keilen an einem Rest des Schaftes befestigt. Er hob es zwischen Daumen und
Zeigefinger auf. Eine schöne Arbeit mit einem in die Fasern geflochtenen Korbmotiv. Es hing ein Büschel schwarzen Haars mit einem stark gegerbten kleinen Schädel daran. Stank schon ein bißchen; ein Zwergäffchen? Aber auf Neu-Guinea kommen keine Affen vor. Doch kein Baby? Ach nein, ein noch ungeborener Kuskus∗ natürlich, dachte er.
Am zweiten August wurde van Toor beim Appell als krank zu Bett gemeldet. Beim Mittagessen rief Banniseht: »Adriaan, was hat van Toor?« »Einundvierzig oder Vierzigacht.« »Was meinst du damit, Fieber? Ist der Doktor in Karemu schon verständigt?« »Ja, vermutlich Malaria, er bekommt Paludrin.« Abends nahm Banniseht die Sache selbst in Augenschein. In dem kleinen Krankenzimmer stand das Fenster offen, um die kühle Abendluft hereinzulassen. Es hing dort ein seltsamer Geruch, den Banniseht doch schon früher gerochen hatte. Der Patient lag unbekleidet auf einer Gummiplane und schien bewußtlos zu sein. War das so üblich bei hohem Fieber? Verheul stand mit ernstem Gesicht dabei. »Warum deckst du ihn nicht zu?« »Er läßt alles laufen, Sergeant, er ist schwer krank. Ob das jetzt Malaria ist…« Verheul war im Zivilleben Medizinstudent im dritten Jahr gewesen, das verlieh ihm eine gewisse Autorität. »Dieses Fieber sackt überhaupt nicht, der Stuhlgang ist grau, ziemlich hart, und sieh mal…« Er zeigte. Aus dem Geschlechtsteil des Kranken kam ein Strahl Flüssigkeit. Mit einer raschen und dennoch genauen Bewegung schob der Sanitätssoldat das Glied in eine Urinflasche, die sich langsam ∗
Kuskus = großäugiges Beuteltier, ca. 40 cm groß, Baumbewohner
mit dunkelbrauner Flüssigkeit füllte. »Verdammt, das sieht nach einer Nierenblutung aus«, sagte Banniseht, hoffend, eine medizinisch vertretbare Äußerung zu machen. Verheul runzelte die Stirn: »Er läßt fortwährend Wasser, das wird wohl noch zur Austrocknung führen.« »Was würde man in einem Krankenhaus tun?« »Eine Infusion anlegen und eine Blutprobe nehmen. Warum kommt Doktor Evers nicht?« »Es gibt momentan keine Transportmöglichkeiten, in Karemu sind ziemlich viele Kranke, darunter auch dieser schwerverwundete Leutnant. Und in dieser angespannten Situation will der Oberstleutnant natürlich gerne den Doktor in Karemu behalten. Aber halt mich auf dem Laufenden; wenn du etwas brauchst, dann sag es einfach.« Angesichts der immer bedrohlicheren Reden Sukarnos∗ rechnete die Armeeführung mit »allen Eventualitäten«. Der Schützengraben rund um den Außenposten sollte in beschleunigtem Tempo fertiggestellt werden. Am dritten August mußte Banniseht die Gruppe im Auge behalten, die Stacheldrahtrollen am Strand auslegte, und das schwere Maschinengewehr in der Nordecke installieren lassen. Die Soldaten bewegten sich träge; es war brütend heiß und windstill. Die Hitze wellte Strand und Horizont und machte mürrisch, ermattete. Der Abend brachte kaum Abkühlung. Um zehn Uhr ging Banniseht müde zu Bett, aber er wurde um Mitternacht herum mitten in einem komplizierten Traum übers Autofahren geweckt. Leutnant Hetterscheidt stand an seinem Bett; ob er mal mitkäme, es ginge van Toor nicht gut. Banniseht fuhr in Hose und Jacke und lief schläfrig mit. An der Tür roch er wieder diesen seltsamen Geruch. Er warf einen Blick in das halbdunkle Zimmer und war mit einem Schlag hellwach. »Allmächtiger Gott…« Auf dem Bett lag ein ∗
Sukarno = (1901-1970), Präsident der Republik Indonesien
Gespenst; der Körper strahlte schwach grünliches Licht aus. Nicht überall, sondern von verstreuten Flecken auf Torso, Knien und Gesicht. Leopardenartige, phosphoreszierende Stellen, die im Dunkel aufleuchteten. Hetterscheidt versetzte ihm einen Stoß, beide stellten sie sich an das Bett. Einen Augenblick lang verspürte der Sergeant die Furcht, daß dies vielleicht ansteckend sein könne. Die geheimnisvolle, neonartige Strahlung flößte ihm Angst ein. Aber im nächsten Augenblick riß er sich zusammen und flüsterte: »Was um Himmelswillen ist das?« »Weiß nicht, die Farbe erinnert an Luziferin, so, wie man das beim Leuchtkrebs antrifft.« Banniseht nickte, davon ausgehend, daß Leuchtkrebs eine Art von Krebs sei. »Es riecht auch nach Phosphor«, fügte der Offizier hinzu. »Wenn du jetzt dafür sorgst, daß er permanent gepflegt wird, dann bitte ich Karemu um nähere Instruktionen, denn dies ist eine verdammt linke Sache.« »In Ordnung, Leutnant.« Am fünften August gegen Sonnenaufgang fiel das Fieber abrupt. Nach dem Appell liefen Hetterscheidt und Banniseht zum Krankenrevier. »Es geht besser, Verheul?« »Jawohl, Leutnant, aber er ist ganz schön heruntergekommen, das hat ihn wirklich schwer mitgenommen.« »Das kann ich mir gut vorstellen«, bemerkte Hetterscheidt in besonders vornehmem Ton. Die Sonne schien in das Krankenzimmer hinein. Der vorherrschende Geruch war der von Lysol. Van Toor war bei Bewußtsein und lag in einer Art Windel auf dem Bett. Drei Tage hohes Fieber hatten das Gesicht in eine Maske verwandelt. Auch der kleine Bauch war geschwunden. Das war noch normal, aber unerklärlich war,
daß der eingefallene Rumpf von merkwürdigen Falten und Runzeln verunstaltet wurde. Als ob die Haut zu Leder vertrocknet sei. Es erinnerte an die Knitter, die Leguanhaut aufweisen kann. »So, van Toor, schon auf dem Wege der Besserung, wie ich sehe.« »Jawohl, Herr Leutnant.« »Wie nennt man dich zu Haus, Johan, Hans?« fragte der Leutnant, entschlossen, einen väterlichen, ermutigenden Ton anzuschlagen. »Hans, Herr Leutnant.« »Gut, Hans, es sieht danach aus, als wenn wir das Schlimmste hinter uns hätten, in ein paar Tagen wird trotzdem kurz ein Arzt nach dir sehen, denn wir wollen kein Risiko eingehen, aber ich denke, daß du dann nach Karemu darfst, um mal wieder tüchtig zu Kräften zu kommen, schön auf der faulen Haut zu liegen, dich zu sonnen, gut zu essen und so weiter. Wir werden das Kind schon schaukeln!« Van Toor versuchte, gehorsam zu lächeln. »Verheul sorgt gut für dich«, blies auch Banniseht ins gleiche Horn, »wenn du irgendetwas brauchst, laß es ihn dann mir sagen.« Außer Hörweite wandte sich der Offizier an Banniseht: »Hast du diese Runzeln auf seinem Bauch gesehen?« Banniseht nickte. »Das habe ich nur einmal zuvor gesehen… Bei den Buschmännern in Afrika! Es gibt zwei Stämme, bei denen das Phänomen vorkommt; man vermutet, daß der Urmensch auch derartige Lederfalten gehabt hat. Interessant, nicht? Ich bin zumindest darauf gespannt, was der Arzt dazu sagt.« »Wissen Sie, was mir ein bißchen auffiel? Daß es ganz so war, als sei er kleiner als sonst, aber das ist natürlich Quatsch.« Hetterscheidt verzog den Mund zu einer skeptischen Falte und ging kerzengerade weiter. Während des Besuches von Banniseht am Nachmittag des sechsten August war van Toor noch fieberfrei. Allein, Verheul bat um extra Laken. Der
Waschpapua, dieser verdammte Heide, weigerte sich, die Laken und die Unterwäsche zu waschen. Er fürchtete sich davor, weil es kein normaler Sakit∗, sondern ein Pembalasan∗∗ von einem Orang Sihir∗∗∗ war. »Wasndas jetzt wieder fürn Kauderwelsch?« »Daß ein Zauberdoktor im Spiel ist, Sergeant. Da habichse selbst gewaschen, aber schön isse nicht geworden.« »Das is prima, Junge«, murmelte Banniseht ganz in Gedanken. Wo hatte er diesen Gestank erstmals gerochen? Doch nicht etwa an jener Pfeilspitze mit dem kleinen Skalp? Was das zu bedeuten hatte? Zur Sicherheit erwähnte er es während der Besprechung mit Hetterscheidt. Allerdings unter Lachern, um deutlich zu machen, daß er nichts von diesem Unsinn glaube. Aber Hetterscheidt, dieser Grünschnabel in Dienstangelegenheiten, reagierte ernsthafter. Er würde sich mit »Herrn Ramsdorf« in Padaluntu in Verbindung setzen, wenn Banniseht die Bediensteten und den Guru∗∗∗∗ Talakua checke. »Ich kümmere mich sofort darum, Leutnant«, sagte er eifrig. Manchmal hatte Leutnant Hetterscheidt doch schon die Einsichten einer höheren Klasse, dachte er mit der Ambivalenz, mit der er meist über Offiziere urteilte. Bei den Bediensteten und ihrem Mandur∗∗∗∗∗ biß er auf Granit. Nein, Djonatan war heute nicht da. Niemand wußte, wo sich der Waschpapua herumtrieb. Wann er zurückkommt? Weiß nicht. Banniseht hielt eine Ansprache, die ihn selbst nicht überzeugte, über die Kompenie,∗∗∗∗∗∗ welche die ∗
Sakit = Schmerz Pembalasan = Medizin ∗∗∗ Orang Sihir = Zauberer, Magier ∗∗∗∗ Guru = Lehrer ∗∗∗∗∗ Mandur = Vorarbeiter ∗∗∗∗∗∗ Kompenie = niederländische Verwaltung in Niederländisch-OstIndien ∗∗
Hersteller von Obat∗ streng bestrafen würde, auch wenn sie sie aus Surabaya holen müßten. Sie kicherten verlegen. Als sie wegschlurften, fiel es ihm in seinem Verdruß wieder auf, wie häßlich diese Papuas doch waren: Plattfüße, Hängebäuche und große Köpfe.
Beim Haus des Gurus blühte überschwenglich orangefarbene Bougainvillea. Der Hof war mit Besenstrichen schraffiert. Als er das Tor durchschritt, sah er in einem Seitenfenster eine Ewigkeitssekunde lang ein halbnacktes Mädchen mit wogenden spitzen Brüsten. Drall und jung. Es war nur ein Schimmer, dann flüchtete ein schlanker Rücken. Auf sein Klopfen erschien ein Mädchen in einem hastig angezogenen Kleid. Sie hatte tiefbraune, wunderschöne Augen. Wollte Mijnheer kurz warten, dann hole sie ihren Vater? Mit dem wachsam-ergebenen Blick des Jägers-außer-Dienst sah Banniseht dem sich geschmeidig bewegenden Körper nach. Wenig später erschien der Guru in der Türöffnung. Würdevoll und besorgt. Jawohl, Mijnheer, er hatte gehört, daß ein Obat Gila hergestellt worden sei. Nein, er wußte nicht von wem. Es war in diesen Tagen im Kampong∗∗ wohl getanzt worden. Der Pater ist ein paar Monate nicht da gewesen, sehen Sie, und dann fangen sie aufs neue an. Er lächelte entschuldigend. Kann man da nichts gegen machen? Jaja, Beten und Bibellesung, das hilft meistens, aber das Opfer muß schon ein Sündenbekenntnis ablegen, Mijnheer. Banniseht war zu höflich, um diesem Mahagonipatriarchen zu sagen, daß er schwerlich seinen ganzen Zug auf die Knie kommandieren könne. Ebenso wenig, daß er in den letzten sechs Jahren keine Bibel gesehen hatte. Abgesehen davon, wie ∗
Obat Gila = Zaubertrank für Schwarze Magie Kampong = Dorf
∗∗
macht man einem Mitglied des Protestantenbundes klar, daß er Sünden beichten muß? Wenn van Toor nun katholisch wäre, dann würde man den Feldpfaffen noch mobilisieren können. Er trank den angebotenen Tee, sprach noch ein wenig über dies und das in der Hoffnung, das Mädchen nochmals zu sehen. Als dies nicht geschah, nahm er Abschied. Van Toor ging es bestens, er hatte eine ruhige Nacht.
Nach dem Appell besprachen Hetterscheidt und Banniseht den Fall. Der Leutnant hatte einen Stapel Berichte bekommen. Zunächst: Doktor Evers würde angesichts des günstigen Verlaufs der Krankheit erst in vier Tagen mit dem Proviantboot kommen. Ein ausführliches Telegramm war auch von »Herrn Ramsdorf« aus Padaluntu gekommen: Van Toor war angesichts der bedrohlichen Haltung der Einheimischen versetzt worden. Man machte ihn für den Tod eines Eingeborenen verantwortlich, ein Fall von Tod durch Ertrinken. Bei den Ermittlungen hatte sich herausgestellt, daß man van Toor weitgehende Fahrlässigkeit, Egoismus, Furchtsamkeit, äußerstenfalls unterlassene Hilfeleistung vorwerfen konnte. »Was für eine kryptische Umschreibung, jetzt wissen wir immer noch nix! Dieser Schwätzer von einem Ramsdorf, wieder so ein zum Offizier katapultierter Grundschullehrer«, sagte Hetterscheidt mit akademischer Hybris. Der Medizinmann war spurlos verschwunden. Allerdings wurde bis vorgestern Gewirbel der Tipatipa∗ und Gesang aus dem Kampong gehört. Wahrscheinlich rituelle Tänze. Bei erneuter Aktivität würde er Padaluntu sofort berichten. »Bis vorgestern? Vorgestern verließ ihn das Fieber, Leutnant«, bemerkte Banniseht, der seine Spontaneität beim ∗
Tipatipa = sanduhrförmige Trommel
ironischen Blick des anderen sofort bedauerte. »Bei unserer Untersuchung in Süd-Afrika erzählte mir ein Buschmann, daß er eine verbotene Schlange beim Essen sah, und naja… am folgenden Tag war ein Minister tot! Hahaha!« Banniseht kicherte bereitwillig mit, als habe er die Pointe dieser albernen Bemerkung begriffen. Beim Speisesaal wartete Verheul auf ihn: das Fieber war doch gestiegen, und van Toor litt wieder an Ausfluß. Auf den Bericht davon nach Karemu kam keine Reaktion. Allerdings empfingen sie um vier Uhr eine Routinemeldung, daß das Tanzen im Kampong wieder aufgenommen worden sei. Hetterscheidt zuckte mit den Schultern. War es diese simple Meldung oder war es die Regendrohung, durch die die Atmosphäre beklemmend wurde? Banniseht fühlte sich unwohl. Schwere Bewölkung, wie von fernen Bränden, wehte vorüber. Um sechs Uhr begann der Regen. Die Dämmerung brach herein. »Es ist dieses verdammte Klima«, sagte Banniseht vor sich hin, als er über die Galerie ging. »Es ist diese Verlassenheit von Bergen und Bush-Bush∗, durch die ein Mensch nicht mehr weiß, was möglich ist und was nicht. Wir sind für den Dienst ausgebildet und nicht für diesen Zirkus.« Der Strand war verlassen. Der Sturzregen näherte sich wie ein Schleier über das perlgraue Meer. Ein kleines Boot mit einer Ruderersilhouette paddelte über die trägen, sich kaum herandrängenden Wellen. Es war Ebbe. Tiefe Spalten waren im Sand bis auf den Kalkstein ausgeschliffen. In der Flutlinie lief ein Speerfischer, der seinen Fang an einer Schnur hinter sich her schleppte. Überall war Geglucker und Geplätscher, Tröpfeln und Blubbern von Wasser zu hören. Der Graben hinter dem Gudang∗∗ war ein wild strömender, sich selbst verflechtender kleiner Fluß, voll unduldsamer Hast auf dem ∗
Bush-Bush = Urwald Gudang = (Lager-) Schuppen
∗∗
Weg zur See. Über dem fernen Kap Corvijn wurde der Regenschleier einen Moment gelüftet, ein kleiner grauer Punkt wurde sichtbar; ein Segel? Ein Schiff, ein Dämon tanzend auf dem heranbrandenden Wasser? Banniseht würde es nie erfahren, denn unbewußt hatten ihn seine trödelnden Füße in die Richtung des Krankenreviers geführt. Der Phosphorgeruch ekelte ihn an, er fühlte sich nicht wohl und ging zu Bett. Aber im Schlafzimmer überlegte er es sich wieder anders. Er ging ziellos zur Kantine, wo er bei schalem Bier einen Brief schrieb, mittendrin aufhörte und begann, sein Geld auszurechnen. Er wollte in Holland bei günstiger Inzahlungnahme einen neuen Mercedes kaufen, mattgrün, mit einigen Extras. Banniseht konnte keine Ruhe finden. Um zehn Uhr ging er doch noch zum Krankenzimmer. Ein grelles Schlaglicht fiel von dort auf die Galerie. Mit einem Mal ruhig und selbstsicher trat er ein, sagte Verheul, daß er die Wache bis halb eins übernehme, dann solle Berkhout kommen und ihn ablösen. Sobald der andere weg war, machte er das große Licht aus, begreifend, warum Verheul es angemacht hatte. In der Sekunde, bevor die Schirmlampe ein sanftes Licht verbreitete, glühten mattgrüne, bizarre Flecken auf dem Bett. Er goß die Urinflasche aus, erneuerte die Kompressen. Jene Lichtflecken ähnelten Arabesken oder Mustern auf Schmetterlingsflügeln. Die Knautschfalten waren kräftiger geworden und erschienen auch am Hals und unter dem erhitzten Gesicht. Vorsichtig spreizte er die Arme aus und taxierte die Länge des jungen Mannes auf gut 1,65 Meter. Anfangs hatte er van Toor doch bestimmt so groß wie sich selbst geschätzt, 1,80 Meter. Fünfzehn Zentimeter geschrumpft? Unmöglich. Erinnerungen an zusammengeschrumpfte, faustgroße Schädel wurden wach, und Gerüchte gesellten sich dazu; warum sollte so etwas nur bei toten und nicht bei lebenden Körpern geschehen können? Andererseits: Dienstschuhe hatten dicke Absätze, und mit
aufgerichtetem Haar hätte dieser Junge einen längeren Eindruck machen können, »…schant…« Die Augen sahen ihn leicht hervorquellend an. Es konnte Überraschung, aber auch Angst sein. »Ja, mein Junge, trinken?« Der Patient nickte, seufzte und trank aus dem ihm vorgehaltenen Becher. Sogleich begann der teefarbene Urin zu fließen, als scheide der Körper das Getrunkene augenblicklich aus. »… nicht allein?…« »Unsinn«, brummte Banniseht. »Es ist immer jemand bei dir, mein Junge. Schlaf, dann fühlst du dich morgen viel besser.« Gehorsam schloß van Toor die Augen. Unter den Lidern blieben die Pupillen ruhelos in Bewegung. Um halb eins kam Berkhout. Auf Zehenspitzen ging Banniseht davon. Am Morgen des achten August war der Zustand noch unverändert. Auch nachmittags raste das seltsame Fieber durch van Toors Körper, aber um halb sieben sank seine Temperatur abrupt auf 37,2. »Nico?« erklang Hetterscheidts Stimme. Banniseht sah auf. Wenn sein Vorname benutzt wurde, war das ein unheilvolles Zeichen. »Niek, das hier ist etwas Dauerhaftes, davon erholt er sich nicht wieder… ich denke, daß seine eigene Mutter ihn nicht wiedererkennen würde… ich kapiere nicht, warum das jetzt ausgerechnet in meinem Zug passieren muß, dieser Volltrottel Ramsdorf.« Hetterscheidt war blaß und ohne Mütze. Alarmiert schob Banniseht seinen Stuhl zurück und lief mit. Das Gerücht von van Toors Metamorphose war offensichtlich schon zu den Soldaten durchgedrungen. Das Krankenrevier war eine isolierte kleine Insel geworden, von jedem gemieden. Beide Sanitätssoldaten standen an der Tür. Obwohl er vorbereitet war, erschrak Banniseht bei seinem Eintritt. Da lag ein Pygmäe mit monsterhaft groß gebliebenem Kopf, aufgebahrt auf seinem eigenen Fleisch, nein, seiner eigenen Haut. Das affenartige Wesen maß ungefähr 1,35 Meter und ruhte auf und in einer Draperie aus Haut und Haaren. Der
Penis, aus dem noch immer Flüssigkeit rann, lag nicht, sondern ragte in einer kleinen, ewigen Erektion aus einer Hautanhäufung mit Ringen schräg hoch wie ein Holzknorren. Der Phosphorgeruch war durch Lysol nicht zu verdrängen. Wie ein lederner Schleier hing gefleckte Menschenhaut über den Rand des Bettes. Vielleicht durch eine unwillkürliche Bewegung von Banniseht, in der sich sein Entsetzen zeigte, begannen Tränen aus den eingesunkenen Augen zu sickern, ein kleiner Strom formte sich, ein Binnensee auf der breiten, gefalteten Haut. »Van Toor, Hans, kannst du mich verstehen?« fragte Banniseht mit einem Kloß im Hals. Geflüster stieg auf. Erschüttert setzte er sich, verwirrte Assoziationen rasten durch ihn hindurch: le petit caporal, sweet caporal, lebenslange Invalidität, plastische Chirurgie, Spiegelbild, erzähl mal, bin ich wirklich so alt wie du? Wimmernde Laute begannen. Verheul beugte sich vor, drückte mit einem Waschhandschuh vorsichtig auf die Stelle, wo annäherungsweise der After sein mußte, und massierte behutsam durch die ausgestreckte Masse Haut einige Buckel zum Ausgang, wo sie als grauweiße Brocken nach Phosphor stinkend herauskamen und in einem Handtuch aufgefangen wurden. »Das hier ist doch nicht mehr van Toor, kein junger Kerl?« dachte Banniseht schwindelig. »Das hier ist eine Art Fledermausmensch, ein damaszierter Pfannkuchen aus Menschenhaut, in dem das Skelett einen schrumpfenden Rest bildet.« Vor Angst, sich übergeben zu müssen, lief er hinaus, wo Hetterscheidt wartete, der beim Anblick seines verschwitzten Gesichts eine Grimasse schnitt.
Den Rest des Tages gingen der Leutnant und der Sergeant des Zuges einander aus dem Weg, bis sie sich abends bei der
Fernmeldegruppe sprachen. Feindliche Flugzeuge waren über Fakfak gesichtet worden. Von den Schiffen aus wurde auf sie gefeuert. Man vermutete neue Absprünge von Fallschirmjägern bei der Insel Gak. Um ein Uhr wurde alles wieder still. Banniseht steckte sich eine Zigarette an, blies den Rauch aus und fragte: »Was kann das in Gottesnamen bloß für eine Krankheit sein?« Hetterscheidt murmelte: »Eine parasitäre Atrofia Praecox vermutlich…« Banniseht fragte sich, ob der Leutnant ihn verarsche, er wurde aus ihm nicht klug. Heute morgen war er so verstört, nein, heute nachmittag, aber jetzt spielte er sich wieder so auf, als ob er das alles schon längst verstanden, alles schon vorhergesehen und Vorkehrungen getroffen hätte. »Wo kann er sich das nur geholt haben, Sie denken doch nicht an eine einheimische Vergiftung?« Hetterscheidt spitzte die Lippen. »Was kann er nur getan haben, daß ihm so etwas Schreckliches zustößt?« fuhr Banniseht fort. »Ich kapier das einfach nicht.« Der Leutnant lächelte: »Es ist keine Bedingung, daß du es kapierst, um bestimmte Dinge geschehen zu lassen. Es spielt sich so viel ab, von dem niemand irgendetwas begreift; die meisten Menschen erfassen niemals, was ihnen selbst widerfährt.« Der Sergeant drehte sich mit einem Ruck um und ging nach draußen, in die kühle, feuchte Nacht. Es wurde ihm zuviel, ja, er ging schlafen. Beim Auskleiden dachte er noch an die Worte »die meisten Menschen erfassen niemals, was ihnen selbst widerfährt…« »Nein, dafür muß man schon Ethnologie studiert haben!« sagte er zum Kleiderschrank, verärgert, weil ihm die Antwort erst jetzt einfiel.
Nach einem leichten Nickerchen wurde er von heftigen Bauchkrämpfen geweckt. Er drehte sich auf der muffigen Matratze, die immer härter wurde, um. Seine Schultern brannten. Gegen zwei begann es auf enorme Weise zu regnen. Schwer stürzte das Wasser aufs Dach, überall roch man die süße, feuchte Luft. Es wurde kühl, fröstelnd zog er die Decke über seinen nackten Leib. Lange Zeit lag er zusammengekrümmt wach, dann döste er im Halbschlaf wieder weg, von Fieberträumen gequält, die er sofort wieder vergaß. Vergeblich versuchte er, statt an den schleppend argumentierenden Hetterscheidt an die Tochter des Gurus zu denken, während der Sturzregen auf das Zinkdach prasselte und klatschte. Zuletzt konnte er es nicht länger aushalten und setzte sich auf den Bettrand. Er mußte aufs Klo, aber wie? Er erinnerte sich, daß Berkhout irgendwo einen Pajong∗ hingelegt hatte. Er hob den Klambu∗∗ hoch, tastete mit dem Fuß nach den Slippern und nahm ein Päckchen Taschentücher aus dem Regal. Gerade langte er nach dem Handtuch, um es sich umzubinden, aber bei diesem Regen, zu dieser Stunde? Bei Berkhouts Bett war nichts zu finden. Gebeugt stolperte er zur Tür und sah dort den Pajong auf der Hutablage liegen. Auf der Galerie schob er das schwere Ding aus Holz und Ölpapier auf. Draußen hing immer noch ein Wasserfall. Der ganze Laden war wieder überschwemmt. Regen peitschte herunter und jagte spritzend einen vagen Dampf auf. Er faßte sich ein Herz und stieg von der Galerie herunter. Eiskalt ergriff der Regen Füße, Beine und ein Stück Rücken. Prompt glitt er durch einen Slipper hindurch. Der Knoten war durch die Sohle gerutscht. Er bückte sich, drückte das verdammte Ding zurück durch das Gummi und schlitterte weiter. ∗
Pajong = Regen-, Sonnenschirm Klambu = Moskitonetz
∗∗
Die Toiletten lagen hinter dem Krankenzimmer. Im Vorübergehen drang ein schwaches, ersticktes Geräusch durch das Klatschen des Regens zu ihm. Ein unterdrücktes Piepen. Mit zwei Rutschschritten war er an der Tür und riß diese auf. Leeres Zimmer? An der Stelle, wo van Toor liegen mußte, kribbelte eine sich bewegende, lebende, braune Masse, ein wimmelnder Pelzmantel. Hunderte, vielleicht Tausende von Kakerlaken! Heulend rannte er zum Bett, fegte, schlug, schrubbte die widerlichen Tierchen von der klammen Haut, zermalmte sie, trampelte, trat nach der flatternden, krabbelnden Masse. Jemand anderes erschien, Berkhout, sie tobten, bürsteten die Unzahl von Insekten weg, bis die letzten von van Toor abgefegt waren. Der Boden war übersät mit geknackten Resten, Flügelchen, Kriechbeinchen; Kakerlaken rutschten davon, hier und da ein Entkommen suchend, scharrend, auf der Galerie, unter dem Tisch. Aus der Kreatur stiegen noch unaufhörlich die schrillen Pfeifgeräusche auf, während die zugekniffenen Augen tränten. Es hing ein schwerer Gestank von Kakerlaken in der Luft. Einen Augenblick stand Banniseht schnaufend da. Dann fluchte er mit einer Beißbewegung, hob außer sich vor Jähzorn die Hand und schrie: »Wo warst du, Scheißkerl, wo hast du gesteckt?« Berkhout sackte an der Mauer in sich zusammen: »Bitte, Sergeant, bitte, ich werde es nie wieder tun!« »Wo hast du gesteckt, Arschloch!« »Er hatte Durst, und die Kantine war zu, darum bin ich zum Lagerschuppen gegangen, ich habe ihn wirklich nur ganz kurz allein gelassen!« Banniseht würgte und wankte über den verschmierten Fußboden nach draußen, zur Toilette. Zähneklappernd ließ er sich auf das kühle Porzellan nieder und lehnte plötzlich mit zuckenden Schultern seinen Kopf an die Seitenwand.
Beim Weckruf fühlte er sich todkrank. Aber er beherrschte sich, rasierte sich sorgfältig und sorgte dafür, daß er an diesem Montagmorgen wie frisch aus dem Ei gepellt aussah. Sein erster Gang war zu van Toor. Er schob einen Stuhl über den sauberen, gerade gewischten Flur heran. Verheul stand verlegen an der Tür. Der Körper maß annähernd 75 Zentimeter. Die Hautdraperie hatte sich zu einer platten, zerknitterten Aureole rund um den kleinen Leib zurückgezogen. Es mußte ein unglaublicher Zellabbau im Organismus stattgefunden haben. Das hier war wieder als Mensch zu erkennen, ein stockdürres Baby würde man sagen, mit kleinen Haarbüscheln auf der zu weiten Haut. Es war nicht mehr das abstoßende, gefleckte Schleierwesen der vorigen Tage. »Hans… kannst du mich verstehen?« Es erklang ein schwaches Rauschen, als habe jemand ein Radio eingeschaltet, ohne es korrekt auf den fernen Sender einzustellen. »Morgen kommt der Arzt… gibt es noch etwas, das du willst? Essen oder Trinken?« Während er das sagte, fiel Banniseht ein, wie spärlich die Nahrungs- und Getränkesituation in Kroy war, von Abwechslung ganz zu schweigen. »Willst du vielleicht mit jemandem reden, mit dem Guru zum Beispiel?« Er sprach matt, einsehend, wie töricht diese Fragen waren. Das unregelmäßige Rauschen wurde stärker. Er beugte sich vor, das Ohr dicht über den Bartstoppeln, und versuchte angestrengt, die Laute zu verstehen. »Angst… du mußt keine Angst haben, du glaubst doch, äh… möchtest du nicht mit dem Guru über religiöse Dinge reden… über gute Dinge… oder über schlimme Sachen… oder mit jemand anderem… über…« Banniseht zwang sich zu der Formel: »Über den Tod durch Ertrinken in Padaluntu?« Das Köpfchen schüttelte mit unerwarteter Heftigkeit »nein«, während sich in der Nähe des Halses kleine Sehnen spannten.
Geflüster mit Pausen brach nach einer Weile ab. Banniseht, der vornübergebeugt dagesessen und zugehört hatte, setzte sich niedergeschlagen wieder aufrecht hin. Er hatte nur Bruchstücke verstanden: »… seine eigene Schuld… traute mich nicht… konnte nicht… nie ein Draufgänger gewesen… werde immer wieder in meine Verschuldung riechen…« Oder war es in meine Verschanzung kriechen? Und einige Male: »Seine eigene Schuld, nicht meine Schuld« und »will nicht sterben.« Banniseht mochte wohl nur eine geringe Ausbildung haben, aber er war ein ehrlicher Mann mit Verantwortungsgefühl. Es wurde ihm schmerzhaft bewußt, daß er dieser Situation nicht gewachsen war, aber er wußte auch, daß er der einzige war, der sich persönlich um van Toor kümmerte. Verheul und Berkhout betrachteten sich als eine Art Kellner, Hetterscheidt verkroch sich hinter seinen Tätigkeiten als Kommandant in kritischen Umständen. Er legte seine Hand auf das dürre kleine Handgelenk und begann beruhigend zu sprechen: »Was denkst du nur für verrückte Dinge, morgen kommt der Arzt und der weiß Rat, die sind so tüchtig heutzutage, so einfach stirbt ein Mensch nicht, ich werde dir mal erzählen, was in den letzten Tagen passiert ist… diese Kanaken von Sukarno sind ein paar Mal… usw.« Langsam und gemütlich redete Banniseht mit seinem veluwsen∗ Akzent weiter, bis sich die Äuglein unter ihm träge schlossen, kurz wieder aufgingen und wieder schlossen, der vogelartige leichte Atem regelmäßig wurde. Verheul sah zu. Um acht Uhr abends ging Verheul zu dem Sergeanten des Zuges. Dieser saß, Helm und Pistolenhalfter vor sich, bei der Fernmeldegruppe. Mit einem neuen Klang in seiner Stimme, respektvoll, ernst, so, wie man mit einem älteren Familienangehörigen spricht, meldete der Sanitäter, daß van Toor wieder 40,8 habe. ∗ Dialekt, der auf der Veluwe, einem Teil der niederländischen Provinz Gelderland, gesprochen wird.
»Wir können auch wieder diese Leuchtflecken sehen, Sergeant, aber wir sorgen gut für ihn, und wir werden Sie ständig auf dem Laufenden halten.« »Gut, Adriaan, danke.«
Es war die kritische Montagnacht, die Sukarno in seinen Reden angekündigt hatte. Es war also keine Überraschung, als um elf Uhr plötzlich eine Vielzahl panischer Morsezeichen durch den Äther schoß. Blitzmeldung Fakfak, Blitzmeldung Snellius, Blitzmeldung Sorong und dann… Blitzmeldung Karemu: Sich nähernde Flugzeuge Ostnordost. »Geh’ schon mal zum Nullfünfziger, Sergeant, in ein paar Minuten können sie hier sein, warte auf meinen Befehl.« Draußen hörte man Schritte von Soldaten, die ihre Posten in den Schützengräben einnahmen. Banniseht begab sich zu dem schweren Maschinengewehr auf dem Gestell. Rund um die Beine waren Sandsäcke gelegt, um die Waffe beim Feuern auf ihrem Platz zu halten. Der breite Patronengurt war befestigt. Die Waffe war schußbereit. Er ließ den Lauf mit einer Elevation von ungefähr 60° nach Nordosten richten. Die Gruppe behelmter Männer lauschte aufmerksam. Die Brandung rauschte, Blätter wisperten undeutlich. Wurde etwas anderes hörbar?… Gedröhn, noch weit entfernt über der silbernen See. Der Schatten von Hetterscheidt kauerte sich neben ihn, flüsterte: »Zwei oder drei Maschinen…« Das Geräusch wurde schwächer, kehrte zurück. »Sie kreisen, haben es vermutlich nicht auf uns abgesehen.« Es war das Geräusch von HerculesFlugzeugen, die wahrscheinlich Fallschirmjäger und Vorräte abwarfen. Plötzlich blitzte es wie Wetterleuchten am Horizont. Zugleich trommelte von der Kimmung aus ein Gedonner wie aus der Unterwelt, hoch in die Stratosphäre rammend – der
Bofors∗-Vierling des Lumpurzuges, wie Banniseht wußte. Nochmals jener erzen aufsteigende Waffensturm, als ob gigantische apokalyptische Reiter in einem explodierenden Galopp gen Himmel fahren würden. Mit einem Mal heulte Metall durch Kroy, Explosionen, Gepfeife, Schüsse. »Deeeckung!… Kabel Karemu: werden von Hercules beschossen… Sergeant, Schnellfeuer hoch, ein Gurt!« Der Schütze saß gebeugt hinter dem Nullfünfziger. »Feuer!« Sofort zog der Soldat die eisernen Halbmonde zurück: Brwobobobobam! Ohrenbetäubende Schläge zerrissen die Luft. Brüllend zuckte und spie der schwere Lauf, der alle vier Patronen ein Leuchtgeschoß wie einen brennenden Tupfen in die Wolken jagte. Auf einmal knallte die Stille herab. Der Gestank von Pulverdampf. Schwaches Gejohle aus dem Schützengraben. Am Horizont summten die flüchtenden Maschinen noch. Die Sendeanlage raste wie ein Chor wahnsinniger Grillen. Rot glomm der furchterregende Lauf im Dunkel. Jeder begann aufgeregt zu sprechen. Übermütiges Geschwätz. Über Flugzeuge, die angeschossen waren, die Loopings drehten. »Verwundete, gibt es Verwundete?« rief eine nervöse Stimme. Banniseht erkannte Verheul, dahinter Berkhout. Aber wer zum Teufel war dann bei van Toor! Mit einer bangen Ahnung rannte er drauflos zum Krankenzimmer. Das Zimmer war leer! Großes Licht an. Das Bett war beschmutzt, aber leer. Mit hervorquellenden Augen blickte Banniseht umher, sah zu Boden, drückte gepeinigt seine Nägel in die Schläfen. Er bemerkte wenig von den herbeigeeilten Soldaten, dem aufgeregten Hetterscheidt, der schrill von Raubtieren schwafelte – was für Raubtiere auf Neu-Guinea? –, von Entführung durch die Papuas, der wüst von Auskämmen des Kampongs sprach. Er saß benommen auf seinem Stuhl und reagierte nicht einmal, als die Meldung kam, daß der Beschuß ∗
Bofors = Markenname eines Luftabwehrgeschützes
möglicherweise der Einschlag der über die Berge schießenden Bofors des Lumpurzuges gewesen sei. Der Sergeant erster Klasse R. Ch. N. Banniseht ging schweigend zu seinem Zimmer, legte sich aufs Bett und schloß die Augen. Schloß die Augen, um mit Gewalt das Bild von etwas Kleinem zu verdrängen, von etwas Winzigem, das piepsend und händeringend in immer kleiner werdenden Kreisen auf dem Fußboden herumrennt, schließlich in sich selbst verschwindet.
Autoren und Quellen
FERDINAND BORDEWIJK, geb. 1884 in Amsterdam, gest. 1965 in ‘s Gravenhage, war Schriftsteller und Rechtsanwalt. Seine in den 1930er Jahren erschienenen Romane begründeten seine Stellung als einer der bedeutendsten niederländischen Schriftsteller seiner Zeit. Eine Gesamtausgabe erschien zwischen 1982 und 1991 in 13 Bänden. – Twee proeven genomen op Jos van de Hoerden, in: Fantastische Vertellingen I, 1919. Benutzte Ausgabe: Verzameld Werk, Bd. 6. ‘s Gravenhage: Nijgh & Van Ditmar 1989. O Nijgh & Van Ditmar. LOUIS MARIE ANNE COUPERUS, geb. 1863 in ‘s Gravenhage, gest. 1923 in De Steeg, verbrachte seine Jugend als Sohn eines Kolonialbeamten auf Java. Mit seinem ersten Roman, Eline Vere (1889), wurde er zum erfolgreichsten niederländischen Autor seiner Zeit. In seinem sehr umfangreichen und vielfach übersetzten Werk vereinen sich naturalistische und symbolistische Tendenzen, die ihn zu einem Hauptvertreter der europäischen Décadence machen. Die 1920 zunächst in einer Zeitung erschienene Erzählung De binocle (Das Opernglas) ist womöglich die berühmteste phantastische Erzählung der niederländischen Literatur. Sein bis heute viel gelesenes Werk liegt in mehreren Gesamtausgaben vor. – De binocle, in: Proza, 1923. Benutzte Ausgabe: Volledige Werken, Bd. 46. Amsterdam/Antwerpen: L. J. Veen 1995. BOUKE B. JAGT, geb. 1942 in Tweede Exloërmond, Odoorn, debütierte als Prosaist mit De muskietenoorlog en andere
verhalen (Der Moskitokrieg und andere Erzählungen, 1978), einer Sammlung teilweise phantastischer Erzählungen, die während des Neu-Guinea-Kriegs spielen. Sie sind die wohl wichtigste Auseinandersetzung mit diesem lange weitgehend verdrängten letzten Kolonialkrieg der Niederlande. – Koortsdansen, in: De muskietenoorlog en andere verhalen. Amsterdam/Brüssel: Elsevier 1978. © Bouke B. Jagt. HANS KOEKOEK, geb. 1935 in Rotterdam, wird mit Roald Dahl oder Stanley Ellin verglichen, in seinem Werk mischen sich Phantastik und Humor. In dem Band Scherven van geluk (Scherben des Glücks, 1974) versammelte er einige seiner überzeugendsten Erzählungen. – Het masker, in: Louter onzin (Lauter Unsinn, 1969). Benutzte Ausgabe: Scherven van geluk. Bussum: van Holkema en Warendorf 1974. Hans Koekoek. JAN JACOB SLAUERHOFF, geb. 1898 in Leeuwarden, gest. 1936 in Hilversum, führte ein Leben, das dem der von ihm verehrten poètes maudits ähnelte. Seine Reisen als Schiffsarzt in exotische Länder prägten seinen Hang zum Dunklen und Phantastischen. Sowohl seine geniale Lyrik als auch seine Prosa sind in den Niederlanden bis heute populär. – Het einde van het lied, in: Schuim en asch (Schaum und Asche, 1930). Benutzte Ausgabe: Schuim en asch, Neudruck, ‘s Gravenhage/Rotter-dam: Nijgh & van Ditmar 1966. ARTHUR VAN SCHENDEL, geb. 1874 in Batavia (heute Djakarta), gest. 1946 in Amsterdam, lebte ab 1920, als schon berühmter Schriftsteller, in Italien. Mit seinen frühen Werken, in denen er ein legendäres Mittelalter beschwor, wurde er zum bedeutendsten Vertreter der sogenannten neo-romantiek. Realistische Romane wie Een Hollands drama (Ein holländisches Drama, 1935) erinnern an den frühen Julien
Green. – De rode vrouw, in: Nachtgedaanten, 1938. Benutzte Ausgabe: Verzameld Werk, Bd. 1. Amsterdam: Meulenhoff 1977. © Erben A. van Schendel. ALEXANDER VER HUELL, geb. 1822 in Doesburg, gest. 1897 in Arnhem, war Jurist und lange vor allem als Illustrator bekannt. Erst Ende des 20. Jahrhunderts wurde er wieder als Schriftsteller entdeckt. Die 1847 im Leidener Studentenalmanak erschienene Erzählung No. 410 Hoogewoerd gilt als erste niederländische phantastische Kurzgeschichte. – No. 410 Hoogewoerd, in: Schetsen met de pen, 1853. Benutzte Ausgabe: Schetsen met de pen. Schoorl: Conserve 1988. SIMON VESTDIJK, geb. 1898 in Harlingen, gest. 1971 in Utrecht, gilt als wichtigster Autor der niederländischen Literatur des 20. Jahrhunderts. In seinem umfangreichen Werk nimmt das Phantastische einen wesentlichen Platz ein. Einflüsse des von ihm bewunderten Gustav Meyrink sind in dem zusammen mit Hendrik Marsman geschriebenen okkulten Briefroman Heden ik, morgen gij (Heute ich, morgen du, 1936) zu erkennen. – Het stenen gezicht, in: De dood betrapt (Der Tod ertappt, 1935). De gestolen droom, in: Stomme getuigen (Stumme Zeugen, 1947). Benutzte Ausgabe: Verzamelde verhalen. Amsterdam: De Bezige Bij 1974. © für beide Texte: Stichting Administratiekantoor Auteursrechten Simon Vestdijk, Mevr. M. Vestdijk-van der Hoeven. JAN WOLKERS, geb. 1925 in Oegstgeest, besuchte die Kunstakademien in Leiden, Den Haag und Amsterdam und studierte in Paris. Bis heute ist er nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Maler, Zeichner und Bildhauer erfolgreich. Seine betont krassen Darstellungen von Sexualität, Krankheit
und Tod schockierten seine frühen Leser. Die Verfilmung seines Romans Turks fruit (Türkische Früchte, 1969) durch Paul Verhoeven machte ihn 1972 auch im Ausland bekannt. Gevederde vrienden, in: Gesponnen suiker (Zuckerwatte). Amsterdam: Meulenhoff 1963. © Meulenhoff. Der Herausgeber REIN A. ZONDERGELD, geb. 1943 in Enkhuizen, unterrichtet seit 1969 niederländische Sprache und Literatur sowie Afrikaans an der Georg-August-Universität in Göttingen. Zu seinen Fachgebieten zählen phantastische Literatur und Kunst; er ist Verfasser des Standardwerks Lexikon der phantastischen Literatur (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983; zweite Auflage zusammen mit HOLGER E. WIEDENSTRIED, Stuttgart: Weitbrecht 1998).