Heyne 4055 von 1984 Arthur c. Clark Geschichten aus dem Weißen Hirschen Scan: ??? Korrektur: Nichtznuts
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Heyne 4055 von 1984 Arthur c. Clark Geschichten aus dem Weißen Hirschen Scan: ??? Korrektur: Nichtznuts
Von A r t h u r C. Clarke erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: Komet der Blindheit (06/3239) Rendezvous mit 31/439 (06/5370) 2001 - Odyssee im Weltrjum (06/3259) Makenzie k e h r t zur Erde heim (06/3645)
Liebe Leser, um Rückfragen zu vermeiden und Ihnen Enttäuschungen zu erspa ren: Bei dieser Titelliste handelt es sich u m eine Bibliographie und NICHT UM EIN VERZEICHNIS L I E F E R B A R E R BÜCHER. Es ist lei der unmöglich, alle Titcl ständig lieferbar zu halten. Bitte fordern Sic bei Ihrer Buchhandlung oder beim V'erlag oin Verzeichnis der Liefer baren Heyne-Bücher an. \Vir bitten Sie um Verständnis. Wilhelm Heyne Verlag CmbH & Co K G , Türkenstr S-7, Posttach 201204, 8000 München 2, Abteihmg Vertrieb
ARTHUR C. CLARKE
GESCHICHTEN AUS DEM
WEISSEN HIRSCHEN
Science Fiction-Erzählungen
Deutsche Erstveröffentlichung
W I L H E L M H E Y N E V E R L A G
M Ü N C H E N
HEYNE-BUCH Nr. 06/4055
im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der englischen Originalausgabe
TALES OF THE WHITE HART
Deutsche Übersetzung von Hilde Linnert
Die Illustrationen zeichnete Mark van Oppen
Redaktion: Wolfgang Jeschke
Copyright © 1957, 1970 und 1972
by Arthur C. Clarke
Copyright © 1984 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Umschlagbild: New English Library
Printed in Germany 1984
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Satz: Schaber, Wels
Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin
ISBN 3-453-30998-7
INHALT
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Ruhe, bitte! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
(Silence Please!)
Großwildjagd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
(Big Game Hunt)
Patent angemeldet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
(Patent Pending)
Wettrüsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
(Annaments Race)
Kritische Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
(Critical Mass)
Die elementare Melodie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
(The Ultimate Melody)
Der Pazifist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
(The Pacifist)
Die nächsten Mieter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
(The Next Tenants)
Treibender Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
(Moving Spirit)
Die widerspenstige Orchidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
(The Reluctant Orchid)
Kalter Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
(Cold War)
Was oben ist, muß runterkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
(What Goes Up)
Dornröschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
(Sleeping Beauty)
Der Fenstersturz von Ermintrude Inch . . . . . . . . . . . . . 180
(The Defenstration of Ermintrude Inch)
Über Arthur C. Clarke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
Fur Lew und seine
Donnerstagabend- Gäste
Vorwort
Tales from the White Hart war meine dritte Kurzgeschich ten-Sammlung* und wurde 1957 von Ballantine Books als Taschenbuch herausgebracht. Diese Erzählungen ent standen zwischen 1953 und 1956 in den verschiedensten Städten: New York, Miami, Colombo, London und Syd ney. In einigen Fällen ist der lokale Einfluß unüberseh bar, obwohl ich merkwürdigerweise noch nie in Austra lien gewesen war, als ich >What Goes Up< (>Was oben ist, muß runterkommenBig Game Hunt< (>GroßwildjagdPatent Pending< (>Patent angemeldetTraummaschinen< bezeichnet, und falls sie jemals er funden werden, dürften sie in mehr als einer Hinsicht für die menschliche Rasse das Ende des Weges bedeuten. Ich habe sie in der Kurzgeschichte The Lion of Comarre ge nauer beschrieben. >Armaments Race< (>WettrüstenThe Pacifist< (>Der PazifistWeißen Hirsch< wirk lich gegeben hat. Allerdings; der Hintergrund (und ei nige Nebenfiguren) stammen aus dem White Horse in der Fetter Lane nördlich der Fleet Street in London. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg trafen einander dort allwöchentlich die Londoner Science Fiction Fans. Später übersiedelte der Wirt, Lew Mordecai, in den >Glo be< in Hatton Garden - im Herzen des Diamanten-Vier tels - und wir folgten ihm alle dorthin. Viele junge Schriftsteller, Herausgeber und auf Besuch weilende Feuerwehrleute aus der ganzen Welt kommen dort immer noch jeden ersten Dienstag im Monat zu sammen. Aber ich kenne kaum jeden Zehnten, und für mich sind ihre Diskussionen über William Burroughs und die New Wave vollkommen unverständlich. Und manchmal muß ich sie daran erinnern, daß ich Jules Verne nicht persönlich kannte - nicht einmal, leider, H. G. Wells. Arthur C. Clarke
Ruhe, bitte!
I n einer der kleinen Straßen, die von der Fleet Street zum Embankment führen, stößt man vollkommen unerwartet auf den >Weißen Hirschwir< sind. Das ist nicht so einfach, wie ich zuerst annahm, denn es ist
wahrscheinlich unmöglich, eine vollständige Liste der Gäste des >Weißen Hirschen< anzulegen, und außerdem wäre sie entsetzlich langweilig. Deshalb möchte ich nur feststellen, daß wir drei Gruppen umfassen. Zunächst gibt es die Journalisten, Schriftsteller und Verleger. Die Journalisten sind natürlich von der Fleet Street herüber gekommen. Diejenigen, die nicht Fuß fassen konnten, flohen in eine andere Kneipe, die zäheren blieben. Was die Schriftsteller betrifft, so hörten die meisten durch an dere Schriftsteller von uns, kamen hierher, um Ideen zu finden, und blieben kleben. Wo es Schriftsteller gibt, tauchen früher oder später na türlich auch Verleger auf. Wenn Drew, unser Wirt, Pro zente für die literarischen Verträge bekäme, die in seiner Bar abgeschlossen wurden, wäre er ein reicher Mann. (Wir haben den Verdacht, daß er ohnehin ein reicher Mann ist.) Einer unserer Witzbolde bemerkte einmal, daß oft genug in einer Ecke des >Weißen Hirschen< ein halbes Dutzend empörter Autoren mit einem abgebrühten Ver leger diskutierten, während sich in der gegenüberliegen den Ecke ein halbes Dutzend empörter Verleger mit ei nem abgebrühten Autor herumstritt. Das wäre also die literarische Stammkundschaft: ich
sage Ihnen gleich, daß Sie noch genügend Gelegenheit für Nahaufnahmen haben werden. Jetzt wollten wir aber einen Blick auf die Wissenschaftler werfen. Wie sind sie hierhergekommen? Ja, also, das Birkbeck College steht in der Parallelstraße, und das King's College befindet sich ein paar hundert Meter weiter am Strand. Das erklärt zweifellos viel, und natürlich trugen auch persönliche Empfehlungen dazu bei. Außerdem sind etliche unserer Wissenschaftler gleichzei tig Schriftsteller, und gar nicht wenige unserer Schrift steller sind Wissenschaftler. Verwirrend, aber uns ge fällt's. Der dritte Teil unseres kleinen Mikrokosmos besteht 10
aus >interessierten LaienWeißen HirschWeißen Hirschen< selten langweilig sind. Dort sind nicht nur beachtenswerte Geschichten erzählt worden, sondern auch beachtenswerte Dinge geschehen. Zum Bei spiel damals, als Professor ... sowieso auf der Reise nach Harwell hereinschaute und eine Aktenmappe liegen ließ, die - na ja, befassen wir uns nicht weiter damit, obwohl wir es damals taten. Und es war überaus interessant ... Falls mich russische Agenten suchen - ich sitze meist in der Ecke unter der Wurfscheibe. Ich bin natürlich nicht billig, akzeptiere aber Ratenzahlungen. Nachdem ich endlich auf diese Idee verfallen bin, über rascht es mich, daß keiner meiner Kollegen bis jetzt daran gedacht hat, diese Geschichten niederzuschreiben. Kön nen sie den Wald vor Bäumen nicht sehen? Oder fehlt ih nen der Ansporn? Nein, letztere Erklärung ist kaum stichhaltig: einige von ihnen sind genauso schlecht bei Kasse wie ich und beschweren sich genauso bitter über Drews eisernen Grundsatz >HIER WIRD NICHT ANGE SCHRIEBENWeißen Hirschen< herumtreiben, bevor man auf sie aufmerksam wird. Das war anschei nend auch bei Harry Purvis der Fall, denn als er mir zum erstenmal auffiel, kannte er schon die Namen fast aller Leute in unserer Clique. Wenn ich es recht bedenke, kann ich das nicht einmal von mir behaupten. Aber obwohl ich nicht weiß, wann, so weiß ich doch,
wie es begann. Bert Huggins war der Katalysator, oder ei gentlich war es seine Stimme. Berts Stimme kann alles ka talysieren. Wenn er jemandem etwas vertraulich zuflü
stert, klingt es, als würde ein Hauptfeldwebel ein ganzes Regiment zurechtstauchen. Und wenn er sich gehen läßt, verstummen die Gespräche um ihn, während wir alle darauf warten, daß die berühmten kleinen Knöchelchen im inneren Ohr wieder an den richtigen Platz zurückrut
schen. Er hatte gerade die Geduld mit John Christopher verlo ren (irgendwann passiert das jedem von uns), und das darauffolgende donnernde Gebrüll hatte die Schachpar tie gestört, die im Hintergrund der Bar im Gange war. Wie üblich waren die beiden Spieler von Kibitzen umge ben, und wir alle sahen erschrocken auf, als die von Bert ausgelösten Schallwellen über uns hinwegfegten. Als sich das Echo gelegt hatte, sagte jemand: »Wenn man ihn nur irgendwie zum Schweigen bringen könnte.« Und darauf antwortete Harry Purvis: »Das ist durchaus möglich.« Da ich die Stimme nicht kannte, sah ich mich um. Ich erblickte einen kleinen, korrekt gekleideten Mann Ende dreißig. Er rauchte eine der geschnitzten deutschen Pfei fen, bei denen ich immer an Kuckucksuhren und den Schwarzwald denken muß. Sonst hatte er aber nichts 12
Unkonventionelles an sich; er hätte ohne weiteres ein subalterner Finanzbeamter sein können, der zu einer Ta gung der Buchprüfer unterwegs war. »Wie bitte?« fragte ich. Er beachtete mich nicht, sondern befaßte sich angele gentlich mit seiner Pfeife. Erst jetzt bemerkte ich, daß es sich nicht, wie ich zuerst angenommen hatte, um eine komplizierte Holzschnitzerei handelte. Es war etwas viel Komplizierteres - eine Vorrichtung aus Metall und Kunststoff, wie eine kleine chemische Anlage. Ich ent deckte sogar ein paar winzige Ventile. Mein Gott, es war eine kleine chemische Anlage. Ich starre an und für sich nie jemanden an, aber ich versuchte nicht erst, meine Neugierde zu verbergen. Er lächelte überlegen. »Alles im Dienst der Wissenschaft. Es ist eine Idee des biophysikalischen Labors. Sie wollen genau herausbe kommen, woraus Tabakrauch besteht - daher die Filter. Sie kennen den alten Streit - führt Rauchen zu Zungen krebs, und wenn ja, wie? Leider braucht man eine un glaubliche Menge Destillat, um einige der unbekannteren Nebenprodukte zu identifizieren. Deshalb müssen wir sehr viel rauchen.« »Stören diese Installationen nicht das Vergnügen am Rauchen?« »Das weiß ich nicht. Ich bin nämlich nur ein Freiwilli ger. Ich rauche nicht.« »Oh«, sagte ich. Im Augenblick fiel mir nichts Besseres ein. Dann erinnerte ich mich an das auslösende Moment für unser Gespräch. »Sie erwähnten«, fuhr ich etwas lauter fort, denn in meinem linken Ohr klingelte es immer noch leise, »daß es eine Möglichkeit gibt, Bert zum Schweigen zu bringen. Wir würden gern mehr darüber hören - falls ich damit nicht die Metaphern durcheinanderbringe.« Er zog in Ausübung seines Experiments an der Pfeife 14
und stieß den Rauch wieder aus. »lch dachte an den un seligen Fenton-Schalldämpfer. Eine traurige Geschichte, die uns allen jedoch eine interessante Lehre sein kann. Und, wer weiß, vielleicht baut ihn eines Tages jemand aus und wird so zum Beglücker der Menschheit.« Ziehen, brodeln, brodeln, plumps ... »Los, erzählen Sie! Wann geschah es?« Er seufzte. »Es tut mir beinahe leid, daß ich es erwähnt habe. Aber wenn Sie darauf bestehen - selbstverständlich muß alles unter uns bleiben.« »Natürlich.« »Also, Rupert Fenton war einer unserer Laborassisten ten. Ein sehr kluger junger Mann mit einer sehr guten praktischen Ausbildung, aber geringen theoretischen Kenntnissen. In seiner Freizeit erfand er ununterbrochen kleine praktische Geräte. Für gewöhnlich waren seine Ideen gut, aber da ihm die wissenschaftliche Grundlage fehlte, funktionierten die Dinger beinahe nie. Er ließ sich dadurch keineswegs entmutigen - wahrscheinlich hielt er sich für den Edison unserer Zeit und bildete sich ein, daß er mit den Radioröhren und anderen Bestandteilen, die im Labor herumlagen, ein Vermögen machen könnte. Da seine Basteleien seine eigentliche Arbeit nicht beeinträch tigten, hatte niemand etwas dagegen: die Physik-Assi stenten ermutigten ihn sogar, weil Begeisterung immer aufmunternd wirkt. Aber niemand nahm an, daß er weit kommen würde, weil er wahrscheinlich nicht einmal e zu x integrieren konnte.« »Ist eine solche Unwissenheit überhaupt denkbar?« fragte jemand fassungslos. »Vielleicht übertreibe ich. Also sagen wir xe zu x. Je denfalls verfügte er ausschließlich über praktische Kenntnisse - Faustregeln, Sie wissen ja. Man konnte ihm den kompliziertesten Schaltplan geben, und er baute da nach den Apparat. Aber wenn es nicht etwas wirklich 15
Einfaches war, zum Beispiel ein Fernsehapparat, hatte er keine Ahnung, wie er funktionierte. Das Dumme daran war, daß er seine Grenzen nicht kannte. Und das sollte sich verhängnisvoll auswirken. Wahrscheinlich kam er auf die Idee, als er zusah, wie die Honoursstudenten akustische Experimente unter nahmen. Ich nehme an, daß Sie alle mit dem Phänomen der Interferenz vertraut sind?« »Natürlich«, antwortete ich. »He«, mischte sich einer der Schachspieler ein, der es aufgegeben hatte, sich auf das Spiel zu konzentrieren (wahrscheinlich war er mit dem nächsten Zug matt). »Ich bin es nicht.« Purvis sah ihn an, als hätte er nicht das Recht, in einer Welt, in der das Penicillin erfunden worden war, am Sau erstoff mitzunaschen. »In diesem Fall«, sagte er kühl, »werde ich einige Erklä rungen dazu abgeben.« Er schob unsere empörten Prote ste mit einer Handbewegung beiseite. »Nein, ich bestehe darauf! Gerade die Menschen, die nichts von diesen Din gen verstehen, müssen darüber informiert werden. Wenn jemand dem armen Fenton die Theorie erklärt hät te, solange noch Zeit dazu war . . . « Er sah den jetzt sehr beschämten Schachspieler von oben herab an. »Ich weiß nicht«, begann er, »ob Sie sich je mit dem Wesen des Schalls beschäftigt haben. Im Prinzip handelt es sich um Wellen, die sich durch die Luft fortpflanzen. Allerdings sind es nicht die gleichen Wellen wie an der Oberfläche des Meeres - weiß Gott nicht! Diese Wellen entstehen durch eine Auf- und Abbewegung. Schallwel len hingegen entstehen durch abwechselnde Verdich tung und Verdünnung.« »Ver- was?« »Verdichtung und Verdünnung.« »Sollte es nicht >Verdickung< heißen?« 16
»Bestimmt nicht. Ich bezweifle, daß es dieses Wört in der Physik überhaupt gibt, und falls ja, dann gehört es verboten«, erwiderte Purvis selbstbewußt wie ein Uni versitätsprofessor. »Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, ich erklärte gerade den Schall. Wenn wir ein Geräusch erzeugen, vom leisesten Flüstern bis zu dem Dröhnen, das wir soeben erlebt haben, pflanzt sich eine Reihe von Druckveränderungen durch die Luft fort. Haben Sie je mals Rangierlokomotiven beobachtet? Ein blendendes Beispiel für den Vorgang. Vor Ihnen befindet sich eine lange Reihe von aneinandergekuppelten Güterwaggons. An einem Ende folgt ein Stoß, die ersten beiden Waggons nähern sich einander - und dann können Sie zusehen, wie sich die Druckwelle die ganze Reihe entlang fort pflanzt. Hinter ihr entsteht der umgekehrte Effekt - die Verdünnung - und die Waggons trennen sich wieder von einander. Das alles ist sehr einfach, wenn es nur eine Geräusch quelle gibt - nur eine Wellenbewegung. Aber was ge schieht, wenn Sie zwei verschiedene Wellen haben, die sich in die gleiche Richtung bewegen? Dann kommt es zur Interferenz, und es gibt in der Elementarphysik un zählige hübsche Experimente, durch die man sie bewei sen kann. Wir müssen uns aber nur mit einer einzigen Tatsache befassen, und Sie werden mir beipflichten, daß kein Zweifel daran bestehen kann; wenn man zwei Wel len genau außer Tritt bringen könnte, wäre das Ergebnis gleich Null. Die Verdichtungsphase der einen Welle würde die Verdünnungsphase der anderen überlagern Ergebnis: keine Veränderung und daher kein Geräusch. Um zu meinem Beispiel mit der Waggonreihe zurückzu kommen: es wäre so, als würden Sie dem letzten Waggon gleichzeitig einen Stoß versetzen und an ihm ziehen. Es würde überhaupt nichts geschehen. Zweifellos haben einige von Ihnen inzwischen begrif fen, worauf ich hinaus will, und das grundlegende Prin 17
zip des Fenton-Schalldämpfers erkannt. Meiner Meinung nach stellte der junge Fenton folgende Überlegung an: >Diese unsere Welt ist voller Lärm. Jemand, der den voll kommenen Schalldämpfer erfinden würde, könnte ein Vermögen verdienen. Das bedeutet . . . < Er brauchte nicht lang, um die Antwort darauf zu fin den; er war wirklich ein intelligenter junger Mann. Sein Versuchsmodell war relativ unkompliziert. Es bestand aus einem Mikrophon, einem Spezialverstärker und zwei Lautsprechern. Jedes Geräusch, das im Raum entstand, wurde vom Mikrophon aufgefangen, verstärkt und um gedreht, so daß es den Schallwellen des ursprünglichen Geräuschs gegenüber genau phasenverschoben war. Dann wurde es in die Lautsprecher geleitet, die ur sprüngliche und die neue Welle hoben einander auf, und das Ergebnis war Stille. Natürlich war das nicht alles. Es gab eine Einrichtung, die dafür sorgte, daß die löschende Welle genau die rich tige Intensität hatte - sonst wäre der Krach womöglich größer gewesen als zu Beginn. Aber das sind technische Details, mit denen ich Sie nicht langweilen will. Wie etli che von Ihnen bestimmt erkannt haben, handelt es sich einfach um ein negatives feedback.« »Einen Augenblick, bitte!« unterbrach ihn Eric Maine. Ich muß erwähnen, daß Eric Sachverständiger für Elek tronik ist und irgendeine Fernsehzeitung herausgibt. Er hat auch ein Hörspiel über Raumflüge geschrieben, aber das ist eine andere Geschichte. »Einen Augenblick, bitte! Da stimmt etwas nicht. Sie können nicht auf diese Weise Stille erzeugen. Es wäre unmöglich, die Phase so einzu richten . . . « Purvis schob die Pfeife wieder in den Mund. Einen Augenblick lang brodelte sie drohend, und mir fiel der erste Akt von Macbeth ein. Dann starrte er Eric an. »Wollen Sie damit sagen«, fragte er eisig, »daß diese Geschichte unwahr ist?« 18
»Na ja, ich würde nicht so weit gehen, aber ...«' Erics Stimme verlor sich, als hätte man ihn gedämpft. Er zog einen alten Umschlag sowie einige Widerstände und
Kondensatoren, die sich in sein Taschentuch verheddert hatten, aus der Tasche und begann zu rechnen. Eine Zeit lang hörten wir nichts mehr von ihm. »Wie ich sagte«, fuhr Purvis ruhig fort, »funktionierte Fentons Schalldämpfer nach diesem Prinzip. Sein erstes Modell war nicht sehr leistungsstark und konnte mit sehr hohen oder sehr tiefen Tönen nicht fertigwerden. Das Ergebnis war etwas merkwürdig. Wenn man ihn ein schaltete und jemand sprach, hörte man die beiden En den des Spektrums - ein leises Fledermausquietschen und ein tiefes Poltern. Aber damit kam Fenton bald klar, indem er eine mehr lineare Schaltung benützte - ver dammt, um bestimmte technische Ausdrücke komme ich eben nicht herum -, und mit dem ausgereiften Modell konnte er in einem relativ großen Bereich vollkommene Stille erzeugen. Nicht nur in einem gewöhnlichen Zim mer, sondern auch in einer großen Halle. Ja ... Fenton war nicht einer von diesen verschlossenen Er findern, die niemandem erzählen, woran sie gerade ar beiten, damit man ihnen ihre Idee nicht stiehlt. Er war ausgesprochen redselig. Er sprach mit dem Lehrkörper und den Studenten über seine Ideen, und überhaupt mit jedem, der bereit war, ihm zuzuhören. Zufällig war einer der ersten, denen er seinen verbesserten Schalldämpfer zeigte, ein junger Kunststudent namens Kendall, der als zweiten Gegenstand Physik belegt hatte. Kendall war vom Schalldämpfer sehr beeindruckt, und zu Recht. Aber er dachte nicht, wie Sie vielleicht annehmen, an die kommerziellen Auswertungsmöglichkeiten oder an die Wohltat, die er für die gequälten Ohren der leidenden Menschheit bedeutete. O nein, er hatte ganz andere Vor stellungen. Gestatten Sie mir eine kleine Abschweifung. Im Col 19
lege gibt es eine sehr rührige musikalische Vereinigung, die in den letzten Jahren so viele Mitglieder gewonnen hat, daß sie sich jetzt sogar an die Aufführung nicht allzu monumentaler Symphonien heranwagt. In dem Jahr, von dem die Rede ist, hatte sie sich ein sehr kühnes Ziel ge setzt. Sie wollte eine neue Oper herausbringen, das Werk eines begabten jungen Komponisten, dessen Namen ich nicht nennen will, da er inzwischen uns allen gut bekannt ist. Bezeichnen wir ihn als Edward England. Den Titel des Werks habe ich vergessen, aber es handelte sich um eines jener >totalen< Dramen, die angeblich weniger lä cherlich wirken - wieso, habe ich nie begriffen -, wenn sie von Musik begleitet sind. Zweifellos hängt von Musik sehr viel ab. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich die Inhalts angabe las, während ich darauf wartete, daß sich der Vorhang hob; bis heute weiß ich nicht, ob das Libretto ernstgemeint war oder nicht. Es spielte gegen Ende der Viktorianischen Ära, und die Hauptdarsteller waren die leidenschaftliche Postmeisterin Sarah Stempel, der dü stere Wildhüter Walter Rebhuhn und der Sohn des Landedelmannes, dessen Namen ich vergessen habe. Es ist die alte Geschichte der ewigen Dreieckbeziehung, die hier dadurch verkompliziert wird, daß die konservativen Dorfbewohner gegen jede technische Neuheit sind - in diesem Fall gegen die Telegrafie, denn die alten Weiber behaupten,daß durch sie die Kühe keine Milch mehr ge ben und die Schafe Fehlgeburten haben werden. Wenn man alle Kinkerlitzchen beiseite läßt, handelt es sich um das in Opern übliche Eifersuchtsmotiv. Der Sohn des Landedelmannes will keine Postmeisterin heiraten, und der Wildhüter, den die erhaltene Abfuhr in Wut bringt, brütet Rache. Die Tragödie erreicht ihren schreck lichen Höhepunkt, wenn die mit Klebestreifen erwürgte Sarah in einem Postsack in der Abteilung für Irrläufer ge funden wird. Die Dorfbewohner hängen Rebhuhn zum 20
Ärger der Streckenwärter an den nächsten Telgrafen mast. Er sollte eine Arie singen, während er gehängt wurde, und ich bedaure heute noch, daß ich das nicht er leben durfte. Der Sohn des Landedelmanns beginnt zu trinken oder geht in die Kolonien, oder beides: und damit hat es sich. Sie fragen sich sicherlich alle, worauf ich hinaus will:
Bitte, haben Sie noch einen Augenblick Geduld. Wäh rend nämlich diese synthetische Eifersucht geprobt wur de, spielte sich in den Kulissen das echte Drama ab. Fen tons Freund Kendall war von der jungen Dame, die Sarah Stempel spielte, abgewiesen worden. Ich glaube nicht, daß er besonders rachsüchtig war, aber er kannte die Möglichkeit für eine einmalige Revanche. Geben wir doch offen zu, daß das College-Leben zu einer gewissen Verantwortungslosigkeit verleitet - und wie viele von uns hätten unter den gleichen Umständen eine solche Chance nicht genützt? Ich sehe an Ihren Gesichtern, daß Sie zu verstehen be ginnen. Aber als an diesem denkwürdigen Tag die Ou vertüre einsetzte, ahnten wir, das Publikum, überhaupt nichts. Es war eine erlesene Gesellschaft: Alle waren ge kommen, vom Schatzmeister abwärts. Es gab reihen weise Dekane und Professoren: Ich fand nie heraus, wie man so viele Leute zusammengetrieben hatte. Wenn ich es mir recht überlege, weiß ich nicht einmal, was ich dort suchte. Die Ouvertüre verklang unter Applaus; allerdings gab es auch einige Buhrufe von den ungestümeren Zuhörern. Vielleicht tue ich ihnen Unrecht; möglicherweise waren sie wirklich musikalisch. Dann ging der Vorhang auf. Ort der Handlung war der Dorfplatz von Tatterloch um 1860. Die Heldin tritt auf und liest die Postkarten in der Morgenpost. Sie findet ei nen Brief an den jungen Landedelmann und beginnt prompt zu singen. 21
Sarahs Auftrittsarie war nicht ganz so arg wie die Ou vertüre, aber immer noch schlimm genug. Zum Glück hörten wir nur die ersten Takte ... Richtig. Es ist unwichtig, wie Kendall den erfinde rischen Fenton dazu überredet hatte - falls der Erfinder überhaupt begriff, wozu sein Apparat verwendet werden
sollte. Ich kann nur sagen, daß es sich um eine wirklich überzeugende Demonstration handelte. Plötzliche, voll kommene Stille legte sich über den Raum, und Sarah Stempel agierte wie in einem TV-Programm, wenn man den Ton abschaltet. Wir blieben alle regungslos sitzen, während sich die Lippen der Sängerin weiterhin lautlos bewegten. Dann begriff auch sie, was geschehen war. Sie riß den Mund auf - unter normalen Umständen hätten wir jetzt einen gellenden Schrei vernommen - und floh durch herumflatternde Postkarten in die Kulissen. Danach setzte ein unwahrscheinliches Chaos ein. Ei nige Minuten lang nahm jeder an, daß er taub geworden sei, aber bald konnten alle dem Verhalten der Nachbarn entnehmen, daß der Verlust nicht ihn allein betreffen konnte. Irgendwer aus dem physikalischen Institut muß sehr rasch begriffen haben, was wirklich gespielt wurde, denn binnen kurzem schrieben die V.I.P.s. in der ersten Reihe einander kurze Mitteilungen. Der Vize-Schatzmei ster versuchte, die Ordnung mittels Zeichensprache wie derherzustellen, indem er krampfhaft von der Bühne aus winkte. Doch da lachte ich schon Tränen und konnte nicht mehr auf Details achten. Die einzige Lösung war, die Halle zu verlassen, was wir alle möglichst schnell taten. Kendall war geflohen - er war von der Wirkung der Erfindung so beeindruckt, daß er sogar vergaß, sie abzuschalten. Er wollte nicht bleiben, weil er Angst davor hatte, gelyncht zu werden. Was je doch Fenton betrifft, so werden wir leider nie erfahren, wie es ihm erging. Wir können die nächsten Ereignisse nur nach den noch vorhandenen Beweisen rekonstruieren. 22
Ich nehme an, daß er gewartet hat, bis die Halle leer war, und dann hineingeschlichen ist, um den Apparat abzuschalten. Die Explosion war im ganzen College zu hören.« »Die Explosion?« fragte jemand entsetzt. »Natürlich. Mich schaudert jetzt noch, wenn ich daran denke, wie knapp wir alle davongekommen sind. Noch ein Dutzend Dezibel, noch ein paar Phon - und sie hätte sich ereignet, während das Theater noch gedrängt voll war. Wenn Sie wollen, können Sie es dem unerforschli chen Wirken der Vorsehung zuschreiben, daß die Explo sion nur den Erfinder tötete. Vielleicht war es ohnehin das Beste für ihn: Er starb in dem Augenblick, in dem er sein Ziel erreicht hatte, und bevor der Dekan ihn in die Finger bekam.« »Hören Sie mit den Moralpredigten auf, Mann! Was geschah?« »Wie ich Ihnen schon gesagt habe, waren Fentons theoretische Kenntnisse eher dürftig. Wenn er den Schalldämpfer mathematisch berechnet hätte, wäre er auf seinen Fehler gekommen. Die Schwierigkeit besteht nämlich darin, daß man Energie nicht vemichten kann. Nicht einmal dann, wenn die Wellenbewegungen einan der aufheben. Es führt nur dazu, daß die Energie, die Sie neutralisieren, sich anderswo ansammelt. Ungefähr so, als würden Sie den gesamten Schmutz in einem Raum zu einem häßlichen Häufchen unter einen Teppich zusam menfegen. Wenn Sie den Apparat theoretisch analysieren, werden Sie feststellen, daß er weniger ein Schalldämpfer als ein Schallsammler war. Solange er eingeschaltet war, absor bierte er eigentlich Schallenergie. Und bei dieser Auffüh rung wurde er sicherlich voll beansprucht. Falls Sie sich jemals eine Partitur von Edward England angesehen ha ben, wissen Sie, was ich meine. Dazu kam natürlich noch der Lärm, den die Zuschauer während der Panik mach 23
ten - oder eigentlich zu machen versuchten. Die Ge samtmenge an Energie muß ungeheuer gewesen sein, und der arme Schalldämpfer saugte sie widerspruchslos auf. Wohin verschwand sie? Ich kenne den Schaltplan nicht genau, aber ich nehme an, in die Kondensatoren des Netzteils. Als Fenton daran herummanipulierte, glich der Schalldämpfer bereits einer scharfgemachten Bombe. Das Geräusch seiner näherkommenden Schritte war das auslösende Element, und der Apparat war überfordert. Er flog in die Luft.«
Einen Augenblick lang sprach niemand ein Wort, viel leicht aus Achtung für den verstorbenen Mr. Fenton. Dann drängte sich Eric Maine, der in den letzten zehn Minuten in einer Ecke über seinen Berechnungen gebrü tet hatte, durch den Ring der Zuhörer. Er hielt Purvis kampflustig ein Platt Papier entgegen. »He!« sagte er. »Und ich hatte doch recht! Das Ding konnte nicht funktionieren! Die Relation zwischen Pha sen und Amplitude ...« Purvis brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Genau das habe ich soeben erklärt«, erwiderte er ge duldig. »Sie hätten mir zuhören sollen. Leider wurde auch Fenton erst durch die Erfahrung klug- sozusagen.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. Aus irgendeinem Grund schien er es jetzt eilig zu haben. »Du meine Güte! Die Zeit verrinnt. Erinnern Sie mich nächstens einmal daran, Ihnen zu erzählen, was für au ßergewöhnliche Dinge wir mit dem neuen Protonenmi kroskop entdeckt haben. Diese Geschichte ist noch er staunlicher.« Er war schon beinahe zur Tür hinaus, bevor jemand eine Frage stellen konnte. Dann fand George Whitley die Sprache wieder. »Hören Sie mal«, rief er verwirrt. »Wieso haben wir nie etwas davon erfahren?« 24
Purvis hielt auf der Schwelle kurz an; seine Pfeife bro delte jetzt heftig. Er drehte sich halb um. »Es gab keine andere Möglichkeit«, antwortete er. »Wir wollten einen Skandal vermeiden - de mortuis nil nisi bo num, Sie wissen ja. Und finden Sie nicht auch, daß es un ter diesen Umständen richtig war, die ganze Sache zu vertuschen? Eine recht gute Nacht Ihnen allen!«
25
Großwildjagd
O b w o h l wir uns alle darüber einig waren, daß Harry Purvis als Geschichtenerzähler unter den Gästen des
>Weißen Hirschen< einsame Spitze war (wenn auch ei nige vermutlich leicht übertrieben waren), heißt das nicht, daß es keine Herausforderer gab. Gelegentlich
wurde er sogar in den Schatten gestellt. Da es immer sehr unterhaltsam ist zuzusehen, wie ein Experte eine Nieder lage einsteckt, gestehe ich, daß ich mich gern daran erin nere, wie Professor Hinckelberg Harry auf dessen urei genstem Gebiet schlug. Im Lauf des Jahres kommen viele hier auf Besuch wei lende Amerikaner in den >Weißen HirschWeißen Hirschen< führenden Seitenstraßen gelotst hatte, aber erstaunli cherweise waren die Stoßstangen intakt. Er war ein gro ßer, hagerer Mann mit knochigem Gesicht, der typische 26
wettergegerbte Pionier des Wilden Westens, dessen her vorstechendstes Merkmal die ungemein langsame Sprechweise ist. Letzteres Merkmal traf jedoch nicht auf Professor Hinckelberg zu. Er konnte reden wie eine LP auf einem Achtundsiebziger-Plattenteller. Nach etwa zehn Sekunden wußten wir, daß er ein auf Urlaub be findlicher Zoologe von einem College in Nord-Virginia war, daß er dem Amt für Meeresforschung zugeteilt war,
und zwar im Rahmen eines Projekts, das sich mit Plank ton beschäftigte, daß er von London begeistert war und sogar englisches Bier mochte, daß er durch einen Leser brief in Science von unserer Existenz erfahren, aber nicht geglaubt hatte, daß es uns wirklich gab, daß Stevenson o.k. war, daß die Demokraten aber lieber Winston (Chur chill) importieren sollten, wenn sie die Absicht hätten, die nächsten Wahlen zu gewinnen, daß er gerne wüßte, was, zum Teufel, mit unseren Telefonzellen los war und ob er den Haufen Kupfermünzen zurückbekomme'n konnte, um den sie ihn bereits gebracht hatten, daß seiner Mei nung nach zu viele leere Gläser herumstanden ... »- und wie wäre es, wenn wir sie alle nachfüllen, Jungs?« Die Schocktaktik des Professors fand allgemeine Zu stimmung, aber als er kurz Luft holte, sagte ich mir: »Harry sollte sich in acht nehmen. Dieser Kerl kann ei nem ein Loch in den Bauch reden.« Ich warf Purvis, der in meiner Nähe saß, einen Blick zu und bemerkte, daß er die Lippen zusammengepreßt hatte. Daraufhin lehnte ich mich behaglich zurück und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Da es ein gut besuchter Abend war, dauerte es eine Weile, bevor Professor Hinckelberg jedem vorgestellt war. Harry, der für gewöhnlich scharf darauf war, Be rühmtheiten kennenzulernen, hielt sich eher beiseite. Schließlich stellte ihn jedoch Arthur Vincent, der als inof fizieller Club-Sekretär fungiert und darauf achtet, daß sich auch jeder ins Gästebuch einträgt. 27
»Ich bin davon überzeugt, daß Sie und Harry viel mit einander zu besprechen haben«, sagte Arthur voll un schuldiger Begeisterung. »Sie sind doch beide Wissen schaftler, nicht wahr? Und Harry hat einige ganz außer gewöhnliche Erlebnisse gehabt. Erzähl doch dem Profes sor, wie du damals diesen U 235 in deinem Briefkasten gefunden hast . . . « »Ich glaube nicht«, wehrte Harry etwas zu hastig ab, »daß Professor ... ah ... Hinckelberg an meinem kleinen Abenteuer interessiert ist. Er hingegen kann uns sicher lich eine Menge erzählen.« Ich habe seither oft über diese Antwort nachgedacht. Sie paßte gar nicht zu Purvis. Für gewöhnlich reagierte er auf eine solche Eröffnung augenblicklich mit einem Ge genangriff. Vielleicht wollte er den Feind beobachten, darauf warten, daß der Professor den ersten Fehler be ging, und ihm dann den Gnadenstoß versetzen. Wenn das zutraf, dann hatte er den anderen falsch eingeschätzt. Purvis bekam nie mehr eine Chance, denn Professor Hinckelberg startete wie ein Düsenjet und war sofort voll in Fahrt. »Komisch, daß Sie das erwähnen«, meinte er. »Ich habe gerade einen sehr merkwürdigen Fall erlebt. Es handelt sich um ein Ereignis, das man in einer Fachzeit schrift besprechen kann, und Sie geben mir Gelegenheit, es mir von der Seele zu reden. Ich habe nicht oft die Mög lichkeit dazu, wegen dieser verdammten Geheimhal tungspflicht, aber bis jetzt hat noch niemand daran ge dacht, Dr. Grinnells Experimente als streng geheim zu bezeichnen, deshalb werde ich darüber sprechen, solange es möglich ist.« Anscheinend war Grinnell einer der vielen Wissen schaftler, die versuchen, die Arbeitsweise des menschli chen Nervensystems mit elektrischen Schaltungen dar zustellen. Wie Grey Walter, Shannon und andere hatte er zunächst Modelle entworfen, die einfache Handlungen 28
von Lebewesen nachahmen konnten. Sein größter Erfolg auf diesem Gebiet war eine mechanische Katze gewesen, die Mäuse jagen und auf den Füßen landen konnte, wenn man sie fallen ließ. Er hatte sich jedoch sehr bald einem anderen Aufgabengebiet zugewandt, weil er die >Nerven induktion1984< von Orwell gelesen und konn te mir deshalb sehr gut vorstellen, welche Möglichkeiten ein solcher Apparat dem Großen Bruder eröffnen wür de. Da ich viel zu tun hatte, vergaß ich die Geschichte bei nahe ein Jahr lang vollkommen. Inzwischen hatte Grin nell seine Vorrichtung anscheinend wesentlich verbessert und war zu Experimenten mit komplizierteren Organis men übergegangen, obwohl er sich aus technischen Gründen auf Wirbellose beschränkte. Er verfügte jetzt über ein ansehnliches Arsenal an >BefehlenWir gehen auf Großwildjagd.< Die Vorbereitungen dauerten ein weiteres Jahr, und ich nehme an, daß Jackson - der es immer eilig hatte - am Ende schon sehr ungeduldig war. Aber schließlich war alles bereit. Grinnell verschwand mit seinen geheimnis vollen Kisten in Richtung Afrika. Das war Jacksons Werk. Wahrscheinlich wollte er nicht, daß die öffentlichkeit zu früh informiert wurde, was durchaus verständlich ist, wenn man bedenkt, was für ein eher phantastisches Ziel sich die Expedition ge setzt hatte. Die Hinweise, die wir erhalten hatten - wir erkannten erst später, daß sie uns auf eine falsche Spur führen sollten -, besagten, daß er die Absicht hatte, mit Hilfe von Grinnells Apparat außergewöhnliche Fotos von Tieren auf freier Wildbahn zu schießen. Mir leuchtete das Ganze nicht recht ein, es sei denn, daß es Grinnell gelun gen wäre, seine Vorrichtung mit einem Sender zu kop peln. Es war kaum anzunehmen, daß er seine Drähte und
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Elektroden an einem angreifenden Elefanten befestigen konnte ... Natürlich war das auch ihnen klar gewesen und natür lich kommt uns heute die Lösung selbstverständlich vor. Meereswasser ist ein guter elektrischer Leiter. Sie waren gar nicht nach Afrika unterwegs, sondern auf dem offe
nen Atlantik. Aber sie hatten uns nicht angelogen, sie be fanden sich tatsächlich auf Großwildjagd. Auf der Jagd nach dem größten Wild, das es gibt. Wir hätten nie erfahren, was sich da draußen ereignet hat, wenn ihr Funker sich nicht mit einem Amateurfun ker in den Vereinigten Staaten, mit dem er befreundet war, unterhalten hätte. Aus seinen Kommentaren kann man den Ablauf der Ereignisse rekonstruieren. Jacksons Schiff - eine kleine Jacht, die er billig gekauft und für die Expedition umgebaut hatte - lag auf Höhe des Äquators in einiger Entfernung von der Westküste Afrikas ober halb der tiefsten Stelle des Atlantik. Grinnell angelte: Er hatte seine Elektroden in den Abgrund hinuntergesenkt, und Jackson wartete ungeduldig mit der Kamera. Sie warteten eine Woche, bis ihnen ein Fang glückte. Vermutlich waren sie schon einigermaßen nervös. Dann begannen am Nachmittag eines völlig windstillen Tages Grinnells Anzeigegeräte anzusprechen. Etwas war in den Einflußbereich der Elektroden geraten. Langsam hievten sie das Kabel hoch. Bis dahin hatte die Mannschaft sie bestimmt für verrückt gehalten, aber als der Fang über tausende Meter zur Oberfläche empor stieg, waren alle gleichermaßen aufgeregt. Wer kann es dem Funker verdenken, daß er trotz Jacksons Befehl das Bedürfnis hatte, mit einem Freund, der sich auf dem Fest land in Sicherheit befand, über das Geschehene zu spre chen? Ich versuche nicht zu beschreiben, was sie sahen, denn ein Meister hat es vor mir getan. Kurz nachdem der Be richt eingetroffen war, nahm ich mein Exemplar von 32
Moby Dick aus dem Regal und las den betreffenden'Ab satz nach; ich kann ihn immer noch aus dem Gedächtnis /itieren und werde ihn wahrscheinlich nie vergessen. Er lautet ungefähr so: >Eine ungeheure, schwammige Masse, eine Achtel meile in der Länge und Breite, von leuchtend milchwei ßer Farbe, lag schwimmend auf dem Wasser. Zahllose lange Arme liefen von ihrem Mittelpunkt strahlenförmig nach allen Seiten auseinander, sich ringelnd und schlän gelnd wie ein Nest von Anakondas, als suchten sie völlig blind etwas zu greifen, was zufällig in ihre Reichweite kam.< Ja, Grinnell und Jackson waren auf der Jagd nach dem größten, geheimnisvollsten Geschöpf gewesen - dem Riesenkraken. Größten? Beinahe sicher: Bathyteuthis kann bis zu fünfunddreißig Meter lang werden. Er ist nicht so schwer wie die Pottwale, die ihn fressen, aber er steht ihnen in bezug auf Länge nicht nach. Da hatten sie also ihr ungeheuerliches Tier, das bis jetzt noch kein menschliches Wesen unter so idealen Bedin gungen erblickt hatte. Anscheinend ließ Grinnell es in al ler Ruhe alle möglichen Manöver ausführen, während Jackson begeistert Kilometer an Filmmaterial belichtete. Obwohl es doppelt so groß war wie ihr Schiff, befanden sie sich nicht in Gefahr. Für Grinnell war es einfach ein Weichtier, das er mit Hilfe seiner Schalter und Skalen wie einen Roboter steuerte. Wenn er mit seinen Experimen ten fertig war, wollte er es in seinen normalen Lebensbe reich zurückschicken, wo es davonschwimmen konnte, obwohl es wahrscheinlich einen leichten Kater haben würde. Was würde ich dafür geben, diesen Film zu besitzen! Ganz abgesehen von seinem wissenschaftlichen Wert würde er in Hollywood ein Vermögen einbringen. Sie müssen zugeben, daß Jackson genau wußte, was er tat: Er hatte begriffen, wo die Grenzen von Grinnells Erfindung 33
lagen und hatte sie so gut wie möglich genutzt. An dem, was dann geschah, trifft ihn keine Schuld.« Professor Hinckelberg seufzte und nahm einen kräfti gen Schluck von seinem Bier, als wolle er sich für das Ende seiner Erzählung stärken. »Nein, wenn man jemandem die Schuld anlasten kann, so ist es Grinnell. Eigentlich sollte ich sagen, so war es Grinnell, der arme Teufel. Vielleicht war er so aufgeregt, daß er eine Vorsichtsmaßnahme außer acht ließ, die er im Labor zweifellos ergriffen hätte. Wie kann man sonst er klären, daß er keine Reservesicherung zur Hand hatte, als im Stromaggregat eine durchbrannte? Natürlich kann man auch dem Bathyteuthis keinen Vorwurf machen. Wären Sie nicht auch verärgert, wenn man Sie so herumgeschubst hätte? Und als die Befehle plötzlich aufhörten und er wieder Herr seiner selbst war, sorgte er natürlich dafür, daß er es auch blieb. Ich frage mich manchmal, ob Jackson bis zum Schluß gefilmt hat ...«
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Patent angemeldet
E s gibt kein Thema, über das in der Bar des >Weißen
Hirschen< nicht irgendwann diskutiert worden ist - und es spielt überhaupt keine Rolle, ob Damen anwesend sind oder nicht. Schließlich kommen sie auf eigene Ge fahr hin. Dabei fällt mir ein, daß drei von ihnen dort Ehemänner gefunden haben. Vielleicht sind die Gefähr deten also gar nicht sie ... Das erwähne ich nur, damit Sie nicht annehmen, daß alle unsere Gespräche hochgelehrt und streng wissen schaftlich sind und wir uns nur mit geistigen Aktivitäten befassen. Obwohl Schach bevorzugt wird, werfen viele Stammgäste auch Wurfpfeile und spielen Domino. Einige Gäste bringen zwar das Times Literary Supplement, die Sa turday Review, den New Statesman und das Atlantic Monthly mit, aber die gleichen Leute sind ohne weiteres imstande, mit der letzten Ausgabe der Verblüffenden pseu dowissenschaftlichen Geschichten nach Hause zu gehen. In den dunkleren Ecken des Pub werden auch Geschäfte abgewickelt. Alte Bücher und Magazine wechseln oft zu astronomischen Preisen den Besitzer, und beinahe an jedem Mittwoch lehnen mindestens drei bekannte Bör senmakler an der Bar, rauchen dicke Zigarren und tau schen mit Drew Geschichten aus. Von Zeit zu Zeit zeigt schallendes Gelächter die Pointe einer Anekdote an und führt zu eifrigen Fragen anderer Kunden, die befürchten, etwas versäumt zu haben. Leider verbietet mir mein Feingefühl, diese interessanten Geschichten hier wieder zugeben. Im Gegensatz zu beinahe allem, was es auf die ser Insel gibt, eignen sie sich nicht für die Ausfuhr. Zum Glück gilt diese Einschränkung nicht für die Er 35
zählungen von Harry Purvis, Bakkaleaurus der Natur wissenschaften (mindestens), Doktor der Philosophie (wahrscheinlich). Keine von ihnen würde die züchtigste Jungfrau erröten lassen, falls es so etwas heutzutage überhaupt noch gibt. Ich muß um Verzeihung bitten, denn diese Feststellung ist zu ungenau. Es gibt eine Geschichte, die in manchen Kreisen vielleicht als etwas gewagt empfunden wird. Ich zögere nicht, sie zu wiederholen, denn ich bin überzeugt, geschätzter Leser, daß Sie tolerant genug sind, nicht em pört zu sein. Es begann so: Ein berühmter Kritiker von der Fleet Street war von einem redegewandten Verleger in eine Ecke gedrängt worden. Der Verleger war im Begriff, ein Buch herauszubringen, auf das er große Hoffnungen setzte. Es handelte sich um eine der reiferen literarischen Produktionen aus dem tiefen, dekadenten Süden, ein ausgezeichnetes Beispiel für die Richtung: »Und dann schwankte das Haus wieder, als die Termiten den Süd
flügel endgültig unterminiert hatten.« Irland hatte es be reits auf den Index gesetzt, aber das ist eine Ehre, der heutzutage nur wenige Bücher entgehen und kann daher kaum als Auszeichnung gewertet werden. Wenn man je doch eine führende englische Zeitung dazu bringen konnte, entschieden für ein Verbot des Buches einzutre ten, würde es über Nacht zum Bestseller werden. Soweit die Überlegungen des Verlegers, der seine ganze Trickkiste auspackte, um den Kritiker zur Koopera tion zu überreden. Um etwaige Skrupel des kritisierenden Freundes auszuräumen, bemerkte er gerade: »Natür lich nicht. Wenn sie es verstehen, können sie ohnehin nicht mehr korrumpiert werden.« Und dann sagte Harry Purvis, der über die unheimliche Fähigkeit verfügt, einem halben Dutzend Gesprächen gleichzeitig zuzuhören, so daß er sich zur richtigen Zeit in die richtige Unterhaltung einschalten kann, mit seiner besonders durchdringenden 36
und nicht zu übertönenden Stimme: »Zensur führt zu sehr schwierigen Problemen, nicht wahr? Ich habe immer behauptet, daß der Zivilisationsgrad eines Landes in um gekehrtem Verhältnis zu dem Druck steht, der auf seine Presse ausgeübt wird.« Eine Stimme mit amerikanischem Akzent warf aus dem Hintergrund ein: »Dann ist also Paris eine zivilisier tere Stadt als Boston.« »Genau«, erwiderte Purvis. Dann wartete er auf eine Antwort. »O.K.«, stimmte die Stimme Amerikas sanft zu. »Ich will nicht streiten, ich wollte mich nur vergewissern.« »Fahren wir also fort!« sagte Purvis und befolgte sofort seinen eigenen Befehl. »Es handelt sich um einen Fall, mit dem sich die Zensur zwar noch nicht befaßt hat, es
aber sicherlich bald tun wird. Es begann in Frankreich und hat sich bis jetzt auf dieses Land beschränkt. Wenn es einmal öffentlich bekannt wird, wird es vielleicht grö ßere Auswirkungen auf unsere Zivilisation haben als eine Atombombe. Wie die Atombombe ist es die Folge wissenschaftlicher Forschungen. Man darf die Wissenschaft nie unterschät zen, meine Herren! Meiner Meinung nach führt jede For schung, sei sie noch so theoretisch oder so weltfremd, ei nes Tages zu einem Ergebnis, das die Welt erschüttert. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, daß die Geschichte, die ich Ihnen erzählen werde, ausnahmsweise aus zweiter Hand stammt! Ich habe sie vergangenes Jahr von einem Kollegen an der Sorbonne gehört, als ich dort an einem wissenschaftlichen Kongreß teilnahm. Deshalb sind alle Namen frei erfunden; er nannte sie mir damals, aber ich kann mich nicht mehr genau an sie erinnern. Professor Julian war Professor für Experimentalphysio logie an einer kleinen, aber nicht schlecht dotierten fran zösischen Universität. Vielleicht erinnern sich einige von Ihnen an die ziemlich unwahrscheinliche Geschichte, die 37
uns dieser Herr Hinckelberg vergangene Woche erzählt
hat - über seinen Kollegen, der das Verhalten der Tiere steuern konnte, indem er ihnen die richtigen elektrischen Ströme ins Gehirn sandte. Also, wenn auch nur ein Fünkchen Wahrheit in dieser Geschichte steckt - was ich bezweifle -, wurde das ganze Projekt wahrscheinlich durch Julians Artikel in Compte Rendus ausgelöst. Seine beachtlichsten wissenschaftlichen Erkenntnisse veröffentlichte Professor Julian jedoch nie. Wenn man über etwas wirklich Außergewöhnliches stolpert, läßt man es nicht sofort drucken. Man wartet, bis man über wältigendes Beweismaterial gesammelt hat - außer man befürchtet, daß jemand auf dem gleichen Gebiet arbeitet. Dann gibt man einen zweideutigen Bericht heraus, durch den man später seine Priorität untermauern kann, ohne jedoch vorläufig zu viel zu verraten - wie das berühmte Kryptogramm Huygens', als er die Saturnringe entdeck te. Sie fragen sich bestimmt, worum es sich bei Julians Entdeckung handelte, und ich will Sie nicht auf die Folter spannen. Es war einfach die Weiterentwicklung einer Kunst, die vor hundert Jahren einsetzte. Zuerst ermög lichte uns die Kamera, einzelne Szenen festzuhalten. Dann erfand Edison den Phonographen, und wir be herrschten den Ton. Heute besitzen wir im Tonfilm eine Art von mechanischem Gedächtnis, das für unsere Vor fahren unvorstellbar war. Aber dabei kann es nicht blei ben. Die Wissenschaft muß einmal fähig sein, Gedanken und Gefühle aufzuzeichnen und zu speichern, und sie dann in den Geist zurückzuspielen, so daß sie jede Erfah rung, wann und so oft sie will, bis ins letzte Detail wie derholen kann.« »Das ist ein alter Hut!« schnaubte jemand. »Denken Sie nur an die >feelies< in Tapfere neue Welt!« »Alle guten Ideen wurden schon von jemandem ge dacht, bevor sie verwirklicht wurden«, wies ihn Purvis 38
streng zurecht. »Aber wovon Huxley und die anderen nur gesprochen haben, das hat Julian verwirklicht. Natürlich erfolgt es auf elektronischem Weg. Sie wis sen alle, daß ein Enzephalograph die schwachen elektri schen Impulse im Gehirn aufzeichnen kann - die soge nannten Gehirnströme, wie sie die Zeitungen nennen. Bei Julians Erfindung handelte es sich um eine verfeinerte Ausführung dieses bekannten Apparats. Und sobald er die Gehirnimpulse aufgezeichnet hatte, konnte er sie zu rückspielen. Klingt einfach, nicht? Das war der Phono graph auch, und doch mußte erst das Genie Edison
kommen, um ihn zu erfinden. Und jetzt kommt der Bösewicht ins Spiel. Na ja, das ist vielleicht ein zu starker Ausdruck, denn Professor Julians Assistent Georges - Georges Dupin - ist in Wirklichkeit ein sehr sympathischer Mensch. Da er jedoch ein wesent lich praktischer denkender Franzose als der Professor ist, erkannte er sofort, daß dieses Laborspielzeug etliche Mil liarden Francs einbringen konnte. Zunächst mußte er über das Laborstadium hinaus kommen. Die Franzosen verstehen zweifellos etwas von eleganter Formgebung, und nach einigen Wochen Arbeit - unter voller Kooperation des Professors - hatte Georges es geschafft, den Rückspielteil des Apparates in einem Gehäuse unterzubringen, das nicht größer war als ein Fernsehapparat und auch kaum mehr elektronische Be standteile enthielt. Dann war Georges zum ersten Experiment bereit. Es würde zwar sehr viel kosten, aber, wie jemand sehr rich tig bemerkte, man kann kein Omelette machen, ohne Eier zu zerschlagen. Ich halte dies für einen ausgezeichneten Vergleich. Denn Georges suchte den berühmtesten Gourmet Frankreichs auf und machte ihm einen interessanten Vorschlag, den der große Mann nicht ablehnen konnte, weil er einen einmaligen Tribut an seine Spitzenstellung 39
darstellte. Georges erklärte geduldig, daß er einen Appa rat erfunden habe, mit dem er Gefühle registrieren konnte (vom Speichern sprach er nicht). Würde ihm Monsieur le Baron im Dienste der Wissenschaft und zur Ehre der französischen Küche gestatten, die Gefühle, die feinen Nuancen der Geschmacksempfindungen aufzu zeichnen, die sich in seinem Nervensystem abspielten, wenn er seine unvergleichlichen Talente einsetzte? Mon sieur konnte selbst das Restaurant, den chef de cuisine und die Speisenfolge bestimmen - alles würde seinen Wün schen gemäß geregelt werden. Natürlich, falls er keine Zeit hätte, dann müßte man sich eben an den bekannten Epikuräer Graf ... Der Baron, der in mancher Beziehung ein überra schend grober Mann war, gebrauchte ein Wort, das man in den meisten französischen Lexika nicht findet. >Dieser cretin!< explodierte er. >Wenn Sie ihm englische Küche vorsetzen, ist er schon glücklich. Nein, ich tue es.< Er
machte sich sofort daran, das Menü zusammenzustellen, während Georges besorgt die Kosten der einzelnen Gänge schätzte und sich fragte, ob sein Bankkonto dieser Belastung gewachsen war. Ich würde gerne wissen, was der chef de cuisine und die Kellner von der ganzen Geschichte hielten. Der Baron saß an seinem Lieblingstisch, aß seine Lieblingsspeisen und ließ sich nicht im geringsten durch die Drähte stören, die von seinem Kopf zu der Höllenmaschine in der Ecke führten. Außer dem Baron waren keine weiteren Gäste anwesend, denn Georges wollte um jeden Preis vorzei tige Publicity vermeiden. Diese Maßnahme hatte die be reits erheblichen Kosten des Experiments noch beträcht lich erhöht. Georges konnte nur hoffen, daß das Resultat den Einsatz wert war. Seine Hoffnung erfüllte sich. Wir könnten es allerdings nur beweisen, indem wir Georges >Aufzeichnung< ab spielen. Daher müssen wir ihm aufs Wort glauben, wenn 40
auch allgemein bekannt ist, daß Worte in solchen Pällen unzulänglich sind. Der Baron war ein echter connaisseur und nicht jemand, der sich eines Unterscheidungsver mögens rühmt, das er gar nicht besitzt. Sie kennen Thur bers Ausspruch: >Nur ein naiver, einheimischer Burgun der, aber Sie werden seine Vermessenheit bewundern.< Der Baron hätte beim ersten Schluck erkannt, ob er ein heimisch war oder nicht. Soviel ich weiß, erfüllte diese Aufzeichnung Georges' Hoffnungen, obwohl sie nicht nur für seinen persönli chen Gebrauch bestimmt war. Sie eröffnete ihm neue Welten und trug zur Klärung der Ideen bei, die sein er finderisches Gehirn ausbrütete. Es gab keinen Zweifel: alle exquisiten Gefühle, die der Geist des Barons wäh rend des lukullischen Mahls empfunden hatte, waren eingefangen geworden, so daß jeder Beliebige in die Lage versetzt wurde, sie nachzuvollziehen, auch wenn er ein vollkommener Laie auf diesem Gebiet war. Denn die Aufzeichnung betraf ausschließlich die Empfindungen, der Verstand hatte überhaupt nichts damit zu tun. Der Baron hatte ein Leben lang üben und lernen müssen, um diese Gefühle zu erleben. Aber sobald sie auf Band fest gehalten waren, konnte auch der geschmackloseste Mensch sie übernehmen. Denken Sie an die einmaligen Möglichkeiten, die Ge orges vor sich sah. Es gab noch so viele Mahlzeiten, so viele Gourmets. Es gab die gesammelten Eindrücke aller hervorragenden Weinjahrgänge in Europa - connaisseurs würden jeden Betrag für sie bezahlen. Wenn die letzte Flasche eines einmaligen Tropfens geleert war, konnten seine Geschmacksmerkmale aufbewahrt werden, so wie man die Stimme der Melba noch nach Jahrhunderten hö ren wird. Denn eigentlich ging es nicht um den Wein selbst, sondern um das Gefühl, das er hervorrief. Das waren Georges' Überlegungen. Und dabei war es erst der Anfang. Die Franzosen behaupten von sich, logi 41
sche Denker zu sein, was ich oft bestritten habe, aber in Georges' Fall kann ich dem nur zustimmen. Er dachte ein paar Tage lang über den ganzen Problemkreis nach, .dann suchte er seine petite arnie auf. >Yvonne, ma cherieich habe eine etwas ungewöhnliche Bitte an dich!Captain Zoom»Captain Zoom