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Einen Querschnitt, eine Auswahl des Besten aus der »Phantastischen Bibliothek« bietet dieser Jubiläumsband, der 100. der »Phantastischen Bibliothek«. Während die Science-fiction mit der Ratio konstruiert, leuchtet die Phantastik die Abgründe der menschlichen Psyche aus. Zwei Autoren sind hervorragende Vertreter ihrer jeweiligen Richtung: Stanislaw Lem, für den die Literatur eine Werkstatt ist, ein Versuchslabor; und H. P. Lovecraft, der zurückgezogen lebende Amerikaner, der nicht weniger an der Wissenschaft interessiert war, aber sie benutzte, um den Menschen das Ausmaß ihres Unwissens zu zeigen und sie in eine Finsternis der Vernunft zu stoßen, in der unser Wissen lediglich ein blasses Flämmchen ist. Beide Autoren sind auf ihre Art typische »Gehirntiere« im Sinne Arno Schmidts. Sie setzen die Maßstäbe, denen die »Phantastische Bibliothek« verpflichtet ist. Dazu die anderen Autoren: H. W. Franke, der nüchterne Wissenschaftler und zuweilen doch surrealistische Phantast, die obsessiven Bilderträumer J. G. Ballard und Cordwainer Smith, der frisch schreibende Peter Schattschneider in der Science-fiction; E. A. Poe, Algernon Blackwood, Ambrose Bierce, M. R. James, Stefan Grabinski als Meister gefinkelten Grauens.
Phantastische Träume
Phantastische Bibliothek Band 100 Herausgegeben von Franz Rottensteiner
Suhrkamp
Redaktion und Beratung: Franz Rottensteiner Umschlagzeichnung von Hans Ulrich und Ute Osterwalder
Scanned by Doc Gonzo Diese digitale Version ist FREEWARE und nicht für den Verkauf bestimmt
suhrkamp taschenbuch 954 Erste Auflage 1983 © dieser Zusammenstellung Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1983 Quellen- und Ubersetzungshinweise am Schluß des Bandes Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Satz: LibroSatz, Kriftel Druck: Ebner Ulm • Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt 1 2 3 4 5 6 - 88 87 86 85 84 83
Inhalt Stanislaw Lem Die Verdoppelung 6 J. G. Ballard Erinnerungen an das Raumfahrtzeitalter 47 Johanna Braun, Günter Braun Limbdisten 90 Herbert W. Franke Der Atem der Sonne 100 Peter Schattschneider Die Jez'r-Fragmente 137 Cordwainer Smith Das ausgebrannte Gehirn 183 Vladimir Colin Die letzte Verwandlung des Tristan 197 H. P. Lovecraft Die Farbe aus dem All 229 Jean Ray Der Friedhofswächter 271 Edgar Allan Poe William Wilson 283 Ambrose Bierce Einer von den Vermißten 314 Josef Nesvadba Die zweite Insel des Doktor Moreau 330 Stefan Grabinski Das Gebiet 343 Fitz-James O'Brien Die Diamantlinse 356 Algernon Blackwood Die Weiden 389 Lord Dunsany Der Gibbelin-Hort 466 Bernd Ulbrich Ein Gott hat geweint 473 Nachwort 499 Quellen- und Übersetzungshinweise 505
Über die Autoren 507
Zur Phantastischen Bibliothek 510
Stanislaw Lem Die Verdoppelung Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn ich wenigstens sagen könnte: »Es steht schlecht um mich«, wäre es nur halb so schlimm. Ich kann auch nicht sagen: »Es steht schlecht um uns«, weil ich nur zum Teil über meine eigene Person sprechen kann, obwohl ich weiterhin Ijon Tichy bin. Seit langem pflege ich beim Rasieren laut zu sprechen, jetzt aber mußte ich darauf verzichten, weil mich das linke Auge durch ein boshaftes Zwinkern daran stört. Solange ich im LEM steckte, legte ich mir keine Rechenschaft darüber ab, was unmittelbar vor dem Start geschehen war. Dieser LEM hatte nichts mit dem amerikanischen Dreifuß gemein, mit dem die NASA Armstrong und Aldrin auf den Mond geschickt hatte, um von dort ein paar Steine zu holen. Er trug bloß denselben Namen, um meine Mission zu tarnen. Der Teufel hat bei dieser Mission die Hand im Spiel gehabt. Nach der Rückkehr vom Sternbild des Großen Kalbes hatte ich mir vorgenommen, zumindest ein Jahr lang nirgendwohin zu fliegen. Ausschließlich zum Wohle der Menschheit willigte ich ein, wieder einen Flug zu unternehmen. Es war mir klar, daß ich dabei riskierte, nicht mehr zurückzukehren. Doktor Lopez rechnete aus, meine Chancen stünden eins zu zwanzig und acht Zehntel. Das hat mich nicht abgeschreckt, ich bin nun mal ein Wagehals. Mag kommen, was da will. Entweder ich kehre zurück oder nicht, sagte ich mir. Ich kam nicht auf die Idee, daß ich zurückkehren kann, obwohl ich nicht zurückkehren werde, weil wir zurückkehren werden. Um dies zu erklären, muß ich einige Angelegenheiten der höchsten Geheimhaltungsstufe verraten, aber das ist mir schnuppe. Das heißt - teilweise schnuppe. Schreiben kann ich ja auch nur teilweise, mit großer Mühe, ich tippe nur mit der rechten Hand, die linke mußte ich an die Stuhllehne anbinden, weil sie dagegen war. Sie riß das Papier 6
aus der Maschine, ließ sich durch keine Argumente beschwichtigen, und beim Festbinden schlug sie mir ein Auge blau. Das ist eine Folge der Verdoppelung. Jeder hat zwei Gehirnhälften im Kopf, die durch den Balken (lateinisch: corpus callosum) miteinander verbunden sind. Zweihundert Millionen weißer Nervenfasern verbinden das Gehirn, damit es seine Gedanken zusammennehmen kann, aber nicht mehr bei mir. Ein Schnitt – schwupp! – und alles war vorbei. Und es gab nicht einmal einen Schnitt, sondern bloß das Versuchsgelände, auf dem die Mondroboter ihre neuen Waffen ausprobierten. Dabei bin ich ihnen zufällig über den Weg gelaufen. Ich hatte meine Aufgabe schon ausgeführt, diese kalten Geschöpfe ausgetrickst und war bereits auf dem Rückweg zum LEM, als ich das Bedürfnis verspürte, Pipi zu machen. Auf dem Mond gibt es keine Klos. Im Vakuum wären sie übrigens zu nichts nutze. Man trägt bei sich im Raumanzug einen Behälter, wie ihn Aldrin und Armstrong hatten. Pinkeln kann man also an jedem Ort und zu jeder Zeit, aber ich genierte mich. Ich bin, genauer gesagt, ich war zu kultiviert - in der prallen Sonne, inmitten des Mare Serenitatis schickte sich das einfach nicht. Etwas weiter ragte ein großer einsamer Felsen empor, ich ging also dorthin, in den Schatten des Felsens. Woher hätte ich wissen sollen, daß dort schon das Ultraschallfeld wirksam war. Als ich mich erleichterte, verspürte ich plötzlich im Kopf ein kurzes Knacksen. Nicht etwa im Nacken, was ja vorkommt, sondern etwas höher. In der Mitte des Schädels. Das war eben die ferngelenkte integrale Kallotomie. Es schmerzte gar nicht, nur war mir etwas mulmig zumute, aber auch das ging schnell vorbei, und ich begab mich zum LEM. Es stimmt, ich hatte das Gefühl, daß alles irgendwie verändert war, ich selbst auch. Ich schrieb dies jedoch der nach so vielen Erlebnissen nur allzu verständlichen Erregung zu. Die rechte Hand wird von der linken Hemisphäre des Gehirns gelenkt. Deswegen sagte ich, daß ich nur teilweise 7
tippen kann. Die rechte Hemisphäre hat etwas dagegen, was daraus zu schließen ist, daß sie mich am Tippen stört. Das ist schrecklich verwirrend. Ich kann nicht sagen, daß ich etwas bin oder tue, sondern bloß meine linke Hirnhälfte. Mit der zweiten muß ich Kompromisse schließen, ich kann doch nicht ewig mit einer angebundenen Hand dasitzen. Ich habe versucht, die rechte Hirnhälfte auf verschiedene Weise zu besänftigen, aber vergeblich. Sie ist einfach unmöglich. Aggressiv, vulgär und arrogant. Ein Glück, daß sie nicht alles lesen kann. Nur bestimmte Redeteile: am besten die Substantive. So ist es immer, ich weiß es, weil ich schon eine Menge einschlägiger Bücher gelesen habe. Verba und Adjektive versteht sie nicht richtig, also muß ich, da sie darauf schaut, was ich tippe, mich so ausdrücken, daß ich sie nicht verärgere. Ob das gelingen wird, weiß ich nicht. Übrigens weiß niemand, warum die ganze gute Erziehung in der linken Hirnhälfte angesiedelt ist. Auf dem Mond hätte ich auch nur teilweise landen sollen, aber in einem ganz anderen Sinn, denn das war noch vor meinem Mißgeschick, das heißt, bevor ich noch verdoppelt war. Ich sollte um den Mond auf einer stationären Umlaufbahn kreisen, die eigentliche Erkundung war Sache meines Telematen. Er sah mir sogar ähnlich, nur daß er aus Kunststoff und mit Sensoren ausgestattet war. Ich saß also im LEM 1, und auf dem Mond landete LEM z mit dem Telematen. Diese Militärroboter haben eine Mordswut auf die Menschen, in jedem sind sie geneigt, einen Feind zu wittern. Das habe ich mir wenigstens sagen lassen. Leider funktionierte LEM z nicht, und deshalb entschloß ich mich, selber auf dem Mond zu landen, um nachzusehen, was mit ihm los war, denn die Verbindung war nicht völlig unterbrochen. Während ich im LEM 1 saß und LEM 2 nicht mehr spürte, spürte ich dennoch Bauchweh, wobei mein Bauch eigentlich nicht direkt schmerzte, sondern über das Radio, denn, wie es sich nach der Landung herausstellte, hatten die Roboter den Deckel von LEM 8
aufgebrochen, den Telematen herausgezogen und sich dann an LEMS Bauch herangemacht. Auf der Umlaufbahn konnte ich das Kabel nicht abschalten, denn wenn ich es getan hätte, hätten meine Bauchschmerzen zwar aufgehört, aber nach dem Verlust der letzten Verbindung mit meinem Telematen würde ich nicht wissen, wo ich ihn zu suchen habe. Das Mare Serenitatis, wo LEM 2 in die Falle geraten war, ist fast so wie die Sahara. Überdies kannte ich mich in den Kabeln nicht aus, denn obschon jedes eine andere Farbe hatte, gab es ihrer verdammt viele, die Instruktion zur Behebung von Schäden war mir irgendwo abhanden gekommen, und das Suchen nach ihr hatte mich, dem noch dazu der Bauch weh tat, so in Rage gebracht, daß ich, statt die Erde anzurufen, mich entschloß, zu landen, wenngleich man mich gewarnt hatte, dies auf keinen Fall zu tun, widrigenfalls ich mich nicht aus der Klemme ziehen könnte. Aber Rückzug – das widerspricht meiner Natur. Außerdem wollte ich LEM, obwohl er nur eine mit Elektronik vollgestopfte Maschine ist, nicht den Robotern zum Fraß vorwerfen. Wie ich sehe, wird die Sache, je mehr ich sie zu erklären versuche, desto unklarer. Also werde ich vom Anfang an beginnen. Allerdings weiß ich nicht, wie dieser Anfang war, die Erinnerung an ihn steckt vorwiegend in meiner rechten Hirnhälfte, und da mir jetzt der Zugang zu ihr abgeschnitten ist, kann ich meine Gedanken nicht recht sammeln. Ich schließe das aus der Tatsache, daß ich mich an eine Menge Dinge nicht erinnern kann, und um nur einiges über sie zu erfahren, muß ich meiner rechten Hand mit der linken solche Zeichen geben, wie sie in der Taubstummensprache gebräuchlich sind, aber nicht immer will sie mir antworten. Zum Beispiel macht sie das Zeichen für »ätsch, ätsch«, und das ist noch die höflichste Form, in der sie mir zu verstehen gibt, daß sie nicht einverstanden ist. Man kann kaum von mir erwarten, daß ich durch Gebärden 9
einer Hand die andere nicht nur ins Gebet nehme, sondern sie auch, um ihren Widerstand zu brechen, verhaue. Ich sage es offen und unverblümt: Vielleicht würde ich meiner eigenen Ex tremität einen tüchtigen Stoß verpassen, aber die Sache ist die, daß nur meine rechte Hand stärker ist als die linke. Die Füße sind in dieser Beziehung gleich und, was noch schlimmer ist, auf der kleinen Zehe des rechten Fußes habe ich seit langem ein Hühnerauge, was dem linken nicht verborgen blieb. Als damals im Autobus dieser Skandal passierte und ich die linke Hand mit Gewalt in die Tasche preßte, trat mir ihr Fuß aus Rache so fest auf das Hühnerauge, daß es mir vor den Augen flimmerte. Ich weiß nicht, ist das vielleicht eine Folge der durch meine Halbheit bedingten reduzierten Intelligenz, aber ich sehe, daß ich dummes Zeug schreibe. Der Fuß der linken Hand ist einfach der linke Fuß; es gibt Momente, da mein unglückseliger Körper in zwei feindliche Lager zerfällt. Ich mußte das Schreiben unterbrechen, weil ich versuchte, mir selbst einen Fußtritt zu versetzen. Das heißt, das linke Bein wollte dem rechten Fuß einen Tritt versetzen, also nicht mir wollte ich einen Kick verpassen, und nicht ich - zumindest nicht zur Gänze ich – war es, der den Kick verpassen wollte, aber die Grammatik paßt nicht zu solchen Situationen. Ich hatte schon vor, mir die Schuhe auszuziehen, ließ es aber sein. Ein Mensch sollte selbst in einer solchen Notlage keinen Narren aus sich machen. Was, sollte ich mir etwa selbst die Haxen brechen, um zu erfahren, was eigentlich mit dieser Konstruktion und mit diesen Kabeln los war? Einst hatte ich mich wirklich mit mir selbst geschlagen, aber unter ganz anderen Umständen. Einmal mein früheres Ich mit dem späteren Ich, in der Schlinge der Zeit, und ein anderes Mal nach der Vergiftung mit den Benignatoren. Ich schlug mich mit mir selbst, das stimmt, aber ich blieb ein unteilbares Ich, und jeder, der will, kann sich in eine solche Lage einfühlen. Haben denn die Menschen im Mittelalter zur Sühne sich nicht selbst 10
gegeißelt? Jetzt aber kann sich niemand in meine Lage einfühlen. Das ist unmöglich. Ich kann nicht einmal behaupten, daß es meiner zwei gibt, denn wenn man es richtig bedenkt, ist auch das nicht wahr. Es gibt meiner zwei, das heißt, geteilt bin ich auch nur teilweise, weil ich es nicht in jeder Situation bin. Wollt ihr erfahren, was mir zugestoßen ist, dann müßt ihr, ohne viel Gerede und Proteste, der Reihe nach alles, was ich schreibe, lesen, selbst wenn ihr nichts versteht. Einiges wird mit der Zeit klar werden. Nicht bis zum letzten, gewiß, das kann man nur mittels der Kallotomie, ebenso wie man nicht erklären kann, was es heißt, ein Otter oder eine Schildkröte zu sein. Würde jemand, egal wie, zu einer Schildkröte oder einem Otter werden, so könnte er ohnehin nichts darüber berichten, weil Tiere weder reden noch schreiben können. Normale Menschen, zu denen ich einen geraumen Teil meines Lebens gehört habe, können nicht begreifen, wie es kommt, daß ein Kerl mit einem durchschnittenen Gehirn scheinbar weiterhin er selbst bleibt, und es sieht ganz danach aus, daß er es ist, weil er von sich ICH, nicht aber WIR sagt, ganz normal geht, vernünftig redet, und man ihm beim Essen nicht ansieht, daß die rechte Hemisphäre nicht weiß, was die linke tut (in meinem Fall trifft das nur dann nicht zu, wenn ich Graupensuppe vorgesetzt bekomme). Manche Leute sagen übrigens, daß es die Kallotomie schon zur Zeit der Entstehung der Heiligen Schrift gegeben haben muß, weil dort doch geschrieben steht, daß die linke Hand nicht wissen muß, was die rechte tut, aber das halte ich für eine religiöse Metapher. Ein Mann hat mich zwei Monate lang verfolgt, um die Wahrheit aus mir herauszupressen. Er stattete mir zu den unpassendsten Tageszeiten Besuche ab, um mich mit Fragen zu quälen, wie viele Ich es wirklich in mir gibt. Aus Fachbüchern, die ich ihm lieh, damit er selber nachlese und etwas erfahre, konnte er nichts lernen, ich übrigens auch nicht. Ich lieh ihm die Bücher nur, um ihn abzuwimmeln. 11
Ich war damals ausgegangen, um mir Schuhe ohne Schnürsenkel zu kaufen, solche mit einem elastischen Gummieinsatz vorne, die man, glaube ich, früher einmal Stiefeletten genannt hat, denn wenn mein linker Fuß keine Lust hatte, spazieren zu gehen, war ich nicht imstande, die Schuhe zuzuschnüren. Kaum hatte ich die Schnürsenkel mit der rechten Hand zusammengebunden, band sie die linke wieder auf. Ich beschloß also, mir diese Stiefeletten zu kaufen und ein Paar Turnschuhe dazu, nicht weil es mich danach gelüstete, meilenlang das in Mode gekommene Jogging zu betreiben, sondern um die rechte Hirnhälfte ein bißchen Mores zu lehren, denn ich konnte mich mit ihr damals absolut nicht verständigen und war schon ganz blau und grün geschlagen. Ich hielt den Verkäufer im Schuhgeschäft für einen gewöhnlichen Ladenschwengel, brummelte also irgendwas unter der Nase, um mich für mein – genauer gesagt doch nicht mein – sonderbares Verhalten zu entschuldigen. Als er nämlich mit dem Schuhlöffel vor mir kniete, packte ich ihn mit der linken Hand an der Nase. Das heißt, sie ergriff ihn an der Nase, und ich wollte mich entschuldigen, das heißt, die Schuld auf meine linke Hand abwälzen. Ich dachte mir, selbst wenn er mich für einen Irren hält (woher soll ein Verkäufer in einem Schuhgeschäft etwas über Kallotomie wissen?), erreiche ich dennoch mein Ziel, weil er mir schließlich und endlich die Schuhe verkaufen wird. Auch ein Irrer muß nicht barfuß herumlaufen. Leider aber war der Verkäufer ein Philosophiestudent, der sich nur mit Gelegenheitsjobs ein Zubrot verdiente, und die Sache faszinierte ihn über alle Maßen. »Mit dem gesunden Menschenverstand betrachtet und um Gottes willen«, schrie er in meiner Wohnung, »die Logik sagt doch, daß Sie entweder einer oder mehrere sind! Wenn Ihre rechte Hand die Hose hochzieht und die linke sie daran hindert, so heißt das, daß hinter jeder eine bestimmte Halbkugel des 12
Gehirns steckt, die sich irgend etwas denkt oder zumindest will, wenn sie keine Lust darauf hat, worauf die zweite Halbkugel Lust hat. Wäre dem nicht so, dann würden ja abgeschnittene Hände und Füße auch miteinander raufen, was sie bekanntlich nicht tun!« Also gab ich ihm Gazzaniga. Die beste Monographie des entzweigeschnittenen Gehirns und der Folgen dieser Operation ist das Buch »Bisected Brain« von Professor Gazzaniga, 1970 bei Appleton Century Crofts von der Educational Division in Meredith erschienen. Ich schwöre beim Allerheiligsten – nämlich daß mein zweigeteiltes Gehirn wieder zusammenwächst –, daß ich die reine Wahrheit sage, daß ich mir diesen Michael Gazzaniga und seinen Papa (dem die Monographie gewidmet ist), der Dante Achilles Gazzaniga hieß und auch Doktor (M. D.) war, nicht ausgedacht habe. Wer es nicht glaubt, der möge flugs in die nächste medizinische Buchhandlung laufen und mich gefälligst in Ruhe lassen. Dieser Typ, der mich verfolgte, um mir Würmer aus der Nase zu ziehen und zu erfahren, wie es sich in Verdoppelung lebt, hat nur soviel erreicht, daß er meine beiden Hirnhalbkugeln in einmütige Wut brachte, da ich ihn mit beiden Händen am Hals packte und zur Tür hinauswarf. Solche vorübergehenden Harmonien meines gespaltenen Wesens kommen manchmal vor, aber daraus werde ich auch nicht klug. Jener junge Philosoph rief mich später einige Male mitten in der Nacht an, im Glauben, daß ich, jäh aus dem Schlaf gerissen, ihm mein gruseliges Geheimnis verraten würde. Er bat mich, den Hörer an das linke, dann wieder an das rechte Ohr zu legen, ungeachtet der saftigen Bezeichnungen, mit denen ich ihn bedachte. Er behauptete steif und fest, nicht seine Fragen wären idiotisch, sondern der Zustand, in dem ich mich befinde, dieser stehe nämlich im Widerspruch zu der ganzen anthropo 13
logische, existenziellen und noch irgendwelcher Philosophie des Menschen als eines vernunftbegabten und seiner Vernunft bewußten Wesens. Dieser Philosophiestudent mußte kurz nach seinen Prüfungen gewesen sein, denn er schüttelte die Hegels und Descartes (»Ich denke, also bin ich« - und nicht »Wir denken, also sind wir«) nur so aus dem Ärmel, ging mir mit Husserl und Heidegger als Draufgabe zu Leibe, um zu beweisen, daß nicht sein kann, was mit mir ist, denn es widerspreche allen Deutungen des Geisteslebens, die wir doch nicht irgendwelchen Schnöseln verdanken, sondern den genialsten Denkern aller Zeiten, die sich seit Tausenden Jahren, angefangen bei den alten Griechen, mit der introspektiven Erforschung des Ich beschäftigt hatten – und nun kommt so ein Bursche mit einem durchschnittenen Balken des Großhirns, ist anscheinend gesund und munter wie ein Fisch im Wasser, aber seine rechte Hand weiß nicht, was die linke tut, mit den Füßen ist es genauso, und dabei sagen die einen Experten, er habe das Bewußtsein nur auf der linken Seite, weil die rechte bloß ein seelenloser Automat sei, die anderen, daß er zwei habe, doch das rechte Bewußtsein sei stumm, weil das Broca-Zentrum sich im linken Schläfenlappen des Gehirns befinde, wieder andere, daß er zwei teilweise geteilte Ichs habe – und das ist schon die Höhe! Ebenso wie man nicht teilweise aus einem fahrenden Zug springen könne, schrie er mich an, noch teilweise sterben, könne man auch nicht teilweise denken! Später warf ich ihn nicht mehr zur Tür hinaus, weil er mir leid tat. Vor lauter Verzweiflung versuchte er mich zu bestechen. Er nannte das ein freundschaftliches Geschenk. Achthundertvierzig Dollar, er schwor, dies seien seine ganzen Ersparnisse, für Ferien mit sei nem Mädchen bestimmt, aber er war bereit, auf das Geld und sogar auf das Mädchen zu verzichten, wenn ich ihm nur um Gottes willen gestehen würde, WER denkt, wenn eine meiner Hirnhälften denkt und ICH nicht weiß, WAS sie denkt; als ich ihn an Professor Eccles verwies (dieser nämlich ist, als 14
Anhänger des auf der linken Seite angesiedelten Bewußtseins, der Meinung, daß die rechte Hirnhälfte überhaupt nicht denkt), drückte er sich über Eccles ziemlich respektlos aus. Denn er wußte bereits, daß ich der rechten Hirnhälfte allmählich die Taubstummensprache beigebracht habe - also wollte er, daß ich Eccles aufsuche, um ihn darüber aufzuklären, daß er mit seiner Meinung falsch liege. Statt abends die Vorlesungen zu besuchen, saß mein Student unentwegt über medizinischen Zeitschriften, er wußte schon, daß die Nervenbahnen sich kreuzen, und er suchte in den dickleibigsten Lehrbüchern nach der Antwort auf die Frage, wozu zum Teufel diese Kreuzung gut sei, woher es komme, daß die rechte Hemisphäre die linke Körperhälfte regiert und umgekehrt - aber selbstverständlich stand darüber kein einziges Wort zu lesen. Entweder hilft uns dies, ein Mensch zu sein, räsonierte er, oder es hindert uns daran. Er studierte psychoanalytische Werke und fand einen Autor, der die Ansicht vertrat, in der linken Hirnhälfte stecke das Bewußtsein und in der rechten das Unterbewußte, doch gelang es mir, ihm das auszureden. Ich war aus verständlichen Gründen weit mehr belesen als er. Da ich mich weder mit mir selbst noch mit dem Kerl, der vor Wissensdurst nur so brannte, schlagen wollte, fuhr ich, genauer gesagt, floh ich vor ihm nach New York und geriet so aus dem Regen in die Traufe. Ich mietete mir eine Garconniere in Manhattan und fuhr mit der U-Bahn oder dem Bus zur Öffentlichen Bibliothek, um Yo sawitz, Werner, Tucker, Shapiro, Riklan, Schwartz, Szwarc, Shwarts, Sai-Mai-Halassz, Rossi, Lishman, Kenyon, Harvey, Fischer, Cohen, Brunback und an die dreißig verschiedene Rapports zu lesen; fast jedesmal kam es unterwegs zu drastischen Szenen, weil ich die hübschen Frauen, besonders blonde, in den Po kniff. Das tat natürlich meine linke Hand, nicht immer im Gedränge, aber wie entschuldigt man so etwas in ein paar Worten! Das Schlimmste war nicht, daß ich ab und zu eine Ohrfeige einstecken mußte, sondern daß die Mehrzahl 15
der auf diese Weise Belästigten mir ganz und gar nicht gram war! Im Gegenteil, sie hielten dies für eine Einleitung zu einem kleinen Techtelmechtel, und das war das allerletzte, was mir damals im Kopf herumging. Soweit ich das ausmachen konnte, ohrfeigten mich Aktivistinnen der Women's Liberation übrigens eher selten, weil hübsche Frauen unter ihnen recht dünn gesät sind. Da ich erkannte, daß ich mich, allein auf mich gestellt, aus dieser schrecklichen Lage nicht befreien werde, nahm ich Kon takt zu den hervorragendsten Autoritäten auf. Diese Gelehrten nahmen sich meiner tatsächlich an, doch wie! Ich wurde unter sucht, geröntgt, stachistiskopiert, mit Stromstößen gereizt, mit vierhundert Elektroden umwickelt, an einen speziellen Lehn stuhl festgebunden, dazu gebracht, mir stundenlang durch einen Sehschlitz Äpfel, Hunde, Gabeln, Kämme, Greise, Tische, Mäuse, Pilze, Zigarren, Gläser, nackte Weiber, Säuglinge und ein paar tausend anderer auf dem Bildschirm gezeigter Gegenstände anzugucken – und am Ende sagte man mir, was ich ohnehin schon wußte, daß, wenn man mir in diesem Apparat eine Billardkugel so zeigte, daß nur meine linke Hirnhälfte sie sähe, meine rechte Hand, in einen Sack mit verschiedenen Gegenständen getaucht, nicht imstande wäre, aus diesem Sack eine solche Kugel herauszuholen und umgekehrt, weil ja die Linke nicht weiß, was die Rechte tut. Sie kamen zum Schluß, ich sei ein banaler Fall, und hörten auf, sich eingehend mit mir zu beschäftigen, denn ich sagte ihnen kein Sterbenswörtchen darüber, daß ich meiner stummen Gehirnhälfte die Taubstummensprache beibringe. Schließlich wollte ich doch von ihnen etwas über mich selbst erfahren, an ihrer Fortbildung aber war ich keineswegs interessiert. Ich begab mich nachher zu Professor Turteltaub, der mit allen von mir zuvor Aufgesuchten zerstritten war, doch statt mich über meinen Zustand aufzuklären, eröffnete er mir, was für ein Gesindel, eine Clique diese anderen seien; anfangs hörte 16
ich gespannt zu, im Glauben, er verachte alle seine Kollegen aus erkenntnistheoretischen Gründen. Aber Turteltaub ging es nur darum, daß sie ein von ihm geplantes Projekt zu Fall gebracht hatten. Als ich das letzte Mal bei Herrn Globus und Herrn Sawodnicek oder vielleicht bei anderen Spezialisten - es waren ihrer so viele, daß sie mir etwas durcheinandergeraten sind -war, fühlten sie sich, nachdem sie erfahren hatten, daß ich Turteltaub aufgesucht hatte, zuerst ein wenig gekränkt, dann aber erklärten sie mir, sie hätten ihn aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft aus ethischen Gründen ausgeschlossen. Turtel taub wollte nämlich, man solle den zu lebenslänglicher Haft oder zum Tode verurteilten Mördern vorschlagen, sich statt der Strafe der Kallotomie zu unterziehen. Denn wenn man aus schließlich Epileptiker auf ärztliche Indikation hin kallotomiere, führte er aus, könne man nicht wissen, ob die Folgen eines Zerschneidens des Balkens bei normalen Menschen dieselben sein würden, und daß jeder, einschließlich seiner eigenen Person, wenn er zum Beispiel seine Schwiegermutter abgemurkst hätte und dafür auf dem elektrischen Stuhl sterben müßte, es bestimmt vorziehen würde, daß man ihm den Corpus callosum durchschneidet, doch der emeritierte Richter des Obersten Gerichtshofs Klössenfänger befand, daß es, abgesehen von ethischen Be denken, besser sei, darauf nicht einzugehen, denn falls es sich erwiese, daß, als sich Turteltaub mit kaltem Vorbedacht an seine Schwiegermutter heranmachte, nur seine linke Gehirnhälfte am Werke war, während die rechte nichts davon wußte, ja sogar dagegen protestierte, aber der dominierenden linken Gehirnhälfte unterlag, und wenn es dann, nach innerem Geistes- und Gehirnkampf zum Mord käme – daß dann ein entsetzlicher Präzedenzfall geschaffen würde, denn man müßte nach der Gerichtsverhandlung die eine Gehirnhälfte einsperren und die andere, vom Verdacht reingewaschen, freisprechen. Im Endergebnis würde der Mörder nur zu 50 Prozent zum Tode 17
verurteilt werden. Da sein Traum unerfüllt blieb, operierte Turteltaub notgedrungen Affen, die im Gegensatz zu Mördern sehr kostspielig sind, seine Subventionen wurden mehr und mehr gekürzt, und verzweifelt jammerte er, daß er bei Ratten und Meerschweinchen enden würde, was ja nicht dasselbe sei wie Menschen. Zur gleichen Zeit schlugen die Damen aus dem Tierschutzverein und dem Verband zum Kampf gegen die Vivisektion Turteltaub regelmäßig die Fensterscheiben ein, ja sogar sein Auto wurde in Brand gesteckt. Die Versicherung wollte nicht zahlen, mit der Begründung, es gebe keinen Beweis dafür, daß er das Auto nicht selber angezündet hatte, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu treffen: eine gerichtliche Verfolgung dieser Tierschützerinnen und einen finanziellen Gewinn zu erzielen, denn das Auto war schon alt. Sein Gerede ödete mich so an, daß ich, um ihn endlich zum Schweigen zu bringen, die Zeichensprache erwähnte, die ich mit der Rechten meiner Linken beibrachte. Das habe ich in einer bösen Stunde offenbart. Turteltaub rief sofort Globus und vielleicht auch Maxwell an und kündigte ihnen die Vorführung eines Falles in der Neurologischen Gesellschaft an, mit der er sie alle zermalmen würde. Als ich merkte, was mir da blühte, verließ ich Turteltaub fluchtartig, ohne Abschied, und fuhr direkt zu meinem Hotel, aber dort warteten schon die anderen auf mich in der Halle. Beim Anblick ihrer von ungesundem Forsch ungsdurst brennenden Gesichter und Augen redete ich mich heraus – ich würde mich gerne mit ihnen in die Klinik begeben, aber vorher müßte ich mich umziehen; während sie unten auf mich warteten, floh ich über die Feuerleiter vom elften Stock, und mit dem ersten Taxi, das ich erwischte, zum Flughafen. Es war mir eigentlich ganz egal, wohin ich fliegen würde, nur möglichst weit von diesen Gelehrten, und weil das erste Linienflugzeug nach San Diego flog, begab ich mich halt nach San Diego. In einem kleinen schäbigen Hotel, einer wahren 18
Spelunke für verschiedene dunkle Typen, rief ich, noch bevor ich meine Koffer auspackte, Tarantoga an: Hilfe! Glücklicherweise war er zu Hause. Wahre Freunde erkennt man in der Not. Er kam noch in derselben Nacht in San Diego an, und nachdem ich ihm alles möglichst knapp und genau erzählt hatte, beschloß er sich meiner anzunehmen – als die gute Seele, die er war, nicht als Gelehrter. Auf seinen Rat hin wechselte ich das Hotel und ließ mir einen Bart sprießen, während er sich nach einem solchen Sachverständigen umsehen sollte, der den Eid des Aeskulap höher schätzte als einen publicityträchtigen interessanten Fall. Am dritten Tag kamen leichte Unstimmigkeiten zwischen uns auf, denn er war gekommen, um mich mit guten konkreten Nachrichten zu trösten, ich aber konnte ihm meine Dankbarkeit nur teilweise bezeigen. Meine linksseitige Mimik verärgerte ihn, weil ich ihm fortwährend mit einem Auge schelmisch zuzwinkerte. Ich rechtfertigte mich zwar, daß nicht ich es sei, sondern die rechte Hemisphäre meines Gehirns, über die ich nicht die Kon trolle habe, er jedoch, zunächst ein wenig beschwichtigt, begann mir wieder Vorwürfe zu machen, daß nicht alles in Ordnung sei. Selbst wenn es in meinem Körper meiner zwei gäbe, so liege es, den höhnischen und sarkastischen Grimassen nach zu urteilen, die ich zur Hälfte schneide, klar auf der Hand, daß ich schon früher zumindest teilweise Abneigung gegen ihn gehegt hätte, die sich jetzt als schwarze Undankbarkeit enthüllte, er aber sei der Meinung, Freund sei man entweder zur Gänze oder gar nicht. Fünfzigprozentige Freundschaft sei nicht nach seinem Geschmack. Schließlich gelang es mir dennoch, ihn irgendwie zu besänftigen, und nachdem er gegangen war, kaufte ich mir eine Augenbinde. . Einen Spezialisten fand er sehr weit entfernt, erst in Australien, wir flogen also gemeinsam nach Melbourne. Professor Joshua Mclntyre lehrte dort Neurophysiologie; sein 19
Vater war der beste Freund, vielleicht sogar ein entfernter Verwandter von Tarantogas Vater gewesen. Mclntyre weckte Vertrauen durch sein bloßes Aussehen. Er war hochgewachsen, mit einem grauen, bürstenartigen Haarschopf, überaus ruhig, sachlich und, wie mir Tarantoga versicherte, menschlich. Es konnte also nicht die Rede davon sein, daß er mich hätte ausnutzen oder gemeinsame Sache mit den Amerikanern machen wollen, die geradezu aus der Haut fuhren, um mir auf die Spur zu kommen. Nachdem er mich untersucht hatte, was drei Stunden dauerte, stellte er eine Flasche Whisky auf den Schreibtisch, goß mir und sich selbst ein, was der Atmosphäre den Anstrich von Geselligkeit gab, schlug die Beine übereinander, sann eine Weile nach, gab sich einen Ruck und sagte: »Herr Tichy, ich werde Sie in der Einzahl anreden, weil das bequemer ist. Ich habe nicht den mindesten Zweifel, daß man Ihnen den Balken des Gehirns entzweigeschnitten hat, von der Comissura anterior bis zur posterior, obwohl auf Ihrem Schädel nicht die Spur einer Trepanationsnarbe zu sehen ist. . .« »Aber ich sagte Ihnen doch, Professor«, fiel ich ihm ins Wort, »daß keine Trepanation an mir durchgeführt, sondern eine neue Waffe angewendet wurde. Es soll die Waffe der Zukunft sein: niemand wird getötet, sondern die ganze angreifende Armee wird einer totalen und ferngelenkten Cerebellotomie unterzogen. Jeder Soldat wird, sobald ihm das Kleinhirn abgeschnitten wird, der ganzen Länge nach hinfallen, denn er wird ja gelähmt sein. Das erfuhr ich in jenem Zentrum, dessen Namen ich Ihnen nicht verraten darf. Zufällig kam ich irgendwie seitlich zu diesem Ultraschallfeld zu stehen, sagittal, wie es die Ärzte nennen. Übrigens ist das nicht ganz sicher, wissen Sie, denn diese Roboter arbeiten im geheimen und die Wirkung dieser Ultraschälle ist nicht ganz klar . . .« »Das ist nicht so wichtig«, meinte der Professor, der mich mit gütigen, weisen Augen hinter seiner goldgeränderten Brille 20
ansah. »Wir werden uns nicht mit außermedizinischen Umständen beschäftigen. Über die Zahl der Denkapparate in einem kallotomisierten Menschen gibt es derzeit achtzehn Theorien. Da jede von ihnen durch bestimmte Experimente bestätigt wird, ist es klar, daß keine ganz falsch oder auch ganz richtig sein kann. Sie sind nicht einer, Sie sind auch nicht zwei, und von Bruchzahlen kann gleichfalls nicht die Rede sein.« »Wieviele von mir gibt es also?« fragte ich verblüfft. »Auf eine schlecht gestellte Frage gibt es keine gute Antwort. Stellen Sie sich ein Zwillingspaar vor, das seit seiner Geburt nichts anderes tut, als Holz mit einer zweihändigen Säge zu sägen. Sie arbeiten einvernehmlich, sonst könnten sie doch nicht sägen, aber wenn man ihnen die Säge wegnimmt, werden sie Ihnen in Ihrem gegenwärtigen Zustand ähnlich.« »Aber jeder von ihnen, ob er nun Holz sägt oder nicht, hat nur ein einziges Bewußtsein«, wehrte ich enttäuscht ab. »Herr Professor, Ihre Kollegen in Amerika haben mich schon mit einer Menge solcher Parabeln gefüttert. Auch von den Zwillingen mit der Säge habe ich schon gehört.« »Klar«, sagte Mclntyre und zwinkerte mir mit dem linken Auge zu, so daß mir der Verdacht kam, man hätte vielleicht auch ihn durchschnitten. »Meine amerikanischen Kollegen sind Strohköpfe, und solche Vergleiche sind für die Katz. Ich habe Ihnen absichtlich die Geschichte von den Zwillingen erzählt, die sich einer der Amerikaner ausgedacht hat, weil sie auf Holzwege führt. Wollte man die Arbeit des Gehirns graphisch darstellen, erinnert sie bei Ihnen an ein großes Y, weil Sie nach wie vor einen einheitlichen Gehirnstamm und ein einheitliches Mittelhirn haben. Das ist der Schaft des Ypsilon, die Halbkugeln dagegen sind geteilt wie die Schenkel dieses Buchstabens. Verstehen Sie das? Intuitiv kann man leicht. . .« Der Professor brach ab und stöhnte, weil ich ihm einen Tritt in die Kniescheibe versetzt hatte. »Das war nicht ich, das war mein linker Fuß, verzeihen Sie«, 21
rief ich eilig, »ich wollte wirklich nicht. . .« Mclntyre lächelte nachsichtig (aber in diesem Lächeln lag et was Gezwungenes, wie auf dem Gesicht eines Psychiaters, der so tut, als ob der Irre, der ihn soeben gebissen hat, ein normaler, sympathischer Bursche wäre). Er erhob sich, um sich selbst und seinen Sessel in eine sichere Entfernung von mir zu bringen. »Die rechte Halbkugel ist in der Regel viel aggressiver als die linke. Das ist eine Tatsache«, bemerkte er, indem er vorsichtig sein Knie berührte. »Sie könnten aber Ihre Hände und auch Ihre Beine ineinander verschränken, wissen Sie. Das würde unsere Unterhaltung erleichtern . . .« »Ich habe es versucht, aber sie schlafen so schnell ein. Und dann, wenn Sie gestatten, dieses Ypsilon sagt mir nichts. Wo fängt bei ihm das Bewußtsein an – unter der Gabelung, in ihr selbst, noch höher oder sonstwo?« »Das läßt sich nicht genau eruieren«, antwortete der Professor, weiterhin mit dem getretenen Bein baumelnd, das er sich sorgsam, massierte. »Das Gehirn, lieber Herr Tichy, besteht aus einer großen Anzahl funktionaler Untergruppen, die sich beim normalen Menschen auf verschiedene Art und Weise zur Erfüllung verschiedener Aufgaben verbinden können. Bei Ihnen sind die höchsten Untergruppen dauernd getrennt und können deshalb nicht miteinander kommunizieren.« »Auch von diesen Untergruppen habe ich schon hundertmal gehört, mit Verlaub zu sagen. Ich möchte nicht unhöflich sein, Herr Professor, zumindest kann ich Ihnen versichern, daß meine linke Gehirnhälfte, die jetzt zu Ihnen spricht, nicht unhöflich sein will, aber ich weiß weiterhin nichts. Ich bewege mich doch ganz normal, ich esse, gehe, lese, schlafe, ich muß nur auf meine linke Hand und mein linkes Bein aufpassen, weil sie sich ohne jede Vorwarnung skandalös zu benehmen beginnen. Ich möchte wissen, WER mir diese Streiche spielt. Wenn es mein Gehirn ist, warum weiß ICH dann nichts davon?« 22
»Weil die Hirnhälfte, die das bewirkt, stumm ist, Herr Tichy. Das Sprachzentrum liegt in der linken, im La-. . .« Auf dem Boden lagen zwischen uns ganze Kabelrollen von den verschiedenen Apparaten, mit denen mich Mclntyre vorher untersucht hatte. Ich bemerkte, daß mein linker Fuß sich wieder anschickte, mit diesen Kabeln zu spielen. Er wand sich ein solches dickes Kabel in einer lackglänzenden schwarzen Isolierungsschicht um den Knöchel, ich schrieb dem aber keine besondere Bedeutung zu, bis der Fuß plötzlich, mit einem jähen und starken Ruck, das Kabel rückwärts zog, das, wie sich zeigte, um das Bein des Sessels, in dem der Professor saß, geschlungen war. Der Sessel stellte sich auf die Hinterbeine, der Professor plumpste auf das Linoleum. Er erwies sich jedoch als erfahrener Arzt und Gelehrter, der seine Selbstbeherrschung nicht verliert, denn er sprach, indem er sich aufrappelte, mit fast ruhiger Stimme: »Das macht nichts. Regen Sie sich nicht auf. In der rechten Gehirnhälfte hat die Stereognosie ihren Sitz, deshalb ist sie bei derartigen Aktivitäten geschickter. Ich bitte Sie jedoch abermals, Herr Tichy, weit vom Schreibtisch, von den Kabeln und überhaupt von allem Platz zu nehmen. Das wird unsere Unterhaltung und die Festlegung einer geeigneten Therapie leichter machen.« »Ich will nur wissen, wo mein Bewußtsein ist«, antwortete ich, wobei ich das Kabel vom Fuß herunterwickelte, was gar nicht so einfach war, weil der Fuß fest auf dem Linoleum haftete. »Es sieht so aus, als hätte ich Ihnen den Sessel unter dem Hintern weggerissen, was keineswegs meine Absicht war. WER hat das also getan?« »Ihre linke untere Extremität, gelenkt von Ihrer rechten Ge hirnhalbkugel.« Der Professor rückte seine Brille, die sich verschoben hatte, zurecht, schob den Sessel noch etwas weiter zurück, setzte sich aber, nach kurzer Überlegung, nicht hin, sondern blieb hinter 23
dem Sessel stehen und umklammerte dessen Lehne. Ich weiß nicht, mit welcher Hirnhälfte ich jetzt dachte, daß ihm vielleicht die Lust auf einen Gegenangriff gekommen war. »Auf diese Art können wir uns bis zum Jüngsten Tag unterhalten«, sagte ich, wobei ich fühlte, daß sich meine ganze linke Körperhälfte straffte. Beunruhigt verschränkte ich die Beine und die Arme. Mclntyre, der mich aufmerksam beobachtete, sprach weiterhin mit freundlicher Stimme: »Die linke Hirnhälfte dominiert, weil sie der Sitz des Sprach zentrums ist. Wenn ich jetzt mit Ihnen spreche, spreche ich also mit ihr, die rechte Hirnhälfte kann dem Gespräch nur zuhören. Ihre Sprachkenntnis ist sehr beschränkt.« »Vielleicht bei anderen, aber nicht bei mir«, erwiderte ich, während ich, um ganz sicherzugehen, mit der rechten Hand das linke Handgelenk ergriff. »Sie ist tatsächlich stumm, aber ich habe ihr die Taubstummensprache beigebracht, wissen Sie. Das hat mich viel Gesundheit gekostet.« »Das kann doch nicht wahr sein!« In den Augen des Professors blitzte ein Licht auf, wie ich es schon bei seinen amerikanischen Kollegen gesehen hatte. Jetzt bedauerte ich meine Offenheit, aber es war schon zu spät für eine solche Überlegung. »Aber sie kann ja keine Sätze mit Verben bauen! Das steht fest . . .« »Das macht nichts. Verben sind nicht unbedingt nötig.« »Also bitte, dann fragen Sie sie, also sich, das heißt, sie, wollte ich sagen, was sie von unserem Gespräch hält. Können Sie das?« Nolens volens nahm ich die rechte Hand in die linke, streichelte sie erst ein paarmal, um sie gütig zu stimmen, weil ich wußte, daß es ratsam war, so anzufangen, dann begann ich die entsprechenden Zeichen zu geben, indem ich den linken Handteller berührte. Nach einer Weile begannen sich die Finger der Linken zu bewegen. Eine geraume Weile schaute 24
ich zu, dann, mit Mühe meine Wut verbergend, legte ich die Linke auf das Knie, obwohl sie sich dagegen sträubte. Natürlich kniff sie mich sofort schmerzhaft in die Wade. Das war vorauszusehen gewesen, aber ich wollte dem Professor nicht das Spektakel bieten, daß ich mit mir selbst raufte. »Na, und was hat sie gesagt?« fragte der Professor, der sich, alle Vorsicht vergessend, aus dem Sessel herauslehnte. »Nichts Wichtiges.« »Aber ich habe doch ganz deutlich gesehen, daß sie irgendwelche Zeichen gegeben hat. Waren sie etwa unkoordiniert?« »Wieso? Sie waren sogar sehr gut koordiniert, aber das ist eine Kleinigkeit.« »So reden Sie doch! In der Wissenschaft gibt es keine Kleinigkeiten.« »Sie sagte: du Arschloch!« Der Professor war so baff, daß er nicht einmal lächelte. »In der Tat? Dann fragen Sie sie bitte, was sie von mir hält.« »Wie Sie wünschen.« Wieder nahm ich mir die linke Hand vor, zeigte mit dem Finger . auf den Professor, und diesmal brauchte ich sie erst gar nicht zu besänftigen, denn sie antwortete sofort. »Na und?« »Auch ein Arschloch.« »Das hat sie gesagt?« »Ja. Sie kann wirklich nicht mit Verben umgehen, aber verstehen kann man sie schon. Und ich weiß weiterhin nicht, WER spricht. In der Gebärdensprache, aber das ist doch alles eins. Zu Ihnen rede ich mit dem Mund und zu ihr muß ich mit den Fingern reden, also wie ist das eigentlich? In meinem Kopf stecken sowohl >Ich< als auch irgendein >Er