Die Nacht war viel zu kurz
Lucy Gordon
Bianca Exklusiv 100 4/02
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von claudia_L
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Die Nacht war viel zu kurz
Lucy Gordon
Bianca Exklusiv 100 4/02
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von claudia_L
1. KAPITEL „Vorsicht!" Helena wusste nicht, wer geschrieen hatte. War sie selbst es gewesen oder einer der beiden Mitfahrer? Die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Lastautos blendeten sie derart, dass sie, vielleicht durch die ungewohnte Linkssteuerung, für einen Augenblick in Verwirrung geriet. Aber dann schloss sie die Hände wieder fest um das Steuer, das einen Seitendrall zu haben schien. Der Wagen schlingerte heftig, und entsetzt bemerkte Helena, dass er direkt auf den Laster zufuhr. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie schemenhaft das totenblasse Gesicht des Fahrers, der das Steuer herumzureißen versuchte. Dann gab es einen furchtbaren Knall. Glas klirrte, und jemand schrie entsetzt auf ... Der Schmerz in Helenas Kopf war unerträglich und steigerte sich noch, sobald sie die Augen öffnete, unwillkürlich hob sie den Arm, um ihre Augen vor dem grellweißen Licht zu schützen. Aber selbst diese kleine Bewegung tat weh. Dann hörte sie, wie jemand einen Vorhang zuzog. Gleich darauf sagte eine ruhige Stimme: „So ist es besser, nicht wahr?" Helena hatte sich allein geglaubt. Als sie nun den Kopf ein wenig zur Seite drehte, sah sie eine Frau mittleren Alters in weißer Schwesterntracht und einen Mann, der um die Sechzig sein mochte. Dieser beugte sich nun über sie. „Gott sei Dank sind Sie endlich zu sich gekommen." Es klang ziemlich unfreundlich. „War ich lange bewusstlos?" flüsterte Helena. „Ungefähr sechs unddreißig Stunden. Ein paar Mal waren Sie schon fast wieder da, aber diesmal haben Sie es endgültig geschafft." „Sie darf nicht viel sprechen", mahnte die Schwester. „Es ist noch zu früh." „Ich weiß." Die Stimme des Mannes klang ungeduldig. „Aber ein paar Worte sind unbedingt nötig, ehe jemand von der Polizei kommt. Wenn bekannt wird, dass Mrs. Catesby das Bewusstsein wiedererlangt hat, wird man ihr Fragen stellen wollen." Helena versuchte, der Rede zu folgen. Trotz der kurz angebundenen Art zu sprechen, meinte sie doch eine gewisse Besorgnis in der Stimme des Unbekannten herauszuhören. „Polizei?" fragte sie leise. „Warum? Wer sind Sie, und ... wo bin ich überhaupt?" „Sie sind im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Florenz. Nach dem Unfall wurden Sie alle drei hierher gebracht. Übrigens, mein Name ist John Driffield. Ich arbeite hier im Britischen Konsulat. Man teilte uns mit, dass zwei Landsleute in einen schweren Autounfall verwickelt seien. Wir nahmen wohl zu Recht an, dass Sie unsere Hilfe brauche n." Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort. „Mr. Hanley ist nur leicht verletzt, wahrscheinlich, weil er im Fond des Wagens gesessen hat. Er soll zwar heute entlassen werden, besteht aber darauf, so lange hier zu bleiben, bis er weiß, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist." „Mr. Hanley?" flüsterte Helena. Der Name schien ihr nichts zu sagen. Driffield zeigte sich alarmiert. „Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie Ihr Gedächtnis verloren haben! Bitte", seine Stimme wurde drängend, „Sie müssen sich erinnern. Wie kann ich Ihnen sonst helfen? Wissen Sie wenigstens Ihren Namen?" „Ja", sagte Helena, und nach qualvoll langem Schweigen. „Ich heiße Helena Catesby. Ich arbeite für Brian Hanley. Wir sind zur Mustermesse nach Florenz gekommen." Sie sprudelte die letzten Worte hastig heraus, als ob sie Angst hätte, sie noch während ihrer Rede zu vergessen. „Na also." Driffields Züge entspannten sich. „Jetzt können Sie mir sicher auch
noch die nächste Frage beantworten. Wo haben Sie Ihren Führerschein?" „Meinen was?" „Ihren Führerschein." Driffield wurde ungeduldig. „Sie fuhren doch den Wagen. Die Polizei verlangt Ihre Autopapiere. Ich war leider gezwungen. Ihre Handtasche zu durchsuchen, fand aber nichts." Helenas Antwort war kaum zu hören. „Mein Führerschein ist in England. Ich dachte nicht, dass ich ihn hier brauchen würde." Driffield warf ihr einen unfreundlichen Blick zu. „Warum in aller Welt sind Sie dann gefahren? Was haben Sie sich dabei gedacht?" „Ich weiß es nicht", sagte Helena verwirrt. „An die letzten Stunden der Party kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern. Wie ich in das Auto kam, ist mir schleierhaft, und ich kann nicht glauben, dass ich am Steuer gesessen haben soll." „Darüber gibt es keinen Zweifel, Mrs. Catesby. Der Fahrer des Lastwagens bezeugt es. Außerdem saßen Sie immer noch hinter dem Lenkrad, als die Polizei eintraf. Und nun höre ich, dass Ihr Führerschein in England ist. Ich fürchte, Sie werden Schwierigkeiten bekommen. Allem Anschein nach sind Sie leichtsinnig, geradezu rücksichtslos gefahren. Der LKW-Fahrer gab zu Protokoll, dass sich Ihr Wagen in wildem Zickzack genähert habe und dann auf seine Fahrspur geraten sei. Wäre es ihm nicht gelungen, sein Fahrzeug zur Seite zu reißen, hätte der Unfall wohl den Tod für Sie alle bedeutet." Driffields Stimme wurde noch kühler. „Der Zustand des verletzten Mädchens ist kritisch, und ich fürchte, dass es wenig Chancen hat zu überleben. Der Umstand, dass sie Italienerin ist, macht Ihre Sache natürlich noch schlimmer. Die Leute hier sehen es nicht gern, wenn Ausländer ohne ordnungsgemäße Papiere einreisen und dann auch noch ihren Landsleuten Schaden zufügen." Helena bemerkte, dass Driffield wesentlich unfreundlicher geworden war, seit er wusste, dass sie ohne Führerschein am Steuer gesessen hatte. „Der Zustand des Mädchens?" fragte sie verwirrt. „Von welchem Mädchen sprechen Sie?" „Mrs. Catesby", Driffields Stimme wurde eindringlich. „Sie waren doch auf einer Party, nicht wahr?" „O ja. Dort trafen wir auch das Mädchen, ich erinnere mich jetzt daran." Driffield stellte die nächste Frage. „Wie viel haben Sie an diesem Abend getrunken?" „Genau weiß ich es natürlich nicht. Aber ich mache mir wenig aus Alkohol." „So reden sie alle." Hatte Driffield das wirklich gesagt? Helena war sich nicht sicher. Plötzlich wurden ihre Kopfschmerzen so stark, dass sie wieder die Augen schließen musste. „Bitte gehen Sie jetzt", forderte die Schwester energisch. „Meine Patientin braucht Ruhe, bevor sie von der Polizei verhört wird." Helena hörte die Stimme immer schwächer werden. Als Letztes vernahm sie, wie die Schwester sagte: „Das Konsulat wird ihr doch helfen, nicht wahr?" Und dann Driffields ärgerliche Antwort: „Natürlich. Wir besorgen ihr den besten Anwalt von Florenz. Brian Hanley ist Parlamentsmitglied, und nichts wäre schlimmer für ihn als ein Skandal. Aber Sie wissen so gut wie ich, Schwester, dass nichts Mrs. Catesby vor dem Gefängnis retten kann. Und wenn Lucilla Dorani stirbt, wird sie wohl die nächsten zehn Jahre hinter Gittern verbringen. Auch das Konsulat kann sie davor nicht bewahren." Die Worte gingen an Helena vorüber, als ob sie gar nichts damit zu tun hätte. Alle Geräusche und Eindrücke schienen von weit her zu kommen, aber jedes Mal, wenn sie ihr Bewusstsein fast erreicht hatten, wieder in nebelhafte Fernen zu entschwinden. Zurück blieb nur der Aufruhr, der in ihrem Innern tobte. Plötzlich erschien Brian Hanleys Bild vor ihrem geistigen Auge. Sie sah ihn
genau vor sich, den blonden Kiesen mit den blauen Augen, die er von nordischen Vorfahren geerbt haben musste. Sein jungenhafter Charme ließ ihn jünger als dreiundvierzig erscheinen und machte ihn anziehend. Davon hatte Helena während der letzten zwei Jahre, seit sie für ihn arbeitete, jeden Tag eine Kostprobe bekommen, denn stets war er darauf aus gewesen, sie zu verführen. Nachdem er endlich eingesehen hatte, dass alle Bemühungen fruchtlos waren, fing er an, von Heirat zu sprechen. Seither gab es ein stillschweigendes Übereinkommen zwischen ihnen, dass sich über kurz oder lang alles entscheiden würde. Trotz der Gutmütigkeit, die sie an Brian kannte, fühlte Helena doch instinktiv, dass er auch hart sein konnte. Das hatte sich gezeigt, als er die Lederwarenfabrik seines Vaters, die kurz vor dem Bankrott stand, übernahm. In kurzer Zeit hatte er ein florierendes, ausbaufähiges Unternehmen daraus gemacht. Dann hatte er angefangen, sich zu langweilen und nach neuen Aufgaben Ausschau gehalten. Als jahrelanges aktives Mitglied des örtlichen Gemeinderats hatte sich Brian vor einem Jahr von seiner Partei als Nachfolger des aus gesundheitlichen Gründen zurückgetretenen Parlamentsmitgliedes aufstellen lassen. Seither pendelte er zwischen London und seinem Wahlkreis, der zum Glück nicht weit entfernt war, hin und her. Während der langen Sommerpause hatte Brian dann Helena vorgeschlagen, gemeinsam eine Reise nach Florenz zu unternehmen. „In zehn Tagen wird dort eine Mustermesse eröffnet. Als meine Designerin solltest du unbedingt dorthin mitkommen." Zuerst hatte sie sich geweigert, denn es gab Gründe für sie, diese Stadt zu meiden. Aber Brian ließ nicht locker. „Diese Sache liegt nun fast zehn Jahre zurück, Helena. Außerdem ist Florenz das Zentrum für Lederwaren. Gerade für dich wäre es wichtig, die neuesten Trends kennen zu lernen." Helena hatte die Entscheidung hinausgezögert, da sie hoffte, er würde die Idee doch noch fallen lassen. Als das nicht geschah, hatte sie nachgegeben. Letzten Endes war es ja nun wirklich Jahre her... „Solltest du nicht vielleicht doch hier bleiben und dich um deinen Wahlkreis kümmern?" war ihr letzter Versuch gewesen, ihn noch davon abzubringen. Brian hatte gelacht. „Die Nachwahl war vor einem Jahr. Ich kann doch nicht ewig Kindermädchen spielen. Sie sollen ruhig mal ohne mich auskommen. Du glaubst doch nicht, dass ich mir die Gelegenheit entgehen lasse, mit dir allein eine Reise zu machen, die noch dazu von der Steuer absetzbar ist." Er hatte sie in die Arme genommen und schließlich ihre Zustimmung erreicht. Es war nicht die große Liebe, die sie mit Brian Hanley verband. Wahrscheinlich würde sie ihn trotzdem heiraten. Eine Verlobung, die sie mit knapp neunzehn Jahren eingegangen war, endete mit Tränen. Die zweijährige Ehe mit Gary Catesby - Helena war gerade einundzwanzig geworden, als sie heiratete - endete mit der Scheidung. Seither hütete sie sich, ihr Herz noch einmal zu verschenken. Diesmal würde sie eine Ehe auf Vernunft und Freundschaft gründen. Und Brian war dafür genau der richtige Mann. Gutmütig und unkompliziert, würde er einen vorbildlichen Vater für ihre Kinder abgeben. Außerdem war sie sicher, dass er niemals Gefühle fordern würde, die sie ihm nicht entgegenbringen konnte. Also hatte sie ihn nach Florenz begleitet, und nach dem ersten Schock des Wiedersehens mit der schönen Stadt, die einst das Ziel ihrer Träume gewesen war, verlief alles besser als erwartet. Wie vieles hatte sich doch geändert, seit sie neunzehn war. Damals, als wissbegierige Kunststudentin, versetzte sie schon der Klang des Wortes „Florenz" in Begeisterung. Das Bild dieses lebensfrohen Mädchens von einst tauchte kurz
vor ihr auf und verschwand ebenso rasch, wie es gekommen war. Eine andere Vorstellung schob sich in den Vordergrund: Valerio Lucci. Anklagend, mit ausgestrecktem Arm, zeigte er auf sie. Doch selbst diese bedrückende Erscheinung verblasste bald wieder. Helena war fasziniert von der Messe und hatte Brian darüber vollkommen vergessen, bis er einmal mürrisch bemerkte, dass es wohl an der Zeit sei, sich auch um ihn zu kümmern, und dass der Leihwagen, den er für gemeinsame Ausflüge gemietet habe, unbenutzt auf dem Hotelparkplatz stehe. Schließlich fand Brian dann doch noch Gelegenheit zu einer Autofahrt. Ein Galanteriewarenhändler, den sie auf der Messe kennen gelernt hatten, gab in seiner Villa in den toskanischen Bergen eine Party. Sie beide waren dazu eingeladen. Helena wollte zunächst nicht mitkommen. Erschöpft vom vielen Laufen, hätte sie lieber mit Brian irgendwo gemütlich gegessen und wäre dann frühzeitig schlafen gegangen. Er aber hatte ein lukratives Geschäft gewittert und auf ihrer Begleitung bestanden. An dieser Stelle geriet Helenas Gedächtnis durcheinander. Bilder tauchten kaleidoskopartig vor ihr auf und verschwanden wieder. Nichts war beständig. Helena fühlte sich müde und erschöpft. Hielt sie nicht ein Glas in der Hand? Hörte sie nicht Brians Stimme: „Amüsier dich doch auch ein bisschen, Darling!" Und dann dieses Mädchen ... War Lucilla ihr Name? Es hatte einen eigensinnigen, mürrischen Gesichtsausdruck. Wie war die Party eigentlich zu Ende gegangen? Warum hatte sie, Helena, den Wagen gefahren? Vergeblich versuc hte sie ihre Gedanken zu ordnen, die wie wabernde Nebelschwaden an ihrem geistigen Auge vorbeizogen. Ich muss mich erinnern, sagte sie sich. Der Mann vorhin hatte von einer Gefängnisstrafe gesprochen. Wie war das nur möglich? Sie hatte bestimmt nichts Unrechtes getan! So sehr sie sich auch anstrengte, die Erinnerung wollte nicht zurückkommen. Helena drehte den Kopf zur Seite. Da sah sie ihre Handtasche auf dem Nachtkästchen stehen. Auf einen Ellbogen gestützt, gelang es ihr, sie langsam zu sich heranzuziehe n. Obwohl sie dabei starke Schmerzen empfand, hatte sie nun wenigstens die Gewissheit, dass sie keine Brüche erlitten hatte. Sie musste sich unbedingt im Spiegel sehen. Ein vages Gefühl sagte ihr, die Dinge könnten sich, je nach ihrem Aussehen, zum Guten oder Schlechten wenden. Sie betrachtete sich in dem kleinen Taschenspiegel und erschrak. Sie war blass. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Das sonst leicht gewellte, rotblonde Haar hing in Strähnen herunter. Der strahlende Ausdruck war aus ihrem Gesicht verschwunden, und sie sah älter aus als siebenundzwanzig. Helena legte den Spiegel weg und ließ sich in die Kissen zurückgleiten. Allmählich verfiel sie in einen unruhigen Schlaf, in dem jedoch die Kopfschmerzen immer gegenwärtig waren. Plötzlich spürte sie im Unterbewusstsein weiche Lippen über ihren Mund streichen, und als sie die Augen aufschlug, saß Brian neben ihr. Außer einer Schnittwunde, die schräg über eine Gesichtshälfte lief, hatte er offensichtlich keine weiteren Verletzungen erlitten. „Brian", sagte Helena freudig, „Gott sei Dank scheint mit dir alles in Ordnung zu sein." „Mein armer Liebling." Seine Stimme hatte einen tröstlichen Klang. „Der Schlag gegen deinen Kopf war fürchterlich." „Was ist mit dem Mädchen, das mit uns gefahren ist?" wollte Helena wissen. „Lucia Dorani? Es geht ihr nicht sehr gut. Sie ist noch immer bewusstlos. Aber
beruhige dich, mein Kleines. Sie wird schon durchkommen. Die Leute hier sind zäh." Brians letzte Worte ärgerten Helena, aber es war wohl besser, nicht weiter nach Lucilla zu fragen. Das Mädchen lebte, und das schien ihr im Augenblick das Wichtigste. „Brian, wie ernst ist meine Lage wirklich? Mr. Driffield sprach von Gefängnis. Das kann doch nicht stimmen, oder?" Ein Schatten huschte über Brians Gesicht. „Die Gesetze hier sind viel strenger als bei uns in England, wenn es sich um Trunkenheit am Steuer handelt. Ein Schuldspruch würde vier Jahre Gefängnis bedeuten." „Was?" rief sie außer sich. „Brian, es stimmt nicht. Ich war nicht betrunken, du weißt das so gut wie ich. Ich trinke niemals viel." Verzweifelt versuchte sie sich aufzurichten. „Beruhige dich, Helena." Brian fasste sie an den Schultern und ließ sie sanft auf die Kissen zurücksinken. „Bitte reg dich nicht auf, es schadet dir nur. Ich weiß nicht genau, wie viel du getrunken hast, aber es war mehr als gewöhnlich. Du sagtest, du fühltest dich abgespannt und brauchtest etwas zum Aufmuntern. Gegessen hast du so gut wie nichts. Alkohol auf leeren Magen ist Gift, besonders wenn man erschöpft ist. Mein Gott..." Er fuhr sich nervös durchs Haar. „Ich mache mir solche Vorwürfe, dass ich dich zu dieser Party mitgenommen habe, obwohl du so müde warst. Das alles wäre nicht passiert, wenn du nicht so viel getrunken hättest." „So viel?" wiederholte Helena entsetzt. „Wie viel war es denn nun wirklich?" „Ich sagte dir schon, dass ich es nicht genau weiß. Wir waren nicht die ganze Zeit zusammen, aber so oft ich dich sah, schienst du ein anderes Glas in der Hand zu halten. Ich nehme also an, du hast alles Mögliche durcheinander getrunken." „Und wie kam es dazu, dass ich den Wagen steuerte?" Im Stillen fragte sich Helena, um wie viel schlimmer dies alles noch werden konnte. Brian schaute sie beunruhigt an. „Kannst du dich an keine Einzelheiten erinnern?" „Vom zweiten Teil des Abends weiß ich so gut wie nichts mehr auch nicht wann und wie wir die Villa verlassen haben. Bitte Brian, sag mir jetzt alles, so schlimm es auch sein mag." Brian dachte einen Augenblick nach, bevor er ihrem Wunsch nachkam. „Also gut. Ich hatte meine Jacke ausgezogen, und als ich sie am Schluss wieder holte, steckten die Autoschlüssel nicht mehr in der Tasche. Du hattest sie an dich genommen. Zuerst dachte ich an einen Scherz, aber du warst entschlossen, den Wagen zu fahren. Ich versuchte, dich davon abzubringen. Du hast dich jedoch einfach ans Steuer gesetzt und warst nicht mehr wegzubringen. Lucilla saß schon auf dem Beifahrersitz, und so blieb mir nichts anderes übrig, als hinten einzusteigen." Brian macht eine kurze Pause. „Anfangs war ich gar nicht so besorgt, denn abgesehen von deiner Hartnäckigkeit, fahren zu wollen, schienst du ganz in Ordnung zu sein. Doch gleich nach dem Start merkte ich, dass dein Zustand schlimm war. Der Wagen schlingerte bedenklich. Ich versuchte dich zum Anhalten zu bewegen. Vergeblich, denn du hörtest mir gar nicht zu. Hätte ich neben dir gesessen, hätte ich vielleicht eingreifen können, aber so war ich machtlos." „Warum fuhr Lucilla mit uns?" war Helenas nächste Frage. Geduldig erklärte Brian es ihr. „Der Freund, der sie zur Party mit genommen hatte, hatte sie sitzen lassen und war mit einem anderen Mädchen weggefahren. Lucilla befürchtete, zu spät nach Hause zu kommen. Sie ist sehr jung, und anscheinend wusste die Familie nichts
von ihrer Unternehmung. Sie redete ständig von einem Guido, Er muss wohl ihr Bruder sein, ein richtiger Haustyrann. Schließlich tat sie mir Leid, und ich bot ihr an, sie mit uns zu nehmen und sie an ihrem Haus abzusetzen. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan." Er hielt einen Augenblick inne, bevor er weitersprach. „Als uns der Lastwagen entgegenkam, merkte ich, dass du falsch reagiertest. Anstatt nach rechts auszuweichen, bist du direkt auf ihn zugesteuert." „Ja, ich erinnere mich dunkel daran", unterbrach Helena ihn. „Dieser Bruchteil einer Sekunde ist mir im Gedächtnis geblieben. Das Lenkrad schien sich selbstständig zu machen, und ich hatte plötzlich keine Kontrolle mehr über das Fahrzeug." „Du hast wahrscheinlich versucht auszuweichen und wurdest durch die ungewohnte Linkssteuerung irritiert. Ausländische Autos und Straßen können ein Albtraum sein. Dich trifft keine Schuld, Darling." „Doch, es war meine Schuld", widersprach Helena verzweifelt. „Ich hätte den Wagen nicht fahren dürfen. Und wenn nun das Mädchen stirbt ... Brian, bitte sag mir die Wahrheit. Wie steht es um Lucilla?" Er hielt einen Augenblick den Atem an. „Der Zusammenstoß erfolgte auf ihrer Seite, deswegen hat sie schwerere Verletzungen als wir." Brian schwieg. Helena wartete vergeblich auf ein weiteres Wort, das ihr Hoffnung geben könnte. Aber sein Blick sagte ihr alles. In diesem Augenblick betrat die Schwester das Zimmer. „Sie müssen gehen, Signore", sagte sie hastig. „Ein Polizeibeamter möchte mit Signora Catesby sprechen." „Ich bleibe", stellte Brian entschlossen fest. „Helena braucht mich." „Signore, bitte, Sie können ihr nicht helfen, indem Sie hier bleiben. Man wird sowieso ärgerlich darüber sein, dass ich Sie zuerst hereingelassen habe. Ich hätte es nicht tun dürfen." - Brian stand auf. „Es ist schrecklich, Helena, dich allein zu lassen." Sie drückte seine Hand und wusste plötzlich, dass sie nie zuvor so viel für ihn empfunden hatte und nahe daran war, ihn wirklich zu lieben. „Du musst gehen, Brian", drängte sie. „Später darfst du bestimmt wieder kommen." Er küsste sie und verließ das Zimmer. Helena lehnte sich erschöpft in die Kissen zurück und schloss die Augen, um sieh zu entspannen. Wenig später trat der Polizeibeamte ein. Helena hatte sich etwas beruhigt und sah den Dingen gefasster entgegen. Was geschehen war, lag nun nicht mehr in nebelhaften Fernen, sondern greifbar vor ihr. Nüchtern stellte sie fest, dass sie sich in einer verzweifelten Lage befand, eine Gefängnisstrafe zu erwarten hatte und dabei nicht einmal wusste, wie alles passiert war. Guardia Callini machte den Eindruck eines gutmütigen Menschen, wenn auch strenge Falten sein Gesicht durchzogen. Er entschuldigte sich. Helena trotz ihres Zustands belästigen zu müssen, doch sei es unumgänglich, ihre Aussage so schnell wie möglich zu Protokoll zu bringen. Helena erzählte ihre Geschichte, so weit sie konnte. Als sie jedoch über die späten Stunden des Abends sprach und sich ständig wiederholen hörte: „Ich weiß nicht ... ich kann mich nicht erinnern ...", wuchs ihre Nervosität. Der Beamte hörte mit unbewegtem Gesicht zu und machte sich Notizen. Einmal hob er den Kopf und schaute ihr fest in die Augen. Unter diesem Blick sah sich Helena plötzlich so, wie Guardia Callini sie sehen musste, als eine Alkoholikerin, die das Leben anderer leichtsinnig gefährdet hatte und nun vorgab, an einem Gedächtnisschwund zu leiden.
Zu ihrer Überraschung bemerkte Callini jedoch nur, dass es nichts Außergewöhnliches sei, wenn man sich nach einem solchen Unfall an die vergangenen Stunden nicht mehr erinnere. Diese Gedächtnislücke sei nur vorübergehend. „Ich hoffe, Signora", schloss er, „dass ihr Erinnerungsvermögen bald zurückkehrt und Ihnen dann vielleicht dies oder jenes einfällt, was Ihre Lage verbessern könnte. Denn im Augenblick sieht es schlecht für Sie aus. Sie fuhren ohne Führerschein, verursachten durch Ihr rücksichtsloses Fahren einen Unfall, und es gibt genügend Anzeichen dafür, dass Sie betrunken waren. Lucilla Doranis Zustand ist ernst. Falls sie stirbt, kommt zur Anklage wegen obiger Delikte noch die der fahrlässigen Tötung hinzu." Helena sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an, unfähig auch nur ein Wort zu sagen. Es kam ihr vor, als musste sie jeden Moment aus einem schrecklichen Albtraum erwachen. „Ich werde veranlassen, dass Sie bis zu Ihrer Genesung hier im Krankenhaus bleiben können", vernahm sie Guardia Callinis Stimme. „Ich muss Sie jedoch darauf hinweisen, dass Sie ab sofort unter Arrest stehen, vorläufig nur wegen Trunkenheit am Steuer und fahrlässiger Körperverletzung. Nach der Entlassung wird man Sie bis zur Aufnahme der Verhandlung in ein Frauengefängnis einweisen." Helena stockte der Atem. „Kann ich nicht gegen Kaution ...", fragte sie nach einer Weile. . Bevor sie ihre Frage zu Ende bringen konnte, unterbrach der Polizist sie. „Hier in Italien bleibt ein Beschuldigter unter Umständen bis zur Verhandlung auf freiem Fuß. In Ihrem Fall, Signora, spricht vieles dagegen. Außerdem besteht Fluchtgefahr. Sie müssten dem Gericht einen Bürgen bringen." Callinis Gesichtsausdruck wurde milder. „Kennen Sie jemand in Florenz, der diese Aufgabe übernehmen würde?" Helena dachte an die Person, die sie in Florenz kannte, an den Mann, der sie vermutlich hasste und sie mit Genugtuung in ihrer jetzigen hoffnungslosen Situation sähe. Nichts könnte Valerie Luccis Rachegefühle mehr befriedigen als das, was nun unweigerlich auf sie zukam. „Nein", erwiderte sie niedergeschlagen, „ich habe hier keine Bekannten." Nachdem der Beamte gegangen war, lag Helena reglos in ihrem Bett und sah zur Decke. Vergebens versuchte sie, gegen die Panik anzukämpfen, die sich ihrer zu bemächtigen drohte. Sie sehnte sich nach Brians tröstlicher Gegenwart, nach dem einzigen Menschen, an den sie sich in ihrer Verzweiflung klammern konnte. Sie wollte seine beruhigende Stimme hören, seinen zärtlichen Kuss spüren. Dann würde sie mit allem fertig werden. Helena atmete auf, als die Pflegerin hereinkam. „Schwester", rief sie aufgeregt, „ich muss unbedingt noch einmal Mr. Hanley sprechen. Bitte holen Sie ihn sofort." Die Krankenschwester schüttelte bedauernd den Kopf. „Das geht leider nicht. Ich habe die strikte Anordnung, ihn nicht mehr in Ihr Zimmer zu lassen." „Aber er durfte doch vorhin hereinkommen." Helena war verzweifelt. „Da standen Sie noch nicht unter Arrest. Jetzt sind Sie offiziell in Polizeigewahrsam, wenn auch hier im Krankenhaus. Bitte, Signora, versuchen Sie zu verstehen. Mr. Hanley kann Sie hier ebenso wenig besuchen, als säßen Sie in einer Gefängniszelle." Das Wort „Zelle" ernüchterte Helena schlagartig. Sie war also eingesperrt in ihrem Krankenzimmer. „Soll das heißen", fragte sie gepresst, „dass ich keine Besuche mehr empfangen darf?"
„O nein!" Das Gesicht der Krankenschwester erhellte sich. Sie war erleichter, dass sie ihre Patientin wenigstens in dieser Hinsicht etwas trösten konnte. „Sie dürfen Mr. Driffield sehen, ebenso Ihren Anwalt. Zweifellos werden beide ihr Bestes für Sie tun. Mr. Driffield versprach, Ihnen den fähigsten Anwalt in Florenz zu verschaffen." „Schwester, bitte lassen Sie mich wissen, wenn mit Lucilla Dorani... ich meine ..." Helena stockte plötzlich. „Wenn es eine Änderung in Lucillas Befinden gibt, werde ich es Ihnen sagen", versicherte die Pflegerin ihr. In diesem Augenblick erschien ein Mann in weißem Arztkittel in der Tür. Er grüßte mit einem leichten Nicken und ging auf Helena zu. „Ich bin Dr. Polione", stellte er sich vor. „Es freut mich zu sehen, dass Sie wieder bei Bewusstsein sind, Signora." Er blieb ein paar Minuten an Helenas Bett sitzen. Mit ihrem Zustand schien er zufrieden zu sein und versicherte ihr, dass der Verlust ihres Gedächtnisses nur vorübergehend und sie selbst in einigen Tagen wieder hergestellt sei. Helena konnte sich über diese beruhigende Nachricht nicht freuen. Mit jedem weiteren Tag bis zu ihrer Entlassung rückte sie auch dem Gefängnis einen Schritt näher. Nachdem der Arzt und die Schwester gegangen waren, überfiel Helena ein Schüttelfrost, der ihre Zähne wie im Fieber aufeinander schlagen ließ. Sie verbarg das Gesicht in den Kissen, damit man ihr Schluchzen nicht hörte. Nie hatte sie sich in ihrem Leben so allein und hilflos gefühlt wie jetzt. Die Aussicht, Jahre in einem Gefängnis verbringen zu müssen, war bitter genug. Aber was wäre das für ein Leben in dem Bewusstsein, einen Menschen auf dem Gewissen zu haben? Nachdem sie sich wieder etwas gefasst hatte, sagte sie immer und immer wieder: „Ich habe nichts mehr zu erwarten." Nur eine Hoffnung blieb ihr, die auf den unbekannten Anwalt, von dem sie jedoch angesichts der erdrückenden Beweislast keine Wunder erwarten konnte. Und doch ließ der Gedanke daran sie nicht mehr los. Dies war ein Lichtblick, ein Silberstreifen am Horizont. Plötzlich hörte Helena ein Geräusch. Sie drehte den Kopf zur Tür und sah dort einen Mann stehen, der etwa Mitte Dreißig sein mochte. Sein Gesicht war schmal, die Lippen hatte er fest aufeinander gepresst. Der dunkle, klassisch geschnittene Anzug ließ in ihm einen Geschäftsmann vermuten. Dieser Eindruck wurde durch die Aktentasche, die er in der schmalen Hand hielt, noch verstärkt. Aber Helena sah nur sein Gesicht, das Gesicht, das ihr so vertraut war, und die Augen, die sie einst voll Liebe und Zärtlichkeit angeblickt hatten und die nun kalt und streng wirkten. Ein Schauer überlief sie. „Valerio", flüsterte sie mühsam, „was tust du hier?" „Ich bin auf Bitten des Britischen Konsulats gekommen, Signora. Man teilte mir mit, dass einer der beiden Engländer, die kürzlich in einen Autounfall nahe Florenz verwickelt waren, eine hohe Gefängnisstrafe zu erwarten habe und mein Beistand als Anwalt nötig sei." „Ach ja, du bist Anwalt. Ich hatte es vergessen." Valerio trat näher und zog einen Stuhl neben das Bett. Ein kaltes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und ohne Helena anzusehen, setzte er sich und sprach weiter. „Es gibt natürlich keinen Anlass für Sie, sich an irgendetwas, das mit meiner Person zusammenhängt, zu erinnern. Unbedeutende Dinge bleiben nicht lange im Gedächtnis. Können wir nun gleich zur Sache kommen? Es ist äußerst wichtig, dass Sie mir alles erzählen." „Valerio, bitte ... einen Augenblick. Lass uns eins klarstellen. Wie kannst du mir
helfen nach all dem, was damals geschehen ist. Oder bist du es, der sich nicht erinnert?" Valerio Lucci schaute auf und begegnete ihrem Blick. Er sah sie an wie ein Fremder. „Ich versichere Ihnen, Signora, dass ich nicht die geringste Kleinigkeit aus der Zeit unserer Bekanntschaft vergessen habe. Wir lernten uns vor zehn Jahren kennen, hier, in dieser Stadt. Wir verliebten uns. Ich zumindest glaube heute noch daran, dass es so war. Sie versprachen, mich zu heiraten. An unserem Hochzeitstag fuhr ich zur Kirche und wartete dort auf Sie. Nach einer Stunde wusste ich, dass Sie nicht mehr kommen würden und wohl Ihre Absicht geändert hatten." Kalt und abweisend hatten diese letzten Worte geklungen. „Und nun, Signora, möchte ich gern, wenn Sie sich stark genug dazu fühlen, die Einzelheiten des Unfalls genauestens mit Ihnen durchgehen."
2. KAPITEL
Mondschein, Musik ... Damit beginnt gewöhnlich eine Liebe. Bei Helena James hatte alles ganz anders angefangen. Mit siebzehn war sie nach Florenz gekommen, um ihr Kunststudium aufzunehmen. Sie war talentiert. Nur wusste sie nicht, ob sie sich auf Malerei oder Bildhauerei spezialisieren sollte. Oder auf beides? „Nun", hatte sie sich dann in ihrer jugendlichen Unbekümmertheit getröstet, „auch Michelangelo war schließlich ein Universalgenie." Damit stand fest, dass sie beide Kunstrichtungen studierte. Zu Hause gab es keinerlei Probleme, als sie ihren Wunsch äußerte, im Ausland zu studieren. Helenas Mutter war tot. Ihr Vater liebte sie zwar, hatte sich jedoch kurz zuvor wieder verheiratet. Die gegenseitige Abneigung der beiden Frauen ließ Helenas Studium in Florenz als ideale Lösung erscheinen. Nachdem sich ihr Vater überzeugt hatte, dass sie in einem seriösen Wohnheim untergebracht war und die Telefonnummer des Britischen Konsulats in ihrem Taschenkalender stand, hatte er sie mit kaum verhohlener Erleichterung gehen lassen. Seine Frau hatte sich erst gar nicht bemüht, ihre Genugtuung über die Abreise der Stieftochter zu verbergen. Vom ersten Augenblick an fühlte sich Helena an der florentinischen Akademie glücklich^ Das war ihr Traum gewesen, seit man ihr mit knapp vier Jahren die ersten Malstifte in die Hand gedrückt hatte. All ihr Tun und Trachten hatte sie dann auf dieses Ziel 'gerichtet und gelernt, was ihr dabei von Nutzen sein würde. Fremdsprachen hatten dazugehört, und als sie schließlich in Florenz eintraf, war ihr Italienisch nahezu perfekt. Bald aber hatte sie herausgefunden, dass das klassische Italienisch nicht genügte. Um hier heimisch zu werden, musste sie auch die toskanische Mundart erlernen. Dank ihrer Intelligenz und Musikalität machte sie darin große Fortschritte. Ihre Lebhaftigkeit zog die Männer wie magisch an. Nur einer blieb stets abseits: Valerio Lucci. Er war Helena aufgefallen, weil er älter zu sein schien als die übrigen Studenten. Sie schätzte ihn auf dreißig, fand aber später heraus, dass er erst fünfundzwanzig war. Die gesetzte und reservierte Art, die er stets zur Schau trug, entsprach nicht dem sonst lockeren Verhalten der Studenten. Valerio Lucci erschien erst im zweiten Semester, nach den Weihnachtsferien. Helena sah ihn nur in den zwei Mal wöchentlich stattfindenden Vorlesungen für Kunstgeschichte, offensichtlich dem einzigen Fach, das er belegt hatte. Er saß immer etwas abseits von den anderen Studenten. Vielleicht hätte ihn Helena nie bemerkt, wenn er nicht hin und wieder eine Frage gestellt hätte. Manchmal hatte Helena seinen Blick auf sich gerichtet gefühlt, oft hatte sie sich gefragt, wie er wohl aussehen würde, wenn er lächelte. Eines Tages begann sie, ihn heimlich zu beobachten und auf dieses Lächeln zu warten. Dabei hatte er sie einmal ertappt. Sie ärgerte sich, dass sie wie ein Schulmädchen errötet war. An jenem Tag ging er abends mit ihr und ihrer Clique in eine nahe gelegene Trattoria. Doch selbst dort saß er nicht mit ihnen zusammen. Er hatte am Nebentisch Platz genommen. Helena war über ein neues toskanisches Wort gestolpert. Die drei Definitionen, die man ihr als Übersetzung anbot, hatten sie vollends verwirrt. Plötzlich hatte sich Valerio herübergebeugt und gesagt, dass alle drei Ausdrücke falsch seien und dass man sich über sie lustig mache. Dann hatte er ihr die wirkliche Bedeutung des Wortes erklärt, das etwas anstößig war. Helena fand, dass der Spaß etwas zu weit gegangen war, ließ es sich jedoch nicht anmerken. Sie wollte sich bei Valerio bedanken, aber der hatte sich schon wieder
abgewandt und reagierte selbst dann nicht, als die anderen ihm das Wort „Spielverderber" zuriefen. Nach einer Weile waren Helenas Freunde gegangen. „Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen, Signorina?" wandte sich Valerio überraschend an Helena. „Danke, gern." Helena wartete, bis er die Bestellung aufgegeben hatte, und sprach dann weiter. „Es war nett von Ihnen, dass Sie vorhin eingriffen. Ich habe zwar nichts dagegen, wenn man sich einen Scherz mit mir erlaubt, aber ..." „Ja, das ging doch etwas zu weit", stimmte Valerio ihr zu. „Es sind zwar nette Kerle, sie schießen jedoch leicht über das Ziel hinaus, wenn man sie nicht rechtzeitig bremst. Es macht ihnen Spaß, ein junges Mädchen in Verlegenheit zu bringen." Helena zuckte die Achseln. „Im Grund sind sie harmlos, und ich sage mir immer: Wer zuletzt lacht, lacht am besten." „Dass Sie das sein werden, darüber besteht kein Zweifel. Sie sind immer fröhlich. Man kann Sie um Ihr heiteres Gemüt beneiden. " „Und. ich dachte, dass Ihnen mein Lachen missfällt. Sie schauten mich manchmal recht finster an." „Sie irren sich", beeilte Valerio ihr zu versichern. „Ich selbst habe diese Eigenschaft zwar nicht, doch bin ich gern mit Menschen zusammen, die sie besitzen. Sie, Signorina, sind bezaubernd, wenn Sie lachen." Valerio hatte diese Worte in einem ruhigen Tonfall gesagt, und es dauerte eine Weile, bis Helena begriff, dass er ihr soeben ein Kompliment gemacht hatte. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, und war froh, als er weitersprach. „Sie sind noch sehr jung, um ganz allein in einem fremden Land zu leben! Ich hörte, Sie haben keinerlei Verwandte oder Freunde hier." Eine erfahrenere Frau wäre bei diesen Worten sofort stutzig geworden, denn woher konnte er das wissen! Doch Helena antwortete unbefangen. „Ich lebe in einem Wohnheim, da bin ich nicht allein. Es ist ein äußerst ehrbares Haus, mein Vater hatte sich dessen vor meiner Abreise aus England versichert, und die Leiterin ist schrecklich streng." Valerio ermunterte sie, mehr von sich zu erzählen, und binnen kurzem hatte Helena fast ihre ganze Lebensgeschichte herausgesprudelt. Valerio war ein angenehmer Zuhörer, da er von jedem ihrer Worte fasziniert zu sein schien. Die ganze Zeit über hatte er ihrem Blick standgehalten. Valerio lud sie zum Abendessen ein, und sie fuhr fort, von sich zu plaudern. Je länger sie zusammen saßen, desto mehr wurde sie sich des rätselhaften Ausdrucks bewusst, der in seinen Augen las. Und bald liefen ihr Schauer über den Rücken, ähnlich, doch stärker als jene, die sie bei den unbeholfenen Küssen ihrer Schulfreunde verspürt hatte. Dabei küsste Valerio sie doch gar nicht. Er berührte sie nicht einmal. Nur als er ihr den Stuhl zurechtgerückt hatte, hatte seine Hand leicht die ihre gestreift. Aber es war eine zufällige Berührung ... Ich wollte, es wäre Absicht gewesen, dachte Helena plötzlich und ertappte sich dabei, wie sie das Ende des Abends herbeisehnte, nur um beim Abschied vielleicht von Valerio geküsst zu werden. Doch sie wurde enttäuscht. Valerio brachte sie zu ihrem Wohnheim und verabschiedete sich kühl und höflich von ihr. Helena tröstete sich mit dem Gedanken, dass er nur mit Rücksicht auf die strenge Heimleitung so gehandelt hatte. Helena» konnte kaum die nächste Vorlesung über Kunstgeschichte erwarten. Wie würde sich Valerio ihr gegenüber verhalten? Als es endlich so weit war, erschien er nicht. Achselzuckend tat sie die Sache ab, doch war sie maßlos enttäuscht über seine Abwesenheit. Sie fing an, die Tage bis zu ihrem nächstmöglichen Treffen zu zählen, bis sie endlich einsah, wie unvernünftig sie
war. In der darauf folgenden Woche erschien Valerio wieder. Helena nahm seine Einladung zum Abendessen an und schwor sich, mit keiner Silbe seine Abwesenheit zu erwähnen. Doch sobald sie am Tisch saßen, platzte sie damit heraus. „Was war letzte Woche mit Ihnen los? Sie haben die Vorlesung versäumt." „Es ist mir leider nicht möglich, an allen Vorlesungen teilzunehmen. Ich bin Anwalt, und letzten Freitag war meine Anwesenheit bei Gericht unbedingt erforderlich. Es ist bedauernswert, aber nicht zu ändern. Zum Glück ist der Rektor der Akademie ein guter Freund meines Vaters und hat Verständnis für meine Lage." „Wie wollen Sie je etwas erreichen, wenn Sie die Hälfte der Vorlesungen nicht mitbekommen? Wenn Sie Kunst ernst nehmen, müssen Sie Ihren Beruf aufgeben. Aber vielleicht", sie runzelte die Stirn, „ist Ihnen das Studium gar nicht so wichtig." Nichts in der Welt erschien Helena ein größeres Verbrechen, als Kunst nicht ernst zu nehmen. Ein feindseliger Unterton schwang daher bei dem letzten Satz in ihrer Stimme mit. Valerie- versicherte ihr lächelnd, dass sie das nicht glauben dürfe. „Nichts wäre mir' lieber, als meine ganze Zeit in der Akademie zu verbringen. Aber es ist nicht möglich. Ich kann meinen Beruf als Anwalt nicht aufgeben." „Warum?" Eine furchtbare Ahnung überkam sie. „Sie sind doch nicht, ich meine, Sie müssen doch nicht für eine Familie sorgen?" • Valerie kam ihr zu Hilfe. „Nein, ich bin nicht verheiratet", versicherte er ihr. „Wäre ich es, würden Sie und ich nicht diesen Abend zusammen verbringen-. Die Sache ist die, dass ich meinem Vater versprochen habe, die Anwaltspraxis zu übernehmen. Ich könnte mein Wort niemals zurücknehmen." Er machte eine kurze Pause. „Ich bin sein einziger noch lebender Sohn. Mein älterer Bruder, Oliviero, der eigentlich zum Nachfolger bestimmt war, kam 1966 in der schrecklichen Flutkatastrophe um. Und so gab ich meinem Vater das Versprechen, den Platz des Älteren einzunehmen und auf mein eigentliches Berufsziel zu verzichten. Ich wollte Kunsthändler werden." „Das hätten Sie nicht tun sollen", rief Helena entrüstet. „In unserem Jahrhundert hat doch jeder Mensch die Möglichkeit, nach seinen Vorstellungen zu leben." „Ja, ja, ich weiß", warf er mit sanfter Stimme ein. „Diese Theorie kenne ich. Jeder tut, was er will, ohne Rücksicht auf seine Mitmenschen. Ein solches Leben kann ich nicht führen, denn ich bin anders erzogen worden. Meine Familie führt seit dreihundert Jahren diese Anwaltspraxis, sogar die Räume sind noch dieselben wie früher." Valerio lächelte sie an. „Ich bin Italiener, Helena. Bei uns steht die Familie über allem, und als mich mein Vater bat, meine eigenen Wünsche dafür zu opfern, hatte ich keine andere Wahl. Außerdem blieb mir ja trotzdem etwas. Ich kann nebenbei studieren, wenn auch nur in meiner Freizeit. Vielleicht finde ich sogar eine Möglichkeit, mich mit Kunsthandel zu befassen. Gesetzlich gäbe es da keine Schwierigkeiten." Helena sah ihn verständnislos an. Dass ein Mann sein Lebensziel wegen einer, wie sie glaubte, altmodischen Pflichtauffassung aufgab, war ihr unerklärlich. Sie kam zu der Überzeugung, dass Valerio ein kaltherziger Mensch sein müsse. Helena hatte bemerkt, dass er sie amüsiert beobachtete, so als ob er ihre Gedanken lesen könnte. „Es muss ein schreckliches Leben sein, Valerio, immer nur seine Pflicht zu tun und nie an sich selbst denken zu dürfen", fuhr sie etwas verunsichert fort. „Im Gegenteil", erwiderte er. „Es bewahrt einem vor allen möglichen
Unannehmlichkeiten und erspart Gewissensbisse." Wieder hatte er diesen amüsierten Gesichtsausdruck. „Nun, ich persönlich könnte eine Verpflichtung nicht über meine wirklichen Interessen stellen, und es wäre mir egal, was die anderen Menschen darüber dächten." „Für so egoistisch, wie Sie sich sehen, halte ich Sie nicht. Mit siebzehn behauptet man gern, alle Laster dieser Welt zu haben, nur um später zu entdecken, dass man auch einige Tugenden besitzt." Seine Bemerkung brachte Helena zum Lachen. Erleichtert stellte sie fest, dass er neben seiner ernsten Art auch Humor besaß. Nur eines ärgerte sie, nämlich, dass er immer so sprach, als gehöre er einer anderen Generation an. Dabei war er nur acht Jahre älter als sie. Helena genoss diese Freundschaft. Sie fing an, Valerio als einen Onkel zu betrachten. Nachdem er auch nach jenem ersten Abend nicht versucht hatte, sie zu küssen, und bei seiner distanzierten Haltung blieb, hatte sie sich zu dieser Einstellung entschlossen. Sie genoss die Abende, die sie zwei Mal wöchentlich verbrachten und an denen er sie immer ermunterte, ihm ihre Gedanken und Ansichten darzulegen. Bei dieser Gelegenheit stellte Helena fest, dass sie weniger oberflächlich war, als sie gedacht hatte. Während der Vorlesungen saßen sie getrennt, manchmal in den entgegengesetzten Ecken des Hörsaals. Valerio wollte damit jedes Aufsehen vermeiden. Helena wiederum gefiel es, da sie so die Gelegenheit hatte, ihn ungestört zu beobachten. Seine feinen Gesichtszüge, die dunklen Augen, die Anmut seiner Bewegungen, vor allem das Gebärdenspiel seiner schmalen nervösen Hände faszinierten sie. Da aber ihre Gefühle noch nicht geweckt waren, erregte sie dieser Anblick nicht. Noch nie hatte sie Verlangen nach einem Mann verspürt. Zwar hätte sie gern Valeries schön geformte Lippen geküsst und seine Hände in ihre gelegt, doch darüber hinaus empfand sie nur eine ihr unerklärliche Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem. Helena verbrachte Ostern in England. Doch immer wieder dachte sie an Valerio. Sie nahm sich vor, den Schutzwall der Unnahbarkeit, mit dem er sich umgab, zu durchbrechen. Es würde ihr nicht schwer fallen, das wusste sie. Nachdem sie zu Beginn ihres dritten Semesters nach Florenz zurückgekehrt war, verbrachte sie die wenigen Tage, die ihr noch bis zur ersten Vorlesung blieben, in verschiedenen Kunstgalerien der Stadt und hoffte, dass ihr Valerio irgendwann begegnen würde. Sie traf ihn im Palazzo Vecchio, dem ältesten Palast in Florenz und einstigem Regierungssitz, heute eine der bekanntesten Gemäldegalerie n Italiens. Valerio führte sie zu seinen Lieblingsbildern und erwies sich als ausgezeichneter Kunstkenner. Später saßen sie in einem der Straßencafes an der Piazza del la Signoria zusammen. Valerio hatte die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt, so dass man seine sonnengebräunte Haut sah. Trotz des saloppen Anzugs wirkte er elegant. Helena kam sich in ihren verwaschenen Jeans fast fehl am Platz vor. Während sie Kaffee tranken, setzten sie ihre Diskussion über die zuvor betrachteten Gemälde fort. Sie sprachen über die alten Meister, später auch über die Kunst der Moderne, und schließlich fragte Valerio sie, was ihre Pläne nach Abschluss der Akademie seien. „Ich weiß noch nicht", sagte Helena. „Nach Hause möchte ich auf keinen Fall. Ich habe schon daran gedacht, vorerst von dem Geld zu leben, das meine Mutter mir hinterlassen hat. Aber wer weiß, ob es für meinem Start reichen wird." Valerio runzelte die Stirn. „Aber was ist Ihr eigentliches Ziel?"
„Ich möchte eine berühmte Malerin werden. Und nichts wird mich davon abhalten. Niemals möchte ich mein Dasein fristen, indem ich Kinderbücher illustriere, Porzellanmuster entwerfe oder, noch schlimmer, als Auktionator Kunstobjekte unter den Hammer bringe. Nein, ich werde Bilder malen und berühmt sein." Valerio schüttelte den Kopf. „Diesen Gedanken müssen Sie sich aus dem Kopf schlagen, Helena. Sie werden nie berühmt sein, nicht in dem Sinn, wie Sie sich das vorstellen." Helena schaute ihn verblüfft an. Sie hatte ihn nie vorher unhöfliche Worte sagen hören. „Sie haben erst wenig von meiner Arbeit gesehen, nur ein paar Skizzen", gab sie leicht verärgert zurück. „Urteilen Sie nicht etwas vorschnell?" „Mein Urteil gilt nicht Ihren Entwürfen, sondern Ihrer Person. Die Zeichnungen sind hervorragend, Ihre Linienführung ist perfekt und die Ähnlichkeit mit dem von Ihnen Dargestellten verblüffend. Ich könnte Sie mir als erfolgreiche Porträtmalerin vorstellen. Und doch werden Sie niemals erreichen, wovon Sie träumen. Es fehlt Ihnen nämlich etwas Wesentliches, und das ist... Dis tanz." Helena war zu überrascht, um antworten zu können. Stattdessen sah sie Valerio abwartend an. „Haben Sie noch nie darüber nachgedacht", fuhr er fort, „warum die berühmtesten Gemälde von Männern stammen? Es gibt einen Grund, mag er Ihnen auch chauvinistisch erscheinen. Nur wer sich von der Welt distanziert hat, ist im Stande, sie künstlerisch darzustellen." • „Aber er muss doch auch leben ..." „Sicher, aber er darf sich nicht darin verlieren. Er muss wie ein Mönch leben, der seine Mitmenschen zwar liebt, sich jedoch niemals von starken persönlichen Empfindungen beherrschen lässt. Ein Künstler muss der Welt zugetan sein, bevor er ihr den Spiegel vorhält. Wenn er sich jedoch an sie verliert, kommt ihm das Gefühl für die richtige Perspektive abhanden, und der Spiegel wird zu einem Zerrspiegel." „Es gab auch berühmte Malerinnen", beharrte Helena. „Gwen John zum Beispiel. Oder wollen Sie behaupten, dass sie eine Dilettantin war?" Valerio lächelte über ihre energischen Worte. „O nein, Sie gehört zu den Besten, ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder Augustus. Aber gerade Gwen, John bestätigt meine Theorie. Die letzten Jahre lebte sie zurückgezogen in einem abgelegenen Dorf in Frankreich. Berühmte Männer wollten sie besuchen, aber ihre Tür blieb für alle verschlossen. Sie war eine einmalige Erscheinung, denn dieses Sichlossagen von allem, dieses Sichdistanzieren von allem Irdischen ist normalerweise Männern vorbehalten. Sie, Helena, brächten es bestimmt nicht übers Herz, jemanden vor der Tür stehen zu lassen." „Ich bin anderer Meinung", sagte Helena ungeduldig. „Gwen John war nichts anderes als eine ungesellige Frau." „Nun gut. Doch jetzt zu einem anderen Beispiel. Bei unserem nächsten Besuch im Palazzo Vecchio werde ich Ihnen das Fenster zeigen, an dessen Außenfassade Bernardo Baroncelli 1478 wegen einer Verschwörung, die er gegen die Medici angezettelt hatte, aufgehängt wurde. Während sein Körper, hin und her baumelte, machte ein junger Künstler mit Namen Leonardo da Vinci eine detaillierte Skizze davon." „Wie schrecklich!" „Ganz meine Meinung. Und doch ist es das, was ich als Abstand von den Dingen bezeichnen würde." „Ich glaube nicht an dieses Märchen." „Nun, es muss wohl wahr sein, denn die Skizze existiert noch. Das Original
befindet sich in Frankreich. Ich besitze eine, Reproduktion, die ich Ihnen gern zeige, wenn Sie Interesse daran haben." Helena stimmte sofort zu. Sie war neugierig auf die Umgebung, in der Valerio lebte. Vielleicht würde sie dadurch mehr über ihn erfahren. Valerio steuerte den Wagen zum Arno hinunter, in den Stadtteil, wo sich die Anwaltsbüros seit Jahrhunderten dicht um das Stadtgefängnis gruppierten. Das Bargello war jetzt allerdings keine Strafanstalt mehr. Valerio zeigte auf die Eingangstür, die zu seinem Büro führte. Helena kam sie recht schäbig vor, und nie hätte sie ohne Hinweis davon Notiz genommen. Valerio parkte den Wagen in einer Seitenstraße und führte Helena über« die enge, dunkle Treppe hinauf zu seiner Wohnung, die im ersten Stock lag. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, blieb er einen Augenblick stehen, den Blick auf sie gerichtet. Helenas Pulsschlag beschleunigte sich, und ein Verlangen durchströmte sie, das sie bisher nicht gekannt hatte. Valerio machte einen Schritt auf sie zu, und im nächsten Augenblick lagen sie sich in den Armen. Valerios Kuss raubte ihr die Sinne. Sie glaubte, vergehen zu müssen, und ihr einziger Wunsch war, er würde nie aufhören, sie so zu küssen. Als sich Valerio endlich von ihr löste, war sie so benommen, dass sie seine Worte wie durch einen Nebelschleier wahrnahm. „Seit dem ersten Tag, an dem ich dich kennen lernte, wollte ich dich küssen", sagte er heiser. „Seit damals habe ich auf diesen Augenblick gewartet und mir tausend Mal vorgestellt, dich in den Armen zu halten." „Ach Valerio, ich bin so glücklich. Ich fürchtete schon, du würdest dir nichts aus mir machen." Sie bemerkte sein Lächeln nicht. Doch seine folgenden Worte trafen sie wie ein Schlag. „Helena, es ist besser, wenn du jetzt gehst." „Nein", weigerte sie sich entschlossen. „Bitte", Valerio bemühte sich, ruhig zu sprechen, und nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Es war Unrecht von mir, dich hierher zu bringen. Du bist noch ein Kind, du hast keine Ahnung ..." „Oh, doch, ich weiß zum Beispiel, dass ich dich liebe!" „Bitte geh jetzt, Helena, bevor es zu spät ist." Während er sprach, atmete er den betörenden Duft ein, und als sie die Arme um ihn schlang, war es um ihn geschehen. Sie zog seihen Kopf zu sich herab und suchte seine Lippen, wohl wissend, dass er weder die Kraft noch den Willen aufbrachte, ihr zu widerstehen. Langsam öffnete sich ihr Mund unter seinem Kuss, und sie empfand eine nie gekannte Erregung, als seine Zunge spielerisch über die Innenseite ihrer Lippen strich. Er hatte ihren Kopf an seine Schulter gebettet und hielt sie in einer eisernen Umklammerung fest. Während er mit den Fingern durch ihr Haar strich, gab er ihren Mund frei und bedeckte ihr Gesicht und ihren Hals mit Küssen. Als er anfing, ihre Bluse aufzuknöpfen, geriet sie einige Sekunden in Verlegenheit. Doch dann sagte sie sich, dass sie sich nicht zu schämen brauchte. Sie war jung und schön, und sie war stolz darauf, sich Valerio hingeben zu dürfen. Ihr Herzschlag wurde schneller, als er ihren winzigen BH auf den Boden warf und zärtlich über ihre kleinen festen Brüste strich. Dann führte er sie ohne ein weiteres Wort ins Schlafzimmer, wo er die Rollläden bis auf einen schmalen Spalt herunterließ. Und dann lag sie plötzlich neben ihm und fühlte seinen schlanken Körper. Valerios sanfte Liebkosungen verrieten nichts von seinem Verlangen, doch
weckten sie in Helena verwegene Wünsche. Sie bemerkte kaum, dass sein Streicheln kühner und drängender wurde, so sehr war sie mitgerissen von einem Strudel leidenschaftlicher Gefühle. Plötzlich sah sie in Valerios Gesicht das Lächeln, auf das sie so lange gewartet hatte, warm und strahlend, wie aus der Tiefe seines Herzens kommend. „Wie oft habe ich dich in meinen Träumen gesehen", flüsterte er heiser. „Und um wie viel schöner bist du in Wirklichkeit!" Während er sprach, liebkoste er ihre Brust, und als Helena leise aufstöhnte, spürte sie seine Lippen zärtlich über die rosige Spitze der anderen streichen. Ihr war, als ob elektrische Stöße sie durchzuckten. Dann spürte sie, wie sich langsam ein prickelndes Gefühl in ihrem Körper ausbreitete, und hatte nur noch den einen Wunsch: sich Valerio hinzugeben. Doch er ließ sich Zeit und setzte sein erregendes Spiel mit den Händen fort, bis sie schließlich in einen Taumel der Lust geriet, der sie willenlos machte. Erst dann nahm er sie. Ihr verlangender Blick, ihre völlige Hingabe steigerten sein Verlangen ins Unermessliche. Seine Bewegungen wurden schneller. Helena wand sich erregt unter ihm, und die Wogen der Lust trugen sie von Gipfel zu Gipfel, in einem Rausch, wie sie ihn beide nie für möglich gehalten hätten ... Helena lag in Valerios Armen, das Gesicht an seine Brust geschmiegt, und atmete den herben, würzigen Duft ein, der ihn stets umgab. Sie war auf die Erde zurückgekehrt, und doch schien alles verändert. Als sie Valerios lächelndes Gesicht über sich sah, staunte sie wieder und wieder über das Wunder, das ihnen beiden widerfahren war. Dann schaute sie zum Fenster und bemerkte einen von rosa Blüten übersäten Ast, der durch den Spalt in den Jalousien schimmerte. Ja, dachte sie, es ist Frühling. An einem Frühlingstag habe ich die Liebe entdeckt, im Frühling meines Lebens, es ist wie ein Wunder ... „Wenn ich mir vorstelle, dass du mich wegschicken wolltest", sagte sie plötzlich. „Ich hätte es besser auch getan", antwortete Valerio. „Aber ich habe lange genug gekämpft, und einmal musste ich unterliegen, nicht wahr, mein Herz?" „Mein Herz?" wiederholte Helena wie ein Echo. „Wusstest du nicht, dass du mir alles bedeutest?" fuhr er fort. Sie unterbrach ihn. „Wie hätte ich es ahnen können, da du doch immer so streng und ernst warst." „So bin ich eben. Aber mit dir wird es von nun an anders sein, das verspreche ich dir." Valerio sagte diese Worte zwar in seiner üblichen ernsten Art, doch Helena ließ sich davon nicht mehr täuschen. Sie hatte einen Blick hinter die Fassade dieses Mannes werfen dürfen und dabei einen gefühlvollen, leidenschaftlichen Mann entdeckt. Helena warf die Bettdecke zurück. Wie zart und zerbrechlich sie im Vergleich zu Valerio wirkte. Sie stimmte die Hände gegen seine Brust, um sich aus seiner Umarmung zu befreien. Doch Valerio durchschaute ihr Spiel und hielt sie so fest, dass ihr keine einzige Bewegung gelang. Schließlich gab sie lachend auf. „So ist das nun mal", sagte Valerio. „Die Frauen sind von Natur aus schwäch. Deshalb muss der Mann stark sein, um sie halten zu können, um sie nicht zu verlieren." „Mich brauchst du nicht zu halten", entgegnete sie ihm. „Ich werde dich nie verlassen." „Du musst für immer bei mir bleiben, Helena." Seine Worte klangen fast feierlich. Später kleideten sie sich an, und Valerio ging in die Küche, um Kaffee zu machen. Währenddessen hatte Helena Zeit, sich in seiner Wohnung umzusehen.
Durch die holzvertäfelten Wände wirkte sie zwar etwas dunkel, aber sehr gemütlich. Alte, in der Farbe verblasste Gobelins und wertvolle Gemälde waren wohl der Grundstock seiner geplanten Sammlung. Helena strich die Decke auf dem riesigen Messingbett glatt, und als sie sich umsah, fand sie alles so ordentlich, wie sie, es von Valerio nicht anders erwartet hatte. Nur der Toilettentisch machte eine Ausnahme. Fotos in alten Silberrahmen standen darauf. Während sie die Bilder betrachtete, kam Valerio mit dem Kaffee herein. „Das sind meine Eltern." Er deutete auf ein Paar mittleren Alters. „Mein Vater lebt nicht mehr. Diese beiden Alten hier sind die Eltern meiner Mutter und diese hier die meines Vaters. Von ihnen allen lebt nur noch seine Mutter." Er zeigte auf eine alte Dame mit einem runden, fröhlichen Gesicht und wachen Augen. „Wir sagen immer, dass meine Großmutter ewig am Leben bleiben wird, da der heilige Petrus Angst hat, sie in den Himmel einzulassen." „Ist sie denn so Furcht erregend?" wollte Helena wissen. „O nein", sagte Valerie in einem fast zärtlichen Ton. „Sie ist die gütigste, warmherzigste Frau dieser Welt, doch hat sie etwas Resolutes in ihrer Art, das die anderen unsicher und befangen macht. Übrigens erinnerst du mich manchmal ah sie." „Sag bloß nicht, dass du mir gegenüber befangen bist." Helena lachte. „Das brauchst du nun wirklich nicht zu denken", sagte Valerio. „Ich fürchte auch meine Großmutter nicht, höchstens wenn sie entschlossen ist, etwas zu tun, was nach ihrer Meinung zu meinem Besten ist." Wieder lachte Helena und zeigte auf ein anderes Foto, das einen jungen, etwa zwanzigjährigen Mann zeigte. „Wer ist das?" fragte sie. „Mein Bruder Oliviero, von dem ich dir erzählte, dass er bei der Flutkatastrophe ums Leben kam." „Ja, ich erinnere mich. Und wer ist das kleine Mädchen dort?" „Meine Schwester Serena. Sie ist erst zehn Jahre alt. Du wirst sie demnächst kennen lernen." „Das heißt natürlich, wenn du es möchtest", fügte er rasch hinzu, als er Helenas erstaunten Blick bemerkte. „Aber sicher", war das Einzige, was sie darauf sagen konnte.' Sie wusste, was es bedeutete, wenn ein Italiener ein Mädchen seiner Familie vorstellte. Nachdem Helena die Familienbilder betrachtet hatte, fühlte sie sich ein wenig vertrauter mit Valeries Welt. Dies waren die einzigen Menschen, denen er sein wahres Gesicht zeigte, das er sonst hinter einem Schutzwall von Kälte verbarg. Auch sie hatte bis heute jenseits dieser Mauer gestanden. Doch nun sah Helena Valerios wahres Ich, zart fühlend und verletzbar. Von Helena unbemerkt, hatte Valerio das Zimmer verlassen. Als er kurz darauf zurückkehrte, hielt er ein dickes Buch in der Hand. Er setzte sich neben sie und fing an, darin herumzublättern. Endlich fand er, was er gesucht hatte. „Hier." Er deutete auf ein Bild. Helenas Blick fiel auf die Reproduktion einer Bleistiftskizze. Sie zeigte einen Mann in langem, wallendem Gewand, der mit einem Strick um den Hals an der Außenfassade eines Fensters hing. Der Bildtext darunter identifizierte ihn als Bernardo Baroncelli bei seiner Hinrichtung, gezeichnet von Leonardo da Vinci. Helena kam sich töricht vor. „Verzeih mir", sagte sie. „Ich hatte dir nicht geglaubt, weil ich die Geschichte für unwahrscheinlich hielt." Valerie lachte. „Hätte sich der gute Baroncelli nicht angeboten, wäre ich genötigt gewesen, mir etwas anderes auszudenken, um dich in meine Arme zu locken. Denn du musst wissen, dass dies seit Beginn unserer Bekanntschaft mein Ziel war. Außerdem ist es der einzige Platz, wo du hingehörst, und zwar für
immer..."
3. KAPITEL
Während der folgenden Jahre war sich Helena nie ganz über ihre wahren Gefühle für Valerio sicher gewesen. Manchmal gla ubte sie, ihn leidenschaftlich geliebt zu haben. Dann wieder empfand sie, dass es vielleicht das Leben selbst war, in das sie sich verliebt hatte, und Valerio eben ein Teil davon. Ihre Erfolge an der Akademie waren bemerkenswert. Eine glanzvolle Zukunft lag vor ihr, und neben all dem hatte sie Valerio. Was konnte sie sich mehr wünschen? Nie war es ihr damals in den Sinn gekommen, dass eines Tages alles anders sein könnte. Offiziell wohnte sie weiterhin in ihrer Pension, verbrachte jedoch jede freie Stunde in Valerios Wohnung. Oft ließ er sie allein, damit sie ungestört ihren Studien nachgehen konnte. Kam er dann zurück, legte sie den Zeichenblock aus der Hand und warf sich ihm in die Arme. Sie liebte Florenz und das Leben, das sie dort führte. Doch manchmal träumte sie von fernen exotischen Ländern und stellte sich vor zu malen, was ihrem bisherigen Lebensbereich fremd war. Dass diese Träume keinen Platz für Valerio ließen, beunruhigte sie wenig. Nie würde sie auf ihn verzichten, ebenso wenig wie auf ihre Träume. Das Widersprüchliche, das darin lag, musste sie eben übersehen. Sie sprach mit Valerio über diese Träume, und nie bemerkte sie, dass er zu allem schwieg. Als es ihr endlich auffiel, küsste sie ihn mit einer Leidenschaft, dass sich seine Miene bald erhellte und sie glaubte, das Problem damit vom Tisch zu haben. Die Gefahr, in die sie sich begab, erkannte sie nicht. Im Gegenteil, sie berauschte sich an dem Gedanken, dass sie nun ein Doppelleben führte. Das eine mit Valerio, das andere als Künstlerin. Immer häufiger geschah es, dass sie während der Arbeit an Valerio dachte. Nicht zuletzt deshalb hatten ihre Bilder aus jener Zeit einen gewissen sinnlichen Reiz, den ihre späteren Arbeiten nie wieder erreichten. Und so glaubte sie an eine Harmonie ihres zukünftigen Lebens, wenn sie diese nur anstrebte. Helena war glücklich. Wenn sie in Valerios Armen lag und ein Lächeln seine Züge erhellte, gab es ihr die tiefe Befriedigung, dass sie es gewesen war, die aus ihm einen anderen Men- . sehen gemacht, dass sie allein dieses Wunder vollbracht hatte. In Gesellschaft anderer gab er sich wie eh und je, ernst, zurückhaltend, ja kalt. Aber selbst dann versuchte er verstohlen, ihre Hand zu drücken. Einmal im Juni blieb sie die ganze Nacht bei Valerio, was gegen die Vorschriften der Heimleitung verstieß. Als sie am Morgen erwachte, fühlte sich Helena so selig wie nie zuvor. „Vielleicht macht man mir Schwierigkeiten im Wohnheim", sagte sie zu Valerio, als er den Kaffee hereinbrachte. „Mir ist das gleichgültig nach dieser wunderbaren Nacht. Übrigens, guten Morgen, mein Liebling!" „Es ist bereits Mittag, du Schlafmütze. Und wenn du nicht gleich aufstehst, wird es für unser Picknick zu spät. Außerdem muss ich dich bitten, die Decke etwas höher zu ziehen, sonst könnte es leicht passieren, dass aus dem Ausflug nichts wird und du vor morgen früh hier nicht mehr rauskommst. Wie willst du dann deine Abwesenheit für die zweite Nacht erklären?" Helena lachte und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Eine Stunde später verließen sie die Wohnung, um in die toskanischen Berge zu fahren. Kaum hatten sie die Straße betreten, hielt Valerio plötzlich den Atem an, und Helena merkte, wie er zögerte weiterzugehen. Als sie in seine Blickrichtung schaute, sah sie einen älteren Herrn, der auch stehen geblieben war und auf die andere Straßenseite wechseln wollte, offensichtlich um ein Zusammentreffen mit ihnen zu vermeiden. Dann aber
sprach Valerio ihn an, und sogleich kam der Mann auf sie zu, eine Hand schon zum Gruß ausgestreckt. „Signor Corelli, darf ich Ihnen Signorina James vorstellen", sagte Valerio in einem äußerst formellen Ton. „Helena, dies ist Signor Corelli." Helena wusste, dass er einer der bekanntesten Richter in Florenz war. Nachdem sie ein paar höfliche Worte gewechselt hatten, verabschiedete sich Richter Corelli von ihnen. Den letzten Satz sagte er in toskanischer Mundart, aber Helena verstand ihn trotzdem. „Gut, mein Junge, es wird auch Zeit." Corelli klopfte Valerio auf die Schulter und lächelte Helena freundlich zu. Ihr entging nicht, dass er sie dabei einer genauen Musterung unterzog. Dann ging er seines Weges. „Was meinte er mit dem ,Es wird auch Zeit'?" wollte Helena wissen. Valeries Gesicht überzog eine feine Röte. „Dass es Zeit für mich wird, zu heiraten. Er glaubt, wir wären verlobt." „Wie kommt er dazu? Hast du ihm etwas erzählt?" „Nein. Es lag für ihn auf der Hand, dass du die Nacht in meiner Wohnung verbracht hast. Als ich dich dann vorstellte, musste er zwangsläufig zu dem Schluss kommen. Hast du sein Zögern nicht bemerkt, als er uns zuerst sah?" „Doch. Ich glaubte schon, er würde auf die andere Straßenseite wechseln." „Er hätte es auch getan, wenn ich ihm nicht zugerufen hätte. Corelli ist fast achtzig. In seiner Jugend gab es nur zwei Sorten von Frauen, und das hat er bis heute nicht vergessen. Ich musste dich also vorstellen, damit er dich nicht für ein billiges Mädchen hielt." ..Es ist lieb von dir. an meinen Ruf zu denken", sagte Helena, gerührt über seine altmodische Denkart. „Aber hast du nicht deinem eigenen Ruf geschadet? Früher oder später wird Corelli die Wahrheit erfahren." „Welche Wahrheit?" „Nun, er wird erfahren, dass wir nicht verlobt sind." Sie gingen nebeneinander die Straße entlang, an deren Ende Valerie seinen Wagen geparkt hatte. „Willst du mich nicht heiraten, Helena?" fragte Valerio unverhofft, ohne sie dabei anzusehen. „Valerio, du musst mich doch nicht zu deiner Frau machen, nur weil du glaubst, mich kompromittiert zu haben", erwiderte sie. „Wir leben doch nicht im 19. Jahrhundert. Es ist nicht nötig, eine ,ehrbare Frau' aus mir zu machen." „Sag so etwas nie wieder", fuhr er sie so wütend an, dass die Passanten auf sie aufmerksam wurden. Im ersten Moment verblüffte Helena nur die Tatsache, dass sich Valerio in der Öffentlichkeit so hatte gehen lassen. Das war sie nicht von ihm gewohnt. Erst danach entdeckte sie die Wut, die aus seinem Blick sprach. „Dies ist kein Ort für ein ernstes Gespräch", sagte er eisig und führte Helena die letzten Schritte zu seinem Wagen. Valerio fuhr schneller als sonst, und so hatten sie bald den für ihr Picknick vorgesehenen Platz erreicht. Valerio suchte eine schattige Stelle, und als alles ausgepackt war und er neben Helena unter einem Baum saß, nahm er das unterbrochene Gespräch wieder auf. „Ich weiß nicht, ob du dir im Klaren darüber bist, wie sehr mich deine Bemerkung verletzt hat. Du würdigst etwas herab, was mir heilig ist. Ich betrachte dich bereits als meine Frau, und davon zu sprechen, dir durch eine Ehe deine Ehre wiederzugeben, finde ich ...", er suchte nach einem treffenden Ausdruck, ,,... geradezu geschmacklos." „Es tut mir Leid", entschuldigte sich Helena. „Ich wollte damit nur sagen, dass du dich nicht verpflichtet fühlen sollst, mich zu heiraten. Eine Ehe auf dieser Basis wäre wohl nicht erstrebenswert."
„Und welches ist die richtige Basis?" „Eine Heirat aus Liebe." „Helena, wenn ich es auch nie ausgesprochen habe, du weißt doch genau, dass ich dich liebe." Helena nickte. „Und du?" fuhr er fort. „Erschreckt dich der Gedanke, mich zu heiraten?" „Ich liebe dich sehr", sagte sie ernst. „Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich jetzt schon eine Ehe eingehen möchte. Ich wollte noch ein paar Jahre warten." „Ich weiß." Wieder klang er verärgert. „Ich komme erst an zweiter Stelle bei dir. Das Wichtigste für dich ist immer noch, mit Pinsel und Palette durch die Welt zu ziehen." „Nein", versicherte sie ihm. „So ist es nicht. Aber ich möchte vorher zu mir selbst finden und meine Fähigkeiten erproben." Er fiel ihr fast ins Wort. „Du bist fähig, mich glücklich zu machen. Das muss dir doch genügen." Helena schwieg. Seine Reaktion machte ihr das Problem deutlich. Valerio schien einer Generation anzugehören, in der es einer Frau genügt hatte, sich von einem Mann geliebt zu wissen und ihn glücklich zu machen. Sie wollte mehr und brachte es doch nicht übers Herz, ihm das zu sagen. Zum Glück wechselte Valerio das Thema, während sie noch nach Worten suchte. Bis zu ihrem Aufbruch sprachen sie nur noch über belanglose Dinge, und jeder merkte, dass es dem anderen schwer fiel. Als sie seine Wohnung betraten, klingelte das Telefon. Valerio griff nach dem Hörer. „Mama", hörte Helena ihn sagen, und kurz darauf fiel das Wort „Mittwoch". Dabei blickte er fragend zu ihr hinüber. Helena nickte. Was konnte sie auch anderes tun! „Das war zu erwarten", sagte Valerio, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. „Signor Corelli ist ein bedeutender Mann, jedoch die größte Klatschbase von Florenz. Zehn Minuten, nachdem er sich von uns verabschiedet hatte, rief er schon bei meiner Mutter an. Nun will sie dich natürlich kennen lernen, und sie wäre sehr gekränkt, wenn ich ihr dich nicht vorstellen würde. Sie schien sowieso schon beleidigt zu seih, dass ich es bis jetzt versäumt habe." Am Mittwoch zog Helena ein dezentes Kleid an, und Valerio brachte sie zu seinem Familiensitz, der am Rande der Stadt lag. Das Haus war nach dem Tod seines Vaters und Bruders in sein Eigentum übergegangen, wenngleich seine Mutter noch darin lebte. Helena interessierte sich sehr dafür, betrachtete Valerio es doch als ihren zukünftigen gemeinsamen Wohnsitz. Die Villa Lucci lag behäbig auf einem Hügel nördlich der Stadt. Das Gelände fiel steil ab, so dass die Gärten terrassenförmig angelegt waren. Selbst vom Erdgeschoss aus schien die Stadt, die jetzt in den Schein der Abendsonne getaucht war, tief unter ihnen zu liegen. Die Fassaden des Hauses waren alt, seine Räume dunkel. Für Helena, die das Helle liebte, zu dunkel. Überwältigt jedoch war sie von der Vielzahl der Gemälde, die Valerios Vater im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Vom ersten Moment an fühlte sich Helena beobachtet. Die Blicke von Valerios Mutter, seiner Großmutter und selbst der kleinen Schwester ließen unschwer ihre Neugier erkennen. Helena ließ, sich das Unbehagen, das sie darüber empfand, nicht anmerken. Stolz hielt sie den prüfenden Blicken stand, wobei ihr Valerio in seiner liebevollen Beschützerrolle eine große Hilfe war. Offensichtlich hatte er seine Familie dazu angehalten, Helena freundlich aufzunehmen. So begegnete Signora Lucci ihr mit einer liebenswürdigen
Höflichkeit, die im Laufe des Abends mehr und mehr in Freundschaft überging. Helena hatte das Gefühl, eine Prüfung bestanden zu haben. Valerios Großmutter, eine stattliche ältere Dame, hatte sie mit einem strahlenden Lächeln und einem Kuss auf jede Wange begrüßt. Sie bestand darauf, von Helena Adele genannt zu werden, was Valerio anscheinend gefiel. Serena war ein gut erzogenes Kind, das zuerst etwas schüchtern war, später aber auftaute, und Helena alle möglichen Fragen stellte. Es schien, dass auch sie ihre zukünftige Schwägerin ins Herz geschlossen hatte. Nach dem Essen zog Signora Lucci Helena beiseite und ermutigte sie durch allerlei Fragen, aus ihrem Leben zu erzählen. Zu diesem Zeitpunkt war bereits jede Spannung von Helena abgefallen, und freimütig sprach sie, unter anderem auch über ihre Leidenschaft für Malerei! „Wie sehr mich das doch an meine eigene Jugend erinnert", sagte Signora Lucci. „Auch ich habe Kunst studiert. Später war es mir dann von großem Nutzen, denn mein Mann war ein bedeutender Kunstkenner, und es ist wic htig, dass eine Frau an den Interessen ihres Gatten Teil hat, nicht wahr?" Helena teilte diese Auffassung nicht vorbehaltlos. „Ich studiere um meiner selbst willen", entgegnete sie kühl. „Ich wollte schon immer Malerin werden." „Es ist gut, ein Ziel zu haben", antwortete Signora Lucci und lächelte. „In meiner Jugend saßen wir nur herum und warteten darauf, geheiratet zu werden." Adele, die sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte, lachte. „Du vielleicht", warf sie ein. „Ich habe nie auf einen Mann gewartet." Helena stimmte in das Lachen der alten Dame ein. Sie mochte Adele. Die Signora hingegen saß unbeweglich da, und das Lächeln auf ihrem Gesicht schien wie eingefroren. Offensichtlich hatte sie für die Art Humor nichts übrig, war aber zu wohlerzogen, es zu ze igen. „Meine Schwiegermutter stammt nicht aus Florenz", sagte sie schließlich. „Sie kommt aus Rom. Auf einer Reise hierher lernte sie meinen Schwiegervater kennen. Insofern ging es ihr wie Ihnen, Signorina. Würden Sie nicht an der hiesigen Akademie studieren, hätten Sie meinen Sohn nicht kennen gelernt." Ganz offensichtlich betrachtete sie Helenas künstlerisches Bestreben, nur als einen Vorwand, um sich einen Mann zu angeln. Davon konnte sie niemand abbringen. Helena versuchte, die Unterhaltung in unverfänglichere Bahnen zu lenken. „Valerie bemerkte einmal, dass ich ihn manchmal an Sie erinnere", wandte sie sich an Adele. „Das kann ich mir vorstellen", antwortete die Signora trocken, bevor die Großmutter etwas sagen konnte. Helena hatte das Gefühl, um einige Stufen in der Gunst der Dame des Hauses gesunken zu sein, und sie war froh, als Valerio endlich das Zeichen zum Aufbrach gab. Der Abschied von Signora Lucci verlief kühl, doch Adele umarmte sie herzlich und küsste sie auf beide Wangen. „Zu lange schon ist dieses Haus öd und leer. Sie, Signorina, werden es mit Kindern füllen, und erst wenn ich das erlebt habe, will ich sterben." Auf der Rückfahrt wiederholte Helena diese letzten Worte. „Du hättest ihnen klar machen müssen, dass es eine lange Verlobungszeit geben wird", sagte sie zu Valerio. „Das habe ich versucht, aber sie wollen es nicht verstehen." Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: „Wie lange stellst du dir unsere Verlobungszeit vor?" „Müssen wir noch einmal darüber sprechen? Ich sagte dir doch, dass ich zuerst mein Studium abschließen und dann noch etwas von der Welt sehen möchte." „Kurz gesagt, du verlangst, dass ich jahrelang auf dich warte." Nie zuvor waren
sie einem Streit näher gewesen als jetzt. Zu den Semesterferien begleitete Valerio Helena nach England. Sie hoffte insgeheim, in ihrem Vater einen Verbündeten für ihre Hinhaltetaktik zu finden, wurde aber bitter enttäuscht. „Du wirst demnächst achtzehn", meinte er. „Ich glaube nicht, dass du meinen Rat noch nötig hast. Zudem finde ich Herrn Lucci sehr nett. Auch an Geld wird es dir nicht fehlen." Die letzten Worte hätten von ihrer Stiefmutter kommen können. Zurück in Florenz, sah sich Helena in einem Zustand äußerster Verwirrung. Sie war verliebt und der Mann, den sie liebte, wollte sie heiraten. Doch anstatt glücklich zu sein, hatte sie das Gefühl, dass sich ein Netz immer enger um sie zusammenzog. Das Leben, das sie als Valerios Frau führen würde, stand immer deutlicher vor ihren Augen. Die Hochzeit sollte im August stattfinden, danach durfte sie für ihre letzten zwei Semester an die Akademie zurückkehren. Das hatte Valerio ihr versprochen. Aber sie wusste genau, was kommen würde. Er sowie seine Familie würden nur darauf warten, dass sie schwanger wäre. Helena war verzweifelt. Einerseits wollte sie Valerio nicht verlieren, andererseits würde sie sich mit dem Leben, das er ihr aufzuzwingen versuchte, nicht abfinden. Sie wollte alles haben. Sie wollte ihre Jugend genießen, die Liebe und ihre Arbeit. Sie wollte frei sein von jedem Zwang, ihr Tun und Lassen selbst bestimmen. Und wenn sie an einem Bild arbeitete, musste sie die Möglichkeit haben, allein zu sein. Das Gegenangebot dazu war ein Leben in jener düsteren Villa auf dem Hügel. Helena würde die Gattin eines aufstrebenden jungen Anwalts sein und sich entsprechend zu benehmen haben. Ihr Freundeskreis wäre nicht mehr derselbe. Statt unter exzentrischen Studenten würde sie sich unter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens bewegen und allmählich zu einer Matrone werden. Dafür würde Valerio schon sorgen. Denn wenn auch jung an Jahren, war er doch ein altmodischer Mensch, der sich in einer altmodischen Gesellschaft bewegte. Dann wieder glaubte Helena, dass alles viel einfacher war, als sie es sah. Sie musste mit Valerio sprechen und ihm klar machen, dass er sie zu einer überstürzten Heirat nicht drängen durfte. Vielleicht wäre er ihr sogar dankbar. Vielleicht gebot ihm nur sein Pflichtgefühl, sie zu heiraten. Doch jedes Mal, wenn sie so weit war, strafte Valerio sie mit seiner Zärtlichkeit Lügen. Nein, es war bei Gott nicht Pflichtbewusstsein. Rückhaltlos, leidenschaftlich liebte er sie. Und ihr genügte das nicht. Noch einmal unternahm Helena den Versuch, Valerio gegenüber ihre Bedenken zu äußern. Er tat sie ab als die typischen Ängste vor einer Heirat. „Du willst mir damit doch nicht sagen, dass du mich nicht mehr liebst?" fragte er sie schließlich. „Du weißt genau, wie sehr ich dich liebe", sagte Helena leidenschaftlich. „Aber warum können wir dieses glückliche Leben nicht noch eine Weile so fortsetzen?" „Dazu ist es zu spät. Wir sind verlobt und letzten Endes willst du mich doch irgendwann heiraten. Warum nicht gleich?" Anstatt zu antworten, schlang sie die Arme um seinen Hals und küsste ihn stürmisch. Er zog sie zum Bett und liebte sie, diesmal leidenschaftlicher als je zuvor. Danach war sie, wie so oft schon, bereit, ihn gleich zu heiraten. Doch je näher der Hochzeitstag rückte, umso mehr geriet Helena in Panik, und am Morgen, als es dann so weit war, hatte sie nur einen Gedanken. Es muss etwas geschehen, ich kann das nicht zulassen, ich kann nicht... Ihre Eltern waren zwei Tage zuvor angekommen, und Helena hatte gemeinsam mit ihnen in einem Hotel Quartier bezogen. Ihre Stiefmutter half ihr am Hochzeitsmorgen beim Anziehen des Brautkleides.
Als die Eltern dann endlich das Zimmer verlassen hatten, trat Helena vor den großen Spiegel. Sie war eine schöne Braut, und Valerio würde strahlen, wenn er sie sah. Einen Augenblick schwankte sie. Warum führte sie nicht zu Ende, was ihr unumgänglich erschien? Abrupt wandte sie sich von ihrem Spiegelbild ab, ging zum Telefon und wählte mit zitternden Fingern Valerios Nummer. Es versetzte ihr einen Stich ins Herz, als sie die vertraute Stimme des Geliebten hörte. „Valerio, bitte, ich muss mit dir sprechen. Lass mich dir erklären, warum ich dich nicht heiraten kann." „Liebling, ich verstehe nicht. Was ist los mit dir? Weinst du?" „Ja", sagte sie verzweifelt. „Ich kann dich nicht heiraten ... nicht heute ... bitte versteh doch ..." „Liebling, hör mir zu." Valerios Stimme hatte einen festen Klang. „Natürlich bist du nervös, mir geht es nicht anders. Aber das einzig Wichtige, an das wir jetzt denken müssen, ist unsere Liebe." „O Valerio, ich liebe dich so sehr, und doch kann ich dich nicht heiraten, noch nicht." „Für solche Worte ist es zu spät, Helena. Ich habe dein Versprechen, und in einer Stunde werden wir uns in der Kirche das Jawort geben." „Nein!" rief sie verzweifelt. „Ich werde nicht dort sein. Valerio, bitte geh nicht zur Kirche. Ich werde wirklich nicht dort sein." „Helena, es dauert nicht lange, und hinterher wirst du über deine Angst lachen. Mach also jetzt keine Dummheit, mein Liebling." „Du verstehst mich nicht", brachte sie mühsam hervor. „Du hast mich nie verstanden. Valerie, bitte geh nicht hin ..." „Hör zu, Helena. Ich fahre jetzt zur Kirche, und du wirst das Gleiche tun. Bis gleich, mein Herz." Valerio hatte den Hörer aufgelegt, und Helena saß wie versteinert da. Plötzlich überkam sie eine Panik, die sie zu ersticken drohte. Hastig riss sie den Brautschleier vom Kopf, stieß die Tür auf und rannte die Treppe hinunter, auf die Straße. Sie wusste nicht, wohin sie lief, sie wollte nur fort... Später fand man sie am Ufer des Arno und brachte sie unter den Blicken vieler Neugieriger ins Hotel zurück. Valerio wartete vergeblich eine Stunde lang in der Kirche auf sie. Dann ging er, fassungslos und mit versteinerter Miene wie man sie nie zuvor an ihm gesehen hatte. Später schrieb Helena Valerio einen langen Brief. Sie erhielt ihn ungeöffnet zurück; Damit war die Verbindung mit ihm abgebrochen, und sie hörte nichts mehr von Valerio Lucci, bis zu dem Tag, an dem er ihr Zimmer im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Florenz betrat.
4. KAPITEL
Helena war schwindelig. Sie wollte nicht wahrhaben, dass dieser Mann, der allen Grund hatte, sie zu verachten, ihr Schicksal in den Händen hielt. Er hatte sich verändert, war breitschultriger und muskulöser geworden. Doch es war sein Gesicht, das sie nicht losließ. Strenge Linien hatten sich darin eingegraben, und die Äugen waren von dunklen Ringen umschattet. Der Mund zeigte jetzt Züge unverkennbarer Härte und doch war es noch immer derselbe Mund, den sie so oft zärtlich und leidenschaftlich geküsst hatte. Wie konnte Valerio hier an ihrem Bett sitzen, kühl und unbeteiligt, so als ob jene Tragödie niemals stattgefunden hätte? In diese Gedanken hinein hörte Helena plötzlich seine Stimme: „Ich möchte, dass Sie mir alles genau berichten. Wie ich erfuhr, haben Sie einige Gedächtnislücken. Aber bitte versuchen Sie Ihr Bestes." „Valerio..." Einen Augenblick lang schaute er sie an, kühl und desinteressiert. „Signora, wir wollen eines klarstellen. Ich bin Jurist. Meine Aufgabe ist es, Menschen zu helfen. In Ihrem Fall, Signora, war alles, was ich über meine Mandantin erfuhr, der Name Catesby. Nun stelle ich fest, dass wir früher miteinander bekannt waren. Das spielt jedoch keine Rolle, da das Verhältnis zwischen Anwalt und Klientin unpersönlich sein muss. Ich nehme an, Signora, Sie wissen das zu schätzen." Helena verstand. Vielleic ht, dachte sie, ist es besser so. „Natürlich, Signor Lucci", sagte sie wie ein Schulmädchen zu seinem Lehrer. Valerio blätterte in seinen Papieren. „Hier ist eine Kopie der Aussage, die Sie bei der Polizei gemacht haben. Sie ist recht dürftig. Aber vielleicht erinnern Sie sich jetzt an mehr Einzelheiten." „Leider nein", beteuerte Helena. „Ich muss mich wohl damit abfinden, dass ich am Steuer des Unglückswagens gesessen haben soll. Wie es dazu kommen konnte, ist mir bis heute ein Rätsel. Es war mir immer ein Gräuel, auf dem Festland zu fahren. Der Rechtsverkehr irritiert mich." Eigentlich wollte sie noch hinzufügen „Das wissen Sie doch", wagte es aber nicht, wegen seiner letzten Bemerkung. Valerio schwieg. Helena wusste plötzlich, dass er sich genau wie sie an jenen Tag erinnerte, als er sie ans Steuer ließ und sie, der Linkssteuerung unkundig, in einem Straßengraben gelandet war. Der Wagen wurde abgeschleppt, und Helena musste Valerio versprechen, sich in Italien nie wieder an ein Steuer zu setzen. Valerio schrak aus seinen Gedanken auf. Er setzte eine dunkel umrandete Brille auf, und Helena hatte das Gefühl, er wolle sich dahinter verstecken. „Wie viel Alkohol haben Sie vor dem Unfall getrunken?" fragte er nun streng. „Ich weiß es nicht", antwortete sie verzweifelt. „Alles, was auf jener Party passiert ist, liegt wie hinter einem Nebelschleier verborgen." „Kamen Sie allein dorthin? Ach nein, Sie waren mit einem Mr. Brian Hanley zusammen, nicht wahr? Erzählen Sie mir von ihm." „Er ist mein Chef. Ich arbeite als Designerin für sein Lederwarenunternehmen. Die Party fand im Hause eines Mannes statt, den Mr. Hanley während der Messe kennen gelernt hatte. Wir fuhren in einem Leihwagen hin, Mr. Hanley saß am Steuer. Angeblich habe ich darauf bestanden, während der Rückfahrt den Wagen selbst zu steuern." „Was heißt .angeblich'?" Valerio warf ihr einen strengen Blick zu. „Ich erinnere mich nicht, doch Brian sagte, dass es so gewesen sei." „Zu wem sagte er das?" „Zu mir." „Soll das heißen, dass die Polizei ihm erlaubt hat, mit Ihnen zu sprechen?"
„Nein. Aber da er sich Sorgen um mich machte, kam er in mein Zimmer, um sich zu vergewissern, ob alles in Ordnung mit mir ist. Er wollte sogar bei mir bleiben, als die Polizei kam, doch die Krankenschwester erlaubte es nicht." „Er war also vor dem Eintreffen der Polizei bei Ihnen?" „Ja." „Und danach?" „Man hat ihn nicht mehr zu mir gelassen. Ist das denn so wichtig?" „Weiß die Polizei, dass er bei Ihnen war?" „Ich glaube nicht, aber das spielt doch keine Rolle." „Vielleicht doch. Die Polizei könnte vermuten, dass Sie Ihre Aussagen miteinander abgesprochen haben." „Nun, ich sagte dem Beamten alles; was ich weiß. Weshalb also sollte ich Brian nicht sehen? Können Sie nicht veranlassen, dass er mich besuchen darf?" „Auf keinen Fall. Je weniger Kontakt Sie mit ihm .haben', desto besser." „Warum?" , Valerio warf ihr einen strengen Blick zu. „Weil ein gewisser Interessenkonflikt möglich ist. Seine Interessen müssen nicht unbedingt die Ihren sein. Es ist durchaus möglich, dass auch gegen ihn Anklage erhoben wird ..." „Aber wieso?" unterbrach sie ihm. „Ich habe doch den Wagen gefahren." „Signora, Sie erinnern sich an nichts. Ich möchte nicht, dass er Sie mit seiner Darstellung des Geschehens in Verwirrung bringt." „Es ist abscheulich von Ihnen, so etwas zu sagen. Brian ist ein anständiger, gütiger Mensch", fuhr sie ihn heftig an. „Mag sein", erwiderte Valerio trocken. „Als Parlamentarier muss er die Dinge jedoch so darstellen, wie sie für ihn am günstigsten sind." „Wenn Sie damit sagen wollen, dass er die Unwahrheit sagen würde, nur um seine Haut zu retten, irren Sie gewaltig. Brian liebt mich und möchte mich heiraten." Dass man so schlecht über Brian dachte, ließ sie in einem fast leidenschaftlichen Ton sprechen. Erst hinterher wurde ihr bewusst, was dies für Valerio, der sie selbst einst heiraten wollte, bedeuten musste. Valerio jedoch schien gleichgültig darüber hinwegzugehen. „Ich wusste nicht, dass Sie verlobt sind und kurz vor einer Eheschließung stehen. In diesem Fall ist Ihnen der Charakter Mr. Hanleys natürlich genauestens bekannt und Ihre Einschätzung seiner Person vielleicht richtig." „Ich sage nicht, dass wir verlobt sind", antwortete Helena müde. „Er möchte mich heiraten, das waren meine Worte. Da ich aber wahrscheinlich sowieso ins Gefängnis muss ..." Sie war unfähig weiterzusprechen. „Ich möchte so etwas nicht von Ihnen hören, Signora. Schließlich ist es meine Aufgabe, Sie vor dem Gefängnis zu bewahren, und ich zweifle keinen Augenblick daran, dass es mir auch gelingen wird." „Man hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich bis zu zehn Jahren eingesperrt werden kann." „Das ist sehr unwahrscheinlich." „Aber diese Möglichkeit besteht, oder? Bitte sagen Sie mir die Wahrheit." Valerio zögerte, und dann klang zum ersten Mal, seit er das Zimmer betreten hatte, seine Stimme sanft. „Nun, möglich ist es. Falls Lucilla Dorani stirbt und falls man beweisen kann, dass Sie den Wagen unter Einfluss von Alkohol steuerten, was ich jedoch sehr bezweifle." Er legte die Hand auf die ihre. „Sie sind jetzt nicht mehr allein, vergessen Sie das nicht. Ich bin hier, um für Sie zu kämpfen, und werde es nicht zulassen, dass man Sie ins Gefängnis schickt. Ich habe schon in schwierigeren Fällen erreicht, dass meine Klienten als freie Menschen den Gerichtssaal verließen."
Allmählich übertrug sich seine Zuversicht auf sie. Seine Berührung beruhigte sie. Unvermittelt zog Valerio die Hand zurück. Von diesem Augenblick an sprach er wieder in demselben unpersönlichen Ton wie zuvor. „Als Erstes brauche ich Ihren Führerschein", begann Valerio. „Wie kann ich ihn am schnellsten bekommen? Ich muss dem Gericht beweisen, dass Sie eine Fahrerlaubnis besitzen, wenn Sie sie bei dem Unfall schon nicht bei sich hatten. Wie erreiche ich Ihren Ehemann?" „Da ich seit meiner Scheidung vor zwei Jahren allein lebe, müssen Sie die Papiere wohl selbst aus England holen. Hier sind meine Adresse und die Schlüssel." Auf Valerios Frage, ob sie schon früher einmal in einen Unfall verwickelt gewesen sei, antwortete Helena mit Nein. „Das ist gut, es wird bei der Vorverhandlung, die ich schnellstens über die Bühne bringen möchte, von Vorteil sein. Dabei wird mich Mr. Hanleys Anwalt bestimmt unterstützen." „Aber sind Sie denn nicht auch gleichzeitig Mr. Hanleys Anwalt?" „Nein. Ich sagte Ihnen schon, dass Ihre Interessen im Widerspruch zu seinen stehen könnten." „Warum wollen Sie, dass die Vorverhandlung so schnell stattfindet? Je mehr Zeit wir haben, desto größer sind doch die Chancen, dass ich mein Erinnerungsvermögen wiedererlange." „Und was geschieht, wenn Sie sich an etwas erinnern, das Ihnen schaden kann? Oder nehmen wir an, Lucilla Dorani kommt in der Zwischenzeit zu Bewusstsein und macht belastende Aussagen über Sie? Dies wird nur das erste Verhör sein, nicht die eigentliche Gerichtsverhandlung. Ich möchte, dass bei Ihrem ersten Erscheinen vor Gericht so wenig Beweismaterial wie möglich gegen Sie vorliegt. Bitte, Signora, vertrauen Sie mir, wenn es Ihnen auch vielleicht schwer fällt." Seine letzten Worten klangen sarkastisch. „Aber nun zurück zu der Party. Es erstaunt mich, dass Sie gar keine Erinnerung daran haben, denn ich hörte, dass Lorenzo Santis Gesellschaften unvergesslich seien. War sein derzeitiger Freund anwesend?" Helena errötete bei Valerios verächtlichen Worten. Ohne es zu wissen, hatte er damit ihrem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen. Unscharfe Bilder tauchten vor ihr auf, und Helena bemühte sich krampfhaft, sie zu erkennen. „Mir fällt jetzt ein, dass ich mich dort sehr unbehaglich gefühlt habe. Diese Art von Umgebung liegt mir nic ht", sagte sie leise. „So?" sagte Valerio kühl. „Wussten Sie denn nicht, was für eine Party das sein würde?" „Nein, ganz bestimmt nicht", antwortete Helena ärgerlich. „Ich sehe auch nicht ein, dass diese Frage für meinen Fall von Bedeutung sein soll." „Das ist sie wahrscheinlich auch nicht", gab Valerio nach einer kurzen Pause zu. „Bitte, sprechen Sie weiter." „Mehr weiß ich nicht. Brian sagte mir, wir hätten Lucilla Dorani im Wagen mitgenommen, weil sie Angst hatte, nicht rechtzeitig zu Hause zu sein und sich vor ihrem Bruder Guido fürchtete." „Lucilla Dorani hat keinen Bruder", stellte Valerio fest. „Sie kennen sie?" „Flüchtig. Ihre Familie ist mit meiner Familie befreundet. Guido Ranelli ist ihr Verlobter. War sie allein auf der Party?" „Nein. Sie erschien in Begleitung eines Mannes, der sich jedoch im Laufe des Abends von ihr absetzte." „Deshalb also brauchte sie jemand, der sie nach Hause brachte, und Sie und Mr.
Hanley boten es ihr an." „Ja, aber alles, was ich Ihnen hier erzähle, habe ich von Brian erfahren. Ich selbst kann mich nicht daran erinnern." „Das macht nichts. Für heute ist es genug. Sie werden müde sein." Valerio packte seine Sachen zusammen und fragte dann beiläufig, ohne Helena anzusehen, ob sie Kinder habe, die er benachrichtigen solle, oder sonst jemanden, der ihr nahe stehe. „Ich habe keine Kinder", sagte sie. „Mein Vater ist tot, und die einzigen Verwandten, die ich habe, sind meine Stiefmutter und zwei Halbbrüder, die noch keine zehn Jahre alt sind. Ich glaube nicht, dass es nötig ist, sie zu behelligen." „Ich werde trotzdem Ihre Stiefmutter benachrichtigen und ihr versichern, dass ich alles in meinen Kräften Stehende für Ihre Verteidigung tun werde. Und nun Signora, versuchen Sie, etwas zur Ruhe zu kommen. Ich werde mich bald wieder mit Ihnen in Verbindung setzen." Valerio verließ sie, ohne ihr die Hand zu reichen. Helena dachte über die Begegnung mit Valerio nach. Trotz aller Förmlichkeit des Gesprächs hatten sie vieles voneinander erfahren. So wusste Valerio nun also, dass sich ihre Träume nicht erfüllt hatten und dass sie beruflich das tat, was sie damals hochmütig abgelehnt hatte. Er wusste auch, dass sie einen anderen Mann geheiratet hatte und diese Ehe gescheitert war. Was sie über ihn erfahren hatte, war nicht weniger aufschlussreich. Er hatte Karriere gemacht. Als John Driffield davon sprach, ihr den besten Anwalt von Florenz zu besorgen, dachte er dabei an Valerio Lucci. Er war erfolgreich und angesehen. Davon zeugte schon die Sicherheit seines Auftretens. Valerio war also nicht daran zerbrochen, dass sie ihn damals verließ. Sie war die Verliererin. Ob er wohl verheiratet war? Wahrscheinlich nicht, denn er trug keinen Ring, Eines glaubte sie jedoch mit Bestimmtheit zu wissen. Er war ihr gegenüber nicht so gleichgültig geblieben, wie es den Anschein hatte. Auch ihn hatte diese Begegnung an die gemeinsame Zeit und an glückliche Stunden erinnert. Seit sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, waren ihre Nerven starken Belastungen ausgesetzt. Nun musste sie auch noch Valerio wieder begegnen, dem Mann, dessen Schatten sie zehn Jahre lang verfolgt hatte. Sie hatte geglaubt, nichts bereuen zu müssen. Doch nun holte die Vergangenheit sie ein. Energisch machte sich Helena von diesen Gedanken los. Nein, zu viel hatte sich geändert. Sie selbst und auch Valerio waren nicht mehr die Menschen von einst. Daran änderte selbst die Freude nichts, die das unverhoffte Wiedersehen in ihr ausgelöst hatte. Während der folgenden vier Tage geschah nichts. Dann erschien der Polizeibeamte, der Helena verhört hatte, und teilte ihr mit, dass der Zustand Lucilla Doranis unverändert und das erste Verhör für den folgenden Tag festgesetzt sei. Er stellte höflich fest, dass sich ihr Aussehen gebessert habe, bedauerte, dass sie noch immer einen Verband tragen musste, und empfahl sich schließlich. Helena, die das Bett inzwischen verlassen durfte, hatte wegen dieser Bandage schon unerfreuliche Debatten mit ihrem Arzt gehabt. Sie fand, dass ein Pflaster genüge, doch der Doktor blieb unerbittlich, und Helena wurde das Gefühl nicht los, als versuche er damit ihre Einweisung ins Gefängnis hinauszuschieben. Nun aber war es so weit. Am folgenden Tag würde sie bei Gericht erscheinen und als genesen aus dem Krankenhaus entlassen werden. Am nächsten Morgen forderte die Krankenschwester Helena auf, ihren Koffer zu packen. Interessiert beobachtete sie Helena dabei. Plötzlich griff sie nach einem dunklen, einfachen Kleid. „Das müssen Sie anziehen", sagte sie.
Offenbar ist dies das passende Kleid für eine Angeklagte, die vor Gericht zu erscheinen hatte, dachte Helena und schlüpfte hinein. Als sie nach Make-up und Lippenstift griff, verbot die Schwester es ihr entschieden. „Nein, Signora, Sie dürfen sich nicht schminken, ich habe meine Instruktionen." Deprimiert stieg Helena in das Polizeiauto ein. Man behandelte sie schon jetzt wie eine Gefangene. Im Gerichtsgebäude übergab man sie einer Polizistin, die sie in eine Art Wartezimmer führte und sich dann zurückzog. Helena erschrak, als sie sich in dem kleinen Wandspiegel erblickte. Die rote Narbe in ihrer rechten Gesichtshälfte stach' gegen die fahle Blässe ab, der Verband um den Kopf - nein, so konnte sie unmöglich zum Verhör erscheinen. Niemand konnte sie zwingen, auf etwas Make-up zu verzichten. Rasch holte sie den Lippenstift aus der Tasche und zog sich die Lippen nach. Dann rieb sie etwas Tönungs-Creme über die Narbe. Als sie gerade anfing, die Binde aufzurollen, ging die Tür auf. „Was zum Teufel machen Sie da?" rief jemand zornig. Einen Augenblick später war Valerie an ihrer Seite und packte sie an den Handgelenken. „Lassen Sie mich!" empörte sich Helena. „Ich betrete den Gerichtssaal nicht als wandelnde Leiche." „Ist Ihnen die Selbstachtung wichtiger als ihre Freiheit?" fragte er, ohne sie loszulassen. „Ich will", das letzte Wort betonte er, „dass Sie wie eine wandelnde Leiche aussehen. Es könnte Sie retten." „Wieso?" „Es kann ausschlaggebend dafür sein, wo Sie die nächste Nacht verbringen werden. Ich kann Ihnen jetzt keine weiteren Erklärungen geben. Wischen Sie sofort die Schminke aus Ihrem Gesicht!" „Aber ...", versuchte Helena zu protestieren. „Los, vorwärts, machen Sie schon", fuhr er sie an. „Wir haben keine Zeit. Man wird Sie gleich abholen. Ich sollte Ihnen wirklich böse sein. Die Krankenschwester hat sich strikt an meine Anweisungen gehalten, und Sie versuchen, alles zunichte zu machen." „Die Schwester hat nach Ihren Anweisungen gehandelt?" Während Helena sprach, suchte sie in ihrer Handtasche nach einem Papiertaschentusch. „Natürlich", sagte Valerio. „Es ist mir gelungen, sie für uns zu gewinnen. Ich machte ihr klar, dass Sie leidend aussehen müssen. Sie wusste, was sie zu tun hatte." „Hat der Arzt wegen des Kopfverbandes vielleicht auch Ihre Anweisungen entgegengenommen?" „Sicher. In Florenz kennt jeder jeden. Mit Ihrem Arzt spiele ich jede Woche einmal Squash. Es bedurfte nur einer kleinen Andeutung meinerseits." „Mir scheint, alle Menschen genießen Ihr Vertrauen, nur ich nicht." Helena entfernte vor dem Spiegel die letzten Reste des Make- up. „Helena, was ist nur mit Ihnen los? Früher waren Sie nicht so schwer von Begriff. Das Gericht soll Mitleid mit Ihnen haben. Ich möchte nicht, dass Sie aufgedonnert und vor Gesundheit strotzend den Saal betreten. Man würde sofort an die mit dem Tod ringende Lucilla Dorani denken." Helena sah ihn erstaunt an. „Ich verstehe. Ja, natürlich, daran hätte ich denken müssen." Sie fragte sich, ob ihm wohl bewusst war, dass er sie Helena genannt hatte. Valerio schritt im Zimmer auf und ab, schaute auf die Uhr, warf einen Blick auf die Tür und fuhr dann fort: „Sie stehen hier vor einem italienischen Gericht. Das erfordert von Ihnen einen melodramatischen Auftritt. Ich muss den Herren klar machen, dass in gewissem Sinn auch Sie ein Opfer des Unfalls sind. Andernfalls
wird man Sie im Handumdrehen des versuchten Mordes anklagen." „Melodramatik passt eigentlich nicht zu Ihnen." Valerio lächelte. „Ich bin Italiener, Helena. Jeder italienische Anwalt ist fähig, zum Wohl seines Klienten als Schauspieler aufzutreten. Wer es nicht kann, ist bald ohne Arbeit." „Wenn ich doch wüsste, was Sie vorhaben! Irgendetwas planen Sie doch, nicht wahr?" „Natürlich. Glauben Sie mir, ich habe einige Überraschungen bereit. Halten wir einmal fest: Die Tatsachen sprechen gegen Sie. Die Stimmung ist gegen Sie. Die Leute sind gegen Sie. Also wird es nötig sein, mit einem Trick all das abzuwenden." Valerio kannte seine Fähigkeiten und legte sie ihr offen dar, ohne Stolz, aber auch ohne falsche Bescheidenheit. „Ich wünschte, Sie würden mir verraten, was mich erwartet", fuhr Helena hartnäckig fort. „Bei Ihrer Offenheit, zumindest in manchen Dingen, wäre das verhängnisvoll. Nie könnten Sie die Rolle, die Sie hier spielen müssen, durchstehen, wenn man Sie vorher darauf vorbereitete. Ein Überraschungseffekt wird die einzig mögliche Lösung sein." „Übrigens", fügte Valerio hinzu, „hätte ich Ihnen die Anweisungen für Ihr Auftreten bei Gericht gern vorher schon persönlich gegeben, doch ich kam erst vor wenigen Stunden aus England zurück. Deshalb musste ich die Krankenschwester bemühen. Sie dürfen nicht glauben, dass ich in der Zwischenzeit in Ihrer Sache untätig war. Ich habe Ihren Führer schein und eine Bestätigung über Ihr fehlerfreies Verhalten, im Straßenverkehr mitgebracht." Er hob ihr Kinn und prüfte, ob die letzten Spuren des Make- ups verschwunden waren. ' „Das muss genügen", sagte er schließlich. „Und nun versprechen Sie mir noch eines: Sie werden nichts tun, als meine Fragen und die des Richters zu beantworten, und mit allem einverstanden sein, was immer ich sage, was immer es auch sein mag. Versprechen Sie mir das?" Helena erschien dieses blinde Versprechen nicht sehr geheuer, und sie zögerte. Valerio aber schien ihre Gedanken zu erraten, und ein ironisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Sie müssen sich entscheiden, Signora, ob Sie mir vertrauen wollen oder nicht", sagte er in einem unpersönlichen Ton. „Wäre ich ein rachsüchtiger Mensch, würde ich über Ihre missliche Lage sicher eine gewisse Schadenfreude empfinden. Doch ich glaube nicht, dass ich irgendetwas getan habe, was Ihre schlechte Meinung über mich rechtfertigen könnte." „Ich habe nichts dergleichen gesagt." „Das war auch nicht nötig. Es ist klar, dass Sie denken, ich würde Ihren Fall durch eine absichtliche Nachlässigkeit verlieren. Aber ich spiele nicht falsch. Sie, Helena, haben einmal falsch gespielt, nicht ich." „Verzeihen Sie mir, Valerio. Mir ist nur nicht klar, warum Sie all diese Unannehmlichkeiten auf sich nehmen. Ich verdiene Ihre Hilfe nicht." „Sie sind meine Klientin und haben ein Recht auf meine Bemühungen." „Ist das alles?" Er schwieg einen Augenblick. „Nein, das ist nicht alles", sagte er schließlich. „Ich will Sie nicht im Gefängnis sehen, Helena. Ich habe Sie einmal geliebt, und um dieser Liebe willen werde ich mein Bestes tun, um Ihnen zu helfen. Außerdem", seine Stimme nahm einen spöttischen Unterton an, „wird unsere frühere Verbindung kein Geheimnis bleiben. Ich bin Anwalt und würde nicht gern
hören, dass ich mit einer Frau verlobt war, die zu einer Gefängnisstrafe verurteilt ist." „Welcher der beiden Gründe ist für Sie von größerer Bedeutung?" „Das habe ich mich auch schon gefragt. Aber solche Grübeleien führen zu nichts. Gehen wir lieber, es ist Zeit."
5. KAPITEL
Helena war schon einmal in einem italienischen Gerichtsgebäude gewesen, damals, als Valerio sie zu einer seiner Verhandlungen eingeladen hatte. Sie erinnerte sich, wie eindrucksvoll sie die drei Richter und Valerio in ihren schwarzen Roben gefunden hatte und wie würdevoll und elegant Valerio agierte. Der Gerichtssaal, den sie jetzt betrat, war kleiner und erinnerte sie an den eines englischen Bezirksgerichts. Es gab nur einen Richter, der auf einem Podium saß und auf die etwa dreißig Zuschauer herabblickte. Auch die Anklagebank fehlte. Für den Beschuldigten stand ein Stuhl direkt unter dem Podium des Richters neben dem Tisch des Verteidigers bereit. Helena stockte der Atem, als sie plötzlich Adele, Valerios Großmutter, unter den Zuschauern entdeckte. Sie hatte sich äußerlich kaum verändert. Interessiert schaute sie zu Helena herüber. Noch etwas anderes erregte Helenas Aufmerksamkeit. Es war das Gesicht eines etwa dreißigjährigen Mannes, der ihr hasserfüllte Blicke zuwarf. Es verwirrte sie umso mehr, als sie ihn noch nie gesehen hatte. Valerio führte Helena zu ihrem Platz. Bevor sie sich setzte, überblickte sie noch einmal den Saal. Nein, Brian Hanley war nicht unter den Anwesenden. Während der Verlesung der beiden Anklagepunkte, Lenken eines Fahrzeugs ohne Führerschein und Trunkenheit am Steuer, schwieg Helena gemäß den Anweisungen ihres Anwalts. Der Ankläger, Advokat Ferone, kündigte dann an, dass die eigentliche Verhandlung nicht, wie von Signor Lucci gewünscht, kurz nach diesem Verhör stattfinden dürfe. Da noch' einiges Beweismaterial für weitere mögliche Anklagepunkte fehlte, beantragte er erstens eine vorläufige Verschiebung auf einen noch festzusetzenden Termin, und zweitens 'die vorläufige Inhaftierung der Angeklagten, da Fluchtgefahr bestehe. Valerio erhob sich. „Darf ich das Gericht darauf hinweisen, dass möglicherweise ein Jahr vergehen kann, bis das Beweismaterial für weitere Anklagepunkte vollständig vorliegt. Vorläufig haben wir es mit zwei Delikten zu tun. Dazu möchte ich im Einzelnen wie folgt Stellung nehmen. Meine Mandantin besitzt zwar einen Führerschein, hatte ihn aber zur Zeit des Unfalls nicht bei sich. Während ihrer elfjährigen Fahrpraxis hat sie sich nicht des kleinsten Vergehens schuldig gemacht. Ich habe eine diesbezügliche Erklärung der betreffenden britischen Behörde bei mir." Valerio überreichte sie zusammen mit dem Führerschein dem Richter. Dieser warf einen kurzen Blick darauf und nickte, machte Valerio jedoch darauf aufmerksam, dass dieses Vergehen weit geringer sei als das Zweite. „Ich stimme mit Ihnen überein", sagte Valerio kühl. „Doch liegen keinerlei Beweise für die Schuld meiner Mandantin vor." Gemurmel breitete sich im Saal aus, und der Richter warf Valerio einen erstaunten Blick zu. „Ich wiederhole, es gibt keinerlei Beweise", sagte Valerio entschieden. „Nur drei Personen kennen den wahren Sachverhalt. Eine dieser Personen liegt im Koma, die Zweite kann sich an nichts erinnern, die Dritte ist nicht anwesend. Die Einweisung in Untersuchungshaft ist somit nicht hinreichend begründet." „Wer ist diese dritte Person?" wandte sich der Richter an den Kläger. „Und warum ist sie nicht hier?" Ferone, ein mittelgroßer, stiernackiger Mann mit einem mürrischen Gesicht, schien beunruhigt. „Signor Hanley hat möglicherweise den Zeitpunkt des Termins missverstanden. Ich habe bereits jemanden ins Hotel geschickt, um ihn holen zu lassen. Mr. Hanley wird Ihnen bestätigen, dass die Angeklagte vor der Heimfahrt
reichlich Alkohol getrunken hatte. Ich möchte an dieser Stelle auch betonen, dass Mrs. Catesby nach meinem Dafürhalten ihren Gedächtnisverlust nur simuliert." Wieder erhob sich Gemurmel im Saal. Helena stand auf, um etwas zu sagen, aber Valeries Blick ließ sie wieder auf den Stuhl zurücksinken. „Die Verteidigung gibt zu, dass Signora Catesby vermutlich mehr weiß, als sie uns glauben machen will", wandte sich Valerio wieder an den Richter. „Nein!" Helenas Schrei hallte durch den Raum. Valerio nutzte den jetzt einsetzenden Tumult, um ihr zuzuflüstern: „Sie haben versprochen, mir zu vertrauen. Wenn Sie jetzt Ihr Wort brechen, kann ich nichts mehr für Sie tun." Sie sah ihn ungläubig an. Sein Blick schien sie zu hypnotisieren. Allmählich wich die Spannung von ihr. Plötzlich traf sie der Blick jenes Mannes wieder, der ihr schon beim Betreten des Gerichtssaals aufgefallen war. Nun schien sein Gesichtsausdruck noch hasserfüllter. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, fuhr Valerio fort. „Ich möchte meiner Mandantin eine Frage stellen. Signora, welches war der Zweck Ihrer Reise nach Florenz?" Sie beantwortete seine Frage in wenigen Sätzen. Valerio nickte. „Nun, Signora, erinnern Sie sich bitte an unser erstes Gespräch im Krankenhaus? Würden Sie Ihre Meinung über Mr. Hanley wiederholen!" Helena runzelte die Stirn. Sie fragte sich, ob sie Valerio richtig verstanden hatte. „Ich meine, wie beschrieben Sie seinen Charakter?" Valerio erhob die Stimme, um den neuerlichen Lärm zu übertönen. „Ich bitte das Gericht, Signora Catesbys Angaben der Polizei gegenüber als unzulässig zu erachten, denn sie kamen zu Stande, nachdem ihr Mr. Hanley mehr oder weniger seine Version über das Geschehen einsuggeriert hatte." Auf einen erstaunten Blick des Richters fuhr er fort: „Ich spreche von Mr. Hanleys Auslegung, dass Mrs. Catesby zu viel getrunken habe und unbedingt ans Steuer wollte. Die Signora kann sich weder an das eine noch an das andere erinnern. Von sich aus hätte sie beides energisch bestritten. So aber gab sie es zu, nachdem jemand, der ihr volles Vertrauen genießt, gesagt hatte, so und nicht anders sei es gewesen." Der Richter blätterte in den Akten. „Ist der Kläger darüber' unterrichtet?" fragte er streng. Ferone sprang auf. „Der Vertreter der Anklage weiß davon nichts und bezweifelt die Richtigkeit von Signor Luccis Angaben." Valerio lächelte. „Nun, sollte Mr. Hanley hier erscheinen, werden wir ihn selbst fragen können." £r legte eine kurze Pause ein. „Signora, zurück zu meiner eigentlichen Frage. Stimmt es, dass Sie mir gegenüber Mr. Hanley als .anständigen, gütigen Menschen' beschrieben haben?" „Ja, so ist es", antwortete sie in einem Anflug von Ärger. „Ich fügte auch noch hinzu, dass er, um seine eigene Haut zu retten, niemals zu einer Lüge fähig wäre. Sie haben kein Recht, ihn zu verleumden." Valerio ignorierte ihre letzte Bemerkung. „Sagten Sie nicht auch, dass er Sie heiraten möchte?" Helena errötete. „Ja", erwiderte sie fast unhörbar. Sie sah den Richter an und wunderte sich, dass er bei diesen Fragen keinen Einspruch erhob. Er schien ihre Gedanken zu lesen, denn er wandte sich jetzt an sie. „Signora, die Vorschriften für die Beweiserbringung sind hier in Italien nicht so streng wie in England." Mit einem Seitenblick auf Valerio fügte er hinzu: „Dennoch möchte auch ich gern den Grund für diese Fragen wissen." „Ich will dem Gericht beweisen, dass Mrs. Catesby einem tragischen Irrtum unterliegt. Es ist meine feste Überzeugung, dass nicht sie, sondern Mr. Hanley
betrunken war, und dass sie sich nur ans Steuer setzte, um einen Unfall zu verhüten." „Das ist unerhört!" rief Ferone und sprang zum zweiten Mal auf. „Es gibt nicht den geringsten Beweis für diese Anschuldigung. Diese Taktik ist schmutzig, und Signor Lucci zeigt damit nur seine Befürchtung, diesen Prozess zu verlieren, wenn er nicht solch unzulässige Methoden anwendet." Der Richter wandte sich an Valerio. „Ich hoffe, Sie haben Beweise für diese Beschuldigung." „Ich möchte dem Gericht zwei Ausschnitte aus englischen Zeitungen vorlegen. Bei beiden handelt es sich um Anklagen gegen Brian Hanley wegen Trunkenheit am Steuer. Die Zeitungsartikel sind acht beziehungsweise zehn Jahre alt." Er reichte dem Richter die Blätter. Helena glaubte nicht recht zu hören. Brian hatte ihr doch einmal versichert, dass er noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten sei. „Bei beiden Unfällen wurde zum Glück niemand verletzt. Doch steht auch zu lesen, dass Mr. Hanley über drei Promille hatte." „Ich protestiere!" rief Ferone. „Das gehört nicht hierher." „Sicher bezieht es sich nicht direkt auf diesen Fall", pflichtete der Richter ihm bei. „Das Gericht hat jedoch auch die Bestätigung für Mrs. Catesbys unfallfreies Fahren bis zum Tag des jetzigen Unfalls als Beweismaterial akzeptiert." Er wandte sich an Helena. „Signora, wussten Sie von Mr. Hanleys Delikten?" Sie verneinte. „Ich hatte keine Ahnung davon." „Sind Sie sicher? Als Mr. Hanleys Verlobte müssten Sie doch seine Vergangenheit kennen, und ich glaube nicht, dass dies der geeignete Augenblick ist, ihn in Schutz zu nehmen." „Das tue ich auch nicht. Ich wusste wirklich nichts davon." „Haben Sie zu Signor Luccis Theorie, dass Sie den Wagen wegen Mr. Hanleys Trunkenheit fuhren, etwas zu sagen?" „Ich erinnere mich an nichts", beharrte sie weiter. „Brian ... Mr. Hanley sagte mir im Krankenhaus, dass ich darauf bestanden hätte, den Wagen zu fahren. Ich glaubte ihm, denn man fand mich nach dem Unfall ja tatsächlich hinter dem Lenkrad.," Der Richter drang weiter in sie. „Aber wenn Sie das Steuer wirklich nur zur Verhütung eines Unfalls übernommen hätten, würde das Ihre Lage in den Augen des Gerichts doch erheblich verbessern. Erinnern Sie sich nicht daran?" Nun verstand Helena Valeries Andeutung, dass er glaube, sie verschweige etwas. Dies war ihr Rettungsanker, aber sie konnte ihn nicht ergreifen. „Es hat keinen Sinn", sagte sie verzweifelt. „Ich kann mich einfach an nichts erinnern." Als sie Valerios Hand auf ihrer Schulter fühlte, schaute sie unsicher zu ihm auf. Überrascht stellte sie fest, dass er mit ihrer Antwort offenbar zufrieden war, denn er lächelte ihr zu. Und sie hatte schon geglaubt, alles wäre für sie verloren. In diesem Augenblick kam ein junger Polizist in den Saal und lief aufgeregt auf den Kläger zu. Er flüsterte ihm etwas ins Ohr, und Helena sah, dass Ferone leichenblass wurde. „Was gibt es?" fragte der Richter. Ferone erhob sich und er klärte mit tonloser Stimme: „Ich bedaure dem Gericht mitteilen zu müssen, dass Mr. Hanley heute nicht mehr erscheinen wird. Er hat gestern Nachmittag das Hotel mit unbekanntem Ziel verlassen." Nun war Valerios Augenblick gekommen. Langsam stand er auf und schaute triumphierend in die Runde. Dann sagte er kühl, und es klang fast nebensächlich: „Ich kann das Gericht beruhigen. Mr. Hanley landete gestern Abend auf dem Londoner Flughafen. Der Kronzeuge der Anklage hat sich davongemacht." Der
Richter konnte dem Tumult, der nun losbrach, lange nicht Einhalt gebieten. Helena war wie betäubt. Im ersten Augenblick gelang es ihr nicht, irgendwelche Schlussfolgerungen aus Brians überstürzter Abreise zu ziehen. Dann begriff sie. Bewundernd sah sie Valerio an. Privat zurückhaltend, fast verschlossen, verwandelte er sich hier zu einer dominierenden Persönlichkeit, alle und alles mitreißend. Valerio wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war. „Brian Hanley floh nach England, um seine Haut zu retten", sagte er verächtlich. „Das ist unmöglich. Die Polizei hat seinen Pass", versuchte Ferone ihm entgegenzuhalten. „Was bedeutet das schon?" war Valeries kühle Antwort. „Ich war gestern selbst in England, um mir die vorhin aufgezeigten Unterlagen zu verschaffen. Niemand vom italienischen Zoll fragte nach meinem Ausweis. Ebenso leicht dürfte auch Mr. Hanleys Ausreise vor sich gegangen sein. Und was seine Einreise nach England betrifft, dürfte sie ihm als Parlamentsmitglied wohl auch nicht schwer gefallen sein." Er wandte sich nun direkt an den Richter. „Ich darf dem Gericht auch zur Kenntnis geben, dass Mr. Hanley noch gestern Abend durch seine Anwälte eine für die Presse bestimmte Erklärung abgab. Es ist mir gelungen, vor meiner Abreise ein Exemplar zu besorgen, und ich darf Ihnen den übersetzten Text dieser Erklärung vorlesen." Er hatte eine Zeitung und ein Blatt Papier mit der Übersetzung aus seiner Aktenmappe. Dann begann er vorzulesen. „Ich wurde gebeten, im Anschluss an einen kürzlich in Italien geschehenen Unfall, in den eine meiner Angestellten verwickelt war, eine Erklärung abzugeben. Hier der Sachverhalt: Mrs. Catesby, eine Designerin in meinem Lederwarenbetrieb, schlug mir vor, mit ihr zusammen die Mustermesse in Florenz zu besuchen. An unserem letzten Abend dort nahmen wir die Einladung in die Villa eines Herrn Lorenzo Santi, mit dem ich während der Messe in geschäftliche Verbindung getreten war, an. Herr Santi und ic h redeten fast den ganzen Abend über Geschäfte ..." Das Gelächter der Zuhörer zwang Valerio zu einer kurzen Unterbrechung. Dann las er weiter. „... dadurch sah ich Mrs. Catesby nur selten. Ich weiß nicht, wie viel sie getrunken hat. Sie bestand darauf, auf der Heimfahrt das Auto zu fahren. Da sie mir völlig nüchtern erschien und mir versicherte, ihren Führerschein bei sich zu haben, willigte ich ein. Miss Dorani, ein junges Mädchen, das uns gebeten hatte, sie mitzunehmen, nahm auf dem Beifahrersitz Platz, während ich hinten einstieg. Als der Lastwagen auf uns zukam, schien Mrs. Catesby die Nerven zu verlieren. Sie fuhr direkt in seine Fahrspur. Mrs. Catesby ist eine ausgezeichnete Arbeitskraft und ist vorher nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Es besteht keinerlei persönliche Verbindung zwischen Mrs. Catesby und mir. Es hat sie auch nie gegeben." Eine reglose Stille herrschte im Saal, als Valerio das Blatt weglegte. Alle Blicke waren auf Helena gerichtet, die ihr Entsetzen kaum verbergen konnte. Brian ha tte sie verraten. Plötzlich wurde die Stille von einer schrillen Männerstimme durchbrochen. „Das geschieht dir recht, du Mörderin ..." Der Richter gebot Ruhe. Helena schaute auf und sah, wie ein Polizist den Unbekannten, der ihr vorher diese hasserfüllten Blicke zugeworfen hatte, fest hielt: Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, sagte der Richter in einem scharfen Ton:
„Signor Ranelli, ich verstehe Ihren Schmerz, kann aber derartige Ausbrüche nicht dulden. Wenn Sie sich nicht benehmen können, verlassen Sie bitte den Saal." Das war also der Verlobte von Lucilla Dorani. Ich kann ihm nicht einmal böse sein, wenn er mir die Schuld am Unglück seiner Braut gibt, dachte Helena. Sie hatte nur noch den einen Wunsch, endlich von hier wegzukommen. Ferone versuchte wieder Boden zu gewinnen. „Mr. Hanley betont ausdrücklich, dass die Angeklagte am Steuer saß und direkt in die Fahrspur des Lastwagens geriet. Mrs. Catesby bestreitet das auch nicht." „Aber die Anklage lautet auf .Trunkenheit am Steuer'", sagte der Richter mit ruhiger Stimme. „Nichts in Mr. Hanleys Erklärung unterstützt jedoch diesen Anklagepunkt. Im Gegenteil, Mr. Hanley betont, dass ihm die Angeklagte bei der Übernahme des Steuers völlig nüchtern erschien. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass Mrs. Catesby wirklich an einer Gedächtnislücke leidet." Ferone unterbrach ihn. „Ein weiterer Anklagepunkt wird das rücksichtslose Fahrverhalten von Mrs. Catesby sein." „Wollen Sie diese Klage jetzt erheben?" „Nein", antwortete der Ankläger wütend. „Dann, gehört dieser Punkt nicht in das heutige Verhör. Außerdem finde ich einen Zeugen, der sich, wie Signor Lucci es treffend ausdrückte, davongemacht hat, wenig glaubwürdig.1" „Der Ankläger verlangt", Ferones Stimme überschlug sich fast, „dass Mrs. Catesby wegen Fluchtgefahr in .Gewahrsam bleibt bis Signorina Dorani das Bewusstsein wiedererlangt und Mr. Hanleys Angaben bestätigen kann." Valerie stand auf. „Meine Mandantin hat nicht die Absicht, das Land zu verlassen. Im Gegenteil, sie hofft durch weitere Enthüllungen ihre Unschuld beweisen zu können. Außerdem kann es bis zu einem Jahr dauern, ehe Lucilla Dorani das Bewusstsein wiedererlangt, und es wäre wohl nicht gerecht, Mrs. Catesby für eine wahrscheinlich unhaltbare Anklage so lange in Haft zu belassen. Signor Ferone betont immer wieder die Gefahr einer Flucht ins Ausland. Wie soll sie das schaffen? Ein zweites Mal wird die Polizei wohl nicht schlafen." Von den hinteren Sitzreihen ertönte schallendes Gelächter. Selbst der Richter schmunzelte amüsiert. „Ich möchte dem Gericht auch noch zu bedenken geben, dass Mrs. Catesby in diesem Land weder Familie noch Freunde hat und ein Gefängnisaufenthalt für sie daher weitaus schlimmer wäre als für einen Einheimischen." Valerie machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: „Sie besitzt auch in England keine Verwandten, die ihr helfen könnten, außer einer Stiefmutter, die ich während meines Aufenthaltes dort besucht habe. Ich versicherte ihr, mein Bestes für die Verteidigung ihrer Stieftochter zu geben. Ihre einzige Antwort darauf war, dass sie nicht bereit sei, auch nur einen Pfennig dafür zu zahlen." Helena hörte im Hintergrund des Saales ein entrüstetes Gemurmel. Sie konnte es kaum fassen, dass es Valerio allmählich gelang, die Sympathie, der Zuhörer für sie zu gewinnen. „Ich versicherte der Dame", fuhr Valerio fort, „dass ich keinerlei finanzielle Hilfe von ihr erwarte. Außerdem wäre da noch Mrs. Catesbys geschiedener Mann. Mit ihm hat sie seit der Scheidung vor zwei Jahren keinen Kontakt mehr. Als Letztes möchte ich das Gericht ersuche n, den immer noch schlechten Gesundheitszustand meiner Mandantin zu berücksichtigen." Helena bemerkte die mitleidigen Blicke des Richters. Er sah wohl nicht nur den Kopfverband, sondern auch die Spuren, die die Anstrengung der letzten Stunden in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. „Ich stimme dem Antrag des Verteidigers auf eine vorläufige Haftverschonung zu. Es wäre natürlich wünschenswert, jemanden zu finden, der die Verantwortung
dafür übernimmt. Da Mrs. Catesby hier jedoch vollkommen fremd ist..." Valerio unterbrach den Richter. „Verzeihung, euer Ehren, aber ich fand einen für das Gericht annehmbaren Bürgen." Im selben Moment stand Adele auf und ging langsam nach vorn. „Ist dies Ihr Bürge?" fragte der Richter, der Adele zu kennen schien. „Wenn das Gericht einverstanden ist", sagte Valerio, „möchte ich die Angeklagte Signora Adele zur Verwahrung übergeben, während ich mich für die weiteren Gerichtsauftritte meiner Mandantin verantwortlich erkläre." Der Richter runzelte die Stirn. „Dieser Vorschlag ist äußerst ungewöhnlich, Signor Lucci." „Ich weiß, euer Ehren, doch darf ich dazu Folgendes erklären; Ich besitze am Rande der Stadt eine Villa, die von den weiblichen Angehörigen meiner Familie, jedoch .nicht von mir selbst bewohnt wird. Ich komme selten dort hin. Mein Vor schlag ist nun, Mrs. Catesby dort unterzubringen." „Und Sie selbst wohnen wirklich nicht in der Villa?" vergewisserte sich der Richter. „Seit fünfzehn Jahren nicht mehr", versicherte Valerio. „Ich habe das Haus von meinem Vater geerbt, und es dient nun meiner Großmutter, meiner Mutter und meiner jüngeren Schwester als Domizil." Der Richter wandte sich an Adele. „Sind Sie bereit, diese Verantwortung auf sich zu nehmen, Signora?" Adele bestätigte ihre Bereitschaft mit ein paar formellen Worten. Der Richter trommelte gedankenverloren auf dem Tisch. Helena konnte vor Aufregung kaum, atmen. Endlich richtete er das Wort an sie. „Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden, Mrs. Catesby?" „Ja, euer Ehren", hörte sie sich sagen. „Gut. Ich gebe mein Einverständnis dafür, denn es scheint die einzige Alternative zu einer Inhaftierung zu sein." Dann wandte er sich Valerie zu. „Ich tue es, weil ich Sie als einen untadeligen Mann schätze, der den höchsten Respekt des Gerichts genießt. Ich stelle allerdings eine Bedingung. Mrs. Catesby muss sich täglich bei der Polizei melden, die auch ihren Pass einbehalten wird." Damit war das Verhör zu Ende. Valerie fasste Helena am Arm und führte sie hinaus. Vieles konnte sie noch immer nicht fassen. Der Mann, dem sie vertraut hatte, hatte sie schmählich verraten, der andere, der sie hätte verachten müssen, nahm sie in sein Haus auf. Nachdem sie mit Valerio zusammen in einem anderen Raum noch einige Formalitäten erledigt hatte, führte er sie zu einem bereit stehenden großen, schwarzen Wagen, in dessen Fond Adele saß. Helena wusste, dass man sie jetzt in die Villa Lucci bringen würde. „Kommen Sie auch mit?" wandte sie sich an Valerio. „Nein, ich muss mich um meine anderen Klienten kümmern." „Aber ich möchte mit Ihnen sprechen." „Dazu wird heute Abend Gelegenheit sein, Signora. Ich werde zum Essen da sein." Er öffnete die hintere Wagentür, ließ Helena einsteigen und gab dem Chauffeur ein Zeichen. Langsam setzte sich das Auto in Bewegung. „Sie wissen, wer ich bin, nicht wahr?" wand te sich Helena an Adele. „Natürlich. Als Valerio mich um meine Unterstützung bat, erzählte er mir alles." „Und Sie haben nichts dagegen, dass ich bei Ihnen wohne?" „Warum sollte ich, wenn Valerio es gutheißt? Schließlich hat er für alles, was er tut, seine Gründe. Auch wenn man sie manchmal erst später erkennt." „Kennen Sie in diesem Fall seine Gründe jetzt schon?"
Adele lächelte viel sagend. „Warten wir's ab. Warum liegt Ihnen überhaupt daran, einen Grund für sein Verhalten Ihnen gegenüber zu finden? Genügt es Ihnen nicht, auf freiem Fuß zu sein?" „Doch", versicherte Helena. „Es sollte nicht undankbar klingen. Im Gegenteil, ich kann noch gar nicht glauben, was Valerio für mich getan hat. Aber ist es Ihnen nicht doch lästig, mich vielleicht für längere Zeit in Ihrem Haus zu haben?" „Es ist Valeries Haus", berichtigte Adele sie. „Er bestimmt, wer darin wohnt." Helena musste lachen. „Erzählen Sie mir nicht, dass Sie eine verschüchterte Dame sind, die sich fügsam den Anordnungen ihres tyrannischen Enkels unterwirft." Adele lachte. „Ich werde Ihnen etwas sagen. Die Idee, dass wir beide für Sie die Verantwortung übernehmen, stammt von Valerie. Dass Sie hier bei mir wohnen, war dagegen mein Vorschlag. Nur dürfen. Sie sich bitte keinen freundlichen Empfang von meiner Schwiegertochter erwarten." „Nun, ich kann ihr nicht verübeln, wenn sie mich ablehnt. Sie muss mich ja hassen, nach allem was vorgefallen ist." „Nehmen Sie nicht die ganze Schuld auf sich, Helena. Es ist merkwürdig, dass die Frauen das immer tun. Wenn dieser Junge sich damals nicht so ungeschickt verhalten hätte, wären sie beide längst verheiratet." Das Wort „Junge" klang seltsam in Helenas Ohren. Nun, Adele sah in ihrem Enkel wohl nicht den brillanten Anwalt Lucci, sondern einen unbeholfenen jungen Mann, der durch seine Ungeschicklichkeit die Frau, die er liebte, verloren hatte. „Hat er je"... eine andere geheiratet?" fragte Helena zögernd. „Nein. Es gab wohl Frauen. Zu viele, Wie ich glaube, aber nichts Ernstes. Er spricht nie von Heirat." Helena konnte ihre Freude über diese Worte kaum verbergen und schaute daher angelegentlich aus dem Fenster auf die Villa, die nun bereits zu sehen war. Kurze Zeit später fuhren sie durch das weit geöffnete schmiedeeiserne Tor und hielten vor dem Eingang. Während Giorgio, der Chauffeur, Helenas Koffer auslud, wurden die beiden Damen von einer hoch gewachsenen, grauhaarigen Frau empfangen, die Adele als Nina, die Wirtschafterin der Lucci vorstellte. Helena konnte sich nicht erinnern, sie damals gesehen zu haben, und war froh darüber. Nina erklärte, dass Signora Maria Lucci sich nicht wohl fühle und den ganzen Tag in ihrem Zimmer verbringen würde. Adele unterdrückte eine Bemerkung und führte Helena, gefolgt von Giorgio mit dem Koffer, in ein Gästezimmer, das im ersten Stock lag. Obwohl sie gleich die Rollläden hochzog, blieb der Raum in einem Halbdunkel. Das Erste, was Helena sah, war ein riesiges Himmelbett mit alten, verblassten Vorhängen. Wenn das düstere Zimmer Helena auch bedrückte, ließ sie sich nichts anmerken und dank te Adele herzlich für die liebevolle Aufnahme. „Ich werde Ihnen etwas zu essen heraufschicken", sagte die alte Dame: „Dann ruhen Sie sich aus, damit Sie bis zum Abendessen munter sind. Wir speisen ziemlich früh in diesem Haus." Dann suchte sie in Helenas Koffer nach einem passenden Kleid, und zog schließlich ein elegantes Abendkleid aus blassgrünem Chiffon heraus. Helena erschrak. „Das kann ich nicht anziehen", sagte sie. „Es ist viel zu förmlich." „Durchaus nicht. Wenn Valerio kommt, speisen wir immer in Gesellschaftskleidung." „Aber ich trug es, als ..." „Hm!" Adele musterte es eingehend. „Nun, es ist zwar zerknittert, aber nicht
beschädigt. Das Mädchen wird es bügeln und Ihnen rechtzeitig zurückbringen." Helena wagte nichts mehr zu sagen. Valerio hatte Recht. Wenn sich Adele etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es ihr nicht mehr auszutreiben. Allein in ihrem Zimmer, räumte Helena ihre Sachen in den riesigen Schrank aus Nussbaumholz. Dann öffnete sie die Tür zum Badezimmer, und während sie es betrachtete, brachte das Mädchen das Tablett mit dem Essen herein. Wieder allein, schob Helena die Vorhänge zurück, um etwas mehr Licht hereinzulassen. Da sah sie, dass die Fenster vergittert waren. Sie wusste nicht, wie lange sie darauf gestarrt hatte, bis ihr einfiel, dass alle Villen in Florenz vergitterte Fenster zum Schutz gegen Einbrecher hatten. Ich muss meine Fantasie zügeln, ermahnte sich Helena energisch, als sie sich zum Essen hinsetzte. Doch gleich überfiel sie der nächste Albtraum. Sicher, sie saß nicht in einer Gefängniszelle, aber war sie nicht auch hier eine Gefangene, Valerio vollkommen , ausgeliefert? Wer wusste, was er mit ihr vorhatte, wenn er auch betonte, nicht rachsüchtig zu sein. Sie kannte das Wort „Vendetta" ... Merkwürdig, diese Gedanken gaben ihr plötzlich Kraft. Sie wusste, sie hatte zu kämpfen. Und bei Gott, das würde sie tun. Aber nicht als das eingeschüchterte Opfer. Nein, sie würde mit den Waffen der Frau kämpfen. Als Erstes beschloss sie, ein erfrischendes Bad zu nehmen. Auf dem Weg dorthin riss sie den Verband vom Kopf.
6. KAPITEL
Gegen Abend kam Nina, um Helena zum Essen abzuholen. Als sie den großen Salon, den sie von damals kannte, betrat, sah sie Adele mit einer jungen Frau am Fenster stehen. „Guten Abend", wandte sich diese an Hele na. „Sie werden mich nicht mehr kennen. Ich bin Serena." Ihre Stimme klang mürrisch. „Ach ja, natürlich, Sie waren damals ein Kind von zehn Jahren." Serena hatte sich zu einem großen, stämmigen, nicht allzu hübschen Mädchen entwickelt, das Helena um fast zehn Zentimeter überragte. Sie studierte Jura und arbeitete in ihrer Freizeit als Schreibkraft im Büro ihres Bruders. . „Das ist ungewöhnlich in Italien, nicht wahr, eine Frau als Anwalt?" meinte Helena. „Man trifft es häufiger an als früher, aber dennoch relativ selten", antwortete Serena. „Mama fiel fast in Ohnmacht, als ich ihr meinen Entschluss mitteilte. Ich tröstete sie damit, dass dies der beste Weg sei, sich einen gescheiten, jungen Anwalt zu angeln," Helena lachte. Sie erinnerte sich an ihr Gespräch mit Maria Lucci vor zehn Jahren. Serena schien ihr nicht auf Männerfang aus zu sein. „Mama kommt nicht zum Essen", fuhr Serena fort. „Sie fühlt sich nicht wohl." „Ich habe Mrs. Catesby bereits davon unterrichtet." Adele gesellte sich zu ihnen. Sie trug ein herrliches in Schwarz und Silber gehaltenes Abendkleid. Trotz ihrer achtzig Jahre liebte sie immer noch die extravagante Kleidung. Neben ihr wirkte Serena in dem streng geschnittenen Kleid und den nach hinten gebundenen Haaren geradezu unscheinbar. Helena war froh, dass Adele ihr das Abendkleid aufgezwungen hatte. Auch ihr Make-up war tadellos. Sie sah gut aus, das wusste sie. Nach kurzer Zeit erschien Valerio in einem eleganten dunklen Anzug und in einem weißen spitzenbesetzten Hemd. Er schien im ersten Augenblick über Helenas Aussehen fast bestürzt zu sein. Bis jetzt hatte er sie ja nur im Krankenhauskittel und in jenem dunklen Kleid gesehen. Nun stand eine junge Frau vor ihm, die mit dem Mädchen von früher wenig gemein hatte, eine erfahrene, faszinierende Frau. . Überrascht stellte Valerio die Abwesenheit seiner Mutter fest. Er entschuldigte sich daraufhin und verschwand. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück. „Meine Mutter bittet Sie, Signora, ihr Fernbleiben zu entschuldigen. Sie fühlt sich nicht wohl." „Selbstverständlich", antwortete Helena hastig und war froh, dass das Mädchen im selben Augenblick ankündigte, das Essen sei angerichtet. Während der Mahlzeit sprach man ausschließlich über das Verhör. Valerio genoss sichtlich seinen Sieg. „Mein Glückstreffer war die Ernennung Ferones zum Ankläger. Es war ein wahres Geschenk. Er hatte versäumt, sich gebührend auf diesen Prozess vorzubereiten, verließ sich auf unglaubwürdige Zeugen und machte sich darüber hinaus den Richter zum Feind. Etwas Besseres hätte mir nicht passieren können." Helena beobachtete ihn. Während er sprach, zeigte er ein eisiges Lächeln, und es schien ihr, als ob die Kälte, die einst nur Maske war, nun sein Inneres erfasst hätte. Nach dem Essen erhob sich Valerio. „Leider muss ich heute früher als sonst in die Stadt zurück. Signora, es gibt noch einige Dinge zu besprechen. Würdest du uns entschuldigen, Adele?" „Ich wollte vorschlagen, nach draußen zu gehen", sagte Valerio in der Halle zu Helena, „aber es wird Ihnen wahrscheinlich zu kühl sein." Dabei blickte er auf
ihre entblößten Schultern. „O nein, es ist doch ein so schöner Abend", zerstreute sie seine Bedenken. „Ich werde nicht frieren." Eine herrliche Anlage umgab die Villa. Wer immer der Gartenarchitekt gewesen sein mochte, es war ihm gelungen, den steilen Hügel vorteilhaft auszunutzen. Der Weg führte in langen Serpentinen abwärts. An jeder Biegung stand eine Baumgruppe, die bis zuletzt die Aussicht auf neue Wunder verbarg. Schmale Seitenpfade tauchten überraschend auf und schwanden wieder. Valerio führte Helena zu einer von Bäumen umstandenen Laube, in deren Mitte ein aus Stein gehauener Tisch mit drei Bänken, ebenfalls aus Stein, aufgestellt war. Zur Hausseite hin war der Platz durch Bäume verdeckt, die gegenüberliegende Seite bot einen atemberaubenden Blick auf die Stadt. „Ich freue mich, dass es Ihnen schon sehr viel besser geht", sagte Valerio, nachdem sie sich gesetzt hatten. „Ich hoffe, Sie verzeihen mir die Methode, die ich heute bei Gericht angewandt habe. Sie muss für Sie ein Schock gewesen sein. Aber glauben Sie mir, Signora, es war die einzige Möglichkeit." „Ich habe es hinterher eingesehen", gab Helena zu, „obwohl es mir auch jetzt noch nicht gefällt, dass Sie dem Richter andeuteten, ich wisse wahrscheinlich mehr als ich zugebe. Wozu war das gut?" „Es ließ am Ende den Richter an Ihren Gedächtnisschwund glauben", sagte Valerio. „Schließlich war das Ihr wunder Punkt, auf den Ferone es abgesehen hatte. Sie taten genau das Richtige, Helena. Ihre Weigerung, sich auf Mr. Hanleys Kosten zu retten, machte seinen Verrat an Ihnen noch deutlicher. Italien ist ein Land der Traditionen, in dem der Begriff der Ritterlichkeit noch immer eine Rolle spielt. Leute wie Mr. Hanley schätzt man bei uns nicht." „Glauben Sie wirklich, dass Brian schuldig ist?" fragte Helena. „Sie müssen ihm wirklich verfallen sein, wenn Sie jetzt noch diese Frage stellen können", sagte Valerio kalt. „Gibt es nach all dem, was er getan hat, daran noch einen Zweifel? Machten seine Erklärungen Sie nicht misstrauisch?" „Wieso? Ich fand ihn rührend und lieb, besonders als er unbedingt bei der Polizeieinvernahme dabei sein wollte." „Natürlich. Er wollte hören, was Sie zu sagen hatten, und Sie notfalls von eventuellen Erinnerungen ablenken. Wirklich, Helena, wo blieb Ihr Scha rfsinn?" „Das ist unfair!" ereiferte sie sich. „Ich war gerade aus einer tagelangen Bewusstlosigkeit erwacht und hatte keinerlei Grund, ihm gegenüber misstrauisch zu sein." „Das stimmt", sagte Valerio nach kurzem Schweigen. „Verzeihen Sie mir, aber der wahre Charakter dieses Mannes ist für mich so deutlich, dass mich Ihre Verblendung fast wütend macht." „Nun, ich habe meinen Irrtum eingesehen", sagte Helena bitter. „Was immer in jener Nacht geschah, die Tatsache, dass Brian flüchtete und diese verlogene Erklärung abgab, bleibt bestehen. Und all das, nachdem er mir hundert Mal seine Liebe erklärt hatte ..." Helena konnte vor Ärger nicht mehr weitersprechen. „Es ist nie klug, Liebesbeteuerungen zu glauben", sagte Valerio leichthin. „So überzeugend sie auch klingen mögen, erweisen sie sich doch oft als falsch." Helena entging nicht der bittere Unterton dieser Worte. Daher antwortete sie rasch: „Brians Beteuerungen haben mich nie recht überzeugt. Er hatte wohl gehofft, ich wäre dann bereit, mit ihm zu schlafen. So weit ist es nie gekommen, obwohl ich ihn sehr nett fand." „Ja", sagte Valerio, „das haben Sie mir schon gesagt." Helena war von seiner Reaktion enttäuscht, und doch fand sie es wichtig, dass er erfuhr, dass sie mit Brian nie geschlafen hatte. „Wussten Sie wirklich nichts von seinen früheren Vergehen?" wollte Valerio
wissen. „Sie wirkten zwar überzeugend", er warf Helena einen kurzen Blick zu, „aber ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Mr. Hanley ist erst seit einem Jahr im Parlament, und normalerweise greift die Presse derartige Dinge gern wieder auf." „Das englische Gesetz verbietet so etwas, und da es sich um kleinere Vergehen handelte, wurde die jeweilige Anklage nach einiger Zeit im Strafregister gelöscht. Wie sind Sie übrigens dahinter gekommen?" „Den ersten Anhaltspunkt dafür gaben Sie mir selbst, indem Sie mir sagten, Mr. Hanley sei vor Eintreffen der Polizei bei Ihnen gewesen. Das machte mich misstrauisch, und mein Argwohn wuchs, als ich von Ihnen seine Version des Unfallgeschehens hörte. Danach war es ein Leichtes, mir die nötigen Unterlagen in England zu beschaffen. Die Zusammenarbeit mit den britischen Anwälten ist vorzüglich. Nachdem ich den jeweiligen Zeitpunkt der Unfälle erfahren hatte, verschaffte ich mir die alten Zeitungen und kopierte die entsprechenden Artikel." Helena lenkte ab. „Ich habe mich bei Ihnen noch nicht bedankt. Sie haben als Detektiv vorzügliche Arbeit geleistet." Valerio zuckte die Achseln. „Ihr Dank sollte eher Brian Hanley gelten. Seine Flucht hat letztlich dazu beigetragen, dass Sie sich auf freiem Fuß befinden, vorläufig jedenfalls, bis Sie Ihr Erinnerungsvermögen zurückhaben." „Oder bis Lucilla Dorani aus dem Koma erwacht und mich entlasten kann." „Bauen Sie lieber nicht darauf", sagte Valerio ernst. „Lucillas Zustand ist unverändert ernst, und es kann noch Monate dauern, bis sie das Bewusstsein wiedererlangt. Wer will voraussagen, ob sie dann überhaupt noch etwas von dem Unfall weiß. Nein, Helena, Sie allein sind meine Hoffnung. Sie müssen versuchen, sich zu erinnern." „Und wenn dabei meine Schuld erwiesen würde?" „Das glaube ich nicht. Dann gäbe es keine Erklärung für Mr. Hanleys Flucht." „Vielleicht wollte er nur eine Zeugenaussage umgehen", sagte Helena eigensinnig. „In seiner Erklärung hieß es doch, dass er mich für nüchtern hielt, als ich das Steuer übernahm." Valerio wurde ungeduldig. „Kann denn kein Argument Sie von der Wahrheit über diesen Mann überzeugen? Er musste Sie doch für nüchtern erklären, sonst hätte er sich ja strafbar gemacht. Haben Sie vergessen, wie er Ihnen dagegen einhämmerte, Sie seien betrunken gewesen? Hier zeigt sich einmal wieder, dass Liebe blind macht." „Ich liebe Brian nicht", sagte Helena mit fester Stimme. „Trotzdem erwägen Sie, ihn zu heiraten?" „Nun ..." Im Halbdunkel hörte Helena Valerio lachen. „Sie haben Recht. Zwei und zwei muss nicht immer vier geben." „Ich wollte eine Vernunftehe eingehen, einen netten, freundlichen Mann heiraten, auf den ich mich verlassen kann. Das klingt jetzt ziemlich absurd, nicht wahr?" „Die einzige Sicherhe it liegt in wahrer Liebe", war seine unerwartete Antwort. „Doch selbst da nicht immer. Wie war es übrigens bei Ihrem geschiedenen Mann? Haben Sie ihn geliebt?" „Als ich ihn heiratete, glaubte ich es. Doch es war wohl mehr die Einsamkeit, die mich in seine Arme trieb." Einen Augenblick schwankte ihre Stimme. „Er war ebenfalls Künstler, das erschien mir als eine geeignete Basis. Allerdings dauerte das Glück nicht lange. Nach drei Jahren ertrug ich seine ständigen Seitensprünge nicht länger. Er hatte anfangs in mir etwas gesehen, was es nicht gab. Als er das herausfand, ging unsere Ehe in die Brüche. Als Künstler brauche er Liebesaffären,
das- waren seine Worte, so nötig wie das tägliche Brot. Ich als Künstlerin würde das wohl verstehen, meinte er." „Damit gab er Ihnen wohl gleichzeitig die Freikarte für Ihre eigenen Liebesabenteuer", unterbrach Valerio sie. „So habe ich es nie gesehen", erklärte Helena. „Er mag es so gemeint haben, und es wäre ihm sicher auch recht gewesen, aber ich bin dafür nicht geschaffen." „Und doch sind auch Sie der Meinung, dass ein Künstler zu seiner Entfaltung die Liebe braucht, nicht wahr?" bemerkte Valerio ironisch. „Mein Fehler damals war der, dass ich die Rolle, die ich in Ihrem Leben hätte spielen sollen, verkannt habe. Sie brauchten keinen Ehemann, sondern einen Liebhaber." „Das ist nicht wahr, Valerio. Ich habe Sie geliebt, aber für eine Ehe war ich noch zu jung und unerfahren. Wenn wir uns ein paar Jahre Später begegnet wären ..." Verzweifelt hoffte sie, dass er sie verstehen möge. „...oder wenn ich ein paar Jahre gewartet hätte", antwortete er jedoch sarkastisch. „Warum haben Sie damals meinen Brief nicht gelesen? Es hätte Ihnen alles erklärt, und Sie hätten mir bestimmt verziehen." „Verziehen?" Valerio sah sie mit blitzenden Augen an. „Wissen Sie eigentlich, was Sie mir damals angetan haben? Sie haben mich zum Gespött der ganzen Stadt gemacht. Wie könnte ich Ihnen das jemals verzeihen." „Valerio, bitte, ich wusste nicht..." „Sagen Sie nicht, dass Ihnen das Leid tut", fuhr Valerio sie an. „Solche Worte wären mehr, als ich ertragen kann." „Aber ich wollte doch nur einen Skandal verhindern. Ich hatte Sie gebeten, nicht zur Kirche zu fahren." „Ich nahm Ihre Worte nicht ernst. Immerhin liebten wir uns." „Bitte verstehen Sie doch. Wenn Sie mir damals am Telefon geglaubt hätten, wäre alles viel einfacher gewesen. Wir hätten unsere Hochzeit auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, und kein Mensch hätte sich mehr um uns gekümmert." „Wie hätte ich weiterleben können, so als wäre nichts geschehen? Für mich war diese Liebe etwas Heiliges. Sie bedeutete Ehe, Kinder. Ein weiteres Zusammenleben, sozusagen auf Probe, und ein womöglich jahrelanges, Warten auf ,meinen Tag' wären mir unmöglich gewesen, glauben Sie mir." „Ja." Helenas Stimme klang kläglich. „Und doch war alles auch Ihre Schuld. Warum mussten Sie sich über meine Unentschlossenheit, über mein Zögern so rücksichtslos hinwegsetzen?" „Es ist sinnlos, weiter darüber zu diskutieren. Ich verspreche Ihnen, das Thema nie wieder anzuschneiden." „Nachdem wir schon damit angefangen haben, könnten wir doch…" „Das Thema ist beendet", sagte er mit einer entschiedenen Handbewegung. „Nein, das ist es nicht", fuhr sie ihn an. „Sie haben Ihre Meinung geäußert, nun werden Sie auch meine anhören. Hätten. Sie damals, an Ihrem Hochzeitstag ..." "An meinem?" unterbracht sie spöttisch. Helena ließ! sich nicht beirren. „Wenn Sie also damals auf mich gehört hätten, wäre alles ganz anders gekommen. Ich lasse mich, verdammt noch mal, nicht in die Rolle einer miesen, charakterlosen Person drängen. Schließlich war ich damals erst siebzehn, Sie dagegen fünfundzwanzig und viel reifer als ich. Und wenn ich es genau betrachte, habe ich Ihnen damals einen großen Gefallen getan. Denn hätten wir wirklich geheiratet, wären wir inzwischen längst wieder geschieden." „Niemals", fiel Valerio ihr schneidend ins Wort. „Ich hätte Sie nicht gehen lassen. Außerdem ist eine Scheidung in Italien nicht so einfach wie anderswo." „Valerio, ist Ihnen nicht bewusst, dass Sie die Ehe wie ein Gefängnis
beschrieben? Und genau das war es, was ich schon damals fürchtete. Außerdem wollte ich das Leben kennen lernen und eigene Erfahrungen sammeln." „Nun, haben Sie es kennen gelernt? Haben Sie Erfahrungen gesammelt?" „O ja, zum Beispiel ist mir heute klar, dass ich keine große Malerin bin." „Und außerdem?" Konnte sie ihm sagen, dass kein Mann dem Vergleich mit ihm standgehalten und sie zu spät ihren Irrtum eingesehen hatte? Nein, das war unmöglich. Sie musste ihre Selbstachtung wahren. „Ich machte keine Erfahrung, die ich zu bereuen hätte", sagte sie daher stolz. „Das freut mich für Sie", war Valeries kühle Antwort. „Leider muss ich mich jetzt verabschieden." Bevor er sie an der Eingangstüre verließ, machte er sie noch darauf aufmerksam, dass Giorgio sie täglich zur Polizei bringen und auch bei ihren Einkäufen begleiten werde. Als er Helenas Ärger bemerkte, machte er ihr die Notwendigkeit dieser Maßnahme klar. „Ranelli ist. zu allem fähig. Sie haben doch selbst seinen hasserfüllten Blick gesehen. Und noch etwas. Sie werden nicht weglaufen, nicht wahr? Es wäre mein Ende als Anwalt." Dann lachte er gekünstelt. „Eine gewisse Duplizität der Fälle, finden Sie nicht auch? Und nun gute Nacht, Signora."
7. KAPITEL
Während der nächsten Tage fand Helena wenig Zeit, über Valerio und sein rätselhaftes Verhalten nachzudenken. Sie war zu sehr damit beschäftigt, sich in ihrer neuen Umgebung einzuleben. Maria Lucci zeigte sich erst am vierten Abend. Es musste ein heftiger Streit vorangegangen sein, denn als Helena nachmittags an ihrer Tür vorbeiging, hörte sie gerade die Worte „Nicht solange diese Person im Haus ist". Als Signora Lucci dann zum Essen erschien, begrüßte sie Helena mit eisiger Höflichkeit, bedauerte, dass ihr schlechter Gesundheitszustand ein früheres Treffen nicht zugelassen hatte, und richtete von da an kein Wort mehr an sie. Helena war klar, dass dieser Hass ihr gegenüber wohl schwerlich zu überwinden sein würde. Adele dagegen war freundlich zu ihr, ob Valerio zu Liebe oder aus persönlichen Gründen, wusste sie nicht. Serena verhielt sich bei aller Zuvorkommenheit eher abwartend, so als, hätte sie sich ein endgültiges Urteil noch nicht gebildet, Giorgio brachte Helena jeden Tag zur Polizei. Vergeblich hielt sie nach Guido Ranelli Ausschau. Von dem Polizisten erfuhr sie, dass Signor Ranelli fast den ganzen Tag am Bett seiner Verlobten verbringe, deren Zustand noch unverändert sei. Hatte Valerio doch Recht mit seiner Prognose, dass es vielleicht noch Monate dauern könne, bis Serena aus dem Koma erwachte? Obwohl knapp bei Kasse, kaufte Helena eines Tages einen Zeichenblock und etwas Reißkohle. Von da an verbrachte sie die Nachmittage in den Anlagen draußen im Freien, wo sie immer wieder neue, bezaubernde Motive fand. Dann fing sie an, die Villa aus allen erdenk lichen Perspektiven zu skizzieren. Sie war außergewöhnlich. Mit ihren Erkern, Balustraden und gotischen Fenstern war sie ein Bauwerk im Zuckerbäckerstil. Der achteckige Turm an der Ostseite des zweigeschossigen Hauses sah aus, als wäre er aufgeklebt. Eines Tages entdeckte Helena am untersten Ende der Gartenanlagen einen Teich, an dessen Ufer ein kleiner Tempel stand. Bei näherer Betrachtung sah Helena, dass die Figuren an der Außenwand ägyptischen Ursprungs waren. Der Eingang wurde von sechs winzigen Sphinxen bewacht, die, ebenso wie die anderen Statuetten, kaum älter als hundert Jahre sein konnten. Das Ganze hielt Helena für die spleenige Idee irgendeines Vorfahren Valerios, Adele bestätigte ihr das. „Der Urgroßvater meines Mannes kaufte sie von einem Engländer, der in Ägypten gelebt hatte." Helena gefiel dies, ebenso wie sie überhaupt anfing, das Haus zu mögen, dessen düstere Räume sie zu Beginn so deprimiert hatten. Vielleicht lag es daran, dass sie es auf den Zeichenblock gebannt und damit in gewisser Weise unter Kontrolle hatte. Der Wunsch, mehr über dieses Haus und seine früheren Bewohner zu erfahren, wurde immer stärker. „Seit fünfhundert Jahren ist es im Besitz unserer Familie", erklärte ihr Adele. „Natürlich sieht das Gebäude heute anders aus als früher. Im Laufe der Zeit wurde es immer wieder erweitert. Wie viele Schicksale hat es erlebt, wie viele Menschen wohnten, liebten und starben in diesen Räumen! Wenn Sie mehr über die Luccis erfahren möchten, in der Bibliothek gibt es eine Familienchronik, die die Geschichte dieser Familie bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgt." Am Nachmittag desselben Tages begab sich Helena zum ersten Mal auf Entdeckungsreise. Sie hatte außer ihrem Zimmer und dem Salon, in dem die Mahlzeiten eingenommen wurden, noch nichts vom Haus gesehen. Sie stieg in den zweiten Stock hinauf, wurde aber enttäuscht, da fast alle Zimmer leer standen. Als sie schließlich zur Tür des Turms kam, fand sie diese,
im Gegensatz zu allen anderen, verschlossen. Wahrscheinlich sind die Treppen, die hinaufführen, morsch, dachte Helena, und die Tür ist aus Sicherheitsgründen abgesperrt. Am Spätnachmittag kehrte sie in ihr Zimmer zurück und fand zu ihrer Überraschung die fünf Bände der Familienchronik auf dem Tisch. Sie schlug den ersten auf und blätterte flüchtig ein paar Seiten durch. Dann begann sie zu lesen und war bald so vertieft, dass sie darüber fast das Abendessen vergessen hätte. Die Zeit verging wie im Fluge. Nach der zweiten Woche fand Helena keine neuen Motive mehr, weder im Haus noch draußen in den Gartenanlagen. Sie beschloss daher, die Bewohner des Hauses zu zeichnen. Sie skizzierte die drei Frauen aus dem Gedächtnis und stellte am Ende erstaunt fest, dass sie alle Valerios Züge trugen. Nun, vielleicht zeichnet die Hand nur, was das Unterbewusstsein diktiert, sagte sie sich. Mit Giorgio stand Helena auf gutem Fuß. Nach der allmorgendlichen Meldung bei der Polizei pflegten sie gemeinsam in eine nahe gelegene Trattoria zu gehen, wo Giorgio seine Freunde traf. Eines Tages, als er sich von ihnen nicht, losreißen konnte, machte Helena ihm den Vorschlag, noch bei ihnen zu bleiben, während sie durch Geschäfte bummeln wollte. Nach kurzem Zögern und einer Ermahnung, pünktlich zurück zu sein, willigte er ein. Helena genoss diese Stunde. Zum ersten Mal fühlte sie sich wirklich frei. Sie schlenderte durch hübsche Läden, trank eine Tasse Kaffee und war pünktlich in der Trattoria zurück. Von diesem Tag an galt es als abgemacht, dass Helena für eine Stunde verschwand, während Giorgio mit seinen Freunden plauderte. Aus einer Stunde wurden allmählich zwei. Aber nie traf sie bei ihren Spaziergängen auf Guido Ranelli. Valerio ist übervorsichtig, dachte sie und beschwichtigte damit ihr schlechtes Gewissen. Zwei Mal wöchentlich erschien Valerio zum Abendessen. Dies waren für Helena die schlimmsten Stunden, denn sie spürte, wie seine unpersönliche Haltung ihr gegenüber von Mal zu Mal mehr schmerzte. Obwohl er am Ende des Abends immer ein Gespräch unter vier Augen mit ihr führte, blieb er verschlossen und erwähnte ihre gemeinsame Vergangenheit nicht mehr. Manchmal wunderte sie sich, warum er überhaupt allein mit ihr sprach. Denn was er zu sagen hatte, hätte er ebenso gut auch in Gegenwart der anderen äußern können. Oder wollte er damit ihr unpersönliches Verhältnis demonstrieren? Nun, sie musste es akzeptieren, so oder so. Und doch, wie konnte sie an ihn wie an einen Fremden denken? Sie, die die letzten Geheimnisse von ihm kannte? So nüchtern und selbstbeherrscht er sich im Alltag gab, als Liebhaber war er zärtlich und leidenschaftlich. Eines Morgens eröffnete ihr Giorgio, dass Signor Lucci sie in seinem Büro erwartete, da Post für sie gekommen sei. Helena war neugierig. Noch nie hatte sie Valerio in seiner Anwaltspraxis besucht, obwohl sie auf ihrem Weg zu seiner Wohnung früher täglich daran vorbeigegangen war. Nach ihrem obligatorischen Besuch im Polizeirevier bat sie Giorgio, zur nächsten Ba nk zu fahren, da sie dringend Geld benötigte. Sie reichte dem Schalterbeamten ihre Scheckkarte und ersuchte ihn, ihr den Gegenwert von einhundertfünfzig englischen Pfund in Lire auszubezahlen. Der Mann tippte etwas in den Computer und schaute dann ungläubig auf das Ergebnis. „Es tut mir Leid, Signora", sagte er endlich. „Ich darf Ihnen kein Geld ausbezahlen." „Das ist unmöglich", antwortete sie bestürzt. „Es sind doch noch mindestens
fünfhundert Pfund bis zu meiner Kreditgrenze." Der Beamte wiederholte den Vorgang. „Das gleiche Ergebnis, Signora. Ihr Konto wurde gesperrt. Ein Irrtum ist ausgeschlossen." Mit zusammengepressten Lippen saß Helena im Auto, als sie zu Valerios Büro fuhr. Ich werde mir meine Empörung nicht anmerken lassen, nahm sie sich vor. Aber bei dem Gedanken, dass sie mit den zehn Pfund, die ihr verblieben waren, noch abhängiger von ihm wurde, überkam sie eine maßlose Wut. Nur allmählich gewöhnten sich Helenas Augen an das Halbdunkel des Flurs. Giorgio deutete auf einen dicken, weißen Strich an der Wand. Auf ihren fragenden Blick hin erklärte Giorgio, dass dies die Wassermarke der Flut von 1966 sei und man sie überall in der Stadt sehen könne, zur Erinnerung an jene Schreckenstage. Diese Überschwemmung hat damals Valerios Leben verändert, dachte Helena, während sie mit einem Finger über die Markierungslinie strich. Es war der Tod seines Bruders, der ihn zu dem unbegreiflichen Versprechen seinem Vater gegenüber gezwungen hatte. Energisch zog sie die Hand zurück. Schluss jetzt mit der Vergangenheit, riss sie sich aus ihren Grübeleien. Valeries Büro war größer, als das Äußere des Hauses hätte ahnen lassen. Neben den beiden Räumen, die ihm zur Verfügung standen, gab es noch zwei weitere Anwaltskanzleien, die, wie Helena später erfuhr, entfernten Verwandten von ihm gehörten. Im Vorzimmer sah Helena Valerios Schwester an einem Computer sitzen. Dann hörte sie Serena sagen: „Mrs. Catesby ist hier." Gleich darauf vernahm sie Valerios Stimme: „Schick sie herein." Als Helena eintrat, warf Valerio einen kurzen Blick über den Rand seiner Lesebrille, bot Helena einen Stuhl an und bedeutete einer Angestellten, Kaffee zu bringen. Dann schob er Helena zwei Briefe über den Schreibtisch. Der eine kam von ihrer Kreditkartengesellschaft, der andere hatte die Hanleysche Lederwarenfabrik als Absender. Valerio schenkte ihr Kaffee ein. „Ich habe beide Briefe vom britischen Konsulat bekommen. Vielleicht ist es zweckmäßig, sie hier zu lesen, denn wenn sie schlechte Nachrichten enthalten, können wir gleich darüber sprechen." In seiner Stimme lag nichts als ruhige, unpersönliche Höflichkeit. Helena riss den ersten Umschlag auf. Ihre Kreditkartengesellschaft teilte ihr in wenigen Worten mit, dass auf Grund ihres Auslandsaufenthaltes, der keine Aussicht auf baldige Beendigung zuließe, ihr Konto gelöscht wurde und sie um sofortige Überweisung des ausstehenden Betrages gebeten werde. Der zweite Brief kam von der Personalabteilung von Brians Firma. Darin hieß es, nachdem keine baldige Rückkehr an ihren Arbeitsplatz zu erwarten sei, möchte sie ihre Anstellung als beendet betrachten. Der Lohn für drei Monate sei auf ihr Bankkonto überwiesen worden. Die Firma bedauere den Verlust einer so ausgezeichneten, gewissenhaften Angestellten außerordentlich, sehe sich jedoch gezwungen ... etc., etc., etc. Der Brief war vom Personalchef unterzeichnet. Helena war sprachlos. Sie reichte Valerio, die beiden Briefe, die er kurz überflog. „Nein, es war wohl nichts anderes zu erwarten", sagte er dann. „Bei Brian Hanleys Charakter muss man diese Lösung sogar als leidlich fair bezeichnen. Versuchen Sie, es gelassen aufzunehmen." „Ich soll es gelassen aufnehmen?" „Sie hätten dort sowieso nicht mehr arbeiten können", gab er ihr zu bedenken. „Wie kann er es wagen, mich mit drei Monatsgehältern abzuspeisen, nach dem, was er mir angetan hat!" Helenas Stimme überschlug sich fast vor Zorn.
„Was werden Sie jetzt tun? Das Geld zurückschicken?" Es lag ihr schon auf der Zunge zu sagen, dass Sie genau das tun werde. Doch dann beherrschte sie sich. Auf das Geld konnte sie im Augenblick nicht verzichten. Andernfalls käme sie noch tiefer in Valeries Schuld, und dieser Gedanke war ihr unerträglich. „Nein, das werde ich nicht tun." Ihre Stimme klang rau. Valerio sah ihr blasses Gesicht und den fast ungestümen Ausdruck in ihren Augen. Er wollte etwas zu ihr sagen, doch da ertönte der Summer auf seinem Schreibtisch und unterbrach ihn. „Ja!" meldete sich Valerio ungeduldig. „Signor Ferrando ist da", antwortete Serena. „Gut. Bitten Sie ihn, sich einen Augenblick zu gedulden." Valerio wandte sich wieder Helena zu. „Ferrando ist früher da als erwartet. Es tut mir Leid, dass ich Sie jetzt wegschicken muss. Heute Abend können wir weitersprechen. Würden Sie meiner Mutter bitte ausrichten, dass ich zum Essen komme." Er führte sie hinaus und übergab sie Giorgios Obhut. Im Augenblick tröstete sie nur der Gedanke, dass Valerio am Abend bei ihr sein und ihr wieder Mut machen würde. Wie bei den vorhergehenden Besuchen Valerios war sie gezwungen, wieder das blassgrüne Chiffonkleid anzuziehen. Sie hatte keine andere Wahl, denn noch immer standen ihr nur die wenigen Kleidungsstücke zur Verfügung, die sie für die ursprünglich geplanten vier Tage aus England mitgebracht hatte. Sie griff nach einer Halskette und legte sie wieder beiseite. Diese Kette war ein Geschenk Brians, und gerade jetzt wollte sie durch nichts an ihn erinnert werden. So schlang sie nur einen weißen Seidenschal um die Schultern, denn sie wollte vor dem Essen noch etwas nach draußen gehen. Helena machte sich auf den Weg zu der Laube mit dem steinernen Tisch, wo sie an ihrem ersten Abend mit Valerio gesessen hatte. Es war angenehm, hier zu sitzen. Die Bäume schützten vor dem kühlen Wind, der aufgekommen war, und sie genoss die herrliche Aussicht auf die Stadt, deren Dächer im Schein der untergehenden Sonne rotgold leuchteten. So saß sie regungslos, bis sie auf dem Kiesweg hinter sich Schritte hörte. Es war Valerio. „Ich habe mich etwas verspätet", sagte er. „Ich fuhr auf dem Weg hierher noch am Krankenhaus vorbei, um mit Lucillas Arzt zu sprechen. Leider war er unabkömmlich. Dafür traf ich Guido Ranelli. Der arme Kerl muss wahrscheinlich noch lange am Krankenbett seiner Verlobten verbringen." „Er liebt sie sehr, nicht wahr?" „Ja, sicher. Wenn es nach ihm ginge, würde er nicht von ihrer Seite weichen und sie keine Sekunde aus den Augen lassen." „Wie war es ihr dann möglich, mit einem anderen Mann auf jene Party zu gehen?" Valerio zuckte die Achseln. „Wer weiß! Auf jeden Fall muss sie seiner Beschützerrolle überdrüssig gewesen sein." „Sie hat Angst vor ihm", sagte Helena plötzlich. „Was?" Valerio rückte dicht neben sie und schaute sie erstaunt an. „Woher wissen Sie das?" „Ich weiß es einfach. Die Worte ,Guido darf nichts erfahren' haben sich mir eingeprägt." „Vergessen Sie nicht, dass Brian Hanley sie Ihnen eingeflüstert hat." „Sicher. Aber das ist etwas anderes. Ich konnte hören, Valerio, wirklich hören, wie sie mit einer verzweifelten, von Angst erfüllten Stimme diese Worte sagte." „Woran erinnern Sie sich sonst noch?" Helena schloss die Augen, aber das Bild verschwand. „Versuchen Sie nicht, die Erinnerung gewaltsam zurückzuholen. Es hätte nur die gegenteilige Wirkung."
Sein ruhiger, unpersönlicher Ton brachte sie schnell wieder ins Gleichgewicht. Er wäre ein guter Arzt geworden, dachte sie. Interessiert, aber nicht persönlich engagiert. Wahrscheinlich musste ein Anwalt genauso sein, immer für die Nöte seiner Klienten da, ohne dabei Gefühle zu entwickeln. Plötzlich fiel ihr das Wort „Abstand" wieder ein, von dem er damals zu ihr gesprochen hatte. „Können Sie sich erinnern, was Sie mir einmal über den Abstand zu den Dingen erklärt haben?" hörte sie sich im gleichen Auge nblick sagen. Er sah sie an, als könnte er ihr nicht recht folgen. Dann antwortete er in kühlem Ton. „Ich sagte damals, dass Sie ihn nicht besitzen. Hätte ich mich darin nicht so getäuscht, wäre es mir vielleicht möglich gewesen zu sehen, was kommen würde. Erst später habe ich Ihren Ausspruch verstanden, dass Sie Ihr eigenes Leben, ohne Rücksicht auf andere, leben würden. Damals hielt ich diese Worte für jugendliche Unbesonnenheit, bis Sie mir dann den Beweis gaben, dass sie ernst gemeint waren." „Sie hassen mich sehr, nicht wahr?" sagte Helena nach einem kurzen Schweigen. „Sie irren sich. Ich hasse Sie nicht, nicht mehr, Lange Zeit war es so, das gebe ich zu. Aber irgendwann erschöpft sich jedes Gefühl. Heute empfinde ich weder Hass noch sonst irgendetwas für Sie. Ich sehe sogar ein, dass auch ich einen Teil Schuld an allem trage. Ich war verrückt vor Liebe, so verrückt, dass ich Ihnen ein Tempo auf zwang, mit dem Sie nicht Schritt halten konnten. Mit mehr Geduld meinerseits wäre vielleicht alles anders gekommen. Sie sehen, auch ich habe eine alte Schuld abzutragen." „Sagen Sie bitte nicht, dass Sie mir nur helfen, um Ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen!" „Darf ich noch einmal wiederholen, dass ich bis zum Betreten Ihres Krankenzimmers gar nicht wusste, wer meine Klientin war. Als ich Sie erkannte, war es zu spät, um den Fall wieder abzugeben. Im Grunde sind Sie für mich eine Mandantin wie alle anderen." „Das ist nicht wahr!" widersprach Helena wütend. „Es kann nicht wahr sein, und Sie wissen das ganz genau. " „Gut, es ist also nicht wahr. Aber tun wir um Himmels willen wenigstens so, denn sonst wäre die Zukunft unerträglich. Es tut uns beiden nicht gut, von der Vergangenheit zu sprechen. Glauben Sie mir, Helena. Ich muss an meine Zukunft denken. Ich habe die Absicht, mich zu verheiraten, denn ich will Kinder haben. Zu lange schon habe ich gewartet." Die Nachricht, dass Valerio demnächst heiraten würde, traf sie wie ein Schlag. Sie sprang auf und entfernte sich um einige Schritte. Dabei fiel ihr Schal zu Boden. Eine andere Frau wird also die Mutter seiner Kinder sein, und sicher würde sie eines Tages auch sein Herz erobern, denn welcher italienische Ehemann bliebe der Mutter seiner Kinder auf die Dauer gleichgültig gegenüber. Helena versuchte, ihrer Stimme einen desinteressierten Klang zu geben. „Weiß diese Dame, was für einen erbärmlichen Handel man ihr anbietet?" Valerio lächelte spöttisch, denn er erriet, was sie eigentlich wissen wollte. „Natürlich nicht. Denn die Frau, von der ich soeben sprach, existiert noch nicht. Bevor ich mich ernstlich auf die Suche nach ihr begebe, muss ich mich ein für alle Mal von Ihnen befreien. Das bin ich meiner zukünftigen Ehefrau schuldig." Helena wandte das Gesicht ab, damit er ihre Freude nicht sehen konnte. Zumindest brauchte sie auf keine andere Frau eifersüchtig zu sein. „Es wundert mich, dass Sie nicht früher geheiratet haben, da Sie sich doch schon seit jeher Kinder wünschen." „Ich war Ihnen eben länger treu als Sie mir, nicht wahr?"
„War es wirklich Treue?" „Sagen wir, nach Ihnen hatte ich keine Lust mehr auf einen neuen Versuch." „Außer bei leichten Mädchen!" sagte sie. „Aha! Meine Großmutter hat also geplaudert." Er erhob sich. „Es stimmt, ich habe nicht gelebt wie ein Mönch. Doch Sie waren immer gegenwärtig, noch lange Zeit nach unserer Trennung." Plötzlich stand er hinter ihr, und sein warmer Atem streifte ihre Wange. „In Ihrer Ehe, haben Sie auch manchmal an mich gedacht?" „Ja", flüsterte sie. „Sehr oft." „Und Bria n Hanley?" „Ich sagte Ihnen bereits, dass ich nie mit ihm geschlafen habe ", antwortete sie schärfe r. „Wie kann ich. Ihnen glauben? Ich weiß doch, wie lebenswichtig die Liebe für Sie ist. Ich erinnere mich, wie Sie während unserer Beziehung sogar die Leidenschaft auf die Leinwand bannten, wie leblose Dinge unter Ihrem Pinselstrich in einem Meer von sinnenfrohen Farben erstrahlten. Erzählen Sie mir nicht, dass nach mir kein anderer Mann Ihre Leidenschaft erweckt hat. Sie ist unentbehrlich für Sie." Valerios Stimme vibrierte bei diesen Worten, und Helena konnte seinen heißen Atem auf ihrer nackten Schulter spüren. „Sie scheinen zu vergessen, dass ich das Malen aufgegeben habe", sagte sie. „Ich bin, vielmehr ich war, Designerin für Lederwaren. Während der letzten drei Jahre habe ich keinen Pinsel mehr in der Hand gehabt. Um vergoldete Initialen für eine Handtasche zu entwerten, bedarf es keiner Leidenschaft." Nun würde Valerio sie verhöhnen, weil sie ihn verlassen hatte, um einem Traum nachzujagen, der dann in nichts zerronnen war. Und das, was er nun sagte, hätte sie niemals erwartet' „Es war ein Fehler von Ihnen, das Malen aufzugeben. Sie haben •damit den Glauben an sich selbst verloren. Wissen Sie, dass das ein Verbrechen ist? Ich hätte das niemals zugelassen." Bevor sie sich umgedreht hatte, war Valerio zur Bank zurückgegangen. „Man erwartet uns zum Essen", sagte er, und es klang, als ob die Schranken zwischen ihnen wieder aufgerichtet wären. „Man wird sich sowieso schon wundern, wo wir bleiben." Er hob den Schal auf und machte einen Schritt auf Helena zu, als wolle er ihn ihr umlegen. Doch abrupt hielt er inne. Plötzlich wusste Helena, dass er Angst hatte. Er sehnte sich nach ihrer Berührung, sehnte sich so verzweifelt danach, dass er nicht wagte, auch nur das geringste Risiko einzugehen. Der kleinste Funken würde genügen, einen Brand zu entfachen, der sie beide zu verzehren drohte. Helena glaubte, seine Hände auf ihrem Körper zu spüren. Sie las in seinem ^begehrlichen Blick das Verlangen, den Wunsch, sie nackt in den Armen zu halten. Und auch sie begehrte ihn. Die Erinnerung an zärtliche Liebesspiele überfielen sie, Wie aufreizend waren seine Hände über ihren Körper geglitten, und wie hatte er es genossen, wenn sie in seinem Armen dann vor Leidenschaft fast verging. Helena versuchte, diese Gedanken zu verdrängen, doch sie hatte keine Kraft mehr. Ihre Blicke trafen sich. Da sah sie, dass er ebenso litt wie sie. Sein-Mund, sonst von einem bitteren Zug geprägt, war leicht geöffnet. Sein Atem ging unregelmäßig, und Helena wusste, dass er an der Grenze seiner Selbstbeherrschung war. Mochte sie auch seine Liebe verloren haben, er begehrte sie noch immer; so sehr sogar, dass sie nur die Hand auszustrecken und mit ihren Fingerspitzen sein
Gesicht zu berühren brauchte, und er würde sie nehmen, hier und jetzt. Sie wusste nicht, wie lange sie so gestanden hatten. „Wir sollten hineingehen", hörte sie sich plötzlich sagen. Ihre Worte brachen den Bann. Valerio schien wie aus einem Traum zu erwachen und im Augenblick gar nicht zu wissen, wo er sich befand. Dann warf er ihren Schal, den er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch und ging den Weg zum Haus hinauf. Helena ließ sich auf eine Bank fallen und barg das Gesicht in den Händen. Sie wollte Valerio zurückrufen, doch sie wusste, dass er nicht kommen würde. Nun bereute sie, ihre Hand nicht nach ihm ausgestreckt zu haben, was immer auch die Folgen gewesen wären. Es dauerte eine Weile, ehe Helena sich so weit beruhigt und gefasst hatte, um den Rückweg antreten zu können. Als sie das Haus betrat, pah sie Valerio bei seiner Schwester stehen. Er lachte über etwas, was sie ihm gerade erzählte, und nichts ließ mehr auf die vorangegangene Begegnung schließen. Für einen Augenblick glaubte Helena, alles nur geträumt zu haben. Während der Mahlzeit schien Valerio bester Laune zu sein. Er scherzte mit Serena, fand aufmunternde Worte für seine Mutter, und was sein Benehmen Adele gegenüber betraf, so war es eine Mischung aus Koketterie und Ehrerbietung. Helena behandelte er mit einer liebenswürdigen Höflichkeit, die zu nichts verpflichtete. Der Kaffee wurde im Wohnzimmer serviert. Valerio unterhielt sich mit Adele, seine Mutter beteiligte sich ab und zu am Gespräch. Helena erzählte Serena von den beiden Briefen. Serena äußerte ihr Mitgefühl, wies jedoch dann auf die praktische Seite hin. „Nehmen Sie das schäbige Geld und bitten Sie Valerio, noch mehr einzuklagen", schlug sie vor. „Das könnte ich nicht", sagte Helena. „Aber die drei Monatsgehälter nehme ich an." „Gut, dass Sie keine falsche Großzügigkeit an den Tag legen. Sobald das Geld eintrifft, kaufen wir ein paar neue Kleider für Sie. Die wenigen, die Sie aus England mitbrachten, haben Sie doch bestimmt schon über." ^ „Und ob", sagte Helena. Sie unterhielten sich noch eine Weile über Garderobe, bis Serena ihr plötzlich anbot, sich in der Zwischenzeit doch etwas von ihr auszuleihen. „An Ihrer Stelle würde ich das nicht tun", schaltete sich Valerio in das Gespräch ein. „Sie beide sind zu verschieden im Typ. Sie könnten nie das Gleiche tragen." Helena erinnerte sich, dass er einen treffsicheren Geschmack für Kleidung besaß, ein untrügliches Auge für Farbe, Linienführung und Komposition. „Ich meinte nicht unbedingt Kleidung", sagte Serena. „Ich dachte an Schmuck und solche Dinge. Ich habe zum Beispiel eine Kette, die gut zu diesem Kle id passen würde. „Ja, ein Halsschmuck wäre hier wirklich angebracht", meinte Helena. „Besitzen Sie nicht eine Filigrankette? Die würde Ihnen doch gut zu diesem Kleid stehen", wandte sich Valerio an Helena. „Sie ist ein Geschenk von Brian, und ich möchte sie nicht mehr tragen. Aber woher kennen Sie diese Kette?" „Ich sah sie einmal an Ihnen." „Eigenartig. Ich meinte, sie hier noch nie getragen zu haben. Auf jeden Fall werde ich sie mir nie wieder anlegen." . „Kommen Sie, Helena, wir gehen auf mein Zimmer und suchen etwas Passendes für Sie aus." Als sie nach einer halben Stunde zurückkehrten, war Valerio gegangen.
„Er lässt Sie beide grüßen. Er musste in die Stadt zurück", sagte Adele, die mit Maria im Wohnzimmer saß. Helena versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. Es war wohl wirklich so, wie er gesagt hatte. Sie war seine Mandantin und sonst nichts. Bald darauf zog sie sich zurück. Während sie das Fenster öffnete, um noch etwas frische Luft ins Zimmer zu lassen, fiel ihr plötzlich ein, dass sie ihren Schal in der Laube vergessen hatte. Sie -beschloss, ihn zu holen, und machte sich auf den Weg. Kurz vor der Laube, nach der letzten Biegung, blieb sie abrupt stehen. Sie sah einen Mann dort sitzen, einen Fuß auf die Tischkante gestützt, den Arm um das Knie geschlungen. In den schmalen Händen hielt er den weißen Seidenschal, presste ihn zusammen, wieder Und wieder ... Dann sank sein Kopf immer tiefer, und seine ganze Haltung drückte Verzweiflung aus. Helena war wie versteinert. Sie wagte kaum zu atmen. Als Valerio das Tuch aufnahm und das Gesicht darin verbarg, drehte sie sich rasch um und ging ins Haus zurück.
8. KAPITEL
Helena hatte den Nachmittag mit Zeichnen im Freien verbracht. Als sie gerade ins Haus gehen wollte, sah sie Serenas kleinen Wagen durch das Tor flitzen und mit einem unsanften Ruck anhalten. Serena stieg aus und winkte ihr zu. „Ich bin voll bepackt", rief sie, als sich Helena ihr näherte. Sie zeigte auf den Rücksitz, der mit allen möglichen Sachen beladen war. „Es ist erstaunlich, wie viel Krimskrams sich in so kurzer Zeit in einem Büro anhäufen kann." „Arbeiten Sie nicht mehr dort?" fragte Helena. „Nein, in ein paar Wochen beginnen die Vorlesungen. Vorher •möchte ich noch ein paar Tage Urlaub machen. Valerio warf mich also kurzerhand hinaus und meinte zum Abschied, er sei froh, mich endlich loszuwerden." Serena lachte. „Was hält er übrigens davon, dass Sie Anwältin werden wollen? Er wird wohl nicht sehr begeistert davon sein." „Nun, da irren Sie sich. Er war es nämlich, der Mama umstimmte. Es überraschte mich selbst, denn Valerio steht ja sonst allem Neuen recht skeptisch gegenüber. Allerdings weiß man bei ihm nie genau, was er wirklich denkt. Ach, da fällt mir ein ..." Serena begann, in ihrer Handtasche zu kramen. „Er gab mir etwas mit für Sie. Leider konnte er es Ihnen nicht mehr persönlich übergeben, da er für zwei Wochen wegfuhr." „Wegfuhr?" fragte Helena erschrocken. „Wissen Sie wohin?" „Nicht genau. Er sagte nur, dass er die augenblicklichen Gerichtsferien für einen Urlaub ausnützen wolle. Etwas unerwartet kam das schon. Ach, da ist es ja." Sie zog einen Umschlag aus der Tasche und reichte ihn Helena. Dann machte sie sich daran, ihre Sachen aus dem Auto zu holen. Allein in ihrem Zimmer, riss Helena den Umschlag auf. Dabei fiel ein Schlüssel heraus, um den ein Zettel gewickelt war. Helena faltete ihn auseinander und las in Valerios Handschrift. „Ich sagte Ihnen, dass ich Sie auf dem richtigen Weg eines Künstlers weitergeführt hätte. Wenn Sie diesen' Schlüssel benützt haben, werden Sie verstehen. Er öffnet die Tür zum Turm. Alles, was Sie darin finden, gehört Ihnen." Keine Anrede, keine Unterschrift. Helena lief hinauf in den zweiten Stock. Es dauerte eine Weile, bis sich der Schlüssel im Schloss drehen ließ. Vermutlich war er lange Zeit nicht benutzt worden. Dann hastete sie die Treppe hinauf, die zu einer zweiten Tür führte. Sie war nicht abgesperrt, und Helena stieß sie auf. Ihr stockte der Atem. Vor sich sah sie das größte, bestausgestattete Maleratelier, das man sich vorstellen kann. Es nahm den gesamten oberen Stock des Turms ein. Die acht Fenster ließen so viel Licht hereinfallen, dass der Raum sogar jetzt, bei Sonnenuntergang, ideale Malverhältnisse bot. Zwei Stufen führten hinauf zu einem Podium, auf dem eine Staffelei und Leinwand in allen Größen standen. Im Hauptraum waren Kommoden und ein riesiges Bücherregal untergebracht. Helena riss fieberhaft alle Schubladen auf. Ölfarben, Tempera, Aquarell, Pastellstifte, Guaschfarben, Reißkohle, dazu Zeichenblöcke und Tinte: Es fehlte nichts. Dann lief sie zum Regal. Bücher über die unterschiedlichsten Maltechniken sowie Künstlerbiografien waren darin aufgereiht. Das war mehr als ein Atelier, es war ... Bevor sie zu Ende denken konnte, sagte eine eisige Stimme hinter ihr: „Nun wissen Sie es also." Maria Lucci war Helena gefolgt und hatte sie schon die ganze Zeit beobachtet.
„Dieses Atelier war für Sie bestimmt", sagte sie. „Valerio wollte Sie damit nach der Hochzeit überraschen. Es sollte Ihnen als Refugium dienen. Ich hatte dafür zwar kein Verständnis, aber mein Sohn bestand darauf." Valerio hatte also immer verstanden! Helena war, als hätte man ihr einen Schlag in die Magengrube verpasst. Maria Lucci fuhr in anklagendem Ton fort. „Er war so glücklich bei der Vorstellung, wie sehr Sie sich darüber freuen würden. Nie wieder habe ich ihn seitdem so glücklich gesehen." „Wie konnte ich das alles ahnen?" verteidigte sich Helena. „Ich war überzeugt, dass er mich als Malerin nicht ernst nimmt. Er sagte einmal, ich würde nie eine wirklich große Künstlerin werden, höchstens als Porträtmalerin erfolgreich sein." „Das bezweifle ich", fuhr Maria unbarmherzig fort. „Ich habe die Skizzen gesehen, die Sie während der letzten Zeit gemacht haben. Finden Sie nicht auch, Signora, dass es immer das gleiche Gesicht ist, das Sie zeichnen?" „Sicher, es ist Valerios Gesicht", sagte Helena. „Aber ist es nicht so, dass sich die Mitglieder einer Familie ähnlich sehen?" „Unsinn, es ist keinerlei Familienähnlichkeit da!" entgegnete Maria verächtlich. „Signora, haben Sie je Emile Zola gelesen?" „Ja", sagte Helena, beunruhigt über diese plötzliche Wendung des Gesprächs. „War zufällig auch Therese Raquin darunter? Wenn nicht, sollten Sie dieses Buch unbedingt lesen. Es handelt von einem Maler, der einen Mann ermordet. Doch auch nach dessen Tod zeigen alle Porträts des Künstlers immer die Züge des Toten. Sie, Signora, haben meinen Sohn auf dem Gewissen. Seit jenem Tag ähnelt er in nichts mehr dem Menschen, der er früher war. Möge Gott Ihnen verzeihen!" Maria wandte sich ab und verließ den Raum. Helena blickte auf die Stadt hinunter. Wie hasste diese Frau sie! Dann kehrten ihre Gedanken zu Valerio zurück. Warum hatte er ihr gerade heute den Schlüssel geschickt? Hatte es mit dem gestrigen Abend in der Laube zu tun? Ihre Frage würde unbeantwo rtet bleiben, da er weggefahren, vor ihr geflohen war. Hatte sie damals umsonst auf Valerio und seine Liebe verzichtet? Sie hatte ihn verlassen, um sich als Künstlerin und als Mensch zu entdecken. Hätte sie ihre Talente nicht besser hier, in diesem Turm entwickeln können, als Valeries Frau, behütet und umsorgt? Draußen in der Welt war sie von den Alltagsproblemen abgelenkt worden, und wegen der Schulden, in die sie später durch die hohen Scheidungskosten geraten war, hatte sie sogar eine feste Stellung als Designerin annehmen müssen. Ja, es stimmte. Was sie als Entdeckungsreise geplant hatte, war in einer Sackgasse geendet. Helena war es gewohnt, Entscheidungen allein zu treffen und danach zu handeln. Einmal nur war sie unentschlossen gewesen, als sie sich zu der Verlobung mit Valerio hinreißen ließ, obwohl sie sich über ihre Gefühle und Wünsche nicht im Klaren war. Als ihr diese dann bewusst wurden, hatte sie, ohne Angst vor möglichen Konsequenzen, eine blitzartige Entscheidung getroffen. Heute, zehn Jahre später, war sie in eine ganz andere, ihr völlig neue Abhängigkeit geraten. Sie wusste, dass es außer einer Flucht kein Entrinnen daraus gab. Aber sie konnte nicht fliehen, ohne Valeries Leben ein zweites Mal zu zerstören. Die offenen Türen der Villa Lucci waren wirkungsvollere Gitter als die eines Gefängnisses ... Um sich abzulenken, verbrachte Helena ganze Tage im Turm, in ihrem Refugium. Selten ging sie zum Essen hinunter. Manchmal brächte Nina ihr Sandwiches hinauf, an anderen Tagen blieb sie bis zum Abend ungestört. Während der ersten Woche stümperte sie wie ein Laie auf der .-Leinwand herum. Doch dann, sozusagen über Nacht, war alles plötzlich wieder da^ der Pinsel schien endlich ihrer Hand zu gehorchen. Das Malen wurde nun zu einer
Serie von Experimenten, ihre alte Fertigkeit wiederzuerlangen. Sie verschwendete dabei ungeheure Mengen von Leinwand, denn sobald ihr ein Versuch gelungen war, tat sie die alte Leinwand beiseite und spannte eine neue auf. Diese Verschwendung empfand sie als völlig gerechtfertigt, denn gleich einer Schauspielerin musste auch sie erst durch endlose Proben gehen. Nur an Porträts wagte sie sich nicht mehr heran. Nicht etwa aus Schuldgefühlen, wie Maria vielleicht annehmen möchte. Helena fing an, die Tage bis zu Valerios Rückkehr zu zählen, und es erschien ihr wie eine Ewigkeit. Was aber würde mit ihr geschehen, wenn sie sich nach dem Prozess für immer von ihm trennen musste? Serena war abgereist, und Maria blieb seit ihrem Auftritt im Turm zum Abendessen oft auf ihrem Zimmer. So fand sich Helena bei Tisch meistens allein mit Adele. Sie genoss das Zusammensein mit ihr, denn es gab Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Auch Adele war eine Außenseiterin in dieser Stadt, obgleich sie seit sechzig Jahren hier lebte. „Als ich nach Florenz kam", erzählte Adele ihr einmal, „las auch ich in der Familienchronik der Luccis, die ich Ihnen kürzlich gab. Ich hoffte, darin den Zugang zu dieser Familie zu finden. Teilweise gelang es mir." „Und ich hoffe, sie wird mir helfen, Valerio besser zu verstehen", sagte Helena und sah sie etwas unsicher an. „Meinen Enkel zu verstehen ist nicht schwierig. Er ist ein guter Mensch, das ist alles." „Er erzählte mir einmal, dass er seinen Wunsch, Kunsthändler zu werden, nach dem Tode seines Bruders aufgab. Ich wunderte mich darüber. Heutzutage tun die Menschen so etwas nicht mehr." „O doch. Hier bei uns schon. Ich meine damit nicht Italien im Allgemeinen, sondern Florenz. Diese Stadt ist anders als die übrigen." Helena nickte. Das hatte sie selbst schon festgestellt. Als fünfzehnjähriges Mädchen war sie mit ihrem Vater einmal nach Italien gereist. Sie hatten eine Woche in Rom, eine Zweite in Venedig verbracht. Jahre später, als sie dann in Florenz studierte, sah sie deutlich den Unterschied zu den anderen Städten. Firenze nennen die Florentiner ihre Stadt, und die herben, rauen Silben klirren dabei wie Eisenstücke, die sich aneinander reiben. Diese Stadt hat nicht das üppige, sinnlich Feminine Venedigs oder die Rabelaissche Heiterkeit Roms. Ihren Ruhm verdankt sie wohl der Kunst, ihr Wohlstand war jedoch auf Handel und Gewerbe gegründet. Durch Jahrhunderte war Florenz eine eigenständige Republik gewesen, und sogar die fürstlichen Medicis, die Florenz so lange regierten, begnügten sich mit einem halb fürstlichen Status, da es für ihre Bankgeschäfte vorteilhafter war. Staatsmänner, Anwälte, Bankiers und große Künstler haben den Geist dieser Stadt geschaffen. Valerio kam aus einer dieser traditionsreichen Familien. Er hatte bei verschiedenen Gelegenheiten betont, dass er zwar Italiener sei, in Wirklichkeit jedoch von Kopf bis Fuß der typische Florentiner. „Ich bin Römerin", sagte Adele. „Als ich damals nach Florenz zog, hasste ich diese Stadt. Eine Frau kann sich hier nicht wohl fühlen. Es ist eine Stadt der Männer, in der nur Männerangelegenheiten von Wichtigkeit sind. Wer sind die großen Künstler von Florenz? Michelangelo und Leonardo da Vinci, die beide keinen Platz für Frauen in ihrem Leben hatten. Wer ist ihr größter Dichter? Dante, der die Angebetete seines Herzens nur aus der Ferne liebte." Adele zögerte etwas, bevor sie weitersprach. „Florenz ist eine kalte, hartherzige Stadt, mit kalten, hartherzigen Männern. Mein Mann war einer von ihnen, und Valerio gleicht ihm. Anfangs litt ich darunter, später fand ich heraus, dass es wie
alles seine zwei Seiten hat. Nachdem, wir zehn Jahre verheiratet waren, wurde ich eines Tages krank. Ich machte meinem Mann das Leben zur Hölle. Sobald er auch nur versuchte, den Mund aufzumachen, ließ ich eine Tirade von Schmähworten gegen ihn los. Ein ganzes Jahr verweigerte ich ihm mein Bett. Er ertrug es mit einer stoischen Gelassenheit. Nie gab er mir ein böses Wort, nie ging er ohne mich aus. Als ich ihn später einmal fragte, warum er in jenem Jahr nicht zu anderen Frauen gegangen sei, schaute er mich bestürzt an und meinte, er sei ja schließlich mit mir verheiratet. Die Treue dieser Männer hat fast etwas Erschreckendes an sich. Große Worte oder Gesten liegen ihnen nicht, und doch sind gerade sie: es, über die man Liebeslieder schreibt. Weil sie nur einmal lieben können, tief und leidenschaftlich, und weil sich diese Liebe in einer einzigen Frau erschöpft." „Adele, ich weiß, was Sie sagen wollen", unterbrach Helena sie. „Aber glauben Sie mir, für Valerio und mich ist die Vergangenheit tot." „Für Sie vielleicht. Nicht jedoch für Valerio. Ich kenne meinen Enkel. Auch er kann nur einmal lieben. Für andere Frauen ist in seinem Herzen kein Platz. Seit er Sie verloren hat, ist er ohne Leben. Möge Gott verhindern, dass er so weiterleben muss!" Helena schüttelte heftig den Kopf. „Er liebt mich nicht mehr, Adele. Er verteidigt mich in diesem Prozess aus Pflichtgefühl und ... um mich loszuwerden, denn wenn er den Prozess gewinnt, muss ich zurück nach England. Übrigens fand ich Valeries Pflichtauffassung schon immer erschreckend. Er ist hart und unnachgiebig." Helena zögerte. „Wollten Sie noch etwas sagen?" fragte Adele, nachdem ihr die Pause etwas lang erschien. „Nun, es gibt da etwas, was mir bis heute ein Rätsel ist. Nach unserer Trennung schrieb ich Valerio einen Brief, in dem ich ihm mein Verhalten erklärte und ihr versicherte, wie sehr ich ihn trotz allem liebe. Der Brief kam nach einigen Wochen ungeöffnet zurück. Bei genauerer Betrachtung sah ich dann, dass er über Dampf geöffnet worden war. Ich weigerte mich, Valerio so etwas zuzutrauen, denn wenn er den Brief gelesen hätte, würde er es auch eingestanden haben." Adele lächelte schuldbewusst. „Ich war es, Helena, die den Brief geöffnet hat." „Sie?" „Ich drängte Valerio, den Brief zu lesen. Ich mochte Sie sehr gern, müssen Sie wissen. Teils um Ihrer selbst willen, teils weil Sie Valerio zu einem glücklichen Mann gemacht hatten. Trotz der bedauerlichen Ereignisse glaubte ich, dass noch nicht alles verloren war. Ein Missverständnis zwischen Ihnen beiden hätte man rasch aus dem Weg räumen können. Da ich Sie nur ein paar Mal gesehen hatte, konnte ich den wahren Grund nicht ahnen." Adele seufzte. „Valerio wollte nicht auf mich hören, ja; er verbot sogar, auch nur ihren Namen zu erwähnen. Aber so schnell gab ich nicht auf. Es gelang mir, den Brief an mich zu bringen. Ich öffnete ihn über Dampf, las ihn und verschloss ihn wieder. Seien Sie mir deswegen bitte nicht böse, Helena. Ich wollte nur helfen und glaubte, in Ihrem Schreiben die wahren Beweggründe für Dir Handeln zu erfahren. Dann hätte ich mit mehr Beredsamkeit für Sie plädieren und Valerio zu einer nachsichtigeren Haltung bewegen können." „Ich bin Ihnen nicht böse", versicherte Helena. „Doch wie Sie sehen, waren all Ihre Bemühungen umsonst." „Gewiss. Aber nachdem ich Ihren Brief gelesen hatte, wusste ich, dass alles Valeries Schuld war, und darin sah ich eine Chance." Auf Helenas erstaunten Blick wiederholte sie es. „Ja, meine Liebe, nur seihe Schuld. Was dachte er sich eigentlich dabei, Sie in eine Ehe zwingen zu wollen,
für die Sie noch nicht bereit waren? Sie waren ein Kind. Er hätte Ihnen Zeit lassen müssen. Aber so ist es mit besonders intelligenten Männern. In der Liebe verlässt sie ihre ganze Klugheit. Ich war mir absolut sicher, dass Sie ihn liebten, und dass eine Ehe mit ihm letztlich für Sie nur eine Frage der Zeit war. Also musste ich ihn eben zur nötigen Geduld bringen. Ich arbeitete einen geschickten Plan aus. Als ich jedoch nur Ihren Namen nannte, verließ Valerio den Raum. Valerio war schon immer unversöhnlich. Nach der Trennung von Ihnen aber wurde er zum kalten, gefühllosen und unbarmherzigen Menschen, Ich glaube zwar, dass er wochenlang gegen die Versuchung ankämpfte, Ihren Brief zu lesen. Das war sicher auch der Grund, warum er ihn so lange behielt. Am Ende trug jedoch die Unversöhnlichkeit den Sieg davon. Erst in den letzten zwei Jahren schien er wieder etwas aufzutauen. Zumindest gab es einige Anzeichen dafür ..." „Meinen Sie damit", fiel Helena ihr aufgeregt ins Wort, „dass er von mir gesproche n hat?" „Nicht direkt, und doch waren Sie in seinen Gedanken, als sich Folgendes zutrug. Hat Serena Ihnen erzählt, dass Valerio es war, der sich für ihr Jurastudium so einsetzte?" „Ja, sie erwähnte es. Ich fand es eigenartig." „Nun, er hatte seine Gründe. Maria war strikt dagegen und sagte zu ihm, dass Serena dann eine ebenso hartherzige Frau werden würde wie Sie, und ob er wolle, dass noch ein Mann dasselbe erleiden solle wie er. Wissen Sie, was Valerio darauf erwiderte? Dass es Serenas Leid sei, das ihn etwas angehe, und dass keiner von uns das Recht habe, über ihr Leben zu bestimmen." Helena schwieg. Sie war enttäuscht. Mochte Adele diese Geschichte als untrügliches Zeichen für Valeries Sinnesänderung ansehen, sie selbst schrieb es eher seiner Liebe zu Serena und seinem Gerechtigkeitssinn zu. Auf der Terrasse setzten sie ihr Gespräch fort, während sie ihren Kaffee tranken. „Ich bin so froh, dass das Rätsel um den Brief endlich gelöst ist", sagte Helena. „Nun verstehe ich auch, warum Sie mir helfen wollten, und warum Sie auf meiner Seite stehen." Adele nickte. „Ich bin der Meinung, dass man Ihnen vor zehn Jahren Unrecht getan hat. Unsere Familie hat an Ihnen vieles gutzumachen." „Das finde ich nicht", erwiderte Helena. „Ich fasste damals meinen Entschluss, damit bin ich auch für die Folgen verantwortlich. Ich fürchte jedoch, dass Valerio glaubt, mir gegenüber eine Pflicht erfüllen zu müssen, und dass er darin seine augenblickliche Hauptaufgabe sieht." Glücklicherweise ging Adele auf diese Bemerkung nicht ein. Helena wechselte erleichtert das Thema. Sie plauderten über alles Mögliche, tranken Kaffee und gingen frühzeitig ins Haus zurück.
9. KAPITEL
Helena stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als ihr Geld aus England eintraf. Auch wenn sie sparsam damit umgehen musste, verschaffte es ihr doch eine gewisse Unabhängigkeit. Eine Handtasche stand an oberster Stelle auf ihrer Einkaufsliste. Die alte war bei dem Unfall beschädigt worden und kaum noch zu gebrauchen. Helena nahm sich vor, sobald wie möglich zum Strohmarkt zu gehen, der für eine große Auswahl an Lederwaren bekannt war. Dieser Strohmarkt, früher Mercato nuovo genannt, war eine im 16. Jahrhundert erbaute quadratisch angelegte so genannte Loggia, unter deren Rundbögen Geldhändler, Kaufleute und Weber ihre Geschäfte betrieben. Auch heute noch, vierhundert Jahre später, diente sie demselben Zweck. Strohhüte, Bilder, Souvenirs, Lederwaren, Nippes, dekorative Tabletts aus Papiermache, Schachspielen und vieles andere mehr wurden zum Verkauf geboten. Das Dach wurde auf den vier Seiten von je drei riesigen Strebebögen getragen, da es in einer Loggia keine Zwischenwände gibt. An der nördlichen Ecke stand der große Porcinello, ein Keiler aus Messing, dessen glänzende Nase man rieb, wobei man einen Wunsch aussprechen durfte. Dazu warf man eine Münze ein, die den Waisenkindern von Florenz zugute kam. Helena kannte den Markt, da er ganz in der Nähe von Valeries Wohnung lag und sie einmal mit ihm zusammen dort eine Brieftasche für ihn gekauft hatten. Bei der Gelegenheit hatte er ihr auch die große weiße Steinplatte gezeigt, die leicht erhöht in der Mitte des Platzes lag, und ihr erklärt, dass diese Stelle früher als Pranger gedient habe. Unehrliche Kaufleute mussten sich dort hinauf stellen, der Verachtung und dem Spott der Vorübergehenden preisgegeben. Einen Tag nach Erhalt des Geldes wollte Helena ihre Einkäufe erledigen. Aber von Giorgio, der sie wie jeden Tag zum Polizeirevier bringen sollte, war nichts zu sehen. Schließlich ging sie zu dem Häuschen, das im unteren Teil des Grundstücks lag und das er mit seiner Frau Dora bewohnte. Sie fand Giorgio übernächtigt und verkatert vor. Nach einigem Hin und Her und Helenas Versprechen, dass Signor Lucci nichts erfahren werde, brachte sie ihn dazu, sie allein gehen zu lassen. Helena war glücklich bei dem Gedanken, ein paar Stunden für sich zu haben. Vergnügt spazierte sie den Hügel hinunter. Unten angekommen, rief sie ein Taxi, das sie zum Polizeirevier brachte. Vor ihrer Meldung dort wollte sie nichts unternehmen. Sie traf den jungen Polizisten Torrini an, der schon öfter während ihrer Meldung Dienst gemacht hatte. Es war der Beamte, der bei Gericht den Verlobten Luccias festgehalten hatte und dessen Art, Guido zu beruhigen, auf ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden hatte schließen lassen. War das vielleicht der Grund, warum sie bei ihm immer eine versteckte Feindseligkeit ihr gegenüber zu bemerken glaubte? Sie konnte sich jedoch auch täuschen. „Guten Morgen, Signora", begrüßte Torrini Helena höflich. „Sie sind heute sehr früh dran." Dann, nach einem Blick zur Tür, runzelte er die Stirn. „Kommt Giorgio nicht mit herein?" „Er ist nicht bei mir", sagte Helena zerstreut, während sie die übliche Unterschrift gab und ihm die Anwesenheitsliste zum Gegenzeichnen reichte. „Nicht bei Ihnen? Wollen Sie damit sagen, dass er sie heute nicht begleitet hat?" Torrini schaute Helena dabei nicht an. Er schien ganz mit seiner Unterschrift beschäftigt zu sein und keinerlei Wert auf eine Antwort zu legen. „Nein, er blieb zu Hause. Ich will ein paar Einkäufe machen, und dabei kann ich
niemanden brauchen." Sie ärgerte sich über Torrinis Fragen. „Die Order verlangt eine tägliche Meldung, aber keine Eskorte. Warum soll ich nicht einmal einen Tag für mich haben?" „Dafür besteht wirklich kein Grund, Signora. Ich hoffe, Sie haben viel Freude beim Einkaufen." Er schaute ihr nach, bis sie verschwunden war. Dann nahm er den Telefonhörer ab und wählte. Helena hatte am Markt eine Handtasche, Gürtel und Schuhe erstanden. Zum Schluss rieb sie die Nase des Porcinellos, warf eine Münze ein und machte sich auf den Weg zu einer Cafeteria. Schon nach ein paar Minuten gab sie ihre Bestellung auf und packte ihre Einkäufe aus. Helena war zufrieden mit den Sachen, besonders die Handtasche gefiel ihr. Da fiel ein Schatten über den Tisch, und im selben Augenblick sagte eine Stimme: „Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?" Helena schaute auf und begegnete dem durchdringenden Blick Guido Ranellis. „Natürlich nicht." Was hätte sie auch sonst sagen sollen? Sie fürchtete Ranelli nicht und wollte ihm dies auch zu verstehen .geben. „Natürlich nicht", äffte er sie nach. „Natürlich nicht. Warum auch? Man möchte meinen, Sie wissen nicht, wer ich bin." „Sie sind Guido Ranelli, der Verlobte Lucilla Doranis. Ich habe Sie bei Gericht gesehen", sagte Helena mit fester Stimme. „Sie haben mich im Gerichtssaal gesehen? Ach ja, natürlich. Haben Sie mich auch gehört? Oder soll ich Ihnen die Worte wiederholen?" „Das ist nicht nötig", sagte Helena. „Was Sie sagten, war nicht zu überhören. Nun, ich verstehe, warum Sie mir die Schuld geben, aber ..." Er unterbrach sie. „Ach, Sie verstehen? Das ist gut, denn dann werden Sie auch begreifen, warum ich Sie hasse und. Sie an Lucillas Stelle sehen möchte, hilflos und mit dem Tod ringend." Seine Stimme war gleich bleibend ruhig. Ein Unbeteiligter hätte die beiden für zwei sich freundschaftlich unterhaltende, gute Bekannte halten können. Nur Helena sah seinen stechenden Blick und hörte den drohenden Unterton in seiner Stimme. Aber sie wollte sich nicht einschüchtern lassen. „Sie haben keinen Grund, mir die Schuld zu geben", sagte sie. „Ich war an jenem Abend nicht betrunken." „Ach, dann können Sie sich also wieder an alles erinnern? Wie seltsam, dass ich davon noch nichts erfahren habe, denn ich bin über alles, was Sie betrifft, bestens informiert. Ich habe mehr Freunde in dieser Stadt als Sie, Signora. Sie berichten mir alles, zum Beispiel wie oft Giorgio Sie auf eine oder zwei Stunden entwischen ließ. Es war nur eine Frage der Zeit, dass Sie so töricht sein würden, sich ganz allein, ohne seinen Schutz, in die Stadt zu wagen." Helena sah sein hämisches Grinsen. Sie war also in eine Falle gegangen. Valerio hatte sie gewarnt.. Jetzt konnte er ihr nicht mehr helfen. Sie musste allein mit allem fertig werden. „Und nun", fuhr Ranelli fort, dabei beugte er sich über den Tisch, „erzählen Sie mir, was an jenem Abend wirklich geschah." „Sie haben mich missverstanden. Ich habe immer noch diese Gedächtnislücke ..." „Sie haben mich missverstanden. Ich habe immer noch diese Gedächtnislücke ...", äffte er sie wieder nach. „Müssen Sie unbedingt immer alles wiederholen, was ich sage?" fuhr sie ihn an. Im nächsten Augenblick bereute sie ihren aggressiven Ton. Es war doch klar, dass
Ranelli sie mürbe machen wollte. Fast wäre es ihm gelungen. „Nun sind wir also wieder bei dem berühmten Gedächtnisschwund angelangt", sagte er achselzuckend. „Sie haben es geschafft, das Gericht zu täuschen, mit Hilfe des Mannes, der sich Ihretwegen zum Narren dieser Stadt macht. Mich aber, Signora, täuschen Sie nicht. Ich glaube nicht an diese Geschichte. Außerdem ist es mir egal, ob Sie oder dieser Hanley betrunken waren. Was macht das schon aus? Sie sind von der gleichen Art, denn Sie gingen ja zu einer Party, an der kein anständiger Mensch teilnehmen würde. Eine Party von Homosexuellen!" „Wie konnte ich das wissen?" verteidigte sich Helena. „Ich hatte keine Ahnung, was für ein Mann Signor Santi ist." „Sie sind eine Lügnerin, Signora." Ranelli zuckte gleichgültig die Achseln. „Ich sage Ihnen die Wahrheit." Helena wurde wütend. „Woher hätte ich Santi kennen sollen? Aber was Ihre Verlobte betrifft, sie war doch auch auf der Party und musste Santi doch besser kennen als ich. Gehört sie denn nicht zu den anständigen ..." Ranelli packte sie so fest am Handgelenk, dass Helena einen Schrei unterdrücken musste. Seine Augen blitzten. „Wagen Sie nicht, so etwas zu sägen." Seine Stimme war leise, tückisch. „Sie sind nicht einmal würdig, ihren Namen auszusprechen. Lucilla ist ein unschuldiges Kind." „Dann ist es umso bedauerlicher, dass Sie nicht besser auf sie aufgepasst haben", fuhr Helena ihn an. Mittlerweile hatte er ihre Hand losgelassen, aber sie schmerzte noch stark. „Ich habe ihr verboten, auch nur in die Nähe von Santis Haus zu gehen. An jenem Abend hatte ich eine Verpflichtung, war mir aber sicher, dass Lucilla meinen Wunsch, sie möge zu Hause bleiben, respektieren "würde. Nun, es kam anders, und sie ging mit einem Mann, der sie dann sitzen ließ, zu der Party. Den Namen ihres Begleiters erfuhr ich später. Mit ihm habe ich abgerechnet. Nun bleibt mir nur noch, mit Ihnen Signora, abzurechnen." „Ich habe Ihnen nun lange genug zugehört, Signor Ranelli", sagte Helena ärgerlich. „Ich glaube nicht, ein Unrecht begangen zu haben, und wenn wirklich, wird das Gericht es feststellen und nicht Sie. Ihre lächerlichen Drohungen beeindrucken mich nicht. Es tut mir Leid, aber Sie verschwenden hier nur Ihre Zeit." Helenas Herz klopfte zum Zerspringen, während sie sprach. Es stimmte nicht, dass sie keine Angst hatte, doch ihr Stolz verbot ihr, sie zu zeigen. Sie rief den Kellner und bezahlte den Kaffee. Ranelli saß ruhig da und fixierte sie mit einem zufriedenen Lächeln, das sie noch mehr beunruhigte, als seine Drohungen es getan hatten. Schließlich stand sie auf und schob sich an ihm vorbei. Jeden Moment rechnete sie damit, dass er sie zurückhalten würde. Nichts geschah. Nachdem Helena schon ein paar Meter auf der Straße gegangen war, hörte sie Ranellis Schritte hinter sich. „Sie haben Angst vor mir, Signora", sagte Ranelli mit seiner Furcht einflößenden, heiseren Stimme, „und Sie haben allen Grund dazu. Ich habe lange auf diesen Augenblick gewartet. Ein gut vorbereiteter Racheakt ist der beste, nicht wahr? Er ist raffiniert und ausgeklügelt. Und das ist es doch schließlich, was einem daran Vergnügen bereitet, wie Sie bald selbst herausfinden werden, Signora." Wenn er nicht bald zu reden aufhört, werde ich schreien, nahm sich Helena vor und beschleunigte ihre Schritte. Er tat es ihr nach, wobei er unbeabsichtigt gegen sie stieß und sie ins Stolpern kam. Er griff nach ihrem Arm, um sie zu stützen. Als sich Helena losriss, ließ er es ohne ein Wort geschehen. „Gehen Sie nur so weiter, die Richtung stimmt", sagte er gleich darauf.
„Die Richtung ... stimmt?" „Ja. Sie haben es mir in der Cafeteria leicht gemacht, als Sie bezahlten und gingen. Es ersparte mir, Sie dazu aufzufordern, mit mir zu kommen ... Nicht diesen Weg ..." Ranelli hinderte sie daran, in eine Seitenstraße einzubiegen. „Gehen Sie nur immer geradeaus weiter. Ich sage Ihnen, wenn wir unser Ziel erreicht haben." Alles war wie in einem Albtraum. Hatte sie geglaubt, Ranelli entfliehen zu können, musste sie nun feststellen, dass sie sich immer mehr in dem Netz verfing, das er ihr gespannt hatte. Endlich entdeckte Helena ein Taxi, wonach sie schon die ganze Zeit vergeblich Ausschau gehalten hatte. Auf ihr Winken stoppte der Fahrer wenige Schritte von ihnen entfernt. Ich bin gerettet, war Helenas einziger Gedanke. Sie lief auf das Auto zu, aber schon war Ranelli neben ihr. Sicher würde der Taxifahrer ihr helfen. Doch da schlang Ranelli die Arme um sie und hielt Helena, die sich verzweifelt wehrte, wie in einem Schraubstock fest. Ihren Schrei erstickte er, indem er seinen Mund auf den ihren presste. Für die Passanten waren sie ein Liebespaar, das sich nach einem Streit gerade wieder versöhnte. Das Mädchen vielleicht noch etwas unwillig, der Mann keinen Widerstand duldend. Der Taxifahrer grinste und fuhr davon. Endlich gab Ranelli ihren Mund frei. „Niemand wird Ihnen zu Hilfe kommen, Signora." Er lächelte ihr höhnisch ins Gesicht. „Versuchen Sie es einmal!" Helena öffnete den Mund, um zu schreien, aber schon presste Guido seine Lippen auf die ihren. Als er sie endlich freigab, schwindelte ihr, und sie wagte nicht mehr, um Hilfe zu rufen. Er zog sie mit sich die Straße entlang, bis der Strohmarkt in Sicht kam. Jetzt wusste Helena, wohin er sie führte und zu welchem Zweck. Sie wehrte sich verzweifelt, bis auch die Vorübergehenden merkten, dass etwas nic ht stimmte. Einige blickten ihnen verwundert nach, andere riefen ihnen etwas zu, "doch keiner griff ein. Ranelli gab jetzt die Pose des Liebhabers auf und schleppte sie mit eisernem Griff weiter. Sie hatten den Markt erreicht, und Ranelli zog Helena die Stufen zu der weißen Steinplatte hinauf. Dann zwang er sie brutal auf die Knie, packte sie mit einer Hand an den Haaren und zog mit der anderen ein Messer aus der Tasche, das er drohend gegen die sich nähernde Menschenmenge hielt. Zögernd .wichen die Leute zurück. „Der Erste, der sich nähert, bekommt dieses Messer zwischen die Rippen", drohte er. „Was ich zu sagen habe, werde ich sagen, und niemand wird mich daran hindern. Ich habe diese Frau an den Pranger geführt, weil das Gericht sie für das, was sie getan hat, nicht bestrafen will. Deshalb werde ich Selbstjustiz an ihr üben." Er riss an Helenas Haaren, so dass ihr Kopf noch weiter nach hinten fiel. Tränen liefen über ihre Wangen und den neugierigen Blicken der Menge hilflos preisgegeben, musste sie diese Schande über sich ergehen lassen. „Schaut sie euch an", rief Ranelli. „Sie ist die Frau, die meine Lucilla auf dem Gewissen hat und glaubt, straffrei auszugehen, weil meine Braut im Koma liegt und ...", seine Worte wurden ein heiseres Flüstern, „falls sie überhaupt je wieder zu sich kommt, sich an nichts mehr wird erinnern können." Er senkte den Kopf. Dabei fiel sein Blick auf das zurückgeneigte Haupt, auf die Linien des alabasterfarbenen Halses. Fast liebkosend strich er mit dem Messer darüber. Dann riss er es in die Höhe und schrie: „Leute von Florenz! Hört mir zu! Sie ist schuldig und muss büßen für das, was sie mir angetan hat. Ich werde sie ..."
Seine nächsten Worte wurden in einem Würgegriff erstickt. Helena spürte noch ein kurzes, heftiges Ziehen an den Haaren, dann fiel sie ruckartig zur Seite. Sie wollte aufstehen, doch ihre Füße gehorchten ihr nicht. Als sie um sich blickte, sah sie zwei miteinander ringende Männer. Einer davon schien Valerio zu sein. Plötzlich war alles vorbei. Ranelli lag am Boden, über ihm stand Valerio im zerrissenen Hemd. Er schaute in die Runde. „Ihr wollt Männer sein? Keiner von euch hatte den Mut, diese Frau aus den Händen eines Irren zu retten ... ihr Feiglinge!" Für einen Italiener gibt es kein ärgeres Schimpfwort. Dennoch erhob sich keine Stimme gegen ihn. Die Art, wie er Ranelli überwältigt hatte, hatte sie verstummen lassen. Keiner hätte sich an ihn herangewagt. Ohne Ranelli eines Blickes zu würdigen, führte er Helena aus der Menge. Tränenüberströmt, mit zitternden Knien, aber hoch erhobenen Hauptes ging sie neben Valerio her. „Mein Wagen steht dort drüben", sagte Valerio kurz angebunden, als sie den Markt hinter sich hatten. Während der Fahrt wollte Helena Fragen stellen, aber ein Seitenblick auf sein grimmiges Gesicht nahm ihr den Mut. Sie hatte keinen Gedanken daran verschwendet, wohin Valerio sie wohl bringen würde. Erst jetzt, als er anhielt, wurde ihr bewusst, dass sie vor dem Haus standen, in dem er seine Wohnung hatte. Er half ihr beim Aussteigen, dann gingen sie die enge Treppe hinauf und standen schließlich vor der Tür. Zögernd betrat sie die Wohnung. Jetzt, nicht mehr den Blicken aller ausgesetzt; verließ sie die Kraft. Sie versuchte, ihr Zittern zu verbergen, und zwang sich zu einer aufrechten Haltung. Dennoch musste sie Valerios Strafrede, die sie wahrlich verdient hatte, über sich ergehen lassen. „Ich hatte mir geschworen, dich nie wieder in diese Wohnung zu lassen", sagte er mit unsicherer Stimme. „Doch das ist lange her. Als ich dich auf dem Pranger knien sah, hätte ich Ranelli am liebsten getötet. Helena, wenn ich zu spät gekommen wäre!" Er riss sie in die Arme, presste sie an sich, und es schien, als ob der Schmerz von zehn bitteren Jahren in dieser einzigen verzweifelten Umarmung von ihnen weichen musste. „Er hätte dich getötet", sagte Valerio leidenschaftlich. Helena strich über seine Wange. „Er hat dich verletzt." „So? Ich habe es nicht bemerkt. Ist ja auch gleichgültig." Seine Worte gingen in einem Gemurmel unter, als er nun ihr Gesicht mit sanften Küssen bedeckte. Helena schmiegte sich an ihn. Zu mehr hatte sie nicht die Kraft. Valerio sah, wie erschöpft sie war, trug sie ins Schlafzimmer und legte sie behutsam auf das Bett. Er nahm ihre Hände in die seinen. „Warum", sagte er dann, „warum, um Himmels willen, hast du diese Dummheit begangen, obwohl ich dich gewarnt hatte?" „Ich hielt deine Vorsicht für übertrieben. Außerdem habe ich Ranelli die ganze Zeit über nicht gesehen." „Er wartete auf seinen Tag." „Ja, das sagte er mir." Helene schauderte. „Wir sind ein grausames Volk", sagte Valerio. „Nach außen von sonnigem Gemüt, sind wir im Herzen jedoch leidenschaftlich und rachsüchtig. Es war dein Glück, dass auch ich diese Eigenschaften besitze." „Wie bist du dorthin gekommen? Ich glaubte dich noch in Urlaub." „Ich war für ein paar Tage weggefahren, aber es war weniger ein Urlaub als eine Flucht: Du weißt, warum. Du bedeutest eine Gefahr für mich, deshalb brauchte ich den räumlichen Abstand zwischen uns. Er nützte nichts. Gestern
überkam mich plötzlich die unerklärliche Angst, irgendetwas könnte während meiner Abwesenheit mit dir passieren. Mit einer bösen Vorahnung kehrte ich zurück. Ich wollte dich heute Vormittag besuchen und war gerade im Begriff, in der Villa anzurufen, als das Telefon läutete. Es war dein Glück, dass Torrini ein gewissenhafter Polizist ist. Er hatte mein Büro benachrichtigt, dass du allein in der Stadt unterwegs seist. Da meine Sekretärin von meiner Ankunft wusste, gab sie mir die Nachricht hierher weiter. Ich stürzte sofort aus dem Haus und fuhr die ganze Stadt nach dir ab. Dass ich dich schließlich fand, lag nur an der Menschenmenge, die sich um euch gebildet hatte." „Torrini verständigte dich?" fragte Helena verwundert. „Ich hielt ihn für Ranellis Freund." „Das ist er auch. Deshalb sah er ja auch die Gefahr für dich. Als guter Polizist wollte er keine Scherereien. Außerdem tat er es wahrscheinlich auch, um diesem Halbirren die Folgen einer unüberlegten Tat zu ersparen." „Ja, Ranelli ist wirklich verrückt." Helena schauderte wieder. „In der Cafeteria konnte ich nicht ahnen, was er vorhatte. Ich wurde immer ängstlicher, und dann ..." „Erzähl mir alles", sagte Valerio beruhigend. „Als wir auf die Straße traten und ich versuchte, ein Taxi zu erreichen, packte er mich und hinderte mich am Schreien, indem er seinen Mund auf den meinen presste. Niemand half mir ..." Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Ich sehe Ranelli immer vor mir." Sie schluchzte. „Nie werde ich mich von dieser Vorstellung befreien können!" „Still, mein Liebling", tröstete er sie. „Du wirst alles vergessen. Hab Vertrauen zu mir." Valerio strich Helena über das tränennasse Gesicht. Dann küsste er sie, zärtlich und sanft. Sein Kuss war wie der stumme Befehl, alles Böse zu vergessen. Allmählich verblasste die Gestalt Ranellis. Helena öffnete leicht den Mund als Valerios Küsse drängender wurden. Sie war glücklich, dass Valerio ihr verziehen hatte. Dieses Glücksgefühl wich bald einem anderen, und leidenschaftliche Wünsche wurden in ihr geweckt. Als seine Zunge an der Innenseite ihrer Lippen entlang strich, immer und immer wieder, stöhnte sie leise auf ... Plötzlich hielt Valerio inne. Helenas erster Gedanke war, dass er sie nur geküsst hatte, um sie das schreckliche Ereignis vergessen zu lassen. Jetzt würde er sie wegschicken. Sie öffnete die Augen und sah in sein Gesicht. Sein Atem ging stoßweise, Verlangen sprach aus seinem Blick. „Verlass mich nie wieder", sagte er heiser. „Ich habe nie aufgehört, an dich zu denken. Sogar in der Zeit, als du verheiratet warst. Nun bist du end lich bei mir." Helena sah ihn an. „Mir kommt alles vor wie in einem wunderbaren Traum", sagte sie. „In all meinen Träumen bin ich bei dir gewesen." „Und doch waren es keine Träume, Helena. Denn wir waren von Anfang an, füreinander bestimmt, und der Tag musste kommen, an dem wir uns wieder finden würden." Helena schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn zu sich herab. „Ich liebe dich, ich liebe dich so sehr", flüsterte sie atemlos. Valerio konnte sich nicht länger beherrschen. Er ließ die Hände über den weichen Stoff ihres Kleides gleiten, über den feinen Batist ihrer Unterwäsche, über ihren flachen Bauch. Fiebernde Hände waren es, Hände, die auf ihrer kühlen Haut eine brennende Spur zu hinterlassen schienen. Dann liebten sie sich stürmisch und leidenschaft lich, so als müssten sie die Entbehrungen der zehn
langen einsamen Jahre in wenigen kostbaren Minuten der Erfüllung nachholen. Es war der kürzeste Liebesakt, den sie jemals erlebt hatten. Erschöpft, außer Atem, lagen sie nebeneinander. Valerio war der Erste, der sprach. „Es war nicht meine Absicht, so über dich herzufallen. Habe ich dir wehgetan?" Helena, noch unfähig zu sprechen, schüttelte den Kopf. „Ich konnte nicht anders, obwohl ich mir tausend Eide geschworen hatte, dass dies nie mehr geschehen würde. Stark wollte ich sein, und doch muss ich dir gestehen, dass du keinen Augenblick sicher warst, sobald wir allein waren." „Ich wünsche mir nicht, sicher vor dir zu sein", flüsterte sie. Statt zu antworten, beugte er sich über Helena und küsste den Ansatz ihrer Brust. Dann betrachtete er ihren Körper. „Du hast dich verändert. Deine Figur ist fraulicher geworden." Langsam ließ er seine Hand über ihren flachen Bauch und über ihre Hüfte gleiten, bevor er ihre Oberschenkel streichelte. „Wie oft zog ich dich in Gedanken aus, wenn wir uns in der Villa gegenübersaßen. Meistens gesellte sich zu meinem Verlangen der Zorn darüber, dass dich auch andere Männer nackt gesehen haben." „Valerie, bitte hör mir jetzt zu", sagte Helena, während sie sein Gesicht in beide Hände nahm. „Nach meiner gescheiterten Ehe hatte ich keine Beziehung mehr bis heute. Keine, verstehst du? Glaub mir das endlich." Valerio drehte den Kopf zur Seite, so dass seine Lippen ihre Handfläche berührten. „Jetzt glaube ich dir auch. Seit vorhin weiß ich, dass ich keine Erinnerung an einen anderen Mann verdrängen musste." „Und die an meinen geschiedenen Mann?" fragte sie fast ängstlich. Valerio schaute sie finster an. „An ihn will ich lieber nicht denken. Mir ist beinahe, als wärst du meine Frau und hättest ..." Er unterbrach sich. „Ich bin unfair. Schließlich warst du mit ihm verheiratet und nicht mit mir." „Auch ihn gibt es nicht mehr, Valerio, fühlst du es nicht? Bitte, sieh mich nicht so anklagend an." „Ich habe dir etwas zu gestehen", sagte Valerio unvermittelt. „Ich hatte Angst, du würdest dich im letzten Augenblick anders besinnen. Dies war mit ein Grund, warum ich so ungestüm war. Ich wollte dir keine Chance lassen." Obgleich er bei den letzten Worten lächelte, spürte Helena, dass sie ernst gemeint waren. Ihre damalige Flucht, und wahrscheinlich auch die öffentliche Blamage setzten ihm immer noch zu. Sie wusste nun, was sie zu tun hatte. Es spielte keine Rolle mehr, wer mehr Schuld daran trug, dass sie damals fortgelaufen war. Nur eines war wichtig: Sie liebte diesen Mann, und sie allein vermochte seine Wunden zu heilen. Zärtlich fuhr sie mit den Fingerspitzen über sein Gesicht, den Hals hinunter bis zu seiner Brust. Sie spürte, wie ihre Liebkosungen ihn erregten, merkte wie sein Atem wieder unregelmäßig wurde und seine Augen einen verlangenden Ausdruck bekamen. Helena wölbte ihre Hände etwas, so dass die Fingernägel leicht seine Haut streiften, immer wieder, bis er es kaum mehr ertragen konnte. Unerwartet packte er sie bei den Schultern. „Hör auf damit, Helena, wenn dir nicht wirklich danach zu Mute ist." Seine Stimme klang heiser. „Ich will es, ebenso wie du, mein Liebling. Seit unserer Trennung habe ich mich nach dir gesehnt, und kein anderer Mann vermochte dich aus meinem Herzen zu verdrängen." Einen Moment hielt sie in ihren Zärtlichkeiten inne. „Wäre ich doch damals zurückgekommen. Irgendwann hättest du mir verziehen." „Sicher. Nur bestand die Gefahr, dass ich dich getötet hätte, bevor ich fähig gewesen wäre, dir zu verzeihen. Mein Hass war gena uso stark wie meine Liebe ..."
Ihr Kuss brachte ihn zum Schweigen. Valerio drehte sich blitzschnell um und drückte sie auf das Bett. Im selben Moment sprang der Funke der Begierde von einem zum anderen über, ließ sie erzittern, und die Wogen der Leidenscha ft schlugen erneut über ihnen zusammen ... „Mir War, als hätte ich noch nie so tief empfunden", hörte sich Helena sagen, nachdem sie wieder zur Besinnung gekommen waren. „Mir erging es ebenso." Seine Stimme klang verhalten. Er lag nun dicht neben ihr, die Augen geschlossen, den Arm um sie geschlungen. Nach einer Weile schlief Helena in dem Gedanken ein, dass sie ewig glücklich sein würden ...
10. KAPITEL
Dunkelheit umgab Helena. Rings umher war Lärm, und sie fürchtete sich. Ganz in ihrer Nähe hörte sie eine flehende Stimme. Brian war da. Er lachte übertrieben laut. Gleichzeitig schien er auch ärgerlich zu sein. „Mach nicht so viel Aufhebens davon", rief er. Helena erwachte und fand Valerio neben sich sitzen, sie sanft schüttelnd. „Du hattest einen Albtraum" erklärte er. „Mehrere Male wiederholtest du: ,Wie soll ich kein Aufhebens machen'." Du klangst verzweifelt. Mit wem sprachst du?" „Mit Brian", erwiderte sie. „Es ist mir beinahe alles wieder eingefallen. Ich weiß jetzt, was geschah." Valerie schaute sie einen Moment sprachlos an. Schließlich hatte er sich wieder gefasst. „Schnell", drängte er. „Erzähl mir alles, was du weißt, bevor du es wieder vergisst." „Du hattest Recht", begann Helena nach kurzem Nachdenken. „Ich trank fast nichts. Brian war es, der betrunken zum Auto wankte. Vergeblich versuchte ich, ihn zum Bleiben zu überreden. Meinen Vorschlag, bei Santi zu übernachten, beachtete er nicht. Er habe vorher Lucilla versprochen, sie mitzunehmen, und da wir unter den letzten Gästen waren, noch dazu die einzigen, die in die Stadt zurückfuhren, bleibe ihm keine Wahl, meinte er. ,Mach nicht so viel Aufhebens davon', sagte Brian, als ich ihn weiterhin vom Fahren abhalten wollte. Im Übrigen erklärte er, könne ich mich ja ans Steuer setzen, wenn ich so nüchtern zu sein glaube. Zuerst wies ich ihn darauf hin, dass ich meinen Führerschein nicht bei mir hätte. Als ich ihn schwanken sah, entschloss ich mich jedoch zu fahren. Mittlerweile hatte sich Brian allerdings hinter das Steuer gesetzt. Neben ihm saß schon Lucilla. Also musste ich auf dem Rücksitz Platz nehmen. „Die Fahrt den Hügel hinunter war entsetzlich. Brian hatte keinerlei Kontrolle über das Auto, es schlingerte hin und her. Unten angekommen, schoss er über die letzte scharfe Kurve hinaus und landete in einer Wiese. Zum Glück wurde niemand verletzt. „Nun wandte ich meine gesamten Überredungskünste auf, um Brian vom Steuer wegzulocken. Es dauerte eine Weile, bis ich ihn auf den Rücksitz verfrachtet hatte, dann fuhr ich los." „Und der Unfall?" drängte Valerio. „Wie kam es dazu?" Helena strengte ihr Gedächtnis an, doch je näher sie dem Augenblick des Zusammenstoßes kam, desto mehr schwand die Erinnerung. „Es hat keinen Sinn", sagte sie verzweifelt. „Mir ist immer noch nicht klar, wie ich die Kontrolle über das Fahrzeug verlieren und auf den Lastwagen prallen konnte. Durch irgendetwas muss ich in Verwirrung geraten sein." „Mach dir deswegen keine Sorgen", tröstete Valerio sie. „Auch der Rest wird dir wieder einfallen." Helena sah den nachdenklichen Ausdruck in seinem Gesicht. „Bis hierher hilft mir mein Erinnerungsvermögen im Grund nicht viel, nicht wahr? Sie werden mir bei Gericht nicht glauben." „Es wäre natürlich besser, wenn wir einen unparteiischen Zeugen hätten ... Hat irgendjemand deine Auseina ndersetzung mit Brian gehört?" „Nein. Da wir verspätet zur Party kamen, mussten wir in einer kleinen Seitenstraße, in der nur ein oder zwei Autos standen, parken, und zum Zeitpunkt unserer Abfahrt war die Straße wie ausgestorben." „Und Santi? Hat er euch nicht hinausbegleitet?" „Er hatte selbst zu viel getrunken gehabt. Bei unserem Aufbruch lag er auf
einem Sofa, und schlief seinen Rausch aus." „Also kein Zeuge, als ihr in den Wagen gestiegen seid. Leider hört deine Erinnerung genau da auf, wo das Wesentliche anfängt: nämlich, dass du am Steuer gesessen und somit den Unfall verursacht hast." „Das heißt, dass ich wegen fahrlässiger Tötung ins Gefängnis komme, falls Lucilla stirbt." Sofort nahm Valeria Helena in die Arme und hielt sie fest an sich gepresst. „Nein!" stieß er heftig hervor. „Eher reiße ich persönlich die Gefängnismauern ein. Vertraue mir, Liebling. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht. Habe ich dich bis jetzt enttäuscht?" „Nein, Valerio. Ich weiß, du wirst alles in deiner Macht Stehende tun." Sie wunderte sich, dass sie trotz fast auswegloser Lage so ruhig war. Es gelang ihr, den Gedanken an die drohende Gefängnisstrafe zu verdrängen. Im Augenblick zählte für sie nur, dass Valerio sie liebte. In seinen Armen vergaß sie die Probleme, die auf sie zukamen. Valerio und Helena schwiegen eine Weile. Schließlich ergriff sie wieder das Wort. „Wie eigenartig, dass man von allen florentinischen Anwälten ausgerechnet dich zu mir schickte", bemerkte sie. „Ich fange an, an eine Vorbestimmung zu glauben." Da ihr Kopf an seiner Schulter ruhte, sah sie nicht, dass ein Schatten über seine Züge glitt. „Ich hatte schon sehr früh den Glauben an das einem vorbestimmte Schicksal", entgegnete er, und daraufhin ohne Übergang, in völlig verändertem Ton: „Nun werde ich etwas tun, was dir sicher grausam erscheint. Ich werde dich in die Villa zurückbringen, und wir werden uns von jetzt ab so wenig wie möglich sehen." Sie schaute ihn entgeistert an. „Helena, mein Liebling", sagte er sanft, während er ihre Hände in die seinen nahm. „Weißt du, was ich heute Schändliches getan habe? Du bist eine mir anvertraute Person, und wenn das, was kurz zuvor geschah, herauskommt, kann ich mein Anwaltspatent verlieren." „Das also ist deine Sorge?" fragte sie ungehalten. „Befürchtest du wirklich, dass ich es ausplaudere? Vertraust du mir so wenig?" „Natürlich vertraue ich dir, sonst hätte ich dich nicht in meinem Haus aufgenommen. Versteh mich doch. In den Augen der anderen bin ich es, der deine Lage ausnutzen könnte. Du bist doch praktisch in meiner Gewalt, meine Gefangene sozusagen. Warum glaubst du wohl, betonte der Richter, dass er nur deshalb dieser Lösung zustimme, weil er mich für einen Ehrenmann hält. Und warum wohl fragte er mich zwei Mal, ob ich wirklich nicht in der Villa wohne? Damit du ja keinen Annäherungsversuchen meinerseits ausgesetzt bist, die du in deiner Situation schlecht zurückweisen könntest." „Ich weiß", erwiderte Helena ungeduldig. „Die Vermutungen der anderen sind für mich ohne Belang. Tatsache ist, du zwingst mich nicht, dir zu Willen zu. sein. Im Gegenteil. Wir lieben uns und verlangen nach einander. Außerdem musst du gemerkt haben, wie glücklich ich war ..." Sein unerbittlicher Gesichtsausdruck sagte ihr, dass es zwecklos war, Valerio überzeugen zu wollen. „Liebling", bat er, „versuch zu verstehen. Erst wenn du dich mir freiwillig hingibst, darf ich es als Geschenk deiner Liebe annehmen. Und dazu wirst du nicht eher in der Lage sein, bis alles vorbei ist." „Es war doch ..." „Nein", unterbrach er sie streng. „Wie kannst du einem Mann, der über dein Schicksal beschließen wird, etwas ohne Zwang geben? Solltest du eines Tages die Kraft haben, mich fortzuschicken, werde ich sicher sein, dass du frei entschieden hast. Ich bezweifle allerdings, dass eine so verletzbare Frau wie du je völlig
unabhängig handeln wird." „Du mit deinen! verdammten Ehrgefühl!" rief sie wütend. Er lächelte spöttisch. „Du hast von meinem Ehrgefühl bisher wenig gemerkt. Davon verspüre ich nämlich nichts, sobald es um dich geht, Genau wie damals, als ich dich mit deinen siebzehn Jahren hierher schleppte und dich später sogar in eine Ehe zwingen wollte. Und heute? Erscheine ich dir nicht als Retter, dem man alles, wirklich alles gewähren muss? Meine einzige Entschuldigung für damals und heute ist nur die Liebe zu dir. Aber Ehre?" Aus dem letzten Wort klang Selbstverachtung. Helena schwieg. „Und was ist mit mir? Hast du nie an die Möglichkeit gedacht, dass ich dich lieben könnte? Was sagt dazu dein Gewissen?" fragte sie schließlich traurig. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Helena", sagte er zärtlich, „wie willst du wissen, ob du mich wirklich liebst? Damals wusstest du es nicht, weil du trunken warst vor Leidenschaft. Heute weißt du es nicht, weil die Angst deinen Blick trübt." „Ich liebe dich. Warum glaubst du mir nicht? Es ist doch so einfach", erklärte sie mit fester Stimme. „Nicht für mich", .erwiderte er. „Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Lass uns heute keine Entscheidungen treffen." „Du hast eben eine getroffen", erinnerte sie ihn hartnäckig. „Du schickst mich fort." „Zu deinem eigenen Besten. Und dabei bleibe ich." Valerio sagte dies in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Kurz darauf ging er aus dem Zimmer. Helena wusste, dass ein Versuch, ihn umzustimmen, völlig sinnlos wäre. Also zog sie sich langsam an und gesellte sich anschließend zu ihm in die Küche. „Da ich erst gestern Abend zurückkam, habe ich nichts zu essen da, meinte er. „Wir werden deshalb in ein Restaurant gehen." „Ist das ratsam nach dem, was du mir zuvor erklärt ha st?" fragte sie. „Es ist nichts dabei, wenn ich mit einer Mandantin ein öffentliches Lokal besuche. Nur diese Wohnung will ich als Treffpunkt vermeiden." Er küsste sie hastig. „Du brauchst mich nicht darauf hinzuweisen, dass ich derjenige war, der dich hierher brachte. Obwohl es ein Fehler war, bereue ich es nicht. Was immer die Zukunft bringen mag, wir haben uns endlich wieder gefunden." Sie schmiegte sich an ihn. Einen Augenblick hielt er sie fest an sich gedrückt, dann schob er sie sanft weg. Helena spür te, welche Mühe es ihn kostete, von ihr zu lassen und sie freizugeben. Valerio und Helena traten auf die Straße. Es war schon dunkel geworden. Valerio führte sie über den Ponte Vecchio, danach gingen sie die Straße der Goldschmiede entlang, wo er damals die Verlobungs- und Eheringe gekauft hatte. Ob er sie wohl zurückgegeben hatte? überlegte Helena. Wenig später aßen sie in einem kleinen, nur von Kerzenlicht erhellten Restaurant. Von ihrem Fenstertisch hatten sie einen wundervollen Ausblick auf die von Scheinwerfern angestrahlte Brücke. Trotz ihrer Enttäuschung über Valerios Entscheidung klang noch etwas von den erfüllten Stunden des Tages in Helena nach und ließ die raue Wirklichkeit in den Hintergrund treten. Nach der Vorspeise fragte Helena ihn, ob er sic h je als Kunsthändler betätigt habe. „Ja, sogar mit einigem Erfolg", antwortete er. „Im kleinen Rahmen natürlich. Du weißt ja, dass ich nicht viel Zeit habe. Es macht mir großen Spaß." „Hast du damals dein Studium abgeschlossen?" „Zuerst ging ich nicht mehr zur Akademie, weil ich vermeiden wollte, dich dort zu treffen. Nachdem ich jedoch erfahren hatte, dass du nicht mehr nach Florenz
zurückkehren würdest, nahm ich meine Studien wieder auf und brachte sie auch zu Ende." „Ich habe in Paris fertig studiert." „Ich Weiß." „Du weißt? Woher?" „Vor fünf Jahren stelltest du in der Galerie für junge Künstler in London ein paar Bilder aus. Ich las es in einer internationalen Kunstzeitschrift, die ich abonniert habe. Es stand eine kurze Biografie über dich darin. Du siehst, ich weiß einiges über dich, auch, dass du dein geplantes Vagabundenleben mit Staffelei, Pinsel und Palette wirklich aufnahmst." Helena verzog das Gesicht. „Es war ein Fehler. Bis heute weiß ich nicht, warum es nicht lief." „Du warst zu jung und unerfahren. Mit dreißig hättest du eher etwas daraus machen können." Mit dreißig, dachte sie, hätte ich ihm schon ein paar Kinder schenken können und wäre doch als Künstlerin noch unerfahren gewesen ... „Außerdem suchtest du dir die falschen Themen aus", fuhr Valerie fort. „Ein Bild war in der Zeitschrift abgebildet, die anderen kurz besprochen. Dabei sind doch Porträts deine Stärke. Schon damals war jedes Einzelne ausdrucksstark, wirkte lebendig." Er zögerte einen Augenblick, bevor er weitersprach. „Deine Einstellung zum Leben war mit ein Grund, weshalb ich mich in dich verliebte. Dein Lachen war fröhlich, du kanntest keine Bosheit. Ich liebte deine Freude, deine positive Einstellung zu allen Dingen. Immer, wenn ich bei dir war, schien ich aus der Kälte heimzukommen in die Wärme. Als du weggingst, war mein Leben fortan öd und trist." In seinen Worten schwang etwas mit, was neu für sie war. Zum ersten Mal sprach er ohne Bitterkeit von Vergangenem. „Ich wollte dich nie verlassen", sagte Helena. „Ich hatte nur vor der Ehe Angst." „Und du versuchtest, es mir zu erklären. Ich jedoch wollte es nicht hören. Seit langem weiß ich, was für ein Narr ich war. Weil du mich zurückgestoßen hattest, hasste ich dich lange Zeit. Doch allmählich wurde ich ruhiger, und was blieb, war ein einsames Leben ohne dich." Valerio fuhr nach einer kurzen Pause fort. „Es wurde immer schlimmer. Es kam so weit, dass ich sogar bereute, deinen Brief unbeantwortet zurückgeschickt zu haben." Er lächelte schwach. „Und einmal war ich drauf und dran, meine Großmutter nach dem Inhalt des Briefes zu fragen." „Du wusstest ..." „Natürlich wusste ich, dass sie ihn geöffnet hatte, und daher befürchtete ich, dass sie versuchen würde ,für mein Bestes' etwas zu tun." „Jetzt weiß ich auch, was du damals damit meintest", wandte Helena ein. „Adele wollte mir meine Fehler klar machen. Ich musste sie jedoch selbst herausfinden. Es dauerte lange, doch schließlich gelang es mir ..." Warum spricht Valerio von seiner Liebe eigentlich immer wie von etwas Vergangenem, dachte Helena. Merkte er es selbst nicht? Warum sagte er ihr nicht, was er jetzt empfand? Sicher hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass sie ihm etwas bedeutete. Doch es gab keinen Ersatz für die drei wichtigsten Worte, die sie hören wollte und die sie selbst so offen ausgesprochen hatte. „Du hast also deine Großmutter wegen meines Briefes angesprochen", erkundigte sich Helena. „Nein, zuerst konnte ich mich nicht überwinden, und dann war es zu spät. Dafür reifte nach fünf Jahren ein anderer Entschluss in mir. Ich hatte vor, dich ausfindig zu machen, und anschließend wollte ich eine zufällige Begegnung arrangieren ...
du findest das sicher lächerlich." „Wie sollte ich das lächerlich finden! Ach Valerio, warum hast du es nicht getan?" „Du wärst mit mir gegangen?" fragte Valerio, wobei er sie durchdringend ansah. „Natürlich." „Obwohl es der Vorabend deiner Hochzeit mit einem anderen gewesen wäre?" „Wie bitte?" „Ich sagte eben, dass dies fünf Jahre her sei. Aus jener Kunstzeitschrift, in der ich deine Biografie gelesen hatte, erfuhr ich unter anderem auch, dass du verlobt warst. Verstehst du nicht, dass ich daraufhin meinen Plan aufgeben musste?" Helena hatte Valerio aufmerksam zugehört. Als er sie bei seinen letzten Worten jedoch an Gary erinnerte, fühlte sie leichte Enttäuschung in sich aufsteigen. „Eigenartig, ich habe Gary völlig vergessen." Sie zögerte und schüttelte dann den Kopf. „Du hattest mir vor fünf Jahren verziehen, warum warst du dann während der letzten Wochen oft so verbittert mir gegenüber?" „Ich hatte dir verziehen, bevor ich von deiner Verlobung wusste. Kannst du dir nicht vorstellen, was für ein Schock es für mich war, gerade in dem Augenblick davon zu erfahren, wo ich bereit war, mit dir einen neuen Anfang zu wagen ... Während ich mich nach dir sehnte, hast du eine Beziehung zu einem anderen Mann gehabt. Von diesem Moment an wandelte sich meine Liebe in Hass, und es war mir, als hättest du mich ein zweites Mal zurückgewiesen. In meinen Träumen lachtest du über mich und meine Treue. Zum ersten Mal in me inem Leben betrank ich mich an jenem Tag. Signor Corelli, der Richter, kam zufällig in das Lokal und verhinderte eine Katastrophe ..." „O mein Gott! Hat es deiner Karriere geschadet?" Valerio lächelte. „Du würdest das nicht fragen, wenn du von Corellis eigenen Jugendtorheiten wüsstest. Er trat zu mir an den Tisch und sagte: Er freue sich, dass ich endlich auch einmal zu den gewöhnlichen Sterblichen herabgestiegen sei." Bei dem Gedanken, weshalb die Begegnung mit Valerio vor fünf Jahren gescheitert war, wurde Helena traurig. „Es ist schrecklich, wenn die Einsicht zu spät kommt", bemerkte sie. „Hätte ich wenigstens von dem Atelier gewusst ..." „Findest du es nützlich?" „Wunderbar." Helena fing nun an, von ihren Malversuchen zu reden. Während sie begeistert über ihre Fortschritte sprach, glänzten ihre Augen. Valerio hörte lächelnd zu. „Du kannst dir nicht vorstellen, was das für mich bedeutet. Mir ist, als ..." Verlegen hielt sie inne. „Erzähl weiter", drängte er sie. „Ich wollte sagen, mir ist, als könnte ich mich beim Malen voll ausleben." Valerio lachte gezwungen. „Nun, die Malerei war für dich damals schon mehr als ein Zeitvertreib, sie war für dich eine Aufgabe, die dich ganz erfüllte. Sie gab dir mehr, als ich dir zu geben vermochte. Welche Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet ich es sein soll, der dich in deinen künstlerischen Bemühungen unterstützt. Jedenfalls War das Atelier nicht umsonst eingerichtet worden." „Deine Mutter sagte mir, dass du mich nach unserer Hochzeitsreise damit überraschen wolltest. Hätte ich davon gewusst ... Ich war stets davon überzeugt, dass du meine Liebe zur Malerei nicht verstehen konntest." „Ich kam erst drei Wochen vor unserer geplanten Hochzeit auf die Idee. Obwohl die Zeit knapp war, ließ ich es mir nicht nehmen, das Atelier bis auf den letzten
Bleistift einzurichten. Während meiner Einkäufe entschloss ich mich plötzlich, dich damit nach der Hochzeitsreise zu überraschen." Valerio vermied es, Helena anzuschauen. „Wäre damals alles anders gekommen, wenn du von dem Atelier gewusst hättest?" „Ich weiß es nicht", erwiderte sie nach kurzem Zögern. „Ich dachte die letzte Zeit häufig darüber nach, doch letztlich glaube ich, dass die Antwort Nein ist. Damals hätte ich mich in dem Studio nicht frei fühlen können, eher isoliert. Zuerst musste ich hinaus in die Welt und meine eigenen Erfahrungen machen, bevor ich das Atelier als das schätzen konnte, was es mir heute bedeutet." „Genau das war die Antwort, die ich erwartet habe." Valerio schaute auf seine Uhr und winkte den Kellner herbei. Helena geriet in Panik. In wenigen Minuten würde dieser wunderbare Abend zu Ende sein und die von Valerio angedrohte distanzierte Beziehung wieder aufgenommen werden. Wie lange? Und zu welchem Ende würde sie schließlich führen? „Ich möchte nicht in die Villa zurückkehren", sagte Helena, als sie auf der Straße waren. „Wie soll ich es ertragen, dich zu verlieren, wo wir uns erst wieder gefunden haben?" „Wir werden einander nicht verlieren, mein Liebling. Niemand kann uns diesen Tag nehmen. Wir müssen nur etwas Abstand voneinander halten, bis alles vorbei ist." „Erlaub mir wenigstens, heute Nacht bei dir zu bleiben", bat sie. Valerio schüttelte den Kopf. „Nein", lehnte er bestimmt ab. „Du weißt, wie schwer mir dieser Verzicht fällt." Am Ponte Vecchio angekommen, fiel Helena jener Abend ein, an dem sie beide über diese alte Brücke gegangen und sich zum ersten Mal ihrer Liebe zueinander bewusst geworden waren. Ein rascher Blick auf Valerio genügte, um ihr zu verraten, dass auch er die gleichen Erinnerungen hatte. Oben auf der Brücke wurden sie aufgehalten. Eine kleinere Menschenmenge scharte sich um einen jungen Mann, der, in einen abgetragenen schwarzen Umhang gehüllt, aus einem anderen Jahrhundert zu stammen schien. Mit theatralischer Stimme trug er Verse vor. Auf Helenas fragenden Blick erklärte ihr Valerio, dass dies ein Schauspieler sei, der aus Dantes „Inferno" rezitierte. Und schon kamen dessen letzte Worte, die fast zu einem Flüstern wurden: „Nessun maggior dolore, che ricordarsi del tempo felice nelle miseria." Die Leute applaudierten begeistert. Auf dem Weg zum Auto rief sich Helena den letzten Vers des Schauspielers ins Gedächtnis zurück. „Es gibt keinen größeren Schmerz als den, sich im Elend an glückliche Zeiten zu erinnern." Sie verstand. Bevor sie einstiegen, strich Valerio ihr sanft über die Wange. Daraufhin öffnete er die Tür zum Beifahrersitz. Jetzt wehrte sich Helena nicht mehr dagegen, dass sie zur Villa fuhren. Valerio hatte die einzig richtige Entscheidung getroffen, und sie war damit einverstanden, die Vernunft sprechen zu lassen. Zwei Tage später betrat Valerio das Polizeirevier. Torrini bedeutete ihm, gleich zum Chef hineinzugehen, der ihn erwartete. Manzini, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, begrüßte ihn kühl. „Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich sofort empfangen" haben", sagte Valerio förmlich. „Ich wollte Sie sowieso sprechen. Gestern rief ich in Ihrem Büro an, aber niemand wusste, wo Sie waren." „Ich hatte eine Zeugenbefragung." Valerio setzte sich und entnahm seiner Aktentasche ein paar Schriftstücke. „Mrs. Catesbys Gedächtnis ist teilweise wiederhergestellt. Sie konnte mir vorgestern sagen, wann sie den Wagen fuhr.
Wie ich vermutete, war es Mr. Hanley, der zu viel getrunken hatte. Anfangs übernahm er das Steuer, da Mrs. Catesby sich weigerte, ohne ihren Führerschein zu fahren. Gegen ihren Vorschlag, in Santis Haus zu übernachten, hatte vor allem Lucilla Dorani Einspruch erhoben. Am Fuß des Hügels, in der letzten scharfen Kurve, geriet der Wagen von der Straße ab und landete in eine r Wiese. Von diesem Zeitpunkt ab entschloss sich Mrs. Catesby, das Steuer zu übernehmen. Ich habe mir die Stelle angeschaut, außerdem habe ich die Zeugenaussage eines in unmittelbarer Nähe wohnenden Mannes mitgebracht. Hier ist die Aussage. Sie lautet: ,Ich beobachtete, wie sich eine Frau zum Fenster des Fahrersitzes niedergebeugt hatte und mit einem Mann im Auto heftig zu diskutieren schien. Ich glaube, sie sprach englisch. Die Person im Wagen hörte ich lachen. Die Stimme der Dame wurde immer lauter, und schließlich stieg der Mann mit ihrer Hilfe aus. Danach setzte er sich auf den Rücksitz, während sie am Steuer Platz nahm und wegfuhr.'" Valerio schob dem Polizeichef das Papier über den Schreibtisch, „Name und Adresse des Zeugen sind unten angegeben." „Er hätte es gleich melden müssen." Manzinis Stimme klang gereizt. „Warum? Er konnte doch nicht ahnen, dass seine Beobachtungen einmal für den Dorani-Fall wichtig sein würden." „Anscheinend kann er keine genaue Personenbeschreibung geben." „Das stimmt. Doch aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um Brian Hanleys Wagen und bei der englisch sprechenden Dame um Helena Catesby, denn so viel Zufälle auf einmal gibt es wohl kaum. Was diese Vermutung noch erhärtet, ist ein Foto der Reifenspuren, das ich selbst gemacht habe. In jener Nacht war der Boden vom Regen aufgeweicht, seither jedoch trocken, so dass die Spuren erhalten blieben. Und hier ist das zweite Foto. Es zeigt die Abdrücke von Mr. Hanleys Wagen. Beide stimmen überein." Manzini verglich aufmerksam die beiden Fotos. „Wie sind Sie eigentlich an Mr. Hanleys Wagen gekommen? Er ist doch von der Polizei beschlagnahmt worden." Valerio lächelte geheimnisvoll. „Und der Richter nannte Sie einen Ehrenmann", bemerkte Manzini. „Ich suchte auch die Leihwagenfirma auf", fuhr Valerio unbeirrt fort. „Sie führt Karteikarten mit allen Details ihrer Fahrzeuge und wird jederzeit bestätigen, dass die Abdrücke der Reifen auf dem Foto mit jenen der Reifen übereinstimmen, die auf Hanleys Wagen montiert waren." „Schon gut, ich bezweifle es ja nicht", erklärte der Polizeichef. „Ich übergebe Ihnen hiermit das Beweismaterial, weil ich überzeugt bin, dass damit der Anklagepunkt der Trunkenheit am Steuer wegfallen kann. Sie werden doch nicht weiterhin annehmen, dass meine Mandantin bei Übernahme des Steuers, betrunken war." „Nein", sagte Manzini unerwartet. „Dies wäre erledigt. Der zweite Anklagepunkt, Fahren ohne Führerschein, kann ebenfalls fallen gelassen werden. Allerdings bleibt die Unfallursache, nämlich Rücksichtslosigkeit am Steuer, bestehen." „Aber das ..." „Darf ich auch einmal zu Wort kommen", unterbrach Manzini ihn verärgert. „Obwohl Sie gute Arbeit als Detektiv geleistet haben, ist Ihnen die Polizei doch um eine Nasenlänge voraus." Valerio horchte auf. „Wie ich Ihnen schon mitteilte", fuhr der Polizeichef fort, „versuchte ich gestern vergeblich, Sie zu erreichen. Nach dem, was Sie mir soeben erzählten, fehlt zum fertigen Puzzle nur noch ein Stück. Nun, ich habe dieses Stück." Valerio schaute ihn an. „Heißt das, dass Lucilla ..." „Signorina Dorani kam gestern Morgen zu sich, und mehr noch, eine Stunde
vorher sprach sie bereits im Schlaf." „Wollen Sie damit sagen, dass sie sich an alles erinnert?" „Keineswegs. Man kann es nach der langen Bewusstlosigkeit auch kaum erwarten. Aber sie erinnert sich an etwas Wesentliches. Sie weiß, was während der letzten Sekunden vor dem Zusammenstoß geschah. Sie hat es mehrere Male wiederholt. Hier." Manzini zog ein Notizbuch heraus. „Lesen Sie selbst. Es ist zwar gegen die Vorschrift, doch in diesem Fall ..." Valerio überflog die wenigen Zeilen. Danach sagte er, und seine Stimme klang seltsam fremd. „So war es also. So einfach, und trotzdem kam keiner von uns auf diesen Gedanken. Weiß es Ranelli schon?" „Nein, er durfte nicht zu ihr. Lesen Sie weiter unten, dort finden Sie den Grund dafür. Ranelli regte sich fürchterlich auf darüber und wäre beinahe wegen Beamtenbeleidigung verhaftet worden." „Das kann ich mir vorstellen", bemerkte Valerio gedankenverloren, während er immer noch auf die wenigen Worte in Manzinis Notizbuch schaute. „Haben Sie etwas dagegen, dass ich Ranelli informiere?" fragte er nach einer Weile den Polizeichef. „Nein, ich bin sogar froh, wenn Sie mir das abnehmen. Eines Tages wird der Kerl doch noch Schwierigkeiten bekommen, wenn er nicht endlich lernt, sich zu beherrschen." „Was hätte er wohl unternommen, falls er dies hier gewusst hätte?" „Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Keiner will Zeuge sein, wahrscheinlich, weil sich jeder schämt, tatenlos dabeigestanden zu haben. Nun, es liegt bei Mrs. Catesby, ob sie Ranelli anzeigen will." „Ich glaube nicht, dass sie das vorhat, und ich werde sie auch dahingehend beraten." „Das dachte ich mir", entgegnete Manzini.
11. KAPITEL
Eine Stunde später ging Valerio ins Krankenhaus, wo er Ranelli vor dem Aufnahmeschalter unruhig hin und her gehen sah. Sobald er den Anwalt erblickte, stürzte er auf ihn los. „Ich will nichts hören und habe nichts zu sagen. Wahrscheinlich verdanke ich es Ihnen, dass man mich nicht zu ihr lässt." „Das hat mit mir absolut nichts zu tun", erwiderte Valerio kalt. „Passen Sie gut auf, ich habe Ihnen etwas Interessantes zu berichten. Lucilla ist gestern aus der Bewusstlosigkeit erwacht und erzählte der Polizei bereits, wie es zu dem Unfall kam. Sie erinnerte sich zwar nicht an jede Einzelheit, doch die letzten Sekunden vor dem Zusammenstoß sind ihr im Gedächtnis haften geblieben." Ein boshaftes Lächeln erschien auf Ranellis Gesicht. „Nun weiß man also die Wahrheit, und Helena Catesby wird endlich dahin gebracht, wo sie schon längst hingehört." Valerios Miene blieb ausdruckslos, als er ihm ein Stück Papier reichte. „Lucillas Angaben entsprechen zweifellos der Wahrheit. Hier, lesen Sie." Wenige Sekunden später schrie Ranelli unbeherrscht auf. „Glauben Sie, dass ich so dumm bin und das glaube? Die Polizei zwang sie zu dieser Aussage." Die Schwester an der Aufnahme schaute ärgerlich herüber. Valerie packte Ranelli am Arm und drückte ihn auf einen Stuhl hinunter. „Schweigen Sie jetzt, und denken Sie einmal ruhig nach. Die Polizei sammelte Beweismaterial, damit gegen Mrs. Catesby Anklage erhoben werden konnte. Glauben Sie, dass die Polizei daran interessiert war, ihre Indizien unbrauchbar zu machen, indem sie Lucilla zu solchen Aussagen zwang? Außerdem sind unsere Beamten ehrenha fte Männer und nicht daran gewöhnt, Zeugen Worte in den Mund zu legen. Manzini war auch nicht entzückt über diese Wendung, aber er akzeptierte sofort die Tatsache, dass dies Mrs. Catesbys Unschuld bewies." Noch einmal las Ranelli Lucillas Worte. „Ich hatte Angst, da Mr. Hanley ständig Mrs. Catesby beim Fahren behinderte. Ich bat ihn, damit aufzuhören, er war jedoch zu betrunken, um darauf zu reagieren. Plötzlich beugte er sich nach vorn und griff nach dem Lenkrad. Als ich den Lastwagen erblickte, versuchte ich, seine Hände wegzustoßen, doch er hielt das Lenkrad fest umklammert. Ich schrie auf, da er uns direkt in die Fahrspur des Lasters steuerte ... und Sekunden später geschah der Zusammenstoß." „Ich werde mir diesen Mann vorknöpfen", sagte Ranelli langsam. „Tun Sie, was Sie für richtig halten." Valerio zuckte gleichgültig die Schultern. „Ich habe kein Interesse daran, Hanley zu schützen. Allerdings rate ich Ihnen, etwas Geduld zu haben. Wenn er wahrscheinlich auch nicht ausgeliefert wird, so dürfte seine Karriere als Parlamentarier zu Ende sein. Wir werden also- auf jeden Fall die Freude haben, Brian Hanleys Ruin zu erleben." Ranelli hob den Kopf. „Und wann werde ich wegen der Sache am Strohmarkt verhaftet?" „Ich hoffe, überhaupt nicht. Mrs. Catesby wird nach Erledigung der Formalitäten Florenz verlassen können. Ich werde sie dahingehend beeinflussen, keine Anzeige gegen Sie zu erstatten, jedoch nur, um keine Hindernisse für ihre Abreise zu schaffen." Ranelli war kleinlaut geworden. „Ich werde mich bei ihr entschuldigen." „Beim geringsten Versuch, Helena Catesby zu treffen, werde ich dafür sorgen, dass Sie den Tag bereuen, an dem Sie geboren wurden", sagte Valerio gefährlich. Ranelli vermochte Valerios hartem Blick nicht standzuhalten. „Warum lässt man mich nicht zu meiner Verlobten?" fragte er.
„Weil sie es nicht will." „Was soll das heißen?" „Ich weiß nur, dass sie die Polizei gebeten hat, Sie nicht zu ihr zu lassen." Ranelli schaute ihn ungläubig an. „Das verstehe ich nicht. Sie liebt mich doch." „Aber sie fürchtet Sie auch. Vielleicht überlegen Sie einmal, ob nicht auch Sie an dem, was geschehen ist, Schuld trifft." „Mich? Kann ich etwas dafür, dass sie diese Party besuchte?" „Bis zu einem gewissen Grad, ja. Ich warnte Sie schon einmal, das Mädchen nicht wie eine Gefangene zu behandeln, denn sie würde eines Tages dagegen rebellieren. Und so kam es dann auch, an jenem Abend, als sie zu Santis Party ging." „Ich wollte sie doch nur beschützen - sie ist so jung ..." „Wahrscheinlich zu jung für Sie. Übrigens drängte Mrs. Catesby darauf, in Santis Haus zu übernachten. Lucilla war diejenige, die trotz der Trunkenheit Hanleys darauf bestand, heimzufahren ... aus Angst vor Ihnen, Ranelli. Sie setzte letztlich ihr Leben aufs Spiel, weil sie sich vor Ihnen fürchtete." Ranelli sank in sich zusammen. Es war, als ob er einen Schlag erhalten hätte. Für einen Augenblick empfand Valerio Mitleid mit ihm, und als er wieder sprach, war sein Ton etwas freundlicher. „Ich weiß, dass Sie Lucilla sehr lieben, und es ist für einen Mann schwer zu verstehen, dass das allein nicht genügt. Vielleicht wäre es für sie der größte Beweis Ihrer Liebe, wenn Sie sie freigäben." Ranelli schwieg und schien nachdenklich zu sein. Valerio legte ihm leicht die Hand auf die Schulter. Kurz darauf ging er. „Signora, ein Anruf für Sie von Signor Lucci." „Danke, Nina." Helena eilte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. Seit zwei Tagen hatte sich Valerio nicht mehr bei ihr gemeldet. Sie nahm den Hörer. „Valerio?" „Es gibt Neuigkeiten." „Spann mich nicht auf die Folter." „Es ist alles vorüber. Du bist frei." „W... was?" „Lucilla erwachte gestern Morgen aus ihrer Bewusstlosigkeit. Sie erinnert sich an die Momente vor dem Unfall. Brian hat ihn verursacht. Ich erzähle dir alles heute Abend. Es wird höchstens ein bis zwei Tage dauern, bis die Anklage offiziell fallen gelassen wird. Danach wirst du also abreisen können." „Abreisen?" In diesem Augenblick hörte Helena einen Summton durchs Telefon, gleich darauf Valerios Stimme: „Es ist eben jemand gekommen. Bis heute Abend also. Bestell bitte meiner Mutter, dass ich zum Essen dort sein werde." Helena blieb reglos sitzen. Sie konnte es nicht fassen, dass dieser Albtraum endgültig vorüber war. Nur was meinte Valerio mit „abreisen?" In diesem Augenblick erschien Maria. Helena stand auf. „Ich wollte Sie soeben aufsuchen, um Ihnen von Valerio auszurichten, dass er heute Abend zum Essen da sein wird. Er hat es geschafft, mich frei zu bekommen. Lucilla ist wieder bei Bewusstsein ... ich bin unschuldig." „Gott sei Dank!" Maria seufzte erleichtert auf. „Dann werden Sie uns wohl bald verlassen können, Signora." „Ja, das nehme ich an." „Jetzt, da mein Sohn seine Pflicht Ihnen gegenüber erfüllt hat, gibt es ja keinen Grund mehr für Sie zu bleiben. Obwohl ich Sie nicht sehr schätze, Signora-, bin ich doch überzeugt, dass Sie genügend Anstand besitzen werden, jeglichen Schaden von meinem Sohn fern zu halten, indem Sie ..."
„Schaden von ihm fern zu halten?" wiederholte Helena verwirrt. Maria lächelte kalt. „Indem Sie darauf verzichten, ihn wieder zu umgarnen, um dadurch eine Ehe zu erzwingen. Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, denn Valerio ist Anwalt und kann keine Frau heiraten, die in einen Skandal verwickelt war." „Aber ich bin doch unschuldig ..." „Trotzdem bestand Anklage gegen Sie, und ohne Valeries Tüchtigkeit hätten Sie die letzten Wochen im Gefängnis verbracht. Außerdem besuchten Sie die Party eines übel beleumundeten Mannes, und die Leute werden nicht glauben, dass Sie dies in Unkenntnis der Verhältnisse taten. Hinzu kommt, dass Sie geschieden sind, etwas, was in diesem Land schwerer wiegt als anderswo." „Wollen Sie behaupten, dass eine Ehe mit mir Valerio ruinieren würde?" „Sagen wir, es wäre nicht gut für ihn." „Valerio muss selbst wissen, was er tut." „Natürlich. Ich habe nie versucht, ihn zu beeinflussen, sonst hätte ich ihm vor zehn Jahren von einer Ehe mit Ihnen abgeraten, denn ich mochte Sie auch damals nicht. Heute weiß Valerio selbst, dass er es sich nicht leisten kann, noch einmal einen Narren aus sich machen zu lassen." Nach diesen Worten verließ Maria den Raum. Helena blieb wie betäubt zurück. Sie versuchte, sich einzureden, dass Maria sie nur aus dem Haus haben wollte. Mit einem Mal kamen Helena Bedenken. Hatte Valerio sich nicht geweigert, über den Tag des Prozesses hinaus Pläne zu machen? Und warum hatte er darauf beharrt, dass zwischen ihnen nur das offizielle Verhältnis eines Anwalts zu seiner Mandantin bestand? Geschah es wirklich nur um ihretwillen, wie er behauptet hatte, oder aus eigenem Interesse, um einem Skandal aus dem Weg zu gehen. Maria hatte von seiner Verpflichtung der Familie gegenüber gesprochen. Nun, das war vielleicht ein Wunschgedanke. Doch Valerio selbst hatte ihr erzählt, dass er seinem Vater zu Liebe nicht Kunsthändler geworden war. Was würde er nun seiner Mutter zu Liebe opfern? Vielleicht hatte er die Stunden, die sie in seiner Wohnung verbracht hatten, nur als Entschädigung für damals angesehen ... Am unerklärlichsten war Helena jedoch sein Ausspruch, dass er es sich als Anwalt nicht leisten könnte, mit einer Frau verlobt gewesen zu sein, die eventuell eine Gefängnisstrafe absitzen muss. Ihre Gedanken verwirrten sich, und sie fühlte, dass sie allmählich schon damit rechnete, von Valerio zurückgewiesen zu werden. Vor dem Abendessen ging Helena in die Laube. Adele hatte Valerio bestimmt ausgerichtet, dass Helena ihn dort erwarten würde. Sie hatte das Chiffonkleid angezogen und sich den weißen Seidenschal über die Schultern geschlungen. Helena hörte Schritte und im nächsten Augenblick lag sie schon in Valeries Armen. „Habe ich dir nicht versprochen, dich frei zu bekommen?" fragte er triumphierend. „Lucilla geht es heute schon besser. Sie war im Stande, ihre Worte von gestern zu bestätigen und zu Protokoll zu geben. Demnach beugte sich Hanley nach vorn, griff dir ins Lenkrad und brachte so den Wagen schließlich in die Fahrspur des Lasters." „Davon weiß ich nichts, jedoch erinnere ich mich daran, dass ich plötzlich keine Kontrolle mehr über das Lenkrad hatte." „Das war Hanleys Schuld. Wichtig ist, dass sich Lucilla dieser Sache absolut sicher ist. Sie versuchte, seine Hände vom Steuer zu zerren, leider vergeblich." „Wird sie wieder ganz gesund?" „Bestimmt. Nur wird es eine Weile dauern, was vielleicht sogar von Vorteil ist, da dadurch ihre Hochzeit aufgeschoben wird. Beide brauchen Zeit zum Nachdenken."
Valerio gab Helena einen flüchtigen Kuss, bevor er sie zur Bank zurückführte und sich neben sie setzte. „Bitte erzähl mir den Rest", bat sie. „Glaubt man mir nun die Geschichte, an die ich mich erinnern kann?" „Die Polizei ist jetzt überzeugt davon, dass du nicht betrunken warst." Valerio berichtete ihr von den Radspuren, die noch immer auf der Wiese am Fuß des Hügels zu sehen waren, und von denen er Fotos gemacht hatte. Gegen Ende seiner Ausführungen sprach er von dem Zeugen, der ihren Streit mit Hanley miterlebt hatte. Helena staunte. „Das hast du alles in dieser kurzen Zeit für mich getan? Demnach verdanke ich also nicht nur Lucilla meine Freiheit." Valerio nickte. „Ich versicherte dir doch, dass ich dir helfen werde." Freut er sich wegen mir, oder gilt seine Fröhlichkeit eher dem gelungenen Abschluss eines Falles, ging es Helena durch den Kopf. „Mir fehlen die passenden Worte, für das, was du für mich getan hast. O Valerio, ich kann dir nicht genug dafür danken." „Lass es gut sein", wehrte er hastig ab und stand auf. „Übrigens, wegen der Kosten sei unbesorgt. Sie werden vom britischen Konsulat übernommen. Bevor ich es vergesse, Ranelli möchte sich bei dir entschuldigen, ich erklärte ihm jedoch, dass er den Tag seiner Geburt verfluchen würde, wenn er es wagen sollte, sich dir zu nähern." „Ich danke dir. Ich möchte ihn wirklich nicht mehr sehen." „Manzini sagte ich, dass ich versuchen würde, dich von einer Anzeige gegen Ranelli abzuhalten. War das in deinem Sinne?" „Sicher. Aber warum?" „Weil du in einigen Tagen frei sein wirst und eine Anzeige deine Abreise nur verzögern würde." Seine Worte stimmten sie traurig. Also war es wahr ... Er wollte sie so schnell wie möglich los sein ... „Ich tue, was immer du mir rätst", erwiderte sie leise. „Etwas wollte ich dir noch sagen. Ich weiß nicht, ob ich es dir verständlich machen kann ..." „Ich habe es bereits verstanden", unterbrach Helena ihn. „Du willst, dass ich weggehe, nicht wahr?" Valerio schwieg einen Moment, bevor er sich wieder an Helena wandte. „Ich möchte, dass du nach England zurückkehrst, um Abstand zu gewinnen. Du wirst merken, dass die Entfernung von einigen Hundert Kilometern ausreicht, damit du mich so siehst, wie ich tatsächlich bin." „Bitte sprich nicht so, Valerio. Ich liebe dich und habe dich während der ganzen zehn Jahre geliebt. Sei jetzt bitte ehrlich zu mir. Wenn du mich nicht haben willst, dann sag es mir offen ins Gesicht. Ich werde lernen, damit fertig zu werden. Vergiss dabei nicht, dass ich keine siebzehn mehr bin, und versuche nicht, mir einzureden, dass eine Entfernung von dir mich ernüchtern würde. Das wird nie der Fall sein." „Helena, hör zu. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass du in deinen Entscheidungen noch nicht frei bist. Wenn du nicht mehr abhängig von mir bist, wirst du fähig sein, dir über deine Gefühle klar zu werden. Du selbst hast mir gerade vorhin jeden Zweifel an der Richtigkeit meines Entschlusses genommen, indem du sagtest, du könntest mir nicht genug für meine Hilfe danken. Ich habe einmal deine Lage ausgenützt. Noch einmal werde ich es nicht tun." „Würdest du mich lieben", bemerkte sie herausfordernd, „würdest du es wieder tun ..." „Glaubst du wirklich, ich werde noch einmal so egoistisch handeln wie vor zehn
Jahren? Nein, Helena. Was jedoch deine Vermutung betrifft, ich wolle dich nicht haben, dazu möchte ich dir sagen, dass du völlig im Irrtum bist. Lieber würde ich dich hier behalten, hilflos und von mir abhängig. Jeder Mann, auch ich, genießt so etwas. Auf diese Erkenntnis bin ich bestimmt nicht stolz," „Du scheinst mich für sehr unreif zu halten, wenn du mir nicht zutraust, dass ich mir meine eigene Meinung bilden kann." „Du hast deine Meinung auch manchmal geändert", wandte er ironisch ein. „Helena, ich habe meine Gründe dafür, dass ich unbedingt möchte, dass du dir deiner Gefühle ganz sicher bist." „Und was wird dich davon überzeugen können?" „Geh nach England zurück, und falls du mich nach drei Monaten immer noch liebst ..." „Nach drei Monaten?" ' „Dann lass es mich wissen, und ich komme zu dir." „Valerie, besteh nicht darauf, denn das würde das Ende für unsere Beziehung bedeuten." „Nein, nicht, wenn du es nicht willst." „Doch", widersprach sie verzweifelt. „Du willst die Uhr zehn Jahre zurückdrehen, das geht nicht, Valerio. Was für damals gegolten hätte, gilt für heute nicht mehr. Befürchtest du, ich könnte dir wieder davonlaufen? Dann lass uns doch so schnell wie möglich heiraten, meinetwegen morgen schon." „Nein, danke"", lehnte Valerio kühl ab. „Was würde das nützen? Du würdest mich auch nach der Hochzeit verlassen, solltest du dich anders besinnen. So etwas Ähnliches erwähntest du doch erst kürzlich, nicht wahr?" „Dabei handelte es sich doch um etwas ganz anderes." „Außerdem sprachst du davon, dass ich dich mit meiner besitzergreifenden Art ersticke. Ich habe mich darin nicht geändert." „Heute, Valerie, schreckt mich das nicht mehr.. Ich bin nicht mehr das ängstliche Mädchen von damals. Die einzige Befürchtung, die ich heute habe, ist, dich zu verlieren." Bevor Helena den Satz noch zu Ende gesprochen hatte, war ihr klar, dass sie etwas Falsches gesagt harte. Valerio legte ihr seinen Arm um die Schultern. „Genau das meine ich. Erst wenn du mich losgelassen hast, kannst du wissen, ob deine Gefühle mir gegenüber echt und tief sind. Und deswegen bestehe ich auf einer dreimonatigen Trennung." Helena versuchte ihm klar zu machen, welche Art von Angst sie vorhin gemeint hatte, doch Valerio ließ sich von seinem Entschluss nicht abbringen. „Ich habe zu oft erlebt, dass sich eine Mandantin während eines Prozesses in ihren Anwalt verliebte und sich hinterher nicht einmal mehr an sein Gesicht erinnern konnte." . „Und wie oft verliebte sich der Anwalt in seine Mandantin, weil er es genoss, die Rolle des Beschützers zu spielen?" fragte Helena kalt. Valerio seufzte. „Das passiert natürlich auch manchmal. Der Unterschied ist nur, dass der Anwalt von vornherein weiß, dass nach dem Prozess alles vorbei sein wird. Daher muss er der Vernünftigere sein." „Verschone mich mit deiner Vernunft. Ich liebe dich, und wenn du mich nicht liebst, dann hab doch endlich den Mut, es mir offen zu sagen." Valerio schaute sie an. „Ich weiß wirklich nicht, was ich dir darauf antworten soll, Helena. Ich bitte dich doch nur um etwas Zeit, hauptsächlich für dich ... ein wenig auch für mich." Das war das Ende. Also hatte Maria Recht. Er schickte sie, Helena, fort, unmissverständlich. Und falls sie so töricht wäre, nach Ablauf der drei Monate Verbindung mit ihm aufzunehmen, würde er sich eben verle ugnen lassen. Doch er wusste heute schon, dass ihm das erspart bleiben würde ...
„Ich verstehe", brachte sie mühsam beherrscht hervor. „Gehen wir hinein? Man wartet sicher schon auf uns." Vier Tage später packte Helena ihre Koffer. In einer Stunde würde Giorgio sie zum Bahnhof bringen, von wo aus sie nach Pisa, dem nächstgelegenen Flugplatz, fahren würde. Die Formalitäten waren erledigt, den Pass hatte ihr Valerio letzten Abend persönlich gebracht, als er zum Essen kam. Er war höflich, beinahe charmant gewesen und hatte ihr sogar angeboten, sie zum Bahnhof zu begleiten. Sie hatte jedoch, ebenso höflich, abgelehnt. Nun wollte Helena nur noch eins. Fort von hier, von Maria mit ihrem kalten, selbstzufriedenen Lächeln, von Adele mit ihrer plumpen Art, Ehestifterin zu spielen, von Florenz, das ihr zum zweiten Mal nur Unglück gebracht hatte. Als Helena gerade in das Auto steigen wollte, fuhr ein Taxi vor. Ein Mann sprang heraus, hastete auf sie zu. Es war John Driffield vom britischen Konsulat. Er begrüßte sie freundschaftlich und erklärte, dass er es nicht hatte versäumen wollen, sich persönlich von ihr zu verabschieden. Ursprünglich wollte er ihr auch den Pass selbst zurückbringen, doch sei ihm dabei ihr Anwalt, den er auf der Polizeistation angetroffen habe, zuvorgekommen. Nach einem Blick auf Giorgio bat er sie, ein paar Schritte mit ihm, John, zu gehen. „Vielleicht bilde ich es mir nur ein", meinte er. „Aber ich hatte das Gefühl, als .ob Signor Lucci unbedingt ein Treffen zwischen uns beiden verhindern wollte. Gibt es ... ich meine, hat er irgendwie ..." Valerio war doch zu vorsichtig. Glaubte er denn im Ernst, dass sie ... - Helena klang überzeugend, als sie antwortete. „Signor Lucci hat in keinster Weise seine Vertrauensstellung missbraucht." Driffield atmete auf. „Das beruhigt mich. Ich war nämlich etwas skeptisch, da er Sie von früher kannte und Ihre Verteidigung auf eine etwas ungewöhnliche Art übernommen hatte." „Was heißt, auf eine .ungewöhnliche Art'?" „Nun, es war wirklich seltsam. Er rannte uns buchstäblich die Tür ein, um Ihren Fall übernehmen zu können. Wir hätten den berühmten Lucci nie für eine so geringfügige Sache in Betracht gezogen. Doch von höherer Stelle wurde uns bedeutet, dass nur er für Sie als Verteidiger in Frage käme." „Und wer war diese ,höhere Stelle'?" „Dazu möchte ich mich nicht äußern. Lucci jedenfalls zog alle Register, erwähnte unter anderem auch, dass er als alter Bekannter Ihnen unbedingt helfen müsse. Und dann bot er sogar an, keinerlei Honorar für Ihre Verteidigung zu verlangen." „Kein Honorar?" Driffield staunte Helena überrascht an. „Sie wollen doch nicht behaupten, dass Sie davon nichts wussten." „Nein, ich wusste nichts davon. Als er mich zum ersten Mal im Krankenhaus aufsuchte, glaubte ich an einen Zufall. Schließlich kannte er mich ja nur unter meinem Geburtsnamen. Wie kam er eigentlich darauf, dass es sich um mich handelte?" Driffield meinte, dass Valerie Lucci vielleicht das Bild in der Zeitung am Tag nach dem Unfall gesehen hätte. Allerdings fand es Driffield merkwürdig, dass Valerio nie davon gesprochen hatte, Helenas Verteidigung unentgeltlich zu übernehmen. Nach diesen Worten verabschiedete sich John von ihr. Helena lief zum Auto zurück. „Schnell, Giorgio, zum Büro von Signor Lucci." „Aber der Zug, Signora." „Keine Angs t, den erreiche ich schon. Es wird nicht lange dauern." Helena stürmte in das Büro und fragte die erstaunte Sekretärin, ob jemand bei
Signor Lucci sei. Kaum hatte sie verneint, eilte Helena an ihr vorbei und stürzte in Valerios Büro. Er stand am Fenster und schaute grübelnd auf die Straße hinunter. Langsam drehte er sich um und erschrak, als er sie an der Tür erblickte. „Helena, ich dachte, du seist auf dem Weg zum Bahnhof", war alles, was er hervorbrachte. „Ich habe dir zuerst noch einiges zu sagen. Kurz zuvor kam Mr. Driffield in die Villa, um sich von mir zu verabschieden." Sie sprach den Namen betont langsam aus und sah, wie Valerio blass wurde. Danach hörte sie ihn fluchen, zum ersten Mal, seit sie sich kannten. Sie erzählte ihm den eigentlichen Grund von Driffields Besuch und auch, dass sie ihm versichert habe, keinerlei Beschwerde gegen ihren Anwalt zu haben ... Helena machte eine Pause und beobachtete Valerios unbewegtes Gesicht. „Eine Beschwerde habe ich allerdings, Valerio. Du warst nicht ehrlich zu mir, vom ersten Tag an nicht. Du hast mich in dem Glauben gelassen, ich sei zufällig deine Mandantin geworden. Dem war aber nicht so, nicht wahr?" „Ich gebe es zu", sagte er niedergeschlagen. „Du wusstest schon, wer ich war, noch bevor du zu mir ins Krankenhaus kamst." „Ja." Er nahm einen Zeitungsausschnitt aus einem Schreibtischfach. „Hier, jetzt kannst du dies auch sehen." Es war ein Ausschnitt mit dem Datum vom Tag nach dem Unfall. Das Bild zeigte Helena in Großaufnahme, mit zurückgeworfenem Kopf, die Filigrankette um den Hals. „Daher kennst du also diese Kette", bemerkte Helena. „Ja", erwiderte Valerio. Es war ungeschickt von mir, sie zu erwähnen, und es gelang mir gerade noch, mich herauszureden. Den zweiten Fehler beging ich in dem Restaurant beim Ponte Vecchio, als ich behauptete, deine Verlobung mit Mr. Catesby aus jener Kunstzeitschrift erfahren zu haben ... Nachdem ich dich auf dem Bild erkannt und festgestellt hatte, dass. du dich in ernsthaften Schwierigkeiten befandest, gab es für mich nur den einen Gedanken: Ich musste dir helfen. Die Vorstellung, du könntest ins Gefängnis kommen, war mir unerträglich. Außerdem traute ich keinem anderen Anwalt zu, dich bei Gericht erfolgreich zu verteidigen. Klingt eingebildet, nicht wahr?" „Nein, Mr. Driffield sagte mir, dass du der Staranwalt von Florenz seist und dich normalerweise mit solch geringfügigen Angelegenheiten nicht abgibst." „Ich schwöre dir, dass ich mit dem Vorsatz, deinen Fall vollkommen unpersönlich zu behandeln, die Verteidigung übernommen hatte. Kaum saß ich dir im Krankenzimmer gegenüber, wusste ich, dass es nicht so leicht sein würde ... Zwar hast du mir von deiner Scheidung erzählt, hast mich jedoch im selben Augenblick annehmen lassen, Brian Hanley sei deine neue große Liebe. Daher ließ ich dich weiter in dem Glauben, meine Verteidigung sei reiner Zufall." „Später sagte ich dir doch, dass ich nicht in Hanley verliebt sei. Das wäre eigentlich der richtige Zeitpunkt gewesen, mir die Wahrheit zu gestehen." „Sicher. Nur ist es nicht so einfach, einen bereits eingeschlagenen Weg zu verlassen. Und woher sollte ich wissen, wie du auf diese Eröffnung reagieren würdest? Während der ganzen Zeit, Helena, glaube mir, sehnte ich mich so nach dir, wenn auch manchmal Schmerz und Zorn mich erfüllten. Du brauchtest nur die Hand auszustrecken ... Einmal glaubte ich, es sei so weit. Damals, nachts in der Laube ..." „O Valerio, ich war nahe daran, doch im letzten Augenblick verließ mich der Mut, da ich glaubte, du würdest mich dafür verachten. Und du warst ja auch danach, beim Essen, so kalt und unpersönlich ..."
„Ich wollte nicht mehr zum Essen kommen. Mein einziger Gedanke war, dir aus dem Weg zu gehen." „Später an jenem Abend begab ich mich noch einmal hinunter zur Laube, um meinen Schal zu holen. Ich sah dich dort sitzen..." „Also warst du wirklich dort! Ich fühlte plötzlich deine Nähe so stark, dass ich unwillkürlich aufschaute und enttäuscht war, dich nicht zu erblicken." „Ich schlich mich fort, aus Angst, du würdest ärgerlich sein. O Valerio, was wäre geschehen, wenn ich nicht fortgelaufen wäre?" „Das weißt du genau, Helena ..." „Ja, du wärst schwach geworden, und wir hätten uns dort geliebt. Was aber hättest du in deinem Herzen empfunden?" „Ein tiefes inniges Gefühl für dich, das seit zehn Jahren unverändert ist. Helena, hast du immer noch nicht verstanden, dass ich nie eine andere Frau lieben werde?" „Und doch schickst du mich weg", klagte sie. Im nächsten Moment schaute sie ihn forschend an. „Valerio, du hast mir den wahren Grund verheimlicht, warum ich nach England zurückkehren soll. Meine Anwesenheit würde dir beruflich und auch gesellschaftlich schaden, nicht wahr?" „Was in aller Welt meinst du damit?" „Du heiratest mich deshalb nicht, weil es sonst einen Riesenskandal gäbe. Es ist eigenartig, dass ich vorher nie daran gedacht habe, erst ..." Valerie fasste Helena an den Schultern und blickte sie eindringlich an. „Hat meine Mutter mit dir gesprochen?" „Ja. Nur ist dies ohne Belang. Du selbst hast erwähnt, dass es deinem Ruf schaden würde, falls man erfährt, dass du früher einmal mit mir verlobt warst." „Unsinn! Ich musste doch eine plausible Erklärung für die Übernahme der Verteidigung anführen, die auch du akzeptieren würdest. Wie dem auch sei, jedermann weiß inzwischen, dass du unschuldig bist." Helena blieb hartnäckig. „Deine Mutter meinte auch, meine Scheidung..." „Wen interessiert deine Scheidung! Glaubt ihr beide tatsächlich, dass meine Karriere von solchen Unwesentlichkeiten abhängt? Das zeigt, wie wenig Vertrauen ihr in meine beruflichen Fähigkeiten habt. Zugegeben, meine Mutter ist in einer anderen Zeit aufgewachsen. Aber du, Helena, als moderne Frau ..." Valerio machte eine Pause und dachte nach. Schließlich meinte er „Jetzt werden mir auch die Bemerkungen meiner Mutter gestern Abend klar." Entrüstet hielt er inne. „Gestern Abend?" „Ja. Vor dem Essen waren wir ein paar Minuten allein. Indirekt auf deine Abreise anspielend, beglückwünschte sie mich zu meiner vernünftigen Einstellung, dankte mir für die Rücksichtnahme auf unsere Familie. Glaub mir, hätte ich offen sprechen können, ich hätte ihr gesagt, dass ich für meine Familie wohl meine Laufbahn als Künstler geopfert habe, meine Liebe jedoch auf keinen Fall verraten würde. Helena, ich hatte keine Ahnung, dass sie mit dir darüber geredet hat ..." Helena unterbrach ihn. „Du hast mich auch belogen, als du behauptetest, das Konsulat bezahle deine Verteidigung. Von Driffield erfuhr ich die Wahrheit." „Ich habe dir dies nur deshalb erzählt, damit du dich in keiner Weise mir gegenüber verpflichtet fühlst. Daher setzte ich alles in Bewegung, um Driffield an einem Besuch bei dir zu hindern." „O du Dummkopf", rief sie. „Adele hatte wirklich Recht. Je intelligenter ein Mann ist, desto dümmer verhält er sich in Gefühlsangelegenheiten." „Helena, bitte versuch, mich zu verstehen. Ich will nicht, dass du mich aus Dankbarkeit heiratest. Ich erkläre dir jetzt zum letzten Mal, dass ich dich liebe
und dich zur Frau haben möchte. Aber es soll, wenn du diesmal einwilligst, für immer sein. Ich möchte nicht in der ständigen Angst leben müssen, dich wieder zu verlieren. Und deshalb bitte ich dich, die drei Monate zu warten." „Das werde ich nicht tun!" „Was?" Er blickte sie verwirrt an. „Ich sagte, ich werde keine drei Monate warten. Valerio, du begehst einen Fehler, wenn du diese zweite Chance nicht nützt, denn eine dritte gibt es nicht mehr. Um es noch deutlicher zu sagen, das Wiedersehen in drei Monaten wird nicht stattfinden. Merke dir eins, Advokat Lucci, das Leben lässt sich nicht planen, alles, was geschieht, ist unvorhersehbar." Da Valerio schwieg, fuhr Helena fort. „Wer die Gunst der Stunde nicht nutzt, hat die Schuld daran selbst zu tragen. Die Entscheidung fällt jetzt und hier, Valerio. Ich werde nicht nach Hause fahren, um dort meine Gefühle für dich zu prüfen. Denn ich kenne sie, falls es bei dir nicht so sein sollte, verschwenden wir nur unsere Zeit." „Helena ..." „Entweder du liebst mich und willst, dass ich deine Frau werde oder nicht. So einfach ist das. Wenn ich jetzt gehe, ist es für immer. Ich würde dich morge n heiraten, aber nicht in drei Monaten." „Ich mag nicht vor ein Ultimatum gestellt werden." „Dein Pech." „Ich kann es jetzt nicht entscheiden", sagte er verzweifelt. Kurz darauf bekamen seine Augen wieder jenen unerbittlichen Ausdruck, den Helena so gut kannte. „Ich halte dich jetzt nicht zurück, Helena, denn du bist im Moment nicht in der Lage, diesen folgenschweren Entschluss zu fassen. Daher werde ich dich in drei Monaten ..." „Du würdest nur deine Zeit verschwenden", unterbrach sie ihn. „Denn ich werde meine Wohnung verkaufen und mit dem Erlös wieder auf Reisen gehen. Eines habe ich dir zu verdanken. Ich habe den Weg zur Malerei wieder gefunden und werde das Beste daraus machen. Bevor ich nun aus deinem Leben gehe, möchte ich, dass du noch dies weißt: Vor zehn Jahren, als ich dich verließ, ist es mir recht und schlecht gelungen, mir ein eigenes Leben ohne dich aufzubauen. Diesmal werde ich es zwar wieder versuchen, doch mit der Gewissheit, dich nie vergessen zu können. Nie werde ich einen anderen Mann lieben noch je Kinder haben, denn ich könnte mir niemanden außer dir als Vater für sie vorstellen. Mein Leben wird von nun an ohne Liebe sein. Ist dir klar, was du mir angetan hast? Und alles nur, weil es dir an Mut fehlt. Jetzt bin ich fertig mit Ihnen, Advokat Lucci. Sie wünschten mir einmal, ich möge einst innerlich so stark und frei sein, dass ich den Mut aufbringen würde, Sie fortzuschicken. Nun, heute ist es so weit." Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte sie aus dem Zimmer, vorbei an der Sekretärin, auf die Straße hinaus in das wartende Auto. Kurz vor Pisa war Helenas Zorn einer tiefen Niedergeschlagenheit und inneren Leere gewichen. Doch sie bereute nichts. Sie hatte dem beredten Anwalt Valerio Lucci ihre Meinung gesagt, und er hatte verblüfft dazu geschwiegen. Er kannte sie gut genug, um zu begreifen, dass ihr Ultimatum kein Bluff war. Trotzdem hatte er nicht nachgegeben. Deutlicher hätte er nicht ausdrücken können, dass es für sie keine gemeinsame Zukunft gab. Plötzlich merkte Helena, dass der Zug schon längere Zeit an einer kleinen Station hielt. Draußen wurden Stimmen laut. Ein Mann, der in Helenas Abteil saß, schaute hinaus und rief aufgeregt, dass die Polizei einsteige. Wahrscheinlich, meinte er,
suchen sie jemand. Helena erschrak. Noch immer brachte sie das Wort Polizei in • eine gewissen Alarmbereitschaft. „Sie kommen in diesen Waggon", rief der beleibte Mann, der inzwischen zur Tür gelaufen war. „Müssen Sie Ihre Freude darüber so auffällig zeigen?" sagte Helena in scharfem Ton. „Signora, Sie verstehen das nicht. Die Polizei sucht einen Verbrecher. Es ist in unser aller Interesse, dass er dingfest gemacht wird. Hoffentlich wird er nicht gewalttätig!" . Im nächsten Augenblick betrat der junge Polizist Torrini das Abteil. „Endlich habe ich Sie gefunden, Signora", sagte er erleichtert. Argwöhnische Blicke richteten sich auf Helena, die allmählich in Panik geriet. „Aber warum? Es ist doch alles geklärt." „Es gibt noch einige Formalitäten zu erledigen", meinte Torrini gelassen. „Deshalb muss ich Sie leider mitnehmen." „Das werden Sie nicht", rief Helena empört. „Man versicherte mir, ich könne das Land verlassen und das werde ..." Unerwartet tauchte Valerio auf. „Danke, Torrini. Sie können das Weitere jetzt mir überlassen." Er entschuldigte sich höflich bei den Reisenden für den außerplanmäßigen Aufenthalt, doch sei dies eine dringende Angelegenheit gewesen. Da man die Gesuchte gefunden habe, werde der Zug sofort weiterfahren. Als der Herr in Helenas Abteil sich erkundigte, ob diese Dame eine Verbrecherin sei, antwortete ihm Valerio traurig, dass sie leider ein schwieriger Fall sei. „Durch einen Trick ist es ihr heute gelungen, aus der Haft zu entfliehen und beinahe hätte sie es geschafft, ins Ausland zu entkommen. Aber ...", er packte sie beim Handgelenk, „jetzt habe ich sie sicher und diesmal wird sie nicht mehr entkommen." „Lassen Sie mich los", herrschte Helena ihn an. „Ich bin mit Ihnen ein für alle Mal fertig." „Nun, Signora, die Gerechtigkeit muss ihren Lauf nehmen", ließ sich nun Torrinis ruhige Stimme vernehmen.. „Valerio, lass mich gehen", sagte sie wütend und vermied dabei, ihn anzusehen. „Ich gehe nicht mit dir, begreif das endlich." Helena schaute ihm in die Augen, die einen seltsamen heiteren Ausdruck hatten. Sie blieb hartnäckig. „Ich gehe nicht mit!" „Es wird dir aber nichts anderes übrig bleiben", sagte Valerio. „Schau!" Jetzt erst bemerkte Helena, dass sie mit Handschellen aneinander gefesselt waren. Während sie redete, hatte Valerio das bewerkstelligt. „Wie kannst du es wagen! Du musst den Verstand verloren haben", zischte sie. „Im Gegenteil, ich bin vernünftig geworden. Du hast sehr viel Überzeugungskraft, mein Schatz." „Drei Monate!" erinnerte sie ihn. „O nein. Das Urteil lautet lebenslänglich." Er schob sie sanft aus dem Abteil durch den Wagon und sprang dann als Erster auf den Bahnsteig. Dort fing er sie in seinen Armen auf. „Wie kannst du mir das antun?" flüsterte sie. „Verzeih" mir, Helena, aber es war wirklich die letzte Möglichkeit, dich an der Ausreise zu hindern. Ich wusste plötzlich, dass nichts und niemand dich von England wieder zurückgebracht hätte." „Ich wäre zurückgekommen ... wenn du es wirklich gewollt hättest." „Vielleicht. Dieses Wagnis war mir jedoch zu groß. Das andere Risiko gehen
wir nun zusammen ein, und wir werden es diesmal schaffen." Helena traute ihm immer noch nicht ganz. „Ist es nur deshalb, weil ich dich beschimpfte und ohne Abschied davonlief?" „Nein, weil du mir die Wahrheit gesagt hast. Was mich aufhorchen ließ war, wie du dein Leben ohne mich gesehen hast. Daraufhin stellte ich mir mein eigenes ohne dich vor. Ich bin, wie du bemerkst, ein Feigling, jedoch im umgekehrten Sinn. Ich habe nicht den Mut, meine Zukunft ohne dich zu gestalten ..." „Wirst du keine Angst mehr haben, dass ich dich verlassen könnte?" „Wie denn?" Er lachte und schüttelte die Handschellen. „Muss ich die nun ein Leben lang tragen?" fragte sie. „Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder sie oder ..." Er holte den Diamantring aus der Tasche, den sie ihm vor zehn Jahren zurückgegeben hatte. „Ich nehme den Ring", sagte Helena und lächelte Valerio an. „Aber nur, weil es bequemer ist." Unvermittelt presste Valerio seine Lippen auf. die ihren, küsste Helena mit verzehrender Leidenschaft. Als Helena einen Augenblick aufsah, erschrak sie vor den neugierigen Blicken der Leute, die sie aus den Abteilfenstern beobachteten. „Valerio, ist dir klar, dass du der Öffentlichkeit ein Schauspiel gibst? Ausgerechnet du?" „Ja, es ist mir klar. Es gab keinen anderen Ausweg, mein Schatz. Nütze diesen Moment aus, denn ich glaube nicht, dass ich, selbst für dich, so etwas noch einmal fertig brächte." Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Helena schaute in Valerios vor Verlangen dunkle Augen, fühlte seinen Mund auf dem ihren, und es war ihr, als müsste sie vergehen ... -ENDE