Marie Ferrarella
Viel zu jung für die Liebe?
Der Pilot Kevin Quintano reist nach Alaska, um an der Hochzeit seiner Sch...
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Marie Ferrarella
Viel zu jung für die Liebe?
Der Pilot Kevin Quintano reist nach Alaska, um an der Hochzeit seiner Schwester Lily teilzunehmen. Er ahnt nicht, dass seine Geschwister ein Komplott geschmiedet haben. Sie sind sich sicher: Die hübsche June Yearling ist genau die richtige Frau für Kevin! Auf einem Fest stellen sie June ihrem Bruder vor. Und tatsächlich funkt es sofort zwischen ihnen – zur Freude aller beginnt eine süße Romanze. Doch auf ein Happy End hoffen sie anscheinend vergeblich, denn Kevin ist entschlossen, auf das Glück mit June zu verzichten. Er glaubt, dass sie viel zu jung für ihn sei…
2003 by Marie Rydzynski-Ferrarella Originaltitel: „The Bride Wore Blue Jeans“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto in der Reihe: SPECIAL EDITION Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. Amsterdam Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA Band 1437 (21/2) 2004 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Cecilia Scheller Fotos: Harlequin Enterprises, Schweiz
1. KAPITEL Wie er sie vermisste! Geschlagene zehn Minuten lang hatte Kevin Quintano auf das gerahmte Foto mit den lachenden Gesichtern gestarrt, bevor er das Bild vorsichtig auf den Couchtisch zurückstellte. Es war fast, als könnte er ihr Lachen hören. Sie alle vier – Alison, Lily, Jimmy und er selbst – hatten Jimmys Studienabschluss in Medizin gefeiert. Er vermisste sie sehr. Vermisste ihre Stimmen, vermisste das gutmütige Gezänk unter den jüngeren Geschwistern, was ihn immer zur Weißglut gebracht hatte. Er vermisste das Leben, wie es damals gewesen war. Es gab Zeiten, wo die Stille geradezu unerträglich wurde. Dann schaltete er das Radio in allen Zimmern des Hauses an oder den Fernseher, bloß um Menschen reden zu hören. Die Stille war jedoch noch nicht das Schlimmste. Die Einsamkeit war es. Man sollte meinen, dass er mit siebenunddreißig – ohne Schulden und mit mehr Geld, als er ausgeben konnte – sein Leben zum ersten Mal völlig entspannt genießen würde. „Hör mal, Kevin, du kannst dich jetzt so richtig ausleben“, hatte Nathan vor kurzem auf der Abschiedsparty gesagt, und er hatte fast neidisch geklungen. Der große, kräftige Schwarze und die anderen Taxifahrer, die für Kevin gearbeitet hatten, hatten sich zusammengetan und für ihn allein eine Party geschmissen. Nur war Kevins Interesse weder darauf ausgerichtet gewesen, Gewinne zu machen, noch hatte er gewusst, wie man auf großem Fuß lebte. Das alles ging ihm durch den Kopf, während er in der Küche das Mittag für sich vorbereitete, obwohl ihm eigentlich nach Essen nicht zu Mute war. Was er sich wünschte, war ein Leben voller Arbeit, damit ihm kaum Zeit zum Atemholen bliebe. Kevin starrte in den Kühlschrank, der so gut wie leer war. Er hatte vergessen, einzukaufen. Schon wieder. Lily hatte das früher immer gemacht, weil er zu beschäftigt gewesen war, um es selbst zu tun. Zu beschäftigt. Seit seinem siebzehnten Lebensjahr hatte er nichts anderes gekannt als Arbeit. Er hatte seine Geburtsurkunde fälschen müssen, damit die zu Waisen gewordenen jüngeren Geschwister in seine Obhut gegeben wurden. Über Nacht war er beides, Mutter und Vater, für drei Kinder geworden. Ohne jegliche Hilfe. Und nun bekam er das Leere-Nest-Syndrom zu spüren, unter dem gewöhnlich Vater und Mutter litten, nachdem das letzte Kind das Elternhaus verlassen hatte. Er wusste einfach nichts mit sich anzufangen. Wahrscheinlich war dieser Zustand schuld daran gewesen, dass er in einem schwachen Moment auf Nathan und Joe gehört hatte. Es war den beiden gelungen, ihn zu überreden, sein Taxiunternehmen zu verkaufen, weil nur ein totaler Wechsel ihn angeblich aus dem Trübsinn herausholen konnte. Dabei hatte genau dieses Unternehmen seine inzwischen flügge gewordene Familie durch harte Zeiten gebracht. Genau dieses Unternehmen hatte ihm erlaubt, jeden Tag reichlich Essen auf den Tisch zu stellen und ein Darlehen aufzunehmen, damit Jimmy Medizin studieren konnte, statt als Empfänger einer finanziellen Unterstützung nach dem Studienabschluss einen Schuldenberg abzahlen zu müssen. Er, Kevin, hatte die Schulden auf sich genommen. Er, der bei der Abschlussfeier
so verdammt stolz auf seinen Bruder gewesen war. Das Taxiunternehmen hatte ihn auch in die Lage versetzt, Alison, dem Nesthäkchen der Familie, die Ausbildung zur Krankenschwester zu ermöglichen und Lily zu einem guten Start in ihrem ersten Restaurant zu verhelfen. Sie alle hatten entschieden, dass Lilys Talent für die feine Küche sowie ihr Unwille, Anordnungen zu befolgen, auf diese Weise am Besten genutzt werden konnten. Und was hatten ihm all diese Schulden eingebracht? Er war allein zurückgeblieben, das hatte es ihm eingebracht. Er war allein zurückgeblieben, während seine Geschwister das Haus verlassen hatten. Einer nach dem anderen war nach Alaska gegangen, in irgend so einen gottverlassenen Ort mit dem passenden Namen Hades. Oh, verdammt! Kevin ging ins Wohnzimmer zurück, setzte sich aufs Sofa und starrte mit leerem Blick auf eine Frau, die vergebens einer Horde von wütenden zwölffüßigen Spinnen zu entkommen suchte. Die Mittagsprogramme lassen auch reichlich zu wünschen übrig, dachte er genervt. Genauso wie sein Leben viel zu wünschen übrig ließ. In den vergangenen drei Wochen war ihm eine Sache klar geworden. Das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann, ist die trostlose Einsamkeit. Jene Einsamkeit, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint. Er sollte stolz sein auf seine Geschwister und sich einfach mit ihrem mehr oder weniger ausgeprägten eigenwilligen Verhalten abfinden. Alison war als Erste weggezogen, weil in Hades eine Krankenschwester gebraucht wurde und sie eine Beglaubigung benötigte, die sie als staatlich geprüfte Krankenschwester auswies. Diese Beglaubigung konnte sie wiederum bekommen, wenn sie an einem Ort wie Hades einige Zeit gearbeitet hatte. Das Problem war nur, dass Alison ihr Herz an Alaska verloren hatte und dort geblieben war. Als Jimmy sie dort besuchte, hatte er dann auch sein Herz verloren. Zwar nicht an die Gegend, aber an April Yearling, die Enkelin der Frau, die in Hades das Postamt führte. Hades und das Gebiet im Umkreis brauchten dringend einen zweiten Arzt, und Jimmy war diesem Ruf gefolgt. Lilys in die Brüche gegangene Verlobung hatte sie an denselben Ort verschlagen. Alaska schien die einzige Gegend zu sein, wo ihr erhitztes Gemüt wieder abkühlen konnte. Eigentlich hatte sie geplant, nur zwei Wochen zu bleiben. Lily fand Trost für ihren verletzten Stolz und verlor ihr Herz an den Sheriff von Hades – an Max Yearling, der ganz zufällig Aprils Bruder war. Es war, als ob das Schicksal sich verschworen hätte, seine Familie an einen Ort zu verschlagen, der sechs Monate pro Jahr mit tiefstem Frost heimgesucht wurde und von jeglicher Zivilisation abgeschnitten war, abgesehen von der Flugverbindung. Kevin hatte gedacht – hatte gehofft –, dass Lily nur eine kurze Zeit in Alaska bleiben würde. Lily war schon immer unbeständig gewesen. Sie hatte sich niemals ihren Gefühlen überlassen aus Furcht, dass ihr wehgetan werden könnte. Dieses Mal hielt sie jedoch offensichtlich durch. Beim letzten Telefongespräch hatte sie ihm erzählt, sie wolle den Bürgern von Hades etwas von der guten Küche beibringen und habe bereits ein Restaurant ins Auge gefasst. Kevin hatte natürlich sofort begriffen, woher der Wind wehte. Inzwischen kannte er die Anzeichen. Lily – wie Alison und Jimmy vor ihr – wollte sich in Hades niederlassen. Kevin hatte genug von den Riesenspinnen, die dabei waren, noch einen anderen Campingplatz sowie eine ganze Reihe von Wohnwagen zu zerstören. Er schaltete
um, aber die 14-Uhr-Nachrichten waren nicht weniger beunruhigend. Er gab auf, doch seine Rastlosigkeit hatte sich nicht gelegt. Diese Rastlosigkeit war es gewesen, die ihn für Nathans und Joes Vorschlag, das Taxiunternehmen zu verkaufen, so empfänglich gemacht hatte. Er wusste selbst nicht, welcher Teufel ihn geritten hatte, sein Geschäft zum Kauf anzubieten. Behagt hatte es ihm von Anfang an nicht. Und dann war das Angebot eingetroffen… ein so unglaublich lukratives Angebot, dass er verrückt gewesen wäre, wenn er es nicht angenommen hätte. Das war also die Situation. Er war ein Mann, der viel Freizeit hatte, mit der er nichts anzufangen wusste. Und langsam begann er, diese Zeit zu hassen wie die Pest. Er war einfach nicht dafür geschaffen. Das war auch der Grund, warum er an diesem Sonntagmorgen den Teil in der Wochenendzeitung von Seattle durchgegangen war, der Gewerbebetriebe zum Kauf anbot. Das war alles, was ihn interessierte. „Was du brauchst, mein lieber Junge, ist eine hübsche Frau, die dich zu beschäftigen weiß.“ Der lebenskluge Nathan hatte Kevin diesen Lösungsvorschlag über einem Becher Kaffee so ganz nebenbei gemacht. Hübsche Frauen waren Nathans Lösungen für alles, eingeschlossen die Erwärmung der Weltkugel und die Bedrohung durch eine Invasion von Außerirdischen. Wie auch immer, es war keine Lösung für Kevin. Nicht mal im Ansatz. Er stand vom Sofa auf und schaltete den Fernseher aus. Das Aussehen hatte ihm noch nie etwas bedeutet. Das Herz war ihm wichtiger. Eine Frau mit Herz, mit Seele und Geduld, das war, was ihn interessieren könnte. Doch alle Frauen, die diese Qualitäten besaßen, waren längst verheiratet. Außerdem war es kaum wahrscheinlich, dass eine solche Frau plötzlich vor seiner Tür erscheinen würde. Und das wäre die einzige Möglichkeit, ihr zu begegnen. Natürlich wusste er um die üblichen Wege, wie man sich leicht eine Frau angeln konnte, aber das war nie seine Art gewesen. Kevin dachte kurz nach, versuchte sich zu erinnern, wann er sich das letzte Mal mit einer Frau verabredet hatte, doch ihm fiel nichts ein. Nun, all diese Überlegungen hatten nichts mit dem Plan zu tun, das neu gefundene Vermögen in ein anderes Unternehmen zu stecken. Er wollte lediglich etwas tun. Ganz gleich, was es war. Nur lohnen sollte es sich. Seit genau fünf Tagen war er aus dem Taxigeschäft heraus, und seit genau fünf Tagen wurde er verrückt. Das Telefon klingelte, und er riss den Hörer vom Apparat, als ob seine Rettung gekommen sei. „Hallo?“ „Kev?“ Kevin wurde warm ums Herz, als er Lilys Stimme am anderen Ende der Leitung hörte. „Lily, wie geht es dir?“ Er verkniff sich die nächste Frage, die ihm augenblicklich durch den Kopf ging: Kommst du zurück nach Seattle? Er wusste nämlich bereits, was sie antworten würde. „Mir geht es fantastisch, Kev. Besser als fantastisch. Geradezu sensationell.“ Er musste sie nicht sehen, um zu wissen, dass sie vor Aufregung förmlich glühte. Und damit war seine Hoffnung, dass sie das Handtuch warf und nach Hause zurückkehrte, endgültig zunichte. Aber da war noch etwas in ihrer Stimme, was ihn aufhorchen ließ. „Du willst heiraten, hab ich Recht?“ Zuerst sagte Lily gar nichts. „Meine Güte, bist du gut im Hellsehen“, platzte sie
dann heraus. „Wie hast du…“ Kevin lachte kurz auf. „Ich hatte diese Unterhaltung bereits. Schon zwei Mal“, erinnerte er sie. „Als Alison mich anrief, um mir mitzuteilen, dass sie Luc heiraten werde, und als Jimmy mich anrief, um mir zu berichten, dass er sich in Hades als Arzt niederlassen wolle und – wie nebenbei bemerkt – dass er heiraten werde.“ Wenn Jimmy, der unter Freunden als eingefleischter Junggeselle gegolten hatte, dem Charme einer Einheimischen unterliegen konnte, würde Lily ihm nicht nachstehen. Eigentlich hatte Kevin das tief in seinem Herzen bereits gewusst. Vor allem, da Lily ihm beim vorletzten Anruf eine genaue Beschreibung von Max Yearling gegeben hatte. Detailliert, bis hinab zu seinen ausgetretenen Stiefeln in Schuhgröße 46. Kevin freute sich sehr für seine Schwester, auch wenn ihn dabei eine tiefe Traurigkeit überkam. Er tat jedoch sein Bestes, um freudig zu klingen. „Also macht der Sheriff dich glücklich, ja?“ Lily stieß einen derart zufriedenen Seufzer aus, dass Kevin keinen Zweifel an ihrer Seligkeit haben konnte. „So glücklich, wie ich es im Leben nicht für möglich gehalten hätte.“ Kevin grinste. „Erspar mir die Einzelheiten“, warnte er mit einem Auflachen. „Die bekommst du auch nicht“, konterte Lily und lachte ebenfalls. „Aber ich möchte, dass du kommst, Kev. Zur Hochzeit. Sie findet in drei Wochen statt. Und ohne dich wäre mir, als ob sie nicht gültig vollzogen würde. Ich möchte, dass du mich zum Altar führst.“ Er unterließ es lieber, sie daran zu erinnern, dass sie unter den Geschwistern die Einzige gewesen war, die gegen seine Führung ständig aufmüpfig reagiert hatte. Schon als kleines Kind hatte sie sich von keinem etwas sagen lassen. „Es wird mir eine Ehre sein, Lily.“ Er hörte, wie sie sich räusperte. Lily hasste es, sentimental zu werden. „Ich weiß, dass es nicht leicht ist, vom Geschäft wegzukommen. Vielleicht kann aber Nathan oder Joe es für eine Weile über…“ Kevin unterbrach sie schroff: „Nicht nötig. Ich habe den Laden verkauft.“ Die einzige Reaktion war Schweigen am anderen Ende der Leitung. Alles war so schnell gegangen, dass er nicht mal die Zeit gefunden hatte, einem seiner Geschwister von dem Vorhaben zu erzählen. Weder, dass er den Verkauf des Unternehmens im Sinn gehabt habe, noch, dass er den Vertrag unterzeichnet hatte und die Firma Quintano Taxis seitdem der Vergangenheit angehörte. „Lily, bist du noch da?“ Er hörte, wie sie scharf einatmete. „Ja. Die Verbindung hat wohl kurz verrückt gespielt. Ich meinte, ich hätte gehört, dass du…“ Kevin wollte nicht, dass Lily es aussprach. Er konnte sich nicht erklären, warum er es als unerträglich empfinden würde, wenn eins seiner Geschwister das in Worte fasste, was er getan hatte. „Du hast richtig gehört. Ich habe den Laden verkauft.“ „Aber, Kevin, warum?“ Ihr am Telefon auseinander zu setzen, warum er so impulsiv gehandelt habe, war im Moment das Letzte, wozu er Lust hatte. Zunächst musste er sich mit der Tatsache, die er selbst geschaffen hatte, auch innerlich abfinden, ehe er über das Warum nachdenken wollte. „Mir schien der richtige Zeitpunkt dafür gekommen zu sein“, wich er aus und wechselte das Thema. „In drei Wochen also. Ist das nicht ein wenig kurzfristig? Sicher hast du noch ‘ne Menge bis zur Hochzeit zu tun.“ „Ich weiß.“ Lily seufzte, als ob sie für das, was vor ihr lag, all ihren Mut zusammennehmen müsste. „Aber irgendwie packe ich es schon.“
In diesem Moment ging Kevin auf, was er mit sich anfangen konnte, zumindest für die nächsten drei Wochen. „Vor allem, wenn du Hilfe hast. Ich komme früher.“ „Wie früh?“ Wenn er sich nicht irrte, so hatte er es geschafft, Lily innerhalb von zwei Minuten ganze zwei Mal zu verblüffen. „Ich habe im Moment nichts Besonderes vor. Ich komme so schnell wie möglich.“ Er ging bereits auf den Schreibtisch zu, wo sein Telefonbuch lag. „Lass mich einen Platz für den Flug buchen, dann melde ich mich wieder.“ Lily schien wie betäubt, denn sie murmelte mit kaum vernehmbarer Stimme „Okay“. „Gut. Also, bis später.“ Und schon war die Verbindung unterbrochen. Lily legte den Hörer langsam auf und drehte sich immer noch ganz benommen dem Rest ihrer Familie zu, die um sie herum im Zimmer versammelt war. Ihr Bruder und ihre Schwester waren da mit den jeweiligen Ehepartnern, sowie Max und June, die es nicht vertragen konnten, außer Acht gelassen zu werden, egal wobei. Alison und Jimmy starrten Lily erstaunt an. Ganz offensichtlich waren sie enttäuscht, dass sie nicht die Gelegenheit bekommen hatten, mit Kevin am Telefon zu reden. „Du hast aufgelegt!“ protestierte Jimmy. „Er hat zuerst aufgelegt“, murmelte Lily und starrte noch immer auf den Apparat. Ihr war, als ob ein Stück der ihr vertrauten Welt schlagartig aus ihrem Leben verschwunden wäre. Max stand vom Sessel auf und stellte sich vor sie. „Lily, was ist los? Kommt dein Bruder etwa nicht zur Hochzeit?“ Sie war wie vor den Kopf geschlagen und nickte deshalb nur stumm. Verkauft! Das Taxigeschäft war verkauft. War weg. Sie hätte nicht vermutet, dass Kevin jemals auch nur in Betracht ziehen würde, sein Taxiunternehmen zu verkaufen. „Oh, ja… Doch, er wird kommen.“ Sie hob den Blick und schien die anderen jetzt erst wahrzunehmen. „Was ist denn dann los?“ fragte Max. Lily schluckte. „Kevin hat mir erzählt, dass er das Taxigeschäft verkauft hat.“ „Was hat er?“ Jimmy blieb der Mund offen stehen. Sieben Sommer hatte er damit verbracht, eins von Kevins Taxis zu fahren. Ihm war, als ob er gerade die Nachricht erhalten hätte, jemand aus der Familie sei gestorben. Lily wandte sich ihm zu und sah ihn traurig an. „Er hat das Unternehmen verkauft.“ Sie konnte es noch immer nicht fassen und wedelte hilflos mit der Hand. „Er sagte, ihm schien es richtig so.“ Sie blickte von einem zum anderen. Es war, als ob sie darauf wartete, dass man das Rätsel für sie lösen und Sinn in die Situation bringen würde. Warum hatte Kevin das getan? Sein Unternehmen war sein Leben gewesen! June Yearling zuckte ihre schmalen Schultern und wunderte sich nur. Worum ging es hier überhaupt? Geschäfte wurden jeden Tag verkauft. Sie selbst hatte so etwas erst kürzlich getan. Sie war die Besitzerin der in einem Umkreis von hundert Meilen einzigen Autoreparaturwerkstatt gewesen und hatte das ererbte Geschäft verkauft, weil es ihr zu dem Zeitpunkt als richtig erschienen war. „Vielleicht war es gut für ihn“, sagte sie zu der Verlobten ihres Bruders. „Vielleicht juckte es ihn, das Unternehmen zu verkaufen, weil das Angebot fantastisch war.“ Lily seufzte. Das Geld hatte ihn ganz sicher nicht gereizt, so weit kannte sie ihren Bruder. Und er hatte noch nie überstürzt gehandelt, das entsprach einfach nicht seinem Wesen. Aber warum hatte er die Sache nicht mit einem von ihnen
besprochen? Fragend sah sie Jimmy und Alison an, doch die blickten genauso verwirrt drein wie sie. Lily rieb sich fröstelnd mit den Händen die Arme. „Er hat das Unternehmen eine Ewigkeit besessen.“ June erinnerte sich an die Gefühle, die sie gehabt hatte, als sie sich entschloss, ihre Werkstatt zu verkaufen. „Eine Ewigkeit ist eine lange Zeit. Vielleicht brauchte er ja tatsächlich einen Wechsel. Vielleicht wurde er es müde, dass sich alles um ihn herum aufzulösen schien und…“ Sie biss sich auf die Unterlippe, weil ihr klar wurde, dass sie drauf und dran war, von ihren eigenen Erfahrungen zu sprechen. „Entschuldigung. Ich sollte besser nur von Dingen reden, von denen ich etwas verstehe.“ Max lachte auf und schüttelte den Kopf. June mochte das Gesicht eines Engels haben, doch sie war die Wilde in der Familie. Sie war ein unruhiger Geist und stets voller Überraschungen. „Wenn du diesem Grundsatz gefolgt wärst“, sagte Max ihr, „dann hättest du die Werkstatt nicht an Walter Haley verkauft und groß erklärt, dass du dich von der Familienfarm nicht trennen wollest.“ Familienfarm! Noch zum jetzigen Zeitpunkt war das fast eine Beschönigung. In Wirklichkeit war die Farm seit Jahren brachliegendes Land. Ihre Mutter war mit ihren drei Kindern Hals über Kopf aufgebrochen, um bei der Großmutter unterzukriechen, nachdem ihr Vater sich auf Nimmerwiedersehen abgesetzt hatte. Auch Max war schon mal in den Sinn gekommen, das Land wieder zu bewirtschaften, aber er hatte den Plan dann doch ganz schnell verworfen. Die Stadt brauchte einen Sheriff, und er wollte der Sheriff sein. Max hatte das Glück gehabt, eine Arbeit zu finden, die für ihn gleichzeitig eine Berufung war. Mit gerunzelter Stirn blickte June auf ihre Hände. Sie waren inzwischen ordentlich geschrubbt, aber trotzdem gab es immer noch dunkle Spuren an den Fingern und den Handflächen. „Ich hatte es über, mit ständig vom Motoröl verschmierten Händen herumzulaufen“, entgegnete sie scharf. Sie warf ihrem älteren Bruder, den sie heimlich bewunderte, einen ärgerlichen Blick zu. „Eine Frau hat ein Recht darauf, saubere Hände zu haben.“ „Wäre mir nie in den Sinn gekommen, etwas anderes zu behaupten“, versicherte Max ihr und lächelte belustigt. „Womöglich steckt Kevin in einer Lebenskrise“, gab Alison zu bedenken, und ihr hübsches Gesicht drückte echte Besorgnis aus. Über diese Vermutung musste ihr Mann Luc lachen. Er schüttelte den Kopf. Er hatte Kevin schon immer gemocht. „Siebenunddreißig ist ein wenig jung für eine Midlife-Crisis.“ June sah ihn skeptisch an. Sie mochte die Jüngste unter ihnen hier im Raum sein, aber für sie hing das Alter nicht von den Jahren ab, sondern davon, wie beweglich jemand geistig und körperlich war. „Mir scheint die Idee gar nicht so abwegig zu sein“, entgegnete sie. „Ach, komm, natürlich ist das abwegig“, protestierte Jimmy lächelnd. „Na schön, dann ist es eben abwegig“, sagte June leichthin. „Vielleicht wollte er einfach umsatteln.“ Mit der schonungslosen Offenheit junger Menschen sah sie Kevins Geschwister an. „Immerhin habt ihr ihn ja alle verlassen.“ Es klang fast wie eine Anklage, und Lily tauschte mit Jimmy einen Blick. „Keiner von uns hatte das vorausgeplant“, widersprach Alison heftig. June zuckte nur die Schultern. Sie sollte sich lieber an die Arbeit machen. Der Acker würde sich nicht von allein bestellen. Außerdem musste sie noch Kühe
melken und einen fahruntüchtigen Traktor in Gang bringen. „So ist es aber gewesen. Vielleicht denkt er, dass er ganz neu anfangen sollte.“ Jimmy blickte nachdenklich drein. Ihm kam gar nicht so unvernünftig vor, was June da gerade gesagt hatte. „In Kevins Fall bedeutet es, nicht nur ein neues Leben zu beginnen, sondern schlicht und einfach anfangen, überhaupt zu leben. Er hat immer für uns drei gelebt, nie für sich selbst“, ließ er seinen Schwager und seine Schwägerin wissen. „Er war immer für uns da und musste seine eigenen Wünsche zurückstellen.“ June blickte triumphierend in die Runde. „Das Rätsel ist gelöst“, erklärte sie. „Nun kann er damit beginnen, etwas für sein eigenes Leben zu tun.“ Alison versuchte, das traurige Gefühl abzuschütteln, das in ihr aufgekommen war. Es gelang ihr aber nicht. „Trotzdem ist mir ganz seltsam zu Mute bei dem Gedanken, dass es das Taxiunternehmen nicht mehr gibt.“ Jimmy nickte. Ihm ging es ebenso. Sie alle drei waren am Unternehmen beteiligt gewesen, wenn auch nur am Rande. Immerhin jedoch hatten sie im Büro ausgeholfen und waren Taxi gefahren. Sogar Lily. Bei einer solchen Taxifahrt war Alison Luc begegnet. Luc war von Hades nach Seattle gekommen, um nach einer Frau zu suchen, die willens war vorzugeben, dass sie mit ihm verheiratet sei. Und das alles nur, um eine Flunkerei vertuschen. Am Ende hatte er Alison vor einem Straßenräuber gerettet und sich dabei eine Gehirnerschütterung zugezogen. Aus Dank für seine Mühe war Alison nach Hades gekommen. Angeblich wegen des Mangels an Krankenschwestern, wie sie listig vorgegeben hatte. Den Bluff war sie aber bald überdrüssig gewesen, und so begann sie, ihren Beruf ernsthaft auszuüben. June ging zur Tür und blieb mit der Hand auf der Klinke stehen. „Wahrscheinlich war ihm nicht weniger seltsam zu Mute, nachdem ihr alle abgedampft seid.“ Sie öffnete die Tür. „Ich muss zurück an die Arbeit. Also, bis bald!“ Und damit verschwand sie. Max schüttelte den Kopf über seine Schwester, dann umarmte er Lily. Er wollte das schlechte Gewissen vertreiben, das er in ihren Augen sah. „Unsere allzeit freundliche June.“ Jimmy blickte nachdenklich drein, nachdem seine Schwägerin das Zimmer verlassen hatte. Kevin war vor zwei Jahren zu seiner Hochzeit mit April gekommen. Es war sein einziger Besuch gewesen. Und damals war ihm June mit ihren zwanzig Jahren ganz offensichtlich zu jung erschienen. Jetzt ist June jedoch nicht mehr zu jung, überlegte er. „Das könnte die Lösung sein, Kevin von dem, was immer ihn auch quälen mag, abzubringen.“ „Lösung?“ hakte Lily nach. „Was für eine Lösung? Wovon redest du überhaupt?“ Alison hatte sofort begriffen, sie war bereits auf Jimmys Wellenlänge. „Wir erzählen Kevin einfach, dass June Aufmunterung braucht.“ Sie strahlte geradezu. „Kevin kommt in Höchstform, wenn er sich mit den Problemen anderer befassen kann.“ Aufgeregt blickte sie in die Runde. „Er löst jedes Problem. Er vermisst es, dass wir ihn nicht mehr mit einem ganzen Gepäck von unnötigen Dingen belasten.“ Lily rümpfte die Nase. „Wir haben ihn nie mit unnötigen Dingen belastet.“ Jimmy warf seiner älteren Schwester einen spöttischen Blick zu. „Du hast dein Gepäck anderswo abgeladen.“ Sie lachte kurz auf. „Du etwa nicht, Casanova?“ Max grinste und zog seine zukünftige Frau an seine Seite. „Ich fange an zu begreifen, welche Probleme Kevin mit seiner Familie gehabt hat. Er musste ständig für Frieden sorgen.“
Diese Bemerkung holte Lily vom hohen Ross herunter. Sie küsste ihren zukünftigen Mann auf die Wange. „Das scheint Kevin mit dir gemeinsam zu haben.“ Mit Lily umzugehen war kein leichtes Unterfangen, doch als Sheriff hatte Max genug Erfahrung gesammelt, widerspenstige Bürger zur Vernunft zu bringen. „Das mag schon sein“, erwiderte er. „Jedenfalls halte ich es mir zugute, dass ich hier in der Stadt nicht umsonst den Ruf eines Friedensstifters habe. Ich werde es allerdings lieber nicht riskieren, dir Zaumzeug anzulegen.“ „Diese Ehe“, prophezeite Jimmy den anderen, „wird klappen.“ Vorsichtshalber duckte er sich, doch Max war schneller und packte Lilys Hand, als sie ihrem Bruder den Hörer an den Kopf werfen wollte. „Ja“, stimmte Max seinem Schwager zu. „Unsere Ehe wird ein Leben lang halten.“ Lilys Augen strahlten, auch wenn sie sich darum bemühte, finster dreinzuschauen.
2. KAPITEL Kevin sah sich in der Menge um, die im Flughafengebäude von Anchorage an ihm vorbeizog. Sein Flugzeug aus Seattle war vor knapp einer Viertelstunde gelandet. Irgendwie schien es ihm aber schon länger her zu sein. Er hatte bereits ein wenig Heimweh, was ihm seltsam vorkam. Seattle war ihm niemals mehr gewesen als eine Riesenstadt mit Wolkenkratzern, die in den ständig trüben Himmel ragten. Wahrscheinlich hatte es mit seinem ausgeprägten Bedürfnis nach dem Vertrauten zu tun. Er war ein Mann, der Wechsel nicht sehr gut vertrug, obwohl er das nie zugegeben hätte. Nicht mal seinem Bruder und seinen Schwestern gegenüber. Vielleicht hing dieses Bedürfnis damit zusammen, dass er so früh in seinem Leben dazu gezwungen war, Risiken einzugehen. Andererseits war das der einzige Weg gewesen, die Zukunft der drei von ihm abhängigen Geschwister zu sichern. Bei diesem Gedanken stellte sich die Sorge ein, die ihm in letzter Zeit immer wieder zu schaffen machte. Es gab niemanden, der von ihm abhängig war. Nicht seine Familie und auch nicht die Leute, die für ihn gearbeitet hatten, weil es keine Leute mehr gab, die für ihn arbeiteten. Es war schon ein ganz komisches Gefühl, so frei zu sein. Freiheit, entschied Kevin, während er sich noch mal in dem geschäftigen Flughafengebäude umschaute, wurde höchst überbewertet und brachte nichts ein. Zumindest war das seine Meinung. Er warf einen Blick auf seine Uhr und fühlte sich zunehmend irritiert. Sein Flugzeug war mit einer Viertelstunde Verspätung gelandet. Eigentlich hatte er gleich anschließend mit einem Privatflugzeug nach Hades gebracht werden sollen. Doch weder sein Bruder noch eine seiner Schwestern waren bis jetzt aufgetaucht. Vielleicht waren sie in einer wichtigen Angelegenheit aufgehalten worden und konnten nicht kommen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihn warten ließen. Weitere fünf Minuten später schaute er sich in der Halle nach einem Schalter für Leihwagen um. Es war Ende Sommer. Es konnte also noch keinen Schnee geben, der eine Autofahrt nach Hades unmöglich machte. „Kevin?“ Auch wenn er die Stimme, die von hinten kam, nicht kannte, drehte er sich um. Er kannte auch die Frau nicht. Jedenfalls konnte er sich nicht erinnern, sie jemals gesehen zu haben. Sie war klein, zierlich, trug ein Arbeitshemd mit aufgekrempelten Ärmeln und Jeans, die ursprünglich jemand anderem gehört haben mussten, denn sie waren viel zu groß für das kleine Persönchen. Ihr Haar hatte die Farbe eines strahlenden Sonnenaufgangs, und ihre Augen waren so blau, dass sie Kevins Einsamkeit mit einem einzigen Blick verscheuchten. Sie trug ihr Haar streng aus der Stirn und in einem langen Zopf gebunden, was ihr herzförmiges Gesicht noch mehr betonte. Und dann fiel es ihm wieder ein! Vor zwei Jahren, als er sie das erste und letzte Mal gesehen hatte, war sie für ihn ein Kind gewesen… gerade zwanzig Jahre alt und noch mit Babyspeck behaftet. Innerhalb von zwei Jahren hatte sie sich ganz schön gemausert. Ohne Hilfe von Make-up und ohne jegliche Aufmachung war sie die hübscheste junge Frau, der er je begegnet war. „June?“ Ihr Lächeln war kurz, so kurz wie ein Aufblinken. Doch in diesem Bruchteil einer Sekunde zeigte ihr Gesicht eine solche Herzlichkeit, dass sich in Kevin etwas
Unbekanntes rührte. „Hallo! Man hat, mich geschickt, Sie abzuholen.“ Sie drehte sich zu der blonden Frau hinter ihr um. „Eigentlich hat man uns beide geschickt“, korrigierte sie sich. Junes Begleiterin erkannte Kevin sofort. Es war Sydney Kerrigan, die Frau des Arztes, der Jimmy überredet hatte, in Hades zu bleiben. Dieser Arzt war es, der ursprünglich seine Schwester Alison aus ihrer Stellung in Seattle abgeworben hatte. Nein, korrigierte Kevin sich, das stimmt nicht ganz. Luc war es gewesen, der Alison dazu gebracht hatte, nach Alaska zu ziehen, und April war der entscheidende Faktor in Jimmys Leben gewesen. Die Tatsache, dass Alison und Jimmy geblieben waren, hatte mehr mit Liebe zu tun als mit Arbeit. Liebe, so schien es, regiert die Welt. Nur ihn hatte man irgendwie vergessen. „Jimmy und Alison konnten nicht wegkommen“, erklärte June. „Die Impfstoffe, auf die sie gewartet haben, waren gerade eingetroffen. Sie mussten sofort mit den Impfungen beginnen.“ Das hatte Jimmy ihr als Erklärung gegeben. So ganz hatte June ihm die Entschuldigung zwar nicht abgenommen, aber sie hatte nicht protestiert, weil sie sowieso eine Verschnaufpause nötig hatte. Wenn sie nicht so starrköpfig wäre und sich eine Niederlage eingestehen könnte, hätte sie sich die Sache mit der Farm noch mal gründlich überlegt. Ackerbau und Viehzucht lagen ihr eigentlich überhaupt nicht. Doch es war für sie fast zu einer Ehrensache geworden, die Familienfarm wieder in Gang zu bringen. Sie ging um Sydney herum zu Kevins Handgepäck und wollte es aufnehmen. „Und Lily ist dabei, sich herzurichten.“ Diese June wirkte so springlebendig wie eine Frühlingsbrise. Kevin legte die Hand auf den Griff des Koffers, um zu verhindern, dass sie ihn trug. „Sich herzurichten? Wofür? Für die Hochzeit?“ „Für Sie“, antwortete Sydney über Junes Kopf hinweg. „Für mich?“ Das ergab keinen Sinn. Warum sollte Lily seiner Ankunft wegen viel Aufhebens machen? „Ich habe Lily schon oft morgens die Treppe runterstolpern sehen in diesem alten Männerpyjama, in dem sie eigentlich verboten wirkt. Ich wüsste nicht, warum sie sich für mich herrichten sollte.“ Ein rätselhaftes Lächeln spielte um Sydneys Lippen. „Die Sache ist ein wenig komplizierter“, teilte sie ihm mit. „Ich habe mich aber verpflichtet, strikt zu schweigen.“ Sie hob spielerisch die Hand als Zeichen, dass für sie das Thema damit erledigt sei. „Tut mir Leid, aus mir holen Sie nichts mehr raus.“ „Na schön.“ Kevin wandte sich seiner Schwägerin wieder zu, die es noch immer nicht aufgegeben hatte, ihm den Koffer abnehmen zu wollen. „Ich kann meinen Koffer selber tragen, June, ich bin noch nicht alt. Und außerdem duzen wir uns. Schon vergessen?“ „Du bist überhaupt nicht alt“, versicherte June ihm, zuckte mit den Schultern und steckte ihre Hände in die Vordertaschen ihrer Jeans. „Ich bin es nur gewöhnt.“ Das machte Kevin neugierig. „Was bist du gewöhnt?“ „Zu arbeiten“, antwortete June mit einer Handbewegung, als ob sie mit diesen zwei Worten alles erklärt hätte. Sie wusste, welche Reaktion jetzt folgen würde, hob stolz das Kinn und entgegnete herausfordernd: „Nur weil ich eine Frau bin, bedeutet es nicht, dass ich keine Gewichte tragen kann. Ich kann das sehr wohl.“ Kevin wechselte einen Blick mit Sydney, die belustigt zugehört hatte. Es war absolut nicht seine Absicht gewesen, June zu kränken. „Das stand auch nicht zur Debatte“, wehrte er ab. „Nur trage ich meine Sachen gern selbst.“
Sydney schüttelte den Kopf. Die Begegnung würde ganz offensichtlich doch nicht so glatt über die Bühne gehen, wie man es sich erhofft hatte. Sie persönlich glaubte mehr daran, dass man der Natur ihren Lauf lassen solle. Und sie selbst war das lebendige Beispiel dafür. Sie war nach Hades gekommen, um einen Mann zu heiraten, mit dem sie im Briefwechsel gestanden hatte, um am Ende an dessen Stelle seinen Bruder zu heiraten. „Wenn Sie beide damit aufhörten, am selben Koffer zu zerren“, bemerkte Sydney, „dann könnten wir zum Flugzeug gehen.“ Damit drehte sie sich um und ging zum Ausgang des Flughafengebäudes voraus. Kevin wartete, bis June sich Sydney anschloss, ehe er ihr folgte. June tat es mit einem Seufzer, der ihm zeigen sollte, wie lästig ihr dieses Gehabe um Manieren sei. Mit jedem forschen Schritt, den sie machte, wippte ihr langer blonder Zopf auf dem Rücken. Kevin sah ihr einen kurzen Moment lang fasziniert nach. Dann lächelte er und schüttelte den Kopf über sich selbst, während er sich beeilte, um die zwei Frauen einzuholen. Du liebe Güte, er war ein erwachsener Mann und benahm sich wie ein pubertierender Fünfzehnjähriger! Kevin starrte aus dem kleinen Fenster. Unter ihm breitete sich die Landschaft wie ein grüner Teppich aus, der mit einem blauen Band durchsetzt war. Es war der Fluss, der sich bis zum Gebirge hinschlängelte, um sich dann in den Klüften zu verlieren. Die Berge schienen immer höher zu werden, je weiter sie sich ihnen näherten. Das Knattern der Cessna lenkte Kevin nicht ab. Im Gegenteil, es machte ihm alles nur noch vertrauter. Plötzlich gerieten sie in ein Luftloch, und das Flugzeug sackte einen Moment lang ab. Sydney warf einen Blick über die Schulter auf ihren Passagier, um zu sehen, wie es ihm ging. Sie hatte Kevin schon bei seinem ersten Besuch von Anchorage nach Hades geflogen, und sie freute sich, dass er ungestört vom Rütteln auch weiterhin die Landschaft von oben betrachtete. „Sie werden gar nicht grün im Gesicht wie so viele andere, die in kleinen Maschinen fliegen“, lobte sie ihn. Kevin lehnte sich auf seinem Sitz vor, um Sydney besser hören zu können. „Ich vertraue dem Piloten… in Ihrem Fall, der Pilotin. Außerdem fliege ich gern. Ich habe selbst eine Zulassung für zweimotorige Maschinen, und ich würde gern mal wieder eine steuern.“ Fliegen war Sydneys große Leidenschaft und das vom ersten Moment an, als sie ihre Hand auf den Steuerknüppel gelegt hatte. „Vielleicht möchten Sie mit diesem Baby mal fliegen, solange Sie hier sind.“ Das würde er gern, aber er hatte einen gesunden Respekt vor dem Besitz anderer Leute. Und diese Cessna wurde von Sydney geflogen, um auch im tiefsten Winter die Zufuhr von Medikamenten nach Hades sicherzustellen oder Patienten nach Anchorage ins Krankenhaus zu fliegen, wenn bei ihnen eine größere Operation durchgeführt werden musste. „Vielleicht komme ich auf Ihr Angebot zurück“, antwortete Kevin höflich. Sydney wich von der Flugroute ab und steuerte die Cessna um eine Wolkenbildung herum. Kevin bewunderte ihre Sicherheit. „Sind Sie noch immer die einzige Pilotin in Hades – außer Ihrem Mann?“ erkundigte er sich. Wenn er sich recht erinnerte, hatte Shayne seiner Frau das Fliegen beigebracht. Shayne hatte es ihr zwar nur widerwillig gezeigt, aber wie sich dann herausstellte, war es ein Segen für ihn gewesen. Sydney hatte ihn nach Anchorage geflogen, als sein entzündeter Blinddarm kurz davor war durchzubrechen. Es hätte sein Leben kosten können. Sydney brauchte eine Sekunde, um Kevins Frage zu begreifen. Manchmal vergaß
sie, dass nicht jeder damit vertraut war, was in Hades vor sich ging. „Nein, das bin ich nicht mehr. Mrs. Kelloggs Sohn hat sich entschlossen, aus seinen Flügen mit Passagieren Gewinn zu ziehen. Das bedeutet, wir haben insgesamt zwei Flugzeuge. Doch wir brauchen mehr“, vertraute Sydney ihm an. „Die Stadt ist ganz schön gewachsen, seit Sie das letzte Mal hier waren.“ Kevin warf einen Blick aus dem Fenster. Das Flugzeug steuerte Hades an. Auf Kevin machte es absolut nicht den Eindruck, als ob der Ort mit seinen knapp fünfhundert Einwohnern gewachsen wäre. Von hier oben sah er immer noch wie ein kleiner bunter Tupfen aus. Er schien kaum groß genug, um auch nur eine winzige Ecke einer Stadt wie Seattle auszufüllen. Neben ihm saß June und betrachtete ihn von der Seite. Sie konnte die Gedanken erraten, die ihm durch den Kopf gingen. „Nicht gerade eine Metropole“, stimmte sie ihm zu. „Aber wir kommen noch dahin.“ Kevin lehnte sich wieder bequem in seinen Sitz zurück. „Führst du noch immer die einzige Reparaturwerkstatt in Hades?“ „Nein.“ Auch wenn sie es den anderen gegenüber nicht zugeben wollte, so gestand sie es sich selbst gelegentlich ein, dass ihr die Werkstatt fehlte. Sie vermisste es einfach, darüber zu grübeln, was am Motor nicht stimmte oder wie ein Auto, das hinüber war, wieder aufgetakelt werden konnte. „Walter hat es jetzt.“ „Walter?“ Kevin versuchte sich zu erinnern, ob einer seiner Geschwister einen Walter erwähnt hatte. „Ist es dein Ehemann?“ Er warf einen Blick auf ihre Hand. Kein Ring. Doch June kam ihm nicht vor, als ob sie Wert darauf legte, durch einen Ring zu zeigen, dass sie gebunden war. June musste lachen bei dem Gedanken an den großen linkischen Mann, der bis vor kurzem versucht hatte, sie zu überreden, dass sie füreinander bestimmt seien. „Kaum. Vor einigen Monaten habe ich die Werkstatt an ihn verkauft.“ Kevin erinnerte sich, wie sehr es ihn überrascht hatte zu hören, dass sie die Besitzerin der Autoreparaturwerkstatt sei. Er hatte allerdings nicht den geringsten Zweifel gehabt, dass sie in dieser Arbeit genauso sattelfest war wie jeder Mechaniker, der in seinem Taxiunternehmen für ihn gearbeitet hatte. „Warum hast du die Werkstatt denn verkauft? Ich hatte den Eindruck, dass du Autos gern wieder flottmachst.“ „Tue ich auch.“ June zuckte die Schultern. Eine Sachlage zu erklären lag ihr nicht. Ihre Gefühle zu erklären lag ihr noch weniger. „Mir schien der richtige Zeitpunkt dafür gekommen zu sein.“ Es waren haargenau seine Worte gewesen, als er Lily sagte, warum er sein Unternehmen verkauft hatte. Angesichts dieser Übereinstimmung musste er lächeln. Es könnte sein, dass er mit diesem Küken mehr gemeinsam hatte, als er vermutete. „Genau wie bei mir.“ „Ja, ich weiß. Du hast dein Taxigeschäft verkauft.“ Sie bemerkte, wie überrascht Kevin war, dass sie davon wusste. Ganz offensichtlich hatte er keine Ahnung, wie das Leben in einer Kleinstadt vor sich ging. Jede Neuigkeit verbreitete sich in Windeseile. June neigte den Kopf näher zu ihm, damit er sie über das Dröhnen der Motoren hören konnte. „Ich bin dabei gewesen, als Lily davon erfahren hat.“ June hatte immer noch mächtig Spaß an der Szene, die ihr wie aus einem Theaterstück vorgekommen war. „Die Nachricht hat sie allesamt völlig umgehauen. Ungefähr so, wie es Max umgehauen hat, als ich ihm erzählte, dass ich die Werkstatt an Walter verkauft habe.“ Sie setzte sich wieder zurück. „Wahrscheinlich haben wir alle ein
bestimmtes Bild vom anderen und sind mächtig verstimmt, wenn der andere sich dann doch nicht so verhält.“ Kevin fand, dass sie redete, als ob sie bereits reichlich Erfahrung im Leben gesammelt hätte. „Für solche Einsichten bist du eigentlich zu jung“, erwiderte er. „Bei mir ist es anders.“ June hatte wieder dieses schräge Lächeln, und Kevin wurde plötzlich ganz heiß. „Richtig“, erwiderte sie mit todernstem Gesicht. „Du bist ein alter Mann. Nur ein wenig jünger als die Berge, stimmts?“ Er war wohl zu weit gegangen. Völlig klein beigeben wollte Kevin allerdings nicht, lediglich ein bisschen einlenken. „Nun ja, wenn du es so ausdrückst…“ June betrachtete ihn von der Seite. Sie wusste, dass er Lilys älterer Bruder war, doch er wirkte nicht älter als Max oder Jimmy. „Wie alt bist du?“ wollte June wissen. Kevin wandte ihr das Gesicht zu und musste blinzeln. Das leuchtende Blau ihrer Augen hatte ihn völlig aus der Fassung gebracht. „Zu alt“ war alles, was er eingestehen wollte. Er war nicht eitel, wenn es um sein Alter ging. Er wollte es nur nicht öffentlich herausposaunen. June hätte sich auch bei jedem seiner Geschwister erkundigen können, um herauszufinden, dass er siebenunddreißig war. Ganze siebenunddreißig Jahre! Dabei konnte er sich nicht mal erinnern, dass er jemals vierundzwanzig gewesen war. Wie kam das? „Dagegen müssen wir etwas tun“, erklärte June. „Hades hat so eine gute Art, die Dinge zu vereinfachen. Irgendwie werden wir alle gleichförmig. Wir passen uns halt an. Aufs Alter bezogen scheinen die Jungen älter als ihr Alter zu sein, und die Alten wirken jünger. Meine Großmutter und ich sind im Prinzip gleichaltrig. Wirklich!“ Jeder wusste, dass Ursula Hatcher, die Postbeamtin am Ort, ein richtiges Satansweib war, die auf den Putz haute, wenn es ihr angebracht erschien, und sich nicht zu schade war für einen Liebhaber, wenn ihr der Sinn danach stand. Sie hatte bereits einige Ehemänner begraben und war neuerdings scharf auf einen Mann mit dem Namen Yuri, einem ehemaligen Bergarbeiter. June lächelte Kevin an. Das Lächeln machte ihre Gesichtszüge sanfter. „Das macht uns alle gleich alt, alter Mann.“ Kevin lachte. Doch er konnte es nicht leugnen. Es gab Zeiten, wo er sich wie ein alter Mann fühlte. Alt, ohne den Luxus gehabt zu haben, jemals jung gewesen zu sein. Die Jahre waren an ihm geradezu vorbeigerauscht, während er mit Arbeit überlastet gewesen war. Und er trauerte dem ein wenig nach. Trauerte, niemals das Gefühl gehabt zu haben, jung zu sein. Es war schon seltsam, aber im Augenblick fühlte er sich plötzlich wieder jung. Und seltsam war auch, dass das irgendwie mit June zu tun hatte. Sei auf der Hut, Quintano! Angeblich soll das eins der ersten Anzeichen sein, dass man tatsächlich ein alter Mann ist. Wenn eine junge Frau einem das Gefühl gibt, jung zu sein. Er schob diese Schnapsidee beiseite, bevor er womöglich etwas sagte, was er bedauern könnte. „Also, welche Änderungen hat es in Hades noch gegeben, außer dass du den Laden verkauft hast und dich nun dem süßen Nichtstun hingeben darfst?“ „So ist das nicht“, belehrte June ihn von oben herab. „Ich kümmere mich um die Familienfarm.“ Noch eine Überraschung, dachte Kevin. „Ich wusste gar nicht, dass die Familie
eine Farm hatte.“ „Wir haben sie immer noch. Sie gehörte meiner Mutter und meinem Vater.“ June hatte nicht die Absicht, ihm lange Erklärungen abzugeben. „Wir haben sie verlassen, als er uns verließ.“ Diese Geschichte war ihm vertraut. Jimmy hatte ihm erzählt, dass Wayne Yearling für seine Wanderlust überall bekannt gewesen sei. Irgendwie hatte er es in Hades erstaunlich lange ausgehalten. Keiner, der ihn kannte, hätte ihm eine solche Ausdauer zugetraut. Schließlich packte ihn dann aber die Abenteuerlust doch wieder, als June noch sehr klein war. June war ohne Vater aufgewachsen. Und da Max nicht so viel älter war als sie, war es ihm nicht möglich gewesen, für seinen Vater einzuspringen, so wie Kevin es bei seinen Geschwistern getan hatte. Er fühlte mit ihr. „Ich nehme an, das ist etwas, was die Yearlings mit den Quintanos gemeinsam haben.“ June kannte auch seine Lebensgeschichte, weil es dieselbe wie Lilys war. „Euer Vater hat euch nicht im Stich gelassen“, korrigierte sie ihn. „Er starb.“ „Manchmal läuft es auf das Gleiche hinaus.“ Die Verlassenheit war im Endeffekt gleich. Und genauso gleich war der tägliche Kampf ums Überleben. June schüttelte störrisch den Kopf. „Euer Vater hat keine Wahl gehabt. Meiner hat sie gehabt.“ „Mein Vater hat seinen Lebenswillen aufgegeben, nachdem meine Mutter gestorben ist“, entgegnete Kevin mit scharfer Stimme. „Er schien nicht recht wahrzunehmen, dass noch mehr Menschen, außer ihm allein, von ihrem Tod betroffen waren. Und dass sein Tod für diese Menschen ein zusätzliches Leid wäre. Er zog es vor, ebenfalls zu sterben.“ Die bitteren Worte hallten in seinen eigenen Ohren wider. Kevin verstummte abrupt und sah June fast entsetzt an. Das hatte er noch nie zuvor mit solcher Klarheit ausgesprochen. Nie zuvor! Obwohl der Gedanke ihn all die Jahre hindurch verfolgt hatte. Nur war er zu beschäftigt gewesen, um sich damit auseinander zu setzen. Nun ja, jetzt war er nicht beschäftigt. Verlegen lachte er auf. „Ich habe nie darüber gesprochen.“ June tat, als ob sie nicht bemerkte, wie unangenehm ihm die Situation war. Doch sie war ja nicht auf den Mund gefallen. Also gab sie ihm die passende Antwort, um dem Moment die Peinlichkeit zu nehmen. „Alaska hat so eine merkwürdige Art, aus den Menschen Eingeständnisse herauszuholen. Wahrscheinlich, weil man hier offener und freundschaftlicher miteinander umgeht.“ Das war eine Erklärung, die Kevin akzeptieren konnte. Jedenfalls klang sie logisch. „Ich setze zum Landen an“, verkündete Sydney und unterbrach damit die Unterhaltung.
3. KAPITEL „Also, was hältst du davon?“ Lily versuchte, nicht zu zeigen, wie aufgeregt sie war, und wies mit einer Handbewegung auf das weite Gelände, wo ihr Restaurant entstehen sollte. Mit dem Bau würde man gleich nach ihrer Rückkehr aus den Flitterwochen anfangen. Sie war so stolz auf das Projekt, dass sie es kaum hatte abwarten können, Kevin hierher zu bringen. June hatte ihn gerade im Haus abgeliefert, als Lily mit ihm und Max auch schon abgebraust war. Sie hatten lediglich einen kurzen Zwischenstopp in der Klinik eingelegt, damit Kevin seine anderen Geschwister, Alison und Jimmy, begrüßen konnte. Mit angehaltenem Atem wartete sie auf Kevins Reaktion. Kevin war viel mehr von Lilys Freude angetan als von dem Gelände, auf dem bald das erste Restaurant von Hades stehen sollte. „Was ich davon halte? Zuerst mal muss ich feststellen, dass ich dich noch nie so aufgeregt gesehen habe.“ Lily lächelte zu Max hoch, der hinter ihr stand und die Arme um ihre Taille gelegt hatte. Sie wirkten, als ob sie schon immer zusammengehört hätten. „Vielleicht ist es das Land, vielleicht sind es die Menschen“, sagte sie und blickte mit schräg gelegtem Kopf wieder zu dem breitschultrigen Sheriff hoch, der sie daraufhin noch enger an sich zog. Diese Vorführung ihrer Verliebtheit war Lily völlig unähnlich, und das helle Tageslicht in dieser Gegend ließ alles noch plastischer erscheinen. Es ging Kevin fast auf die Nerven. Um sich abzulenken, warf er einen kurzen Blick auf seine Uhr. Es war sieben Uhr abends. „Wann wird es hier denn dunkel?“ „Es wird nicht dunkel.“ Daran hatte Lily sich zuerst gewöhnen müssen. Jetzt konnte sie es sich aber nicht mehr vorstellen, einen geregelten Tages- und Nachtablauf zu haben. „Jedenfalls nicht zu dieser Jahreszeit. Oder zumindest nicht so, dass du es wirklich merkst. Die Sonne geht abends um zehn unter und früh morgens um drei wieder auf.“ Kevin runzelte die Stirn. „Und du magst das?“ „Na klar. Helligkeit macht dich glücklicher als Dunkelheit. Oder etwa nicht?“ Max beugte den Kopf. „Vergiss nicht, wie viel Schönes man im Dunkeln machen kann“, flüsterte er in ihr Haar. Kevin hatte ihn gehört. „Nicht, wenn das Dunkel einen deprimiert.“ Die Worte waren heraus, noch ehe er sie überlegt hatte. Lily sah ihren älteren Bruder prüfend an. „Kevin, stimmt was nicht? Von dir gehen unglückliche Schwingungen aus.“ Nun stand es für ihn eindeutig fest. Lily hatte sich geändert, seit sie hier in Hades lebte. Die alte Lily hätte niemals den Ausdruck „Schwingungen“ in ihrem Wortschatz gehabt. Fast hätte Kevin laut aufgelacht, konnte es sich aber glücklicherweise noch verkneifen. „Seit wann redest du denn so blumig?“ Mit der Hand wedelte Lily seine Frage beiseite. Etwas war mit ihrem älteren Bruder nicht in Ordnung, und sie machte sich Sorgen. „Kev, fühlst du dich nicht gut?“ Er sollte sich besser unter Kontrolle halten. Kevin war über sich selbst verärgert. Es gab keine Entschuldigung für sein muffeliges Verhalten, denn er nahm seiner Schwester damit die Freude. Das war nicht fair. Lily sah aus, als ob sie zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich glücklich wäre, und er hatte kein Recht, ihr das zu verderben. Also zwang er sich, fröhlich zu klingen. „Ich fühle mich großartig.“ Und mit einem
kurzen Blick auf Max fügte er hinzu: „Sieht mir ganz danach aus, als ob du endlich gezähmt wirst, Schwesterherz.“ „Zumindest wird es versucht“, berichtigte sie unbekümmert. Kevin grinste seinen zukünftigen Schwager an: „Max, weißt du überhaupt, in was du da hineingeraten bist?“ Max drückte Lily einen Kuss aufs Haar. „Mir ist mal ein Bär in die Quere gekommen. Ich weiß also genau, was ich zu erwarten habe.“ „Eine solche Schmeichelei kann einer Frau leicht den Kopf verdrehen“, bemerkte Lily trocken. Es war zwecklos vorzugeben, dass seine Bemerkung sie gekränkt hätte. Sie war viel zu glücklich, um so etwas vorzutäuschen. Ihre ganze Familie war hier mit ihr, und es sah ganz danach aus, als ob sie endlich beruhigt ihrer Zukunft entgegensehen konnte. Waren das nicht Gründe genug, glücklich zu sein? Sie warf ihrem Bruder dennoch einen anklagenden Blick zu. „Du hast mir noch immer nicht gesagt, was du von unserem Restaurant hältst.“ Das Restaurant würde auf einer Anhöhe stehen mit Blick auf die Berge in der Ferne und mit Aussicht auf den Fluss, der sich durchs Tal schlängelte. Jetzt überzog ein samtener grüner Teppich das Gelände, so weit das Auge sehen konnte. „Es wird Wände brauchen.“ Lily versetzte ihrem Bruder einen Rippenstoß. „Ich meinte den Standort. Schau auf die Aussicht, Kev.“ Ihre Stimme klang fast ehrfurchtsvoll. „Ist es nicht herrlich?“ „Atemberaubend“, stimmte er ihr zu. Doch wie würde die Aussicht im Winter sein, wenn alles unter Schnee begraben lag? Kevin verbiss sich die Frage und lächelte lieber. Dann umarmte er sie impulsiv. „Ich bin glücklich für dich“, sagte er und sah Max an und auch Jimmy, der inzwischen zu ihnen gestoßen war. „Für euch alle.“ Es klang, als ob er sich selbst ausgeschlossen hätte. So als ob er von ihnen durch einen Zaun getrennt wäre, und sie alle auf der einen Seite glücklich waren, während er allein auf der anderen Seite nicht glücklich war. Lily war dieses Gefühl vertraut. So hatte sie sich gefühlt, bevor sie Seattle verließ. Sie war nicht nach Alaska gekommen, weil sie sich zu Hause nicht wohl gefühlt hätte, sondern um dem Liebeskummer zu entfliehen. Und dann war sie Max begegnet. Lily kam eine Idee. „Max, meinst du nicht auch, wir sollten es in den allernächsten Tagen tun?“ Max hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Aber er machte zum Spaß mit. „In den nächsten Tagen tun? Ach ja! Bist du sicher, dass es jetzt schon sein soll?“ Sie waren sich wirklich einig, und Lily liebte Max von ganzem Herzen dafür und für eine Million anderer Dinge dazu. „Ich bin sicher.“ An Kevin gewandt sagte sie: „Wir nehmen dich zu Salty mit.“ Dass er fieberhaft nach einer Entschuldigung suchte, war Kevin anzusehen, doch ihr Bruder musste unter Menschen kommen, das brauchte er sehr. Und Lily hatte einen Plan. Sie musste nur noch die Details ausarbeiten. „Das ist in Hades Tradition. Wenn jemand hierher kommt und länger als eine Woche bleibt, muss er in der einzigen Kneipe am Ort eine Party haben.“ „Ich war schon zu Jimmys Hochzeit hier“, erinnerte Kevin sie. „Damals gab es keine Party.“ Lily ließ sich nicht so schnell beirren. „Du bist damals zur Trauung gekommen und gleich danach wieder zurückgeflogen. Da war keine Zeit für die Party. Aber jetzt haben wir Zeit.“ Sie lächelte ihn an. „Wir möchten so gern mit dir angeben.“ Kevin wollte nicht herumgereicht werden. Er wollte sich duschen und für den
Abend sich selbst genug sein. Und er wollte sich nur dem angenehmen Gefühl hingeben, den Rest seiner Familie in Reichweite zu haben. „Ich bin müde, Lily.“ Lily hatte nicht vor, ihn mit einer solch lahmen Entschuldigung davonkommen zu lassen. Sie hakte sich bei ihm ein. „Das nehme ich dir nicht ab, großer Bruder. Du würdest dich doch einer Tradition nicht widersetzen, oder? Das bringt kein Glück. Die Grubenarbeiter sind sehr abergläubisch. Sie würden es nicht freundlich aufnehmen, wenn du dich von ihrer Tradition abkehrst.“ Kevin seufzte. „Ich möchte die Männer nicht aufregen“, lenkte er ein. „Wer wird denn da sein?“ „Alle“, antwortete Max. „Eigentlich ist gar nicht ausreichend Platz für so viele Leute da. Aber es ist noch immer warm genug für die Männer, um sich draußen aufzuhalten.“ Kevin zog die Augenbrauen hoch. Sogar er wusste, wie unberechenbar die Temperaturen hier in Alaska waren. Es war zwar August, und wenn die Sonne auch rund um die Uhr förmlich am Himmel zu kleben schien, so konnte das Thermometer dennoch ohne Vorwarnung auf fünf Grad fallen. Das Ganze behagte ihm nicht, aber es war nicht angesagt, Lilys Pläne zu durchkreuzen. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, blieb sie auch dabei. Also fügte er sich. „Ich mache, was immer du sagst, Lily.“ Es wimmelte von Menschen, und der Lärm war dementsprechend. Das Stimmengewirr mischte sich mit Musik, und der Geruch von Alkohol und Zigarettenrauch hing schwer in der Luft. Kevin wandte sich an June, die ihn abgeholt hatte, weil Lily ganz plötzlich verhindert gewesen war. Jedenfalls hatte sie das als Erklärung angegeben. „Bist du sicher, dass das eine Party ist und keine Massenversammlung?“ June schüttelte lachend den Kopf, während sie sich durch das Gewühl drängelte, Kevin im Gefolge. „Es ist eine Party“, versicherte sie und warf ihm einen fragenden Blick über die Schulter zu. „Wie wärs mit einem Drink?“ Eigentlich fand sie, dass Kevin ein gut aussehender Mann war. Bei Jimmys Hochzeit hatte sie ihn sogar für den bestaussehenden Mann gehalten, dem sie jemals begegnet war. Mit seinem pechschwarzen Haar, das er ein wenig zu lang trug, mit seinen grünen Augen und den hohen Wangeknochen ähnelte er seinem Bruder Jimmy. Nur war er noch attraktiver. Ein Drink war genau das, was er im Moment brauchen konnte. „Etwas zu trinken wäre okay“, antwortete er. „Dann folge mir.“ Sie nahm ihn bei der Hand und bahnte für sich und Kevin einen Weg durch das Gewühl zur Bar. „Was hättest du denn gern?“ fragte sie ihn laut über den Krach hinweg. „Wie bitte?“ Ihre Stimme war also nicht laut genug gewesen. June blieb stehen und drehte sich zu Kevin um. An diesem Abend trug sie ihr Haar offen, auch wenn sie sich nicht umgezogen hatte. „Was hättest du gern?“ wiederholte sie. Dich. Die stumme Antwort erwischte Kevin wie aus heiterem Himmel. Wie zum Teufel war er darauf gekommen? Du meine Güte, June war doch noch ein Kind. Um sich wieder zu fangen, räusperte er sich und sagte: „Scotch mit Soda.“ June nickte, und eine Strähne fiel ihr dabei ins Gesicht. Kevin musste sich zusammennehmen, sonst hätte er ihr das Haar aus der Stirn gestrichen. Noch immer hielt June seine Hand umfasst, und er steckte die andere Hand tief in seine Hosentasche. Irgendwie fühlte er sich auf diese Weise sicherer. Kurz vor der Bar stieß June auf Widerstand. Der Mann zu ihrer Rechten rührte
sich nicht vom Fleck. Groß und muskulös stand er da, beanspruchte mehr Raum für sich als die anderen und lachte, als June ihn dazu bringen wollte, sie durchzulassen. Das ärgerte June. „Hey, Haggerty, mach Platz für unseren Ehrengast.“ Der Mann grinste auf sie herunter. „Lieber möchte ich Platz für dich machen, June. Sagen wir mal – so viel?“ Er hielt die Hände einen knappen Zentimeter auseinander, um ihr deutlich zu machen, was er wirklich meinte. Kevin machte einen Schritt auf ihn zu, doch June drückte seine Hand zur Warnung. Er bemerkte, wie sie sich versteifte. „Nur, wenn du Sopran singst, Haggerty.“ Sein Grinsen wurde noch breiter. „Oh, einige Minuten mit dir, June“, erwiderte er großmäulig, „und ich könnte dir noch in anderen Tönen was vorsingen.“ Kevins Beschützerinstinkt war augenblicklich erwacht. „Die Lady bat Sie, sie durchzulassen.“ Er ignorierte Junes warnenden Blick und schob sie beiseite. „Ich schlage vor, Sie kommen ihrer Bitte nach, solange Sie noch fähig sind, es freiwillig zu tun.“ Haggertys Grinsen bekam einen aggressiven Zug. Er musterte Kevin spöttisch von oben bis unten. Kevin hatte keine Ahnung, was in dem Mann vor sich ging, aber ihm war klar, dass er nicht vorhatte, einen Rückzieher zu machen. Und dann schnaubte Haggerty. „Bringt kein Glück, gleich am ersten Abend den Ehrengast zusammenzuschlagen.“ Er leerte sein Glas und setzte es mit einem Knall auf die Theke. „Werde wohl darauf warten müssen.“ Kevin wich seinem Blick nicht aus. „Das soll mir nur recht sein.“ Plötzlich war Ike, der Besitzer, auf der anderen Seite der Theke und stellte ein großes Glas mit dunklem Bier vor den Grubenarbeiter. „Geht auf Kosten des Hauses“, bot er an. „Aber nur, wenn du es dort drüben trinkst.“ Er wies auf eine Lücke am anderen Ende der Kneipe. Haggerty schnappte sich das Glas mit einem fast freundlichen Gesichtsausdruck. „Ich sage nie Nein, wenn ich was gratis bekomme.“ Ike beobachtete Haggerty, bis er außer Hörweite war, dann wandte er sich Kevin und June zu, während er einen Wasserfleck vom Tresen wischte. „Was solls sein?“ „Scotch mit Soda“, bestellte Kevin. Ike holte unter der Theke den guten Whisky hervor goss ihn mit dem Sodawasser in ein Glas und schob ihm den Drink zu. „Einen kleinen Rat werden Sie mir nicht verübeln, Kevin. Das nächste Mal suchen Sie sich bitte jemanden in Ihrer Größe aus“, warnte er. „Keinen Gorilla.“ Kevin hob das Glas. „Er hat June belästigt.“ June drückte die Schultern durch. Mit ihren ein Meter achtundfünfzig war sie nicht nur die Jüngste, sondern auch die Kleinste in der Familie, und sie fühlte sich schnell beleidigt, wenn jemand darauf anspielte. „Ich kann damit selbst fertig werden.“ Kevin zog es vor, darüber nicht zu streiten. „Hat er dir früher schon mal Ärger gemacht?“ erkundigte er sich. Trotz der trüben Beleuchtung in der Kneipe konnte June in seinem Blick förmlich lesen, was ihm gerade durch den Kopf ging. Und sie fand, dass er eine Erklärung verdient hatte. „Kevin, die Männer sind den Frauen hier in Hades zahlenmäßig weit überlegen, so etwa sieben zu eins, und die Winternächte hier können sehr einsam machen.“ Sie zuckte wieder die Schultern. „Manchmal werden die Männer ein wenig zudringlich. Bis jetzt hat aber noch keiner eine Frau genötigt, wenn es das ist, was du denkst. So geht es hier bei uns nicht zu.“
June ist noch so jung und unschuldig, dachte Kevin, aber die Welt ist leider anders. „So kann es überall zugehen“, gab er zu bedenken. Sie schüttelte belustigt den Kopf. „Typisch für einen Mann aus der Großstadt.“ „Typisch für einen Mann, der herumgekommen ist und weiß, dass die menschliche Natur nicht immer so nett ist, wie sie sein sollte.“ June sah ihn nachdenklich an. „Warum tust du das?“ Kevin konnte ihr nicht folgen. „Was tue ich?“ Sie wedelte ungeduldig mit der Hand. „Warum redest du, als ob du ein alter Mann wärst?“ Das verschlug Kevin förmlich die Sprache. „Na, ja…“ „Du bist kein alter Mann. Ich dachte, wir hätten das im Flugzeug bereits geklärt.“ „Also…“ Kevin blickte sie überrascht an. Komisch, June gab ihm das Gefühl alt und jung zugleich zu sein. Er war um einiges älter als sie, und das war nun mal nicht zu ändern. „Im Vergleich zu dir bin ich es.“ June war es über, ständig als das Baby betrachtet zu werden. Sie hatte bereits ihr eigenes Unternehmen geführt, und als sie es verkaufte, hatte sie sogar guten Profit gemacht. Jetzt war sie dabei, eine zweite Karriere zu starten. Was musste sie denn noch tun, um den Leuten zu beweisen, dass sie eine erwachsene Frau war? „Ich bin kein Kind.“ Kevin lächelte sie an. „Das habe ich nicht behauptet.“ Sie mochte es überhaupt nicht, wenn man ihr nachgab oder sie von oben herab behandelte. Seine Nachsicht ging ihr mächtig auf den Geist. „Ich kann auf mich selbst aufpassen.“ Kevin nickte. „Das hast du bereits gesagt.“ Er ging June wirklich auf die Nerven, und sie musste sich zusammennehmen, um ihn nicht wütend anzufahren. Irgendwie wurden sie beide von der Menge in Richtung Tür geschoben. Sie hatten es nicht mal gemerkt, aber plötzlich standen sie draußen. June holte tief Luft und beruhigte sich wieder. „Also gut, antworte mir. Warum bist du so traurig?“ Darüber konnte Kevin nur den Kopf schütteln. „Du nimmst kein Blatt vor den Mund, was?“ „Unser Leben hier unterscheidet sich von dem Leben anderswo. Wir haben hier Erdbeben, Lawinengefahr und leiden nicht selten unter dem Gefühl der Beengtheit. Vielleicht gehen wir deshalb ehrlicher miteinander um. Wir beschönigen nichts.“ Sie warf ihm einen missbilligenden Blick zu. „Aber du weichst der Frage aus. Warum bist du so traurig?“ June war ein wenig aufdringlich, wie Kevin fand. Doch sie sah ihn auf eine Weise an, dass er Schwierigkeiten hatte, seine Gedanken zu sammeln. „Ich bin nicht traurig.“ „Jetzt lügst du“, rügte sie. „Na dann. Du musst mir nicht antworten. Ich bin für dich ja bloß eine neugierige Fremde.“ Kevin wollte nicht, dass sie annahm, er würde in ihr tatsächlich eine Fremde sehen. „Meine ganze Familie ist hier. Ich vermisse sie sehr. Das ist alles.“ „Dann bleib doch hier.“ Sie war wirklich jung – beneidenswert jung. „Die Dinge sind nicht so einfach“, gab er zu bedenken. Diese Antwort gab den endgültigen Ausschlag für June, Kevin zu mögen. Und sie entschied, dass er ihre Hilfe brauchte. Sie musste ihn ein wenig aufheitern, sonst würde er tatsächlich vorzeitig alt werden.
4. KAPITEL June wusste, dass sie die Grenzen des Taktes übertreten würde. Wenn sie aber Kevin helfen wollte, musste sie eine Antwort auf ihre Frage haben. „Gibt es eine Frau in Seattle?“ „Wie bitte?“ Kevin war wie vom Donner gerührt. Ging das nicht ein wenig zu weit? June lächelte belustigt. „Ob es eine Frau gibt, meine ich. Eine weibliche Begleiterin. Eine sanftere Version von dir“, fügte sie hinzu, als er noch immer nicht reagierte. „Hast du eine Freundin in Seattle, um es klar zu sagen.“ Kevin hatte keine Ahnung, warum er sich so zusammenreißen musste, um June nicht einfach an sich zu ziehen. „Nein. Warum willst du das wissen?“ War das nicht offensichtlich? Weshalb sah er sie so seltsam an? Glaubte er womöglich, dass sie an ihm interessiert sei? So persönlich war ihre Frage nun auch nicht gemeint. „Na ja, mir fällt sonst kein anderer Grund ein, warum du nicht hier in Alaska bleiben könntest. Du hast das Taxigeschäft verkauft. Du hast mir gerade erzählt, dass deine ganze Familie hier ist und dass du deine Geschwister vermisst. Eigentlich sollte man annehmen, du seist ungebunden.“ Und mit einem aufmunternden Lächeln setzte sie hinzu: „Du musst es nur wollen.“ Oh, wann war sein Leben jemals so leicht für ihn gewesen? Kevin konnte sich nicht erinnern. Wohl niemals. „Du bist zweiundzwanzig, nicht?“ Weil er Lilys und Jimmys Bruder war, unterdrückte June den Impuls, ihm eine flapsige Antwort zu geben. Es gelang ihr sogar, in ruhigem Ton darauf einzugehen. „Mein Alter hat nichts damit zu tun. Ich bin alt geboren.“ Er blickte in ihr junges, herzförmiges Gesicht mit der makellosen Haut und dem trotzig vorgeschobenen Kinn und musste lächeln. „So alt wirkst du nicht auf mich.“ „Das könnte ich auch von dir behaupten.“ Sie lächelte zurück. „Du solltest mich ein wenig kritischer betrachten. Wir haben zwar Tageslicht, deine Augen könnten dir aber trotzdem einen Streich spielen.“ Kevin bezweifelte das. Er hatte noch nie zuvor eine so makellose Haut gesehen. Diese kleine Kratzbürste hier könnte gut im Fernsehen Werbung für Seife machen. „Nein, keinen Streich“, erwiderte er. Seine Augen waren in Ordnung, was man von seinem jagenden Puls allerdings nicht behaupten konnte. „Du siehst so kindhaft unverdorben aus, als ob das Leben dich noch nicht in der Mangel gehabt hätte.“ Damit hatte er June ganz offensichtlich an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen, denn sie musterte ihn herablassend und sagte schließlich gedehnt: „Wenn du dich da mal nicht irrst, alter Mann.“ Dann wurde ihr Ausdruck – langsam, fast zögernd – ernst. Plötzlich hatte June das Gefühl, dass es nur Kevin und sie gab. Alles um sie herum trat in den Hintergrund. Einen Moment lang verschlug es ihr regelrecht den Atem. Sie brauchte eine ganze Weile, um sich wieder zu finden, und noch eine, um ihre Stimme zurückzugewinnen. Und weil sie die Verwirrung ihrer Gefühle vertuschen wollte, legte sie einfach drauflos: „Also, wie ist's nun? Küsse ich dich, oder küsst du mich?“ Wie sehr Kevin genau das wollte, wurde ihm erst in diesem Moment klar. Er wollte June küssen, wollte ihre Lippen auf seinen Lippen fühlen. Dennoch schüttelte er den Kopf. „Wir sollten es lieber lassen. Wenn ich dich küsse, werde ich wegen Kindesverführung angeklagt werden. Und wenn du mich küsst, gibt es
einen Aufstand.“ Er wies mit dem Kinn auf die Männer im Salty, die sie durch die geöffnete Tür scharf beobachteten. Das war deutlich genug, obwohl die Männer so taten, als interessierte die Situation sie nicht im Geringsten. Junes Herz klopfte noch immer vor Erwartung. Seinem Argument musste sie sich fügen, über ihr Herz hatte sie keine Gewalt. „Angst?“ fragte sie herausfordernd und schwang mit einer Kopfbewegung ihr langes offenes Haar auf den Rücken, was Kevin unglaublich sexy fand. Damit drehte sie sich um und ging auf den Eingang zu. „Dein Pech“, bemerkte sie extra laut, so dass auch andere sie hörten, und klang dabei recht unbekümmert. Ja, dachte Kevin mit einem fast schmerzlichen Bedauern, mein Pech. Konnte man aber etwas vermissen, was man niemals gehabt hatte? June zu küssen würde vermutlich genügen, ihm noch bewusster zu machen, wie viel er in seinem Leben vermisst hatte. Und auch weiter vermissen würde. Doch es war besser, wie es war. Also sah er June nach, wie sie sich einen Weg durch das Gedränge ins Salty bahnte, und folgte ihr. Drinnen machte er sich sogleich auf die Suche nach einem vertrauten Gesicht, um ein wenig zu plaudern. Kevin beobachtete June fast den ganzen Abend über. In einem Raum, der gerammelt voll und in dem die Luft zum Schneiden war, war es schon bemerkenswert, dass er sich so ausschließlich auf sie konzentrieren konnte. Sie hatte wie seine Schwester blondes Haar. Nur war Alisons Haar kurz und lockig, während Junes Haare lang und glatt waren. Und es kam Kevin so seidenweich und glänzend vor, dass es auf ihn wie gesponnenes Mondlicht wirkte. Er überlegte, ob er jemals eine Frau gesehen hatte, die so schön war. Nein, vor June noch keine. Kevin starrte in sein zweites Glas Scotch mit Soda. Irgendwie fühlte er sich berauscht, dabei war das eigentlich nicht möglich. Es sei denn, Ike hatte seinem Drink etwas beigemischt. Obwohl im Raum immer noch ohrenbetäubender Lärm herrschte, hätte er schwören können, dass er June lachen hörte. Er fragte sich, wer der Mann wohl war, mit dem sie gerade redete. Im Laufe des Abends hatte es eine förmlich endlose Parade von Männern gegeben, die Junes Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versuchten. Und sie alle schienen viel mehr vertraut mit ihr zu sein, als er es war. Das war natürlich logisch, doch an diesem Abend stand Kevin der Sinn nicht nach logischen Überlegungen. Der Haken an der Sache war nämlich, dass er June küssen wollte. Wann hatte er eigentlich zuletzt eine Frau geküsst? Verdammt, es war lange her. Zu lange. Du bist im Urlaub, warnte Kevin sich. Nichts, was in diesen drei Wochen passierte, würde in einem Monat noch eine Rolle spielen. In knapp drei Wochen würde er zurück nach Seattle fliegen. Er würde zu seinem alten Leben zurückkehren und wieder der standhafte, verlässliche Kevin Quintano sein, was er im Augenblick reinweg zum Kotzen fand. Wieder nahm er einen tiefen Schluck aus seinem Glas und wurde plötzlich hellwach. Sie brach auf! June schlenderte nicht zu einem weiteren Verehrer hin, sie ging zielbewusst auf die Tür zu. Kevin wollte sie einholen. Er warf einen Blick auf Yuri, den alten russischen Grubenarbeiter, der seit einer
Viertelstunde ununterbrochen auf ihn eingeredet hatte und der, wie man Kevin informiert hatte, der derzeitige Liebhaber von Junes Großmutter war. Kevin entschuldigte sich kurz. „Tut mir Leid. Da ist jemand, dem ich noch unbedingt etwas sagen muss.“ „Na klar, mein Freund, geh nur. Beeil dich!“ Das klang eher wie ein Befehl. Kevin erreichte die Tür, als June gerade ins Freie treten wollte. Er legte die Hand auf ihre Schulter, und June fuhr herum. „Gehst du schon?“ Überrascht sah June ihn an. Sie war sicher gewesen, dass sie Kevin an diesem Abend nicht mehr sehen würde. „Ich muss morgen früh aufstehen“, antwortete sie knapp. Doch sie hatte Kevin hierher gebracht. „Ich dachte, dass April und Jimmy dich nach Hause bringen“, fühlte sie sich verpflichtet hinzuzufügen. Kevin spürte die eisige Kälte, die von ihr ausging. Er musste allerdings zugeben, dass er es verdient hatte. Unsicher wies er mit dem Kinn zum Parkplatz hinüber. „Darf ich dich begleiten?“ Sie brauchte niemanden, der sie zu ihrem Wagen begleitete. „Ich bin schon immer selbst…“ Kevin ließ June nicht aussprechen, nahm ihren Arm und führte sie hinaus. „Wirst du es nicht müde, immer wieder zu betonen, wie unabhängig du bist?“ Nun ging er aber wirklich zu weit. Wie kam er dazu, sie zurechtzuweisen? „Nein“, entgegnete sie dickköpfig. „Es gibt Menschen, die haben die Angewohnheit zu vergessen, dass ich unabhängig bin, weil ich ja noch immer mit dem Siegel ,kindhaft und unverdorben’ herumlaufe.“ Sie warf ihm einen bösen Blick zu. „So ähnlich hast du dich doch ausgedrückt, oder nicht?“ Jawohl, er hatte Recht gehabt. June war schon den ganzen Abend wütend auf ihn gewesen. Wahrscheinlich hatte er sie beleidigt, weil er sie nicht geküsst hatte. Dabei hatte ihm nichts ferner gelegen, als sie zu beleidigen. „Ja, so ungefähr habe ich es gesagt.“ Eine Entschuldigung war wirklich angebracht, wie er fand. „Ich habe bei dir wohl keinen guten Start gehabt.“ „Du hast überhaupt keinen Start gehabt“, konterte sie giftig. Kevin ließ sich von ihren funkelnden Augen nicht beirren. „Aber warum habe ich dann den Eindruck, dass du auf mich sauer bist?“ June marschierte auf ihren Wagen zu. „Das bin ich nicht.“ „Bei einer Sache bin ich schon immer gut gewesen“, bemerkte er nachsichtig. „Jemanden beim Lügen zu erwischen.“ June fuhr wie von der Tarantel gestochen zu ihm herum. „Also bin ich nicht nur ein Baby, ich bin auch noch eine Lügnerin, willst du das sagen?“ Kevin mangelte es an Schlagfertigkeit, dafür war er jedoch ehrlich. „Diese Diskussion hier führt zu nichts“, meinte er beschwichtigend. „Vielleicht soll es auch zu nichts führen.“ Sie riss die Fahrertür ihres Wagens auf .Je früher sie wegkam, desto besser. Kevin griff nach ihren Schultern und drehte June zu sich herum. „Vielleicht sollte es das aber doch.“ June stand dicht vor ihm. So dicht, dass er ihren Atem spüren konnte. So dicht, dass sich ihm sehr dumme – ja, geradezu verwegene Gedanken aufdrängten. „Wenn du mir nachträgst, dass ich dich nicht geküsst habe…“ Verflixt, er hatte den falschen Knopf gedrückt. Oder den richtigen. Es hing ganz davon ab, wie man es betrachtete. Wie auch immer, sie blitzte ihn aus ihren blauen Augen wütend an… und sein Herz schmolz dahin. Mit einem Ruck befreite June sich aus, seinem Griff. „Das würde dir so passen. Du hältst verdammt viel von dir, nicht wahr, Quintano?“
„Nein“, antwortete Kevin ruhig und sah June in die Augen. „Ich halte sehr viel von dir. Sehr viel“, gestand er leise und ohne Hintergedanken. Zärtlich legte er seine Hände wieder auf ihre Schultern und hielt sie fest. Sanft. Sehr sanft. Kurz darauf neigte er den Kopf und streifte mit den Lippen leicht über ihren Mund. Weich, sehnsüchtig. So zärtlich, dass es fast schmerzte. Ihr ganzes Leben lang hatte June versucht, stark und unnachgiebig zu sein. Sie wollte ein Kerl sein, was ihr fast gelang – bis auf die Kurven. Und die spielte sie mit den übergroßen Jeans und den weiten Overalls herunter. Dieses alberne Geplänkel zwischen den Geschlechtern war das Letzte, was sie mitmachen wollte. Sicher, ihr Bruder und ihre Schwester schienen jetzt glücklich zu sein, viel glücklicher, als sie ihre Mutter jemals gesehen hatte. Und ihre Großmutter war nie glücklicher, als wenn sie gerade mit einem Mann liiert war. Aber das war nicht ihr Weg. Sie würde sich nicht in etwas hineinziehen lassen, was sie bis ins Tiefste ihrer Seele verwunden könnte, so wie es bei ihrer Mutter gewesen war, als ihr Vater sie verlassen hatte. So etwas würde ihr nicht passieren. Niemals! Wenn sie einen Mann küsste, dann küsste sie ihn zu ihren Bedingungen, um dann unbeeindruckt, frei und ungebunden wieder zur Tagesordnung überzugehen. So war es immer gewesen, ohne Ausnahme. Nur war es jetzt nicht so. Dies hier geschah nicht zu ihren Bedingungen, und von dem Moment an, wo sie Kevins Lippen auf ihrem Mund gespürt hatte, war sie nicht mehr gelangweilt oder gleichgültig. Dieses Mal schmolz sie dahin. Die Zärtlichkeit, die in seinem Kuss lag, brach die harte Schale auf, mit der June sich umgeben hatte, und ihre Knie wurden weich. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, so dass sie die Arme um Kevins Hals legen musste, um sich an ihm festzuhalten. Sonst wäre sie ihm womöglich vor die Füße gesunken. Und als der Kuss sich ganz unplanmäßig vertiefte, erregte er sie beide so, dass sie sich nicht mehr voneinander losreißen konnten. June schmeckte so gut. Sie schmeckte nach all dem, was verboten war. Nach all dem, was Kevin sich diese langen Jahre über versagt hatte. Nach all dem, was er vermisst hatte. Ohne es zu beabsichtigen, küsste er sie härter und intensiver. Und dann spürte er plötzlich, wie er in einen Abgrund fiel, der so unendlich war wie das Nordlicht.
5. KAPITEL „Er küsst sie!“ Yuri winkte Ursula aufgeregt zu sich ans Fenster. Sie hatte gerade ihre Runde gemacht und sich von Max und April als die Letzten verabschiedet. „Schnell, Ursula. Du verpasst sonst was.“ Er winkte sie wieder herbei. Ursula bahnte sich einen Weg durch die Menge und bewegte sich dabei schneller und anmutiger als so manche Frau, die vielleicht nur halb so alt war wie sie. Von diesem Fenster aus konnte Yuri den Parkplatz überblicken, wo June und Kevin standen und so ineinander vertieft waren, dass sie die Welt um sich herum gar nicht wahrnahmen. Ursula stellte sich vor Yuri. „Na endlich.“ Sie nickte anerkennend. „Attraktiver Bursche.“ Sie drehte sich zu Yuri um, als das Paar auf dem Parkplatz voneinander abrückte. „Diese Möglichkeiten müssen genutzt werden.“ Sie nickte wie zur Bestätigung ihrer Worte. „Was kann schon falsch daran sein, einem zögernden Paar einen Stups in die richtige Richtung zu geben?“ „Und wenn sie es nicht wollen?“ Yuri wusste bereits die Antwort darauf. Die Postbeamtin von Hades war dafür bekannt, dass sie bei unentschlossenen Paaren, die ihrer Meinung nach zusammengehörten, das Tempo anzukurbeln wusste. Ursula zuckte nur mit den Schultern. „Hab ich es nicht bei April und Jimmy auch geschafft?“ Yuri warf der Liebe seines Lebens einen wissenden Blick zu und strich ihr zärtlich über die Wange. „Es gibt Dinge, Ninotschka, die nicht mal du kontrollieren kannst.“ Kevin musste eigentlich Luft holen. Doch er zögerte es hinaus, er konnte sich von June nicht trennen. Luft war bei weitem nicht so süß, so berauschend, wie sie zu küssen. Sachte, June, sachte! warnte sie sich. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie meinen, sie hätte soeben ein Erdbeben erlebt. Der Boden unter ihren Füßen bot plötzlich keinen Halt mehr. June gelang es als Erster, den Kuss zu beenden. Sie atmete tief durch. „So viel hältst du also von mir“, murmelte sie. Weil sie nicht wollte, dass Kevin mitbekam, wie berauschend sein Kuss gewesen war, kam sie auf das zurück, was er zuletzt gesagt hatte. June machte sich nichts vor. Ihr war klar, dass sie jung und absolut nicht so erfahren war, wie sie immer tat. Doch sie musste nicht das extravagante Leben ihrer Großmutter führen, um zu wissen, dass sie soeben etwas Einmaliges erlebt hatte. Ihre Knie waren noch immer weich, und sie griff nach der Fahrertür, um sich daran festzuhalten. Schließlich zwang sie sich zu lächeln und räusperte sich dann. „Ich sollte mich lieber auf den Weg machen. Jimmy bringt dich nach Hause.“ Warum fühlte sie sich so wunderbar erfüllt und so traurig zugleich? Und warum war ihr nach Lachen und Weinen gleichzeitig zu Mute? Warum wollte sie bleiben und im selben Augenblick fliehen? Kevin machte einen Schritt von ihr zurück, dabei zog es ihn eigentlich zu June hin. Er wollte sie wieder küssen. Das macht die Einsamkeit, hielt er sich vor. Und June war schön und reizvoll, obwohl sie alles tat, um nicht so zu wirken. „In Ordnung.“ Er wies mit dem Daumen über seine Schulter auf die Kneipe hinter ihnen, in der noch immer ein heftiges Spektakel herrschte. „Ich mache mich auf
die Suche nach Jimmy.“ June nickte und stieg in ihren Geländewagen. Sie hoffte nur, dass keiner sie beobachtet hatte. Wenn ja, dann würde sich das verheerend auf ihren Ruf auswirken. Es wäre nicht leicht vorzugeben, dass ihr die Männer und die Liebelei völlig egal waren, wo sie sich soeben von einem Mann nur allzu willig hatte umarmen und küssen lassen. Und nun bedauerte sie, dass es vorbei war. Als ob sie diese Gedanken verdrängen wollte, gab June Gas und fuhr mit dröhnendem Motor in die Nacht hinaus. Kevin saß an dem soliden Holztisch und trank aus einem Becher Kaffee, als Jimmy verschlafen in die Küche stolperte. „Warum bist du nicht im Bett?“ „Kann nicht schlafen“, murmelte Kevin. Er konnte wirklich nicht schlafen. Er versuchte, sich einzureden, dass es die Zeitumstellung sei. Der Flug von Seattle nach Anchorage war jedoch nicht so lang gewesen, und außerdem war er in derselben Zeitzone geblieben. Also konnte das keine Erklärung für seine Schlaflosigkeit sein. Auch dass die Sonne nie ganz untergehen wollte, bevor sie sich wieder voll am Himmel zeigte, schien kein Grund zu sein. Im Grunde wusste er, warum er nicht schlafen konnte, doch bestimmt würde er es nicht aussprechen, denn sein Innenleben preisgeben, das wollte er auf keinen Fall. Kevin wies mit dem Kinn auf die Kaffeemaschine, die auf dem Küchentresen stand. „Ich habe Kaffee gemacht.“ Jimmy war schon dabei, den Kaffee in einen Becher zu gießen. Er lachte und setzte sich seinem Bruder an den Tisch gegenüber. Es ist wie in alten Zeiten, dachte er und nahm einen tiefen Schluck von dem schwarzen Gebräu. „Schmeckt wie früher“, sagte er mit dem Anflug eines Lächelns. „Stark genug, um einen Herzkoller zu kriegen.“ Kevin schüttelte den Kopf und stellte seinen Becher auf den Tisch. „Scheint eine Ewigkeit her zu sein.“ Jimmy schaute seinem Bruder prüfend ins Gesicht. „Warum hast du den Laden eigentlich verkauft?“ Kevin zog die Brauen zusammen und blickte weg. „Mir schien…“ „Wiederhol nicht den gleichen Mist, den du Lily erzählt hast.“ Jimmy wollte den wahren Grund hören. „Du hast das Taxiunternehmen geliebt.“ „Nein“, widersprach Kevin entschieden. „Ich habe euch alle geliebt. Das Taxiunternehmen hat nur geholfen, damit wir zusammenbleiben konnten, das ist alles. Nun, da wir alle getrennt sind…“ Er stockte. Was sollte er noch groß darüber sagen? Jimmy hatte seinem Bruder gegenüber schon immer ein schlechtes Gewissen gehabt. Kevin hatte seine eigenen Wünsche stets hintangestellt, so dass alle Geschwister ihren Träumen nachgehen konnten. „Dann zieh hierher“, drängte Jimmy. „Ich meine, du hast ja in Seattle nicht gerade etwas zu verlieren.“ Er unterbrach sich, weil ihm plötzlich klar wurde, dass er zu viel voraussetzte. „Du hast doch nicht…? Ich meine, es gibt doch keine Frau, die dich geangelt hat, seit wir weg sind, oder?“ Kevin lachte. „Nein, es gibt keine Frau. Aber die Dinge sind auch nicht so einfach.“ Das konnte Jimmy nicht finden. „Du musst es nur wollen.“ Dieser Satz war wie ein verspätetes Echo. „Komisch, genau das hat June auch schon gesagt.“ „Hat sie das wirklich?“ Jimmy versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, auch
wenn es ihm schwer fiel, denn Ursula hatte bereits der ganzen Familie erzählt, was sie vergangene Nacht gesehen hatte. Also blickte Jimmy angespannt in seinen Becher. „Ein hübsches Mädchen, diese June.“ „Hab ich nicht gemerkt“, murmelte Kevin. Jimmy setzte seinen Becher mit gerunzelter Stirn ab, ging um den Tisch herum zu seinem Bruder und legte den Finger an seinen Puls. Kevin zog abrupt die Hand zurück und sah seinen Bruder etwas verwirrt an. „Was soll das?“ „Ich wollte sehen, ob du gestorben bist“, antwortete Jimmy spöttisch. Kevin seufzte. „Okay, okay, ich habs gemerkt. Ich habe gemerkt, dass sie sehr hübsch ist“, verbesserte er sich. „Ich habe aber auch gemerkt, dass sie gerade erst aus dem Teenageralter raus ist.“ „Drei Jahre darüber, das ist wohl kaum ,gerade erst’.“ „Aber ich bin siebenunddreißig.“ Kevins Stimme klang verärgert. „Worauf willst du hinaus?“ Jimmy machte sich auf das Hin und Her gefasst, das nun folgen würde, und hätte am liebsten gestöhnt. „Worauf ich hinauswill, das ist ganz einfach. Ich will dir klar machen, dass June schneller erwachsen würde, als es hätte sein sollen. Und das lässt euch in etwa gleich alt sein.“ Kevin lachte auf. „Nur, wenn du bei Mathe durchgefallen bist.“ Dann kam ihm zu Bewusstsein, was Jimmy gerade gesagt hatte. „Was meinst du damit, dass June schneller erwachsen geworden ist, als es sein sollte?“ Jimmy dachte kurz nach, um Kevin eine Kurzfassung von Junes Leben zu geben. „Verlassen von ihrem Vater, hat sie miterleben müssen, wie ihre Mutter immer tiefer in Depressionen versank.“ Er stand auf und ging mit seinem leeren Becher zur Kaffeemaschine rüber. „Es muss für das Kind die reinste Hölle gewesen sein.“ Er goss sich den Kaffee ein. „Mit einem solchen Werdegang siehst du die Dinge im Leben anders, als wenn du nur ein Durchschnittsleben geführt hättest.“ Da Jimmy wusste, wie sehr Kevin Anspielungen auf Liebesdinge ablehnte, nahm er einen Umweg. „Kev, während du hier bist, entspann dich einfach, und hab ordentlich Spaß. Lass die Dinge an dich herankommen, und sei allem gegenüber offen.“ „Du redest, als seist du Psychiater. Dabei dachte ich, du hättest dich auf Herz spezialisiert.“ Kevin mochte es nicht, wenn man ihm zu viel Aufmerksamkeit schenkte, Jimmy grinste. „Ich bin in beiden Fächern gut.“ „Guten Morgen.“ Beim Klang der verschlafenen Stimme wandten die Brüder sich zur Tür um. April ging zielsicher auf die Kaffeemaschine zu. „Ist das etwa frischer Kaffee, der da duftet?“ „Ja. Hab ich gemacht“, antwortete Kevin. Und an Jimmy gerichtet, flüsterte er: „Kein Wort von unserer Unterhaltung.“ Jimmy lachte zwar, aber er gab seinem großen Bruder das Versprechen, nichts weiterzusagen. Kevin parkte den Jeep vor dem Farmhaus und stieg aus. Einen Moment lang blieb er vor dem Gebäude stehen und betrachtete es eingehend. Es sah dunkel aus und wirkte düster. An einigen Stellen müsste das Holz ersetzt werden. Und das Gebäude brauchte dringend einen Anstrich. Wahrscheinlich war es zuletzt vor mehr als zwanzig Jahren gestrichen worden. Das ganze Drumherum müsste im Grunde wieder hergerichtet werden, was verdammt viel Arbeit erfordern würde, wie Kevin fand. Was hatte bloß June veranlasst, hierher zu ziehen, wo sie – wie Jimmy sagte – eine Unterkunft in der Stadt gehabt hatte? Er war mit Jimmys Jeep hergekommen, nachdem er seinen Bruder bei der Klinik
abgesetzt hatte. April hatte sich angeboten, ihn zu fahren, doch er hatte es abgelehnt. Er wollte sich lieber selbst umsehen. Die Farm, in der einst Junes Eltern mit ihren Kindern gelebt hatten, war, außerdem nicht schwer zu finden gewesen. Er stieg die vier knarrenden Holzstufen zur Veranda hoch und klopfte an die Tür. Keiner meldete sich. Er klopfte erneut, dieses Mal lauter, und merkte, dass die Tür lose in den Angeln hing. Als er den Knauf drehte, ging sie auf. Nun, mit der Sicherheit war es offensichtlich nicht weit her. Jemand sollte mit June reden und ihr beibringen, dass es Psychopathen gab, die nur darauf warteten, so leicht in ein Haus zu gelangen. Er wollte nicht einfach eindringen und June überraschen. Doch da niemand auf sein Klopfen reagiert hatte, gab es keinen Grund, warum er das Haus nicht betreten sollte. Vorsichtig öffnete er die Tür und trat ein. „June?“ Nichts. Keine Antwort. Er hob die Stimme. „June, hier ist Kevin. Jimmys Bruder“, fügte er vorsichtshalber hinzu. Sie schien nicht im Haus zu sein. Vielleicht befand sie sich in einem Raum, wo sie ihn nicht hören konnte. Er ging von Zimmer zu Zimmer. Niemals würde June einen Job als Haushälterin bekommen, wie er feststellte. Kleider lagen verstreut im ganzen Haus herum, auch Zeitungen und Bücher über Ackerbau und Viehzucht. Kevin fing irgendwann an sich zu fragen, in welchem Zustand ihre Küche wohl sei. „June?“ rief er wieder. Aus dem hinteren Teil des Hauses hörte er Musik und ging ihr nach. Es war die Küche. June hatte das Radio angelassen. Von ihr selbst entdeckte er jedoch weiterhin keine Spur. Neugierig, aber auch ein wenig besorgt öffnete Kevin die hintere Fliegentür und trat hinaus. Der große Hof führte zu einem Stall. Die breiten Türen standen offen, und als er näher kam, stieg ihm der strenge Geruch von Vieh in die Nase. Er betrat den Stall und wartete, bis seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Die Verschlage waren leer. Welches Vieh auch immer hier untergebracht war, es war vermutlich auf der Weide. Doch wo war June? Ein lauter derber Fluch von hinter dem Stall beantwortete ihm die stumme Frage. Kevin ging um das Gebäude herum und sah June auf dem Boden hocken. Sie hatte den Daumen in den Mund gesteckt und wimmerte leise vor sich hin. Unzählige Werkzeuge lagen um sie herum. Es sah aus, als ob ein Eisenwarengeschäft in die Luft gegangen wäre. Ein Traktor, der sicherlich schon bessere Zeiten gesehen hatte, stand hinter ihr. Kevin ging neben ihr in die Hocke. „Hast du dir wehgetan?“ Verlegen zog June den Daumen aus dem Mund. „Ja, hab ich“, antwortete sie einsilbig und stand auf. Sie besah sich den Daumen und schaute dann zu Kevin hoch. „Bist du wegen einer Zugabe gekommen?“ Er lächelte belustigt. „Eigentlich bin ich gekommen, um mich zu entschuldigen.“ „Warum?“ Sie sah ihn aufmerksam an. Tat es ihm vielleicht Leid, dass er sie geküsst hatte? Hastig wandte sie sich von ihm ab und tat, als ob sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Traktor lenkte. „Ich dachte, dass es ganz nett war. Ich meine, was die Küsse betraf“, bemerkte sie in aufgesetzt unbekümmertem Ton. „Ja, das war es. Sehr nett.“
Über die Schulter warf June ihm einen Blick zu. „Warum willst du dich dann entschuldigen?“ „Weil du du bist, und weil ich ich bin.“ Was sollte denn dieser Satz heißen? „Wenn das jemand verstehen soll“, murmelte sie, drehte sich zu ihm um und betrachtete ihn neugierig. Kevin musste ihr Recht geben. Er verstand es ja selbst nicht. Er war sich nicht mal im Klaren, warum er eigentlich hier war. Und als June ihn weiter nur fragend ansah, gab er ihr die erstbeste Erklärung, die ihm einfiel. „Ich habe letzte Nacht nicht gut geschlafen.“ June hob eine Monierzange auf und wandte sich wieder dem Traktor zu. „Die meisten Touristen haben Schlafstörungen. Das hängt mit dem Stand der Sonne zusammen.“ „Das war nicht das Problem. Ich habe noch nie zuvor Schlafprobleme gehabt.“ „Welches Problem war es dann?“ Sie hatte die Zange falsch angesetzt, und ihre Stimme klang verärgert. Kevin beschloss, offen und absolut ehrlich zu sein. „Mein Gewissen.“ Sie lächelte spöttisch. „Das hättest du lieber auf dem Flughafen ablegen sollen.“ „June, ich…“ Sie vermutete, er würde eine weitere Entschuldigung hervorbringen, und die wollte sie nicht hören. Warum mussten Männer immer glauben, dass allein sie es wären, die alles in der Hand hätten? Dass nur sie die Initiative ergreifen könnten? Aufgebracht fuhr sie zu ihm herum, eine Hand auf der Hüfte und in der anderen Hand die Monierzange, die sie wie einen Dirigierstock schwang. „Nichts passiert mir, wenn ich nicht will, dass es passiert. Und dabei wollen wir es belassen, okay? Wenn du nichts dagegen hast, ich muss den Traktor wieder in Gang bringen.“ Kevin zog sich auf neutralen Boden zurück, das war sicherer. „Was ist los mit ihm?“ „Er läuft nicht, ist tot“, antwortete June kurz und schwang wieder die Zange. „Was immer ich tue, der Motor springt einfach nicht an.“ Obwohl Kevin in seinem Taxiservice einen fest angestellten Mechaniker gehabt hatte, kannte er sich selbst ganz gut mit Motoren aus. „Hast du etwas dagegen, wenn ich mir die Sache mal anschaue?“ June war in ganz schön gereizter Stimmung, und das bemerkte sie sogar selber. „Mit anschauen ist es nicht getan. Der Motor muss repariert werden“, erwiderte sie patzig. „Das kann ich nicht, wenn ich ihn mir nicht vorher angesehen habe.“ „Ich habe ihn mir angeguckt. Seit zwei Tagen gucke ich ihn mir an.“ Genervt warf sie die Zange auf den Boden. „Na, dann, nur zu.“ „Danke.“ Kevin krempelte sich die Ärmel hoch. Zum ersten Mal, seit er in Hades angekommen war, fühlte er sich nützlich – und zu Hause.
6. KAPITEL „Versuchs mal.“ June war gerade aus dem Haus getreten, ein Glas eisgekühlten Tee für Kevin in der Hand – das einzige Getränk, das sie vorrätig hatte –, als sie wie angewurzelt stehen blieb. In der kurzen Zeit, die sie gebraucht hatte, nach etwas Trinkbarem zu suchen, um es ihm anzubieten, hatte Kevin wegen der Hitze sein schweißnasses Hemd ausgezogen. Sie hatte vorher bereits bemerkt, wie das Baumwollhemd sich um seinen Oberkörper schmiegte. Der Unterschied zwischen dem, was sie geahnt hatte, und dem, was sie nun sah, war jedoch beträchtlich. Kevins Oberkörper war muskulös, sonnengebräunt und schweißgebadet. June presste die Lippen zusammen, um sich ein Aufseufzen zu verkneifen. Fragend blickte Kevin zu ihr herüber, und ihr wurde bewusst, dass sie immer noch wie vom Donner gerührt dastand. Sie riss sich zusammen und ging mit einem skeptischen Lächeln auf den Traktor zu, als ob sie Kevins Arbeit erst begutachten wollte. Kevin selbst ignorierte sie erst mal völlig, obwohl das nicht leicht war. Traktor, denk nur an den Traktor, sagte sie sich. June starrte auf das altertümliche Fahrzeug, das mindestens fünfzehn Jahre in der Scheune gestanden hatte. Mehrere Male war es ihr gelungen, den Traktor funktionstüchtig zu machen, jedoch nie für lange. Und nun hatte das Ungetüm endgültig seinen Geist aufgegeben, obwohl sie sich so bemüht hatte, ihn wieder startklar zu kriegen. June blieb skeptisch. Kevin hatte inzwischen gut drei Stunden an dem Traktor gearbeitet. Zugegeben, er schien all die Teile wieder dahin montiert zu haben, wohin sie gehörten, zumindest lag nichts mehr auf dem Boden herum. Doch das war noch kein Beweis, dass er es tatsächlich geschafft hatte, den Motor wieder zum Laufen zu bringen. „Was hast du daran gemacht?“ wollte sie wissen und hielt Kevin das Glas hin. „Versuchs mal“, drängte er wieder, nahm ihr das Glas ab und trank einen langen Schluck. Das erfrischende Getränk tat wirklich gut. Mit dem eiskalten Glas fuhr er sich sachte über die Augenbrauen, aber Schweißtropfen perlten immer noch auf seiner Stirn. „Wenn er läuft, dann erkläre ich dir, was ich gemacht habe. Sonst spar ich mir die Mühe.“ Beweg dich, denk nach, rede, hielt June sich streng vor, als ihr aufging, dass sie schon wieder wie versteinert dastand. Tu alles, nur starr ihn nicht so dümmlich an. Sie nahm die Schlüssel aus ihrer Hüfttasche, stieg auf den Traktor und blickte mit gerunzelter Stirn zweifelnd auf das Fahrzeug. Dann steckte sie den Schlüssel ins Zündschloss, drehte ihn um, und nach einem Knattern erwachte der Motor zum Leben. Er tuckerte einwandfrei, bis June ihn wieder ausschaltete. „Beim letzten Mal habe ich ihn auch so weit gehabt“, teilte sie Kevin mit, und es hörte sich recht überheblich an. Sie war entschlossen, sich nicht beeindrucken zu lassen. „Beim zweiten Versuch sprang er jedoch nicht wieder an.“ Kevin wies auf das Zündschloss. „Komm, Versuchs einfach noch mal.“ Versuchs noch mal. Das wurde allmählich zum Schlagwort, und June fing an, diese Formulierung zu hassen. Sie wusste nicht, warum, doch die Worte gaben ihr irgendwie das Gefühl, unbeholfen zu sein. Vor allem, als sie dann den Schlüssel umdrehte und der Motor einwandfrei wieder ansprang, dieses Mal sogar ohne Knattern oder Stottern.
June saß auf dem Traktorsitz, und das Fahrzeug vibrierte unter ihr, wie ein Hengst der nichts mehr ersehnte, als loslaufen zu dürfen. Wie würde es sich anfühlen, Kevin unter sich zu haben? Ihre Augen weiteten sich entsetzt, als ihr die stumme Frage bewusst wurde. Du lieber Himmel, wie war sie nur auf eine solche Idee gekommen? Litt sie unter der Hitze? Das musste es sein. Heute war es ungewöhnlich heiß für Alaska. Eine Mücke summte um ihren Nacken, und sie schlug nach ihr. June war fast erleichtert über die Ablenkung. „Also gut“, sagte sie von oben herab und stieg von dem Traktor. „Willst du mir jetzt erzählen, was du daran gemacht hast?“ Sie warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. „Oder hast du dem alten Ding die Hände aufgelegt und es auf diese Weise geheilt?“ „Nichts da mit Hände auflegen und heilen.“ Kevin lachte. Er war froh, dass die Anstrengung sich gelohnt hatte. Um diesen Moment ein wenig hinauszuzögern, setzte Kevin das leere Glas auf den Boden. Für Dramatik, gleich welcher Art, war er nicht zu haben. Dafür war seine Schwester Lily zuständig. Der Augenblick schien dafür jedoch geradezu perfekt. June reagierte so gereizt auf ihn, dass ihre Laune ein wenig aufgelockert werden musste. „Natürlich soll es dein Geheimnis bleiben“, sagte sie ein wenig gehässig, als er ihr nicht sagte, wie er den Traktor wieder repariert hatte. Typisch Mann! Kevin konnte sich nur wundern. Mit welchen Leuten hat June wohl normalerweise zu tun, überlegte er. Nahm man sie nicht wichtig, weil sie jung und unschuldig und zart war? So musste es wohl sein. Warum sonst hatte sie sich zu einer derart widersprüchlichen Person entwickelt? Auf der einen Seite war sie empfindsam wie eine Mimose, und auf der anderen Seite gab sie sich so großschnäuzig wie ein ausgewachsener Kerl. Vielleicht lag es daran, dass sie unter den Geschwistern die Jüngste war und immer darauf bestanden hatte, es ihnen gleichzutun. „Warum sollte es mein Geheimnis bleiben?“ „Weiß ich nicht. Männer haben so ihren Bereich, den sie nicht gern mit Frauen teilen. Sie denken, dass deren Verstand nicht ausreichend entwickelt wäre, um die technischen Einzelheiten zu begreifen.“ Eine Weile lang betrachtete er June, ehe er antwortete. Die Gereiztheit machte ihre Gesichtszüge schärfer. „Ich wäre nie auf die Idee gekommen, deinen Verstand als wenig entwickelt zu betrachten – oder als besonders weiblich.“ „Soll ich das nun als Kränkung oder als Kompliment auffassen?“ „Zumindest nicht als Kränkung“, antwortete Kevin schlicht. Dann, bevor sie wieder irgendwelche Bemerkungen machen konnte, ließ er eine genaue Beschreibung vom Stapel, was er alles versucht und wie er schließlich den Traktor wieder in Gang gebracht habe. Junes Bewunderung für sein offensichtliches Geschick stand ihr ins Gesicht geschrieben. Kevin merkte jedoch, wie ungern sie das zugab. „Du siehst, ein Geheimnis war es wirklich nicht“, schloss er. „Manchmal sind es nur Kleinigkeiten, die man beim Reparieren übersieht.“ Damit drehte er sich um und griff nach seinem Hemd, das er an einen Nagel des Zauns gehängt hatte, der den Korral abgrenzte. Man hatte Kevin bereits erzählt, dass dies hier früher eine Pferderanch gewesen sei. Er wollte das Hemd schon überstreifen, als June ihn davon abhielt. Sie packte ihn bei den Händen. „Warte!“ Kevin sah sie verständnislos an. „Was ist?“ Im selben Moment wurde ihr klar, wie dumm sie sich gerade benahm. Dabei wollte sie nur, dass er sein Hemd nicht anzog. Jedenfalls nicht jetzt.
„Es ist feucht.“ Junes Stimme klang, als ob sie keinen Widerspruch dulden würde. „Du willst doch ganz sicher kein feuchtes, verschwitztes Hemd anziehen, Kevin, oder?“ „Ich habe vermutlich keine andere Wahl.“ Spielerisch ließ er den Blick über ihren Körper gleiten. „Ich glaube nicht, dass etwas von deinen Klamotten mir passen würde.“ „Ich häng es auf“, erklärte sie locker. Aber warum hatte sie dann plötzlich einen Kloß im Hals? Sie bekam kaum Luft. „Und was soll ich in der Zwischenzeit tun?“ fragte er. Die Situation wurde für June immer peinlicher. Sie war aber nicht so hilflos, als dass sie sich nicht wieder in den Griff bekommen hätte. „Ich habe noch mehr Arbeit, die du tun kannst“, erwiderte sie. „Natürlich nur, wenn du Zeit hast“, fügte sie schnell hinzu. Kevin hatte Zeit, und er arbeitete gern. Das war also nicht das Problem. Er schaute sich um, als ob er sich ein Bild machen wollte von der Arbeit, die er noch tun könnte. „Keine Hilfskräfte?“ War die Frage abwertend gemeint? „Zur Zeit keine“, antwortete June, aber ihre Stimme klang, als ob sie sich verteidigte. Diese Farm war nicht besonders groß, sie war aber auch nicht klein. Und so ein Betrieb erforderte viel Arbeit, vor allem, da sowohl Getreidefelder als auch eine Herde Rinder dazugehörten. „Ist dieser Riesenbetrieb nicht zu viel für nur eine Frau?“ In ihren Augen blitzte es böse auf, und sie hob stolz das Kinn. „Es ist nicht gerade so, dass ich mich vor den Pflug spanne und ihn durch die Furchen ziehe.“ Ihr Ton triefte vor Spott. „Zumindest nicht jetzt, wo du meinen Traktor wieder aufpoliert hast.“ June wartete nur darauf, dass er auf ihre Stichelei einging. Doch den Gefallen tat Kevin ihr nicht. Er zuckte nur lässig die Schultern. „Wenn ich nicht gekommen wäre, wärst du damit ganz gut selbst fertig geworden“, versicherte er ihr. Und zu ihrer Überraschung legte er einen Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht an. „Nicht nötig, sich aufs hohe Ross zu setzen, June. Du bist viel zu schnell eingeschnappt, auch wenn keine Absicht dahinter steckt, dich zu beleidigen.“ Er verstand ihre Reaktion einfach nicht. „Dabei habe ich angenommen, die Männer hier in Alaska würden die Frauen wie Prinzessinnen behandeln.“ „Das tun sie auch.“ Und wieder hörte es sich an, als ob er sie mit dem letzten Satz auf die Palme gebracht hätte. „Nur sind Prinzessinnen nicht gleichberechtigt.“ „Nein, gewöhnlich stehen sie höher als ihre Untergebenen“, bestätigte er. Ein leichtes Lächeln spielte um ihre Lippen. „So weit voraus denken die Männer hier herum nicht.“ „Du meinst wie dieser Haggerty?“ „Hm“, war alles, was June zur Antwort gab. „Bist du bereit?“ fragte sie dann. „Du könntest arbeiten, bis dein Hemd trocken ist.“ Sie hielt es hoch und tat, als ob sie prüfen müsste, wie feucht es noch war. In Wirklichkeit wollte sie Kevin wieder angucken. Er sah einfach umwerfend aus! „Nun, das sollte in dieser Hitze nicht allzu lange dauern.“ Damit breitete sie das Hemd über den Zaun aus. „Was möchtest du denn als Erstes erledigt haben?“ wollte. Kevin wissen. Ihre letzte Arbeit, bevor der Motor endgültig seinen Geist aufgegeben hatte, war der Zaun gewesen. „Einige Pfosten vom Zaun sind morsch und müssen ersetzt werden.“ Sie wies auf den Zaun ein großes Stück weiter unten. Man konnte von hier aus sehen, dass er lose war und einige Bretter bereits auf dem Boden lagen.
„Bist du gut im Handwerkern?“ Sie warf einen Blick auf seine Hände. „Ich habe noch nie eine Klage gehört“, antwortete er mit einem Grinsen. Diese freche Göre spielt sich ein wenig zu sehr auf, dachte er, aber er fand es auch irgendwie drollig. „Nun gut, dann komm, ich zeigs dir.“ June ging ihm voraus zu ihrem Geländewagen, den sie liebevoll wieder hergerichtet hatte, noch während der Zeit, als ihr die Autoreparaturwerkstatt gehört hatte. Auf dem Weg holte sie aus dem Schuppen eine Schaufel sowie einen Vorschlaghammer und gab Kevin das Werkzeug. „Übrigens“, sagte er, während er ihr folgte, „weißt du, dass du das Radio in der Küche angelassen hast?“ „Ja, ich weiß.“ Sie wartete, bis er das Werkzeug hinten im Wagen verstaut hatte. „Das Haus erscheint mir dann nicht so leer, wenn ich reinkomme.“ Fast hätte sie ihm verraten, dass das Radio sie davor bewahrte, sich einsam zu fühlen. Doch das war etwas, was sie ihm gegenüber – oder irgendjemand anders gegenüber – nie eingestehen würde. Sie merkte, dass Kevin lächelte. „Was ist daran so komisch?“ „Oh, eigentlich nichts. Ich bin nur überrascht, wie viel wir gemeinsam haben.“ Kevin dachte an sein Haus in der Maple Street, das ihm immer so leer vorkam. „Wir haben beide die Gewohnheit, für irgendein Geräusch im Haus zu sorgen, damit wir uns nicht einsam fühlen.“ June warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. „Ich habe nicht gesagt, dass ich mich einsam fühle. Ich mag Musik, das ist alles.“ Sie wunderte sich selbst, dass sie sich Kevin gegenüber immer irgendwie rechtfertigen musste. Dann wurde ihr klar, was er wirklich gesagt hatte. „Du fühlst dich manchmal einsam?“ stellte sie verwundert fest. An sich gaben Männer solche Dinge nicht gern zu. Für Kevin war es keine Schande, das zuzugeben. „Ja.“ June verstand ihn nicht. Dass man hier in Hades einsam sein konnte, war nur logisch. Die Winternächte waren trübsinnig lang, und sogar jetzt im Sommer konnte die Abgeschiedenheit dieser Gegend sich schwer auf das Gemüt legen. Aber er, der in Seattle lebte? „Du lebst doch in einer Großstadt.“ Er konnte aus der Tür hinaustreten und eine Menge Menschen finden. Sie dagegen konnte mit ihrem Wagen meilen- und meilenweit fahren, bevor sie jemanden zu Gesicht bekam. „Es ist leicht, sich in einer Menge einsam und allein zu fühlen“, gab er zu bedenken. „Was ich vermisse, sind die vertrauten Geräusche meiner Geschwister.“ Er blickte nachdenklich über das weite Land. „Jetzt, wo sie alle weg sind, ist es sehr still geworden.“ Einen kurzen Augenblick lang hatte June das Gefühl, dass sie sich beide sehr nah waren – fast so nah wie bei dem Kuss am Vorabend. Nur, dass dieses Mal der besondere Reiz fehlte. „Und du magst nicht, dass sie alle weg sind“, stellte sie fest. Kevin schüttelte den Kopf. „Nein, das mag ich nicht.“ Überhaupt nicht, fügte er in Gedanken hinzu. „Du bist ein ungewöhnlicher Mann, weißt du das?“, meinte June weich und setzte sich auf ihrem Sitz bequem zurück, bevor sie den Wagen startete. Kevin legte den Vorschlaghammer zur Seite und streckte die Glieder. Ihm war, als ob jeder Arm dreißig Pfund schwerer wäre als sonst. In diesem Moment sah er den Geländewagen näher kommen. Endlich, dachte er. Als June neben ihm hielt, nahm er das Werkzeug auf und legte es auf den hinteren Sitz. „Ich habe mich schon gefragt, ob du mich vergessen hast“,
bemerkte er. June blickte überrascht auf die Pfosten. „Du hast sie alle neu gesetzt.“ Kevin zuckte die Schultern und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von den Brauen. „Es waren doch nur vier Pfosten.“ Während er sich bewegte, spannten sich seine Muskeln und traten hervor. June hatte Mühe, Kevin nicht anzustarren. Als ob sie noch nie einen Mann mit bloßem Oberkörper gesehen hätte! „Ich… ich dachte, du würdest mehr Zeit brauchen. Übrigens, dein Hemd ist trocken.“ Sie hielt es ihm hin. Kevin nahm es und kletterte in den Wagen, ohne es überzuziehen. Er legte das Hemd auf seinen Schoß, nachdem er es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht hatte. June war völlig durcheinander, ihn so nahe bei sich zu haben. Und dazu so nackt von der Taille aufwärts und so glänzend von Schweiß. Sie legte die Hände fester um das Lenkrad. „Warum ziehst du’s nicht über?“ Ihre Frage schien Kevin zu belustigen. „Meine Kehle ist zwar trocken, sonst bin ich es aber nicht. Wenn ich das Hemd überziehe, wird es gleich wieder feucht.“ Lachte er sie aus? Wurde sie etwa rot? Sie musste sich zusammenreißen! „Tut mir Leid. Ich habe vergessen, dir etwas Trinkbares dazulassen. Ich bringe dich schnell wieder zurück auf die Ranch.“ „Das wäre nett.“ Er fühlte sich tatsächlich völlig ausgetrocknet. „Lunch wäre übrigens auch ganz nett.“ Er warf einen Blick auf die Sonne, während sie zum Farmhaus fuhren. „Oder ist es schon Nachmittag? Ich habe heute meine Uhr nicht um, und hier kann ich mich in der Zeit noch immer nicht so gut orientieren.“ „Es ist fast Zeit zum Abendessen.“ Nun bekam June ein noch schlechteres Gewissen. Sie hätte ihm etwas anbieten sollen, bevor sie losfuhren. Sie war es nur nicht gewöhnt, Gesellschaft zu haben. Sie hatte noch nie jemanden zu sich eingeladen. „Du musst ja am Verhungern sein.“ „Ich würde gerne was essen, das stimmt.“ Sein Magen knurrte, und Kevin grinste. „Im Moment könnte ich vor Heißhunger einen halben Bären verschlingen.“ „So etwas habe ich nicht im Haus.“ June ging in Gedanken kurz den Inhalt ihres Kühlschranks durch. „Ich habe ein Steak. Das kannst du gern haben.“ Es hörte sich an, als ob das alles wäre, was sie ihm anbieten konnte. „Und was wirst du essen?“ Sie zuckte die Schultern. „Ich finde schon was. Müsli. Toast. Einen Apfel.“ „Du bist wohl nicht sehr häuslich“, bemerkte Kevin mit einem Grinsen. Junes Gesicht verfinsterte sich. Ihre Großmutter hatte sie deswegen immer getadelt. Und sie würde ihm genau das sagen, was sie ihrer Großmutter gesagt hatte, nur noch eine. Spur kühler. „Ich richte Autos her, keine Mahlzeiten.“ „Da haben wir’s wieder. Warum bist du eigentlich so angriffslustig?“ Kevin verstand sie nicht. „Ich wollte nur etwas über dich herausfinden, das war alles.“ „Warum?“ June sah ihn an. „Warum interessiert es dich, ob ich häuslich bin oder nicht?“ Er sah das Farmhaus in der Ferne auftauchen. „Bist du immer so misstrauisch deinen Mitmenschen gegenüber?“ „Nein, nur Fremden gegenüber.“ „Nach all der Plackerei mit dem Traktor und den Zaunpfosten sollte ich dir eigentlich nicht mehr so fremd sein.“ „Ein Fremder ist jemand, den ich nicht seit meiner Geburt kenne“, versuchte June einzulenken, wenn auch recht ungeschickt. „Das bedeutet also, dass ich dir immer ein Fremder bleiben werde.“
„Wir könnten daran arbeiten“, antwortete sie verlegen. „Hört sich wie ein Plan an.“ „Ja, vielleicht.“ Sie hielt vor dem Farmhaus, und zog die Handbremse an. Im nächsten Augenblick war Kevin ausgestiegen und ging zielstrebig die Verandatreppe hoch, als ob das Haus ihm gehörte und nicht ihr. June folgte ihm schnell nach drinnen. Noch bevor sie die Küche erreichte, hatte er bereits die Tür zum Kühlschrank geöffnet. „Was tust du da?“ fragte sie. Kevin nahm das Steak heraus, eine halb leere Flasche mit Tomatensauce, eine etwas welke Zwiebel sowie einen Plastikbehälter, der halb mit Reis gefüllt war. All das stellte er auf den schmalen Küchentresen. „Du hast mir gesagt, dass du nicht häuslich bist.“ June schob sich zwischen ihn und den Tresen. „Ja, und?“ Kevin legte die Hände auf ihre Schultern und schob sie sehr geduldig zur Seite. „Und wer, glaubst du, hat Lily das Einmaleins des Kochens beigebracht?“ „Du?“ Er lachte, während er sich nach einem Topf umsah. In dem Schrank unter der Spüle fand er einen eingebeulten Schmortopf. „Guck nicht so überrascht drein. Die weitbesten Köche waren schon immer Männer.“ June verschränkte die Arme vor der Brust. „Du richtest also Autos und Essen her.“ „Unter anderem.“ Er nahm den Salzbehälter vom Tresen, hielt inne und sah sie fragend an. „Es sei denn, du findest, dass ich mir zu viel herausnehme.“ Wenn sie das zugab, würde sie damit nur sich selbst schaden. June war viel zu hungrig und obendrein auch neugierig. „Mach nur. Kochen war noch nie meine Sache.“ „Gut?“ Das Essen stand auf dem Tisch, und Kevin hatte June seit einigen Minuten beim Essen beobachtet. Er war nie auf Komplimente aus, hätte jedoch in diesem Fall gern gewusst, wie es June schmeckte. Sehr langsam legte sie die Gabel auf den Teller. Sie konnte es nicht leugnen, das Essen war Kevin gelungen. Dabei hatte sie ein wenig gehofft, dass es ihm misslingen würde. Widerstrebend nickte sie. „Gut.“ „Du sagst es so widerwillig.“ Als ob ihr das Ganze völlig gleichgültig wäre, zuckte sie die Schultern. „Ich habe nur grade überlegt, ob es etwas gibt, worin du nicht gut bist.“ Kevin lachte auf. „Davon gibt es eine ganze Menge.“ Was ihm als Erstes einfiel, nannte er auch gleich. „Andere unterhalten.“ „Wieso? Ich finde, du machst dich ganz gut darin.“ „Du stellt keine Ansprüche.“ „Und wenn ich es doch täte?“ Er dachte an die wenigen Male, wo er Frauen ausgeführt hatte. „Dann würde ich wahrscheinlich verstummen.“ „Komm, rede“, drängte June. „Hör nicht auf damit. Ich mag deine Stimme.“ Sie nahm die Gabel wieder in die Hand und bekam nicht mit, dass ein Lächeln Kevins Gesicht erhellte. Noch nie zuvor hatte jemand ihm das gesagt.
7. KAPITEL June trat von der Spüle zurück und trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab, das in ihrem Haushalt normalerweise so gut wie nie gebraucht wurde. Für gewöhnlich ließ sie das Geschirr in der Spüle, bis sie eine saubere Tasse oder einen Teller brauchte. Das Geschirr dann auch noch abzutrocknen, das gab es bei ihr nicht. Doch heute war alles anders. Heute stand sie eifrig an der Spüle, nachdem sie mit Kevin zusammen gleich nach dem Essen den Tisch abgeräumt hatte. Sie wollte nicht, dass Kevin dachte, sie sei in der häuslichen Arbeit ein völlig hoffnungsloser Fall. Warum ihr das so wichtig war, ließ sie allerdings fürs Erste lieber offen. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, als sie das Geschirrtuch auf die Arbeitsplatte legte. Er war gerade mit dem Abtrocknen der Gläser fertig geworden. „Du guckst so missbilligend drein“, bemerkte sie. „Missbilligend“ war nicht das richtige Wort, eher nachdenklich. Aber das behielt Kevin lieber für sich. „Ich habe nur überlegt, wie spät es wohl sein mag“, wich er aus. Er schaute aus dem Fenster über der Spüle. „Mein Zeitgefühl ist völlig futsch.“ Vielleicht fühlte er sich deshalb so ruhelos. Dabei sollte er gelassener sein. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er über seine Zeit verfügen. Es war fast seltsam, keine Termine zu haben. Ob er hier leben wollte oder nicht, war ihm allerdings noch nicht klar. Wieder blickte er aus dem Küchenfenster. Der Himmel war genauso blau wie seit dem frühen Morgen. Die Sonne schien auf der Stelle zu stehen. Dabei musste es schon spät abends sein. Zumindest das war ihm klar. „Man könnte meinen, dass die Zeit hier stillsteht.“ „Manchmal tut sie’s wirklich.“ June stellte die Gläser in den Hängeschrank und wandte sich dann wieder Kevin zu. „Man sagt, dass die Uhren hier in Alaska anders ticken. Und dass wir die Zeit besser auszunutzen verstehen.“ Kevin sah sie einen Moment lang prüfend an. „Du bist gern hier, nicht wahr?“ June musste nicht mal überlegen, bevor sie antwortete. „Ja. Ich könnte nirgendwo sonst leben.“ Ihr wurde plötzlich bewusst, wie dicht sie beieinander standen, und das machte sie ganz kribbelig. „Du solltest lieber aufbrechen“, sagte sie unvermittelt. Kevin zog die Brauen zusammen. „Hab ich deine Gastfreundschaft zu sehr beansprucht?“ June musste sich eingestehen, dass ihre Bemerkung zu abrupt geklungen hatte, so als ob sie Kevin loswerden wollte. „Nein. Aber wenn du nicht bald zurückfährst, dann könnte April womöglich Max losschicken, um dich zu suchen. Es ist schon spät.“ Das gemeinsame Verrichten der Hausarbeit hatte wieder zu der seltsam vertrauten Stimmung zwischen ihnen geführt. Und sie fand, dass sie sich lieber in Acht nehmen sollte. „Du bist fast den ganzen Tag hier gewesen.“ Sie sah zu Kevin auf, und einen Moment lang war sie sicher, dass er sie küssen würde. Kevin dagegen wusste plötzlich nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Auf jeden Fall sollte er gehen, bevor es peinlich wurde. Dabei wollte er bleiben, wollte mit June reden, wollte sie ansehen. Er kannte die Anzeichen! Er war einsam und fühlte sich ganz einfach verloren. Verlegen schaute er June ins Gesicht und konnte sich nur wundern, wie eine so hübsche junge Frau so frisch und so unverdorben hatte bleiben können. Dies
könnte sein letzter Versuch sein, sich ein wenig Jugend einzufangen. Hier stand er nun und wünschte sich nichts sehnlicher, als bleiben zu können. Er wollte June in die Arme nehmen und sie halten. Und er wollte sie küssen. „Ja, ich sollte gehen“, stimmte er ihr zu und ging auf die Eingangstür zu. June blieb an seiner Seite, um ihn hinauszubegleiten. Die leise Musik aus dem Radio folgte ihnen bis zur Tür, umfing sie und schaffte eine Vertrautheit, die nicht leicht abzuschütteln war. Als sie die Tür erreicht hatten, wandte June sich Kevin zu. Er sah auf sie herunter, und sie hielt den Atem an. Würde er sie küssen? Sie wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was. Schließlich brachte sie ein leises „Danke für die Hilfe“ heraus. „Ich wüsste nicht, wofür du mir zu danken hättest. Ich habe kaum etwas getan.“ Kevin hatte all das getan, worum sie ihn gebeten hatte. Mehr noch. „Das kannst du nicht ernst meinen. Der Traktor läuft wieder, und ich muss mich mit den Zaunpfosten nicht länger abplagen.“ Mit der Rechten machte er eine ausladende Geste. „Mir scheint, dieses alte Haus könnte noch eine Menge Arbeit vertragen.“ June öffnete bereits den Mund, um auf seine, wie sie fand, unpassende Bemerkung eine entsprechende Antwort zu geben. Sie mochte es nicht, wenn andere sich in ihre Angelegenheiten einmischten. Aber hatte er nicht Recht? „Nach und nach krieg ich auch das noch hin.“ Kevin steckte die Hände in seine Gesäßtaschen. Krampfhaft versuchte er, überall hinzuschauen, nur nicht in Junes Augen. Und dann fasste er einen Entschluss. „Hör mal, ich werde bis zur Hochzeit in Hades bleiben. Ich habe Lily versprochen, dass ich ihr bei den Vorbereitungen helfen werde. Sie hat zwar nichts darauf erwidert, aber ich habe den Eindruck, dass ich ihr damit nicht unbedingt einen Gefallen tun würde. Und ich hasse es, rumzuhängen und nichts zu tun.“ June wurde sofort klar, was er damit sagen wollte – und worauf das hinauslaufen würde. Sie war sich allerdings nicht sicher, ob das eine gute Idee wäre. „Du kannst doch den Touristen spielen“, schlug sie vor. Kevin schüttelte den Kopf. Sich von morgens bis abends die Gegend anzuschauen, das lag ihm überhaupt nicht, selbst wenn die Natur von Alaska überwältigend schön war. „Was mir am meisten Spaß macht, das ist Arbeit. Heute war ich zum ersten Mal, seit ich mein Taxiunternehmen verkauft habe, wieder so richtig gut drauf.“ Er nahm die Hände aus den Taschen und hielt sie hoch. „Guck, zwei Hände, die auf Arbeit warten. Was würdest du sagen, wenn ich sie für dich arbeiten ließe? Ich meine, für das Haus“, fügte er schnell hinzu, damit June nicht auf dumme Gedanken kam. „Ich könnte dir die Arbeit nicht bezahlen“, entgegnete sie. Und Wohltätigkeit lehne ich ab, wollte sie hinzufügen, doch die Gelegenheit dazu bekam sie nicht. „Habe ich um Geld gefragt?“ wollte Kevin wissen. Wann würde er endlich aufhören, ihr ins Wort zu fallen? „Nein, aber…“ Kevin wollte nicht gebremst werden, und um das zu verhindern, durfte er June nicht ausreden lassen. „Eigentlich solltest du den Lohn bekommen, weil du mich arbeiten lässt. Ich würde sonst verrückt werden.“ Und damit war June der Wind aus den Segeln genommen. „Wenn du es so ausdrückst, machst du es mir schwer, nicht auf deinen Vorschlag einzugehen.“ Er lächelte zufrieden. „Dann geh darauf ein.“ „Also gut!“ Es gab Zeiten, wie June fand, wo es für alle Beteiligten gut war, die Dinge einfach geschehen zu lassen. Sie streckte ihm die Hand hin. „Abgemacht.“
Kevin umschloss ihre Hand. Der Kontakt war leicht, und doch durchzuckte es ihn. Vielleicht, weil er sich June so nahe fühlte – so vertraut. Langsam entzog sie ihm die Hand. Doch er wandte den Blick nicht von ihrem Gesicht. „Gestern Abend, als ich dich geküsst habe“, begann er zögernd, „habe ich Dinge stillschweigend vorausgesetzt, die ich nicht hätte voraussetzen dürfen, ohne dich…“ Damit waren sie doch bereits durch, oder etwa nicht? „Kevin, ich…“ Er ließ sie nicht ausreden. „Ich frage dich jetzt. June. Darf ich dich küssen? Ich möchte es sehr.“ Prüfend blickte er ihr in die Augen und suchte nach einem Hinweis, dass er sich nicht zu weit vorgewagt habe, dass er die Zeichen nicht missdeutet habe. „Wenn es dir irgendwie unangenehm sein sollte…“ „Darüber zu reden ist mir unangenehm.“ „Nun, denn…“ Er wollte sich zum Gehen wenden. Doch er kam nicht dazu. June stellte sich auf die Zehenspitzen und umschmiegte mit den Händen sein Gesicht. „Halt endlich den Mund“, flüsterte sie. Dann, ehe Kevin dazu kam, küsste sie ihn. Und June war auch die Erste, die dahinschmolz. Ganz sicher hatte es mit der Hitze zu tun. Doch diese Hitze kam nicht von außen. Diese Hitze kam von innen. Diese Hitze entstand durch die bloße Berührung ihrer Lippen mit seinen Lippen. Und von der Sehnsucht, die sie erfasste. Kevin schloss die Arme um June und zog sie dicht an sich. Ihm war, als ob sein Körper zum Leben erwachte. Das Verlangen war plötzlich da und wurde so stark, dass es regelrecht von ihm Besitz ergriff. Mit den Jahren hatte Kevin sich abgewöhnt, von Zärtlichkeit und Liebkosungen zu träumen. Doch jetzt wollte er June. Er wollte sie lieben, wollte mit ihr schlafen. Dieser Wunsch schockierte ihn so, dass er sich abrupt zurückzog. June brauchte einen Moment, um sich bewusst zu werden, dass der Kuss vorbei war, dass ihre Körper nicht mehr aneinandergepresst waren. Überrascht blickte sie Kevin an. „Was ist?“ „Ich sollte mich auf den Weg machen. Jetzt.“ Das letzte Wort brachte er so eindringlich heraus, dass June wusste, Kevin spürte dieses innere Feuer genauso wie sie, aber er hatte Angst davor. „Ja“, murmelte sie noch ganz benommen. Was war nur an ihm, dass sie so auf ihn reagierte? „Man wird dich bereits suchen.“ Er trat nach draußen und kniff die Augen vor dem hellen Tageslicht zu. „Wir sehen uns morgen“, sagte er und ging zu seinem Wagen hinüber. „Um welche Zeit wirst du hier sein?“ rief June ihm hinterher. Lächelnd wandte er sich ihr wieder zu. „Hast du mir nicht gesagt, Zeit spiele hier keine Rolle?“ Ertappt, dachte sie und suchte krampfhaft nach einer Entschuldigung. „Ich wollte es nur wissen, weil…“ Kevin lachte. „Ich wollte dich bloß aufziehen, June.“ Er hoffte, dass April ihm am nächsten Tag ihren Jeep überlassen würde. „Neun, wäre das okay?“ „Bis dahin ist die Hälfte des Tages vorbei. Wenn du etwas schaffen willst, musst du früher kommen.“ „In Ordnung, ich komme früher“, versprach Kevin und stieg in Jimmys Jeep. June sah dem davonfahrenden Wagen nach. Sie blieb noch eine ganze Weile stehen und fuhr sich mit den Fingerspitzen sachte über ihre Lippen. Noch immer konnte sie den Druck seiner Lippen spüren, konnte Kevin schmecken. „Wo bist du gewesen?“ Alison sprang förmlich vom Sessel hoch, als ihr Bruder durch die Tür kam. Sie wusste nicht, ob sie vor Erleichterung lachen oder weinen
sollte. Diese Nacht sollte er bei ihnen verbringen, und es war bereits sehr spät. „Ist dir klar, dass ich kurz davor war, Max anzurufen, damit er die Gegend nach dir absucht?“ Obwohl Kevin die Besorgnis seiner Schwester irgendwie rührend fand, so war von ihm aus gesehen kein Grund vorhanden, sich derart aufzuregen. „Ich bin siebenunddreißig Jahre alt, Alison. Ich habe einen ausgeprägten Orientierungssinn, und ich kann sehr wohl auf mich selbst aufpassen.“ „Das ist nicht das Stadtzentrum von Seattle, Kevin. Hier gibt es nicht an jeder Ecke ein Hinweisschild, das dir hilft, den Weg zu finden. Es kommt immer wieder vor, dass sich hier jemand verirrt und dann“, fügte sie mit dramatisch erhobener Stimme hinzu, „tot aufgefunden wird.“ Als Kevin sich dazu nicht äußerte, wandte sie sich erwartungsvoll an ihren Ehemann. „Sag es ihm, Luc. Mach ihm klar, wie gefährlich die Gegend sein kann.“ Aber Luc saß zufrieden und bequem zurückgelehnt in seinem Sessel und verfolgte die Szene zwischen den Geschwistern. So dumm war er nicht, sich in die Schusslinie zu begeben. „Du kannst das wunderbar selbst managen, auch ohne mich.“ „Männer“, seufzte Alison voller Verachtung. Sie sah ihren Bruder streng an. „Ich warte noch immer auf deine Antwort. Wo bist du gewesen?“ Kevin war im Prinzip äußerst gelassen und locker, doch das bedeutete noch lange nicht, dass er ein Weichling war. „Hast du nicht vielleicht die Rollen verwechselt? Ich bin der große Bruder, du bist die kleine Schwester.“ Er musterte sie ganz bewusst von Kopf bis Fuß. „Die sehr kleine Schwester.“ Alison reichte ihm nur knapp bis zur Brust. „Du weichst meinen Fragen aus“, beschwerte sie sich. Kevin warf über ihren Kopf hinweg seinem Schwager einen Blick zu. „Sie ist ganz schön vorlaut geworden, seit sie von zu Hause weg ist.“ Luc lachte in sich hinein. „Das macht die Luft hier.“ Alison war kurz davor, die Geduld zu verlieren. Die Fäuste in die Hüften gestemmt, stand sie vor ihm. „Kevin…“ Jetzt tat Luc, als ob er sich hinter dem Buch verstecken wollte, in dem er gerade gelesen hatte. „Oh, oh, wenn sie deinen Namen so ausspricht, dann kriegst du Ärger. Wenn ich du wäre, würde ich ihr antworten.“ Es war absolut nicht so, dass Kevin seiner Schwester nicht antworten wollte. Sie sollte sich nur nicht einbilden, er würde es bloß dann tun, wenn sie ihm einheizte. „Ich bin auf einen Sprung zum Farmhaus gefahren.“ Zuerst verstand Alison nicht ganz, was er damit meinte. „Welches Farmhaus? Das, das verlassen an der Ausfallstraße steht?“ „Nein, das von June. Obwohl man es auch als verlassen bezeichnen könnte.“ Damit wollte er verschwinden. „Wie sie damit fertig werden will, ist mir nicht klar“, sagte er jedoch noch, ehe er sich zum Gehen umdrehte. „Das Haus braucht dringend eine gründliche Renovierung. Eigentlich müsste die Baubehörde verbieten…“ Alison stellte sich ihm rasch in den Weg. Damit durfte Kevin ihr nicht entkommen. „Du bist bei June gewesen?“ „Genau das habe ich gesagt, ja.“ Er blickte kurz zu Luc hinüber und unterdrückte ein Grinsen. Er konnte förmlich sehen, wie die Fragen im Kopf seiner Schwester herumpurzelten. „Du passt nicht auf, Aly.“ „Das tue ich doch!“ protestierte sie. „Aber du drückst dich nicht klar aus, sondern redest nur von unwichtigen Dingen.“ Sein Besuch bei June dagegen versprach, spannend zu werden. „Was hast du bei June gemacht?“ „Nun, ich habe einige Zeit damit verbracht, den Traktor zu reparieren.“ Wieder
machte er Anstalten, zu gehen und damit Alisons Fragen zu entkommen. Doch jetzt packte Alison ihn am Arm. „Moment mal. So schnell kommst du mir nicht davon. Was hast du die übrige Zeit getan? Wir haben mit dem Essen auf dich gewartet. Dann haben wir ohne dich gegessen und immer noch gewartet“, hielt sie ihm vor. „Übrigens steht was im Kühlschrank, falls du hungrig bist.“ Er schüttelte den Kopf. „June hat mich gebeten, die Zaunpfosten zu richten. Und als ich damit fertig war, habe ich June etwas zu essen gemacht. Ich dachte tatsächlich, es sei Mittagzeit. Ohne Uhr ist man hier absolut aufgeschmissen, und ich muss meine irgendwie verlegt haben.“ „Ich kann dir eine leihen, bis du deine findest“, bot Luc sich an. „Ich habe noch eine herumliegen, die ich nicht brauche.“ Wollten die zwei sie absichtlich auf die Palme bringen? „Hört auf, über banales Zeug zu reden“, forderte Alison die beiden Männer auf. „Du hast also für June gekocht?“ Bevor Kevin ihr antworten konnte, warf sie Luc einen Blick über die Schulter zu. „Hast du das gehört? Er hat für sie gekocht.“ Konnte Luc sich auch nur ausmalen, was das bedeutete? Ihr Bruder hatte für eine Frau ein Essen vorbereitet! Luc nickte. „In der dritten Welt soll es Länder geben, wo so etwas als ein Zeichen dafür gilt, dass man verlobt ist.“ Für diese Bemerkung handelte er sich einen Klaps von seiner Frau ein. Dabei hatte er geglaubt, es wäre in ihrem Sinn gewesen, Kevin einen deutlichen Hinweis zu geben. Alison wandte sich wieder Kevin zu. „Deshalb also bist du so spät gekommen. Du hast für sie gekocht.“ Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte sie ihn an. „Und dann?“ „Und dann haben wir das gegessen, was ich gekocht habe.“ „Und dann?“ Kevin tat, als ob er nachdenken müsse. „Und dann haben wir das Geschirr abgewaschen.“ Am liebsten hätte sie Kevin gepackt und ihn geschüttelt. „Und dann?“ Er spreizte die Hände. „Und dann haben wir abgetrocknet“, fuhr er unschuldig fort. „Kevin!“ „Jetzt schreit sie“, sagte Kevin zu seinem Schwager. „Hat das immer noch das zu bedeuten, was es bedeutete, als sie in Seattle lebte?“ „Sie ist wütend.“ „Es bedeutet also immer noch das Gleiche.“ Alison wusste, dass die Männer sie ablenken wollten. Nun, sie war nicht in der Stimmung herumzualbern. „Wollt ihr beide bitte endlich aufhören, von mir zu reden, als ob ich plemplem wäre?“ Sie blickte Kevin neugierig ins Gesicht. „Kevin, hast du sie geküsst?“ fragte sie dann und betonte dabei jede Silbe. Was ihn anging, so hatte er keine Geheimnisse. Doch in diese Angelegenheit war June mit verwickelt, und er würde das, was zwischen ihm und ihr geschah, nicht an die große Glocke hängen. „Das geht nur mich etwas an, Aly.“ Es tat ihm jedoch Leid, als seine Schwester ganz enttäuscht dreinblickte. „Auch wenn ich sie geküsst hätte, würde es nichts auf sich haben. June gehört zur Familie, hast du das vergessen? Sie ist noch ein Kind.“ „Sie ist zweiundzwanzig“, erinnerte Alison ihn. Kevin wollte sich auf keinen Wortwechsel einlassen. „Ein halbes Kind“, gab er gelassen zu. Luc fand, dass es an der Zeit wäre, sich als unparteiischer Dritter einzuschalten. „Also, wirst du das halbe Kind wiedersehen?“ Seine Stimme klang dabei so, als
ob er die Antwort bereits kannte. Kevin nickte. Er war zu müde, um das Gespräch noch weiter auszudehnen. Seine Muskeln schmerzten von der harten Arbeit. Es war eine echte Schufterei gewesen, und er fühlte sich erschöpft. „Morgen. Ich habe ihr versprochen, am Haus einiges zu tun.“ Das läuft ja fantastisch, dachte Alison. Lily wird glücklich darüber sein. Doch um den Schein zu wahren, fühlte sie sich genötigt, kritische Einwände zu machen. „Wolltest du nicht Lily morgen bei den Hochzeitsvorbereitungen helfen?“ „Möchte sie das denn wirklich?“ fragte Kevin. „Nun ja, eigentlich nicht“, gab Alison zu. „Aber…“ „Genau das nahm ich an.“ Kevin hoffte, dass das endlose Hin und Her damit beendet wäre. „Deshalb habe ich mich auch angeboten, das eine oder andere am Farmhaus zu reparieren, solange ich hier bin. Das Haus ist in einem schlimmen Zustand. Wenn der Winter einfällt, könnte June sich zu Tode frieren.“ Alison und Luc wechselten einen warnenden Blick. Keiner von beiden wollte, dass Kevin etwas von dem Plan erfuhr, er sollte sich gleich nach Lilys Hochzeit um ihr geplantes Restaurant kümmern. Die Entwicklung der Dinge war so viel besser. „Wie aufmerksam von dir, das zu bemerken“, murmelte Alison. „Nun ja, dir ist noch nie etwas entgangen.“ Sie ging in Richtung Küche. „Bist du hungrig?“ fragte sie wieder. „Nein“, antwortete Kevin mit Nachdruck. „Ich bin nur todmüde und will jetzt ins Bett. Also, Gute Nacht.“ Er nickte Luc zu und blieb kurz stehen, um Alison einen Kuss auf die Wange zu drücken. Dann stieg er die Treppe zum Gästezimmer hoch. „Träum süß“, rief Alison ihm nach. Kevin musste sich nicht umdrehen, um ihr triumphierendes Grinsen zu sehen.
8. KAPITEL June blieb einige Schritte von der vorderen Veranda entfernt stehen, um das Farmhaus kritisch in Augenschein zu nehmen. Kevin hatte die Abmachung gehalten und war jeden Tag gekommen. Als Erstes hatte er begonnen, das Dach zu reparieren. Dachpfannen mussten ersetzt, vom Wetter und der Zeit morsch gewordene Balken mussten erneuert werden. Das Hämmern und Sägen hatte fast zwei Wochen lang eine nie endende Geräuschkulisse abgegeben. June musste zugeben, dass das alte Gebäude jetzt fast nicht wieder zu erkennen war. Kevin wirkte völlig vertieft in seine Arbeit, als sie sich ihm näherte, und er sah so männlich aus, dass ihr Herz ganz schön pochte. Überall auf seinem Gesicht und den bloßen Schultern hatte er Farbkleckse. Und von der Brust bis fast zum Bauchnabel war Farbe verschmiert. Es war wieder ein drückend schwüler Tag, und wahrscheinlich hatte Kevin sich mit der schweißnassen Hand über den Oberkörper gestrichen. Es juckte June in den Fingern, ihm die Farbe vom Oberkörper zu wischen, aber vorsichtshalber steckte sie die Hände tief in ihre Jeanstaschen. Kevin spürte bereits seit einer ganzen Weile, dass sie ihn beobachtete. „Genehmigt?“ June konnte den Blick nicht von den kräftigen Armmuskeln reißen, die sich spannten und hervortraten, während Kevin dem Holz einen hellen Anstrich gab. Nur widerwillig sah sie schließlich weg. „Das Haus sieht aus wie neu.“ Aufrichtige Bewunderung lag in ihrer Stimme. Kevin tauchte den Pinsel in den fast leeren Eimer. Wenn er diese Hausseite noch vor Abend fertig haben wollte, würde er nach Hades reinfahren müssen, um mehr Farbe zu besorgen. Um eine kurze Verschnaufpause zu machen, legte er den Pinsel ab und trat ein paar Schritte zurück, um seine Arbeit zu begutachten. Er hatte für das Haus die Farbe Weiß gewählt. Weil es aber in einem der berüchtigten Schneestürme während der lang andauernden Wintermonate dann nicht mehr zu erkennen wäre, hatte er die Außenwand um die Fenster herum und die Fensterläden in einem leuchtenden Königsblau gestrichen. „Das Haus brauchte nur einige neue Balken und mehrere Schichten von Farbe, das ist alles.“ Das ist nicht alles, sondern ganz entschieden viel, viel mehr, dachte June. Es hatte mit Liebe zu tun. Was immer Kevin tat, er tat es mit Liebe – auch diese Arbeit. June konnte das in jedem Pinselstrich und in jedem neuen Nagel, den er eingeschlagen hatte, erkennen. Kevin war ein Mann, der sich niemals mit halber Arbeit zufrieden geben würde. Und er war ein Mann, der bei der Sache blieb, bis die Arbeit ausgeführt war. June nahm sich zusammen, bevor ihre Begeisterung sie womöglich zu irgendetwas Unüberlegtem hinriss. Ihre Mutter hatte wahrscheinlich so ähnlich für ihren Vater empfunden. Den Berichten von Junes Großmutter zufolge hatte Wayne Yearling mit seinem unwiderstehlichen Charme ihre Mutter um den kleinen Finger wickeln können. Sie war ihm so ausgeliefert gewesen, dass sie die Verlobung mit einem liebevollen und recht gut situierten Mann gebrochen hatte, um mit Wayne durchzubrennen. Neun Monate später war sie mit einem Neugeborenen auf den Armen und einem arbeitslosen Ehemann an ihrer Seite wieder zurückgekehrt. Ursula hatte sie alle aufgenommen und dann den Kaufvertrag unterzeichnet, die sie zu Grundeigentümerin dieser Farm gemacht hatte. Ihr Vater war nicht jedoch fähig gewesen, die Farm rentabel zu bewirtschaften.
Wie sie darauf gekommen war, ihren Vater mit Kevin zu vergleichen, wusste June selber nicht. Kevin war ganz anders. Er würde nicht versuchen, sie um den kleinen Finger zu wickeln. Allein schon deswegen nicht, weil er gar keine Ahnung hatte, wie sexy er aussah mit der dicken Farbschicht auf seinem dunklen Brusthaar. Wenn sie nicht aufpasste, verlor sie noch den Kopf. Also rief June sich zur Vernunft. Mit dem Kinn deutete sie auf sein letztes Machwerk. „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.“ Kevin sah das anders. Er musste sich einfach beschäftigen. „Lass nur. Statt mich auf die faule Haut zu legen, schaffe ich lieber etwas, solange ich hier bin. Lily hat mir ziemlich deutlich klar gemacht, dass sie sich selbst um die Vorbereitungen für ihre Hochzeit kümmern will.“ Er musste lächeln. Seine Schwester konnte ziemlich bestimmend sein, vor allem, wenn es darum ging, Partys zu planen. „Ich bin mir nicht mal sicher, ob Max ihr zur Hand gehen darf.“ „Ich kann mir bei Max nicht vorstellen, dass er darauf wartet, etwas tun zu dürfen.“ Wenn Max sich im Hintergrund hielt, dann nur, weil er es auch wirklich so wollte. „Mein Bruder ist zwar ein ruhiger Mann, aber ganz sicher nicht der Typ, der sich überfahren lässt.“ Sie musterte Kevin mit zur Seite geneigtem Kopf, so als ob sie etwas an ihm neu entdeckt hätte. „Irgendwie erinnerst du mich an ihn. Nur, dass du viel praktischer veranlagt bist.“ Sie hätte nicht in einem Haus leben wollen, das Max mit eigenen Händen von Grund auf repariert hatte. „Das höre ich sehr oft. Irgendwie muss ich alle Leute an ihren großen Bruder erinnern“, erwiderte Kevin. „So war das nicht gemeint.“ June warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Ich denke nicht von dir als großer Bruder.“ Überrascht sah Kevin ihr in die Augen, und tiefes Verlangen rührte sich plötzlich in ihm. „Das solltest du aber.“ Sie standen nur Zentimeter voneinander entfernt. „Warum?“ Kevin machte den ersten Schritt. Es lag nun an June, einen Schritt zurückzutreten, aber sie ließ den Moment verstreichen. „Weil es sonst nicht ungefährlich wäre, einen halb nackten Mann mit einem Malerpinsel auf deinem Grundstück herumlaufen zu haben“, gab er zu bedenken. „Wäre das nicht genug, um ins Gerede zu kommen?“ June lachte auf. „Hier redet man ständig über andere. Es ist das größte Hobby der Bevölkerung von Hades. Außerdem“, sie machte eine umfassende Handbewegung, „bietet dies hier sowieso endlosen Gesprächsstoff für den ganzen Kreis.“ Zuerst glaubte Kevin, sie meinte die Farm. Wie konnte aber eine Farm Stoff genug liefern, um sich den Mund zu zerreißen? Prüfend sah er sie an. „Du?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nicht ich.“ Ihr fiel ein, was die Leute über sie alles verbreitet hatten, als sie noch jünger war. „Ich bin nur die jüngste Tochter von bettelarmen Eltern.“ Es hatte in Hades einige Leute gegeben, die sie nicht einzuschätzen wussten, als sie ins Teenageralter kam und Motoröl aufreizendem Parfüm vorzog. „Mich hielt man für seltsam, weil ich mich lieber mit Motoren abgab als mit Männern.“ Sie zuckte die Schultern. „Jedenfalls fand ich das sicherer. Meistens kann man zum Schluss aus einem Motor schlau werden.“ Sie lächelte belustigt. „Mit Männern ist das nicht der Fall.“ Kevin zupfte etwas von der getrockneten Farbe aus seinem Brusthaar, und es blieb ihm nicht verborgen, wie fasziniert June ihn dabei beobachtete. „Komisch“, sagte er nach einer Weile. „Mir ging das mit den Frauen genauso.“ Er hatte das noch nie jemandem gegenüber eingestanden. „Einen Motor auseinander zu nehmen und ihn zum Surren zu bringen ist viel leichter, als es das bei einer Frau
wäre.“ Bei seiner Wortwahl horchte June auf. „Du hast versucht, eine Frau zum Surren zu bringen?“ Kevin hatte nur einen Vergleich machen wollen. „Nicht ich. Bis zu seiner Heirat ist das immer Jimmys Gebiet gewesen. Ich hätte nicht gewusst, wie ich so etwas anstellen sollte.“ June konnte sich nur wundern. War Kevin so schüchtern, oder war er sich seiner Wirkung auf Frauen – auf sie – einfach nicht bewusst? „Mir scheint, dass das Küssen ein guter Anfang wäre. So wie du küsst, könntest du jeder Frau den Kopf verdrehen.“ „Wirklich?“ Kevin sah sie ungläubig an. „Wirklich“, bestätigte June. „Es überrascht mich, dass du so erfahren bist.“ June zuckte ein wenig hochnäsig die Schultern. „Warum sollte ich es nicht sein?“ Das war eine glatte Lüge, aber sie war noch nicht bereit, die Wahrheit einzugestehen. „Man muss nicht in einer Großstadt leben, um einen Wolkenkratzer zu erkennen, wenn man einen sieht.“ Kevin lachte. „Du bist mir schon eine, June.“ „Bin ich das?“ Sie spielte mit dem Feuer, und sie wusste es. Ja, sie legte es sogar darauf an. „Was soll ich deiner Meinung nach denn sein?“ Eine Verführerin. Eine Verführerin in Jeans. Wenn er sich jetzt nicht zusammennahm, dann würde etwas geschehen, was er bitter bereuen könnte. „Nun ja, unter diesen ausgebeulten Overalls, dem übergroßen Arbeitshemd und mit diesem Farbklecks auf der Nase“, er unterbrach sich, um mit dem Daumen den Fleck zu entfernen, „verbirgt sich eine schöne Frau, die nur darauf wartet, dass es geschieht.“ Weil der Farbklecks noch nicht ganz weg war, wischte Kevin wieder über ihre Nase. Allerdings mit dem Erfolg, dass die zärtliche Berührung seine Erregung noch drängender werden ließ. June hakte nicht nach, was er mit dem rätselhaften „dass es geschieht“ meinte. Sie sah ihn nur an und flüsterte: „Vielleicht ist es bereits geschehen.“ „Vielleicht“, stimmte Kevin ihr zu, kurz bevor er mit den Lippen sanft ihren Mund berührte. Es blieb jedoch nicht bei dem sanften Kuss. Kevin küsste June stürmisch, leidenschaftlich, bedeckte ihr Gesicht mit Küssen und drückte sie an sich, bis er das Gefühl hatte, der Boden unter seinen Füßen schwankte. Und im übertragenen Sinne hatte er tatsächlich keinen festen Boden mehr unter den Füßen. Er fing an, von Dingen zu träumen, die er nur vor wenigen Monaten als Hirngespinste abgetan hätte. Dabei wäre es klüger, sie tatsächlich als Hirngespinste abzutun. Wenige Jahre mehr zwischen ihnen, und June könnte leicht seine Tochter sein. Er durfte keine sexuellen Träume haben, die sie betrafen. Er musste sich zusammenreißen. Entschlossen legte er die Hände auf ihre Schultern und schob June von sich. Überrascht blickte sie zu ihm hoch. „Das hätte nicht geschehen dürfen“, erklärte er rau. June wollte nicht, dass es endete. Und doch stellte sich eine gewisse Ernüchterung ein. „Kevin, musst du eigentlich zu allem deine Meinung dazugeben? Es ist geschehen, also sollte es auch geschehen. Und mir tut es überhaupt nicht Leid.“ Sie blickte auf den Farbeimer, der gleich neben ihren Füßen stand. „Ist das dein letzter?“ „Was?“ Sie grinste. „Ich meine den Farbeimer, nicht den Kuss.“ Sie wies mit dem Daumen über ihre Schulter in Richtung ihres Wagens. „Weil ich in die Stadt
fahren könnte, um mehr zu holen. Farbe“, setzte sie lächelnd hinzu. Kevin hatte sich bereits vorgenommen, in die Stadt zu fahren. Und nun war das sogar dringend notwendig geworden, da er Abstand bekommen musste. „Ich hole die Farbe. Ich könnte im Augenblick gut eine Pause gebrauchen.“ „Von der Arbeit oder von etwas anderem?“ June warf ihm einen wissenden Blick zu. Für einen unerschrockenen Mann verhielt Kevin sich ziemlich feige. Er tat ganz unschuldig. „Du bist es gewesen, die mich gemahnt hat, die Dinge nicht zu komplizieren. Schon vergessen?“ June wusste, dass sie ihn nicht so anstarren sollte, aber es fiel ihr schwer, den Blick von seinem attraktiven Körper zu wenden. „Wenn du dich im Warenhaus ohne Hemd blicken lässt, dann garantiere ich dir, dass Mrs. Kellogg dir die Farbe zum Selbstkostenpreis verkauft. Vielleicht schenkt sie dir die Farbe sogar.“ Er streifte sich das Hemd über und fing an, es zuzuknöpfen. „Und warum sollte Mrs. Kellogg so etwas tun?“ „Nun, sie ist eine Frau.“ Kevin lachte, während er das Hemd in die Hose stopfte. „Du bist wirklich gut für das Selbstwertgefühl eines Mannes.“ „So etwas sage ich nicht jedem Mann“, erwiderte June. Eigentlich hätte Kevin sie wieder küssen wollen, das Verlangen war einfach zu groß, aber dann würde er nicht mehr gehen. Also nickte Kevin kurz und ging zu Alisons Jeep hinüber. „Ich bin bald zurück“, versprach er noch. June sah ihm nach. Nun gut, sagte sie sich, vielleicht hat Kevin ja Recht. Vielleicht hatten sie beide tatsächlich nicht den nötigen Abstand, um klar zu denken. Jedes Mal wieder, wenn sie in Kevins Nähe war, fühlte sie sich wie umgewandelt. „Es könnte sein, dass ich nicht hier bin, wenn du zurückkommst.“ June wies zum Horizont hin, wo das Farmland endete. „Im Südfeld wartet einige Arbeit auf mich.“ „Ich könnte die Arbeit übernehmen, wenn ich wieder zurück bin.“ June schüttelte den Kopf. „Du tust schon mehr, als du eigentlich solltest. Ich möchte nicht, dass man mir vorwirft, ich hätte dich vor deiner Abreise erschöpft.“ „Das würdest du nicht schaffen.“ Kevin startete den Jeep. Lilys Hochzeit war in knapp einer Woche. Und den Flug zurück nach Seattle hatte er für den Tag darauf gebucht. Die Zeit verging schnell. Er fühlte sich plötzlich irgendwie niedergeschlagen, aber dieses Gefühl war für ihn nicht neu. Seit seine Geschwister nicht mehr bei ihm waren, hatte er es immer darauf zurückgeführt, dass er allein war. Und das bewies eigentlich nur, dass June für ihn – neben Jimmy, Alison und Lily – sozusagen ein Geschwister mehr war. Während er den Jeep auf die Straße nach Hades lenkte, schüttelte er den Kopf. Schon komisch, wie Menschen sich manchmal selbst belügen konnten. Es gab Zeiten, wo es June zum Grab ihrer Mutter zog, um Dinge loszuwerden, die sie bedrückten. Dass sie keine Antwort zu hören bekam, störte sie wenig. Wenn alles rundherum still war, konnte sie die Antwort in ihrem Herzen spüren. Heute war so ein Tag. Ganz impulsiv hatte June ihre Arbeit einfach abgebrochen und hatte eine Hand voll Wildrosen gepflückt, um damit das Grab ihrer Mutter zu schmücken. Ihre Mutter hatte Wildrosen sehr geliebt. Auf diesem Friedhof waren die Bürger von Hades begraben, vor allem die Bürger, die auf der Suche nach Neuland hier in der Gegend hängen geblieben waren.
June lächelte in Erinnerung an ihre Mutter, als sie durch das schmiedeeiserne Tor den Friedhof betrat. Ihr Lächeln verblasste jedoch ein wenig, als sie bemerkte, dass sie nicht allein war, wie sie gehofft hatte. Sie blieb stehen und musterte die Person, die vor dem Grab ihrer Mutter stand. Es war ein Mann, und er war ihr fremd. Er war groß, grauhaarig und breitschultrig. Allerdings ließ er die Schultern hängen, so als ob das Leben ihm übel mitgespielt hätte. Was hat der hier wohl zu suchen? überlegte June. Auf dem Grab lag ein üppiger Strauß. Die Blumen waren frisch. Vielleicht war ihre Großmutter vorbeigekommen. June dachte nach, ob dieser Tag irgendeine Bedeutung hatte. Und dann erinnerte sie sich. Natürlich! Es war der Hochzeitstag ihrer Mutter! Sie starrte auf den Rücken des Fremden. Hatte er die Blumen dorthin gelegt? Und wenn, warum? Eine plötzliche Ahnung kam in ihr auf. Energisch ging sie auf das Grab zu. „Was tun Sie hier?“ fragte sie kurz angebunden. Der Mann zuckte zusammen und drehte sich langsam zu ihr um. Er hielt einen formlosen hellbraunen Hut in der Hand, der sicher schon bessere Tage gesehen hatte, und fuhr mit zitternden Fingern über den Hutrand. „Ich wollte ihr nur sagen, dass es mir Leid tut“, erwiderte er ruhig und wies mit einer Kopfbewegung auf das Grab. June spürte, wie ihr ganzer Körper sich anspannte. Noch ehe sie etwas darauf erwidern konnte, setzte der Mann mit leiser Stimme hinzu: „Ich bin eine kurze Zeit mit ihr verheiratet gewesen.“ „Das kann nicht stimmen“, entgegnete June mit stahlharter Stimme. „Sie war nur ein Mal verheiratet, und er ist tot.“ „April?“ fragte er mit unendlich traurigem Blick. Sie starrte ihn böse an. „Nein.“ „Also dann – June.“ Warum zum Teufel tauchte er jetzt auf, wo er weder ihr noch ihren Geschwistern irgendetwas bedeutete? Der Mann sah sie an, er hatte Tränen in den Augen. „Oh, June, du siehst genau aus wie sie. Genau wie deine Mutter.“ Seine Stimme brach fast. „Sie war eine so schöne Frau.“ „Nicht, nachdem ihr Leben zerstört wurde.“ June musste sich zusammenreißen, um ihn nicht anzuschreien, wie unmenschlich er gehandelt hatte, als er ihre Mutter verließ. Er hatte sie damit zu einem Leben voller Sorgen verdammt, bis sie schließlich dahinsiechte. „Ich bin gekommen, um mich dafür zu entschuldigen.“ Er sagte das mit gesenktem Kopf, fast demütig. „Damit kommst du zu spät.“ June bückte sich, nahm seinen Strauß vom Grab und warf ihn zur Seite. „Sie kann dich nicht hören.“ „Aber du kannst es. Du und April und Max, ihr könnt es.“ „Wir wollen das aber gar nicht hören. Es ist zu spät dafür.“ June blickte ihn voller Vorwurf an. Dieser Mann sah gar nicht aus wie der Mann auf dem Foto, das sie bei ihrer Großmutter gesehen hatte. Auf dem Foto lachte der Mann. Es war sein Hochzeitstag, seiner und der ihrer Mutter. June konnte sich nicht erinnern, ihre Mutter jemals so lächeln gesehen zu haben. „Als sie dich anflehte zu bleiben, hast du nicht gehört.“ Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht. „Du bist zu klein gewesen, um das alles zu verstehen.“
„April war nicht zu klein.“ Ihre Schwester war elf gewesen, als ihr Vater sie alle verlassen hatte. „Großmutter war es auch nicht. Und beide haben mir erzählt, dass Mutter dich immer wieder gebeten hat, uns nicht zu verlassen. Dass sie dich angefleht hat! Du bist trotzdem gegangen. Du hast gesagt, dass du in dieser Stadt erstickst. Wir waren dir gleichgültig.“ „Das habe ich nicht gesagt!“ protestierte er. „Auch wenn du es nicht gesagt hast, wir waren dir gleichgültig genug, um uns im Stich zu lassen.“ Damit wandte June sich ab und ging davon. „June, warte! Ich will es wieder gutmachen. Was kann ich tun?“ Erst als sie in sicherer Entfernung war, gab sie ihm die Antwort. „Verschwinde!“
9. KAPITEL Als Kevin mit dem frischen Farbeimer aus der Stadt auf die Farm zurückkam, war von June weit und breit keine Spur zu entdecken. Da sie ihm aber bereits gesagt hatte, dass sie wahrscheinlich auf dem Feld sein würde, dachte er sich zuerst nichts dabei. Erst nach einer ganzen Weile, als er wieder auf die Leiter stieg und die weitere Umgebung im Blick hatte, fing er an, sich zu fragen, wo sie wohl sein mochte. Der Traktor stand immer noch auf dem Platz, wo sie ihn zurückgelassen hatte, als sie am Vortag spät nach Hause gekommen war. Ganz sicher wäre sie doch mit dem Traktor aufs Feld gefahren, wunderte er sich. Kevin musste über sich selbst den Kopf schütteln. Es gab mindestens hundert verschiedene Arbeiten, die um die Farm herum getan werden mussten. Er hatte keine Ahnung, warum Junes Abwesenheit ihn so beunruhigte. Nun ja, es lag wohl in seiner Persönlichkeit dass er sich ständig Sorgen machte. Jedenfalls hatte Lily ihm dauernd vorgeworfen, dass er sich zu viele überflüssige Sorgen mache. Während er mit dem Anstreichen fortfuhr, dachte er über seine frühe Jugendzeit in Seattle nach, wie sorgenfrei er aufgewachsen war und wie viele Pläne er sich für seine Zukunft zurechtgelegt hatte. Er hatte Medizin studieren und Chirurg werden wollen, um in einem der vielen Krankenhäuser der riesigen Hafen- und Industriestadt zu arbeiten. Er hatte davon geträumt, gelegentlich in Dritte-WeltLänder zu reisen, um dort den Menschen zu helfen. Nichts war von seinen Plänen übrig geblieben, als seine Eltern kurz hintereinander starben. Seitdem hatte er keine Pläne mehr gemacht. Doch während er die Leiter wieder hinunterkletterte, entschied er, dass er unbedingt etwas mit seinem Leben anfangen müsste. Dröhnendes Motorgeräusch lenkte ihn von seinen Gedanken ab. Zuerst glaubte er, es sei ein Flugzeug, das besonders niedrig über ihm dahinflog. Am Himmel bewegte sich aber nichts, außer einem Schwarm Vögel. Er blickte zur Straße hin und sah Junes Geländewagen mit Vollgas auf das Haus zufahren. Irgendetwas war geschehen. Es gab keine andere Erklärung für das wahnsinnige Tempo. Fast rutschte er die letzten Sprossen der Leiter herunter. Aus dem Eimer schwappte Farbe über, als Kevin ihn hart auf dem Boden absetzte. Dann rannte Kevin auf den Wagen zu und bemerkte Junes aschfahles Gesicht durch die Windschutzscheibe. June brachte den Wagen knapp einen Meter vor Kevin mit quietschenden Reifen zum Stehen. Doch statt auszusteigen, blieb sie hinter dem Lenkrad sitzen. Kevin bemerkte, dass sie zitterte. Kurz entschlossen riss er die Fahrertür auf. Sie sah regelrecht verstört und schrecklich verloren aus. „June, was ist passiert?“ Nachdem sie sich von ihrem Vater entfernt hatte und davongebraust war, war ihr die ganze Situation fast unwirklich vorgekommen, so als ob das alles nicht geschehen wäre. Nein, es hatte nicht geschehen können. Ihr Vater war tot, daran hatte es für sie nie Zweifel gegeben. Und sie war sich sicher, dass auch April und Max so dachten. Konnte es ein Hirngespinst gewesen sein? Wahnvorstellungen waren bei den Leuten in der Gegend um Hades nicht so ungewöhnlich. Sie versuchte sich zu sammeln, versuchte, das irre Gefühl, nicht ganz bei Sinnen zu sein, abzuschütteln. Wie aus weiter Ferne hörte sie Kevins Stimme. „June?“
Irgendwie war sie aus dem Wagen gekommen. Ob Kevin sie herausgezogen hatte oder ob sie selbst herausgeklettert war, wusste sie nicht. Sie wusste nur, sie wollte einfach nicht glauben, dass ihr Vater zurück war. Nicht nach all der Zeit. Nicht, nachdem sie ihn seit Jahren aus dem Gedächtnis verloren hatte. „June, was ist los?“ Kevin unterdrückte den Wunsch, sie bei den Schultern zu packen und die Benommenheit aus ihr herauszuschütteln. „Ist in der Stadt etwas passiert? Oder dir? Oder den anderen?“ So vieles hätte geschehen können. „June“, drängte er. „Sag etwas. Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht redest.“ Kevin entschloss sich, die Klinik anzurufen und Jimmy dazu zu bringen, sich sofort auf den Weg zur Ranch zu machen. June war wie unter Schock. Er nahm sie hoch und trug sie ins Haus. Erst da kam June zu sich. Mit einem halb unterdrückten Aufschrei wollte sie sich von ihm losreißen. Kevin ließ sie sofort herunter und überlegte fieberhaft, wie er sich verhalten sollte. Er hatte keinen blassen Schimmer, was er tun sollte oder warum sie sich so seltsam verhielt. Vorsichtig strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie war noch immer totenblass. „Magst du mir erzählen, was los ist?“ fragte er liebevoll. Langsam blickte sie hoch und sah ihn an, als ob ihr erst jetzt bewusst wäre, wer mit ihr gesprochen hatte. „Er ist zurück.“ „Wer ist zurück?“ Unwillkürlich kam ihm Haggerty in den Sinn, der Mann, der June bei Salty belästigt hatte. Doch der Grubenarbeiter schien ihm nicht der Typ zu sein, sich mit aller Macht aufzudrängen. „Nimm dir Zeit“, sagte er leise und gegen all die Ungeduld, die er verspürte. June schluckte schwer, bevor sie antwortete. Die Worte schienen ihr im Hals stecken zu bleiben. „Mein Vater“, flüsterte sie heiser. „Mein Vater ist zurück.“ Kevin wusste um die Familiengeschichte. Er hatte sie nicht nur bruchstückhaft von June, sondern in allen Einzelheiten von Jimmy und Lily erfahren. Junes Vater war ein Mann, der nicht sesshaft sein konnte, der eine Familie gegründet hatte, um sie dann auf Nimmerwiedersehen zu verlassen. Er hatte sie ohne Skrupel seiner Wanderlust preisgegeben. Jeder am Ort glaubte, dass er tot sei. „Bist du sicher?“ June warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. „Natürlich bin ich sicher. Glaubst du, ich wüsste nicht, wie mein Vater aussieht?“ fuhr sie ihn an und bereute es sofort. „Es tut mir Leid. Ich bin nur…“ „Du musst dich nicht entschuldigen“, unterbrach Kevin sie. „Wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, hätte mich das genauso durcheinander gebracht.“ Kevin sagte das langsam und deutlich, da er nicht sicher war, ob June ihn überhaupt hörte. „Wo bist du ihm denn begegnet?“ Sie schloss die Augen vor dem Bild, das sich ihr unwillkürlich aufdrängte. „Auf dem Friedhof.“ Warum empfand sie diesen unerträglichen Schmerz? Dass ihr Vater sich einfach abgesetzt hatte, war für sie doch schon lange eine Tatsache. „Er stand am Grab meiner Mutter.“ „Kommst du gerade von dort?“ June nickte. „Ich gehe manchmal hin“, flüsterte sie. „Um mit ihr zu reden.“ Sie wurde ein wenig rot. „Nur, um wieder klar denken zu können. Wahrscheinlich hältst du mich für verrückt.“ Kevin lächelte sie an. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen, doch er hielt sich zurück. „Nein, das denke ich nicht. Ich rede ständig mit meinen Eltern. Irgendwie sind sie immer um mich.“ Er versteht mich, dachte June. Es bedeutete ihr im Augenblick so viel, jemanden
zu haben, der sie verstand. „Hat er dich erkannt?“ Sie lachte kurz auf. „Er glaubte, ich sei April. Und dann sagte er, dass ich genau wie meine Mutter aussehe.“ „Was wollte er denn?“ fragte Kevin sanft. June wandte sich halb ab von ihm, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zum Himmel hinauf. Nur keine Tränen, dachte sie. Wenn man weinte, dann war man schwach, und sie war schon immer stark gewesen. Genauso stark wie April und Max und ihre Großmutter. Dann atmete sie tief durch und fasste sich wieder. „Er hat gesagt, dass es ihm Leid tut.“ „Weil er euch im Stich gelassen hat?“ June ballte die Hände zu Fäusten und wirbelte zu Kevin herum. Die widersprüchlichsten Gefühle drückten sich in ihrem Gesicht aus – Trauer, Zorn, Verwirrung. „Meine Mutter ist tot, es ist seine Schuld, dass sie so früh gestorben ist, und plötzlich tut es ihm Leid.“ Sie spuckte die Worte förmlich aus. „Er glaubt wohl, dass, wenn er zurückkommt und uns das sagt, alles wieder in Ordnung wäre. Dass alles vergeben und vergessen sei.“ Kevin konnte nachfühlen, wie ihr zu Mute sein musste. „Ich weiß, June, ich weiß. Es braucht seine Zeit.“ „So viel Zeit gibt es gar nicht.“ June konnte die Bitterkeit nicht unterdrücken, die in ihr aufkam, konnte den Schmerz nicht überwinden, weil der Vater, den sie als Kind über alles geliebt hatte, sie so grenzenlos enttäuscht hatte. Er hatte ihre Kindheit ruiniert. Tröstend legte Kevin ihr die Hand auf die Schulter. „Ich verstehe, dass du jetzt so fühlst…“ Mit einer abrupten Bewegung entzog sie sich ihm wütend. „Ich werde immer so fühlen“, entgegnete sie und trat zwei Schritte zurück. „Ich lasse mich nicht mit ein paar Worten abspeisen, die außerdem noch viel zu spät kommen. Jahre zu spät.“ June war verstört. Sie musste sich erst beruhigen. Wenn ihr Vater wirklich zurückgekommen war, würde sie ihm vergeben müssen, schon alleine ihrer selbst wegen. Plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke. Ihr ging auf, welche Folgen es haben könnte, dass ihr Vater hier in Hades war. Entsetzen trat in ihren Blick, und sie griff nach Kevins Arm. „Wir müssen ihn von hier weg bekommen“, platzte sie mit schriller Stimme heraus. „Er wird die Hochzeit von Max und Lily ruinieren. Er wird…“ „Ich kann mit ihm reden, wenn du das möchtest“, erwiderte Kevin ruhig. „Ich denke nur, dass Max und April davon erfahren sollten.“ „Nein!“ June klang unerbittlich. „Das wäre nicht fair.“ Es genügte, dass das unerwartete Auftauchen ihres Vaters ihr einen tiefen Schock versetzt hatte. Ihr Bruder und ihre Schwester sollten nicht das Gleiche durchmachen. „Du kannst diese Entscheidung nicht für die beiden treffen, June. Vielleicht möchten sie ihn anhören.“ Sie wollte ihm widersprechen, doch Kevin ließ es nicht zu. Er wusste genau, was in ihr vor sich ging. „Mir ist klar, dass du sie vor einer bösen Überraschung so kurz vor der Hochzeit schützen willst, aber leider geht das nicht. Du kannst auch nicht deinen Vater für euch alle bestrafen. Du kannst es bloß für dich tun.“ „Ich versuche nicht, ihn zu bestrafen“, rief sie verzweifelt. „Er verdient es nur nicht, von uns willkommen geheißen zu werden.“
Plötzlich fühlte June sich ausgelaugt und schrecklich müde. Tränen standen ihr in den Augen, und Kevins Herz zog sich vor Mitleid zusammen. „Ich möchte mich damit nicht mehr beschäftigen“, sagte sie mit erstickter Stimme. „Nicht jetzt.“ Kevin nahm sie in die Arme. June ließ es zu und barg ihr Gesicht an seiner Schulter. Warum tat das alles so schrecklich weh? Warum war sie so ruhelos und so verstört? Sie hob den Kopf und blickte ihm forschend ins Gesicht. „Bitte, sag Max nicht, dass unser Vater zurück ist.“ Wie konnte er ihr dieses Versprechen geben? Es wäre nicht richtig. „June…“ „Bitte“, flehte sie. „Sag ihm nichts. Ich werde es ihm sagen, wenn der geeignete Moment da ist.“ Es ging gegen Kevins Natur, etwas zu verschweigen, was für den anderen so entscheidend sein konnte. Junes Familie war jetzt auch seine Familie, und das war sie schon, seit Jimmy April geheiratet hatte. Andererseits konnte er es nicht übers Herz bringen, June die Bitte abzuschlagen. „Nun gut. Ich werde es niemandem sagen“, versprach er. „Du solltest Max trotzdem warnen. Ihn und April und deine Großmutter, bevor dein Vater bei ihnen auftaucht. Er ist vermutlich nicht zurückgekommen, um sich versteckt zu halten.“ June seufzte tief. Kevin hatte ja Recht. Schlagartig fühlte sie sich völlig verloren und ganz klein. „Halt mich, Kevin, halt mich. Ich glaube, ich stehe das nicht durch.“ „Ich halte dich“, flüsterte er tröstend, schloss June in die Arme und hielt sie fest an sich gedrückt. „Ich werde mit deinem Vater reden, wenn du es wünschst.“ Aus seiner Wärme zog June Kraft. „Sagst du ihm, dass er verschwinden soll?“ „Wenn du es möchtest, sage ich ihm auch das.“ „Du bist wirklich ein Gentleman.“ „Bin ich das? Ein Gentleman? Vielleicht. Eins bin ich aber ganz sicher, June. Ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst.“ „Ich brauche dich“, murmelte sie an seiner Schulter.
10. KAPITEL Was Kevin in Junes Augen las, ließ sein Herz höher schlagen. „Ich brauche dich, Kevin“, wisperte June wieder. Er konnte einfach nicht anders. Zärtlich umschmiegte er mit den Händen ihr Gesicht, als ob es ein kostbarer Schatz wäre, und presste die Lippen auf ihren Mund. Er hatte vorgehabt, es mit leichtem, zartem Druck zu tun, um June nur zu versichern, dass er für sie da sei, solange sie ihn brauchte. Sie hatte die Worte aber so drängend herausgebracht, dass auch sein letzter Widerstand dahinschmolz. June legte die Arme um seinen Hals und erwiderte den Kuss voller Leidenschaft. Die Begegnung mit ihrem Vater hatte in ihr einen Wirbel von Gefühlen verursacht, dem sie jetzt ausgeliefert war. Sie hatte das Gefühl, vor einem Abgrund zu stehen, und war sicher, dass nur Kevin sie vor dem Absturz retten könnte. Sie musste sich an etwas klammern, das Bestand hatte, um sie davor zu bewahren, im drohenden Dunkel verloren zu gehen. Sie brauchte Kevin wirklich, und sie klammerte sich an ihn, als ob es um ihr Leben ginge. Kevin gab ihr alles, was sie so dringend brauchte. Er selbst fühlte sich wie neu belebt. Bei diesem ersten Kuss wurden all die Empfindungen, die wie betäubt in ihm geschlummert hatten, schlagartig wach. Seine Hoffnung auf Liebe zu einer Frau war schon lange geschwunden gewesen, so wie all die anderen Träume seiner frühen Jugend. Und nun wurde die Hoffnung geweckt, dass die Sehnsucht nach Liebe sich doch noch erfüllen könnte. June war zutiefst verwirrt und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Alles schien durcheinander gebracht. Nut die Tatsache, dass Kevin ihr zur Seite stand, gab ihr Sicherheit. Der Kuss wurde heißer. Kevin ließ alle Bedenken fallen und lieferte sich June schutzlos aus. Sie spürte es, und das gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Sie fühlte sich so geborgen bei ihm, dass sie hätte weinen mögen. „June…“ Sie ließ Kevin nicht aussprechen, sondern umschmiegte sein Gesicht mit den Händen. Sie küsste ihn, um seine Mahnung und den möglichen Protest zu verhindern. „Sei still“, bat sie. „Liebe mich nur.“ Liebe mich nur. Diese Worte erregten Kevin so stark, dass er sich kaum zügeln konnte. Er trat einen Schritt zurück und umfasste ihre Schultern, um June von sich abzuhalten. „Ich lasse nicht zu, dass du etwas tust, was du bereuen wirst. Du bist so durcheinander, dass du nicht weißt, was du im Moment sagst.“ „Ich bin nicht durcheinander“, protestierte June. „Und ich werde es niemals bereuen.“ Kevin wusste es besser. Er war zu alt für sie. „Das sagst du jetzt.“ June würde nicht zulassen, dass er all dies zerstörte. „Willst du, dass ich dich anflehe?“ Tränen traten ihr in die Augen. „Ich werde dich nicht anflehen, Kevin. Ich…“ Ihre Tränen machten es ihm unmöglich, sich von June abzuwenden. Er beugte den Kopf und küsste sie. Sie küssten sich leidenschaftlich, stürmisch, haltlos. Irgendwann hob er kurz den Kopf, aber nur, um June auf die Stirn, die Wange, das Kinn und wieder auf den Mund zu küssen. Und noch während er sie küsste, nahm er sie auf die Arme.
June wollte Kevin gehören. Sie wollte, dass er ihr gehörte. Alles andere war ihr plötzlich gleichgültig. Kevin ging mit June auf den Armen zum Farmhaus und betrat es durch die Hintertür. Als er den Kuss abbrach, stöhnte June. „Was ist?“ fragte sie ängstlich, da sie fürchtete, dass Kevin wieder Einwände machen wollte. „Dein Schlafzimmer?“ Er wollte sie also auch. June erzitterte vor Glück. Kevin sah, wie ihre Augen aufleuchteten, als sie zur Vorderseite des Hauses wies. „Dahin“, hauchte sie. Er wusste, dass er sich nicht mit ihr einlassen sollte, aber für einen Rückzieher war es nun zu spät. „Du bist so leicht“, murmelte er. „Du solltest mehr essen.“ „Was mir an Gewicht fehlt, gleiche ich mit Energie aus“, scherzte sie, und in ihrem Blick lag ein aufregendes Versprechen. Ihr ganzer Körper prickelte vor Erwartung. Kevin hatte die Traurigkeit aus ihr verscheucht und in ihr eine solch brennende Sehnsucht geweckt, dass es ihr beinahe den Atem nahm. Er lächelte auf sie herunter, und June wurde ganz schwindelig bei diesem Lächeln. „Das hört sich gut an“, erwiderte er. „Endlich“, hauchte sie hingebungsvoll. Doch als sie das Schlafzimmer erreicht hatten, sagte sie: „Halt“, und Kevin war sicher, dass June es sich anders überlegt hatte. Abrupt blieb er stehen, und es überraschte ihn, dass sie sich nicht aus seinen Armen befreite. Ganz im Gegenteil, sie küsste ihn, und damit beseitigte sie auch die letzten Zweifel, die er noch gehabt hatte. Als er June über die Türschwelle ins Schlafzimmer trug, nahm er die Einrichtung nur ganz am Rande wahr. Wie der Rest des Hauses war es nur mit dem Nötigsten ausgestattet, und sogar das Wenige war in Unordnung. Das bewies erneut, dass June im Haushalt keine ausgeprägten Fähigkeiten hatte. Aber das störte Kevin kaum. Er war nicht auf der Suche nach einer Haushälterin. Sein Leben war sowieso viel zu ordentlich gewesen – zu eingeschränkt. Und sogar jetzt noch zerrten Zweifel an seinem Gewissen. Eine innere Stimme warnte ihn, dass er einen Schritt zu weit ging und dass die Folgen nicht ausbleiben würden. Doch seine Leidenschaft riss ihn fort, er konnte sie nicht zügeln. Es war zu spät. Vorsichtig legte er June auf das Bett. Die blau-weiße Steppdecke, die bereits halb aus dem Bett hing, schubste June zur Seite, so dass sie auf den Boden fiel. Dann lag June da und wartete auf Kevin. Sie sagte nichts, aber ihr Blick lud ihn ein, zu ihr zu kommen. „Es ist die letzte Gelegenheit, einen Rückzieher zu machen, June“, äußerte er widerwillig seine Bedenken. June sah ihn einen langen Moment an. „Ich mache keinen Rückzieher“, wisperte sie schließlich. Und das war alles, was Kevin hören wollte. Hastig streifte er sein Hemd ab und warf es beiseite. Er ließ June nicht aus den Augen, bis er zu ihr kam, dann fuhr er mit der Hand unter ihre Bluse und streichelte ihre zarte Haut. Junes Herz pochte, sie nahm seine Hand und führte sie zu ihrer Brust. Er hielt den Atem an, und ihre Blicke begegneten einander genau in dem Moment, als er mit der Hand ihren Busen bedeckte. Kevin senkte den Kopf und berührte zart ihre Lippen. Doch das Verlangen in ihm brannte lichterloh, und er ersehnte nichts so sehr, als June zu besitzen. Immer
wieder küsste er sie, mal stürmisch, dann wieder zärtlich. June stand in Flammen. Fast hätte sie sich ihr Arbeitshemd vom Leib gerissen, da sie die Knöpfe nicht schnell genug aufbekam. „Sachte“, flüsterte Kevin in ihr Haar. „Sachte.“ Geduldig knöpfte er das Hemd auf und zog es ihr aus. Ihre Haut war samtweich, cremig blass und unendlich verlockend. Er kämpfte mit sich, um June zuerst die Lust zu verschaffen und sich selbst noch zu bremsen. Er drückte einen warmen, aufreizenden Kuss auf den Ansatz ihrer Brust, bevor er ihr den BH hinten am Rücken aufhakte. Dann liebkoste er ihre entblößten Brüste, und ein Schauer der Erregung durchzog Junes Körper. Heiße Lust loderte in ihr auf und verlangte nach mehr. Nach Erfüllung. Nach Genuss. Nach Kevin. Sie tastete nach dem Reißverschluss seiner Jeans und sah, dass Kevin lächelte. Er schob ihre Hand zur Seite und zog den Reißverschluss selbst auf. Dann bemerkte er jedoch den leicht beleidigten Ausdruck in ihren Augen. Ganz offensichtlich glaubte June, dass er über sie lachte, dabei lag Kevin nichts ferner als das. Alles was June tat, fand er wunderbar, und er war freudig erstaunt, dass sie sich ihm so ohne Bedenken hingab. Kevin barg sein Gesicht an ihrem Hals und atmete den Duft ihres Haars sowie ihrer Haut ein. Dann zog er ihr mit einem Griff die Jeans samt der Unterwäsche von den Hüften. June war schön, und ihr geschmeidiger Körper war geradezu perfekt. So etwas hatte Kevin sich in seinen wildesten Träumen nicht vorstellen können. Und wieder blitzte in ihm der Gedanke auf, dass es nicht gut war, was er hier tat. Es war jedoch zu spät, auf Warnungen zu achten. Er begehrte June so sehr, und er war sich dessen so sicher, dass es kein Zurück mehr gab. Dennoch spürte June seine Bedenken heraus, aber sie hätte es nicht ertragen, wenn er sich von ihr zurückgezogen hätte. Also ergriff sie die Initiative und legte ihre Hand auf seine Hüfte. Diese Berührung genügte. Kevin konnte nicht schnell genug den Rest seiner Kleidung loswerden. Mit einem Stöhnen riss er June an sich und küsste sie mit verzehrender Leidenschaft. Sanft legte er sie dann wieder aufs Bett zurück und fing an, mit Lippen und Händen ihren Körper zu erkunden. Mit weit geöffneten Augen ließ June alles geschehen. Sie genoss es unendlich, dass ihr Körper sich wie von allein bewegte. Und immer wenn Kevin die empfindlichsten Stellen fand, um sie zu liebkosen, seufzte sie auf vor Glück und Verlangen. Bald genügten June diese Spiele jedoch nicht mehr. Sie wollte alles, sie wollte Kevin ganz. Sie drängte und bettelte und versuchte, ihn zu sich hochzuziehen. Völlig unvermittelt aber stieg ein wildes Drängen in ihr auf, das sich wie in einer Explosion entlud. Dann schmiegte June sich ganz erschöpft in Kevins geöffnete Arme. Was tat er mit ihr? Wie konnte er ihr diesen herrlichen Rausch verschaffen, in dem sie sich wie total aufgelöst fühlte und eigentlich nur weinen wollte? Kevin begann seine erneuten Erkundungen mit Mund und Lippen und weckte damit in June Empfindungen, die sie bislang nicht gekannt hatte. Jedes neue Gefühl nahm sie begierig auf, jede neue Welle der Lust, die sie überkam, genoss sie in vollen Zügen. Als Kevin sich schließlich auf sie legte, fühlte sie sich wie berauscht und war voller Erwartung.
Der Ausdruck in ihren Augen weckte eine tiefe Zärtlichkeit in ihm. Noch nie zuvor hatte eine Frau in ihm diesen Wunsch geweckt: sie ganz zu besitzen und sie gleichzeitig beschützen zu müssen. Noch nie zuvor hatte er sich so lebendig gefühlt, so unersättlich. Bis jetzt hatte er sich mit aller Selbstbeherrschung gezügelt, um June glücklich zu machen. Doch nun konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Er küsste sie stürmisch und hob ein letztes Mal den Kopf, um sie anzusehen. Wie von selbst öffnete June sich ihm. Hingebungsvoll blickte sie ihm in die Augen, als Kevin sich mit ihr vereinigte. Und in diesem Moment wurde Kevin klar, dass June noch nie zuvor mit einem Mann geschlafen hatte.
11. KAPITEL Die Vernunft sagte Kevin, dass er aufhören sollte, so schwer es auch sein würde. Aber das Bedürfnis, sie zu lieben, überwältigte ihn und wurde noch angeheizt durch June, die ihn mit ihrem ganzen Körper dazu drängte weiterzumachen. Es gelang ihr, ihn umzustimmen und ihn davon zu überzeugen, dass sie ihn wirklich wollte. Kevin bemüht sich, sie so sanft wie möglich zu lieben. June schlang die Arme um seinen Hals, barg das Gesicht an seiner Schulter, gab sich Kevin ganz hin und ließ sich von ihm führen. In diesem Moment war er ihr alles, und sie vertraute ihm bedingungslos. Die Erregung kam in Wellen und trug June zu ungekannten Höhen. Immer wieder hatte sie das Gefühl zu fliegen. Und als die Erfüllung kam, klammerte sie sich an Kevin, als ob sie fürchtete, sie könnte abstürzen. Noch lange lagen sie miteinander verbunden da, bis sie wieder zu Atem kamen. Nach einer Weile hob Kevin den Kopf und sah June an. Er trennte sich von ihr, blieb aber neben ihr liegen. Fieberhaft überlegte er. „Warum hast du es mir nicht gesagt?“ fragte er schließlich sehr vorsichtig, damit sie ihn nicht missverstand. „Was sollte ich dir sagen?“ fragte June trotzig zurück. „Du weißt, was ich meine. Dass es für dich das erste Mal gewesen ist.“ Sie warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Hättest du mich geliebt, wenn du es gewusst hättest?“ „Nein.“ June zog das zerknüllte Betttuch zu sich hoch und bedeckte sich damit betont sorgfältig. „Genau das ist der Grund, warum ich es dir nicht gesagt habe.“ „June, das erste Mal sollte etwas ganz Besonderes sein.“ Ihr wurde ein wenig leichter ums Herz. Kevin beschwerte sich also zumindest nicht, dass er seine Zeit mit einer unerfahrenen Frau zugebracht hatte. Er war vielmehr besorgt, dass es für sie womöglich enttäuschend gewesen wäre. Gab es diesen wunderbaren Mann wirklich, oder hatte sie sich ihn nur erträumt? „Wie kommst du darauf, dass es für mich nichts Besonderes war?“ „Weil…“ Kevin suchte nach den richtigen Worten. Als er sie jedoch nicht fand, sagte er das, was ihm in den Sinn kam. „Weil ich sehr viel älter bin als du.“ Weil ich dir nichts bieten kann, fügte er im Stillen hinzu, weil wir keine Zukunft miteinander haben können. June blickte ihm prüfend ins Gesicht. Kevin verstand nicht. Er verstand wirklich nicht. Er verstand nicht, wie einmalig er war. „Und das sollte für mich ein Problem sein?“ Sie legte sich bequem zurück. Nun musste sie sich nicht länger verteidigen. „Wenn ich einen üblichen Altersabstand gewollt hatte, hätte ich Haggerty oder Haley nachgegeben. Oder irgendeinem von den Typen, die mir schnelle Versprechen von irgendeinem Paradies gemacht haben.“ Kevin musste lachen. „So etwas hast du erlebt?“ June ließ das Betttuch ein wenig von den Schultern gleiten. „So ungefähr, ja. Die meisten Männer sind nicht gerade romantisch, wenn es um Sex geht. Ich will damit sagen, dass ich für das ,erste Mal’ lieber auf den richtigen Mann warten wollte.“ Sie warf ihm einen bedeutsamen Blick zu. „Und so ist es gewesen.“ June überschätzte ihn. Und sicher war die Tatsache, dass sie ohne Vater aufgewachsen war, dabei ein wichtiger Faktor. Sie suchte offensichtlich nach einem Vaterersatz. „June…“ Liebevoll legte sie einen Finger auf seine Lippen, um ihn zum Schweigen zu
bringen. „Sorg dich nicht, Kevin, ich stelle keine Ansprüche. Ich erwarte nichts. Ich weiß, dass du gleich nach der Hochzeit nach Seattle zurückkehren wirst. Und ich werde mein Leben wieder aufnehmen.“ Schelmisch grinste sie. „Aber ich werde ein wenig erfahrener sein, als ich es vor dieser Nacht war“, setzte sie noch hinzu. „Wahrscheinlich hast du mir mehr beigebracht als ich dir.“ Mit glänzenden Augen sah sie ihn an. Kevin war so lieb. „Wirklich?“ Kevin zog sie an sich. „Wirklich. Du hättest es mir trotzdem sagen sollen.“ Sie wurde sehr ernst. „Kevin?“ Er küsste sie auf die Stirn und fragte sich, ob ihr klar war, wie sehr sie ihn rührte. „Ja?“ „Nun, da der Schaden ohnehin angerichtet ist“, sie schmiegte sich auf eine Weise an ihn, dass er die Botschaft nicht missverstehen konnte, „würdest du es bitte noch mal tun?“ Oh ja, und wie er das wollte! Er ließ die Hände von ihren Schultern hinunter zur Taille gleiten. „Ja“, flüsterte er. „Nun, dann? Worauf wartest du?“ „Nur darauf, June. Nur darauf.“ Dabei riss er sie an sich und küsste sie so leidenschaftlich, als ob June ihm gehörte. Er war über sich selbst erstaunt. Dieser besitzergreifende Zug war ihm bislang völlig fremd gewesen. Um von ihrer kleinen Wohnung ins Postamt zu kommen, brauchte Ursula Hatcher nur die Treppe vom ersten Stock zum Erdgeschoss zu nehmen. Es war das einzige staatliche Postamt für den Bezirk Hades, der ein Einzugsgebiet von hundert Meilen im Umkreis hatte. Und dieses Postamt gab es bereits seit mehr als hundert Jahren. Ursula war an diesem Morgen ein wenig spät dran. Die Post war allerdings auch später als gewöhnlich eingetroffen. Sydney Kerrigans jüngste Tochter war krank, und es war Sydney nicht möglich gewesen, pünktlich nach Anchorage zu fliegen. Zu Sydneys Job gehörte es, die Post alle zwei Tage – im Winter alle drei Tage – von dort abzuholen. Ursula zog einen der Postsäcke zu ihrem Arbeitstisch und fing an, die Briefe zu sortieren. Mit gerunzelter Stirn versuchte sie, die Adresse auf einem der Briefe zu entziffern. Es gelang ihr zwar nicht, doch sie hatte aus langer Erfahrung trotzdem eine Ahnung, an wen er gerichtet war. Und so ordnete sie den Brief in eins der Ablagefächer ein. In Hades wurde ganz dringend ein regulärer Transportdienst gebraucht. Und mehr Flugzeuge. Die Stadt wuchs. Ursula hatte diesbezüglich so ihre eigenen Vorstellungen. Ein Lufttaxiservice schwebte ihr vor. Da die Straßen während der schweren Winterzeit oft monatelang unpassierbar waren, kamen nur Flüge infrage. Sie hatte vor, die Sache mit Kevin Quintano besprechen. Erst vor kurzem hatte er sein Unternehmen verkauft und besaß Geld wie Heu. Jedenfalls hatte Jimmy ihr das gesagt. Bei dem Gedanken an Kevin lächelte Ursula. Ein Mann auf der Suche nach einer Lebensgrundlage, das stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Ein Tränsportservice und ihre Enkelin würden vermutlich ausreichend Grund sein, ihn hier in Hades zu halten. Ursula lachte in sich hinein. Ihr Kichern verstummte, als die Tür geöffnet und leise wieder geschlossen wurde. „Sie können gleich wieder gehen, wenn Sie die Post abholen wollen. Ich bin mit dem Aussortieren noch nicht fertig“, erklärte sie, ohne sich jedoch umzudrehen.
„Ich bin nicht wegen der Post hier.“ Sie legte die Briefe aus der Hand, wandte sich langsam um… und schaute in das Gesicht ihres Schwiegersohns. Die Jahre haben ihre Spuren hinterlassen, stellte sie fest, es müssen harte Jahre gewesen sein. „Was tust du denn hier?“ fragte sie nach kurzem Schweigen. Wayne Yearling blickte sie an. Doch Ursula erkannte am Flackern in seinen Augen, dass er gern weggesehen hätte. „Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen.“ Ursula blieb nach außen hin gleichmütig, als sie ihm kurz mitteilte: „Rose ist tot.“ Er schloss die Augen. „Ich weiß, ich war an ihrem Grab.“ Als er die Augen wieder öffnete, schimmerten Tränen darin. Sie wollte höflich sein und ihm einen Stuhl anbieten, doch dann entschied sie, dass er stehen sollte. Ihre Tochter hatte sich diesem Mann völlig verschrieben, und als sie ihm über war, hatte er sie mit drei Kindern sitzen lassen. Ihre Tochter war an seinem Verrat zu Grunde gegangen. Nun, das war nicht die ganze Wahrheit. Ursula wollte fair sein – auch ihm gegenüber. „Rose hatte drei Kinder, die sie liebten und die sie brauchten“, sagte sie deshalb. „Sie zog es vor, nur das Negative zu sehen. Also bist nicht du Schuld gewesen, dass sie starb.“ Damit wandte sie ihm wieder den Rücken zu, nahm einen Stoß von Briefen und fing an, sie zu sortieren. Da keins ihrer Enkelkinder sie angerufen hatte, um ihr mitzuteilen, dass ihr Vater in der Gegend sei, nahm Ursula an, dass sie für ihn die erste Station war. „Bist du gekommen, um dich auch bei deinen Kindern zu entschuldigen?“ „Ja.“ „Gut.“ Sie nickte. „Dann solltest du dich mit ihnen in Verbindung setzen. Sie sind noch immer jung genug, um ihre Meinung über dich zu ändern. Du solltest allerdings nicht auf ein frohes Wiedersehen hoffen.“ Es blieb so lange still hinter ihr, dass sie schon glaubte, er habe das Gebäude bereits verlassen. „Ich werde sterben, Ursula. Der Arzt hat mir etwa sechs Monate gegeben. Mit Glück ein wenig länger.“ Sie hielt einen Moment lang in der Arbeit inne, ehe sie betriebsam mit dem Sortieren der Post weitermachte. „Wir sterben alle, Wayne. Zufällig weißt du, wann. So wie ich das sehe, bist du uns gegenüber also im Vorteil.“ Sie steckte einen Brief in ein Ablagefach, das bereits voll gestopft war. „Ich bin June auf dem Friedhof begegnet“, erzählte er ruhig. Ursula lächelte verhalten. June. Der Wildfang unter den Geschwistern. „Ich bin überrascht, dass sie dir nicht an die Gurgel gegangen ist. Sie hat dein Verschwinden und den Tod der Mutter ebenso wenig verkraftet wie die beiden anderen, obwohl sie ja noch ein Winzling war.“ Wayne verließen die Kräfte, und er sank auf einen Stuhl. „Wie kann ich ihnen verständlich machen, dass es mir wirklich Leid tut?“ fragte er verzweifelt. Das wird nicht leicht sein, dachte Ursula. „Indem du bleibst. Indem du nicht aufgibst, wenn sie dir den Rücken zukehren.“ Und das werden sie als Erstes tun, da war sie sich sicher. „Du bist ihr Vater. Wenn sie so wütend auf dich sind, dann ist es nur, weil sie dich geliebt haben. Weil du ihnen nicht gleichgültig bist.“ Reden führte zu nichts. Er brauchte etwas, was ihn beschäftigte. Ursula blickte kurz auf den zweiten Postsack, stand auf und schob ihn mit dem Fuß in Waynes Richtung. „Komm, mach dich nützlich.“ Es war so sehr sein Wunsch, die Beziehung zur Familie wiederherzustellen, dass er Ursulas Aufforderung sofort nachkam.
12. KAPITEL „Du weißt es?“ June starrte ihre Großmutter verblüfft an. Sie hatte eine ganze Weile gebraucht, um sich durchzuringen, das Gespräch auf das Auftauchen ihres Vaters zu bringen. Im Grunde hatte sie Angst, dass der Schock für ihre Großmutter zu groß wäre. Trotz ihrer ständigen Proteste war Ursulas Herz nicht mehr so kräftig wie früher. Statt aber ihre Großmutter zu schockieren, hatte ihre Großmutter sie aus der Fassung gebracht. Ursula Hatcher saß sehr zufrieden hinter dem Tisch, auf dem sich die Postsendungen türmten. Seit Jahren machte sie ihre Arbeit mit Leidenschaft und Pflichtgefühl. „Er ist bereits hier gewesen.“ „Und?“ „Er hat seinen Teil gesagt und ist dann gegangen, nachdem ich ihn für eine Weile habe arbeiten lassen.“ June seufzte genervt. „Grandma…“ Ursula sah von ihrer Arbeit auf. „Ich habe ihn freundlich behandelt, June.“ Sie stempelte mit allem Nachdruck die vor ihr liegende Post. „Jeder verdient eine zweite Chance, vor allem wenn man ehrlich ist.“ War ihre Großmutter plötzlich naiv geworden, oder war sie es schon immer gewesen? „Er ist nicht ehrlich.“ „Oh, ich denke, er ist es.“ So schnell konnte man Ursula nichts vormachen. Sie hatte Wayne Yearling gleich beim ersten Mal durchschaut, als er in ihrem Haus aufkreuzte, um ihre Tochter zu einem Date abzuholen. Und sie hatte auf den ersten Blick erfasst, was er jetzt war. Ein gebrochener Mann, der ein Unrecht wieder gutmachen wollte, bevor er starb. Sie setzte sich auf ihrem Stuhl zurück und blickte auf die zwei jungen Leute vor ihr. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Kevin wusste, wovon sie redete. Und es sah ihr ganz danach aus, als ob er es gewesen war, der ihre Enkelin überredet hatte, zu ihr zu kommen. „Ich konnte ihm nicht die Tür weisen“, gestand sie ein. „Nicht jetzt. Und Max wird es auch nicht tun.“ Sie überlegte kurz. „Bei April bin ich mir da nicht ganz so sicher“, setzte sie dann hinzu. „Sie war die Älteste, und sie war sein Liebling.“ June lachte spöttisch auf. „Er war sein eigener Liebling.“ „Das hat sich geändert, Muckel“, erwiderte Ursula. Kevin zog belustigt die Augenbraue hoch, als er June ansah. „Muckel?“ Dieser Kosename passte zu ihr. Ursula nickte. „Diesen Spitznamen bekam sie, als sie gerade anfing, herumzukrabbeln“, erklärte sie ihm. „June musste alles erforschen, kroch in alles hinein und kam dann nicht wieder allein heraus.“ Sein Lächeln wurde immer breiter. „Muckel, ha?“ „Ich will es nicht wieder von dir hören“, warnte June ihn. Nur ihre Großmutter durfte sie so nennen. Ursula fand, dass sie die Gelegenheit beim Schopfe packen sollte, um das Gespräch weg vom schmerzlichen Thema und hin zu etwas Nützlichem zu lenken. „Kevin, ich habe gehört, dass Sie nach etwas suchen, wo Sie Ihr Geld investieren können.“ „Ja, ich suche nach einem neuen geschäftlichen Unternehmen.“ Er sah sich im Postraum um. „Warum fragen Sie? Soll hier renoviert werden? Nötig hätte das Postbüro es schon“, setzte er lächelnd hinzu. Ursula schüttelte den Kopf. „Nein, das meinte ich nicht.
Obwohl ich bereits gehört habe, wie geschickt Sie als Handwerker sind.“ June warf einen Blick zur Decke. Woher wusste ihre Großmutter das nun schon wieder? „Grandma, du hättest Klatschkolumnistin werden sollen.“ „Das ist kein Klatsch, das ist ein Dienst am Kunden.“ Kevin hockte sich halb auf eine Ecke von Ursulas Tisch. „Was ist das für ein Betrieb, worin ich mein Geld investieren soll?“ Er hatte eigentlich nicht die Absicht, sich in dieser Gegend nach einem Geschäft umzuschauen, doch man sollte immer für alles offen sein, fand er. „Wir brauchen ein Transportunternehmen“, erklärte Ursula geradeheraus. „Die Stadt wächst, und wir können nicht immer darauf warten, dass uns Sydney oder Shayne bei Bedarf nach Anchorage fliegen. Unsere Straßen sind schwer befahrbar und voll mit verirrten Bären, auf diese Zufahrtswege können wir also nicht zählen. Im Sommer ist es allerdings nicht ganz so schlimm“, fügte Ursula hinzu. „Die langen Winter sind eine Zumutung für uns. Wenn nun jemand hierher käme und uns zwei, drei Flugzeuge mitsamt den Piloten bringen würde…“ Sie schnippte mit den Fingern. „Ihm würde das Geld in null Komma nichts in die eigenen Taschen zurückfließen. Und es gibt kaum etwas, um leichter ans große Geld zu kommen.“ Sie lehnte sich zu Kevin vor, als ob sie mit ihm eine Verschwörung anzetteln wollte. „Na? Was sagen Sie dazu?“ Ursula hatte Kevin in Verlegenheit gebracht, doch das störte ihn nicht weiter. Sie war wie die Großmutter, die er sich gewünscht und nie gehabt hatte. Und er hatte sie vom ersten Augenblick an gemocht. „Sie schrecken wohl vor nichts zurück, oder?“ Ursula schnaubte verächtlich. „Dies hier ist Alaska, Junge. Wenn eine Frau hier nicht wagemutig ist, steht sie auf verlorenem Posten.“ Sie beobachtete ihn und kam zu dem Schluss, dass sie hoffen konnte. „Nun, wie wärs? Hätten Sie nicht genug Tatendrang, um den Bürgern von Hades die Flüge zu ermöglichen?“ Kevin war drauf und dran, Nein zu sagen. Der Gedanke, dass er sich die ihm bietende Möglichkeit zumindest überdenken sollte, hielt ihn davor zurück. Er bemerkte, dass June anfing, ruhelos im Raum hin- und herzugehen. Sie sollten aufbrechen. „Ich überlege es mir“, versprach er. „Nicht zu lange“, warnte Ursula. „Die Hochzeit ist in knapp einer Woche. Wie ich gehört habe, fliegen Sie gleich am nächsten Tag wieder ab.“ Kevin lachte. „Gibt es eigentlich irgendetwas, was Sie nicht wissen?“ Ihre Blicke begegneten sich. Ihm war, als ob sie tief in seine Seele schauen konnte, dort, wo seine Geheimnisse versteckt waren. „Jedenfalls weiß ich eine Menge, mein Junge – eine ganze Menge.“ Ein verhaltenes Lächeln spielte um seine Lippen. Wie lange war es her, dass er „mein Junge“ genannt worden war? Viel zu lange. Zu früh hatte er aufgehört, ein Junge zu sein. Und es gefiel ihm, so genannt zu werden. Wahrscheinlich hatte er es vermisst, und sicherlich vermisste er noch immer die Erinnerungen an eine sorgenfreie Jugend. „Vielleicht sollten Sie mit Kellogg reden“, schlug Ursula vor. „Er hat für ein Transportunternehmen gearbeitet, ehe er beim Warenhaus anfing.“ „Lass Kevin in Ruhe, Grandma. Er ist an einem Transportunternehmen nicht interessiert“, mischte June sich ungeduldig ein. „Kevin hat einen Mund und kann für sich selbst reden, Muckel“, erwiderte Kevin scherzhaft und wartete förmlich darauf, dass June ihn wegen des Spitznamens böse anfahren würde. Dieses Mal hielt sie sich jedoch zurück. Sie wollte vor ihrer Großmutter kein Theater machen und fasste nur unsanft nach seiner Hand. „Nun komm schon, Kevin. Wir müssen April und Max finden.“ Sie warf ihrer Großmutter einen
anklagenden Blick zu. „Jemand muss sie warnen.“ Die Stimme ihrer Großmutter klang ihnen durch die Tür hinterher. „Ich bin sicher, dass du das perfekt hinkriegst, Liebes.“ June sank völlig abgehetzt auf den Küchenstuhl. Nicht mal die Musik aus dem Radio hatte sie aufgemuntert, als sie das Haus betrat, obwohl gerade ihre Lieblingsmelodie gesendet wurde. Sie war müde und enttäuscht. Gute zwei Stunden hatte sie gebraucht, um ihre Geschwister ausfindig zu machen. April hatte gerade in der freien Natur Fotos geschossen, die sie im Auftrag für eine Illustrierte zusammenstellte. Und Max war in einem Eskimo-Dorf gewesen, um einen Streit zu schlichten, der unter den Eingeborenen entbrannt war. Es ging dabei um ein verbrieftes Recht auf Fischfang. June wollte, dass sie beide einmütig hinter ihr standen und den Vater so ablehnten, wie sie es tat. Doch sie taten ihr diesen Gefallen nicht. Max hatte die Neuigkeit genauso hingenommen wie die meisten Dinge in seinem Leben, nämlich stoisch. Als June ihm erzählte, dass ihr Vater wieder zurück sei, hatte sich sein Ausdruck überhaupt nicht verändert. Er hatte auch nichts dazu gesagt, weder was er dachte, noch was er fühlte. April war deutlich betroffen gewesen. Doch auch sie hatte sich zu der Situation nicht geäußert. Keiner von den beiden hatte so gefühlt wie sie – zornig, empört. Und das machte June schwer zu schaffen. Kevin kam in die Küche. Er war noch eine Weile draußen geblieben, damit June sich wieder fassen konnte. Auf dem Weg zurück auf die Farm hatte sie sich in Schweigen gehüllt. „Du wolltest, dass sie so reagieren wie du, hab ich Recht?“ June streckte die Beine aus und betrachtete nachdenklich ihre Stiefelspitzen. „Ja“, gab sie schließlich widerwillig zu. War es so unvernünftig, sich zu wünschen, dass ihre Schwester und ihr Bruder genauso fühlten wie sie? „Er hat uns alle verlassen. Er hat das Herz meiner Mutter gebrochen.“ Kevin bemerkte, dass sie „meine“ sagte und nicht „unsere“. Fühlte sie sich verpflichtet, ihre Mutter nachträglich zu verteidigen? Kevin entschied, dass er von diesem Punkt aus das Gespräch aufrollen musste. Er setzte sich ihr gegenüber rittlings auf den Stuhl. „Was würde deine Mutter getan haben, wenn sie noch lebte?“ June machte ein verächtliches Gesicht. Sie wusste genau, wie ihre Mutter reagiert hätte. „Wahrscheinlich hätte sie ihn mit offenen Armen willkommen geheißen.“ „Und warum?“ hakte Kevin nach. Sie blickte ihn böse an. „Weil sie ihn liebte. Und weil sie keine Selbstachtung hatte.“ „Wenn er aber nun zurückgekommen wäre, um zu bleiben?“ „Er ist nicht zurückgekommen“, fiel June ihm heftig ins Wort. Ihr Vater war nirgendwo lange geblieben. „Wenn er aber doch zurückgekommen wäre?“ beharrte Kevin. „Und wenn er für immer geblieben wäre? Wäre es nicht für alle Betroffenen schlimm gewesen, ihn abzuweisen? Für deine Mutter genauso wie für ihn?“ Worauf wollte Kevin hinaus? Er verstieg sich in irgendwelche Theorien, das war alles. „Mag schon stimmen.“ „Also, warum sollte das nicht jetzt auch so sein?“ June sah ihn bestürzt an.
„Wenn dein Vater nach Hades zurückgekommen ist“, fuhr Kevin mit sanfter Stimme fort, „um Abbitte zu leisten, wird es für ihn dann nicht genauso furchtbar sein, wenn du ihm jetzt den Rücken zukehrst? Und nicht nur für ihn – auch für dich.“ June sprang aufgebracht vom Stuhl hoch und steckte gereizt die Hände in die Jeanstaschen. „Kannst du mich nicht verstehen? Ich kann ihm nicht vergeben.“ „Nein“, erwiderte Kevin. „Ich kann es nicht verstehen. Was hast du davon, wenn du ihn bestrafst?“ Damit bestrafst du nur dich selbst, fügte er im Stillen hinzu. „Es ändert nichts an dem, was geschehen ist. Es bringt deine Mutter nicht zurück, und du verbaust dir die Gegenwart und die Zukunft.“ June wandte ihm den Rücken zu. Sanft legte Kevin die Hände auf ihre Schultern und drehte sie zu sich herum. Und als sie den Kopf hängen ließ, legte er die Hand unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Verwirrung und Schmerz standen in ihren Augen. „Er ist jetzt hier, June, mach das Beste daraus. Keiner von uns weiß, wie viel Zeit uns auf dieser Erde noch verbleibt. Wir sollten sie nicht ungenutzt lassen.“ Sie blinzelte die Tränen weg. „Das kann ich nicht.“ „Doch du kannst“, widersprach er leise. „Du bist kein rachsüchtiger Mensch.“ Woher nahm Kevin sich das Recht, sie zu beurteilen? „Wie willst du das wissen?“ fuhr sie ihn mit blitzenden Augen an. „Wie willst du auch nur irgendetwas von mir wissen? Nach zwei Wochen kann man jemanden noch nicht kennen.“ „Manchmal können zwei Wochen eine ganze Lebenszeit sein.“ June seufzte und schloss die Augen. „Ich brauche Zeit, Kevin. Mir ist, als ob sein böswilliges Verlassen sich auf mein ganzes Leben ausgewirkt hätte, und das nicht zum Besten.“ „Du hast eine Autoreparaturwerkstatt ganz allein geleitet. Dir gehört jetzt die Farm, die du ertragreich bearbeiten willst.“ Sie öffnete die Augen. „Was hat das damit zu tun?“ „Du hast Dinge in die Hand genommen, dich nicht geschont und etwas daraus gemacht. Du bist zuversichtlich, lebst ganz in der Gegenwart und auf die Zukunft hin. Du hättest genauso gut bei deiner Großmutter oben in den Räumen des Postamtes leben und nichts tun können.“ June wollte ihm widersprechen, doch irgendwie machte es Sinn, was Kevin da sagte. „Jimmy hat mir niemals erzählt, dass du ein Philosoph bist.“ „Das hätte er mal tun sollen.“ Kevin lachte, als er sich erinnerte. „Wenn du wüsstest, wie viel Zeit ich damit zugebracht habe, ihn zur Vernunft zu bringen, als er noch ein Teenager war.“ June lehnte sich mit dem Rücken gegen den altersschwachen Küchenschrank. „Ich bin kein Teenager, Kevin“, wies sie ihn hin. „Solange ein Mensch lebt, untersteht er dem Gebot der Vernunft.“ Er sah durchs Küchenfenster hinaus. Draußen war es noch taghell, doch der Hunger begann ihn zu quälen. Irgendwie war ihm mal wieder die Orientierung abhanden gekommen, da er die Uhr, die Luc ihm geliehen hatte, in seinem Zimmer vergessen hatte. Er wandte sich zu June um. „Wie spät haben wir’s eigentlich?“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Kurz vor fünf.“ „Sollten wir uns nicht um das Abendessen kümmern?“ June hielt sich nur an einem Plan fest, und das war der Arbeitsplan. Ansonsten nahm sie es locker. Sie aß, wenn sie hungrig war, sie schlief, wenn sie müde war. „Ich habe keine Lust zu kochen“, antwortete sie, obwohl sie den ganzen Tag so gut wie nichts gegessen hatte. „Okay, dann koche ich uns etwas.“ Sie seufzte. „Ich bin gehässig, gereizt und ruppig gewesen. Warum bist du dann
so nett zu mir?“ Kevin hob ihr Kinn an und blickte ihr in die Augen. Sein Lächeln war weich, als er daran dachte, wie nachgiebig und hingebungsvoll sie in seinen Armen gewesen war. Er küsste sie leicht auf die Lippen. „Warum entspannst du dich nicht? Lass mich ruhig die Arbeit machen.“ June nickte. Kevin öffnete bereits die Tür zu einem Küchenschrank, fand aber nicht das, wonach er suchte. „Du hast dich heute aufgeschlossen genug gezeigt, um eine Art Waffenstillstand zu schließen. Ich finde, dass du damit ausreichend für einen Tag geleistet hast.“ June sah ihn verwundert an. „Bist du schon mal auf den Gedanken gekommen, all die Sprüche von dir in einem Buch herauszubringen?“ „Noch eine Möglichkeit, die ich mir überlegen sollte.“ Kevin lachte, während er eine Schranktür nach der anderen öffnete auf der Suche nach einer großen Bratpfanne. Er hatte zwar eine gefunden, die war aber zu klein und der Boden hoffnungslos von verbrannten Bratresten verklebt. Zwei Töpfe fielen zu seinen Füßen, als er die Tür des nächsten Küchenschranks öffnete. Offensichtlich war Junes Methode, die Töpfe und Pfannen einfach in den Schrank zu schieben und schnell die Tür zu schließen. Nur widerwillig machte June sich daran, ihm die herausgefallenen Töpfe aufzuheben, und eigentlich nur, weil sie wusste, dass es sich so gehörte. „Was ist mit dem anderen Unternehmen?“ fragte sie. Nachdem Kevin die richtige Pfanne gefunden hatte, spülte er sie vorsichtshalber noch mal ab, damit sie seinem Sauberkeitsstandard entsprach. „Welches meinst du?“ „Das, mit dem Grandma dich überfallen hat. Das Transportunternehmen.“ Wollte er, dass sie noch deutlicher wurde? Sollte sie damit herausrücken, dass sie kaum etwas dagegen hätte, wenn er zu diesem Vorschlag Ja sagte? Sie hatte Kevin zwar aus dem Postamt gezerrt, doch nur, weil ihre Großmutter ihn ein wenig zu hart in der Mangel gehabt hatte. „Du hast es doch nicht ernst gemeint, als du sagtest, du würdest es dir noch überlegen, oder? Du wolltest Grandma nur ihren Willen lassen, stimmts?“ Kevin trocknete sich die Hände mit dem Geschirrtuch. Ihm war nicht klar, welche Antwort June von ihm erwartete, also hakte er nach. „Möchtest du denn, dass es mir ernst wird damit?“ „Musst du eigentlich immer eine Frage mit einer Gegenfrage beantworten?“ fuhr June ihn gereizt an. „Das ist eben so die Art der Philosophen.“ Er lachte über ihren finsteren Blick und öffnete den Kühlschrank, den er an seinem dritten Arbeitstag hier auf der Farm gefüllt hatte. „Wie würdest du denn zu dem Vorschlag stehen?“ Ihr Schulterzucken war ein wenig zu absichtlich, ein wenig zu berechnend. „Ein Transportunternehmen könnten wir hier gut gebrauchen“, gab sie zu. „Ein solches Unternehmen ist schon lange überfällig. Wenn wir es gehabt hätten, hätte ich die Reparaturwerkstatt nicht verkauft.“ Als Kevin sie fragend ansah, fügte sie hinzu: „Wir haben auch Flugzeuge repariert.“ „Du kennst dich mit Flugzeugen aus?“ Bei June hörten die Überraschungen nie auf, und Kevin fragte sich, wie viele Tricks sie wohl noch aus dem Ärmel schütteln würde. „Ich kann alles reparieren, was sich bewegt.“ Sie gab nicht an, es stimmte, was sie da sagte. „Vielleicht mit Ausnahme von einigen der alten Männer bei Salty.“ „Und dem Traktor“, wies Kevin sie mit einem Grinsen hin.
„Das war nur eine Frage der Zeit“, wich June aus. „Du hast den Fehler zuerst herausgefunden, das war alles.“ Kevin nickte. „Es ging mir eigentlich gar nicht darum zu hören, wie du mit der Werkstatt fertig geworden bist.“ „Worum ging es dir dann?“ „Mir ging es darum zu hören, was du davon hältst, wenn ich eine Reparaturwerkstatt kaufte.“ Sie würde sich nicht festlegen lassen, jedenfalls nicht, solange Kevin so vage blieb. „Möchtest du sie denn kaufen?“ Ihr Ton war wieder gereizt. Er lächelte nachsichtig. „Nun, wer beantwortet jetzt eine Frage mit einer Gegenfrage?“ June drehte ihm den Rücken zu und bewegte sich ziellos zum Tisch, von da zum Kühlschrank und von da zum Tresen. Irgendwie war die kleine Küche nicht ihre Welt. „Ich hielt mich immer für offen genug, um dazuzulernen“, entgegnete sie beleidigt. Er musste die Sache anders anpacken. June zeigte sich nicht so offen, wie die Frauen hier herum es angeblich sein sollten. „Würde es dich denn stören, wenn ich hier bliebe?“ „Du gehörst zur Familie. Warum solltest du nicht bleiben?“ June biss sich auf die Unterlippe. „Spielst du denn mit dem Gedanken, in Hades zu bleiben?“ Kevin zuckte die Schultern. Es machte ihm Angst, sich festzulegen. „Vielleicht“, war die ausweichende Antwort. June nickte bedächtig. „Es wäre gut für die Stadt.“ Bevor er anfing, die Möhren zu schälen, warf er ihr einen fragenden Blick zu. „Und wie steht es mit dir?“ „Nun, was gut für die Stadt ist, ist auch gut für mich.“ Weiter ging sie nicht. Es war June also egal. Deutlicher musste sie nicht werden, um Kevin zu sagen, was sie von seinem Plan hielt. Also konzentrierte er sich wieder auf die Vorbereitungen für das Abendessen.
13. KAPITEL Kevin stieg die Leiter herunter, um seine Arbeit zu begutachten. Seine Gedanken waren nicht ganz bei dem, was er verrichtet hatte. June und er gingen sich aus dem Weg. Das konnte er allerdings nicht leicht hinnehmen, da er immer noch jeden Tag zur Farm kam, um seine Arbeit fortzusetzen. Mit der Außenwand war er fertig. Jetzt war er dabei, die Räume zu streichen. Da June sich zu einer Lieblingsfarbe nicht geäußert hatte, hatte er sich für seine entschieden. Er hatte ein warmes Gelb gewählt, das er, wo immer es hinpasste, mit Weiß absetzte. Das ehemals bedrückend und trostlos wirkende Farmhaus hatte sich allmählich in ein helles und freundliches Heim verwandelt. Von ihrer Beziehung konnte man das jedoch nicht behaupten. Welche Gespräche auch immer sie vorher gehabt hatten, sie wurden jetzt durch kurze Sätze oder flüchtige, einsilbige Worte ersetzt. Kevin wollte sich June nicht aufdrängen. Er ließ sie gewähren und hoffte, dass sie sich entweder zu einer Entschuldigung durchringen würde für das, was zwischen ihnen ablief, oder sich endlich Klarheit verschaffte über ihre Einstellung zu ihrem Vater. Jedenfalls verhielt sie sich Kevin gegenüber, als ob er ein Fremder wäre und nicht der Mann, mit dem sie geschlafen hatte. Lange würde er das nicht mehr mitmachen. Sie stellte seine Geduld auf eine harte Probe. June war mehr weg als da. Entweder arbeitete sie auf dem Feld oder im Stall, oder sie fuhr in die Stadt, um mit ihren Verwandten zu reden. Eins war klar: sie wollte nichts mit ihm zu tun haben. Die Stille um ihn herum hatte auch sein Gutes. Kevin fing an, ernsthaft darüber nachzudenken, ob er hierher ziehen und ein Transportunternehmen für Hades aufbauen sollte. Und je länger er sich diese Idee durch den Kopf gehen ließ, desto vernünftiger fand er den Vorschlag. Der wahre Grund dafür war jedoch ein ganz persönlicher. Mit einem Seufzer legte er den Pinsel quer über den Farbeimer. Der Plan, seine Zeit und sein Geld hier am Ort in ein Unternehmen zu investieren, hatte anfangs mit seiner Familie zu tun gehabt, in deren Nähe er gern sein wollte. Doch wenn er ehrlich mit sich selbst war, dann musste er zugeben, dass der wahre Grund für seine Überlegungen, ob er sich in Hades niederlassen sollte, einzig und allein June war. Der Start eines Transportunternehmens würde eine gute Entschuldigung sein, mit ihr in Verbindung zu bleiben. Immerhin müssten Flugzeuge regelmäßig überholt und repariert werden. Dafür brauchte man einen Mechaniker. Und wie er sah, schien June sich nicht ganz der Farm verschrieben zu haben. Nun, sie arbeitete hart, um die Farm ertragreich zu machen. Aber Kevin hatte den Verdacht, dass sie es tat, weil sie die Farm nicht verkommen lassen wollte. Und wenn June etwas anfing, dann musste sie es auch hundertprozentig zu Ende bringen. Für halbe Sachen war sie nicht zu haben. Was für eine Frau! Kevin lächelte überrascht. Zum ersten Mal dachte er von June als Frau, nicht als Mädchen. Vielleicht war der Altersunterschied für ihn zu einer solch fixen Idee geworden, dass er sich in ein Problem verrannt hatte, das möglicherweise gar kein Problem war. Andererseits konnte June nicht mehr das Mädchen sein wie bis vor wenigen Tagen. Auch wenn es für sie das erste Mal gewesen war, in seinen Armen hatte sie sich jedenfalls als eine leidenschaftliche Frau gezeigt. Und er begehrte sie. Kevin wischte sich die Hände an dem Lappen ab, den er aus der Gesäßtasche
seiner Jeans herausgezogen hatte. Jetzt, wo er sich nicht mehr vormachen konnte, dass er für June zu alt oder sie für ihn zu jung sei, wurde ihm schlagartig klar, dass sie für ihn das Traumbild einer Frau war. Im Bett und außerhalb vom Bett. Das außerhalb vom Bett machte ihm allerdings zurzeit reichlich zu schaffen. Der Altersunterschied mochte nicht das eigentliche Hindernis sein, doch es gab noch etwas anderes, was im Wege stand. June hatte eine Mauer zwischen ihnen beiden errichtet. Vielleicht hatte er sie mit seinen anfänglichen Einwänden, er sei zu alt für sie, schließlich doch überzeugt. Es konnte aber auch sein, dass sie sich mit anderen Problemen herumschlug. In jedem Fall musste er sich entscheiden, ob er hier bleiben und June zur Vernunft bringen wollte, oder ob er sie vergessen und die ganze Sache einfach als gegeben hinnehmen sollte. Vielleicht war sie ja nicht für ihn bestimmt. Mit einem Seufzer stopfte er den Lappen zurück in seine Gesäßtasche. Prüfend begutachtete er seine Arbeit, um zu sehen, ob er womöglich einen Fleck übersehen hatte. Alles war bestens. Er war also mit dem Wohnzimmer fertig, und es war Zeit, für heute Schluss zu machen. Die zwei Schlafzimmer hatte er bereits Anfang der Woche gestrichen. Nun war noch die Küche dran, doch das konnte verschoben werden. Im Augenblick wollte er erst mal Informationen einholen über die Kosten für das Geschäft, das er im Sinn hatte. Sollte es sich als unerschwinglich herausstellen, würde er den Plan sofort aufgeben. Er konnte nur so viel Geld anlegen, wie er durch den Verkauf seines Taxigeschäftes bekommen hatte. Er zog sein T-Shirt aus und schlüpfte in sein Hemd, bevor er sich auf den Weg nach Hades machte. „Hast du mittlerweile entschieden, ob du in den Transportservice einsteigst?“ Max stellte die Frage, gleich nachdem er Kevin begrüßt und ihn mit einer Handbewegung zum Sitzen aufgefordert hatte. Kevin war auf einen Sprung in der Dienststelle des Sheriffs vorbeigekommen. „Ich sollte wohl nicht überrascht sein, dass du bereits davon weißt“, erwiderte er ein wenig spöttisch. „Dass ich davon weiß?“ Max lachte. „Seit das Thema aufkam, haben die Leute hier nicht aufgehört, darüber zu reden.“ Dank meiner Großmutter, fügte er im Stillen hinzu. „Ich habe mir die Sache ja noch gar nicht gründlich durch den Kopf gehen lassen“, gab Kevin zu bedenken. Max setzte sich hinter seinen Schreibtisch. „Doch, du hast bereits daran gedacht, mach mir nichts vor. Wenn du handeln willst, musst du es dir überlegt haben.“ „Ich möchte zuerst mal alle notwendigen Informationen einholen, ehe ich auch nur irgendeinen Schritt tue.“ Dagegen wäre im Prinzip nichts einzuwenden, dachte Max, drehte sich mit dem Drehstuhl zu dem kleinen Beistelltisch vor der Wand hinter ihm um und goss Limonade in zwei Gläser. „Ich weiß nicht, ob du genug Geduld hast, um auf alle Informationen zu warten“, wies er seinen Schwager hin. „Manchmal treffen sie gar nicht ein, manchmal musst du ohne sie zu einer Entscheidung kommen.“ Das Gespräch schien sich auf verschiedenen Ebenen fortzubewegen. Kevin konnte Max nicht mehr folgen. „Reden wir immer noch von den Flugzeugen?“ Max schob Kevin das Glas mit der Limonade zu. „Ja, wir reden darüber.“ Er sah ihm fest in die Augen. „Wir könnten aber auch über andere Dinge reden.“ Kevin nahm einen tiefen Schluck. Dann sah er auf. „June?“ vermutete er. Max nickte leicht. „Unter anderem, ja. Ich verrate dir sicher nichts Neues, wenn
ich dir sage, dass sie eine ziemliche Nervensäge sein kann, und wenn sie in diese miese Stimmung verfällt, dann braut sich ein wahres Gewitter zusammen. Doch wenn sie liebt, dann liebt sie glühend, und sie hat ein gutes Herz.“ Kevin hatte all das bereits erfasst. Das und noch mehr. „Du musst sie mir nicht anpreisen.“ Max sah ihn prüfend an. Hatten die beiden vielleicht bereits eine Affäre? „Ich tus, weil ich dich mag, Kevin“, erwiderte Max einfach. „Weil du zur Familie gehörst, und das nicht nur rechtlich gesehen. Und weil Hades Menschen wie dich braucht.“ Er hielt inne und starrte in sein Glas. Er wusste, seine jüngere Schwester würde ihn umbringen, wenn sie hörte, was er jetzt noch sagen wollte. „Und weil June einen guten Mann braucht.“ Kevin fühlte sich geschmeichelt. Gleichzeitig wünschte er sich, dass dies nicht zu einer Angelegenheit wurde, in die sich der ganze Rest der Familie einmischte. Was zwischen June und ihm lief – oder nicht lief –, war seine eigene Sache. Seine und Junes. „Meinst du nicht, dass June dies allein zu entscheiden hat?“ „So wie ich es sehe“, Max wischte mit der Handfläche den feuchten Ring weg, den das Glas auf seinem Schreibtisch hinterlassen hatte, „hat sie das bereits getan. Die Tatsache, dass unser Vater so unvermittelt aufgetaucht ist, hat sie fertig gemacht. Nun, das hat uns alle fertig gemacht, wirklich“, verbesserte er sich. „Aber June mehr als uns, weil sie am meisten unter dem Tod unserer Mutter gelitten hat. June hat an unserer Mutter sehr gehangen. Jemand muss sich um die Wunden kümmern, damit sie endlich heilen.“ Er grinste verlegen, als er den Kopf hob und Kevin wieder ansah. „Und du wärst ein vorzüglicher Arzt für sie.“ Kevin schüttelte den Kopf. „Jimmy ist der Arzt in der Familie“, stellte er richtig. „Ich kenne dich durch deine Geschwister gut. Von Jimmy, Alison und Lily weiß ich, was für ein Mensch du bist, Kevin. Du bist der Mann, den June braucht. Gib sie nicht auf, Kevin.“ So, nun war es heraus. Damit lehnte Max sich zurück und wechselte das Thema. „Hast du eigentlich schon mit Kellogg geredet? Bevor er hierher kam, hat er für Trans-State gearbeitet.“ Kevin atmete erleichtert auf. Die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, war ihm bereits lästig geworden. „Ja. Ich habe auch mit Shayne und Sydney gesprochen, um mir ein ungefähres Bild von der Sache zu machen.“ „Und?“ „Und ich bin immer noch am Überlegen. Ich brauche einen Kostenvoranschlag, ehe ich den nächsten Schritt tue.“ Max nickte. Es war nicht so sehr der Transportservice, um den es ihm ging, obwohl dies allein schon eine gute Sache wäre. Ihm ging es vor allem darum, dass Kevin sich auf etwas festlegte, was ihn zum Bleiben zwingen würde. „Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.“ In diesem Moment klingelte das Telefon. Max setzte sein Glas ab. Kevin war bereits aufgestanden. „Ich muss jetzt gehen. Wir sehen uns in der Kirche.“ Die Stellprobe war für den morgigen Abend angesetzt. Die Hochzeit fand am Samstag statt. Ich muss mich entscheiden, dachte er, als er das Büro des Sheriffs verließ. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. June wurde von Gewissensbissen gequält. Den ganzen Weg zur Farm zurück hatte sie über Kevin nachgegrübelt. Sie hatte sich ihm gegenüber wirklich schlimm benommen, und das hatte er nicht verdient. Aber sie war völlig durcheinander gewesen. Dass ihr Vater so plötzlich aufgetaucht war, hatte all die bösen Erinnerungen an ihre Kindheit geweckt. Sie hatte sich selbst geschworen, niemals wie ihre Mutter zu werden. Niemals
einem Mann die Macht über ihr Leben, ihren Tod und ihr Herz zu geben. Sie wollte stark sein. Noch bevor sie das Haus erreicht hatte, sah sie bereits von weitem, dass der Jeep, den Kevin fuhr, nicht auf seinem Platz stand. Er war also nicht da. Eine abgründige Traurigkeit überkam sie. Irgendwie hatte sie plötzlich das Gefühl, alles in ihrem Leben sei sinnlos. Aber was hatte sie erwartet? Sie hatte sich nun wirklich nicht besonders freundlich verhalten. Mit einem Seufzer stieg sie aus dem Wagen und ging ins Haus. Die Leere vermischte sich mit dem Geruch von frischer Farbe. Sie war kein Feigling. Warum also machte ihr der Gedanke, jemanden zu lieben, so große Angst? Die Eingangstür wurde geöffnet und dann wieder geschlossen. Kevin! Sie lächelte. Das Lächeln erhellte ihr ganzes Gesicht, und ihre Augen strahlten, als sie ihm entgegenging. „Ich habe dich nicht zurückerwartet.“ „Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass ich wieder zurückkommen würde.“ Er sah sich suchend im Wohnzimmer um. „Aber ich habe meine Brieftasche vergessen.“ Sie lag auf dem verkratzten, wackeligen Stück Möbel, das als Kaffeetisch diente. June lächelte noch immer, nur nicht mehr so strahlend, sondern fast scheu. Kevin zögerte, nachdem er die Brieftasche eingesteckt hatte. Ihr Verhalten verunsicherte ihn. „Das ist das erste Lächeln, das ich seit Tagen bei dir sehe.“ „Es tut mir Leid. Ich habe eine Menge nachzudenken gehabt.“ Sie wurde rot. Es war nicht gerade ihre Stärke, sich zu entschuldigen. „Ich weiß, in letzter Zeit war es nicht leicht, mit mir zusammen zu sein.“ „In letzter Zeit sind wir nicht zusammen gewesen“, stellte er richtig. „ Alles in allem habe ich dich vielleicht eine Viertelstunde gesehen. Ich dachte schon, ich hätte dich verscheucht.“ June fühlte sich schrecklich verlegen. „Nein, das hast du nicht.“ Kevin blickte ihr prüfend ins Gesicht und versuchte herauszufinden, was in ihr vor sich ging. „Hör mal, June, ich wollte dir wirklich nicht wehtun…“ „Du hast mir nicht wehgetan“, unterbrach sie ihn. „Wenn ich gewusst hätte, dass du noch nie…“ Ihr wurde plötzlich klar, was er ihr sagen wollte. „Du glaubst, ich hätte mich so blöd benommen, weil wir uns geliebt haben?“ „Ich würde es nicht gerade so formulieren, aber…“ Wieder fiel June ihm ins Wort. „Sprich es aus, Kevin. Lass uns offen sein miteinander. Ich bin in einer wirklich schrecklichen Laune gewesen, und ich bin es gewesen, weil…“ Es war nicht leicht, ihre Seele bloßzulegen, auch wenn sie wusste, dass sie es Kevin gegenüber tun durfte. „Weil ich im Augenblick nicht ein noch aus weiß.“ Ich habe June im Stich gelassen, dachte Kevin. Ich bin ihr nicht das gewesen, was sie braucht. „Meinst du, dass es mir gelingen könnte, dich wieder aufzuheitern?“ Sie lächelte. „Das hängt davon ab.“ Mit den Händen umschmiegte Kevin ihren Kopf und neigte ihn zurück, um ihr in die Augen zu schauen. „Wovon hängt es ab?“ June bat nur ungern um etwas. Sie hatte Angst, dass, wenn die Bitte erfüllt werden würde, sie teuer dafür bezahlen müsste. Doch hier ging es um Kevin. Kevin, der in ihr tiefe, beglückende Gefühle geweckt hatte. Kevin, der ehrlich und
lieb und überhaupt nicht wie ihr Vater war. „Wenn ich dich bitte, mich in den Arm zu nehmen, wäre das zu viel verlangt?“ „Zu viel verlangt?“ Seine Sehnsucht nach June war so heftig, dass er sich nur mit Mühe zurückhalten konnte. Er schüttelte den Kopf. „Nein, June, das wäre nicht zu viel verlangt.“ In dem Moment, als er die Arme um sie schloss, hatte June das Gefühl, da angelangt zu sein, wo sie hingehörte. All das, womit sie sich die wenigen Tage zuvor geplagt hatte – ihre berufliche Situation, die Gefühle ihrem Vater gegenüber, die Gefühle für Kevin –, löste sich in Luft auf. June drängte sich voller Sehnsucht an Kevin. Sie konnte kaum abwarten, dass er sie küsste, dass er sie liebkoste, dass er sie liebte. Als sie fieberhaft versuchte, sein Hemd aufzuknöpfen, sich aber dabei ungeschickt anstellte, lachte Kevin leise und hielt ihre Hände fest. „He, langsam.“ June fühlte sich plötzlich schrecklich ungeschickt. „Lachst du mich aus?“ Kevin hörte heraus, dass sie sich gekränkt fühlte. „Oh, June. Wie kannst du nur so etwas denken? Du machst mich glücklich. Wie könnte ich dich auslachen?“ Er tupfte kleine Küsse auf ihre Wangen, ihre Stirn, ihr Kinn und ihren Hals, bis June vor Lust aufstöhnte. Sie genoss seine Zärtlichkeiten und das Gefühl, begehrt zu werden. Immer stärker wurde das Verlangen, das durch ihren Körper pulsierte. Zum Schlafzimmer schafften sie es nicht. Sie fanden ein kleines Paradies, gleich neben dem abgenutzten Couchtisch, auf einem Teppich, den Max ihr bei der Einzugsparty geschenkt hatte. Als Kevin in sie eindrang, hatte June das überwältigende Gefühl, mit ihm auf eine Weise verbunden zu sein, wie es inniger nicht werden konnte. Sie gab sich Kevin hin, wie man sich nur hingeben konnte, wenn es keine Zweifel mehr gab. Bei ihm fühlte sie sich absolut sicher, und er sah sie mit so viel Liebe an, dass June von tiefem Glück erfüllt wurde.
14. KAPITEL Max gab es auf, die Fliege seines Smokings zu binden, und überließ das Jimmy, der mit solchen Dingen mehr Erfahrungen hatte als er. Sonst trug er ja nicht mal eine Krawatte. Er war unglaublich nervös und hatte Angst, womöglich eine Kurzschlusshandlung zu begehen, wenn er sich nicht unter Kontrolle behielt. Max warf seinem Schwager einen verzweifelten Blick zu. „Ist es normal, alles stehen und liegen lassen zu wollen? Ich könnte einfach davonrennen, dabei liebe ich Lily und möchte sie heiraten.“ Jimmy lachte hellauf. Ja, ähnliche Gefühle hatte er vor noch gar nicht langer Zeit selbst gehabt. Auch er war kurz vor dem feierlichen Eheversprechen in Panik gekommen. „Das ist absolut natürlich.“ „Sieh dir das an.“ Max streckte die rechte Hand aus, um sie Kevin zu zeigen, während die anderen drei Männer im Vorraum der Kirche voller Mitgefühl zuschauten. „Sie zittert.“ Kevin nickte ernst. „Das tut sie wirklich.“ „Meine Hände haben noch nie zuvor gezittert. Ich habe noch nie zuvor gezittert.“ Die Spannung in Max wurde fast unerträglich. Er blickte Hilfe suchend zu den Männern hinüber – zu Ike, Luc und Jimmy –, die ihn zum Altar begleiten würden. Nein, sie konnten auch nichts für ihn tun. „Du bist noch nie zuvor verheiratet gewesen“, erinnerte Ike ihn. Brüderlich legte er den Arm um die Schultern seines Freundes. „Vergiss nicht, dass im Leben vieles schlimmer sein kann als das, was einem gerade passiert. Stell dir nur mal die Situation vor, wenn dir plötzlich ein zottiger Bär aus dem Dickicht gegenübertritt. Oder wie es wäre, wenn du ganz allein auf eine Bande bewaffneter Kerle triffst.“ Er blinzelte dem bislang so furchtlosen Sheriff zu. „So etwas wäre ganz sicher mehr zu fürchten.“ Eigentlich sollte ich wirklich keine Angst haben, redete Max sich gut zu. Er fuhr mit den Fingerspitzen prüfend über die Smokingschleife. Jimmy schob jedoch schnell seine Hand weg, bevor Max sein Werk wieder zerstören konnte. „Heirat ist eine großartige Sache“, erzählte Luc ihm voller Überzeugung. „Weil, so unheimlich die ganze Angelegenheit mit Ehe und Familie auch sein mag, sie so viel Gutes hat, dass man das gar nicht beschreiben kann.“ Er lächelte Max ermutigend zu. „Vertrau mir, mein Freund, tief in deinem Herzen willst du es.“ Dann warf er Ike und Jimmy einen tadelnden Blick zu. „Hör nicht auf diese Idioten“, warnte er Max. „Die sind genau meiner Meinung, sprechen es nur nicht klar aus. Oder etwa nicht?“ Er hielt inne und wartete. Nach einem kurzen Schweigen stimmten Jimmy und Ike mit einem Kopfnicken sowie einigen gemurmelten Worten zu. Es war schon seltsam, aber Kevin fühlte sich in dieser Männerrunde nicht ausgeschlossen. Zugegeben, er war weder verheiratet, noch stand er kurz vor der Heirat. Doch diese Männer waren für ihn Familie, und er fühlte sich ihnen irgendwie verbunden. Vielleicht war ja doch etwas dran, in einer kleinen Gemeinde wie Hades zu leben. „Ich kann für die Ehe nicht einstehen, aber für Lily lege ich meine Hand ins Feuer. Ich habe sie in guten und in schwierigen Zeiten erlebt, doch niemals habe ich sie so gesehen, wie sie jetzt ist. Sie ist wirklich glücklich. Und Jimmy und ich wissen, dass, wenn Lily glücklich ist, sie dich, Max, glücklich machen wird. Sehr glücklich“, fügte Kevin nachdrücklich hinzu. Jimmy lehnte sich zu Max vor. „Versuch, dich an diese Worte zu erinnern, wenn
es zum richtigen Knatsch zwischen Lily und dir kommt“, riet er dem aufgeregten Bräutigam. „Gentlemen?“ Reverend Hollis, der Geistliche der Gemeinde, stand in der Tür und sah über seine randlose Brille in die Runde. Als sein Blick auf Max fiel, lächelte er ein wenig belustigt. „Du meine Güte, Sie sehen ja richtig elend aus.“ Er betrat den Vorraum. „Möchten Sie ein Glas Wasser haben, Sheriff?“ Max straffte die Schultern. Der Moment der Schwäche war vorbei. „Nein. Ich möchte die Zeremonie nur so schnell wie möglich hinter mich bringen.“ Reverend Hollis nickte wissend. Dies war nicht die erste Trauung für ihn. „Dann folgen Sie mir.“ Kevin blieb sicherheitshalber dicht hinter Max, falls sein sehr baldiger Schwager doch noch – von Panik getrieben – das Weite suchen sollte. „Er sieht glücklich aus. Sieht Max nicht richtig glücklich aus?“ fragte June und drückte Kevins Arm, während sie sich an den Tisch setzten, der für die Familienangehörigen reserviert war. Kevin wedelte eine Stechmücke weg, die es auf ihn abgesehen hatte. Weil Lilys Restaurant sich immer noch in der Planungsphase befand und das Wetter angenehm milde war, wurde der Hochzeitsempfang draußen abgehalten, gleich hinter Jimmys und Aprils Haus. Es lag in der Nähe der Kirche, so dass man bequem zu Fuß gehen konnte. Sydney, Marta, Ikes Frau, und Ike kümmerten sich um das Essen. Sie drohten Lily an, dass man sie hochkantig aus der Küche rausschmeißen würde, sollte sie auch nur den Versuch machen, irgendwie mitmischen zu wollen. Der einzige Beitrag, den Max für die Hochzeitsvorbereitungen geleistet hatte, war die Wahl seiner Begleiter zum Altar. Es genügte ihm, dass Lily bei den Vorbereitungen in ihrem Element war und dass sie glücklich wirkte. Ein weiser Mann, dachte Kevin, als er Max und seine Schwester beobachtete, wie sie zum ersten Mal als verheiratetes Paar tanzten. Sie waren schöne Brautleute und strahlten in ihrem Glück. Kevin freute sich für sie und wünschte aus tiefstem Herzen, dass sie ihr ganzes Leben so glücklich miteinander bleiben würden. „Ich hätte nicht gedacht, dass er jemals heiraten würde“, bemerkte June. „Max schien das nie gewollt zu haben.“ „Was gewollt?“ „Na, ja, Gesellschaft, Ehefrau, Kinder, häuslicher Herd. Er schien immer so unabhängig zu sein.“ June drehte sich auf ihrem Stuhl halb um, damit sie das Paar besser beobachten konnte. Gefühle kamen in ihr auf, die viel mit Sehnsucht zu tun hatten. Wonach, das wollte June lieber nicht herausfinden. „Wahrscheinlich schafft es nur die richtige Frau, einen Mann zu verwandeln.“ So wie June es schaffen würde, mich zu verwandeln, dachte Kevin. Wenn er nur egoistisch genug wäre, sie an sich zu binden. Doch das war er nicht. „Es muss beidseitig sein. Eine Frau zu verwandeln, das ist zwar schwerer, aber der richtige Mann schafft es“, erwiderte er. „Lily ist schon von jeher so arbeitssüchtig gewesen, dass sie für Beziehungen eigentlich nie Zeit hatte.“ June zog die Augenbrauen zusammen. Das entsprach nicht dem, was sie gehört hatte. „Ich dachte, sie wäre hierher gekommen, weil sie ihre Verlobung aufgelöst hatte und Abstand gewinnen wollte.“ Bei dem Gedanken an den Mann, der fast sein Schwager geworden war, schnaubte Kevin verächtlich. „Der Kerl war ein eingebildeter Schürzenjäger. Keiner von uns konnte begreifen, dass jemand, der so gescheit ist wie Lily, ihn nicht von Anfang an durchschaut hat.“
Er wandte sich June zu. Sie trug eins der Kleider, die Lily für die Brautjungfern ausgesucht hatte. Es war hellblau und aus Seide, und es war so drapiert, dass es Junes schmale Taille betonte. Kevin hatte plötzlich eine unbändige Lust, June in seine Arme zu nehmen. Als er sie an diesem Morgen in der Kirche entdeckt hatte, war ihm fast die Luft weggeblieben. Es war das erste Mal, dass er sie in anderer Kleidung als in Jeans gesehen hatte. Jedenfalls fand er June im Kleid verdammt sexy. „Oh, guck mal, jetzt lassen sie auch die Gäste auf die Tanzfläche!“ rief June. Tatsächlich, ein Paar machte den Anfang, und ihnen folgten sofort andere Tänzer. Kevin erhob sich und ergriff Junes Hand. „Lass uns nicht lange zögern.“ June ließ sich nur allzu gern auf den provisorischen Tanzboden aus Holz führen. Sie nickte dem glücklichen Brautpaar zu, legte den Kopf an Kevins Schulter und gab sich völlig der Musik und den Empfindungen hin, die sie durchströmten. Es war himmlisch, mit Kevin zu tanzen. Einen Moment lang stellte sie sich sogar vor, dass sie beide ihren ersten Tanz als verheiratetes Paar tanzten. Sie sah ihn an. Würde das irgendwann mal geschehen? Vielleicht. Kevin schaute auf sie herunter und bemerkte den Ausdruck in ihrem Gesicht. „Was ist?“ „Was soll sein?“ Er grinste. „Du guckst so seltsam.“ Sie hob das Kinn, nur wirkte es dieses Mal nicht so kampflustig wie sonst. June wollte Zeit gewinnen, um eine plausible Erklärung zu finden. Sie konnte Kevin ja nicht gut erzählen, dass sie gerade an Hochzeit mit ihm gedacht hatte. Damit hätte sie ihn garantiert in die Flucht geschlagen. „Ach, wirklich?“ Zärtlichkeit kam in ihm auf. „Ja.“ Gewollt gleichgültig zuckte sie die Schultern. „Ich habe nur nachgedacht.“ „Worüber?“ „Über vieles.“ Ihre Augen blitzten übermütig auf. „Zum Beispiel, wie ich den Weizen nach der Ernte in die Scheune kriege.“ Sie sah ihn verschmitzt an. „Kannst du mir einen Tipp geben, wo ich einen Erntehelfer finde?“ Wollte June, dass er blieb? Sollte das etwa eine Bitte sein? Oder flirtete sie nur mit ihm? Kevin wusste es nicht. Plötzlich spürte er, wie June erstarrte. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissenen. „Er ist hier“, flüsterte sie, während sie über seine Schulter hinweg auf einen der Gäste starrte. Kevin brauchte sich nicht umzudrehen, um zu sehen, dass June ihren Vater meinte. Max hatte ihn zur Hochzeit eingeladen. Die beiden hatten miteinander Frieden geschlossen. Auch April hatte es nach kurzem Zögern getan. Beide Geschwister waren zu dem Schluss gekommen, dass Hass etwas Schreckliches sei, und sie wollten ihr Leben nicht damit vergiften. Kevin zog June ein wenig fester an sich. „Ich weiß“, sagte er. June schaute ihn sprachlos an. „Du weißt davon?“ Wie konnte er das wissen und es ihr nicht erzählen? Misstrauen erfüllte sie. Kevin nickte. „Ich weiß es von Max. Er hat ihn eingeladen.“ All ihre glücklichen Gefühle lösten sich in Wohlgefallen auf. „Wie konnte Max mir das vorenthalten?“ „Weil ich ihn darum gebeten habe.“ Sie sah Kevin aus zusammengekniffenen Augen an und wartete auf eine Erklärung. Also gab Kevin sich einen Ruck. „Max wollte nicht, dass du womöglich von der Hochzeit fernbleibst. Und ich war der Ansicht, er solle sich an seinem Hochzeitstag nicht zwischen dir und seinem Vater entscheiden müssen.“
Was zum Teufel bildete Kevin sich eigentlich ein! Wie kam er dazu, eine solche Entscheidung zu treffen? June stand kurz davor, richtig aufzubrausen. „Ich gehe.“ Damit wollte sie sich von Kevin wegreißen, doch er gab sie nicht frei. Er hielt sie so fest in seinen Armen, dass sie sich nicht mal rühren, geschweige denn davonlaufen konnte. „Wir werden am Hochzeitstag deines Bruders und meiner Schwester keine Szene machen“, erklärte er fest. Als sie das Kinn trotzig hob und ihm einen bösen Blick zuwarf, erkannte Kevin in ihr wieder die alte June, die sofort auf die Barrikaden ging, wenn ihr etwas nicht passte. „Du kannst ja bleiben. Ich gehe.“ „Nein“, entgegnete er ruhig und hielt sie immer noch fest. „Du wirst mit deinem Vater Frieden schließen. Denn wenn du es nicht tust und er stirbt, wirst du dir niemals vergeben können.“ „Wie kommst du darauf, dass er stirbt?“ fragte sie herausfordernd. Es war nicht der Ort, ihr zu berichten, was er von Ursula erfahren hatte. Das war eine Angelegenheit zwischen June und ihrem Vater. Er sollte ihr selbst mitteilen, dass es mit ihm zu Ende ging. „Jeder stirbt, June“, antwortete er leise. „Gewöhnlich früher, als man es sich wünscht. Lass die Dinge nicht so, wie sie jetzt sind. Du bist stärker und vernünftiger als dein Zorn.“ Er lockerte den Griff. „So gut kenne ich dich bereits. Max und April haben ihm vergeben. Und Ursula auch.“ Kevin hatte Recht, das musste June zugeben. Und wie es ihre Art war, fasste sie sofort einen Entschluss. „Zum Teufel mit dir“, murmelte sie, befreite sich aus seinem Griff und rauschte davon Kevin blieb stehen und sah ihr nach. Tief in seinem Herzen wusste er, dass sie nicht davonlief. Mit erhobenem Kopf und gestrafften Schultern überquerte June den Rasen. Dann blieb sie stehen. Direkt vor ihrem Vater, dem Mann, der ihr die Kindheit genommen hatte. June war nervös, doch sie zeigte es nicht, als sie in sein ausgemergeltes Gesicht sah. „Würdest du mit mir tanzen?“ Einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Die Band spielte zwar, doch June nahm die Musik nicht wahr, während sie auf die Antwort ihres Vaters wartete. Dann lächelte er, wodurch er mindestens fünfzehn Jahre jünger wirkte. Und plötzlich erkannte June in ihm den Mann, den ihre Mutter geliebt hatte. Ihr wurde ganz warm ums Herz. „Sehr gern.“ Er nahm ihre Hand und führte sie zur Tanzfläche. June war sich nicht bewusst, dass sie sich zur Musik bewegten. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf ihren Vater gerichtet. Er hatte sie sanft an sich gezogen, und sie gab sich diesem Gefühl hin. „Mutter hat mir erzählt, dass du ein sehr guter Tänzer gewesen bist.“ „Ich habe sehr gern mit deiner Mutter getanzt, das allein hat mich zum guten Tänzer gemacht.“ Waynes Augen füllten sich mit Tränen. „Sie war eine wunderbare Frau, und ich habe sie nicht verdient. Wenn man jung ist, begeht man so leicht und gedankenlos ein Unrecht. Und wenn sich dann die schlimmen Folgen zeigen, ist es zu spät, die Sache wieder gutzumachen.“ Er schluckte schwer. „June, ich möchte so gern vieles wieder gutmachen.“ „Ich, weiß, Daddy. Ich weiß.“ Nach dem Ende des Tanzes setzte unvermittelt brausender Applaus ein. Er galt ihr und ihrem Vater. June löste sich von ihm. „Wirst du in Hades bleiben?“
Er nickte, offensichtlich erfreut, dass sie ihn danach gefragt hatte. „So lange, wie das Schicksal es zulässt.“ Eine seltsame Formulierung, fand June. Aber immerhin hörte es sich an, als ob seine Wanderlust endlich vorbei wäre. Sie lächelte und umarmte ihn. „Willkommen zu Hause, Daddy.“ Kevin, der sie die ganze Zeit beobachtet hatte, war ein wenig stolz darauf, dass er bei der Versöhnung zwischen Vater und Tochter seine Hand mit im Spiel hatte. Nun fing die Band wieder an zu spielen. Jetzt war die Gelegenheit, June zurückzuholen. Kevin setzte seinen Drink ab und wollte schon zum Tanzboden eilen. Alan Simpson kam ihm jedoch zuvor. Der hoch aufgeschossene, schlaksige Grubenarbeiter mit dem breiten Lächeln und dem blonden Haar stach mehrere Männer aus, die genau das gleiche Ziel hatten wie er. Sie alle wollten mit June tanzen. Und Kevin konnte ihnen das nicht verdenken. Er konnte es auch ihr nicht verdenken, dass sie nichts dagegen hatte, mit ihnen zu tanzen. Die Männer waren durch die Bank jung, und es sah so aus, als seien sie alle bezaubert von June in dem Brautjungfernkleid. Kevin empfand Eifersucht. Es hat keinen Zweck, eifersüchtig zu sein, hielt er sich vor, nahm sein Glas wieder auf und trank es in einem Zug leer. „Warum stehst du hier herum und tanzt nicht, großer Bruder?“ Er wandte sich zu Alison um, die hinter ihm stand. Ihrem Gesichtsausdruck nach kannte sie die Antwort auf ihre Frage bereits. Kevin lächelte. Oh, wie er ihre Nörgelei vermisste! „Ich beobachte die Gäste. Was meinst du, warum ich so weise geworden bin? Doch allein vom Beobachten.“ „Du sonderst dich von den anderen ab. Deshalb bist du allein.“ Sie wedelte mit der Hand in Richtung June, die immer noch mit Alan Simpson tanzte. „Geh, und rette sie aus seinen Fängen.“ In diesem Moment lächelte June, und Kevin beneidete Alan mehr, als er sich eingestehen wollte. „Sie wirkt mir nicht so, als ob sie Rettung brauchte.“ „Du weißt noch immer nicht, wie Frauen ticken.“ Alison versuchte, ihn mit einem Schubs zum Gehen zu bringen, doch er rührte sich nicht vom Platz. „Und du bist immer noch so dickköpfig wie eh und je, was?“ Spöttisch zog er eine Augenbraue hoch. „Du etwa nicht?“ „Wir sollten weniger reden und mehr tanzen“, belehrte Alison ihn. In dem Moment, als Kevin seine Schwester an sich zog, spürte er, wie sie versuchte, ihn nach links zu ziehen. Er schüttelte den Kopf und lachte. „Ich weiß genau, was du vorhast.“ „Vorhaben?“ fragte sie unschuldig. „Ich habe nur vor, mit dir zu tanzen, das ist alles.“ „In Junes Richtung.“ „Ach, komm, jeder sollte eine Richtung haben. Kann ich etwas dafür, wenn June uns im Wege ist?“ „Eine Frau sollte beim Tanzen nicht führen“, tadelte Kevin seine Schwester. „Manchmal muss eine Frau führen. Vor allem, wenn der Mann zu blöd dazu ist.“ „Alison…“ Sie waren mittlerweile dicht neben Alan und June. Diese Gelegenheit ließ Alison sich nicht entgehen. „June, hättest du etwas dagegen, wenn ich dich jetzt ablöse?“ Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab. „Natürlich hast du nichts dagegen.“ Damit drängte sie sich zwischen das Paar, legte Alans linke Hand auf ihre Schulter und nahm seine andere Hand in ihre Hand. „Meinem Mann ist nicht nach Tanzen zu Mute“, behauptete sie. „Und mein Bruder hat zwei linke Füße. Könnten Sie mich bitte
retten?“ Sie ließ Alan keine Chance, sich zu entscheiden, sondern führte den völlig überrumpelten Grubenarbeiter von Kevin und June weg. „Du hast keine zwei linke Füße“, protestierte June und überließ sich nur allzu willig Kevins Armen. „Tanz mit mir, ehe einer dieser gierigen jungen Burschen sich in den Kopf setzt, hier eine Show abzuziehen.“ Kevin lachte und schüttelte den Kopf. Die Frauen von Alaska waren schon ein ganz eigener Schlag. „Überlasst ihr Frauen hier einem Mann eigentlich jemals die Führung?“ June warf ihm einen Blick zu, den er nur als gerissen bezeichnen konnte. „Wir tun es, wenn er nicht zu langsam ist.“ Darauf wusste Kevin nichts zu sagen. Er wollte nicht mal darüber nachdenken. Er wollte nur mit June tanzen.
15. KAPITEL Kevin war zu einem Entschluss gekommen. Er würde genau das tun, was er für richtig hielt. Er würde nach Seattle zurückkehren. Die Pläne, mit denen er sich beschäftigt hatte, waren fixe Ideen gewesen. Träume. Nichts mehr als die Sehnsucht, seine Jugend zurückzuerhalten, eine Jugend, die er nie gehabt hatte. Nicht, dass er sein Leben, so wie es gewesen war, jemals auch nur einen Moment lang bedauert hätte. Es war seine eigene Entscheidung gewesen, die Geschwister aufzuziehen und sie zu selbstständig denkenden und charakterfesten Menschen zu erziehen. Er liebte sie alle drei innig, und alle drei liebten ihn von Herzen. Und war das nicht das Wesentliche in einer Familie? Einfach einander zu lieben. Wenn er es manchmal vermisste, jemanden zu haben, der ihm zur Seite stand, eine Partnerin, um genau zu sein… Aber es wäre nicht recht, June zu dieser Partnerin zu machen. Er war ihr erster Liebhaber gewesen… Das war kein Grund zu glauben, dass sie ihm nun für alle Zeiten gehörte. Sie hatte noch ihr ganzes Leben vor sich. Sie musste in Freiheit all das ausprobieren, was das Leben zu bieten hatte. Etwas Besseres konnte er für June nicht tun, als sich zurückzuziehen und sie freizugeben. Kevin hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sie bei seinem nächsten Besuch in Hades verheiratet sein würde. So ganz sicher war er sich zwar nicht, ob er damit fertig werden könnte, doch das musste er ganz einfach versuchen. Er holte die letzten Sachen aus dem Schrank und legte sie in den Koffer. Sein Bruder Jimmy stand seit einer Dreiviertelstunde neben ihm und tat alles, um ihm den Rückflug auszureden. Jimmy beobachtete Kevin. Kevin war der einzige Mann, den er kannte, der wusste, wie man ordentlich packte. Er wünschte sich nur, sein Bruder würde es nicht gerade jetzt tun. Missbilligend schaute Jimmy drein und schüttelte den Kopf. Er hatte Kevin ins Gewissen geredet und ihn mit allen möglichen Gründen zu bewegen versucht, in Hades zu bleiben. Es war zwecklos gewesen. „Ich habe es dir bereits gesagt, Kev, ich denke du machst einen großen Fehler. Alison, April und Luc finden das auch. Wir sind alle der Ansicht, du solltest hier bleiben.“ Kevin lächelte. „Gut zu wissen, dass ihr mich bei euch behalten wollt.“ Er steckte seine Schuhe, die er zur Hochzeitsfeier zum Smoking getragen hatte, in eine Plastiktüte und legte sie dann in den Koffer. „Wenn ich länger bleibe, werde ich faul.“ Jimmy seufzte. „Wir können immer irgendwas für dich finden, was repariert werden muss. Lily wird jede Hilfe brauchen mit dem Restaurant.“ Kevin blieb kurz stehen und sah seinen Bruder an. „Lily wird alles mit links schaffen, sobald sie und Max aus den Flitterwochen zurück sind.“ Kevin machte den sonst immer so gutmütigen Jimmy allmählich richtig wütend. „Du scheinst dir von der Arbeit, die auf sie wartet, kein Bild zu machen.“ Kevin steckte die Dose mit der Rasiercreme in ein kleines Nebenfach. „Natürlich weiß ich, dass sie viel zu tun haben wird.“ „Weißt du, dass du ganz schön starrköpfig bist?“ Kevin klopfte seinem Bruder auf die Schulter. „Nicht starrköpfig, nur vernünftig. Ich bin gern hier gewesen, sehr gern sogar. Aber es war ein Urlaub. Nicht mehr, nur ein Urlaub. Es ist Zeit, dass ich in die Realität und in mein Leben
zurückkehre.“ Jimmy schnaubte vor Ungeduld. „Ist dein Leben tatsächlich an Seattle gebunden?“ „Ich bekomme meine Post dahin geschickt.“ Er fühlte sich bedrängt, und die Überzeugungsversuche gingen ihm allmählich auf die Nerven. Er hatte keine Zeit für all dies Gerede. „Wenn du so weitermachst, Jimmy, dann verpasse ich noch den Flug. Und du weißt, wie ich so was hasse.“ Pünktlichkeit war von jeher Kevins einziges unnachgiebiges Gebot gewesen. Doch Jimmy gab sich nicht gern geschlagen. „Dabei habe ich geglaubt, dass es dir unendlich gut getan hat, hier zu sein. Du hast dich seit Tagen viel gefühlsbetonter, viel fröhlicher gezeigt.“ Bittersüße Gefühle kamen in Kevin auf. Er versuchte, sie abzuschütteln. Er hatte keine Zeit für sentimentale Regungen. Er musste zum Flugplatz, wo Sydney bereits auf ihn wartete, um ihn von Hades nach Anchorage zu bringen. „Ich verabschiede mich noch von deiner Frau, bevor ich losfahre.“ Aus Verzweiflung ließ Jimmy alle Bedenken fallen. „Und was ist mit June?“ fragte er geradeheraus. „Ich habe mich gestern Abend von ihr verabschiedet“, antwortete Kevin mit betont fester Stimme. „Hast du ihr deutlich gesagt, dass der Abschied eine endgültige Trennung bedeutet?“ Kevin dachte an den Kuss, den er June vor der Eingangstür zum Farmhaus gegeben hatte, und wie versucht er gewesen war, ihr nach drinnen zu folgen. Doch eine letzte Nacht mit ihr hätte ihn womöglich von seinem Entschluss abgebracht. In gewissen Situationen wurden Männer leicht wankelmütig. Da machte er sich nichts vor. „Sie wusste, dass ich am Tag nach der Hochzeit zurückfliegen würde. Zweifellos wird sie sich das ausgerechnet habe.“ „Schlimm genug, dass du dir die Folgen nicht ausmalen kannst“, murmelte Jimmy und verließ das Zimmer. Kevin drehte sich nicht um. Er ließ Jimmy gehen. Hier zu bleiben wäre einfach nicht fair June gegenüber. Und June allein zählte. Er hörte ein Geräusch hinter sich. Jimmy war also zur zweiten Runde in den Ring gestiegen. Na schön, soll er doch, dachte Kevin. Er würde jedenfalls keinen Schritt zurückweichen, so hart die Schläge auch sein mochten. „Du verlässt uns also.“ Junes ruhige Stimme traf Kevin bis ins Innerste. Er musste schwer schlucken, ehe er sich zu ihr umdrehte. June sah genau so aus, wie sie vor drei Wochen am Tag seiner Ankunft ausgesehen hatte. Sie trug die gleiche verblichene, abgetragene Jeans und ein blau-weißes Arbeitshemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Das perfekte Farmmädchen. Eine Frau, bei der jeder Mann einfach den Wunsch verspüren musste, zum Ackerboden zurückzukehren und von seiner Hände Arbeit zu leben. Kevin wappnete sich gegen ihren anklagenden Blick. „Ja.“ Sie atmete tief ein, um ihren Zorn – und ihren Schmerz – in den Griff zu bekommen. „Ich wollte es nicht glauben, als Alison es mir sagte. Ich dachte, sie hätte dich missverstanden.“ Kevin schaute weg und tat, als ob er noch überlegen musste, ob er etwas vergessen habe. „Das Flugticket ist auf den heutigen Tag ausgestellt.“ „Hallo!“ Sie zog an seinem Ärmel, um ihn zu zwingen, sie anzusehen. „Weißt du, was du bist?“ „Was meinst du?“
Ihr Zorn flammte auf. „Du bist ein echter Feigling!“ „June…“ Sie ließ ihn nicht ausreden. „Das hätte ich nie gedacht.“ Sie musterte ihn. „Nicht von dir. Nicht von dem Mann, der ganz allein und ohne jegliche Hilfe drei Kinder aufgezogen hat, obwohl er selbst noch ein Kind war. Nicht der Mann, der mir sagte, ich solle nicht vor dem Leben davonlaufen, sondern mich dem Leben öffnen.“ Ihre Stimme klang eisig. „Offensichtlich habe ich dich falsch eingeschätzt.“ Kevin wollte nicht, dass es so endete – mit diesem Hass. „Kannst du mich denn nicht verstehen? Ich gebe dir die Freiheit, dich dem Leben zu öffnen. Damit du viel mehr erfahren kannst, als du es in einer Ehe mit mir erfahren könntest.“ June blieb der Mund offen stehen. Was hatte er da gesagt? „In einer Ehe mit dir?“ Diese unbedachten Worte waren Kevin einfach so herausgerutscht. Er hatte nie vorgehabt, ihr gegenüber zuzugeben, dass er über eine Heirat nachgedacht hatte. Nun, da es heraus war, fühlte er sich zu einer Erklärung gezwungen. „Ich bin kein Mann, der sich mit Affären zufrieden gibt, June. Ich würde gerne heiraten.“ „Einfach so heiraten, nur um verheiratet zu sein?“ Kevin fühlte sich in einer Falle, die er selbst aufgestellt hatte. „Nein, um mit dir verheiratet zu sein. Um glücklich zu sein. Doch ich habe mein Leben gelebt, und du…“ Okay, jetzt hatte sie genug von seinen Ausflüchten. Es wurde Zeit, mit diesem ewigen Hin und Her aufzuhören und zum Angriff überzugehen. „Bist du auf Hawaii gewesen?“ Kevin sah sie verwirrt an. Er verstand nicht, worauf June hinauswollte. „Nein, aber…“ June wollte, dass er verstand, also fiel sie ihm wieder ins Wort. „Hast du das Kolosseum in Rom gesehen?“ „Nein.“ Sie kam richtig in Fahrt. Schnell warf sie noch einen sehenswerten Ort ein. „Und London? Schon mal was vom Big Ben gehört?“ Was war nur in sie gefahren? Kevin tappte im Dunkeln. „June, ich kann dir nicht folgen.“ June klärte ihn auf. „Dann sind wir uns ja quitt, weil ich an all diesen Orten auch noch nicht gewesen bin. Wir könnten sie aber zusammen besuchen.“ Kevin setzte zum Protest an, nur kam er nicht dazu. Wieder war June schneller. „Wir könnten es auch sein lassen“, kam sie ihm entgegen. „Um es auf den Punkt zu bringen, wir lernen aus Erfahrungen, nicht aus dem Alter. Man kann in zehn Jahren seinem Leben so viel Sinn und Zweck geben, dass es erfüllt ist. Man kann aber auch ein ganzes langes Leben ungenutzt und sinnlos verbringen und sich dabei leer und unglücklich fühlen.“ Sie sah ihn prüfend an. „Ich muss nicht von jeder Schokoladensorte in einer Schachtel probieren, um zu wissen, welche Sorte ich gerne haben möchte. Aber okay, wenn du mich nicht haben willst.“ „Du weißt, dass das nicht stimmt.“ „Nein.“ June schüttelte heftig den Kopf. „Das weiß ich nicht. Wie könnte ich auch? Wenn du mich haben wolltest, würdest du bleiben und um mich kämpfen. Falls es jemanden geben sollte, der glaubt, Anspruch auf mich zu haben.“ „Der Grubenarbeiter, Alan oder so ähnlich.“ June musste nachdenken, ehe ihr einfiel, wen er meinte. „Simpson? Was ist mit ihm?“ „Er war ganz schön angetan von dir.“
June lachte laut auf. War es das, worum es ging? Kevin trat zurück, um jemandem wie Simpson den Vortritt zu lassen? Dieser verrückte, wunderbare Mann täuschte sich wirklich gründlich. Dann wurde June ernst. Sie wollte, dass Kevin begriff, was sie für ihn empfand. „Auch wenn Simpson von mir angetan wäre, ich bin nicht von ihm angetan.“ Sie sah Kevin in die Augen. „Was ich mir wirklich wünsche, ist, dass du von mir angetan bist.“ June hatte sich damit ziemlich weit vorgewagt, und ihr war nicht ganz wohl dabei. Viel stand auf dem Spiel. Um mit den Füßen wieder auf den Boden der Realität zu kommen, wechselte sie das Thema. „Wie steht es außerdem mit dem Transportservice? Du hast einer ganzen Menge Leute Hoffnung gemacht, als du anfingst, dich nach den Möglichkeiten zu erkundigen. Sie glaubten schon, dass wir hier in Hades endlich ins 21. Jahrhundert steuern könnten. Gibst du das auch auf? Denn wenn du das tust, dann könnte es sein, dass sie dich noch in letzter Minute mit Schimpf und Schande aus diesem Ort vertreiben.“ „So etwas tut man hier noch?“ „Das werden die Leute tun, wenn ich sie darum bitte.“ „Und warum würdest du sie darum bitten?“ „Damit du auch deutlich zu spüren bekommst, dass du uns im Stich lässt.“ Und dann wagte sie es erneut: „Dass du mich im Stich lässt.“ Kevin sehnte sich so sehr nach June, dass es schmerzte. Doch sie würde darüber hinwegkommen. Viel zu bald würde sie darüber hinwegkommen. Kevin ergriff ihre Hände. „June, die Hochzeit deines Bruders, die Versöhnung mit deinem Vater – all das hat dich aufgewühlt.“ Fast hätte sie ihm die Hände mit einem Ruck entzogen, doch dieses Mal schaffte sie es, ihr Temperament zu zügeln. Sie musste die beste Waffe gegen ihn einsetzen – den gesunden Menschenverstand. „So ergreifend diese Momente auch waren, sie haben nichts mit dir und mir zu tun, Kevin. Ich möchte, dass du bleibst. Ich möchte jede Sekunde mit dir verbringen.“ Sie musste ihm verständlich machen, was ihr das bedeutete. Es war nicht nur, dass sie sich von ihm angezogen fühlte. Es war mehr. Es war alles. Und es würde sich nicht wiederholen. June seufzte. „Sieh mal, bis du gekommen bist, konnte ich mir kaum vorstellen, mich irgendwo häuslich niederzulassen. So etwas mochte gut für April und Max sein, aber ich wollte mich nicht in die Lage bringen, dass jemand über mich bestimmt. Ich habe ja gesehen, was es meiner Mutter angetan hat, und ich habe mir geschworen, dass mir so etwas nie im Leben passieren würde. Mein Herz gehörte mir und sonst niemandem.“ Sie lächelte Kevin an. „Es kam aber anders, wie so oft im Leben. Ich hielt mich wohl zum ersten Mal in meinem Leben für ein Glückskind, weil der Mann, mit dem ich geschlafen habe, lieb und verständnisvoll und ehrlich war. Ein Mann, bei dem ich mich sicher fühlte, der Gefühle in mir weckte, die ich nie zuvor gehabt hatte.“ June sah den offenen Koffer auf dem Bett. Er war gepackt und musste nur noch geschlossen werden. „Vielleicht hat mich das Glück verlassen, ohne dass es mir bewusst geworden ist.“ Sie atmete tief durch und straffte ihren Rücken, um sich Mut für die letzte Schlacht zu machen. „Auch wenn du mich nicht mehr willst, kannst du Hades das nicht antun. Du kannst dich nicht verhalten, als ob du die Stadt voranbringen willst, wenn du das gar nicht im Sinn hast. Die Menschen hier brauchen den Transportservice, Kevin. Auf der einen Seite wird die Welt immer kleiner durch all
die fantastische Technik. Und auf der anderen Seite geraten wir hier immer mehr ins Abseits, weil wir sechs Monate im Jahr völlig auf Sydney oder Shayne angewiesen sind, wenn wir irgendwohin müssen. Wenn du schon nicht an mich denkst, so denke wenigstens an die Leute hier.“ „Ich soll nicht an dich denken?“ Er musste June in die Arme nehmen. Nur ein letztes Mal no.ch, bevor er abreiste. Kevin zog June eng an sich und fühlte, wie sein Puls sich schlagartig beschleunigte. „Jeden Tag meines Lebens, ja, den Rest meines Lebens werde ich an dich denken. Ich werde ständig überlegen, was du wohl gerade tust und mit wem du gerade zusammen bist.“ Wie sollte sie das verstehen? Wenn Kevin sie liebte, warum wollte er dann weg von hier? Warum konnte er nicht bleiben? „Würdest du mich nicht lieber ganz und gar haben wollen, als nur ein Fantasiebild von mir?“ Ihre Lippen waren seinen so nahe. Kevin musste sich sehr zusammenreißen, um June nicht zu küssen. „Doch.“ „Nun… dann?“ Ihr Atem streifte über sein Gesicht, und die Sehnsucht in ihm wuchs zu einem heftigen Verlangen. Sie hatte ihren Kopf zur Seite geneigt, und mit ihrem lockenden Lächeln und den glänzenden Augen wirkte June auf ihn so verführerisch, dass ihm das Denken fast unmöglich war. „Hast du vorher nicht etwas von Heirat gesagt?“ Kevin schluckte. „Würdest du das in Betracht ziehen?“ June wollte, dass Kevin die Frage klarer formulierte. Ihre Enkel würden es wissen wollen. „Wenn der richtige Mann mich darum bittet, ja, dann würde ich eine Heirat in Betracht ziehen.“ Ein zaghaftes Glücksgefühl wurde in ihm wach. „Und bin ich der richtige Mann?“ „Kevin, du bist für mich immer der richtige Mann gewesen.“ Er verblüffte June völlig, als er, statt sie zu küssen, wie sie es erwartet hatte, vor ihr auf ein Knie sank. „Kevin, was tust du da?“ In der klassischen Pose nahm Kevin ihre Hand. Und er blickte mit einer solchen Zärtlichkeit zu ihr auf, dass ihr warm ums Herz wurde. „June Ursula Yearling, willst du mir die Ehre erweisen, meine Ehefrau zu werden?“ Bei „Ursula“ war June zusammengezuckt. „Woher kennst du meinen zweiten Vornamen?“ fragte sie erstaunt. „Max hat ihn mir verraten.“ Da sie nun endlich bei der schicksalhaften Frage waren, wollte June es sich etwa doch noch überlegen? „Du weichst aus.“ Ihre Augen strahlten. Es geschah. Es geschah wirklich! Kevin hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht. Einen formvollendeten Antrag noch dazu. „Nein, ich weiche nicht aus. Ich zögere nur den Augenblick hinaus, damit ich mich später daran erinnern kann, wenn ich wieder mal einen meiner dummen Wutanfälle habe.“ June wird keine Wutanfälle mehr haben, dachte Kevin. Das Leben würde von nun an ruhig verlaufen. „Soll das ein Ja sein? Ich möchte es ganz offiziell hören.“ „Es ist ein Ja, fett gedruckt und in großen Buchstaben. Ja!“ June nahm Kevin bei den Händen und zog ihn hoch. „Gibst du mir jetzt dein Flugticket, damit ich es zerreißen kann?“ „Nein.“ „Warum nicht?“ Kevin machte bereits Pläne. „Ich brauche es, wenn ich zurückfliege, um das Haus zu verkaufen.“ June hatte eigentlich damit gerechnet, dass Kevin mit ihr *nach Seattle zurückfliegen wollte. Sie wäre mit ihm gegangen. Sie würde ihm überallhin folgen. Doch Hades blieb der beste Ort. Sie gehörte hierher. „Macht es dir denn nichts aus, hierher zu ziehen?“
Kevin umschmiegte ihr Gesicht. „Nein. Ich möchte hier bleiben. Wo sollte ich sonst hin? Die mir liebsten Menschen sind alle hier.“ June hatte das Gefühl, vor Glück zu platzen. „Und du wirst es dir nicht anders überlegen?“ „Niemals.“ „Bist du sicher?“ „Ich bin ganz sicher.“ Kevin küsste June, um es ihr zu beweisen, wie sicher er tatsächlich war.
EPILOG „Du meine Güte! Was hast du da denn angestellt?“ Entsetzt schrie Lily den jungen schwarzen Labradorhund an, den Max ihr geschenkt hatte, nachdem sie von ihrer Hochzeitsreise zurückgekehrt waren. Dann folgte ein ganzer Chor von Aufschreien, als eine Gruppe Frauen ins Schlafzimmer stürzte, um zu sehen, was passiert war. Es blieb noch genau eine Stunde bis zur Trauung, und der weibliche Teil der Familie hatte sich bei Max und Lily eingefunden, um sich hier für die Feierlichkeiten umzuziehen. Nur würde June sich nicht mehr umziehen können. Der schlaksige Welpe stand mit seinen übergroßen Vorderpfoten auf dem, was von ihrem Hochzeitskleid übrig geblieben war. Er ließ sich durch nichts dazu bringen, den Fetzen von weißem Satin, den er noch zwischen den Zähnen hatte, wieder freizugeben. June kam als Letzte ins Zimmer. Und als sie sah, was den Aufruhr verursacht hatte, verschlug es ihr zum ersten Mal in ihrem Leben die Sprache. „Bitte keine Panik“, flehte April, als sie in das Gesicht der Braut sah. „Ich renne los und hole dir mein Hochzeitskleid.“ „Du kannst auch meins haben“, bot Lily sich an. „Ich habe es noch nicht weggepackt.“ „Meins habe ich auch noch im Schrank auf dem Boden hängen“, meldete sich Alison zu Wort. Ihre Kleidergröße war der von June am nächsten. Auch Marta und Sydney boten sich an, ihre Hochzeitskleider zu holen. Sie alle redeten auf June ein, aus Angst, dass sie durchdrehen könnte. Die Vorbereitungen für die Hochzeit waren schon stressig genug gewesen, auch ohne einen Labrador, der eine knappe Stunde vor der Trauung seinen jugendlichen Übermut am Hochzeitskleid ausließ. June kniete sich neben den Welpen, der prompt anfing, das Make-up von ihrem Gesicht abzulecken, das Lily so sorgfältig kreiert hatte. „Hör auf damit, du böser Hund!“ schrie Lily. Sie packte ihn beim Halsband und zog den Missetäter aus dem Raum. „June, ich kann dir gar nicht sagen, wie Leid es mir tut…“ June wedelte ihre Entschuldigung hinweg. „Ist schon okay.“ Sie blickte in die von Panik gezeichneten Gesichter. Es war seltsam, aber sie war gar nicht in Panik. Nicht mehr. Ihr Leben war so geordnet und gesichert, dass sie mit allem, was sich ihr in den Weg stellte, fertig werden konnte. „Es hat wohl wenig Sinn, loszurennen und nach einem passenden Hochzeitskleid zu suchen.“ Sie blickte kurz an sich herunter. „Ich bin kleiner und schmaler als ihr.“ „Mit ein paar Sicherheitsnadeln würden wir das hinkriegen“, versprach Alison und ging bereits auf die Tür zu. June kam aus der Hocke hoch. „Vergiss es, Alison.“ „Du kannst doch nicht einfach die Trauung absagen!“ protestierte April. „Niemand wird hier etwas absagen“, erklärte Ursula, die das Schlafzimmer betrat, um nachzusehen, was das ganze Durcheinander auf sich hatte. Sie trug ein Kleid in einem königlichen Violett, ihrer Lieblingsfarbe, und wirkte darin wahrhaft imposant. Hastig warf sie einen Blick auf die herumliegenden Satinfetzen, dann einen auf June. „Meine Enkelin wird genau das tun, was sie schon immer getan hat.“ „Und das wäre?“ wollte Marta wissen. Ursula zwinkerte June zu. „Sie wird sich der Herausforderung stellen.“
Die Blicke aller richteten sich auf die Braut. Kevin war nicht nervös. Nicht so wie vor ihm Max und davor Jimmy es gewesen waren. Er hatte nicht das Gefühl, kurz vor der Hinrichtung zu stehen, und er wollte auch nicht in letzter Minute das Weite suchen. Er wollte genau da sein, wo er war, im Vorraum der Kirche, kurz davor, zum Altar zu treten, um dort auf die Frau zu warten, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte. Jimmy konnte sich nur wundern, als er seinen Bruder beobachtete. „Meine Güte, bist du ruhig.“ Kevin überprüfte im Spiegel den Sitz seiner Smokingfliege. „Stimmt, ich bin ruhig.“ Jimmy fuhr ihm mit der Fingerspitze über die Augenbraue und hielt den Finger hoch, so dass die Männer es sehen konnten. „Guckt mal her, kein Schweiß. Er sagt die Wahrheit.“ Max musterte ihn. „Bist du denn kein bisschen nervös?“ „Nein. Warum sollte ich?“ Kevin lächelte selbstzufrieden. „Ich habe mein ganzes Leben darauf gewartet.“ Luc schüttelte den Kopf. „Dieser Mann ist mir nicht geheuer.“ „Nein.“ Ike grinste. „Der Kerl weiß, dass er den Vogel abgeschossen hat.“ „He, pass auf, was du da sagst!“ Max gab vor, beleidigt zu sein. „Du redest über meine Schwester.“ Ike hielt die Hände hoch, als ob er sich ergeben wollte. „Ich habe es nur im positiven Sinn gemeint, Sheriff, nur im positiven.“ Jimmy warf einen Blick auf seine Uhr. Es war an der Zeit. Der Hochzeitsmarsch würde jeden Moment von der Orgel erklingen. Sie stellten sich im Gang zum Altar auf. Kevin konnte sich nicht erinnern, jemals glücklicher gewesen zu sein als im Moment. Er nahm seinen Platz vor dem Altar rechts vom Geistlichen ein, und dann wartete er ungeduldig auf das Erscheinen der Braut. Die Orgel setzte ein mit dem Hochzeitsmarsch – und gleich darauf das Gemurmel der Hochzeitsgäste. Während die Brautjungfern, eine nach der anderen, den Kirchenraum betraten und den Mittelgang hinauf zum Altar kamen, fragte sich Kevin etwas beunruhigt, was das Getuschel wohl auf sich haben mochte? Und dann bekam er die Antwort. June schritt im Takt zur Musik, am Arm ihres glücklich aussehenden Vaters, den Gang hinauf. Doch es war allein June, die die Aufmerksamkeit aller Hochzeitsgäste voll auf sich lenkte. Kevin konnte nicht glauben, was er da sah. June kam mit dem beeindruckend üppigen, wunderschönen Hochzeitsstrauß – und in Jeans – auf ihn zu. Seltsam, es erschien ihm irgendwie richtig so. Außerdem war es ihm gleichgültig, was June trug oder nicht trug, solange sie nur da war. „Wo hast du denn das Hochzeitskleid gelassen?“ flüsterte er ihr zu, als Wayne sie ihm übergab. „Bei Lily. Der Hund hat es aufgefressen“, flüsterte June zurück. „Ich wollte die Trauung nicht sausen lassen. Bist du jetzt enttäuscht?“ Er liebkoste ihr Gesicht mit zärtlichen Blicken. „Das wäre ich nur gewesen, wenn du nicht erschienen wärst.“ June und Kevin wandten sich dem Geistlichen zu, um ihr gemeinsames Leben zu beginnen. Und Kevin wusste, dass es zumindest nie langweilig werden würde. - ENDE -